Scanner und K-Leser - Keulebernd
Mark Joseph
Taifun Duell
Thriller
Deutsch von Thomas Stegers
ECON Verlag
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Scanner und K-Leser - Keulebernd
Mark Joseph
Taifun Duell
Thriller
Deutsch von Thomas Stegers
ECON Verlag
Düsseldorf • Wien • New York • Moskau
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Typhoon
Originalverlag: Simon and Schuster, New York
Übersetzt von Thomas Stegers
Copyright © 1991 by Mark Joseph
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Joseph, Mark: Taifun-Duell: Thriller/Mark Joseph. Dt. von Thomas
Stegers. - Düsseldorf; Wien; New York; Moskau:
EGON Verl. 1992
ISBN 3-430-15136-8
Copyright ©1992 der deutschen Ausgabe by EGON Verlag GmbH,
Düsseldorf, Wien, New York und Moskau.
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen,
fotome-chanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen
Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in
Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.
Lektorat: Hanna Siehr, Berlin
Gesetzt aus der Bembo, Linotype
Satz: Lichtsatz Heinrich Fanslau, Düsseldorf
Papier: Papierfabrik Schleipen GmbH, Bad Dürkheim
Druck und Bindearbeiten: Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm
Printed in Germany
ISBN 3-430-15136-8
Inhalt 1. Kapitel
Zenko.................................................................................................. 7
2. Kapitel
Sowjetski Sojus ................................................................................. 19
3. Kapitel
Sorokin ............................................................................................. 27
4. Kapitel
Malakow ........................................................................................... 36
5. Kapitel
Deminow........................................................................................... 47
6. Kapitel
USS »Reno«...................................................................................... 55
7. Kapitel
Blaunasen.......................................................................................... 65
8. Kapitel
Blaue Lichter..................................................................................... 74
9. Kapitel
Die Barentssee................................................................................... 84
10. Kapitel
Archangelsk ...................................................................................... 93
11. Kapitel
Weißer Stern ................................................................................... 101
12. Kapitel
Petja ................................................................................................ 112
13. Kapitel
Minski............................................................................................. 122
14. Kapitel
Scharsarskiew.................................................................................. 132
15. Kapitel
Ein Loch im Wasser ........................................................................ 140
16. Kapitel
Margarita......................................................................................... 150
17. Kapitel
Geheiminformation.......................................................................... 159
18. Kapitel
Kommando und Kontrolle ............................................................... 169
19. Kapitel
Taifun ............................................................................................. 178
20. Kapitel
Big Iwan ......................................................................................... 186
21. Kapitel
Täuschung....................................................................................... 195
22. Kapitel
Minsk.............................................................................................. 206
23. Kapitel
Tamir .............................................................................................. 219
24. Kapitel
Das Weiße Meer.............................................................................. 231
25. Kapitel
Waffenstillstand .............................................................................. 244
26. Kapitel
Gorki............................................................................................... 255
27. Kapitel
Der Tanz ......................................................................................... 264
28. Kapitel
Schiffbruch...................................................................................... 275
29. Kapitel
Riziow............................................................................................. 290
30. Kapitel
Erster Mai ....................................................................................... 301
31. Kapitel
Durchbruch ..................................................................................... 309
32. Kapitel
Magnetische Flugortung .................................................................. 323
33. Kapitel
Fischer ............................................................................................ 331
34. Kapitel
Raketen ........................................................................................... 340
35. Kapitel
Eis................................................................................................... 353
36. Kapitel
Gefechtsregeln................................................................................. 364
37. Kapitel
Lenin............................................................................................... 377
38. Kapitel
Blitz ................................................................................................ 386
1. Kapitel Zenko Der Hafen des Marinestützpunktes Gremicha wurde von einem weit ins Meer hineinragenden Wellenbrecher geschützt, der die arktische Bastion der russischen Seestreitkräfte vor den Winden und der eisigen Barentssee abschirmte. Im April, wenn die Eisdecke zu schmelzen begann, spazierte der Sta tionskommandant des Stützpunktes, Vizeadmiral Stefan Zenko, in den Abendstunden gern den Damm entlang und hing seinen Gedanken nach. Am Ende des Brechers lag stets ein kleines Boot für ihn bereit, mit dem er anschließend in den Hafen zurückruderte. Zenko war ein kleiner, untersetzter Mann mit spitzem Bauch und einem tätowierten Schiffskompaß auf dem rechten Handrücken; nicht gerade sonderlich anziehend, aber gutmü tig. Als U-Boot-Mann mit Leib und Seele erfreute er sich bei den Männern, die er befehligte, großer Beliebtheit. Abend für Abend meldeten sich zehn Matrosen freiwillig für die ehren volle Aufgabe, das Boot ans Ende des Wellenbrechers zu rudern. Manchmal fand Zenko einen saftigen, reifen Pfirsich oder eine kleine Flasche georgischen Brandy unter den Riemen versteckt. Als einfacher Mann ohne jegliche Ansprüche war er jedesmal erstaunt und gerührt von diesen kleinen Gaben. An diesem Abend, Ende April, bestieg Zenko, bekleidet mit einem schwarzen Arbeitsanzug und ausgelatschten Gummi stiefeln, auf dem Kopf eine warme Pelzkappe, wie gewohnt das Boot für seine nächtliche Ausfahrt. Als er nach den Ruderpin nen griff, starrte ihm sein eigenes Gesicht vom Titelblatt des »Nordlicht« entgegen, der Wochenzeitung der Nordflotte, Trägerin des Rotbannerordens. Sicher hatte ein Matrose, stolz auf seinen Kommandanten, ihm die Zeitung ins Boot gelegt. Zenko nahm sie in die Hand, auf Armeslänge vorgestreckt, 7
hielt sie auf dem Kopf und fragte sich vergnügt, ob seine Frau ihn auf dem Bild wohl erkennen würde. Seinen Lesern präsentierte das »Nordlicht« den Fregattenka pitän des Sechsten Strategischen Raketen-U-Boot-Gcschwa ders als einen Mann mit weicher Haut, ernster Miene, geschlossenen Lippen, einer tadellos sitzenden Uniform und einer hohen, spitzen Mütze ohne Ohrenklappen. Der echte Stefan Zenko musste schmunzeln. Er verzog das pockennar bige Gesicht zu einem breiten Grinsen und zeigte eine Mund höhle voller Goldzähne. Seine Uniformen paßten nie, und seine militärischen Orden trug er nur selten, schon gar nicht den »Helden der Sowjetunion«, der auf dem Foto deutlich sichtbar ins Licht gerückt war und der jetzt, nach dem Zusammenbruch der Union, nicht mehr so gern gesehen war. Zenko seufzte. Held zu sein war langweilig. Die Bildunter schrift lautete: »Der Mann, der das Eis besiegte.« Wenigstens das stimmte, dachte Zenko, aber es las sich wie ein Nachruf. Während die meisten Offiziere in ihrer Ausbildung darauf vor bereitet wurden, gegen die U.S. Navy anzutreten, führte Zenko seinen Kampf gegen das Eis, in seinen Augen die Gitterstäbe im Seegefängnis, die das vereiste Meer für die russische Marine darstellte. Rußland hatte im Verlauf seiner Geschichte vielen seefahrenden Nationen gegenübergestanden - Schwe den, England, Deutschland, Polen, Japan und den Vereinigten Staaten -, deren Flotten die Hochsee durchpflügten, während russische Seeleute die langen Winter hindurch an der Küste festsaßen, durch das unerbittliche Eis an den Hafen gebunden. Im Sommer, wenn die Eisdecke schmolz und Schiffe von Archangelsk, Odessa, Sankt Petersburg und Wladiwostok aus ablegen konnten, mussten sie sich auf enge, leicht zu blockie rende Fahrrinnen beschränken. Jahrhundertelang war auf jeden spektakulären Sieg der Marine qualvolle Enttäuschung und Erniedrigung gefolgt. Zenko dachte zurück an den Tag vor sechsundvierzig 8
Jahren, als er als Achtjähriger in Murmansk im Eis eingebrochen war und überlebte, was einer Sensation gleichkam. Von dem Moment an wurde Eis zu seiner Leidenschaft. Je mehr er sich damit beschäftigte, desto mehr faszinierte ihn Meereis, seine komplexe Natur und physikalischen Eigenschaften. Als Kadett auf der Marineakademie verfaßte er Seminararbeiten über die geopolitische und militärische Bedeutung von jahreszeitlich bedingten Eisschichten. Er widersprach der fatalistischen Ansicht, Eis sei ein unüberwindliches Hindernis, und war der Überzeugung, Rußland könne, im Gegenteil, Nutzen aus dem Eis ziehen. In seiner Abschlußarbeit präsentierte er den Ent wurf eines riesenhaften atomgetriebenen U-Bootes, das unter dem Eis fahren, sich dort versteckt halten und kämpfen konnte. 170 Meter lang, 25 Meter breit, besaß sein U-Boot fast die Ausmaße eines Flugzeugträgers und hatte zwei miteinander verschweißte Druckkörperwände, die von einer dritten Wand, dem äußeren Rumpf, umgeben waren. Hauptmerkmal des Bootes war seine ungeheure Größe, die genügend Auftrieb schuf, um durch eine drei Meter dicke Decke aus festem Packeis zu stoßen und von der Wasseroberfläche aus Langstreckenraketen abzuschießen. Ein Phantast, dickköpfig und unnachgiebig wie das Eis, hatte Zenko zwanzig Jahre lang der Admiralität zugesetzt, bis das Ministerium für Rüstungsindustrie sein Eisschiff endlich bauen ließ, das größte und leistungsstärkste U-Boot, das jemals konstruiert worden war. Er nannte sein Schiff »Taifun«, der Russe. Wie das englische »Typhoon« war der Name von dem Begriff »Dai Fung« aus dem Mandarin abgeleitet, wo es »der stärkste Wind« bedeutet. Wie ein atomarer Wirbelsturm hatte die »Taifun« die alte Sowjetunion in eine starke Seemacht verwandelt. Im Gegensatz zu früheren Generationen sowjeti scher U-Boote war die »Taifun« außerordentlich leise. Auf Patrouille, irgendwo unter der Eisdecke versteckt, blieb sie für 9
die Sonare und Satelliten der NATO unauffindbar. Mit diesem Schiff und fünf weiteren derselben Klasse, die noch folgten, hatte sich die sowjetische Marine auf eine Stufe mit der U.S. Navy katapultiert, eine seegestützte atomare Bedrohung erster Ordnung. Hochgerüstet mit furchterregenden Waffen, hatten Zenkos Taifunboote die nördlichen Meere erobert und den Arktischen Ozean in russisches Gewässer verwandelt. Jetzt, im Alter von vierundfünfzig Jahren, konnte er ohne jede Übertrcibung in aller Bescheidenheit behaupten, das Unmögliche erreicht zu haben. Er hatte tatsächlich das Eis besiegt und im Verlauf seines Siegeszuges Rußlands Feinde mit Angst und Schrecken erfüllt. Für seine Dienste hatte er einen Heldenstern bekommen, und gelegentlich erschien sein Bild im »Nordlicht«. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, die Rote Armee war in Auflösung begriffen, aber seine Taifunboote hatten Bestand. Zenko legte die Zeitung auf den hinteren Sitz des Bootes und ruderte auf die Klippen von Gremicha zu. Neunzig Meter steil aus dem Meer aufragend, hatten die majestätischen Felsen Generationen von Seeleuten als Wegweiser gedient, der die Einfahrt ins Weiße Meer markierte. Jetzt hatten sie ausgedient. Mit der Errichtung des Marinestützpunktes Gremicha war der Hafen aus allen Seekarten getilgt worden. An die Seefahrer der ganzen Welt war die Nachricht ergangen: Jedes Schiff, das sich Gremicha auf zwanzig Kilometer nähert, wird aufgebracht oder versenkt. Zenko legte sich in die Riemen. Den Blick nach achtern gerichtet und die See im Norden, prüfte er den auf seiner Hand tätowierten Kompaß und lachte über seinen Aberglauben. 300 Meter unter der Wasseroberfläche, in einer Welt ohne Licht, brauchte Zenko nur auf seine Hand zu schauen; dort unten kam er sich nie verloren vor. Hier oben jedoch, im Schutz seines Heimathafens, mit zwei ausgedienten alten Pinnen gegen eine milde See anrudernd, spürte er, wie er die Orientierung verlor. 10
Die Dinge, die er am meisten liebte, seine Heimat, die Marine, die Taifunboote, alles, was sein Leben lang festgefügt und vorhersehbar gewesen war wie Packeis im Dezember, war zu einer bedeutungslosen Eiszone aus übereinandergeschobe nen gefährlichen Schollen und kleinen Eisbergen dahinge schmolzen. Politische und ökonomische Instabilität rissen das Land auseinander. Ethnische Auseinandersetzungen und der Abspaltungswille einzelner Republiken drohten in einen Bür gerkrieg zu münden. Wie bei einer Kabelung zerrten die wider streitenden Kräfte der Union und der Sezession selbst an der Marine. Zenkos Vorgesetzte, der Kommandant der Nordflotte, Admiral Iwan Deminow, hatte ein Rundschreiben zur Unter stützung der Union und Wiederzulassung der Partei unter den höheren Offizieren der Flotte zirkulieren lassen. Oberflächlich betrachtet war das Schreiben eine patriotische Erklärung, doch Zenko erkannte die wahre Absicht, die kaum verhüllte Dro hung gegen diejenigen, die die Sowjetunion zerstören wollten, und er hatte seine Unterschrift verweigert. Als Gegenmaßnahme hatte Deminow seine ganze Autorität ausgenutzt und seinen Schwiegersohn, den Ersten Kapitän Wladimir Malakow, zum Kommandanten des sechsten und letzten U-Boots der Taifunklasse ernannt, der gerade erst in Betrieb genommenen »Sowjetski Sojus«. Der Name kam noch aus der alten Zeit, und man stritt sich darüber, ob das U-Boot nicht umgetauft werden sollte in »Rußland«; aber solange nicht geklärt war, unter welches Oberkommando die Taifunboote in Zukunft gestellt werden sollten, blieb es zur Genugtuung von Deminow bei dem alten Namen. Zenko wurmte die Beförderung Malakows, aber er konnte nichts ausrichten. Malakow war besonders qualifiziert und hatte die höchste Bewertung aller U-Boot-Kommandanten der Nordflotte, mit Ausnahme von Zenko. Dann hatte Deminow, trotz der Ein wände Zenkos, Malakow während der ersten Patrouille der 11
»Sowjetski Sojus« befohlen, ein SS-N-20-Raketengeschoß abzufeuern, als Testschuß. Der Befehl war von keinem Gerin geren gegengezeichnet als von Flottenadmiral V. J. Walotin, Erster Kommandant der russischen Marine. Ganz im Zeichen von Glasnost hatte die Admiralität angeregt, den Film mit dem Raketentest nach amerikanischem Vorbild in der abendlichen Nachrichtensendung im Fernsehen auszustrahlen. Zenko hielt das für ausgemachten Schwachsinn, aber trotz Admiralsstrei fen und Heldenstern: er war bloß Fregattenkapitän eines UBoot-Geschwaders und machte keine Politik, er führte Befehle aus. Er ruderte weiter. Das Hafenwasser war durchsetzt von klei nen Schollen aus Neueis. In der finsteren arktischen Nacht sah die Lichterkette entlang des Wellenbrechers aus wie ein nach Norden weisendes Leuchtfeuer. Weiter draußen verriet eine Landschaft aus violettem Schaum und blinkenden Bojen die offene See. In den warmen Frühlingswochen hatte sich das Packeis 30 Kilometer von dem Küstenstreifen entfernt ins Weiße Meer zurückgezogen. Zenko war sich darüber im klaren, dass seine widerstandsfä higen, dreiwandigen U-Boote Produkte des Kalten Krieges waren und ausgedient hatten. Die Taifunboote waren Relikte der Geschichte, Wracks, am Felsen des Kommunismus ge strandet. Zenko hatte das Eis bezwungen und sein Land von einer geographischen Fessel befreit, doch am Ende seines Lebenswerks hatte er unergründliche Macht in die Hände von Männern übergehen sehen, deren Motiven und Ambitionen er mißtraute. Der Artikel im »Nordlicht« feierte die Inbetriebnahme der »Sowjetski Sojus«, des letzten Bootes der Taifunklasse. Wie ihre Vorläufer war auch sie mit Torpedos, Minen, Schiffsab wehrraketen und zwanzig Langstreckenraketengeschossen mit nuklearen Mehrfachsprengköpfen bestückt. Ein einziges Tai funboot konnte jedes Land auf der Erde auslöschen. 12
