Harry Thürk 1
Taifun Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes Erstes Buch Der Weg nach Peking Weimar 1988
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Harry Thürk 1
Taifun Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes Erstes Buch Der Weg nach Peking Weimar 1988
Mit diesem Buch möchte der Autor seine Verbundenheit mit China und dessen sozialistischer Entwicklung bekunden und seine auf eingehenden Studien beruhende persönliche Ansicht über einen wichtigen
Abschnitt
der
Geschichte
einbringen.
Buchclubausgabe © Harry Thürk 1988 Alle Rechte vorbehalten Lizenz-Nr. 444-300/86/88 • 7001 Gesamtausstattung: Gerhard Medoch Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck VI5/30 Band I—III: 03680
2
unseres
Jahrhunderts
Vorbemerkung
Dieses Buch ist ungewöhnlich. Zumindest war sein Entstehen etwas eigenartig. Es begann damit, daß ein mir befreundeter Reporter in Hongkong eine neue Tasche für seine Fotoausrüstung suchte. Er fand sie, ein preisgünstiges Stück aus modischer Elefantenhaut, groß und stabil, auf einem obskuren Flohmarkt, ich weiß nicht einmal genau, auf welchem. Als er sie öffnete, stellte er fest, daß sie mit Bündeln beschriebenen Papiers gefüllt war, und er schickte sich an, sie auszuräumen. Doch da bedeutete ihm der chinesische Händler, die Papiere seien im Preis einbegriffen und überdies lohne es sich vielleicht, ihnen ein wenig Aufmerksamkeit zu widmen, bevor man sie wegwerfe. Der Reporter begann zu blättern. Dann setzte er sich und las. Er erhob sich nach zwei Stunden und warf die Papiere nicht weg. Später brachte er sie mir und erklärte, bei den eng beschriebenen, flüchtig nummerierten Blättern handle es sich wohl um die Aufzeichnungen einer Figur, wie ich sie erdacht haben könnte, mit meiner von Asien inspirierten Phantasie. Er schenkte sie mir, zusammen mit einer Dose Tiger Balm, einer Packung Lotos-Tee und einer Schachtel Manila-Zigarren, die übrigens etwas nach Sandelholzseife schmeckten. Ich rauchte die Manilas trotzdem mit Genuß. Der Lotos-Tee 3
(Belcher's Street, Tea Set Brand) reichte für einige Wochen. Den Tiger Balm benutze ich gelegentlich, wenn mich eine Erkältung plagt (er hilft nicht, ich weiß, aber es beruhigt, wenn man ihn gläubig genug anwendet). Zum Lesen der beschriebenen Blätter habe ich viele Wochen gebraucht. Danach war mir zweierlei klar: Ich hätte die Figur, um die es sich hier handelte, nicht besser erfinden können. Und — ich kannte sie sogar persönlich, wenn auch die Bekanntschaft etwa zwanzig Jahre zurücklag. Mit jenem Mann, den ich aus Rücksicht auf seine Hinterbliebenen hier Sid Robbins nenne und um den es auf den folgenden Seiten geht, habe ich in den Jahren zwischen 1956 und 1958 in Peking gelegentlich an einem der langen Winterabende Poker gespielt. Ich traf ihn auf Partys, trank Brandy mit ihm oder Whisky (Marke Große Mauer); wenn ich mich recht entsinne, begegneten wir uns im Sommer manchmal in Tienchao, dem
Stadtteil
Pekings,
der
traditionell
die
Akrobaten,
Zauberkünstler und Schausteller beherbergt. Immer war er freundlich, auf eine Art höflich, die ganz unamerikanisch war, er konnte lustig sein, und er war klug. China, so vertraute er mir an, sei der große Traum seines Lebens, der sich erfüllt habe. Übrigens erzählte er mir damals, daß er mit einer Gruppe amerikanischer Verbindungsoffiziere während des 2. Weltkrieges nach China gekommen sei. Hier habe er seine Frau getroffen, und — wie das Leben so spielt — er sei geblieben, für immer. Ich machte mir vor zwanzig Jahren Gedanken über den Lebensweg dieses stillen, angenehmen Mannes, auch später hin und wieder noch, irgend etwas schien mir über ihn erzählenswert, aber ich fand nie heraus, was. So verblaßte die Erinnerung an ihn mit den Jahren. Bis die Papiere auf meinem Schreibtisch lagen. Ich habe verzichtet, die Geschichte seines Lebens völlig neu zu 4
schreiben. Die Aufzeichnungen aus seiner Feder, wenngleich sie unvollständig waren, ebenso wie die Dokumente, die sich in dem Packen Papier befanden, erwiesen sich bereits als ein in seiner Art einmaliger Roman. Er enthält Zeitgeschichte in einer Klarheit, wie sie selten aufzufinden ist. Manches mutet an wie ein Protokoll anderes wieder beschreibt begeistert ein Land, das auch mich bis heute nicht ganz aus dem Zauberkreis seines Lebens freigegeben hat. Sachliche Feststellungen und geschichtliche Reminiszenzen wechseln sich ab mit brillant skizzierten Betrachtungen über Dinge und Menschen. Mit beinahe jeder Zeile porträtiert sich da ein Mann, der keine Minute lang seine Aufgabe vergaß. Und er porträtiert damit ein ungewöhnliches Stück Geheimdienstgeschichte, das keinen wachen Menschen unserer Tage unberührt lassen kann. Ich entschied mich bei der > Aufbereitung < der vorgefundenen Materialien (sie erfassen immerhin einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren!) für notwendige Kürzungen und für solche Eingriffe, die dem Leser das Buch in seiner historischen Hintergründigkeit leichter erfassbar machen sollen. Übernommen habe ich — mit leichten Modifizierungen — die Transkribierung chinesischer Namen und Bezeichnungen nach dem im englischen Sprachraum üblichen System, und zwar aus Gründen der Authentizität. Daß ich mich nicht entschließen konnte, die (neuerdings) von der Pekinger Staatsführung verordnete sogenannte Pin-yin-Latinisierung der chinesischen Schriftzeichen nachträglich in die Aufzeichnungen einzubringen, hat freilich auch damit zu tun, daß
dun
Pinyin
meiner
Beobachtung
nach
bei
allen
nichtchinesischen Benutzern der lateinischen Schrift durch seine eigenwilligen und unnötigen Abweichungen von traditionellen Aussprachegewohnheiten zu ziemlicher Verwirrung führt. Für Pinyin-Benutzer und andere Interessierte verweise ich auf den 5
Anhang mit der Pinyin-Umschrift der in dem Buch enthaltenen Namen und Bezeichnungen. Bleibt noch zu sagen, daß es mir nicht ganz gelungen ist aufzuklären, wie die inhaltsschwere Lebensbeichte des Sid Robbins auf jenen Hongkonger (in Pinyin hieße es übrigens >Xianggangerbeim Schwimmen ertrankalt genug, um jetzt in die Vereinigten Staaten heimzukehrenbeim Schwimmen ertrankHumpBlitzfeldzug< Burma und durchschnitten damit die einzige Landverbindung, über die amerikanische Hilfsgüter in das befreundete China geliefert werden konnten, die Burma-Straße. Erst die Stabilisierung 7
der Front an den Grenzen Indiens machte es möglich, über andere Methoden der Versorgung Tschiang Kai-sheks zu entscheiden. Die Wahl fiel auf eine von den Luftstreitkräften der Vereinigten Staaten organisierte Fluglinie, eine der gefährlichsten der Welt. Dinjan wurde zu einer Art Knotenpunkt, letzte Station für die in Richtung China fliegenden Maschinen, und erste Station für die Rückkehrer, die den >Hump< überwunden haben. Maschinendurchsicht, Auftanken, ein paar Stunden Schlaf für die Besatzungen. Engländer sind kaum zu sehen. Sie haben ihre Bungalows drüben, an den Südhängen, in den Teeplantagen, jenseits des Flugplatzes. Hier, zwischen den Zelten, im Umkreis der eilig zusammengezimmerten Holzplattformen zur Motorendurchsicht, im Gestank von Schmieröl und Auspuffgasen, hört man nur die vertrauten amerikanischen Laute. Es regnet. Das lange, gewundene Tal des Bramaputra ist eine einzige Schlammwüste. Dies ist der Monsun, und er nimmt keine Rücksicht auf die Jungen, die unter freiem Himmel Dakotas zu reparieren haben. Er hat die Zeltplanen durchweicht und die Decken, mit denen die Verwundeten zugedeckt sind. Er rinnt in Stiefel und Jackettkrägen, in Essgeschirre ebenso wie in die geschlossenen Augen der Toten, die hinter dem Behelfslazarett liegen. Gurkhas meist, kleine, braunhäutige Krieger der Engländer, die von irgendeiner Aktion im Dschungel Burmas auf Trageseln bis hierher geschleppt wurden. Neben dem Zelt, in dem ich auf Holloway warten muß, und nach der Besprechung mit ihm vermutlich noch bis zu meinem Abflug in Richtung China, steht ein Stapel Benzinfässer, auf die der Regen mit monotoner Gleichmäßigkeit trommelt. Man könnte gut schlafen dabei. Wenn nicht alles naß wäre. Und wenn man nicht... Ich stehle mich wieder einmal aus dem Zelt, hinter die Fässer, um unter Schmerzen zu urinieren. Naß, wie ich ohnehin bin, lasse 8
ich mir Zeit und werfe nach der Anstrengung einen Blick zum Arztzelt. Ob ich es wage? Ein Tripper kann Degradierung bedeuten, Captain Robbins! In jedem Quartier in Kalkutta hingen Dutzende der grellen Plakate, die vor Intimverkehr mit den Einheimischen warnten. Nun gut, ich könnte geltend machen, daß es garantiert kein indischer Tripper ist, sondern ein sozusagen königlich-britischer. Weil ich ihn mir bei dem kleinen Luder vom HQ-Club geholt habe, in der Woche vor dem Abflug. Mary Latham, blond, etwas rundlich in der Uniform, aber für Kriegsverhältnisse (Asien!) akzeptabel. Sie war gerade aus Darjeeling zurückgekommen, von einer Woche Urlaub, als ich sie aufgabelte. Soldatenheim. Vermutlich also ein Tripper nicht unter Leutnantsrang. Aber wie soll ich das einem durchnäßten, mürrischen, überarbeiteten Air Force Doktor hier am Ende der Welt klarmachen? Was ist, wenn er mich verpfeift? Egal, es muß etwas geschehen, die Schmerzen sind zermürbend, man möchte am liebsten nichts mehr trinken. Das muß ein Ende haben, so oder so! Der Arzt im großen Zelt, dessen Planen innen ebenso naß sind wie außen, wäscht sich gerade die Hände, als ich eintrete. Er grüßt muffelig zurück, während er der indischen Nurse, die ihm das Handtuch reicht, im Slang der Leute aus Louisiana zuknurrt, sie solle sich bis zur Ankunft der nächsten Maschine zum Teufel scheren. »Na, nun geht's wohl doch nicht mehr?« fragt er mich. Ich erstarre. Aber bevor ich weitere Überlegungen anstellen kann, lacht dieser breitschultrige, drei Tage nicht rasierte Schlächtertyp laut. »Spiel nicht die keusche Jungfrau! Ich habe dich vorhin durch die Luftluke im Operationszelt gesehen, wie du hinter den Spritfässern gepißt hast. Red nicht, zieh die Hose aus und leg dich da hin!« Er besieht sich die Sache, verzieht die Mundwinkel, öffnet eine 9