Fünf Staaten besaßen U-Boote mit Raketengeschossen an Bord - die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Amerika, England, Frankreich und China -, und jede Ausfahrt eines die ser Schiffe bedeutete einen möglichen atomaren Holocaust. Mit jedem Tag verringerte sich zwar die Bedrohung eines internationalen Konflikts, aber solange es diese Waffen gab, stellten sie für jeden Einzelkämpfer und für jede politische Gruppierung mit Gier nach Macht eine geradezu unwidersteh liche Versuchung dar. Gedankenverloren ruderte Zenko weiter und erreichte wenige Augenblicke später den Fuß der Klippen. Er wußte genau, dass er überwacht wurde, und als das Ruderboot bis auf zehn Meter an den Felsen herangekommen war, öffnete sich eine Verschlußklappe in der steinernen Wand. In gespenstischer Stille teilte sich der Felsen. Auf geräuschlosen Gaslagern glitten zwei geschickt getarnte Tore zurück und eröffneten den Zugang zu einer riesigen, in den Klippen versteckten Höhle. Dynamit und Preßluft hatten einen 900 Meter langen Stollen in den Granit getrieben und einen Hohlraum geschaffen, der 750 Meter tief und 150 Meter breit war. Beim höchsten Stand der Flut waren bis zur steinernen Decke noch 30 Meter Platz. Zenko ruderte mit seinem kleinen Boot durch die schmale Öffnung, und hinter ihm schloß sich die Seeschleuse wieder. Die Matrosen nannten sie nur Zenkos Höhle, und die traum hafte Pracht der Anlage verschlug ihm jedesmal den Atem. Alle sechs Boote der Taifunklasse lagen vor Anker, was selten der Fall war. Zenko war umgeben von seinen Schiffen, wie eine Schildkröte inmitten eines Schwarms Wale. Direkt vor ihm zerrten Taue an der »Lenin«, die am Tag zuvor von einer Patrouille heimgekehrt war. Das gewaltige UBoot wirkte wie eine einzige Stahlmasse, ein atomares Meerungeheuer. Matrosen bewegten sich wie wimmelnde Ameisen an Deck. Als die »Lenin« herumgezogen wurde, fiel 13
sein Blick auf die »Rodina« - das Vaterland -, die wie ein gestrandetes Seeungetüm auf einem Trockendock ruhte. Schweißer krochen über den fleckigen grauen Rumpf und reparierten die von zahllosen Zusammenstößen mit dem Pack eis herrührenden Beulen und Schrammen. Rechter Hand rollte ein riesenhafter Kran den zweiten Kai entlang, zwischen den spinnenhaften Stahlbeinen eine SS-N-20-Rakete. Am vorderen Ende des Kais hatte die »Erster Mai« angelegt, die Rake tensilos zur Neuausrüstung weit geöffnet. Die Wand am hinte ren Ende der Höhle schien ganz aus Tafelglas. Hinter den aus dem Felsgestein herausgeschnittenen Fenstern lagen Büros, ein halbes Dutzend Läden, ein Bunker aus gehärtetem Stahl für die Lagerung atomarer Waffen und eine abhörsichere Nachrichtenzentrale. Linker Hand hievte ein zweiter Kran ein Rumpfteil der Steuerbord-Reaktorabteilung des »Großen Vaterländischen Krieges« hoch. Dahinter lag die »Taifun«, die immer noch unter Zenkos Kommando stand. Hinter der »Taifun« hatte die »Sowjetski Sojus« festgemacht. Ein hellroter Wimpel, auf russischen Schiffen das Zeichen zum Auslaufen, flatterte am Heck des neuen Schiffes. In wenigen Stunden sollte Kapitän Malakow ins Weiße Meer fahren und von einem Raketenversuchsgelände aus eine Testrakete auf ein Ziel in Sibirien abfeuern. Zenko schüttelte bestürzt den Kopf. Der Raketenstart würde auf den Videoschirmen Dutzender NATO-Kommandostellen aufblitzen. Der Kondensstreifen würde im Westen als ein uner wartetes Wiedererstarken sowjetischer Macht verstanden wer den. Oder verfolgten Admiral Deminow und Flottenadmiral Walontin ganz andere Ziele? Zenko konnte sich über eine so törichte Übung nur wundern. Am Heck der »Sowjetski Sojus« klappte eine Luke auf, und der Rudergänger des Schiffes, Obermatrose Wadim Sorokin, stemmte sich hoch an Deck. Leise schloß er die Luke, richtete 14
sich auf, atmete die kühle, bewegungslose Luft ein und über flog mit einem Blick das Deck. Festgezurrt an der Pier, im grellen Scheinwerferlicht von Zenkos Höhle, sah der massige Rumpf der »Sowjetski Sojus« eher wie ein Fabrikschiff denn wie ein Kriegsschiff aus. Sorokin war achtundzwanzig Jahre alt; er hatte hohe, breite Wangenknochen und Tätowierungen von den Schulterblättern bis zu den Fingerknöcheln. Während er sich eine billige bulga rische Zigarre anzündete, ging er die paar Schritte bis zu dem gedrungenen Turm vor, wobei seine Füße lautlos über den schalldämpfenden Deckbelag glitten. Die vordere Raketenab teilung, so groß wie ein Moskauer Häuserblock, verschwand in einer Hülle aus Nebel. Die »Sowjetski Sojus« strahlte nackte Gewalt aus. Sorokin spürte förmlich die zwingende Kraft ihrer atomaren Magie, als er sich mitten auf der BackbordReaktorabteilung niederließ und seine in dieser Umgebung exotisch wirkenden Nike-Sportschuhe, die roten Shorts und einen weißen Pullunder anzog, auf denen noch die Insignien der sowjetischen Marine prangten. Vier Runden an Deck, vom Heck zum Bug, ergaben genau tausend Meter. Sorokin hatte sich vorgenommen, drei Kilo meter zu laufen, dann an Land zu gehen und eine letzte Flasche Wodka zu kippen, bevor das Schiff in See stach. Er klemmte sich die Zigarre zwischen die Zähne, zog seine lederne Panzer kommandantenkappe über die Ohren und setzte sich in Bewe gung. Er jagte über das Deck, wobei er die Bezeichnungen der einzelnen Abteilungen unter seinen Füßen jeweils laut vor sich hin sagte: Backbord-Reaktorabteilung, hintere Trimmzellen, am Turm vorbei zum Scheitelpunkt, vordere Trimmzellen, Mannschaftsmesse, Kombüse, Kommandoabteilung, Steuer bord-Raketenabteilung, wieder zurück zum Heck, BackbordRaketenabteilung, Kommandoabteilung. Auf See lief Sorokin im Innern des Bootes, um die hellgelben Silos in den Rake tenabteilungen herum. Im Hafen zog er es vor, an Deck zu 15
laufen, selbst bei kältestem Wetter. Jetzt wieder am Turm vor bei, hinten über die Trimmzellen, die Reaktorabteilung, jetzt langsam zum Maschinenraum hinuntergleiten, durch das kalte Wasser am tiefsten Punkt des Ruders, das viereinhalb Meter über Deck aufragte. Nicht anhalten, nicht ausrutschen. Über der Raketenabteilung zählte Sorokin leise rhythmisch auf: New York, Washington, New London, Charleston, Nor folk, Omaha, Seattle, San Diego, Honolulu - zwanzig stra tegische Ziele, zwanzig Feuerstürme, zwanzigmal acht Mil lionen Tote. Wen kümmerte es schon, wo die Menschen wohnten? Jeden Tag joggte Sorokin über das schwimmende Raketengelände und dachte über Sinn und Zweck des Ganzen nach. Eine regelrechte Shiva, die die Welt sicherer machen sollte. Aber Waffen waren nicht sein Gebiet. Seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass die Mannschaft reibungslos funk tionierte, und er würde seine Pflicht tun, auch wenn die Silos mit Beton gefüllt wären. Er sah Zenkos Boot neun Meter unter sich langsam vorbei gleiten, hielt im Laufen inne und winkte dem Admiral zu. »'n Abend, Kapitän.« Als Kommandant der »Taifun« zog Zenko die Anrede »Kapitän« vor. »Admiral« klang in seinen Ohren zu ehrenvoll. »Guten Abend, Wadim. Ich sehe, Sie drehen Ihre übliche Runde.« »Sie wohl auch, Sir.« Die Obermatrosen, die Versorgungsoffiziere, bildeten das Rückgrat der Marine. Vor zehn Jahren war Sorokin als Rekrut an Bord der »Taifun« gekommen und war dem Schiff seitdem treu geblieben. Fasziniert von Zenkos Charisma, diente er in der Kerntruppe, die jede neue Mannschaft der Flottille ausbil dete. Als die »Sowjetski Sojus« in Betrieb genommen wurde, hatte Zenko ihn gebeten, als Obermatrose auf dem neuen Schiff zu bleiben. Sorokin gefiel die Idee nicht sonderlich, er hätte es 16
vorgezogen, auf der »Taifun« zu bleiben, aber Befehl war Befehl. Sorokin zeigte auf die Zeitung und sagte: »Ich habe Ihr Bild gesehen, Kapitän.« »Haben Sie das in mein Boot gelegt, Wadim?« »Ich gestehe.« »Und wo ist mein Brandy abgeblieben?« »Minski hat ihn getrunken.« Die beiden lachten. Zenko nahm die Pinnen in die Hände und machte sich wieder ans Rudern. »Das ist wohl Ihre Art, mir zu vermitteln, dass Sie wieder auf der >Taifun< Dienst tun wollen, hab' ich recht?« »Kapitän Malakow führt ein strenges Regiment«, sagte Sorokin. »Bei ihm kann ich nicht soviel Geld verdienen wie sonst.« Zenko schmunzelte. »Sorokin, Sie sind der einzige, den ich kenne, der meint, die Marine könnte ihn zu einem reichen Mann machen.« »Stimmt. Ich fasse das als Kompliment auf. Bloß kann ich zu nichts kommen, wenn ich nicht in Ruhe meinen Wettgeschäften nachgehen kann.« »Ich brauche Sie auf der >Sowjetski SojusSowjetski Sojus< zu generieren?« »Jawohl. Er ist bereit.« Begleitet von Riziow passierte Zenko zwei Sicherheits schranken, zeigte wie jeder Mitarbeiter seinen Ausweis und betrat den Codierraum. Er setzte sich an einen Computer, schloß den Terminal auf, tippte sein Paßwort ein und pro duzierte zur einmaligen Verwendung gedachte Algorithmen, die wiederum ein spezifisches Set von Codes hervorzauberten, das nur für ein Schiff und für eine Fahrt verwendet werden durfte. Der Computer leitete die Nachrichtencodes automatisch an den Funkraum weiter, wo ein zweiter Computer die Sequen zen überprüfte und bestätigte. Zenko ließ die Nachrichten- und Waffencodes zweimal auf Spezialpapier ausdrucken, kehrte zurück in sein Büro, noch immer in Begleitung von Major Riziow, und hinterlegte eine Codierungsserie in seinem Safe. 20
Die zweite Serie steckte er in einen Aktenkoffer und trug, eskortiert von Major Riziow, die ausgedruckten Seiten persön lich hinunter zum Kai, wo die »Sowjetski Sojus« lag. Bewaff nete Marineinfanteristen begrüßten den Admiral und Major Riziow mit einem Pfeifensignal an Bord, und beide kletterten durch eine Luke direkt in die Kommandozentrale des U-Boots. Verglichen mit den meisten anderen Schiffen der Marine war die »Sowjetski Sojus« ein Luxuskreuzer. Ein tiefroter Teppichbelag aus Industriefaser bedeckte den Boden der Kommandozentrale, und grelles Neonlicht beleuchtete die Schaltpulte. Das vordere Schott wurde vollkommen von einem Mitsubishi-Navigationsmonitor eingenommen, der eine elektronische Karte der Barentssee und der Reede von Gremicha anzeigte. Ein aufblinkender roter Lichtpunkt markierte die Position des U-Boots. Rudergänger Sorokin stand am Navigationstisch, bereit abzulegen. Ob zum Vor- oder Nachteil, die Admiralität setzte drauf, dass Maschinen verläßlicher seien als Menschen. Alle sechs UBoote der Taifunklasse besaßen eine fortschrittliche Auto matisierungstechnologie, die auf jedem der gewaltigen Schiffe eine Besatzung von 150 Mann erforderte. Während die Männer das Geschehen auf Anzeigentafeln verfolgten, verrichteten Computer und Roboter die eigentliche Arbeit, drehten an Ven tilen, regelten den Dampffluß zwischen den beiden Reaktoren und den Antriebssystemen und hielten das Schiff in der Waagerechten. Redundanz war in die Schiffe der Taifunklasse mit einge baut: doppelte Druckwand, zwei Reaktoren und eine Doppel schiffsschraube. Es spiegelte die parallel gelagerten Strukturen wider, die beim einige Jahre zurückliegenden Bau des Schiffes auch sonst in der früheren Sowjetunion existiert hatten. Die Partei glich der Regierung, der Backbordreaktor glich dem Steuerbordreaktor, und ebenso hatten alle sowjetischen Kriegsschiffe zwei Kommandanten. Der Erste Kapitän Wladi 21
mir Malakow, ein Marineoffizier, teilte sich das Kommando auf der »Sowjetski Sojus« mit einem »Zampolit«, dem Politof fizier, dem Ersten Kapitän Alexi Sergow, dessen Tage bei der Marine allerdings gezählt waren. Die beiden Kommandanten warteten in der Kapitänskajüte auf Zenko und Riziow. Als Zenko den Raum betrat, spürte er zum erstenmal deutlich das Ausbleiben jedes Zeichens von Willkommen an Bord eines Schiffes seiner Flottille, aber es gelang ihm, seine ablehnende Haltung gegenüber Malakow und Sergow hinter einem freundlichen Lächeln zu verbergen. Er erledigte hastig die Formalitäten, übergab Malakow ein Set der Geheimcodes und verschaffte sich die nötigen Unterschriften. »Sie wissen, dass ich gegen diesen Raketentest bin«, sagte Zenko. »Was soll damit erreicht werden? Ich protestiere vor allem gegen den Vorschlag von Admiral Deminow, Aufnah men von dem Test im Fernsehen auszustrahlen.« »Bei allem Respekt, da muss ich widersprechen«, entgegnete Malakow steif und in offiziellem Tonfall. »Die Welt muss an die Macht der Marine erinnert werden.« Malakow hatte das gute Aussehen eines Filmstars, blonde Haare, die langsam ergrauten, ein ausgeprägtes Kinn und leuchtende blaue Augen. Er war über einen Meter achtzig groß, jeder Zoll der herrische Kommandant eines strategischen Raketen-U-Bootes. Er entstammte einer glanzvollen Familie von sowjetischen U-Boot-Männern. 1917 hatte sich sein Großvater, Andrej Malakow, der das Kommando über das UBoot »Beloye More« der kaiserlichen russischen Marine führte, den Revolutionären angeschlossen und einen Kreuzer des Zaren torpediert. Eine Generation später, 1945, während des Großen Vaterländischen Krieges, ging Malakows Vater Igor bei dem Versuch, einem deutschen Luftangriff über der Barentssee unter der Eisdecke zu entkommen, mit seinem UBoot, der SS-99, unter. Diese hehre Familientradition sowie seine Heirat mit der Tochter des Admirals Deminow 22
berechtigten Malakow dazu, sich als echter sowjetischer Ari stokrat zu fühlen, stolz, statusbewußt und empfindlich gegen über einem so gewöhnlichen Menschen wie Stefan Zenko. Der Zampolit Alexi Sergow kam aus einer völlig anderen Tradition. Politoffiziere repräsentierten die Partei und waren daher die direkten Nachfahren von Leo Trotzkis roten Kader truppen. Sergow war Terrorist aus Überzeugung, ein ver schlossener und humorloser Mensch, dessen Leben sich als eine lange Liste von Haßgefühlen zusammenfassen ließ. Für Zenko, der sich geweigert hatte, das Schreiben zur Unterstüt zung der Union und der Partei zu unterzeichnen, hatte er nur Verachtung übrig. Ausländer und ethnische Minderheiten konnte er nicht ausstehen, und bei den Begriffen Perestroika oder Glasnost oder gar Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bekam er cholerische Anfälle. Sergow war kein Mensch, der mit seiner Meinung hinterm Berg hielt. »Wir leben in einer neuen Zeit, Admiral«, sagte er zu Zenko. »Das Volk will sehen, wohin sein Geld fließt, und wir haben vor, es ihm zu demonstrieren. Sie werden ein Taifunboot zu sehen kriegen, eine Rakete, die Flugbahn und die Sprengköpfe, die mit bestechender Genauigkeit ihr Ziel treffen. Das wird nur zum Ruhm der Marine beitragen.« Zenko ließ die freundliche Fassade fallen. »Wenn das zuträfe«, entgegnete er scharf, »würde ich jeden Tag eine Rakete abschießen. Wenn Aufnahmen von diesem Test im Fernsehen gezeigt werden, sind fünf Minuten später die Stra ßen von Moskau mit Demonstranten übersät.« Sergow zuckte mit den Achseln. »Und genauso viele Men schen werden auf die Straßen gehen, um unsere unbesiegbaren Taifunboote zu feiern.« Zenko schüttelte den Kopf. »Sie haben Erlaubnis abzulegen, meine Herren«, sagte er. »Ich erwarte einen ausführlichen Bericht über den Raketentest, sobald Sie in Archangelsk ange kommen sind.« 23
Zenko machte auf dem Absatz kehrt und ging von Bord, Riziow folgte ergeben. Er ging zurück in sein Büro und nahm den Telefonhörer auf. »Geben Sie mir meine Frau in Sankt Petersburg, bitte.« Einen Augenblick später hörte er Margaritas helle Stimme aus dem Admiralitäts-Krankenhaus, wo sie als Chirurgin ar beitete. »Stefan?« »Hallo, Genossin Gemahlin.« Kokett entgegnete sie: »Ich habe heute das Bild eines Frem den in der Zeitung gesehen, mit deinem Namen darunter.“ »Sag mal, kannst du nicht die Pendelmaschine nehmen und heute noch herkommen?« fragte er unvermittelt. »Stimmt irgendwas nicht?«, wollte sie wissen. Sie hörte eine leichte Spannung in seiner Stimme. »Nein, wieso? Ich würde mich nur sehr über deine Gesell schaft freuen.« »Hab' schon einen Platz reserviert, Genosse Matrose.“ Zenko legte den Hörer auf, wandte sich um und betrachtete die »Sowjetski Sojus« durch die Glaswand seines Büros. Russische U-Boote legen ab wie einfache Straßenbahnen. Kein Musikkorps spielt auf, keine Familien stehen am Pier und wünschen gute Fahrt. Im Innern der Höhle rollten Kräne hin und her. Eine Kompanie der »Lenin« war am Kai angetreten und trieb Gymnastik, ohne sich umzudrehen und zuzuschauen. Nur Zenko folgte mit seinem Blick dem riesigen U-Boot, als es die Höhle verließ und durch die breiten Seeschleusen hinaus fuhr. In gespannter Stille tauchte die »Sowjetski Sojus« in die graue Kuppel des arktischen Himmels. Eine feine Kruste aus neuem Eis bedeckte den Hafen, aber das U-Boot durchschnitt die Eisschicht und glitt um den Wellenbrecher herum. Über dem Turm kreiste eine Radarantenne auf einem Mast. Schaum kronen und kleine weiße Eisschollen sprenkelten die Wasser 24
oberfläche, eine Mahnung an die zurückweichende Eisdecke dreißig Kilometer nördlich und östlich. Der vorgezogene Frühling hatte auch eine frühe Schmelze zur Folge gehabt, und entlang der Küste der Halbinsel Kola blieb nur die Gorlostraße fest zugefroren, der schmale Kanal, der von der Barentssee zum Weißen Meer führte. Ein Hubschraubergeschwader der U-Boot-Abwehr kreiste über ihnen und flog der »Sowjetski Sojus« voraus, während sie durch die Wellen pflügte. Fünfzehn Kilometer weiter draußen ließen die Hubschrauber die ersten von einem ganzen Dutzend Sonarbojen fallen, die das Wasser nach U-Booten absuchten, nach irgendwo lauernden NATO-Spionageschiffen, die viel leicht vor der Küste Position bezogen hatten, um die Schiffsbe wegungen von Gremicha aus zu überwachen. Ohne auf eine Tarnung angewiesen zu sein, aktivierten sich die Sonarbojen von selbst, klingelten laut durch das Wasser und horchten auf ein mögliches Echo. Malakow befahl langsame Fahrt voraus, und die »Sowjetski Sojus« stieg und fiel sanft mit der Dünung. »Funk an Brücke.« »Brücke hier. Was gibt's?« »Hubschrauber melden keine Unterwasserkontakte.« »Sehr gut. Bereitmachen zum Abtauchen. Funkoffizier, Masten einziehen.« Die Funk- und Radarmasten wurden in den Turm abge senkt. Malakow schickte die Beobachtungspostcn nach unten, verschloß die Luke und stieg den Turm hinab. Der Navigationsmonitor zeigte ein elektronisches Schaubild der Einfahrt in die Gorlostraße. Der blinkende rote Cursor, der die »Sowjetski Sojus« darstellte, bewegte sich gleichmäßig Richtung Osten. Malakow ließ sich in dem bequemen KommandantenLedersessel nieder und regulierte die Helligkeit an seinen Videoschirmen. 25
»Tauchoffizier, Meldung.« Tauchoffizier Nordow reagierte prompt. »Alle Lichter zei gen grün.« »Also gut. Vordere Ballasttanks fluten.« »Vordere Ballasttanks fluten, aye.« »Drei Grad abwärts.« »Drei Grad abwärts, aye.« »Sehr gut. Volle Fahrt voraus.« »Volle Fahrt voraus, aye.« Malakow spürte, wie das Deck nach vorne kippte und ver folgte den Tiefenmesser, während die »Sowjetski Sojus« von der Barentssee geschluckt wurde.