>wasserdichte Blechkiste und fummelt drei Röhrchen mit SulphaTabletten heraus. »Wie lange bist du noch hier?« »Keine Ahnung. Bin nach Tschungking kommandiert. Muß aber hier warten, auf die letzten Befehle sozusagen. Kommt extra einer her ...« »Hoffentlich nicht auch mit Tripper«, knurrt er. Dann ordnet er an: »Von den sechzig Tabletten nimmst du heute noch zehn Stück. In zwei Portionen. Ab morgen früh täglich fünfzehn Stück, in drei Portionen. Das zwei Tage lang. Danach noch drei Tage lang sechs Stück. Das wird reichen. « Kr drückt mir die Röhrchen in die Hand, und ich sage etwas beklommen: »Danke, Doc. « Er winkt nur ab. »Hast wohl Angst gehabt, wegen der Meldung?« Er sieht mich an. Ich entdecke in seinem groben Gesicht einen geradezu nachdenklichen Zug. »Wer das gesehen hat, was ich hier gesehen habe, und vorher in Burma, der scheißt auf Meldungen. Die Army kann froh sein, wenn überhaupt irgendeiner von euch Kerlen den Krieg überlebt. Mit oder ohne Tripper. Woher kommst du? Ich meine, in den Staaten ...« Er bringt mich in Verlegenheit mit dieser Frage, und ich beginne etwas vorsichtig, während ich die Zigarette nehme, die er mir hinhält: »Eigentlich aus Yale. Ich meine, von der Universität, in New Haven, Connecticut.« »Da hast du studiert. Wo bist du aufgewachsen?« »Das ist schwierig, Doc«, sage ich. »Geboren bin ich in Tschengtu. Zur Schule ging ich in Tschungking. Mein Vater hat in Tschengtu als Missionslehrer gearbeitet. Später, als man dort eine Universität gründete, wurde er Professor. 1929 bin ich in die Staaten gekommen. Nach Yale eben. Meine Eltern waren mit dem Flugzeug verunglückt ...« Er sieht mich an und stößt den Rauch aus. Dann sagt er: »China. 10
Hoffentlich bleibt mir das erspart. Burma und Assam genügen mir. Was hast du studiert?« »Philosophie.« Keine Reaktion auf seinem Gesicht. Ich füge an: »1941 habe ich meinen Ph. D. gemacht. Doktor der Philosophie. Wollte mich auf die orientalische Seite spezialisieren. Da kam Pearl, und dann die Army.« »Kannst du Chinesisch?« Ich nicke. »Von Kind auf. Ich habe es weiter betrieben. Macht mir Spaß. Ist ein Land mit viel Kultur.« Er sagt ruhig: »Und mit viel Dreck. Mehr Verhungerte, als man laut sagen soll, seitdem wir mit der Erdnuß befreundet sind. Hättest den alten Essig-Joe Stilwell hören sollen, wenn er in Rage war. Habe bei ihm gedient, in der Burma-Kampagne. Wenn nur die Rede auf Tschiang Kai-shek kam, lief er blau an. Sollst wohl dolmetschen, drüben?« Er macht eine vage Handbewegung, hin zu den Bergen, die hinter den Teeplantagen ansteigen und die man jetzt nicht sehen kann, weil die Monsunwolken sie einhüllen. »Ja«, sage ich, obwohl ich es nicht weiß. »Wird so etwas Ähnliches sein.« Er wird munter: »Hör mal, Junge, du kannst mir einen Gefallen tun. Schick mir mit dem nächsten Piloten eine Opiumpfeife >rüberHollyNeues Leben< wohl, mit Kenntnissen von Golf, und Cocktailrezepturen. Er preßt verstohlen sein Taschentuch an den Mund. Chinesen leiden öfter als Europäer an Luftkrankheit! Dabei sind wir gerade erst in die Wolkenschicht eingetaucht. Eine graue, zähe Masse umgibt uns. Nicht einmal mehr der Motor auf der Tragfläche ist zu erkennen. Es ist kalt in der Kabine. Irgendwoher zieht es. Überall ächzt und knarrt die Konstruktion. Chennaults Dakotas haben Jahre harten Dienstes hinter sich. Zudem ist jeder Winkel in der Kabine mit Fracht vollgepackt. Kisten und stoffumhüllte Ballen, Blechbehälter, Fässer. Güter für Tschungking. Alles vibriert, denn der Pilot fliegt offenbar mit Vollgas, läßt die Maschine vor der Wand der himmelhohen Berge steil steigen. Der 16
schmutzige Vorhang, der die Kabine vom Cockpit trennt, steht nahezu waagerecht. »Kunming?« erkundigt sich der Major neben mir. Ich sage ihm, daß ich weiterfliege, nach Tschungking, und er brummt: »Unwirtliche Gegend. Bin mal eine Zeitlang dort gewesen. Ein Sommer, der einem das Gehirn austrocknet, und danach nichts mehr als Dunst, Nebel, Regen, Kälte, Dreck. Jetzt noch japanische Bomben. Stinkende Leichen, die keiner zwischen dem Schutt findet. Aber der Fluß ...« Er lächelt und sinniert vor sich hin. Hat vergessen, daß er eigentlich zu mir sprach. Er hat den Yangtse erwähnt, und jetzt sieht er ihn vor sich, das gelbe, schlammige Band, das, von bestimmten Felsen aus der Höhe gesehen, ganz plötzlich sogar blau erscheinen kann. Am schönsten nachts, wenn die Lichter der Dschunken darauf tanzen, wenn die Sirene der Fähre ihren röhrenden Schrei ausstößt. Wie gut kennt der Major den Yangtse? Ich bin als Kind wohl tausendmal über ihn gefahren, vom Nord- zum Südufer und umgekehrt, in allen Arten von Booten, habe ihn zu jeder Jahreszeit gesehen, auch bei Stürmen, oder im Frühjahr, wenn sich die Wassermassen aus den schmelzenden Schneefeldern des tibetischen Hochlandes donnernd dahinwälzen, Äste und ganze Bäume mit sich führend, zerschmetterte Hütten und Teile von Booten, ertrunkene Schweine und immer wieder auch die Leichen von Menschen. Graue Bündel, die aufgedunsen dahintreiben, bis sie sich schließlich irgendwo, weiter stromabwärts, im Ufergebüsch verfangen und ihre Reise zu Ende geht. Wer kennt den Yangtse? möchte ich den Major fragen, aber ich lasse es. Ich werde manches andere auch lassen müssen in den nächsten Jahren: Ich bin ein Mann mit einem geheimen Auftrag. Niemanden geht es etwas an, was ich wirklich 17
weiß oder denke, was ich tun will. Lediglich mein Tagebuch wird das festhalten. Holly hat mir Anweisung gegeben, es auf losen Blättern zu schreiben. Jede Möglichkeit, ein paar Seiten mit einem Kurier an das Büro zu schicken, muß ich wahrnehmen. Aus Gründen meiner eigenen Sicherheit. Aber auch, weil das Büro die Aufzeichnungen zu lesen wünscht. »Weißt du, alter Junge«, hat Holly gesagt, »du brauchst dir keine Gedanken zu machen, daß wir vielleicht über deine Privataffären informiert sein wollen. Nein, wir können aus so vielem, was du aufzeichnen wirst, zusätzliche Informationen entnehmen, das ist übrigens eine alte Erfahrung der Engländer, die betreiben das Geschäft, mit dem wir gerade angefangen haben, schon ewig. Deshalb — kein Blatt wird dir verloren gehen, ich bewahre alles auf, bis du es einmal abforderst...« Sei's drum! Ich bin daran gewöhnt, Tagebuch zu schreiben, von Kind auf. Ich schreibe schnell, und es macht mir Spaß, meine Gedanken festzuhalten. Werde ich immer genügend Zeit dafür finden? »Die paar Tonnen, die eine solche Maschine befördern kann, sind natürlich ein Tropfen auf einen heißen Stein«, doziert ein Amerikaner in Zivil, der nicht weit von mir sitzt. Neben sich hat er einen älteren Chinesen. Könnte Diplomat sein. »Die Burma-Straße, ja, die Japaner wußten schon, wo sie uns treffen konnten!« Der Chinese murmelt etwas von noch bestehenden Landverbindungen zwischen Indien und China, sehr verschlungene Wege angeblich, aber der Amerikaner winkt lässig ab. »Ich weiß Bescheid, ja. Es gibt diese eine Route, von Kalkutta per Bahn bis nach Afghanistan, und von dort bis nach Zahedan, in Persien. Kenne das zufällig ganz genau, die Russen kommen uns da entgegen, stillschweigend, im Interesse der Sache, obwohl sie mit den Japanern noch keinen Krieg haben. Tja, von Zahedan gehen die Sachen mit Lastwagen quer durch Per18
sien, bis Aschchabad. Das ist schon Sowjetrußland. Turkestan, glaube ich. Von dort verläuft die Turk-Sib-Bahn. Alma Ata, und von dort geht der Transport dann wieder per Lastwagen über Tihwa, Hami und Lanchow bis Tschungking. Tausende von Meilen. Sehr unrationell. Teuer. Umständlich. Die Russen geben sich zwar viel Mühe, erstaunlich, bei dem, was sie selbst auf dem Hals haben, aber — bedenken Sie die Entfernungen ...« Er schüttelt den Kopf, die Schwierigkeiten andeutend, die sich aus der Aufgabe ergeben, das alliierte Tschungking in dieser kritischen Situation immer weiter mit Hilfsgütern zu versorgen. »Dabei ist es notwendig, daß wir dem Generalissimo jede Unterstützung geben«, betont er eindringlich. »Sowie die Japaner seine Front überrennen, ist Indien endgültig verloren ...« »Und China«, bemerkt der Chinese bescheiden. Der Amerikaner nickt. »Sehr wahr. Auch China.« In diesem Augenblick stößt die Dakota aus der düster-grauen Wolkensuppe hinaus in kristallklare Luft. Der Himmel ist stahlblau, und wenn man aus der Rundluke nach unten blickt, erscheinen die Wolken plötzlich nicht mehr schmutzig, sondern schneeweiß. Ein Teppich aus Watte, man versteht nicht, wieso er noch Sekunden zuvor so widerlich gefärbt sein konnte, bedrückend. Es ist wie eine Explosion des Lichts. Die Sonne ist da, und sie ist nicht gelblich verschleiert, wie stets an den wenigen Tagen der Monsunperiode, wenn sie einmal für Minuten durch eine dünn gewordene Wolkenschicht blinkt, sie ist grell, sie schmerzt, und sie wärmt. Ich schätze, daß die Dakota jetzt über dreitausend Meter hoch fliegt. Und sie steigt weiter, denn da vorn lauern die schartigen Wälle des >HumpWarhawksKind zweier Welten< bin? Wie dem auch sei, wir haben zu lange gewartet, in der Hoffnung, daß sich der ziemlich offen zur Schau getragene Expansionsdrang Japans letztlich doch nach Norden richten würde, gegen die asiatischen Territorien der, Sowjets. Die Sache ließ sich recht vielversprechend an. 1932 besetzten die Japaner die Mandschurei ... Jahrelang hatte man wie gebannt auf die Linie der möglichen Konfrontation zwischen Japan und den Sowjets im Norden geschaut. Erst die Bomben auf Pearl Harbor machten schließlich jedem von uns klar, was hier Strategie und Taktik, was echtes militärisches Manöver und was Täuschung gewesen war: Die Südvariante hatte sich bei der japanischen militärischen Planung durchgesetzt. Der >weiche Unterleib < Asiens wurde dem steinharten Brustkorb< Sowjet-Sibiriens vorgezogen. — Unter uns liegen die faltigen, scharfkantigen Himalaya-Berge. Tiefe, schwarze Abgründe, schneegefüllte Schluchten, steile Grate. Wir sind über dem >HumpZeros< aus. Haben in Itschang ihre Basis. Mit Zusatztanks schaffen sie das spielend. Nun ja, ich steige in Kunming aus ...