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3. Kapitel Sorokin Mit einer Reisegeschwindigkeit von gemächlichen vier Kno ten, die Turmspitze knapp drei Meter unter der Wasseroberflä che, folgte die »Sowjetski Sojus« einem Eisbrecher durch die Gorlostraße und passierte die Sonarstation bei Pulonga. Die Sonaroperatoren verfolgten das gewaltige Schiff, dargestellt als ein leuchtender Punkt auf ihren Schirmen, während es ein deaktiviertes Minenfeld überquerte, das angelegt worden war, um NATO-U-Boote von der Einfahrt ins Weiße Meer abzu halten. In der Kommandozentrale überließ Malakow die Leitung des Schiffes seinen Offizieren und den Obermatrosen. Als Quartiermeister für den alltäglichen Betrieb verantwortlich, führte Sorokin das Befehlsprotokoll und die Logbücher, teilte die Wachen ein, organisierte Trainingsprogramme und hatte die Aufsicht über die Kommandoabteilung. Wenn der Deckof fizier einen Befehl gab, hatte Sorokin dafür zu sorgen, dass er ordnungsgemäß ausgeführt wurde. Im Prinzip war er es, der das Schiff lenkte, aber heutzutage ein U-Boot der russischen Marine zu lenken, hieß, in politisch vermintes Gelände abzu tauchen. Sorokin konnte die Litanei des Jammers der Marine auf sei nen Armen nachlesen. Als junger Matrose war er der russischen Tradition gefolgt und hatte sich die Namen aller Häfen, die er angelaufen hatte, in die Haut tätowieren lassen. Auf dem linken Unterarm hatte ein estnischer Künstler eine Karte der Baltischen See und der Hafenstädte Klaipeda, Liepaja und Tallin eingeritzt. Mit der Abspaltung der baltischen Republiken waren sie für immer verloren. Die ehemals bedeutende Baltische Flotte war nach Sankt Petersburg zurückgedrängt worden. 27
Sorokins rechte Schulter erinnerte ihn an eine Fahrt mit der »Rodina« nach Wladiwostok. Das Schiff hatte eine ganze Woche an der Reede außerhalb des Hafens festgelegen, wäh rend Marineoffiziere eine Meuterei nichtrussischer Matrosen niederzuschlagen versuchten. Aufstände, wo man auch hinblickte. Auf Sorokins linker Schulter prangte das Souvenir einer Reise nach Odessa am Schwarzen Meer: die wohlproportionierten Umrisse des Schlachtschiffes »Potemkin« in Flammen, Symbol der Beteili gung der Marine an der Oktoberrevolution von 1917. Jetzt dagegen hatte die Schwarzmeerflotte unter grassierender Fah nenflucht zu leiden, und die bedauernswerten Matrosen, die der Flotte treu blieben, vergeudeten ihre Zeit mit der Jagd auf islamische Waffenschmuggler. Lediglich die rein russische Nordflotte blieb intakt, aber Vertreter der alten Linie wie Malakow und Sergow trieben immer mehr Matrosen in die Fänge der republikanischen Gegner einer Armee für die gesamte Gemeinschaft unter zentraler Führung, wie sie jetzt noch bestand. Sorokin kümmerte sich nicht um Politik oder die Meinung von anderen. Für ihn zählte nur der einzelne Mensch. Malakow war ein überhebliches Arschloch und Sergow ein diensteifriges Schwein. Allein Zenko zollte der altgediente Obermatrose seine Loyalität und seinen Respekt. Wie Zenko hatte auch Sorokin der Raketentest stutzig gemacht, aber er würde Augen und Ohren offenhalten, wie es der Admiral von ihm erwartete. Ansonsten wollte er bloß seiner Arbeit nachgehen, seine Wett spiele spielen und Schiff und Mannschaft heil und gesund heimbringen. Als das Schiff das Minenfeld hinter sich gelassen hatte, befahl der politische Offizier Sergow der Mannschaft, sich nach den einzelnen Divisionen zu sammeln. Sorokin ließ die Kommandodivision in der Schiffsbibliothek antreten, im Leninzimmer, nach dem die Bibliotheken auf allen Marine 28
schiffen benannt waren. Eine Bronzebüste von Wladimir Iljitsch Lenin war am Schott verschraubt. Blanke, ungelesene Ausgaben seiner gesammelten Werke standen aufgereiht in Regalen, die mit Stützgeländern versehen waren, neben tech nischen Büchern und Romanen von Tschechow, Tolstoi und Dostojewski. Zwei Obermatrosen, sieben einfache Matrosen und zwei Rekruten von der Schiffahrtsschule für U-Boote in Murmansk nahmen unter Sorokins starrem Blick Haltung an. »Oberma trose Plescharski«, bellte er. »Wem gehört das Schiff?« »Ihnen, Genosse Boß!« antwortete der zweite Steuermanns maat. »Rekruten zur See Typow und Bulgakow einen Schritt vor treten.« Die beiden Rekruten gehorchten. Bei einem schriftlichen Examen hatten die beiden jungen Seeleute am besten von den insgesamt fünfzehn frisch Eingezogenen abgeschnitten. Sorokin stand Fußspitze an Fußspitze mit einem großen, dunkelhaarigen Jungen von neunzehn Jahren und fragte mit leiser Stimme: »Seemann Typow, wie lautet die erste Pflicht eines U-Boot-Mannes?« »Unser ruhmreiches Vaterland zu verteidigen«, antwortete Typow rasch. »Haben sie euch das in dieser jämmerlichen U-Boot-Schule in Murmansk beigebracht?« Leichte Unsicherheit beschlich den Matrosen, als er sagte: »Ja, Obermatrose.« »Definieren Sie Salzigkeit.« »Salzigkeit ist, äh, Salzigkeit ... der Salzgehalt von Wasser.« »Was ist der durchschnittliche Salzgehalt der Barentssee?« »Ich, ich habe keine Ahnung, Obermatrose.« Sorokin schaukelte auf den Fersen hin und her und meinte: »Wenn Sie Versteck spielen wollen in Archangelsk, werden Sie schon noch drauf kommen.« 29
»Ja, Obermatrose.« Sorokin wandte sich dem anderen Rekruten zu, einem blon den, hellhäutigen jungen Mann von etwa zwanzig Jahren mit einem unverschämten Grinsen im Gesicht. »Seemann Bulga kow, wie lautet die erste Dienstpflicht eines U-Boot-Man nes?« »Den Befehlen umgehend und ohne Fragen Folge zu leisten. Die Sicherheit und Integrität des U-Bootes zu gewährleisten.« »Klingt schon besser. Wie hoch ist die Schallgeschwindig keit in Salzwasser?« »Die Schallgeschwindigkeit in Salzwasser ist abhängig von der relativen Temperatur und dem Salzgehalt, sie beträgt unge fähr tausendfünfhundert Meter pro Sekunde.« »Ausgezeichnet, ganz ausgezeichnet. Seemann Bulgakow, ich teile Sie hiermit der Division des Steuermannsmaats zu. Sie hören auf mein Kommando.« »Ja, Obermatrose.« »Rekrut Typow, hiermit teile ich Sie der Latrinendivision zu, bis Sie die Grundlagen der Physik beherrschen. Sie unterstehen Obermatrose Plescharski.« »Ja, Obermatrose.« »Zurücktreten.« Die Hände auf dem Rücken verschränkt, schritt Sorokin die Front der Seeleute ab. »Dass wir uns richtig verstehen. Bestimmte Dinge kann man nicht oft genug wiederholen. Wir befinden uns im Kampf mit dem erbarmungslosesten Feind, den man sich vorstellen kann, der See. Salzwasser hat keine Vorlieben und vergibt keinen Fehler. Hilfe von Ihren Müttern können Sie hier nicht erwarten. Unser ruhmreiches Vaterland, wie Seemann Typow beliebte, es auszudrücken, kann die Schallgeschwindigkeit nicht ändern. Nicht der Komsomol, das Hohe Kommando der strategischen Raketeneinheiten, nicht mal Genosse Lenin kommandiert dieses Schiff. Ich habe hier das Kommando! Meine Aufgabe ist es, den Befehlen des 30
Kapitäns, dem Genossen Malakow, zuvorzukommen. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass diese Befehle ausgeführt werden. In der Kommandozentrale haben wir nur einen Gedanken, hier herrscht ein und derselbe Geist. Wir sind die Seele der >Sowjetski SojusSowjetski SojusGoldrubelTaifun< auf See, mit ein paar Angriffs-U-Booten vom Siebten Geschwader als Eskorte. Instruieren Sie die Kommandanten. Sobald Zenko seinen zugewiesenen Sektor verläßt, versenken Sie ihn. Er wird als Held untergehen.« Das Siebte Geschwader, die Grauen Geisterschiffe von Mur mansk, eine von Deminows Erfindungen, war eine Einheit, die aus vier schnellen Angriffs-U-Booten der Akula-Klasse bestand. Die Boote waren ausschließlich mit Offizieren und politisch zuverlässigen Seeleuten besetzt, getreuen Mitglie dern der jetzt verbotenen Partei, die Deminow und seiner prounionistischen Fraktion voll und ganz ergeben waren. Malakow hatte einst, bevor er zur Taifun-Flottille in Gremicha überwechselte, eins der Grauen Geisterschiffe befehligt, die »Minsk«. »Ich nehme an, in Moskau sind alle Vorkehrungen getrof fen.« Walotin lächelte dünn. »In Moskau, Sankt Petersburg. Kiew, Minsk, Odessa, Archangelsk, Murmansk. Sie wären erstaunt, wie viele ehemals loyale sowjetische Bürger plötzlich meinen, sie müßten unbedingt auf die Straße gehen und gegen diese willkürliche Machtdemonstration protestieren. Sie tun Ihren Teil und kümmern sich um Zenkos Flottille.« »Und die Amerikaner?« fragte Deminow. »Gibt es irgend welche Meldungen, dass sich eins ihrer verfluchten U-Boote der Los-Angeles-Klasse in die Barentssee verirrt hat?« Walotin schüttelte den Kopf. »Nein. Wegen unserer Opera tion haben wir im voraus zig Schiffe von ihren regulären Pa trouillen abgezogen. Wir haben eine Art Wettkampfpause ein gelegt, und die andere Seite auch. Schließlich«, lachte Walotin leise in sich hinein, wobei seine Hängebacken wabbelten, »schließlich ist der Kalte Krieg vorbei. Der Hauptfeind ist nicht mehr die amerikanische Marine.« 53
Am selben Abend wurde ein einminütiger Filmausschnitt in den »Vremya« gezeigt, den Neun-Uhr-Nachrichten. Eine Stunde später tauchten die ersten Demonstranten in den Mos kauer Straßen auf; sie hielten Transparente hoch, auf denen die Marine angeprangert wurde. Um Mitternacht hatten sich zwanzigtausend russische Bürger auf dem Roten Platz versam melt. Die Menge schwoll von Minute zu Minute an, und in den Hauptstädten sämtlicher Republiken flammten Proteste auf. In der Frühe, nachdem Admiral Walotin ihn gewarnt hatte, die Proteste könnten sich auf das ganze Land ausweiten und zu einem Bürgerkrieg führen, hatte der Verteidigungsrat Admiral Deminow die geheime Vollmacht gegeben, die Operation Wei ßer Stern einzuleiten, den Notstandsplan der Nordflotte zur Niederschlagung eines bewaffneten Aufstands. Nach Beendigung der Sitzung des Verteidigungsrats rief Walotin Deminow in seinem Hauptquartier in Poljarny an, um den Befehl weiterzuleiten. »Haben Sie eine Flasche Wodka parat, Iwan?« »Natürlich, Admiral.« »Dann schenken Sie sich ein Glas ein.« »Aye, aye. Geschehen.« »Auf Operation Weißer Stern«, sagte Walotin. »Auf Weißer Stern«, wiederholte Deminow und leerte das Glas in einem Zug. Nach der kurzen Unterredung ging er auf das Fenster zu und schaute auf den Kolafjord hinab. Vor ihm, so weit das Auge reichte, erstreckte sich der Machtbereich der Nordflotte. Hunderte von Schiffen säumten die Kais, Zer störer, Kreuzer, Fregatten, Flugzeugträger und Angriffs-UBoote. Und schon bald würden die Boote der Taifunklasse unter seinen direkten Befehl gestellt werden. Geschichte! Man brauchte sie nur in die Hand zu nehmen, und schon gehörte sie einem.
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6. Kapitel USS »Reno« Ein ungeheurer Sturm raste vom Nordpolarmeer heran und schob sich bis tief in die norwegische See vor. Windböen mit Geschwindigkeiten von über 150 Stundenkilometern peitsch ten über das gefrorene Meer, brachen die Eisdecke und ließen riesige Schollen wie Schaumberge auf und nieder tanzen. Unter der tobenden Schicht wühlte jedes Erzittern eine über 900 Meter in die Tiefe reichende Wassersäule auf, mischte die oberen Isothermen durcheinander und brachte Unruhe in die Fischschwärme. 80 Kilometer südlich von Spitzbergen patrouillierte die USS »Reno« leise durch die ihr zugewiesenen 13000 Quadratkilo meter große Sektion des Ozeans und horchte auf die Geräusche russischer U-Boote, die sich Richtung Süden in den Atlantik vorwagen wollten. Im Innern hatten sich 110 Männer auf die Langeweile von Patrouillefahrten durch die Arktis eingerich tet, dem hochfesten Stahl des Druckkörpers ausgeliefert. Auf nördlichem Kurs, bei zwölf Knoten, war die »Reno« so stabil, dass nur die beiden Sonarmänner und der Kapitän die Turbulenzen über ihnen wahrnahmen. 120 Meter unter der Wasseroberfläche zähmte allein schon der Druck die Gewalt des Zyklons. Bei 120 Meter Tiefe gab es weder Wetter noch Zeit. Kein Licht durchdrang die Urtiefen, wo sich blinde raub gierige Wesen auf der Jagd nach Geräuschen orientierten und sich von Echos und dem Geruch des Blutes durch die Finster nis leiten ließen. Drei Kilometer vor ihnen lag der Rand der Europäischen Kontinentalplatte und die Barentssee, die hei matlichen Gewässer der russischen Nordflotte. Hier würde die »Reno« die nächsten siebzig Tage unter der Eisdecke verbrin gen und russische U-Boote ausspionieren. Im Kontrollraum warf der Kapitän der »Reno«, »Plutonium 55
Jack« Gunner, einen verstohlenen Blick auf den Navigations bildschirm und täuschte Gleichgültigkeit vor, was die Position des Schiffes betraf. Er zündete sich eine Lucky Strike an und sah auf die Uhr. In wenigen Minuten würde die Mannschaft in der Messe die traditionelle, überschäumende Blaunasen-Zere monie abhalten, ein Initiationsritus für Matrosen, die zum erstenmal die Arktis berühren. Vom Kapitän wurde erwartet, dass er so tat, als wüßte er von dem bevorstehenden Ritual nichts, und Gunner spielte seine Rolle nur zu gern. Mit seinen 39Jahren, knapp l,80 Meter, groß, schwarzhaa rig und mit dunklen Augen, die seinem Gegenüber aus einem langen, schmalen Gesicht entgegenfunkelten, strahlte Gunner das Selbstvertrauen eines Mannes aus, der wußte, wo er hinge hörte. Er hatte den besten Job, den die Navy zu bieten hatte, und litt weder an falschem Ehrgeiz noch an moralischer Unsi cherheit. Wie bei den meisten befehlshabenden Offizieren im U-Boot-Dienst, hörte die »Reno« in erster Linie auf sein Kom mando, und er hatte jede Minute während seiner drei Jahre an Bord in vollen Zügen genossen. Jetzt, auf seinem sechsten und letzten Einsatz, spürte er, wie seine Identität in dem Boot auf ging, als sei die schallschluckende Verblendung auf der Außenhülle seine eigene Haut, als seien die Sonare seine Ohren, die Flugkörper und Torpedos die Steine, mit denen er als Kind seine Feinde beworfen hatte. Mit ihren durch zusätzliche Beschichtung gehärteten Decks und den für Einsatz im flachen Gewässer des Arktischen Oze ans kalibrierten Torpedos war die »Reno« in erster Linie für den Kampf unter Packeis entworfen und gebaut worden. Eine Waffe des Kalten Krieges, konnte die »Reno« mit ihren sech zehn Tomahawk Cruise Missiles, den sechs Harpoon-Schiffs abwehrraketen und vierundzwanzig Torpedos, manche mit atomaren Sprengköpfen, der Nordflotte der russischen Marine einen vernichtenden Schlag versetzen. Das Kommando über die »Reno« war der Höhepunkt von 56
Gunners militärischer Laufbahn. Es war schon immer sein dringlichster Wunsch gewesen, ein Atom-U-Boot zu führen. Nach dieser Patrouillenfahrt hatte die Navy vor, ihn zum Geschwaderkommandanten zu befördern, aber Gunner ver spürte keine Lust, einem Geschwader oder gar einer Flotte vor zustehen. Statt dessen wollte er den Dienst quittieren, sich nach Hawaii zurückziehen und die Sprache der Delphine lernen. Gunner war in Vallejo, Kalifornien, geboren und aufge wachsen, wo die Marine-Schiffswerft Mare Island beheimatet ist. Als Sohn eines Schweißers im Dienst der Marine, der drei ßig Jahre lang Stahlplatten für atomgetriebene U-Boote zurechtgeschnitten hatte, war er mit dem geheimnisvollen Nimbus und der Tradition, die die Atom-U-Boote und ihre Rolle im Kampf gegen den Kommunismus umgaben, groß geworden. In den 50er und 60er Jahren war der Kalte Krieg eine ständig gegenwärtige Tatsache in seinem Leben gewesen, und man hatte Gunner beigebracht, die Russen zu fürchten und zu hassen. Als junger Mann, der die Marineakademie besuchte und anschließend die Ränge des U-Boot-Dienstes durchlief, hatte zwar seine Begeisterung für tauchfähige Schiffe nie nach gelassen, aber sein Verlangen, die Russen zu bekämpfen, war verblaßt. Der Krieg, der kein Krieg war, hatte Gunners inner stes Wesen getroffen. Der Kapitän liebte Schiff und Besatzung, nur der Gedanke an »Renos« furchtbare Feuerkraft spendete keinerlei Trost. Sollte er sein Schiff jemals verteidigen müssen, hätte die Menschheit als Hüter des Planeten versagt. Jetzt, in den 90er Jahren, hatten sich die Polarisierungen des Kalten Krieges durch Aufruhr in Mitteleuropa, Krieg im Persi schen Golf und die Instabilität in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion verlagert. Selbsternannte Experten und Phanta sten gingen davon aus, dass der Kalte Krieg vorüber war, aber Gunner wußte es besser. Unter Wasser war er auf keinen Fall vorbei. 24 Stunden täglich, 365 Tage im Jahr durchpflügten russische Taifunboote und amerikanische Tridents die Welt 57
meere, ihre Massenvernichtungswaffen jederzeit abschußbe reit. Um die Bedrohung durch seegestützte strategische Waffen auszugleichen, unterhielten beide Supermächte ganze Flotten schneller Angriffs-U-Boote wie die »Reno«, sogenannte Hun ter-Killer, die die schnellen Geschosse in ihren Verstecken aus findig machten. Im hohen Norden, unter dem Polareis, ging das tödliche Versteckspicl unvermindert weiter. Im verborgenen, außer Reichweite für neugierige Fernsehkameras, war der Kalte Krieg bis zu seinem kältesten Punkt getrieben worden. Gunner hatte keine Skrupel, wenn es darum ging, mit der »Reno« russische U-Boot-Manöver in der Barentssee auszu spionieren. Ethnische und ideologische Kämpfe hatten eine brisante Situation heraufbeschworen in einem Land, in dem 30000 Atomsprengköpfe lagerten. Die Sowjetunion gab es nicht mehr, aber auch die Nachfolgegemeinschaft drohte jeden Augenblick in fünfzehn einzelne Republiken auseinanderzufal len. Die Folge wäre ein Bürgerkrieg, bei dem Atomwaffen zum Einsatz kämen. Würde die Nordflotte dabei in einen innerstaatlichen Konflikt hineingezogen, sollte die »Reno« still und heimlich in russische Gewässer eindringen und jede Bedrohung, die über die Grenze der alten Sowjetunion hinaus reichte, abwehren. Vorläufig jedoch konnte es sich Gunner leisten, seine Gedanken schweifen zu lassen. 650 Kilometer von den russischen Marinebasen auf der Kolahalbinsel entfernt, war der Kapitän der Ansicht, dass die Mannschaft ihr Fest feiern konnte Im Kontrollraum mit seinem Durcheinander von Men schen, Instrumenten und Sensorschirmen bebte es förmlich vor Erwartung. Ein Küchenbelag aus Linoleum bedeckte den Boden, Kabel und Rohre machten die Decke unsichtbar, und Regale mit Monitoren stapelten sich am Schott. In der Mitte, hinter der Gefechtsstation, hing ein Doppelperiskopgehäuse umgekehrt von der Decke. Zu Gunners Rechten, mehr an einen 58
Flugzeugpiloten erinnernd als an einen Schiffsführer, griff der Steuermann nach einem Joystick. Neben ihm hielt der Tiefenrudergänger seine Steuerknüppel fest in der Hand, und beide warfen alle paar Sekunden einen Blick auf den Naviga tionsmonitor. In einem Halbkreis um die Gefechtsstation herum hielten Unteroffiziere den Gefechtsleitstand, den Tie fensteuerstand, den Terminal für interne Kommunikation und den Navigationstisch besetzt. »Sonar an Kontrollraum. Meeresboden steigt an. Reich weite neunhundert Meter zur Kontinentalplatte.« »Gut, Sonar«, antwortete Gunner. »Eis-Scanner aktivie ren.« In dem blau erleuchteten Sonarraum unweit des Schiftsbugs leitete der erste Sonarmann Mike Morrison den Befehl weiter an den Operator. Hochfrequenztöne niederer Leistung, ausge strahlt von Transduktoren, die auf der oberen Außenhaut des U-Boots montiert waren, zeichneten ein Bild der Eisdecke, das mittels Computer-Enhancing in seiner Qualität noch ver bessert wurde. Gunner verfolgte, wie sich auf dem SonarRepeater, einem Sichtanzeigegerät, das die Bildschirme aus dem Sonarraum überspielte, die Unterseite der Eisdecke auf baute. Sie erschien als eine chaotische Streuung leuchtender Punkte, während der Sturm oben das Packeis zerfleischte und riesige Schollen losbrach. In Gunners Augen war das Eis eine Art unnatürlicher Regenschirm über der Erdoberfläche. Wenn die Hölle gefriert, dachte er, dann muss sie wohl so aussehen. »Sonar an Kontrollraum. Tiefe 275 Meter.« Fast lautlos glitt die »Reno« in die Barentssee. Auf dem Sonar-Repeater erschien die visuelle Darstellung der durch den Sturm verursachten Turbulenzen als eine Landschaft aus scharfkantigen Gipfeln und Tälern, die für alle Bewegungen der wandernden Eiskappe standen. Es läuteten keine Glocken, an den Schotten tauchten keine Eiskristalle auf, nichts verän 59
derte sich. Als zutiefst überhebliches, selbstgenügsames Mari neschiff, blieb ein Unterseeboot ungerührt von seiner Umge bung. Nur Gunner spürte den feinen Unterschied; »Reno« hatte die russische Zone betreten. Er musterte den rothaarigen Leutnant Miles Sharpe, der im Durchgang stand und ein Gähnen unterdrückte. War er müde oder bloß gelangweilt? Gunner hielt letzteres für wahrscheinlicher. Sharpe hatte sich freiwillig zum Wachgang gemeldet und wollte auf die Blaunasen-Zeremonie verzichten. Gunner wußte, dass sein junger Gefechtszoffizier noch immer darunter litt, den Krieg am Persischen Golf verpaßt zu haben. Die »Reno« war unterwegs in der Norwegischen See, während Sharpes Kameraden von der Marineakademie Einsätze flogen, ihre Tomahawks über Bagdad abschossen und sich Beförde rungen einheimsten. Bevor die »Reno« zur Patrouillenfahrt aus Norfolk ausgelaufen war, hatte Sharpe seine Versetzung in die Überwasserstreitkräfte der Marine beantragt und nahm es Gunner übel, dass der einen ablehnenden Bescheid empfohlen hatte. Gunner fing Sharpes Blick auf und winkte ihn heran. »Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten, Miles«, sagte er und beugte sich zu dem Leutnant vor. »Und das wäre, Sir?« »Ich hasse dieses verfluchte Eis. Es ist kalt, und drinnen ver stecken sich Taifunboote.« »Na ja, Skipper, deswegen sind wir ja hier. Das ist nun mal unser Jagdrevier.« Dann fragte er in aller Förmlichkeit: »Sind Sie bereit zur Ablösung?« »Ja«, antwortete Gunner und trat vom Gefechtsleitstand herunter. Sharpe ließ sich auf dem bequemen schwarzen Ledersessel nieder. »Bereit zur Ablösung am Gefechtsleit stand, Sir.« »Ich übergebe Ihnen das Kommando, Leutnant. Fahren Sie vorsichtig.« Dann fügte Gunner noch hinzu: »In der Offiziers 60
messe soll ein Pokerspiel im Gange sein, habe ich gehört?« »Stimmt, Sir. Nehmen Sie sich vor Leutnant O'Connell in acht, der hat gerade eine Glückssträhne.« Gunner sah sich noch einmal hastig im Kontrollraum um und verschwand dann Richtung Offiziersquartier. Als »Renos« Erster Offizier hatte Korvettenkapitän Augustus Trout jede Menge Papierkram am Hals. Als die »Reno« einmal in der Japanischen See vor Wladiwostok auf dem Meeresboden lag, hatte er nachgerechnet, dass er die Hälfte seiner insgesamt achtzehn Jahre in Uniform mit dem Ausfüllen von Formularen verbracht hatte, mit dem Lesen von Formularen, die andere ausgefüllt hatten, und mit der Anforderung neuer Formulare. Mit diebischer Vorfreude dachte er an die Rache, die er üben würde, wenn er sich den Admiralsstern verdient hatte. Er würde neue Formblätter entwerfen, um damit die rangniedrigen Offiziere zu drangsalieren. Sein winziger Schreibtisch war unter Stapeln von Wach scheinen, Bestellzetteln, Wartungs- und Instandhaltungslisten vergraben - lauter Unterlagen, die die Navy benötigte, um sich zu beweisen, dass ihr Schiff auf See war. Trout stand auf und reckte sich, sein wuchtiger Körper füllte die Kammer aus, die er sein Reich nannte. Er griff nach dem Telefonhörer und drückte einen Knopf mit der Aufschrift: »Steuermann, Wachoffizier.« Eine klare, volle Stimme antwortete: »Technische Abtei lung, Adams.« »Willie«, sagte Trout, »Ich habe keine Unterlagen über die neue Silberverlötung am sekundären Kondensator-Rohrleit system.« »Wir sind gerade dabei, Mr.Trout. Sie haben Sie vor Ende der Wache auf Ihrem Tisch.« »In Ordnung.« 61