« Er spricht, als handle es sich um eine Trambahnlinie. Ich widme mich dem Zivilchinesen neben mir. Er quält sich, spuckt in sein Taschentuch. Zwischendurch röchelt er mir zu, er habe vorsichtshalber schon zwei Tage nichts gegessen, nur um >Ungelegenheiten< beim Fliegen zu vermeiden. Ich klopfe ihm den Rücken, als er husten muß. Aus dem Cockpit kommt der Bordfunker. Er reicht eine Flasche Whisky herum, aus der jeder einen Schluck nimmt. Der Funker lacht: »Kleine Stärkung, Gentlemen! In Kunming 32 Grad im Schatten. Keine Japaner unterwegs, bis jetzt!« Dabei muß er sich, mit einer Hand an einer Schlaufe festhalten, die von der Kabinendecke herabhängt, weil die Maschine immer noch von den Turbulenzen gebeutelt wird. Ich erkundige mich, ob uns japanische Jäger in dieser Höhe überhaupt angreifen können, und er belehrt mich, daß die >Zeros< über zehntausend Meter hoch fliegen. »Manchmal kommen sie von Indochina herüber«, sagt er, »greifen Kunming an. Geschieht aber relativ selten. Scheinen nicht mehr so viele Bomber in Indochina stationiert zu haben, und die >Zeros< tragen höchstens ein paar Splitterbomben.« Der Chinese beäugt mißtrauisch die bereits halbleere Whikyflasche. Ich ermuntere ihn, einen Schluck zur Stärkung zu nehmen. Er folgt meiner Aufforderung, aber er trinkt sehr wenig, während der Major einen tiefen Zug nimmt und dann laut und zufrieden 22
„Aaah...« macht. „Sie fliegen bis Tschungking?« Endlich bringt der Chinese einen zusammenhängenden Satz heraus, ohne sich zwischendurch mehrmals das Taschentuch an den Mund zu halten. »Ja«, sage ich. Er lächelt. »Wir sind Ihnen sehr zu Dank verpflichtet ...« Chinesische Höflichkeit, ich kenne das. Nichtssagende Floskeln, hinter denen absolut konträre Gedanken stehen können. Dieser hier meint es aber offenbar ehrlich, denn er nimmt meine Hand und drückt sie. »Wenn wir es schaffen, ich meine, wenn wir den Flug überstehen, müssen Sie mich in Tschungking besuchen ...« Er muß wieder zum Taschentuch greifen. Aber wie durch einen Zauber schwebt die Maschine Sekunden später ohne die geringste Erschütterung durch die Luft. Ich blicke aus der Luke. Keine Felsen mehr. Das Grün Chinas! Weite, durch Dämme unterbrochene Flächen, Reisfelder. Ein Wasserlauf, in dem das Sonnenlicht blinkende Reflexe verursacht. Ein Häufchen graugelber und rötlichgrauer Klötzer. Zu hoch sind wir, um sie als Gehöfte zu erkennen. Eine Waldzunge schiebt sich ins Bild, dunkelgrün, saftig anmutend. »Ende des ersten Teils der Höllenfahrt!« verkündet der Bordfunker, der mit der leeren Flasche zum Cockpit zurückgeht, jetzt ohne Hilfe der Schlaufe, denn die Maschine liegt wie ein Brett in der Luft. »Kunming in zwanzig Minuten! Kalte Getränke und heiße Mädchen. Die Bordellos an der Straße vom Flughafen zum Ort sind >off LimitsDragon Bar< zu empfehlen, und dortselbst die Damen Liu, Sehen Ming und Da Hua. Nichts für ungut, gute Landung!« Der Major lacht. »Frecher Bastard!« Aber er wirkt erleichtert. 23
»Ich stehe im Staatsdienst«, flüstert der Chinese mir zu. Er sagt nicht, was er tut. Ich frage ihn nicht danach, es wäre unhöflich. Durch die Luke sehe ich in diesem Augenblick Kunming: kleine Häuser, von Mauern aus rötlichem Lehm umgeben, die ganze Stadt wiederum durch eine stellenweise zusammengebrochene Mauer vom Land getrennt. Gelbe Dachziegel und grüne Rasenflächen. Außerhalb der Stadtmauer ein See, der künstlich angelegt zu sein scheint, so unnatürlich kreisförmig ist er, und so klarblau ist sein Wasser. Noch weiter draußen ein paar dunkelbraun erscheinende Hügel, runde, wie glattgeschorene Kuppen. Wüßte man nicht, daß die Berge hier so sind, würde man denken, sie seien das Produkt der eigenwilligen
Phantasie
irgendeines
begabten
Landschaftsarchitekten. Wir landen auf dem großen Flugplatz im Nordosten der Stadt. Im Niedergehen kann ich die Straße mit den >off LimitsWild< Bill Donovans OSS, jene Dienststelle, die über nahezu unbegrenzte Möglichkeiten und Machtmittel verfügt. Die weit in die Zukunft plant. Für das Office of Strategie Services, so schien es mir manchmal in Kalkutta, ist dieser Krieg bereits ausgekämpft, entschieden. Es richtet sein Augenmerk auf Dinge, die heute erst in Umrissen erkennbar sind, für Eingeweihte. Ich bin einer jener Eingeweihten! Ein Mädchen reicht heiße, feuchte Waschlappen herum, mit denen man sich Gesicht und Finger reinigen kann. Ein anderes bringt große Prozellantöpfe mit einem eiskalten Getränk, das ich sofort wieder erkenne: klares Wasser, mit Bananenblüten aromatisiert. Getränk meiner Kindheit! Ein weißgekleideter Bediensteter schleppt schließlich Tabletts mit chinesischem Essen heran, Reis mit scharf gewürztem Hühnerfleisch, Schälchen mit dunkler Soße, ebenfalls scharf, panierte Schweinefleischstreifen, Bambusgemüse Bohnen und Wasserspinat. Suppe folgt, mit Gemüseeinlage und Nudeln, und danach ein dunkelroter Tee, wie er in Yünnan getrunken wird, stark und ein bißchen nach Rauch schmeckend. Der Chinese hat staunend beobachtet, wie ich mit den Eßstäbchen umgehe. Er hat wohl erwartet, ich würde mich der höflicher25
weise ebenfalls aufgelegten Gabel bedienen, wie das die meisten Amerikaner tun. Aber er müßte kein Chinese sein, wenn er seiner Verwunderung darüber sofort Ausdruck gäbe. Er kann warten. Ich komme ihm zuvor, lobe das Essen und lasse beiläufig die Bemerkung fallen, daß ich seit meiner Kindheit nicht mehr so gut gegessen habe, so schmackhaft, Yünnan-Küche! Da taut er auf, und als er erfährt, wo ich aufgewachsen bin, kennt seine Freude keine Grenzen mehr. Wir plaudern über Tschungking, bis der Bordfunker am späten Nachmittag erscheint und uns fröhlich zum Einsteigen auffordert. Erst als wir in der Maschine sitzen, vielleicht aus Angst vor dem, was jetzt kommt, flüstert der Chinese mir zu, was er in Tschungking tut, und ich habe Anlaß, mich über diese Bekanntschaft zu freuen: Er untersteht Tai Li, dem Chef des chinesischen Geheimdienstes und er ist >UntersuchungsrichterZerosEncounterChinesischAmerikanische Organisation für Zusammenarbeit (SACO) zu Leistungen von erwähnenswerter Größe gebracht habe. Nun ist diese SACO, deren Präsident Geheimdienstchef Tai Li ist, allerdings im wesentlichen eine Einrichtung, in der unsere Experten chinesische Geheimdienstagenten trainieren, aber das mit der Prostitution mag wohl doch seine Richtigkeit haben, denn ich weiß, daß man verhältnismäßig viele junge Mädchen und Frauen dort ausbildet. Sie sollen maßgeblich hinter den japanischen Linien arbeiten, aber jeder Eingeweihte in Tschungking weiß, daß Tai Li sie ausbilden läßt, um mit
ihrer
Hilfe
in
die
kommunistischen
Organisationen
einzudringen. Japans Bomber haben in der Stadt im Laufe der vergangenen Jahre ganze Arbeit geleistet. Es ist kaum möglich, die Ruinen zu zählen, die einst trotz ihres Schmutzes und ihrer Armut anmutige Altstadt existiert so gut wie nicht mehr. In den Trümmern treiben sich Banden von Kindern herum, die elternlos sind, ohne Zuhause, und die von kleinen Diebereien leben, von Raub, auch vom Mord 30
an einem betuchten Bürger hin und wieder. Sie leben wie streunende Hunde, und diese wieder sind ihre einzigen Gefährten, mager, aggressiv und schmutzig wie die Kinder. Der Schmutz! Ich erinnere mich, daß mich die Silhouette Tschungkings, wie ich sie vom Fluß aus sah, beeindruckt hatte, besonders das hohe Gebäude der Kathedrale, aber auch ein paar andere, hohe, modern aussehende Betonburgen. Nicht zu vergleichen mit der Silhouette Shanghais etwa, wie man sie vom Hafen aus sieht, aber trotzdem imposant. Aus der Nähe besehen ist alles seltsam trist. Niemand scheint sich um die Sanierung der verwüsteten Gegenden in der Stadt zu kümmern, so wie sich niemand um die marodierenden Kinder kümmert. Das Leben, ein ärmliches oder ein künstlich luxuriöses, macht sozusagen einen Bogen um die Inseln des totalen Chaos, man richtet sich am Rande der rauchgeschwärzten Trümmer neu ein, entweder zwischen dünnen Mattenwänden oder in einem schnell erbauten feinen Bungalow. (Wenn man nicht so arm ist, daß man lieber gleich am Straßenrand schläft.) Sachliche Erklärungen dafür gibt es wohl, es fehlt an schweren Maschinen, an Bulldozern; ja selbst an Bambusstangen, diesem universalen Baumaterial, mangelt es. Abfälle liegen, zu Haufen zusammengekarrt, am Rande von Klippen, die einen bestechenden Ausblick auf das Yangtsetal bieten und auf den Kialing, der hier in den Yangtse mündet. Der Kontrast ist überwältigend, und die Stadt lebt vom Kontrast, so wie China immer zuvor am lebendigsten dort wirkte, wo seine Kontraste zum Beifall herausforderten, zu Erregung oder Abscheu. Manchmal glaube ich, die Stadt birgt wie ein Wassertropfen das zerrissene, vielgestaltige, kaum zu entwirrende Bild des ganzen Landes. Ein später Sommerabend mit seiner herben Schönheit an den LungMen-Treppen etwa, wo Bambusfackeln mit rötlichem Licht den 31