Trout legte den Hörer auf und starrte gedankenverloren sein Bild in dem kleinen Spiegel hinterm Schreibtisch an. Wie immer erinnerte ihn die runde Gesichtsform an einen Schoko ladenkuchen. Die Navy hatte Gus Trout verwöhnt. Er kniff sich in seine feisten, braunen Wangen und dachte, vielleicht zu sehr verwöhnt. Was soll's, seine Frau hatte ihn verlassen, aber die Navy hatte ihn nie fallengelassen. Die Navy war seine Heimat, und die Spielregeln der Navy beherrschte er bis zur Per fektion. Auf See genauso sicher wie bei »Manövern« im Penta gon, wollte er einen Admiralswimpel für sich ergattern, und er hegte keine Zweifel, dass er ihn bekam. Er vernahm ein leises Klopfen, öffnete die Tür und sah Gun ner im Rahmen stehen, im Mundwinkel eine Zigarette. Im Gegensatz zu Trout war Gunners Abneigung gegen Marinepo litik notorisch. Der Kapitän war ein Seemann durch und durch, mit Bürokratie, Beförderungen oder vornehmem Getue konnte er nichts anfangen. Im Grunde seines Herzens ein Pirat, schlagfertig und selbstgenügsam, verfügte Gunner über genau die Mischung aus Vorsicht, Wagemut und Einfallsreichtum, die vom Kommandanten eines Angriffs-U-Boots erwartet wurde, aber er war kein Politiker. Trout war der Ansicht, dass sein Kapitän mehr in seinem Job leistete als jeder andere, der ihm bisher untergekommen war. Wenn er eine Macke hatte, dann die, dass er seine Mannschaft so hart rannahm, dass mehr Anträge auf Versetzung von der »Reno« kamen als von allen anderen Booten des Geschwaders zusammengenommen. »Wird langsam Zeit für die Party«, verkündete Gunner. »Gehen wir.« Die kleine Offiziersmesse der »Reno« diente gleichzeitig als Kantine, Konferenzraum, Kartenzimmer und Aufenthalts raum. Der jeweils befehlshabende Offizier bestimmte die Atmosphäre der Messe, und Gunner hatte seine Vorlieben deutlich gemacht und ein Poster mit dem Konterfei des großen englischen Admirals zur See, Sir Francis Drake, dem Pirat sei 62
ner Königin, aufgehängt. Als Gunner und Trout eintraten, beruhigte sich das ausgelassene Kartenspiel einen Augenblick. »Guten Tag, Skipper, Mr. Trout«, sagte Leutnant Eddy O'Connell und mischte das Blatt. Ein hoher Stapel mit Chips hatte sich vor dem jungen Leutnant aufgehäuft, dem einzigen Offizier, der sich noch nicht für den U-Boot-Dienst qualifi ziert hatte. O'Connell versuchte vergeblich, die Aufregung vor seiner ersten Blaunasen-Zeremonie zu verbergen. »Was spielen wir denn, meine Herren?« fragte Gunner, als Trout und er sich setzten. »Fünf Karten abheben, Buben oder höher.« Mit zitternden Händen teilte O'Connell ein Blatt gezogener Karten aus. Schwere Rauchschwaden hingen über dem Tisch. Gunner strahlte seine Offiziere an. Sie hatten nach Rang und Alter am Tisch Platz genommen, jeder ein Produkt der Mari neakademie, ein »Nuc«, ein U-Boot-Mann, ein Absolvent der Atomschule der Marine. Gunner sah sich um und blickte in ernste, erwartungsvolle Gesichter, junge Männer voller romantischer Vorstellungen, darauf erpicht, ihren Mut in gefährlichen Gewässern zu erproben. Die »Reno« fuhr Rich tung Norden, in den Hinterhof der Russen, und Gunner und seine Männer würden ihre Einfahrt in Kürze mit einem heili gen Ritus begehen. »Eröffne mit zwei blauen Chips«, sagte Trout mit barscher Stimme. Chips rasselten in die Mitte des Tisches. »Zwei Karten«, sagte der Offizier und fuhr fort: »Ich habe gehört, die Russen feiern eine Rotnasen-Zeremonie, wenn sie den Nordpol erreichen.« »Tatsächlich?« sagte Gunner. »Und wie geht das vor sich?« »Sie knüpfen sich alle nichtrussischen Matrosen vor, Letten, Georgier und weiß der Teufel, und schneiden ihnen die Nase ab, schnipp, schnapp! Einfach so! Und werfen sie den Polarbä ren zum Fraß hin.« 63
Leutnant O'Connell schaute mißbilligend erst seine Karten an, dann hinüber zu Trout. »Ich dachte, auf den russischen UBooten sind nur reinrassige Russen erlaubt«, sagte er. Aus Trouts Rachen dröhnte schallendes Gelächter. »Jetzt wissen Sie wenigstens, warum, junger Mann. Jetzt wissen Sie warum.«
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7. Kapitel Blaunasen Die Matrosen im Funkraum hatten Karten gezogen, um so zu bestimmen, wer während der Blaunasen-Zeremonie Wache schieben sollte. Erster Obermaat Frederick Wu hatte eine bescheidene Kreuz Drei und verfluchte sein Pech. Allein mit einem halben Dutzend Fernschreibern und Rega len, vollgestopft mit hochentwickelter nachrichtentechnischer Ausrüstung, von der das meiste bei Tiefe unbrauchbar war, schlürfte Wu seinen Kaffee und las in einem Handbuch der Elektrotechnik. Bei einer Tiefe von 120 Metern konnte die »Reno« nur ELF-Funksignale auffangen, Signale von extrem niedriger Frequenz. Die außerordentlich langsame Übertra gungsrate von einer Ziffer pro Minute beschränkte den Gebrauch der Einrichtung auf die Übermittlung von kurzen, codierten Funksprüchen. Bei fünfzehn Meter Tauchtiefe konnte das Boot über VLF, die Niederfrequenz, auch umfangreichere Funksprüche empfangen, ohne sich der Gefahr der Entdeckung durch feindliches Radar aussetzen zu müssen. Nach Wus Meinung verhalf der Dienst in der Arktis der Langeweile zu neuen Höhenflügen. Eine Fahrt in die Barentssee bot keine Aussicht auf einen Anlaufhafen, kaum Funksprüche, nichts als kaltes Meerwasser und Eis, sich dauernd verschiebende, krachende, nervtötende unendliche Eismassen. Geboren und aufgewachten in San Diego, ließ ihn allein der Gedanke an Eis erschauern, ein rein psychisches Phänomen, da die Temperatur im Innern des Schiffes konstant blieb. Er umfaßte die Kaffeetasse mit beiden Händen, wärmte sich dann und träumte vom Strand in Lajolla. Die arktische Ödnis erinnerte ihn an eine Wüste, und genau das waren die im ewigen Eis versunkenen Regionen, arktische Wüsten. Im Sonarraum hockten Obermaat Mike Morrison und Erster 65
Sonarmann Billy Stewart vor Displayanzeigen und ComputerTastaturen. Signale vom Packeis, vom Sturm und von der reichhaltigen Biosphäre der Barentssee flimmerten über die Schirme. Die sensiblen Horchfelder im Bug und im Achterschiff ließen nicht auf die Anwesenheit von Maschinen in der Tiefe schließen. Morrison erhob sich von dem Stuhl des Aufsichtführenden und musterte die Bildschirme. Die buschigen Augenbrauen, das Nickelgestell auf der Nase und der altmodische graume lierte Bart verliehen ihm das Aussehen eines U-Boot-Mannes aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. Mit 45 Jahren war er der Älteste an Bord, aber er fühlte sich mindestens so alt wie das zwanzigste Jahrhundert, von dem er ein ganzes Viertel in den diversen Sonarräumen der Unterseeboote der Atlantischen Flotte verbracht hatte. Normalerweise war der Sonarraum mit vier Wachgängern besetzt, aber für die Blaunasen-Zeremonie war eine Ausnahme gemacht worden. Morrison verschränkte die kräftigen Arme auf dem Rücken und klemmte sich ein unangezündetes kuba nisches Zigarillo zwischen die Lippen. Er bekleidete den tradi tionellen Posten des Chiefs, der einzigartig im U-Boot-Dienst war. Teils Priester, teils Seelendoktor, teils eine Art Stabschef, bestand die Aufgabe des Chiefs darin, Dinge ins rechte Lot zu rücken, bevor sie außer Kontrolle gerieten, zwischen den verschiedenen Rassen und ethnischen Gruppen Frieden zu stif ten, in den Hintern zu treten, wo es nötig war, und eine Blau nasen-Zeremonie abzuhalten, wenn sie auf der Tagesordnung stand. Er wandte sich an Stewart. »Sie müssen in der nächsten Stunde für uns alle hören, Billy, also nicht einschlafen!« Billy war zwanzig Jahre jünger und hatte die Figur eines Preisboxers. Er grinste und winkte ab: »Gehen Sie ruhig und blamieren Sie sich, ich scheiß' drauf. Meine Nase ist schon blau.« 66
»Der Computer hört sowieso alles eher als Sie«, meinte der Chief, womit er keineswegs Stewarts Fähigkeiten herabsetzte, sondern lediglich eine Tatsache konstatierte. Morrison ging, und Stewart fragte sich gelangweilt, ob der Chief ihm wohl den versprochenen Eisbecher bringen würde. Morrison bahnte sich einen Weg nach achtern zur technischen Abteilung. Im Steuerraum, von wo aus die Reaktoranlage bedient wurde, traf er Master Stabsbootsmann Willie Adams, »Renos« obersten Nuc. Alle paar Sekunden huschten Adams' Augen über Skalen und Meßinstrumente, die alle Wände in dem kleinen Kompart ausfüllten. »Keine Blaunasen heute?« fragte Morrison. »Ich kümmere mich schon um den Laden, danke«, sagte Adams. »Gehen Sie nur. Garrett schmeißt eine Party, bevor's losgeht.« Morrison schlüpfte durch eine Luke in den Maschinenraum. Eine auf lautlosen Lagern brummende Turbine übertrug ihre 35000 PS in ein superschallgedämpftes Untersetzungsgetriebe und schob die »Reno« weiter in die Barentssee hinaus. Morri son trat unauffällig in einen kleinen Lagerraum, wo Obertor pedomaat Darrell Garrett ihn mit einem Pappbecher Gilley begrüßte, in dem eine feurig rote Flüssigkeit schwamm. Gar rett hatte mehrere Einmachgläser Maraschinokirschen mit an Bord gebracht, den Sirup gegen trinkbaren Äthylalkohol aus getauscht, der sonst für die Reinigung der Torpedorohre ver wendet wurde, und das Gesöff eine Woche gelagert. Morrison trank einen Schluck, schmatzte mit den Lippen als Zeichen echter Kennerschaft. »Ausgezeichnet. Kein kühles Blondes, aber das tut's auch.« »Das macht zwei Dollar, Morrison.« Morrison kramte zwei verknüllte Geldscheine aus der Hosentasche, und Garrett goß noch einmal beide Becher voll. »Auf den Kalten Krieg«, sagte Garrett. »Auf dass er ewig währe und mir meinen Arbeitsplatz sichere.« 67
»Yeah, Bruderherz«, stimmte Morrison zu. »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« Garrett schraubte den Deckel auf das Glas, verstaute es in einem Spind und sagte: »Bringen wir's hinter uns.« An der Tür der Offiziersmesse war ein heftiges Klopfen zu hören. »Ich mach' schon auf«, sagte Gunner. Morrison stand drau ßen im Durchgang. Sein Kaugummi konnte den Geruch von Gilley nicht übertünchen, was Gunner geflissentlich igno rierte. »Was kann ich für Sie tun, Chief?« »Skipper, erbitte Erlaubnis, die Blaunasen ins Mannschafts logis einberufen zu dürfen.« »Ist das Ihr Ernst, Chief?« »Bei allem Respekt, Kapitän, aber da wir unter Eis sind, dachte ich, jetzt wäre die passende Gelegenheit. Wir sind längst über den Polarkreis hinaus.« »Erzählen Sie keinen Scheiß.« Ein Chor erstaunter Ausrufe erscholl von den um den Kar tentisch versammelten Offizieren. »Ich erzähle Ihnen keinen Scheiß«, sagte Morrison. »Das will ich auch stark hoffen. Erlaubnis erteilt. Sie können die Besatzung zusammentrommeln. Wir kommen in fünf Minuten nach.« Morrison schaltete den Bordfunk im Kommandoraum ein und sprach ins Mikrofon. »Alle Mann, Achtung. Hier spricht der Chief. Alle Mitglieder des Edlen Ordens der Blaunasen werden gebeten, zu einem Initiationsritus im Mannschaftslogis anzutreten.« Leutnant Sharpe ließ die Geschwindigkeit auf kleine Fahrt drosseln. Im Steuerraum schnitt Chief Adams den Turbinen die Dampfzufuhr ab, und das Schiff verlor sofort an Fahrt. »Trimmlage sichern«, befahl Sharpe. »Tiefe bei 120 Meter halten.« 68
Zehn Minuten später versammelten sich die vorgesetzten Chiefs im Logis. Keiner trug irgendwelche Rangzeichen, und jeder hatte einen Klecks blauer Farbe auf der Nase ver schmiert. Eine lange Reihe Matrosen säumte die Durchgänge zum Logis. In feierlichem Schweigen zog die Schlange an den Offi zieren des Ordens vorbei, und Morrison malte jede Nase blau an. Die Blaunasen hatten bereits auf einer früheren Fahrt den Polarkreis überschritten. Als alle entsprechend gekennzeichnet waren, stellten sich die Blaunasen in einem zwanglosen Halb kreis auf. Morrison proklamierte: »Der Edle Orden der BlaunasenMatrosen, Kapitel USS >RenoReno< und jedem Besatzungsmitglied einen tödlichen Elektroschock versetzen.« »Diese Schweine«, zischte O'Connell zwischen zusammen 74
gepreßtcn Zähnen hervor. Gunner dachte zurück an die Zeiten, als die Atom-U-BootMänner noch echte blaue Jungs waren, die das offene Meer kannten und einen Sturm noch in tausend Meter Tiefe wittern konnten. Heutzutage waren die jungen Matrosen hochintelli gente Techniker ohne jedes Salz in den Adern. Gunners Ansicht nach war O'Connell in der Lage, das beste Floß der Welt zu entwerfen. Aber den Mississippi könnte er damit nicht überqueren. Wenn man es sich recht überlegte, war die gesamte verfluchte Mannschaft der »Reno« so. Immer wenn das Boot bei schwerer See auftauchte und wirklich mal hin- und herschaukelte, wurde gleich die halbe Mannschaft seekrank. Gunner blickte O'Connell in die Augen. »Hat Ihnen auf die sem Boot schon mal jemand gesagt, dass der Kalte Krieg vorbei ist? Wenn in diesen Gewässern ein russisches Schiff auftauchte, dann würden uns die Jungs einladen, auf Wodka und Kaviar an Bord zu kommen.« Mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: »Es ist bloß ein Sturm.« »Ein Sturm?« Ein Ausdruck der Verwirrung verfinsterte O'Connells Miene. »Ein gewaltiger Sturm braut sich da oben zusammen«, erklärte Gunner geduldig. »Macht aber nichts. Denken Sie ein fach an all die wunderbare Technik, die nötig ist, um uns eine Nachricht zu schicken. An all die Tausende von Wissenschaftlern in Hunderten von Forschungslabors, die Milliarden Dollar ausgeben, um die schwarze Kunst der Kryptologie, der Raketentechnik, der Elektronik, die Umlaufbahnen der Satel liten und die Niederfrequenz-Funkübertragung zu beherr schen. Das ist doch was! Dieses massive Aufgebot an Hard ware wird bestellt, nur damit mir ein Wetteroffizier in Norfolk verklickern kann, was ich ohnehin schon weiß: Schwerer Sturm über Wasser. Und die Navy will sicherstellen, dass wir Bescheid wissen.« »VLF-Tiefe«, sagte Trout am Tiefensteuerstand durch. 75
»Gut«, sagte Gunner. »Bring sie in die Horizontale.« Ein Satellit im Synchronorbit um die Erde, 40000 Kilome ter über dem Nordatlantik, schickte einen hochkomprimierten und chiffrierten Datenfluß an ein Flugzeug der Navy, das über Norwegen kreiste. Computer an Bord der Maschine wandelten die Daten in VLF-Frequenzen um und übermittelten einen nicht abreißenden Signalstrom an das U-Boot-Geschwader der Atlantischen Flotte. »Funk an Kontrollraum. Erhalten VLF-Meldung.« »Sehr gut, Funk.« Im Funkraum filterten Computer die für die »Reno« bestimmten Signale aus der allgemeinen Funkübertragung heraus. Ein Teil der Nachricht blieb verschlüsselt, sie musste vom Kapitän entziffert werden. Gunner ging mit der Nachricht in den Dechiffrierraum, gab sein Paßwort in die Maschine ein, und ein paar Minuten später waren die digitalen Codefolgen in eine lesbare Sprache umgewandelt. AN DIE USS RENO: SOW.MAR. KLASSE TAIFUN HEUTE 0900 GMT IN DER BARENTSSEE NICHT ANGEKÜNDIGTEN SS-N-20 RAKETENTEST DURCH GEFÜHRT. SOW TV. FILM DER ÜBUNG AUSGE STRAHLT. IN GANZ USSR ANTI SOW.MAR. DEMON STRATIONEN. POLITISCHE FOLGEN UNKLAR. UMGEHEND GREMICHA ANSTEUERN UND BEWE GUNGEN DER TAIFUN AUFNEHMEN. Taifun! In Gunners Vorstellung beschwor allein das Wort das Bild eines atomaren Monsters herauf, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit seinen 110 Metern war die »Reno« ein langes Schiff, so lang wie ein Fußball-Feld. Ein Taifunboot würde das gesamte Stadion einnehmen. Die »Reno« war ausdrücklich zum Zweck der Verfolgung dieser riesigen Schiffe unter Eis gebaut worden, aber die Schiffe der Taifunklasse waren schwere Beute, die fast ausschließlich in den militärisch gesperrten Gewässern der Weißen See 76
operierten. Bei den fünf früheren Patrouillenfahrten in die Arktis hatte die »Reno« keinen einzigen Kontakt mit derart schwerem Gerät gehabt. Gunner konnte sich leicht ausmalen, was im Pentagon abge laufen war, als unerwartet eine Rakete aus dem Weißen Meer schoß. Alarmzeichen, Glocken, Summer, zehn Sekunden lang Panik, bis die Flugbahn berechnet war; wütende Anrufe über die Hot Line nach Moskau; eine hastig einberufene Krisensit zung über mögliche Reaktionen; welches U-Boot haben wir denn gerade in der Nähe von Gremicha? Die USS »Reno«, SSN 777. Schicken Sie Gunner hin. Wenn die Russen Spielchen spielen wollen, dann ist er der richtige Mann. Gunner spürte, wie ihn der Mut verließ. Sowjetisches Fern sehen? Demonstrationen? Politische Folgen nicht absehbar? Was zum Teufel bedeutete das alles? Handelte es sich um einen nicht genehmigten Abschuß? War irgendein dummdreister russischer Kommandant auf die Idee gekommen, mal eine Rakete in die Luft zu ballern, nur um sich den Kondensstreifen anzusehen? Sollte hier der Kalte Krieg wieder aufgewärmt werden? In was für eine Sache wollte ihn das Pentagon da reinziehen? Gunner ging zurück in den Kontrollraum. »Mr.Trout«, sagte er, »kommen Sie bitte in meine Kajüte.« Die winzige Kajüte des Kapitäns war spärlich eingerichtet, schmucklos, ohne jede persönliche Note, und es paßten kaum zwei Menschen hinein. Gunner setzte sich an seinen Schreib tisch und las den kurzen Funkspruch laut vor, während Trout hin und her lief, soweit der Raum das zuließ. »Diese Scheißrussen können einfach die Finger nicht von den Dingern lassen«, explodierte Trout, als Gunner geendet hatte. »Ich wette, diese Dreckskerle wollen den Kalten Krieg gar nicht aufgeben. Sie haben das nur gemacht, um uns zu pro vozieren.« An Trouts Tiraden gewöhnt, wartete Gunner einen Augen 77
blick, bis sich sein Offizier abreagiert hatte. »Treiben Sie nebenher ein bißchen strategische Planung für die Russen, Gus?« fragte er. »Verflucht, ja.« »Wir testen Raketen, sie testen Raketen«, sagte Gunner, eine Spur verärgert. »Was ist also dabei?« »Wir kündigen unsere Tests vorher an, wie sich das gehört, damit sich keiner aufzuregen braucht«, protestierte Trout aggressiv. »So wie russische Demonstranten, oder wie Sie?« fragte Gunner sanft. Gemaßregelt, unternahm Trout einen Versuch, sich zu beru higen. »Sieht ganz so aus, als ob die Russen eine Prise Sechzi ger verabreicht bekommen sollen, dreißig Jahre später«, meinte er. »Russische Raketenversuche im Fernsehen und Demonstranten auf den Straßen. Ich wünsche es mir für sie, nettere Typen gibt's doch gar nicht.« »Die Welt hat sich verändert, Gus«, sagte Gunner. »Es ist nun mal so, dass das russische Reich erledigt ist. Nur weiß das die Admiralität noch nicht. Ein einzelner Raketentest kann daran auch nichts mehr ändern. Beruhigen Sie sich. Immerhin patrouillieren wir jetzt nicht mehr in einer leeren Barentssee. Wir hocken draußen vor Gremicha, und Sie werden genug von Ihren bösen Russen zu sehen kriegen.« Trout ließ sich auf Gunners Koje nieder und massierte kurz seine Kopfhaut. »Der Kalte Krieg ist noch nicht vorbei, Jack«, sagte er. »Das wissen Sie genausogut wie ich.« »Na und? Wir können den Kalten Krieg ewig aushalten, solange er nicht in einen heißen Krieg umschlägt. Mensch, Gus, das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut. Die Russen werden niemals angreifen, weil sie nichts zu gewinnen und alles zu verlieren haben. Selbst wenn sich ihre Politiker verschätzen, ihre hohen Militärs wissen genau, dass sie nicht mithalten können. Sie können uns nicht besiegen, nicht in tau 78
send Jahren, und das wissen sie auch. Wenn sie uns wirklich bedrohen, würden wir sie in einer einzigen Minute auslö schen.« »Vielleicht«, sagte Trout, »aber die alte Sowjetunion zerfällt immer mehr, und das gefällt einigen von den hohen Tieren überhaupt nicht. Meine These: Niemand gibt freiwillig Macht ab. Das einfachste Mittel, von inneren Problemen abzulenken, ist, sich einen äußeren Feind zu suchen.« Gunner klopfte eine Lucky aus der Packung und zündete sie an. »Sagen Sie bloß. Genialer Gedanke. Dasselbe hat Bush mit Noriega und Saddam gemacht. Panama und der Irak sind dritt klassige Dritte-Welt-Länder, aber die Russen haben ein erst klassiges Dritte-Welt-Land. Sie springen nicht außerhalb ihrer Grenzen rum. Jetzt nicht, und auch in Zukunft nicht. Die Zei ten sind vorbei.« Als erzkonservativer Kalter Krieger hielt Trout, wie Hun derte Offiziere auch, an seiner antirussischen Einstellung fest. »Nein?« fragte er. »Haben sie sich auf wundersame Weise über Nacht in gute Menschen verwandelt?« »Gus, ich mache keine Politik. Ich bin U-Boot-Mann, und ich fahre, wohin man mich beordert. Keiner verlangt, dass Sie die Russen mögen, aber ich finde, es kommt nichts Gutes dabei raus, wenn man sie haßt.« Trout legte eine Pause ein, als denke er über eine grundle gende Wahrheit nach. »Ich hasse sie nicht, ich traue ihnen nur nicht über den Weg.« »Das ist nur recht und billig«, sagte Gunner und zeigte sich versöhnlich. Trout blickte sehnsuchtsvoll auf Gunners Zigarette und unterdrückte den Trieb, sich eine zu schnorren. »Mensch, Trout«, sagte Gunner, »nach diesem Einsatz krie gen Sie eine Trident. Darauf können Sie sich verlassen. Sie befehligen einen Riesenwal, und wenn Sie die Russen immer noch nicht mögen, können Sie sie dann ja zum Teufel jagen.« 79
Für Trout blieb Gunner ein Buch mit sieben Siegeln. Er redete wie ein Peacenik, aber Trout wußte, dass »Plutonium Jack« keine Sekunde zögern würde, den Startknopf für die Atomraketen zu drücken. Außer seinem Kommando hatte Gunner anscheinend keine Interessen. An Land führten sich die meisten U-Boot-Offiziere wie alle einigermaßen intelligenten menschlichen Wesen auf, mit ihren Fehlern und Macken und ihren klapprigen, halb verfaulten Segelbooten. Trout hatte geheiratet, war geschieden, hatte Kinder in die Welt gesetzt, ging angeln, bergsteigen und schipperte seine alte Triton durch die Chesapcake Bay. Nicht so Gunner. Der Kapitän hatte nie geheiratet. In Norfolk hatte er sich nicht dem Offiziersclub angeschlossen, nie an geselligen Veranstaltungen teilgenom men, tat nie was anderes, als sich auf die Patrouillefahrt in ark tischen Gewässern vorzubereiten. Er hatte sogar die MilitärSprachenschule in Monterey besucht, hatte Russisch gelernt und las häufig russische Bücher, Zeitungen und Militärzeit schriften. Für einen Menschen, der die Russen nicht bekämp fen wollte, hatte er die erste Regel für den Kampf gewissenhaft befolgt: Kenne deinen Feind. Gunner schloß seinen Safe auf, holte eine Mappe in einem roten Schutzumschlag hervor, auf dem »Top Secret« zu lesen war, und entnahm ihr Satellitenaufnahmen und eine genaue Analyse der letzten russischen Marineoperationen. Er breitete die Unterlagen in seiner Kajüte aus. »Sehen Sie sich das mal an, Gus«, sagte er. »In letzter Zeit hat sich ein ungewöhnliches Bewegungsmuster für die Schiffe der Russen entwickelt. Die alte Rote Armee hatte selten mehr als fünfzehn Prozent ihrer Schiffe gleichzeitig auf See. Diese Zahl ist jetzt auf zehn Prozent geschrumpft und nimmt weiter ab. Schiffe im Einsatz kehren heim, ohne dass sie durch neue ersetzt werden. In der Baltischen See, dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer patrouillieren kaum noch Schiffe.« »Das sind ja auch im wesentlichen Gebiete, in denen nicht 80
russische Volksgruppen leben«, warf Trout ein. »Der wichtig ste Schwarzmeerhafen, Odessa, liegt in der Ukraine.« »Stimmt«, sagte Gunner, »aber die Pazifische und die Nord flotte ziehen sich ebenfalls zurück. Die Marine ist schon immer die unabhängigste der drei Waffengattungen gewesen, und bekanntlich können sich die zivile Regierung in Moskau und die Marineführung in Sankt Petersburg nicht riechen. Liegen die Schiffe im Hafen, ist eindeutig, wer das Sagen hat. Sind sie aber auf See, vor allem strategische Raketen-U-Boote, wird die Antwort schon schwieriger.« »Wollen Sie damit andeuten, dass Moskau Angst vor seiner eigenen Flotte hat?« »Das ist eine Erklärung, und sie ist entweder gültig oder nicht. Im Moment hat Moskau vor allem möglichen Angst. Die Sowjetunion gibt es schon nicht mehr, und auch die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten kann jede Minute ausein anderbrechen. Ich glaube, es wird darauf hinauslaufen, dass sich die Russen darum streiten, wer das Oberkommando über ihre bewaffneten Kräfte hat. Wir können nichts anderes tun, als die Situation im Auge behalten und ermitteln, ob sie für uns irgendwie bedrohlich ist. Das ist doch nur redlich.« »Ich würde eine SS-N-20 als eine schlimme Bedrohung ansehen«, stellte Trout fest. »Einverstanden«, seufzte Gunner. »Der Vogel flog aus einem Taifunboot heraus. Für diesen Test kommt nur ein Mensch in Frage.« »Zenko!« sagte Trout. »Ja, Zenko. Die Boote der Taifunklasse sind sein Leben. In einem Bürgerkrieg könnte sein Geschwader die halbe Welt ver wüsten, von der Ukraine bis China. Wir müssen herauskrie gen, was Zenko mit seinen Booten vor hat und wie er sie einsetzen will. Vielleicht sollte genau das der Raketentest bewirken, Gus - ein Signal an Moskau.« »Was sollen wir der Mannschaft sagen?« fragte Trout. 81
»Die Wahrheit. Wir fahren nach Gremicha. Vielleicht müs sen wir auf Grund gehen und wochenlang Ruhe im Boot hal ten. Schwerer Dienst für alle Mann. Sie sind jetzt Blaunasen. Die werden das schon aushalten.« Gunner stand auf und öffnete die Tür, um Trout zu entlassen. »Halten Sie Kurs auf einen Punkt 250 Kilometer nördlich von Gremicha«, sagte er. »Wir nehmen sie uns von Norden her vor und gehen so nah wie möglich ran.“ »Aye, aye, Skipper.« Gunner schloß leise die Tür und streckte sich auf seiner Koje aus. Er wußte, er würde nicht einschlafen können. Immer wenn er die Augen zumachte, sah er grelle blaue Lichter, winzige Punkte über einer ausgedehnten weißen See. Einer nach dem anderen schossen sie in den Himmel und verschwanden. Von dem Moment an, wo die »Reno« in Norfolk ablegte, hatten die Lichter an Intensität zugenommen, bis jetzt, nach zwölf Tagen auf See, jeder Lichtschein impulsweise strahlte und hinter seinem Augapfel zu einer Nova wurde. Manchmal, wenn die Lichter aufstiegen, stellte sich Gunner vor, es seien menschliche Seelen, die gegen den Himmel streb ten, aber die Flugbahn schlug eine Kurve zurück zur Erde, und die Seelen stürzten in das Höllenfeuer explodierenden Plutoni ums. Sechzehn Zündungen, sechzehn blaue Lichter, sechzehn Tomahawk Cruise Missiles, die quer durch das Universum rasten und das Ende der Zivilisation bedeuteten. Die Lichter flackerten, wurden stärker und verblaßten dann. Auf seiner letzten Patrouille hatte Gunner die Hoffnung aufgegeben, diese ganz privaten Dämonen auszutreiben, bevor er für immer von Bord ging. Er spürte die Finsternis der dicken, kalten Eismassen, die ihn wie ein unsichtbarer Panzer umgaben. Er spürte, wie das UBoot beschleunigte und wie der Dolch eines Mörders in die feindlichen Gewässer trieb. Vor ihm lag eine See voller 82
Taifune und Akulas, Zyklonen und Haie, die ältesten Feinde der Seeleute. »Plutonium Jack« Gunner hatte Angst.