Weg erhellen, hat den zarten Duft von zahllosen Blüten, aber er trägt zugleich den schweren Odem der nach Brand stinkenden Trümmer, den Gestank der Exkremente, der Gullys, bis dann von irgendwoher wieder ganz fein der Hauch eines Räucherstäbchens heranweht, Sandelholz und Patschuli. Es ist schwer, dieses Tschungking zu beschreiben, man kann es ebensogut lieben wie ablehnen, beides wäre verständlich. Wer sich von der Anlegestelle hinauftragen läßt in einem Hua Kan, einer dieser alten Sänften, die es tatsächlich noch gibt, der wird nie den stechenden Geruch des Schweißes vergessen, der auf der Haut der Träger steht. Aber er wird auch die Freude über die unerwartet hohe Bezahlung in ihren ausgemergelten Gesichtern als bleibenden Eindruck behalten. Man kann, so man will, Schönheit in den Augen der bettelnden Kinder entdecken, oder man kann sie im blankpolierten Chrom eines Autos sehen. Tausend Farben und Formen stürmen auf einen ein, sobald man etwa in der Liang Lou Kou einen Laden betritt. Von buntem Papiergeld, als Grabbeigabe für Verstorbene angeboten, kann man seinen Blick über braune Bambussprossen und rote Radieschen schweifen lassen, über Bohnenquark und geschmiedete Haumesser, Zahnbürsten (auch ein Attribut der (Neues-Leben-Bewegung< des Generalissimo), klebrige Zuckerbäckereien und goldgelben Tabak, Reisschalen aus blau-weißem Porzellan und Kinderwagen aus Bambusrohr,
leicht
angerostete
Nägel
und
Gesichtspuder,
schmierige Ölkanister und kunstvoll geflochtene Matten — bis hin zum großen, buntgedruckten Porträt des Präsidenten selbst, mit seinem unverwechselbaren, glattgeschorenen Erdnußkopf. >Die Kuomintang wird siegreich sein!< steht darunter. Wenn man den Laden verläßt, stolpert man fast über die ausgestreckte Hand des Beinlosen, der auf seinem Rollbrettchen hockt, mit leerem Blick, ebenfalls kahlgeschoren. Er jammert nicht, er streckt lediglich die 32
Hand aus. Ich bin einige Male im Hotel >Victoria< gewesen und habe wenig Leute dort getroffen, die mich interessieren. Alliierte Offiziere und ausländische Korrespondenten, unnahbar wie Geheimnisträger die Einen, emsig und oberflächlich die anderen. Chinesen sind hier selten, höchstens ein paar Offizielle, Begleiter von Ausländern, hin und wieder eine Dame, die mit einem der Offiziere zusammenlebt. Tristesse in Khaki und dunklem Anzug, in weißem Servierrock und Goldbrokatkleid. Im >Cathay< läuft Chaplins >DiktatorZentralblattSzetschuaner Tageszeitung< oder die >Bergstadt am Abend Geisterschwellen HanyangWar LordsKriegsherren“ geradezu heraufbeschworen hat. Jeder Armeebefehlshaber ist ein neuer Kriegsherr auf seinem Territorium, er kann dort ganz nach seinem Belieben schalten und walten, vorausgesetzt er erkennt den Generalissimo als >obersten Kriegsherren< an und läßt sich nicht mit den Kommunisten ein. Dies alles macht Tschiang, wie jeder von uns weiß, obwohl wir das nicht öffentlich sagen, zu einem fragwürdigen Verbündeten. Man kann nicht absehen, wie lange sein auf Protektion, Vetternwirtschaft, Korruption und starrsinniger Eitelkeit basierendes Regime noch so stabil bleibt, daß es uns etwas nützt. Der
Direktor
des
>Hanyang-Werkes< 35
ist
ein
farbloser
Buchhaltertyp. Er versteht nichts von Metallurgie. Während er schmatzend zwei >tausendjährige Eier< verspeist, schwärmt er vom amerikanischen Rugbyspiel. Die Polizeibeamten sind schweigsam, höflich. Sie sehen in mir, weil sie natürlich wissen, daß ich im OSS arbeite, einen geheimnisumwitterten Kollegen und antworten forsch auf meine Fragen: Ja, es gibt viel Elend in der Stadt, ja, die Kriminalität nimmt zu, ja, die Kommunisten haben überall ihre Vertrauensleute, und den Diplomaten von der sowjetischen Vertretung muß man natürlich auf die Finger gucken, die Russen seien die geborenen Konspiratoren, ja, ja, Die Professoren sind ein Anthropologe, der Oxford-Erfahrung hat
und ein Historiker. Der Anthropologe möchte nach Java, um
dort irgendeinen Pithecanthropus zu besehen, und er möchte nach dem
Norden, wo es gälte, nach dem Sinanthropus zu graben.
Beides unmöglich, der Japaner wegen. Aber er plant bereits. Der Historiker
entwirft
eine
>Geschichte
Spezialabteilung< zu besuchen, der Schauspieler mir eine Privatloge anbietet und der Arzt mir als einziger bei einem Glas Tschungking-Gin gesteht, ihn kotze einfach alles an. Er ist müde, mürrisch, zynisch. Seinetwegen können die Leute sich weiterhin gegenseitig umbringen, sie sollten aber nach Möglichkeit mit ihren Waffen besser zielen, um sich eben — wie gesagt — tatsächlich umzubringen, und nicht mit nur halb umgebrachten Körpern die Operationssäle füllen. Beim zweiten Tschungking-Gin verrate ich ihm versuchshalber, daß ich ein Verehrer Tu Fus bin, 36
des vielleicht bedeutendsten Poeten Chinas, der vor mehr als zwölfhundert Jahren lebte, in der Tang-Zeit, und der wie kein anderer die Misere des von Kriegen heimgesuchten Chinas besang. Er blinzelt mich ungläubig an, und ich zitiere, da ich Tu Fu tatsächlich liebe, aus dem Kopf eines meiner Lieblingsgedichte, die >Nacht im Pavillon am Fluß Weißes Haus< und > Höhle < genannt werden. Vielmehr schlägt er mir vor, Gespräche im Untersuchungsgefängnis zu führen, das ihm untersteht. Unter Umständen würde er Häftlinge aus den Lagern nach dorthin verbringen lassen, damit sie mir zur Verfügung stehen. Ich sage zu. Er macht noch ein paar Bemerkungen, aus denen ich entnehmen kann, daß er auf Stillschweigen meinerseits Wert legt, und ich versichere ihm, daß dieses Gespräch >nicht geführt< wurde. Er lächelt, als wir wieder zu den Gästen ins Wohnzimmer gehen. Seine Frau hat eine Schallplatte aufgelegt. Irgendein schmalziger Shanghai-Song. Man tanzt. Ich beschäftige mich einige Zeit mit Mister Wen Tsiao-tjis Gattin, Tochter einer Offiziersfamilie. Sie freut sich sichtlich über meine artigen Komplimente und ist verblüfft über meine Kenntnisse in der chinesischen Sprache. Nach einer Stunde gehe ich. 41
Vier Tage später sitze ich im Untersuchungsgefängnis. Man hat einen fensterlosen Raum für meine >Gesprächsstudien< vorbereitet. Nur eine elektrische Birne baumelt von der Decke herab. Darunter ein Tisch, auf dem Teegeschirr steht, Gebäck, Zigaretten. Nacheinander werden mir Leute gebracht, denen die Bedingungen der Haft anzumerken sind. Sie sind abgemagert, hohläugig, manche haben Schmisse im Gesicht, alle sind mißtrauisch, zurückhaltend. Sie antworten, daß sie Kommunisten sind, daß sie die Kuomintang für entartet halten. Tschiang habe Verrat an den nationalen Interessen geübt, indem er die vielen Angebote für eine Einheitsfront gegen die Japaner, die von den Kommunisten gemacht wurden, immer nur mit neuen Jagdaktionen gegen sie beantwortete. Überhaupt sähe er es wohl lieber, wenn die Japaner möglichst viele Kommunisten töteten, deshalb habe er auch mit ihnen an den Fronten eine Art Gentlemen-Agreement geschlossen, das zum beiderseitigen Stillhalten verpflichtet. Aber die bewaffnete rote Macht werde China zum Kommunismus führen, ob Tschiang das wolle oder nicht. Es ist, als hätten sie sich alle zuvor abgesprochen, so ähnlich sind die Äußerungen. Sie begreifen schnell, daß sie von mir nicht geschlagen werden, daß ich eben ein Amerikaner bin, der auf sie neugierig ist, und einige machen mir Vorwürfe, daß Amerika den Verräter Tschiang unterstützt. Für mich rundet sich das Bild einigermaßen ab: Diese Leute machen einen Unterschied zwischen dem Generalissimo, den sie zur Hölle wünschen, und uns, von denen sie Einsicht erwarten. Sie klagen nicht über die Behandlung, deren Spuren sie tragen. Einige sagen mir, daß sie zum Tode verurteilt sind. Aufschub der Exekution aus taktischen Gründen, meinen sie. Aber sie zeigen keine Angst. Ich überlege erneut, daß marxistische Lehrsätze ihnen wohl kaum geläufig sein können, hier handelt es sich um Menschen, die aus 42
emotionalen
und
sozialen
Gründen
revoltieren,
und
die
Kommunisten bieten die einzige Operationsbasis für diese Rebellion. Der Gefangene, den ich am dritten Tag meiner Tätigkeit in der Haftanstalt vorgeführt bekomme, heißt Chang Wen und stammt aus Shanghai. Aus den mir von Wen Tsao-tji überlassenen Hinweisen ersehe ich, daß man wohl nicht in der Lage gewesen ist, seine illegale Tätigkeit völlig aufzuhellen. Er wurde festgenommen, als er mit einem Posten kommunistischer Propagandaschriften nach Tschungking kam. Der Anlaufpunkt, an dem er sich meldete, war die letzte Station seiner Reise, die vermutlich in Jenan begann. Der Mann ist groß und hager, trägt eine mit Draht geflickte Brille und kann etwas englisch. Als ich ihm die erste Frage stelle, blickt er mich durch die zerschrammten Brillengläser an und möchte seinerseits wissen: »Was wollen Sie von mir? Die weiche Tour, mit Tee und Keks? Sie sind Amerikaner, und Sie konspirieren mit Tschiang. Erwarten Sie nicht, daß ich Ihnen mehr sage als meinen chinesischen Quälgeistern!« Es gelingt mir, ihm im Verlaufe unseres langen Gesprächs das Gefühl zu geben, daß sich mein liberaler Geist dagegen sträubt, in jedem Kommunisten sofort eine zur Ausrottung bestimmte Kreatur zu sehen. Ich spreche über die Geschichte Amerikas, über meine Kindheit in Tschengtu und Tschungking und auch darüber, daß ich im Verhalten der chinesischen Kommunisten durchaus einen achtbaren Sinn entdeckt habe, der auf ihre unverbrüchliche Vaterlandsliebe schließen läßt. Nach und nach komme ich ihm näher. Ich merke, wie er mich abtastet, wie er herausfinden will, was Zweck dieser Unterhaltung ist. »Ich will in China bleiben«, sage ich ihm schließlich. »Auch nach Ende des jetzigen Krieges. Und ich weiß, daß das System des Generalissimo arg verrottet ist. 43