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9. Kapitel
Die Barentssee
Wenn die Barentssee eine mit Wasser gefüllte Badewanne war, dann war der Baldachin aus Eis der Seifenschaum, der oben schwamm. Selbst der tiefste Eiskiel hinterließ kaum eine Beule im Becken, das im Durchschnitt 230 Meter tief war. Bei einer Fahrttiefe von 120 Metern ließ die »Reno« die Komponente Eis in der Gleichung der arktischen Seefahrt unberücksichtigt. Vor dem Aufkommen der Atom-U-Boote waren Fahrten unter Eis auf wenige Stunden begrenzt. Ein U-Boot mit die selelektrischem Antrieb benötigt Sauerstoff und muss wieder unter der Eisdecke hervortauchen, um neue Luft zu tanken. Ein Atom-U-Boot stellt seine Atemluft selbst her, indem es Meerwasser entsalzt und das Süßwasscr einer Elektrolyse unterwirft. Ein Atom-U-Boot kann daher fast unbegrenzt unter Eis bleiben, bis seine Vorräte ausgehen oder die Mannschaft durchdreht. Für die »Reno« stellte die Durchquerung einer eisbedeckten See kein größeres Problem dar als eine Kreuzfahrt im Atlantik. Eis und der Effekt, den der magnetische Pol auf einen Ma gnetkompaß ausübt, machen ein genaues Navigieren in nörd lichen Breiten unmöglich. Die Erforscher der Arktis fanden sehr schnell heraus, dass sich ihre Kompaßnadel wie wild drehte, was erfahrene Seeleute als Breitenroulette bezeichnen. In der langen Polarnacht, in der es keinen erkennbaren Hori zont zu geben scheint und der Himmel sich um einen Nord stern dreht, der direkt über dem Betrachter steht, ist Astrona vigation per Sextant nicht möglich. In der gleich langen Tagesphase schwebt die Sonne an einem verschwommenen Horizont. Die ersten mutigen Abenteurer, die den Nordpol erobern wollten, gingen im Kreis, verloren die Orientierung und fanden auf der wandernden, wild zerklüfteten Eisdecke 84
den Tod. Der Arktische Ozean blieb lange Zeit das letzte Meeresge biet, das es zu erobern galt - bis 1958, als das erste atomgetrie bene U-Boot, die USS »Nautilus«, die erste Durchquerung des Polargebietes unter Wasser unternahm. Ausgestattet mit Inertialnavigation, drei Gyroskopen, die von einem festen Ausgangspunkt aus Bewegungen in drei Richtungen genaue stens messen können, blieb die »Nautilus« von den Auswir kungen des magnetischen Pols verschont. Heutzutage sind Satelliten oder das Standard-Loran in der Lage, die Genauigkeit der Inertialnavigation zu überprüfen. Eine zweite Kontrolle läßt sich mittels Distanzmessungen vornehmen, der Entfernung zu bekannten geologischen Merkmalen auf dem Meeresboden. Nach über dreißig Jahren Unterwassernavigation ist der Grund der Barentssee sorgfältig kartiert. Meeresberge und -rinnen sind allgemein bekannt. Die »Reno« durchquerte daher die Barentssee unter der Eisdecke und erreichte kursgernäß die Mittelstraße zwischen der Küste der Kolahalbinsel und Nowaja Zemlaja, einer großen Insel aus Permafrost und Kältesteppe, die von den Russen als Atomtestgelände genutzt wird. Zwischen der Insel und Kola, 250 Kilometer südlich, erstreckt sich ein ausgedehntes Sonar netz. Kommandant Trout meldete: »Wir befinden uns über dem äußeren Gürtel des russischen Sonarnetzes, Kapitän.« »Ruhe an Bord«, befahl der Kapitän.« »Ruhe an Bord, aye.« Leise hallte das Kommando in jeder Abteilung wider. »Alle Maschinen stop.« »Alle Maschinen stop, aye.« Der Dampffluß wurde unterbrochen, die Schraube blieb ste hen, und das Schiff trieb allein durch den Schwung vorwärts. »Kontrollraum an Sonar, melden.« Das Sonarsichtgerät, das das gesamte Netz erfaßte, zeigte 85
Eisgewitter an der Oberfläche und die Reflexion vom Boden an. Eisscanner wiesen unweit des Küstenbereichs der Insel ver ankertes Eis aus - Unterwasser-Stalagmiten, die wie umge drehte Eiszapfen aussehen. Das Prozeßsignal zeigte überhaupt nichts an. Und die Sonarcomputer stießen auf keine mechani schen oder elektronischen Geräusche. »Sonar meldet, alles klar, Skipper.« Gunner strich sich über das Kinn. »Wo steckt er, Gus? Wo ist unser alter Freund, der Iwan?« »Offenbar sucht er nicht nach uns.« »Ihr Verhalten war doch sonst immer so vorhersehbar«, schnaubte Gunner. »Sind sie klüger geworden oder leiser, oder beides?« »Vielleicht haben sie die Flotte versenkt und ihre Matrosen zum Kartoffelpflanzen geschickt.« »Das würde mich nicht überraschen«, meinte Gunner. »Wenn ich Hunger hätte, würde ich das auch tun.« Gunner schaltete die Gegensprechanlage ein und drehte die Lautstärke herab. »Achtung, alle Mann herhören«, begann er seine Durchsage. »Wir betreten feindliche russische Gewässer. Von jetzt an herrscht bis auf weiteres Ruhe an Bord. Sie alle sind erfahrene U-Boot-Männer und kennen ihre Arbeit. Von jetzt an sind wir Piraten. Unser Auftrag besteht darin, der rus sischen Marine ihre militärischen Geheimnisse zu entreißen, und das können wir nur, wenn sie nicht weiß, dass wir hier sind. Also halten Sie Ruhe. Das ist alles.« »Bravo«, sagte Trout. »Vielen Dank«, antwortete Gunner. »Kontrollraum an Steu erraum.« »Steuerraum.« »Triebwerke einschalten.« »Triebwerke eingeschaltet, aye.« Chief Adams verstärkte den Dampf auf den Turbogenerator und führte zwei hinter dem Heckruder montierten Wasser 86
kraftantrieben elektrische Energie zu. »Steuerraum an Kontrollraum. Triebwerk bereit.« »Alle Kraft auf Trieb werk.« Die beiden kleinen, aber starken elektrischen Hydroturbi nen spülten Meerwasser nach achtern und schoben das Boot mit einer Geschwindigkeit von sechs Knoten geräuschlos voran. Seit Beginn der Unterwasserschiffahrt im 19. Jahrhundert galten die U-Boot- Männer als Außenseiter. Im Ersten Welt krieg demonstrierten die U-Boot-Besatzungen. dass Feldzüge gegen den Feind nicht länger von feinen Herren geführt wur den, sondern von Piraten, die ihre Unsichtbarkeit dazu nutz ten, Schrecken zu verbreiten. Unter Wasser gibt es keine Gesetze. Irgendein Seerecht nannte die Barentssee zwar internationa les Gewässer, aber Gunner war klar, dass er das Privatrevier der Nordflotte betreten hatte. Von jetzt an galt auch er als Outlaw, und die russische Marine würde jedes Vordringen weiter südlich als einen Akt der Aggression bewerten. Gunner ließ alle halbe Stunde anhalten und horchte ins Was ser hinein. Jedesmal verkündete Morrison: keine Kontakte. Nach der dritten Meldung formte sich in Gunner der Verdacht, dass die Russen die Barentssee längst geräumt hatten. »Wo stecken sie, Gus? Wo zum Teufel stecken sie?« Die »Reno« bewegte sich geräuschlos, mit List und Tücke, wie ein Einbrecher bei Nacht. Die russischen Sonare registrier ten keinen Maschinenlaut. Das ausgeklügelte System des auf dem Boden ausgelegten Sonarnetzes, dazu konstruiert, jeden Einbruch unter Wasser im Küstengebiet der Kolahalbinsel auf zuspüren, versagte total. Ungesehen und ungehört kroch die »Reno« wie ein geschickter Kampftaucher ins Innere Rußlands vor. Keine ein zige Vibration erschütterte die Decks. Nur das Inertialnaviga tionssystem des Schiffes nahm die Passage der »Reno« durch 87
die finsteren Gewässer der Barentssee wahr. Ohne Wetter, ohne Himmel, ohne Horizont, ohne jegliche Temperatur schwankungen lösten sich Tag und Nacht auf. Der Zeitablauf wurde allein durch den Wachwechsel markiert. Jeder Diensttu ende hatte vier Stunden Wachgang, gefolgt von acht Stunden Freizeit, die fürs Schlafen, Essen oder Kartenspiel draufgin gen, fürs Pauken für Qualifizierungen und Examen oder für das Aushecken noch phantasievolleren Zeitvertreibs, um bei Verstand zu bleiben. Alle sechs Stunden bereiteten die Köche hundert Mahlzeiten, und die Vorräte an grünem Salat und Frischmilch verringerten sich rasch. Alle zwölf Stunden sagte der Steuermannsmaat über die zentrale Lautsprecheranlage Datum und Uhrzeit in mittlerer Greenwichzeit an, aber nur wenige Matrosen zeigten Interesse, solange sich der Einsatz nicht in die Länge zog. Das Datum war genauso egal wie der Breitengrad oder die Tiefe. Die wirkliche Welt war weit weg, ausgetauscht gegen eine Stahlröhre, kaum mehr als zehn Meter im Durchmesser. Im Sonarraum wurde Billie Stewart von Morrison die Erlaubnis erteilt, seinen Pornobuchladen zu öffnen. Jeder Matrose durfte zwei Seesäcke mit persönlichen Gegenständen an Bord nehmen. Statt mit Kleidungsstücken hatte Stewart seine Säcke mit Hunderten billiger Pornoheftchen und einer ansehnlichen Sammlung in Plastik eingeschweißter Fotos mit obszönen Darstellungen gefüllt. Torpedoschütze Garrett war einer der ersten, der Interesse an Stewarts Bibliothek bekundete. Er tauchte im Sonarraum auf und sagte zu Garrett: »Ich habe gehört, Sie hätten Bücher anzubieten?« »Ach ja?« »Und Plastikbildchen?« »Die habe ich auch.« »Zeigen Sie mal so 'n Buch her.« Stewart schnürte einen der beiden Säcke auf und reichte 88
Garrett ein Taschenbuch mit dem Titel »Eine Nacht in Hamburg«. Der reißerisch aufgemachte Umschlag zeigte eine düstere Straße, gesäumt von Häusern, in deren Fensterrahmen spärlich bekleidete Frauen unter roten Laternen hockten. Garrett schlug das Buch auf, las wahllos eine Seite und zupfte sich an der Nase. »Zeigen Sie mal so ein Foto.« Stewart schob ihm die postkartengroße Farbaufnahme einer nackten Frau hin, die sich auf einem Bett fläzte, die Beine gespreizt. »Ich möchte ein Buch kaufen und ein paar Bilder. Was macht das zusammen?« »Diese Bücher sind nicht zum Verkauf«, erklärte Stewart. »Sie werden nur gegen Gebühr ausgeliehen. Wenn Sie Ihren Spaß haben wollen, müssen Sie sich in die Kartei einschrei ben.« »Wieso?« Stewart ließ Garrett weiter das Buch und die Fotos anschauen, während er ihm die Geschäftsbedingungen ausein andersetzte. »Ich führe dreihundert verschiedene Buchtitel und sechshundert Fotos. Sie suchen sich ein Buch und zwei Fotos aus, behalten sie, solange Sie wollen, bringen sie zurück, und ich gebe Ihnen eine neue Kombination. Sie können sich pro Einsatztag zwei Kombinationen ausleihen und haben trotzdem niemals ein und dieselbe. Abwechslung lautet das Zauberwort, Mann, ununterbrochenes Lesevergnügen auf Dauer, und dazu hübsche Bilder, mit denen Sie auch unter die Dusche gehen können.« »Wieviel macht das?« »Weil Sie's sind, Garrett, zwei Scheinchen.« »Und wieviel ist das?« »Leben Sie hinter'm Mond, Garrett? Zweihundert Dollar.« »Das ist ja der reinste Nepp!« »Ach ja? Vielleicht gibt's ja noch einen anderen Pornoladen auf dem Schiff, Kumpel.« »Ich überleg's mir noch.« 89
»Tun Sie das. Und wenn Sie nicht auf Mädchen stehen, ich habe auch Bilder von Jungs, mit Riesentorpedos.« »Ich bin keine Schwester.« »Mir doch egal.« Fünf Minuten später stand Garrett wieder da, in der Hand ein Bündel zerknüllter Geldscheine. Bei einer guten Patrouil lenfahrt machte Stewart einen Schnitt von fünftausend Dollar, die er größtenteils heim Poker wieder auf den Kopf haute. Morrison sorgte dafür, dass zehn Prozent der Einnahmen in die sogenannte Sonargaststiftung abführte, bares Geld, das am Ende einer Patrouille immer für eine riesige Schlemmerei für die Sonartruppe draufging. Ein paar Stunden später, als die Wache endete, platzte Morrison in die Messe der Chiefs. Er trug die schwarze Mütze der russischen U-Boot-Männer und wedelte mit einem kleinen russischen Marinewimpel. Sein dröhnendes Lachen hallte von den Wänden wider und erfüllte den engen Raum mit einem magischen Gejohle. »Iwan ho!« brüllte er, schlug Chief Garrett auf die Schulter und blaffte mit russischem Akzent: »Imperialistisches Schwein! Hast du mich vermißt? Du wirst mich noch vermis sen. Da. Ich gehe jetzt nach Hause.« Er streifte mit einem Zeigefinger am Hals entlang und meinte: »Kalter Krieg vorbei. Finito. Kaputt. Womit sollen wir jetzt die Zeit totschlagen?« »Ich weiß nicht, was daran so komisch sein soll, Morrison«, sagte Garrett. Seine Unterlippe zuckte. »Um Himmels willen, Garrett. Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.« »Du Würstchen, Morrison. Verpiß dich.« »Komm schon, Mann. Nimm's nicht so schwer. Dein gan zes Leben hat man dir beigebracht, die Russen sind dein Feind, das Reich des Bösen und den ganzen Scheißdreck. Jetzt ist der Eiserne Vorhang verschwunden und Frieden ausgebrochen. O 90
je, was soll ein Kalter Krieger, der mit Leib und Seele bei der Sache ist, da anstellen?« Garrett überlegte einen Augenblick, stocherte in seinem Essen rum. »Wenn der Kalte Krieg vorbei ist, wieso sind wir dann hier? Kannst du mir das verraten, Klugscheißer?« Morrison holte sich ein Tablett und schaufelte sich Leberkäse und Kartoffelbrei auf seinen Teller. »Gute Frage. Warum sind wir hier auf unserem guten alten Dampfer >RenoWarten auf Godot< gesehen?« »Hör mal, Eierkopf«, sagte Garrett. »Ich weiß verdammt noch mal genau, warum ich hier bin, auch wenn du es nicht weißt.« »Du hast eine große Klappe, Garrett, aber ich kann zurück beißen. Also gut, warum?« »Weil mir der Kalte Krieg den größten Spaß meines Lebens bereitet hat. Der Kommunismus oder die Russen sind mir scheißegal. Mit Iwan Schiffe versenken, das ist das tollste Spiel überhaupt.« »Vielleicht war es das mal«, sagte Morrison, »aber die Zeiten sind vorbei. Tick, tick, tick, tack, das letzte Pfeifsignal.« Er stieß seine Gabel in ein Stück Leberkäse und hielt sie hoch. »Die russische Bedrohung ist wie dein Mittagessen, das schutzlos an deiner Gabel steckt. Jetzt kannst du's noch sehen« - er hielt einen Moment inne, um sich den fettigen Bissen in den Mund zu stopfen -, »und schwupp, schon ist es weg.« »Du hast nur Scheiße im Sinn«, sagte Garrett kopfschüt telnd. »Hab' ich nicht.« Morrison lachte. »Ich hab' nur Leberkäse im Sinn, so wie du.« Er blickte sich um, drehte den Kopf blitz schnell nach links und rechts und raunzte: »Wo bleibt denn die Getränkekellnerin? Ich hatte mir doch noch einen Wodkalemon 91
bestellt. Was ist bloß mit der Navy los? Scheiße, wäre ich doch bloß betrunken.« »Halt die Klappe, Morrison. Halt deine verfluchte Klappe und laß uns in Ruhe essen.« Morrison aß ein paar Bissen von seinem Leberkäse und dachte an die Barentssee. Hier hausten die abscheulichen Tai fune unter der Eisdecke, bewacht von einem Geschwader leiser schneller Angriffs-U-Boote der Akula-Klasse. Warum, ver dammt noch mal, waren sie hier? Die »Reno« rückte zentime terweise gegen Gremicha vor, und Morrison argwöhnte, dass die Navy einen brennenden Holzscheit an die Glut des Kalten Krieges hielt, um ihn wieder voll entflammen zu lassen. Gar rett würde die Chance seines Lebens erhalten, mit den Russen zu spielen, aber irgendwie, dachte Morrison, würden die Rus sen ein amerikanisches U-Boot in ihren Gewässern nicht als Spielzeug ansehen.