Deshalb will ich Leute kennenlernen, die eine bessere Alternative dazu bieten.« »Sie sehen im Kommunismus eine Alternative für China?« Ich sage ihm, daß es außer den Kommunisten wohl keine politisch gewichtige Gruppierung mehr gibt, von der hier etwas zu erwarten wäre. Da lächelt er. »Man stellt sich auf die Zukunft ein. Nun gut. Wir Kommunisten haben nichts gegen die Amerikaner, vorausgesetzt, sie kommen zur Vernunft. Wir könnten in der Zukunft miteinander auskommen. Allerdings werde ich diese Zukunft nicht mehr erleben, Mister.« Sein Verfahren ist noch nicht abgeschlossen. Instinktiv spüre ich, daß dieser Chang Wen keine unbedeutende Person sein könnte. Es würde sich auszahlen, ihn freizubekommen, aber ich weiß, daß das unmöglich ist, und ich sage es ihm. »Aber«, fahre ich fort, »auf die Gefahr hin, daß Sie mich für einen Priestertyp halten, glaube ich, daß schon viel erreicht wäre, wenn Sie nicht hingerichtet werden. Wenn Sie das, was jetzt ist, überleben. Oder?« Er antwortet nicht. Ich verspreche ihm, mich dafür einzusetzen, daß man nicht > kurzen Prozeß < mit ihm macht, und er nimmt es ohne Kommentar zur Kenntnis. Als ich ihn frage, ob er Familie hat und ich sie über sein Schicksal benachrichtigen könnte, schüttelt er den Kopf. Er ist allein. Hat niemandem etwas auszurichten. »Oder doch«, besinnt er sich dann plötzlich. »Wenn es in dieser Stadt einen Kommunisten gibt, den Sie kennen und nicht an Tai Li verraten, dann richten Sie ihm aus, Chang Wen sei von Wang Kwei-fan verraten worden. Wang Kwei-fan, merken Sie es sich, oder schreiben Sie es meinetwegen auf, sie ist eine Verräterin. Das ist alles.« Ich verspreche, ihn wieder einzuladen und mich für ihn einzusetzen. Er nimmt es gelassen hin. Er verzichtet auf Tee und Gebäck, geht grußlos zwischen den Wärtern hinaus, die ihn abführen. 44
Chang Wen. Ich spreche mit Wen Tsiao-tji über ihn, und der bestätigt mir, daß man nicht viel von ihm weiß. Man hat ihn geschunden, aber er schwieg. Jetzt will man abwarten. Ich mache dem Untersuchungsrichter klar, daß der Mann für mich interessant ist. Wen Tsiao-tji lächelt. »Ich verstehe. Ein intelligenter Mensch. Es liegt in meiner Macht, ihn zunächst am Leben zu lassen. Wenn Sie daran interessiert sind, werde ich dafür sorgen, daß sein Verfahren nicht so bald wieder aufgenommen wird. Nur freilassen kann ich ihn nicht. Aber es ist ja möglich, daß die politische Konstellation sich einmal ändert und der Generalissimo zustimmt, den Kommunisten ein kleines Geschenk zu machen, in Form einer Amnestie, einer demonstrativen Freisetzung. Ich werde daran denken ...« Am nächsten Nachmittag bin ich in der Djaling Lu, im Laden des alten Chen Lin. Ich finde die üblichen Antiquitäten vor: Rollbilder: und Buddhafiguren, Bambusgefäße und Porzellane, alte Schwerter und Kurtisanengewänder, Cloisonne-Vasen und Elfenbeinschnitzereien, mongolische Dolche und Tang-Pferde aus Majolika. Eines davon kaufe ich, der Preis ist akzeptabel, es ist selbstverständlich nicht echt, sondern geschickt nachgemacht, aber es gefällt mir. Der Alte ist allein in seinem Laden. Staub liegt auf den Schaustücken, Fliegen umsummen uns, irgendwo im Hintergrund weint ein Kind. Chen Lin ist eine Figur voller Würde, er ist höflich und lobt meine Sprachkenntnisse. Ich habe mir für ihn eine Art des Vorgehens überlegt, von der ich glaube, sie ist den Umständen angemessen. Natürlich ist ein Mann wie er mißtrauisch, er wird sich nicht offenbaren, es geht schließlich um sein Leben. Aber — so habe ich kalkuliert, er hat Ohren, um zu hören, und er wird nicht zögern zu handeln. Also kaufe ich das Tang-Pferd, bezahle es in US-Dollar, was den Alten sichtlich erfreut, weil das chinesische 45
Geld laufend im Wert sinkt, und als er mir das Stück eingepackt hat, mit einer Schnur umwunden, lege ich los. »Sind wir hier miteinander allein, Lao Chen?« Er ist verblüfft, über die Frage ebenso wie über die ehrende Anrede. »Allein? Ja, Sir, wir sind allein ...« Er sieht mich an. Sagt nichts weiter. »Gut. Dann merken Sie sich folgendes, oder schreiben Sie es auf, vergessen Sie es nicht: Chang Wen, inhaftiert im >Weißen Hausernste Schritte< an. Wenn man diese Dinge in den Tschungkinger Zeitungen 47
kommentiert liest, hört es sich für jemanden, der den Mechanismus von Tschiangs Presse einigermaßen kennt, so an, als sei der Generalissimo zutiefst verärgert darüber, daß Roosevelt und Churchill
ihm
nicht
zum
Posten
des
militärischen
Oberbefehlshabers auf diesem Kriegsschauplatz verholfen haben. Er fühlt sich zurückgesetzt und schmollt. Roosevelt wird seine Gründe haben, er kennt die Prioritäten, die Tschiang — im Besitz des Oberbefehls — setzen würde, und er muß befürchten, daß der Generalissimo sich stillschweigend mit Japan einigen könnte, vorerst zur gemeinsamen Bekämpfung der Kommunisten. Ein Dschungel
von
geheimen
Abmachungen,
Vertragsbrüchen,
Kompetenzstreitigkeiten, Durchstecherei, Vetternwirtschaft und bedenkenlosem politischem Opportunismus, das ist es, was der > Verbündete < Tschiang seinen Partnern zumutet. Jeder im Job weiß es, keiner spricht es laut aus, lediglich Stilwell vielleicht, aber die meisten von uns sind sich klar darüber, daß Tschiang nichts mehr und nichts weniger anstrebt, als bei möglichst großen Hilfsleistungen letztlich doch uns die Zerschlagung der Japaner zu überlassen, seine eigenen Truppen aber zu schonen für die von ihm als heilige Aufgabe« bezeichnete militärische Zerschlagung der Kommunisten. Benny Tso ist aus der Organisation der >Blauen Hemden< hervorgegangen, dem Kaderreservoir der Kuomintang. Diese jungen Leute sind für meine Begriffe gläubig in einem beinahe religiösen Sinne, wenn es um Tschiang geht. Er kommt mir bei aller Forschheit gedrückt vor, und ich spüre, daß er sich eher mit mir anfreunden möchte, als mich bespitzeln. Ich behandle ihn freundlich, hin und wieder bringe ich ihm Kaffee aus dem Büro mit, weil er — für einen Chinesen absonderlich — Geschmack daran findet. Schrecklicher, beim Rösten halb verbrannter indischer 48
Kaffee übrigens! Als ich mich plötzlich an die Opiumpfeife erinnere, die ich für den Arzt in Dinjan besorgen soll, wende ich mich an ihn. Er kauft sie für einen lächerlichen Preis bei einem Trödler, und er befördert sie auch — mit einem handschriftlichen Gruß von mir — zum Flugplatz, wo er sie einem Piloten übergibt, der in Dinjan zwischenlanden wird. Ich habe das Gefühl, er ist froh, mir diesen kleinen persönlichen Dienst erweisen zu können. Wenn ich Besuch habe, beispielsweise von Wen Tsiao-tji, der gelegentlich kommt, um mit mir zu plaudern, zieht Benny Tso sich folgsam zurück. Er lauscht nicht, er steht Posten an der rückwärtigen Grundstücksgrenze, von wo aus er das Gelände gut übersehen kann. Eines Tages werde ich auf ein Plakat aufmerksam, das nicht weit vom OSS-Büro an einer Hauswand klebt. Das Foto eines Mädchens, darüber ein kurzer Text. Ich vermute einen Steckbrief und lese, aber ich habe mich geirrt, es ist eine öffentliche Suchanzeige: DIE 26JÄHRIGE WANG KWEI-FAN
IST SEIT ZWEI
WOCHEN VERSCHWUNDEN, eine Gewalttat wird vermutet. Wer hat sie zuletzt gesehen, und in wessen Begleitung? Für Hinweise, die der Aufklärung dienen und die Ordnung und Sicherheit in Tschungking stärken können, zahlt hie Polizei bis zu 2000 Dollar.< Ich gehe ins nächste Teehaus, wo das Plakat ebenfalls hängt, und denke über die Sache nach. Bewiesen ist: Wang Kwei-fan war keine einfache Bürgerin, denn es verschwinden täglich Leute in Tschungking, entweder sie wandern ab, oder sie sterben unentdeckt in den Ruinen, liegen morgens, nach dem letzten Nachtschlaf, auf einem Bürgersteig, unidentifizierbar, ohne daß sie die Polizei interessieren. Wenn Wang Kwei-fan beseitigt wurde, was der Fall zu sein scheint, dann hat der alte Chen Lin meine Nachricht 49
weitergegeben. Wird er sich melden? Ich brauche nicht lange zu warten. Einige Tage, nachdem ich das Plakat entdeckt habe, läutet am Abend mein Telefon. Es ist Chen Lin. Er sagt den vereinbarten Spruch von dem Tang-Pferd auf, und ich verspreche, am nächsten Nachmittag zu kommen. Zunächst erlebe ich eine Überraschung. Chen Lin empfängt mich würdevoll und geleitet mich in einen Raum hinter seiner Antiquitätenhandlung. Hier ist der Tisch gedeckt, für drei Personen. Dritter Gast ist eine junge Frau, die mich schüchtern begrüßt, seine Tochter, wie Chen Lin erklärt. Sie ist sicher nicht mehr so jung, wie sie aussieht, ich schätze sie auf dreißig, als ich sie genauer betrachte, und in der Tat habe ich mich kaum verschätzt, wie ich später erfahre. Sie ist Witwe, hat einen Sohn und führt dem Vater den Haushalt. Ich bin ohne Benny Tso gekommen, auch ohne andere Sicherheitsvorkehrungen, meine Pistole habe ich zwar umgeschnallt, aber ich weiß nicht einmal, ob sie durchgeladen ist. Allerdings merke ich bald, daß mir hier keinerlei Gefahr droht. Der Gastgeber entschuldigt sich, daß die Mahlzeit nicht so üppig sein wird, wie es in Szetschuan üblich ist, wenn man liebe Gäste bewirtet, aber es sei Krieg, vieles sei nur auf dem schwarzen Markt zu bekommen, und man könne lediglich hoffen, daß die Zeiten sich bessern. Eine Weile sagen wir uns gegenseitig höfliche Sprüche auf, denn ich muß natürlich entgegnen, daß es mir eine Ehre ist, in seinem Haus auch nur Tee zu trinken, worauf er wiederum anfängt, von den Alliierten zu reden, die so vieles für das geschundene China tun. Bis dann die Gemüse auf dem Tisch erscheinen, Wasserkastanien und Bambus, es kommen die Morcheln, die tausendjährigem Eier mit ihrem perversen Geschmack nach Salmiak, zartes Hühnerfleisch mit Erdnüssen, panierte Schweinsstreifchen, Flußfisch in süßsaurer Tunke, dazu ein halbes Dutzend Soßen, eine Suppe mit 50
Reisnudeln und Haifischflossen, die seit Jahren im Binnenland kaum noch zu bekommen sind, kandierte Früchte, und immer wieder dazwischen winzige Schalen mit Shaoshing-Wein, angewärmt, den Geschmack der Speisen nicht beeinträchtigend, zu denen man ihn trinkt. Ich lasse mich nicht bitten und esse mit Appetit. Der Gastgeber bringt mir die besten Happen von den Serviertellern, und die Tochter achtet darauf, daß ich stets Wein habe. Wir trinken uns mehrmals zu. Das ganze Zeremoniell des Essens läuft unter Trinksprüchen auf den Frieden, die Alliierten, auf Nächte ohne Bomben — es dauert lange, bis Chen Lin endlich mit dem herausrückt, was er sagen will. »Ich habe mein nicht sehr gutes Gedächtnis lange angestrengt, bis mir eingefallen ist, woher ich Ihren Namen kenne, Mister Robbins«, sagt er. »Ein wenig hat mir Ihr Gesicht geholfen, darauf zu kommen. Jetzt weiß ich es, und ich entschuldige mich, daß ich Sie nicht bereits bei Ihrem ersten Besuch erkannt habe. Sie sind der Sohn von Mister Gerald Robbins, ich bin sicher ...« Ich bejahe es. Er hat meinen Vater gekannt. Oder er gibt es vor. Ich erkläre ihm, daß aus meiner Kinderzeit Erinnerungen an Tschungking in mir sind, daß ich mit Eifer weiter die chinesische Sprache gelernt habe, nachdem ich in den Staaten studierte. Chen Lin schüttelt bekümmert den Kopf, als er vom Schicksal meiner Eltern erfährt. »Zwei sehr angenehme Kunden«, sagt er bedauernd. »Ihr Herr Vater kam oft aus Tschengtu und kaufte manches bei mir. Er war kein ausgesprochener Sammler, aber er hatte Geschmack. Er vermied es stets, Sachen zu erwerben, die für China von kulturhistorischer Bedeutung hätten sein können, er wollte sie nicht besitzen, sie gehörten seiner Meinung nach in chinesische Museen. Einmal ver51
kaufte ich ihm eine Deckelvase im Stil der Ming-Zeit. Wenig später wollte er sie mir zurückgeben, erst als ich ihm mehrmals ehrenwörtlich versicherte, es handle sich um eine Nachahmung, behielt er sie. Ein redlicher Mann ...« Er könnte meinen Vater tatsächlich gekannt haben, ich erinnere mich an die Ming-Vase. Sie steht — zusammen mit dem übrigen Eigentum meiner Eltern — in einem Haus in Oregon, in dem ich ganze zwei Wochen gewohnt habe. Eine weitläufige Verwandte meiner Mutter beaufsichtigt es, sie lebt nebenan. Wer weiß, wann ich es einmal wiedersehe. Alles, was der Alte über meinen Vater sagt, scheint mir zu stimmen. Mit keinem Wort erwähnt der Alte die Nachricht, die ich ihm überbracht habe, er > spricht viel und sagt wenigMary< nennen, obwohl er nicht homosexuell ist, weder rechenschaftspflichtig, noch kontrolliert er meine Post. »Nun ja«, antworte ich deshalb vorsichtig, »Mister Miles hat mir keine Befehle zu geben, wenn Sie das meinen. Und mit den Obliegenheiten von Mister Miles und der SACO habe wiederum ich nichts zu tun.« »Aber er kontrolliert Sie?« »Nein«, sage ich. »Das steht ihm nicht zu.« Die Frau sagt: »Mister Miles tut manches, das ihm nicht zusteht. Es wird für Sie von Interesse sein, daß er Sie beobachten läßt ...« Als ich ehrlich verblüfft schweige, fährt sie fort: »Hinter Ihnen kam ein junger Mann in die Djaling Lu. Er heißt Stuart, und gegenwärtig trinkt er Chrysanthemen-Tee in einem Teehaus, von dem man unser Geschäft beobachten kann.« Stuart. Es gibt ihn bei Miles. Ein Bürschchen, das er für Aufträge aller Art verwendet. Ich habe ihn ein- oder zweimal gesehen. »Er ist mir gefolgt?« »So ist es. Sie wußten nichts davon?« »Nein.« Da sagt der Alte: »Dann wird es gut sein, wenn Sie die außeror53
dentliche Wißbegier des Mister Miles in Zukunft berücksichtigen. Ks wäre bedauerlich, wenn Sie auf seine Intervention hin Ihren Aufenthalt bei uns beenden müßten. Sie sind ein so angenehmer Gast und dazu der Sohn eines alten Bekannten, den wir in guter Erinnerung haben ...« Nach einigem Überlegen sage ich: »Eigentlich wollte ich nicht darüber sprechen, aber vielleicht ist es gut, wenn ich es doch tue. Unter meinen Landsleuten gibt es nicht wenige, die das Engagement des Mister Miles sehr kritisch beurteilen. Wir Amerikaner sind offene Menschen, an Demokratie gewöhnt, an unterschiedliche Meinungen und Weltanschauungen. Es fällt uns schwer, beispielsweise politische Probleme so zu lösen, wie Mister Tai Li das tut. Wir lehnen es ab, politische Gegner zu quälen. Das ist die Praxis der Hitlerleute, und wir verabscheuen sie, deshalb erscheint uns die allzu enge Partnerschaft von Mister Miles und Mister Tai Li im höchsten Maße unangebracht ...« Der Alte lächelt. »Gleiches tut sich gern zusammen!« »Nun ja. Das mag wohl sein. Aber Tai Li ist nicht China, und Miles nicht Amerika.« »Der
Generalissimo
ist
China«,
macht
der
Alte
mich
aufmerksam, ich spüre, daß er auf eine Entgegnung wartet, und ich gebe sie ihm gezielt, indem ich leicht den Kopf schüttle. »China endet nicht dort, wo gegenwärtig die Truppen des Generalissimo stehen. Alles, was Japan an Territorium okkupiert hat, ist auch China. Und selbst die Gebiete um Jenan gehören dazu. Ich persönlich glaube, daß beispielsweise gerade über diese Gebiete hier viel Unwahres gesagt wird. Die Leute dort scheinen mir ehrlich und vaterlandstreu zu sein. Ich verstehe zwar von ihrer Weltanschauung so gut wie nichts, aber ich müßte blind sein, wenn ich nicht sähe, daß sie viele Ideen über die Zukunft Chinas haben 54
...« »Sie kennen diese Ideen?« »Beim OSS lernt man vieles«, antworte ich. »Außerdem habe ich die Gelegenheit genutzt, mit kommunistischen Gefangenen zu sprechen. Wie Sie sehen, gibt es beim OSS nicht nur Leute wie Miles.« Er nickt. »Der Nachteil einer Demokratie ist immer, daß die Kräfte sich täglich gegenüberstehen und daß die eine Kraft zuweilen die andere aufhebt. Doch auf die Dauer kann sich wohl nur das durchsetzen, was gesund und richtig ist. Allerdings muß es dabei in Kauf nehmen, daß es gelegentlich mit unlauteren Mitteln bekämpft wird.« Jetzt lächle ich. »Das sind wir gewöhnt. Auch General Stilwell wird, wenn ich recht informiert bin, von Mister Miles und Mister Tai Li bekämpft. Weil er das militärpolitische Konzept des Generalissimo kritisch sieht. Aber alle von uns wissen, daß General Stilwell nicht nur ein guter Soldat ist, sondern auch ein Freund Chinas. So wird sich auf lange Sicht das Richtige durchsetzen, Lao Chen. Bei uns, wie auch bei Ihnen hier.« »Das Richtige«, sagt er bedächtig, »sitzt im >Weißen Haus< oder in der >Höhle karge < Mahl, er deutet an, daß er mich gern wiedersehen würde und daß ich ihn immer aufsuchen soll, wenn es mir genehm ist. Amerika, das große, in der Demokratie lebende, und China, für das es eine wahre Demokratie geben werde, eines nicht allzu fernen Tages, seien Partner der Zukunft ... Er hoffe, sie noch zu erleben ... Im Laden drückt mir die junge Frau ein Paket in die Hand. Schwer. Gut verschnürt. Der Alte schmunzelt. »Das zweite Tang-Pferd! Es wird von Vorteil sein, wenn Mister Stuart erfährt, weshalb Sie bei mir gewesen sind ...« Er verbeugt sich, wünscht mir >zehntausendfaches Glück< und öffnet mir die Tür. Die junge Frau ist bereits verschwunden. Ich gehe sofort ins OSS-Büro zurück, hier suche ich das Zimmer auf, das mir zur Verfügung steht, dann rufe ich die Kollegen herbei, die gerade anwesend sind, und als sie sich alle versammelt haben, packe ich freudestrahlend mein Tang-Pferd aus. Am Wochenende kommt der Kurier aus Kalkutta. Er hat von Holly die Anweisung, mir die Post persönlich zu übergeben, und genau das tut er. Es zeigt sich, daß unsere Verbindung hervorragend klappt. Ob Miles das recht ist oder nicht, wir arbeiten an ihm vorbei. Obwohl ich es vernünftiger finden würde, wenn ein solcher Mann von der Zentrale abgelöst wird. Aber dafür ist das Verhältnis USA-Generalissimo wohl zu kompliziert... 56
Weisung an Violet 30.9.1943 (Kopie) Beiliegend eine politische Rede, die der Chef der Kommunisten, Mao Tse-tung, im Mai 1942 auf einem Forum kommunistischer Künstler in Jenan gehalten hat. Gedächtnisprotokoll. Unter Umständen lückenhaft. Ich bitte um Bewertung aus Deiner Sicht unter Herausarbeitung der strukturbestimmenden Elemente kommunistischer Politik. Anlage/Material
Holly
An Holly 13.10.1943 Kommentar zu Jenan-Material 1. Sun Yat-sen, der bekanntlich die Kommunisten in die Kuomintang integrierte und persönlich die russische Sowjetordnung außerordentlich schätzte, hatte fast alle linksstehenden Künstler in die Bestrebungen der Kuomintang einbeziehen können. Sie stellten die Mehrheit aller chinesischen Künstler überhaupt dar, und die linke Kunst nahm damals einen ungeheuren Aufschwung. Nach dem Tod Sun Yat-sens und der putschartigen Machtergrei57
fung
durch
Tschiang
Kai-shek
vollzog
sich
hier
eine
einschneidende Veränderung. Die Ausschaltung der Kommunisten von der Mitarbeit in der Kuomintang führte (besonders am Konzentrationsort Shanghai, aber auch anderswo) zu einer umfassenden Abkehr der Künstler von Kuomintang und TschiangKai-shek und zu ihrer stärkeren Hinwendung zu den nunmehr verfolgten Kommunisten, die sich als Vertreter von sozialer Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Fortschritt präsentierten. Das hatte zur Folge, daß fast alle Künstler von Rang und Namen sich nach Errichtung der kommunistischen Basis in Jenan nach und nach dorthin begaben, um sich in den Dienst der Kommunisten zu stellen, in denen sie die echten aufstrebenden Kräfte Chinas sahen. Keinesfalls handelte es sich bei ihnen dabei durchweg um Kommunisten
oder
gar
Proletarier.