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10. Kapitel Archangelsk An Bord der »Sowjetski Sojus« stieg Obermatrose Sorokin zum Quartier der Rekruten hinab, um die erste Wache auszu rufen. Er stieß auf Typow, den Jungen von der Komsomol, der im Durchgang hockte und aufmerksam den Text über gesättig ten Dampf las, den er ihm als Hausaufgabe gegeben hatte. »Wie geht's?« fragte Sorokin, der sich darüber freute, dass der junge Frischling seine Pflichten ernst nahm. »Es ist schwierig«, gab Typow mit naiver Offenheit zur Antwort, »aber interessant.« »Hat man Ihnen in der Komsomol nicht beigebracht, dass Sozialismus Wissenschaft ist?« »Doch, Obermatrose, aber in Babajewo haben wir keine Atomkraftwerke. Da hat noch nie jemand was von gesättigtem Dampf gehört. Das ist nicht wie in Sankt Petersburg.« »Möchten Sie wirklich Seemann werden?« »Ich weiß nicht, jedenfalls will ich kein Dummkopf blei ben.« Sorokin wandte sich ab, fragte aber noch: »Warum liegen Sie nicht in Ihrer Koje? Ist doch viel bequemer als im Durch gang.« »Gehen Sie mal rein. Sie werden schon sehen«, nuschelte Typow und vertiefte sich wieder in die Seite mit den Gleichun gen. Sorokin drängte sich in den Raum und störte ein Dutzend Frischlinge bei ihrem Budenzauber. Rockmusik tönte aus einem Kassettenrekorder, und junge Matrosen schwoften zu »Dancin' in the Street« von Martha and the Vandellas. Petja Bulgakow tänzelte rüber zu Sorokin und sagte: »Hallo, Genosse Boß. Tanzen Sie doch mit.« »Mittanzen? Ihr könnt mich mal. Ist das dein Musikapparat, 93
Kleiner?« »Ja. Gefällt er Ihnen?« »Ich dachte, du hättest etwas mehr Grips, kleiner Scheißer«, sagte Sorokin streng. »Macht den Apparat aus. Wenn euch ein Offizier erwischt, gibt's Ärger.“ »Wieso? Wir haben unsere blöde Rakete doch abgeschossen, Genosse. Was können uns die hohen Tiere schon antun, was schlimmer ist, als auf diesem Schiff zu dienen?« »Sie können euch die Freiheit nehmen, Schwachkopf«, brüllte Sorokin über die Musik hinweg. »Wir tauchen in einer Viertelstunde auf. Kapiert? Wenn ihr tanzen und Frauen aufrei ßen wollt in Archangelsk, dann macht gefälligst die Musik aus.« Kopfschüttelnd machte Sorokin kehrt und ging zurück zur Kommandozentrale. Die Musik hinter ihm erstarb. Zwölf Uhr mittags tauchte die »Sowjetski Sojus« in einer langen, von einem Brecher eisfrei gehauenen Rinne 8000 Meter vor Archangelsk auf. Der Ausguck blickte auf eine Dunstglocke aus braunem Qualm über der alten Stadt. Archangelsk! Allein der Name versetzte die Mannschaft in Aufregung. Der Ausguck reckte die Daumen in die Höhe und grinste. Von der Brücke aus entdeckte Kapitän Malakow nur zwei kleine Eisbrecher und eine weiße Fähre, die durch den sonst so betriebsamen Hafen tuckerten. Selbst im strengsten Winter herrschte hier durch die zahllosen Schlepper und ihre Last kähne immer reges Treiben, heute war es leer. Der Raketenoffi zier Leutnant Minski, geboren in Archangelsk, vom Kapitän auf die Brücke gebeten, bemerkte, wie ruhig und geduckt die Stadt heute wirkte. Gerade schoben sich die hohen Schornsteine der Schiffs werft 402 des Ministeriums für Rüstungsindustrie von Sewe rodwinsk ins Blickfeld. Minski fiel auf, dass einige Schorn 94
steine, die sonst tagein, tagaus in Betrieb waren, heute keinen Qualm austießen, Ein weiteres unheilvolles Zeichen. »Funk an Brücke«, meldete sich der Funkoffizier über den Bordlautsprecher. »Ich habe den Werftkommandanten in der Leitung. Er will mit Ihnen sprechen, Kapitän.“ »Stellen Sie durch.« »Kapitän Malakow?« fragte eine nervöse Stimme. »Hier Oberst Wolostow vom Rüstungsministerium. Wir haben ein Problem. Unsere zivilen Arbeiter haben heute morgen einen wilden Streik ausgerufen und ihren Arbeitsplatz verlassen.« Malakow spürte plötzlich aufkommende Mordgelüste, aber er blieb ruhig. »Können Sie uns einen Liegeplatz besorgen?« »Ja, aber ...« »Was, aber ...« »Es wäre besser, wenn Sie wieder nach Gremicha zurück fahren würden!« »Kommt nicht in Frage! Sie haben doch Marinepersonal auf der Werft, oder nicht?« »Ja.« »Dann treiben Sie die Männer gefälligst zur Arbeit, wenn sie nicht massenhaft desertiert sind. Malakow, Ende!« Zwei Marineschlepper legten längsseits an und schoben die »Sowjetski Sojus« sanft nach Sewerodwinsk. Als sich das UBoot dem Küstenstreifen näherte, erkannte Malakow zwei grüne Oberleitungsomnibusse im Hafengebiet, aber kaum anderen Verkehr. Ein paar Lastwagen und ein einzelnes militä risches Streifenfahrzeug rollten den Weißmeer-Boulevard hin unter. Archangelsk lag versunken im Schlaf. Die Schlepper lotsten das Schiff zu einem der überdachten Liegeplätze, die angelegt worden waren, um das kostbare Gerät der Marine gegen die Unbilden des nördlichen Wetters zu schützen. Als das U-Boot einfuhr, spürte das Brücken kommando förmlich die unheimliche Stille. Statt der gewohn ten Geräuschkulisse mit quietschenden Kränen, heulenden 95
Schweißgeräten und stampfenden Maschinen lag die Schiffs werft diesmal verlassen da. Von der Brücke aus verfolgte Malakow, wie ein notdürftig zusammengestelltes Küstenkommando aus Marineinfanten sten seiner Besatzung beim Anlegemanöver zur Hand ging. Am Ende des Kais stand eine einsame Gestalt, unruhig und jämmerlich: Werftkommandant Oberst Wolostow. Als die »Sowjetski Sojus« am Poller festgezurrt war, klet terte Malakow von der Brücke hinunter und brüllte wütend: »Was zum Teufel ist hier los?« »Kapitän Malakow, die Stahlarbeiter haben Lohnerhöhung verlangt und heute morgen einen wilden Streik ausgerufen, und die übrigen Arbeiter haben sich aus Sympathie angeschlossen. Heute wurde am Haupttor gegen die Marine demonstriert. Die Arbeiter wollen mehr Geld, und die Demonstranten sagen, sie kriegen zuviel. Es kam zu einem Kampf, und als die Miliz anrückte, gingen Arbeiter und Demonstranten gemeinsam gegen sie vor.« Malakow blickte den Mann haßerfüllt an. »Das hier ist ein Militärhafen! Sie Schlappschwanz! Ich könnte Sie dafür erschießen lassen.« »Ich kann nichts dafür, Kapitän, ich bitte Sie. Die Zivilisten kehren nach ein paar Tagen wieder an ihren Arbeitsplatz zurück, vielleicht sogar schon morgen. Ich versichere Ihnen ...« »Ihre Versprechungen können Sie sich sparen«, zischte Malakow. »Haben Sie die Admiralität verständigt?« »Selbstverständlich.« »Und das Hauptquartier der Nordflotte?« »Ja, Kapitän. Sie waren auf See. Wir haben nichts als Pro bleme.« Malakow begriff, dass es keinen Sinn hatte, einen glücklosen Funktionär zusammenzustauchen, der Kräften unterlag, auf die er keinen Einfluß hatte. Das hier war Rußland, hoffnungslos, hilflos, wie gelähmt. »Wie kann man bloß so 96
eine Marine führen?« sagte er. »Genosse Werftkommandant, wir brauchen für die Routinewartung Ihre Geräte und Ersatzteile aus dem Lager. Wir kümmern uns lieber selbst um unser Schiff.« »Unsere Ersatzteillager sind leergeräumt«, jammerte der Kommandant. »Die Eisenbahnarbeiter haben zur Unterstüt zung der Werftarbeiter ebenfalls ihre Arbeit niedergelegt. Es stinkt zum Himmel, Kapitän, die Lage könnte nicht schlimmer sein.« »Funktioniert überhaupt noch irgend etwas in dieser gott verfluchten Stadt?« »Die Bars, Kapitän«, antwortete Wolostow mit leuchtenden Augen. »Der Wodka fließt in Strömen.« »Na wunderbar«, sagte Malakow spöttisch. »Erst streiken, dann saufen, dann nach Hause gehen und fernsehen. Das ist das moderne Rußland. Ich halte mich an die Marineinfanterie, um Eisenbahnwaggons zu entladen, wenn es sein muss.« »Ich begreife nicht, was in diesem Land vor sich geht«, jam merte Wolostow. »Ich schwöre, ich versteh's einfach nicht.« »Ich schon«, schnauzte Malakow ihn an. »Arschlöcher wie Sie kommandieren eine Schiffswerft. Gehen Sie mir aus den Augen!« Wolostow schlich sich davon, dachte nur noch an die Wod kaflasche, die er in seinem Büro versteckt hatte. Zerrieben zwi schen den Gewerkschaften und der Marine, konnte man gleich ins Wasser springen. Wenn das Eis in ein, zwei Monaten geschmolzen war, würde er es versuchen. Malakow ließ Sorokin holen und befahl ihm, sich um die Energieversorgung am Anlegeplatz zu kümmern. Eine Stunde später schlängelten sich Stromleitungen über den Kai, in den Schiffsrumpf hinein. Sergow postierte Marineinfanteristen als Wachen und schickte seine technischen Ingenieure los, um das Werftgelände nach Ersatzteilen abzusuchen. Dem Wartungs personal im Reaktorraum befahl er, den Reaktor bei zehn Pro 97
zent zu fahren und den Dampfdruck zu halten. Als das Schiff vertäut war, rief Sorokin die Mannschaft zusammen und schickte 105 Matrosen von Bord. Mit geschulterten Seesäcken überquerten die Frischlinge das Gelände und gingen auf einen langgestreckten, halb verfallenen, nicht isolierten Bau zu, der als Kaserne diente. Jeder hatte sich sein Bettzeug vom Schiff mitgebracht und beanspruchte nun eine Koje für sich. Die Köche brachen gewaltsam in die seit langem ungenutzte Küche ein, fanden aber nichts Eßbares vor und kehrten zurück zum Schiff, um die Kombüse zu plündern. Sorokin ließ die Männer in Rangordnung antreten und ver kündete offiziell den Landurlaub. »Wie lange werden wir hier bleiben, Boß?« fragte Petja Bulgakow. »Drei Tage«, antwortete Sorokin. »Es hieß, wir würden eine Woche kriegen.« »Klappe, Kleiner. Nerv nicht. Du hast deinen Landurlaub, nun sei zufrieden. Und deine Musik kannst du auch so laut spielen, wie du willst.« »Müssen wir Uniform in der Stadt tragen?« wollte ein ande rer Matrose wissen. »Nein. Bleibt in Gruppen zusammen, und dass ihr mir ja keinen Ärger macht. Keinen Streit, keinen Scheiß.« »Dürfen wir zu Hause anrufen?« fragte Typow. »Wenn ihr ein funktionierendes Telefon findet und genug Geld für ein Gespräch habt.« »Was ist, wenn unser Proviant zu Ende geht?« Von allen Seiten stürmten Fragen und Klagen auf den Quar tiermeister ein. Schließlich hob Sorokin einen Arm und sagte: »Ihr seid Seeleute, verdammt noch mal. Hört auf, wie Kinder rumzuheulen, und führt euch auf wie Erwachsene. Und du«, er zeigte mit dem Finger auf Petja Bulgakow, »dass du mir kei nen Scheiß baust.« 98
»Aye, aye, Genosse Boß.« Sorokin kehrte zurück an Bord, in der Hoffnung, die Ober matrosen würden auch einen Tag Landurlaub bewilligt bekommen. Er hatte ein paar alte Freunde in Archangelsk, ehe malige Frischlinge, die vielleicht Lust hatten, mit ihm eine Fla sche Wodka zu kippen. Andererseits, wenn er nicht in die Stadt käme, würde es ihm auch nicht das Herz brechen. Er hatte genug zu tun. Auf dem Schiff war es jetzt ruhig. Es glänzte noch immer wie neu. Die »Sowjetski Sojus« war hier in Sewerodwinsk gebaut worden, auf der Fertigungsstraße des angrenzenden Werks. Sorokin erinnerte sich noch gut daran, wie er mit Zenko und einer zwanzigköpfigen Besatzung die ersten Tauch versuche auf See unternommen hatte. Wenige Monate später hatten sie das Schiff in Gremicha abgeliefert. Er dachte zurück an den Tag in Zenkos Höhle, als Malakow das Kommando übernahm und mit sieben Offizieren des berüchtigten Siebten Geschwaders von Murmansk, den »Grauen Geistern«, an Bord kam. Normalerweise tolerierte Sorokin Offiziere, aber Malakow und seine Genossen waren kompromißlos in ihren politischen Anschauungen und trafen nun auf eine Flotte, die bislang ausgesprochen apolitisch war. Eine Ausnahme bildete Leutnant Minski, der Raketenoffi zier, der Anzeichen von Menschlichkeit erkennen ließ. Jetzt hatte er Gelegenheit, ihn auszuhorchen, sich mit ihm anzu freunden und vielleicht nach der geheimen Einkaufsliste für den Schwarzmarkt der anderen Offiziere zu suchen. Er konnte sich ein bißchen Geld nebenbei verdienen und in seiner Eigen schaft als Zenkos Spitzel sogar noch ein paar wichtige Informationen einholen. Er fand Minski über den Navigationstisch gebeugt, im Gespräch mit Plescharski. Es ging um den Raketentest. Gerade wollte er sich in das Gespräch einmischen, als Malakow eine Konferenz im Leninzimmer einberief. 45 Männer drängelten 99
sich durch die Tür. Der politische Offizier Sergow teilte Gläser mit heißem Tee aus. »Kriegen wir auch Landurlaub wie die Frischlinge?« flü sterte Plescharski Sorokin zu. »Halt die Klappe, Idiot. Steck deine tausend Rubel lieber in die Altersversorgung.« »Ich bin schon alt.« »Meine Herren«, hob Malakow an, »ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es für uns Offiziere keinen Landurlaub gibt. Wir sind aufgefordert, uns in Bereitschaft zu halten.« Die Gesichter verrieten keinerlei Gefühlsregung. Bereit schaft wofür, dachte Minski, den dritten Weltkrieg? Malakow schwadronierte lang und breit über Patriotismus und den ruhmreichen Dienst in der Marine. Sorokin musste sich zusammennehmen, um nicht einzuschläfern. Als der Kapi tän fertig war, ließ Sergow eine Tirade gegen die Offiziere und Obermatrosen los und appellierte an die politische Verantwor tung der Divisionskommandanten. Plescharski stieß Sorokin unterm Tisch mit dem Fuß an. »Aufwachen, Boß.« Sergow bediente sich des alten Vokabulars und verfiel in ein endloses Zitieren der Parteiideologen von einst. Als er endlich zum Schluß kam, sagte Malakow: »Ich fahre nach Archangelsk und treffe mich dort heute abend mit Admiral Deminow. Ich vermute, dass eine lobende Erwähnung wegen des erfolgrei chen Raketentests in Kürze bevorsteht. Das wäre alles. Wegtre ten.« Offiziere und Obermatrosen kehrten in ihre Quartiere zurück. Sorokin ging an Deck und schlenderte rüber zu den Kasernen. Die Frischlinge waren ausgeflogen. Er fragte sich, wie viele sich wohl zurückmelden würden.
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11. Kapitel Weißer Stern Um acht Uhr, mit einer Stunde zur freien Verfügung vor sei nem Treffen mit Deminow, entließ Malakow seinen Fahrer und schlenderte zu Fuß durch die gepflasterten Straßen von Archangelsk. Wie jeder langgediente Seemann war er dankbar für eine Atempause an Land und hoffte, ein bißchen Frühlings grün zu entdecken. Schon nach wenigen Minuten bereute er seine Entscheidung für einen Spaziergang. Wie Staub auf einer Fensterscheibe lag Unheil über der alten Stadt. Im Stadtzentrum stieß er auf zornige Werftarbeiter, die in Gruppen zusammenstanden, auf müde wirkende Frauen mit Einkaufsnetzen, leidlich gefüllt mit schlechten Waren, und auf Jugendliche mit zerzaustem Haar und weißen Gesichtern. Ent lang der Uferpromenade bedeckte schmutziger Schneematsch den Boden, und der Geruch nach verbrannter Kohle verpestete die Luft. Er ging vorbei an heruntergekommenen Bootshand lungen, Anlegeplätzen von Fähren und an alten Männern, die von Bänken an der Kaimauer aus auf das Eis starrten. Nach ein paar Straßen bog er wieder stadteinwärts, blieb aber unterwegs vor einem Wohnblock stehen und las die Plakate, die man an Häuserwände gekleistert hatte. Neben Theaterspielplänen und Anschlägen für Gebrauchtmöbel entdeckte er einen primitiv gedruckten Aufruf zum Generalstreik zur Unterstützung der Werftarbeiter, einen zweiten zu einer Kundgebung, zur Unterstützung einer autonomen russischen Republik außerhalb der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, und einen dritten, der die Freigabe von Brot verlangte. Ein viertes Plakat, das die Bürger beschwor, die Union zu unterstützen, war mit einem Hakenkreuz beschmiert. Malakow spürte den Drang, es runterzureißen, aber dann sah er auf der gegenüberliegenden Straßenseite das gleiche Plakat, und weiter die Straße runter 101
noch eins. An der nächsten Ecke geriet er in eine Schlange von Men schen, die nach Brot anstanden. Die Schlange reichte drei Straßen weit. Ein frecher Pantomime unterhielt die Men schenmenge, brachte sie zum Lachen und entlockte ihr einen Geldregen. Er karikierte Gorbatschow, Jelzin, einen Polit kommissar und, als er Malakow sah, einen Marineoffizier. Der Pantomime drückte die Brust heraus, krümmte den Rücken und marschierte im Stechschritt. Die Menge johlte, und Malakows Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Am liebsten wäre er mit den Fäusten auf den Pantomimen losgegangen und hätte die Menge angegriffen, aber es waren so viele, zu viele. »Nimm unser Geld«, kreischte ein Mann und warf dem Straßenkünstler eine Münze zu. »Wir können uns doch nichts dafür kaufen.« Mit einem boshaften Grinsen an Malakow gewandt, fügte er hinzu: »Die Marine hat uns alles weggenommen, um sinnlose Raketen auf Sibirien abzufeuern.« Die Menge klatschte Beifall, und einige verhöhnten Mala kow ganz offen. Der Mime hob das Fünfzig-Kopeken-Stück auf, versuchte es mit den Zähnen zu beißen, blickte mißmutig und warf es über die Schulter. Die Menge applaudierte und pfiff. Einen Augenblick später kroch er auf dem Boden und ließ die Münze in einem Schuh verschwinden. Malakow setzte seinen Weg fort, die Buhrufe aus der Men schenmenge verfolgten ihn. Überall sah er heruntergelassene Rolläden und Gitter, als laste ein schweres Unwetter auf Archangelsk. Aber Fenster und Türen waren nicht wegen des langen Winters verschlossen, der längst vorbei war, sondern zum Schutz vor der fast greifbaren Bedrohung durch Gewalt und Anarchie. Wenn die Menschen kein Brot haben, dann stür men sie die Bäckereien. Wenn sie keine Hoffnung mehr haben, brennen sie die Bäckereien nieder. Um neun Uhr hatte er genug gesehen. Vom Hafen her wehte ein kalter Wind, als er den Weißmeer-Boulevard zum hell 102
erleuchteten Marineoffiziersklub hinunterging. Vom Eingang her tönte Musik. Limousinen fuhren vor, und Offiziere in ele ganten Uniformen mit tadellosen Epauletten stiegen aus. Die Fahrer bogen dann um die Ecke, wo sie in der Kälte ausharren mussten. Vor 1917 war das prunkvolle Hafengebäude des Klubs das Hauptquartier der Kaiserlichen Weißmeerflotte gewesen. Während des Großen Vaterländischen Krieges hatte die American Lend-Lease-Commission den Komplex okkupiert. Wie sich die Dinge wandelten, dachte Malakow, und wie sie sich weiter wandeln. Malakow stieg die hölzernen Stufen hinauf und griff nach dem Messingknauf der Eingangstür, als ihm der Wachposten, ein Soldat, prompt den Weg versperrte. »Nur für Mitglieder, Genosse Offizier.« Malakow zog seinen Militärausweis aus der Brieftasche her vor und wedelte damit vor den Augen des Wachpostens. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der Mann mit plötzlichem Respekt. »Ich habe Sie nicht erkannt. Mach auf, Dimitri! Hier draußen steht Erster Kapitän Malakow!« »Malakow? Von der >Sowjetski Sojus