Ihre
Affinität
mit
dem
Kommunismus Mao Tse-tungs war und ist meines Erachtens vorwiegend oberflächlich emotional. 2. Mao Tse-tungs radikal-kommunistische Politik in Jenan könnte deshalb unter den gegebenen Umständen bei den dortigen Künstlern durchaus Stoff zu Meinungsverschiedenheiten liefern, zumal es sich bei ihnen sozusagen um die >geistige Elite< Chinas handelt. (Als solche empfinden sie sich selbst.) Mao Tse-tung hingegen und seine nächsten Mitarbeiter sind nach meinen bisherigen Informationen eher lückenhaft oder gar nicht gebildete Bauern und Soldaten, revolutionäre
NaturtalenteAuseinanderklaffen der Ansichten unter den IntellektuellenOpportunisten, Agenten und SpitzelArten von KunstMassenAnwendungsgebiete < aufteilen, und sie läßt sich nicht — je nach ihrer Verwendbarkeit im tagespolitischen Geschehen — als >brauchbarbegrenzt brauchbare oder >unbrauchbar< kategorisieren. Der Autor der Jenaner Rede scheint den Wesensgehalt des Phänomens Kunst nicht begriffen zu haben, ist aber offenbar entschlossen, sich der Kunst als Hilfsmittel für seine politischen Absichten zu bedienen. 3. Der Redner spricht an einer Stelle vom bebenden Marxismus und Leninismus< im Gegensatz zu dem der >toten Handbücher“. Ich gebe zu bedenken, daß von wesentlichen marxistischen Werken, auch von denen Lenins, bisher so gut wie nichts ins Chinesische übersetzt worden ist, soweit ich informiert bin. Mao, der unseres Wissens nicht über Fremdsprachenkenntnisse verfügt, kann also die >toten Handbücher“ gar nicht kennen. Er kann über sie auch nicht in Moskau belehrt worden sein, weil er bis heute China nie verlassen hat. Deshalb ist sein Ausspruch signifikant, er ist allerdings zu vage, um präzise Schlüsse zuzulassen. 4. Bei dem, was nach Meinung des Redners den > Massen < an Kunst geboten werden soll, findet sich die Ausklammerung feudalistischen und kapitalistischen Kunst. Befürwortet wird das, was Ar59
beitern und Bauern hilft Volkstümliche Kunst< soll nach Mao Tse-tung > stilistisch und formal weniger vollkommen sein als Kunst, die zur Hebung des geistigen Niveaus dient, dann verstehen die Massen sie besser ... < — Diese Forderung reduziert, wie mir scheint, Kunst auf einen > Gebrauchswert, wie ihn Radio-Features oder Zeitungsartikel haben. Das Zitat > Nicht Blumen in einen Prunkteppich weben, sondern Kohlen spenden für Menschen, die im Winter frieren < halte ich zwar für geschickt gewählt, doch eben für demagogisch, weil sich diese Alternative überhaupt nicht stellt. 5. Der Redner erweckt den Anschein, als wolle er mit einer programmatischen Erklärung sozusagen eine neue Kunstepoche eröffnen. Verfolgt man seinen in diesem Zusammenhang geäußerten Gedanken von der »Einheitsfront, so dürfte es sich bei dem, was er als >Kunst< versteht, eher um verfeinerte Produkte kommunistischer Propaganda handeln. Daß er im gleichen Atemzug > Kunst im Propaganda- und Plakatstil< ablehnt, halte ich für eine Methode, seriöse Künstler, die guten Willens nach Jenan gekommen sind, nicht völlig zu verschrecken. Interessant ist folgende Erkenntnis, die sich mir aufdrängt: Wenn es in einigen Jahren neue Kunstwerke geben sollte, so kann man die etwas eigenwilligeren unter ihnen aus 60
der Interpretation von Maos Rede heraus glatt ablehnen. Man kann aber ebensogut auch die primitiven, im subjektiv guten Glauben >für die Massen ( geschaffenen, also niveaulosen, aus der gleichen Rede heraus verdammen. Insgesamt erscheint mir deshalb alles, was hier programmatisch gesagt wird, im höchsten Maße ambivalent und willkürlich interpretierbar. 6. Verworren und abwegig erscheinen mir die Gedanken, die Mao Tse-tung über die >menschliche Natur< äußert. Ich habe den Verdacht,
daß
er
hier
zusammengesuchte,
im
Grunde
unverdaute Fremdweisheiten zu einem Konglomerat vermischt, das er als kommunistisch
erklärt.
Er sieht eine
>Natur der
Proletarier“, eine der > Kapitalisten < usw. Und er läßt erkennen, daß nach seiner Meinung die Kunst >die Massen proletarisieren oder zu Kapitalisten machen < kann. Wenn er diesen Unsinn tatsächlich in praktische politische Maßnahmen umsetzt, wird er im wachsenden Maße auf den Widerspruch vieler Künstler und gebildeter Leute überhaupt stoßen. 7. Ich mache — um meine These von der mangelhaften Bildung des Redners und von seinem vermutlich grenzenlosen Mißtrauen gegenüber allem, was mit Intelligenz und Kunst zu tun hat, zu untermauern — darauf aufmerksam, daß er zwar hin und wieder Namen wie Gorki oder Lu Hsün in den Text einstreut, sie also zu respektieren vorgibt, ohne jedoch ihre Gedanken zum Thema Kunst zu akzeptieren (oder überhaupt zu kennen?). Immerhin wird in der ganzen Rede kein Wort über so große humanistische Dichter Chinas wie etwa Li Po oder Tu Fu verloren. Hingegen nennt er Tolstoi (welchen?) und Konfuzius (man bedenke die Paarung) als >große Menschheitsführer. Von der tiefen Geschichtsträchtigkeit der
chinesischen
Ausprägungen
Oper
in
ihren
beispielsweise, 61
von
verschiedenen ihrer
lokalen
ungeheuren
Anziehungskraft auf > Massen < (hier wäre der Ausdruck einmal angebracht!) und von ihrer großen künstlerischen Meisterschaft wird überhaupt nicht gesprochen, geschweige denn von der einzigartigen Malerei. Meine Vermutung, daß es sich bei dem Redner um einen Eklektiker handelt, der — im Besitz politischer Macht — durchaus entschlossen ist, die Kunst unter Berufung auf den Marxismus auf eine Abart propagandistischer Tätigkeit zu reduzieren, ist außerordentlich stark. Ich sehe mich nicht zuletzt vom Redner selbst darin bestätigt, als er gegen Ende von einem > ideologischen Kampf< unter den Künstlern
in
Jenan
spricht.
Wie
es
scheint,
hat
die
Auseinandersetzung über Sinn und Unsinn seiner Thesen dort bereits begonnen. Violet
15.10.1943 Wir haben einen unfreundlichen Herbst hier. Es begann bereits im August, mit — zu dieser Zeit ungewöhnlichen — Kälte, mit Unwettern, eisigem Regen und Überschwemmungen. Augenblicklich liegt Tschungking im tiefen Nebel. Der schützt uns vor Luftangriffen, aber er erschwert das Leben auch beträchtlich. Tagelang verkehrt die Fähre nicht. Auf allen Felsvorsprüngen über dem Fluß sitzen Leute, die Trommeln schlagen, damit die Flußschiffer sich wenigstens einigermaßen orientieren können. Morgens, wenn ich zur OSS-Station fahre, sehe ich Leichen von Kindern am Straßenrand liegen. Ertrunkene, die der Fluß herangespült hat, vielleicht auch Obdachlose, kleine Bettler, die von 62
der Kälte der Nacht getötet wurden, während sie irgendwo auf dem Fußsteig schliefen. Vorerst kümmert sich niemand um sie, später werden Fahrzeuge des Hygienedienstes sie wegbringen. — Am Abend diniere ich mit Wen Tsiao-tji im >ChiadineLeibwächter< Benny Tso einer ist. Er, Benny, sitzt draußen im Wagen, der uns nach Hause fährt. Während er sich dann auf seinen Lauschposten an der hinteren Grundstücksgrenze verfügt, sitze ich noch lange am Schreibtisch. Eine Aufstellung aller von mir interviewten kommunistischen Häftlinge mit genauer Charakterisierung jedes einzelnen ist für Holly fällig. Außerdem habe ich drei Propagandabroschüren aus Jenan bekommen, d.h. ich habe sie mir aus der OSS-Station mitgenommen, wo sie ohnehin keiner liest. Sie wollen sorgfältig durchgearbeitet sein. So sitze ich beim Licht der großväterlich anmutenden Schreibtischlampe mit ihrem bronzenen Schmuckfuß und dem grünen Porzellanschirm, bis mir die Augen zufallen. Ich raffe mich auf, um zu Bett zu gehen, und merke, wie draußen der Morgen heraufzieht. In 67
der Küche höre ich den Koch rumoren, vorsichtshalber sage ich ihm, daß man mich schlafen lassen soll. Er nickt grinsend. Nimmt an, ich sei bei einer Frau gewesen, man kann es ihm ansehen. Eigentlich wäre es an der Zeit, nach der bösen Erfahrung mit der königlich-britischen Tripperdame Mary wieder einmal an etwas Sexualleben zu denken. Holly hat gesagt, ich soll vorläufig keine Dauerliaison eingehen, bestenfalls eine Dame hin und wieder mit meinem Besuch beehren, jedesmal möglichst eine andere. — Gegen Mittag glaube ich an hellseherische Fähigkeiten, die in mir schlummern. Ich werde geweckt, muß ins Büro eilen, um beim Kurier aus Kalkutta den Empfang eines Schreibens von Holly zu quittieren. Und Hollys neue Weisung schließt auf seltsame Art an die letzten Gedanken an, die ich vor dem Einschlafen hatte ...
An Violet 16.10.1943 Persönlichen Kontakt herstellen zu einer Chinesin namens Kung Yen-chi (auch bekannt
unter
der
Bezeichnung
>Chi-Pao-
LilyLan
PingLi Yün-ho< oder >Lien Hua< verwendete. Ebenfalls Schauspielerin. Holly 68
6.12.1943 Der Wechsel im OSS-Büro deutete sich bereits im August an. Um diese Zeit etablierte sich in New Delhi das neue BritischAmerikanische Südostasien-Oberkommando mit Lord Mountbatten als Chef. Donovan (unser Chef) hat offenbar mit dem Lord eine Übereinkunft getroffen, was die ungehinderte Arbeit des OSS in ganz Asien betrifft. Das heißt, wir sind von nun an auch in China nicht mehr von der Zustimmung des Generalissimo abhängig, und damit verliert der Geheimdienstchef Tai Li die Möglichkeit, über seinen Vertrauten Miles, unseren hiesigen Stationschef, in unsere Angelegenheiten hineinzuregieren. Eine entscheidende Wendung, die sogleich Konsequenzen zeitigt: Am
2.
Dezember
erscheint
>Wild
so laufen werden, wie wir das entscheiden, und zwar ohne jegliche Einmischung von chinesischer SeiteFreundschaftsgesellschaftFreundschaftsvereinbarungen< mit China durch eigenmächtiges Vorgehen zu verletzen, machte ihn Donovan barsch aufmerksam: »Sie brauchen Ihren Dienst nicht mehr zu quittieren, Captain, Sie sind bereits entlassen!« Das war am 5. Dezember. Miles darf weiterhin in der SACO arbeiten, ohne Einfluß auf die OSS-Station. An seine Stelle trat Colonel John Coughlin, mir noch aus Hawaii bekannt als >ArizonaJohnnyspazieren gehtGesichtöffentlichen DameFrau ist Frausehr anständigem Filmproduzenten auf, der für die >Universal Photoplay< Finanzierungen managt. Er kauft ihr eine Wohnung, besucht sie zweimal in der Woche und verschafft ihr außerdem einen Job als Gelegenheitsstatistin. »Vorbei«, sagt sie traurig, als wir am Nachmittag beim Tee sitzen. »Er mußte mit seiner Frau aus Shanghai verschwinden, man suchte ihn, weil er ein paar Filme finanziert hat, die von der Liga Linker Dramatiker gemacht wurden. Also war er plötzlich weg, und Lan Ping und ich saßen in meiner schönen Wohnung und überlegten: was nun ...?« Da ist der Name, zum ersten Mal! Ich bemerke nur, daß ich einige der linken Stücke kenne, von Tien Han und anderen, und dann frage ich sie: »Ist deine Freundin auch in der Nanping Lu 73 gelandet?« Sie schüttelt den Kopf. »Hat mehr Glück gehabt als ich. Vielleicht. Genau kann man das nicht wissen.« »Lan Ping«, überlege ich laut. »Lan Ping ... Ich muß sie schon einmal gesehen haben, jedenfalls habe ich ihren Namen gehört.« Sie meint etwas träge: »Vielleicht im >Blutigen Wolfshügel«, 77
das war ein Film, der ziemlich bekannt wurde.« Ich hake sofort da ein. Und als Lily mir die Freundin beschreibt, nicke ich fortwährend: »Ja, das muß sie sein. Ein recht hübsches Mädchen ...« »Oh ja!« Sie lacht. Erzählt dann weiter über sich. Wie sie nach Tschungking kam. Wie sie hier berühmte Schauspielerinnen aus Shanghai wiedersah, Tsu Su-wen beispielsweise, oder Bai Yang. Aber es gibt so wenig Arbeit in den Ateliers. Kein Geld. Der Krieg. Später vielleicht, hat man sie vertröstet. Der Abend vergeht. Im Bett kommt sie nochmals auf den Film zurück, in dem Lan Ping auftrat. »Wenn du ihn gesehen hast, dann hast du auch mich darin gesehen. Aber ich spielte ein schmutziges Dorfmädchen in einer schrecklichen Maske. Niemand konnte mich erkennen ...« Ich bitte sie an einem der Nachmittage zwischen Weihnachten und Neujahr, mir mehr von der Filmarbeit in Shanghai zu erzählen. Später werde ich einmal Bücher über China schreiben, deute ich an, später, wenn der Krieg vorbei ist. Schicksale wie das ihre müßten ihren Platz darin haben. Auch solche wie das von Bai Yang oder von jener Lan Ping. In solchen Lebensläufen spiegle sich die Geschichte des Landes. Und dann beginnt sie ganz von selbst über Lan Ping zu sprechen. Schließlich war es ihre beste Freundin, und man sei nicht etwa im Ärger auseinandergegangen, nein, man habe sich nur getrennt, weil Lan Ping eben unbedingt ihren politischen Ambitionen nachgehen wollte. Ein gutes Mädchen, aber sie hat sich zu den Kommunisten aufgemacht ... Was mich veranlaßt, nach näheren Einzelheiten zu fragen. Schließlich seien die Kommunisten in China eine Potenz, von der noch einiges zu erwarten sei. Sie erzählt gern. Knabbert PX-Keks dabei, raucht ununterbrochen. Trinkt Likör, legt Platten auf, spielt, lacht, zieht mich zwi78
schendurch ins Schlafzimmer und gibt mir das Gefühl, mit einer Nymphomanin zu tun zu haben, ist eine Stunde danach wieder ausgeglichen, fröhlich, mitteilsam — Holly würde seine helle Freude an mir haben! Am Tag nach Neujahr geht sie in die Nanping Lu 73 zurück. »Ich kann wirklich nicht so lange fortbleiben, sonst denkt der Hauswirt noch, ich bin ausgezogen. Außerdem, Darling, muß ich ihn bezahlen!« Es gibt dort ein Telefon. Ich verspreche, sie anzurufen, wenn ich Zeit habe. Und im übrigen schwört sie: »Ich gehe mit keinem anderen Mann, Sid! Hörst du? Ich gehöre dir. Wenn du mich brauchst, werde ich da sein. Laß mich nicht zu lange warten.« Das wiederum schwöre ich. Und daß die Miete auf meine Rechnung geht. Benny Tso fährt sie nach der Nanping Lu. Sie winkt noch lange. Doc Haley macht seinen Test mit mir, schüttelt den Kopf und sagt: »Negativ.« Ich habe Zeit, an Holly zu denken.
An Holly 15.1.1944 Angaben über Lan Ping. Quelle: Kung Yen-chi, mündlich Lan Ping, alias Li Yün-ho, alias Lien Hua, Geburtsname angeblich Li Tschin, ist heute vermutlich 29 Jahre alt. Geboren in der Provinz Schantung, unweit Tsingtao. Vater Handwerker. Konnte durch Zuschüsse eines Landbesitzers, mit dem die Familie verschwägert war, die Grundschule absolvieren. Ein weitläufiger Verwandter, der Beamter war, ermöglichte ihr später, für eine 79
gewisse Zeit eine Theaterschule in Tsinan zu besuchen. Hier erregte sie wohl die Aufmerksamkeit eines älteren Literaturprofessors, der sie unterstützte und mit dem sie nach Tsingtao ging, wo sie — sozusagen als sein Protektionskind — an der Universität studierte, obwohl sie den Reifegrad für ein Studium nicht besaß. (Übrigens waren solche Manipulationen im damaligen China nicht unüblich, besonders wenn es sich um junge Mädchen handelte, die von einflußreichen älteren Herren ausgehalten wurden.) Während der Zeit tingelte sie mit einer Theater-Truppe von nationalistisch eingestellten Studenten zeitweise durch die Provinz. Das hat aber offenbar den Unwillen ihres eher konservativ eingestellten Mäzens erregt, und er ließ sie fallen. Nächste Station ihres Aufenthaltes war Shanghai. Um diese Zeit (in den frühen dreißiger Jahren) galt Shanghai, das am stärksten unter dem Einfluß ausländischer Lebensvorstellungen und Zivilisationseinwirkungen stand, als die Stadt mit dem regsten geistigen Leben in China. Die Konzentration von Intellektuellen und Künstlern war hier beträchtlich. In dieser Atmosphäre schliffen sich antiquierte chinesische Kulturtraditionen an modernen fremden Ideen stark ab, und es entstanden gerade in Shanghai Elemente eines Kunstbetriebes, der fortschrittlichavantgardistisch war. Hier entwickelte sich eine Art fortschrittlicher Elite, die sich am stärksten an die Kommunisten anlehnte, weil deren
Programm
grundlegende
Veränderungen
der
Ge-
sellschaftsstruktur beinhaltete. Die Reibungen, die sich daraus mit dem konservativen Flügel der Kuomintang ergaben, der die bereits 1927 arg dezimierten kommunistischen Kräfte erbittert weiter verfolgte, führten in späterer Zeit dazu, daß selbst nationalistisch gesinnte bürgerliche Künstler und Intellektuelle sich entschlossen, nach Jenan zu gehen, wo die Kommunisten ihre Basis errichtet hatten. Inzwischen aber lief im Shanghaier Kunstbetrieb eine Art Ver80
steckspiel. Immer wieder wurde versucht, die strengen Kontrollen der Kuomintang zu umgehen oder zu unterlaufen, indem verschlüsselt linke Botschaften über Kunstwerke ans Publikum gebracht wurden. Zu den organisierten Zentren dieser Bewegung gehörte die >Liga Linker Dramatikermit dem Röschen bezahlte linken Dramatikern < immer mehr, wohl dadurch, daß sie sich mit zu vielen von ihnen gleichzeitig einließ, so daß man sie in einschlägigen Kreisen schließlich als >Flittchen< bezeichnete, was Kung Yeng-chi allerdings für übertrieben hält. Es sei eben um ihre Existenz gegangen. Sie muß wohl dann einen Gönner gefunden haben, der in Peking lebte, denn sie zog dorthin und studierte einige Zeit an der dortigen Universität. Wie es scheint, versiegte ihre Geldquelle aber 81
auch wieder, denn sie kehrte nach Shanghai zurück, wo sie offenbar bei dem Versuch, wieder Kontakt zu linken Organisationen zu bekommen, an einen Spitzel geriet und festgenommen wurde. Nach mehreren Monaten Haft wurde sie entlassen und traf bei dem Versuch, erneut ihre Bühnenkarriere zu betreiben, auf Kung Yenchi, die durch ihr Verhältnis mit dem reichen Produzenten Ho Tjän bereits im gesicherten Status einer Mätresse lebte. Kung Yen-chi erklärt, sie habe mit dem durch die Haft mitgenommenen Mädchen Mitleid gehabt, außerdem sei sie ihr sympathisch gewesen und so habe sie sie bei sich aufgenommen (Anfang 1935). Durch die Vermittlung Ho Tjäns bekam sie nach und nach wieder kleine Rollen zugeschanzt. Zwischen den beiden Mädchen entwickelte sich eine Freundschaft, die es mit sich brachte, daß sie einander von ihren Liebesabenteuern erzählten. Andeutungsweise erfuhr ich, daß Li Tschin in der Wahl ihrer Verehrer vorsichtiger wurde, sie biß nur noch an, wenn es sich um zahlungskräftige Herren mit guten Geschäftsverbindungen handelte. Der jeweils betreffende Mann scheint ihr dabei nicht viel bedeutet zu haben. Höhepunkt ihrer Bühnenkarriere ist dann ihre Rolle als Nora in Ibsens >Puppenheim< gewesen. (Achtung: Durch vorsichtiges Forschen habe ich in einem hiesigen Archiv, das von Shanghai hierher verlagert worden ist, ein Plakat dieser Aufführung mit dem Foto Li Tschins gefunden. Es ist kopiert und wird von mir verwahrt!) In den Jahren 1936 und 1937 trat Li Tschin neben anderen Rollen vor allem in zwei wesentlichen Filmen auf, >Der blutige Wolfshügel< und >Die neue Frau Blauer Apfel Shanghaier Salonbolschewisten< gesprochen, die angeblich links stünden, in Wirklichkeit aber >die Seelen von konservativen Kümmerlingen< hätten. Die >echten Linkem hielten sich nach ihrer Meinung fern von dem dekadenten Kunstbetrieb Shanghais auf und kämpften bewaffnet für die Revolution. Sie erwähnte in diesem Zusammenhang öfters den Namen eines kommunistischen Funktionärs, der vermutlich in illegaler Mission Shanghai besuchte und von dem sie den Rat erhielt, die Stadt zu verlassen. Der Name ist Kung Yen-chi nicht mehr geläufig, er soll aber aus derselben Provinz stammen wie Li Tschin, aus Shantung. Bis zum Juli 1937 blieb Li Tschin noch in Shanghai, dann verschwand sie plötzlich spurlos. Wo sie jetzt ist, weiß Kung Yen-chi nicht. 83
Violet
10.3.1944 Die Russen scheinen Ernst zu machen: Bei Leningrad sind sie im Angriff, in der Ukraine haben sie deutsche Truppen eingekesselt, westlich des Dnjepr sind sie auf dem Vormarsch. Aber auch wir sind inzwischen auf den Marshall-Inseln gelandet, die > Straße nach Tokio< wird gepflastert! Radio Tschungking vermeldet solche Ereignisse ziemlich unterkühlt, und doch merkt jeder, daß es vorwärts geht, daß der Krieg in Europa vielleicht in einem Jahr ausgebrannt sein wird. In Asien geht es langsamer voran. Noch sind die Landfronten hier gleichsam eingefroren, die Japaner behaupten das, was sie erobert haben, allerdings, sie wurden bisher nirgendwo ernsthaft angegriffen. Persönlich glaube ich, daß wir uns entschlossen haben, das Schwergewicht auf Europa zu verlegen. Wenn dort Schluß ist, wird man alle verfügbaren Kräfte in Asien in Marsch setzen. Im OSS-Büro, das nach der Verlegung der Station nach Kunming nur noch ein relativ unbedeutender Stützpunkt ist, erfahre ich, daß diese Vermutung stimmt. Es sind geheime Informationen über die Konferenz der alliierten Staatschefs in Teheran (Dezember 1943) eingegangen, die besagen, daß die Sowjets sich verpflichtet haben, sechs Monate nach der Beendigung des Krieges in Europa militärisch ebenfalls gegen Japan vorzugehen. Da wird es sich um die Mandschurei handeln. Vorerst aber wollen die Sowjets immer drängender die Errichtung einer zweiten Front in Europa. Sie würden 84
ein solches Unternehmen durch einen gleichzeitigen Großangriff an ihrer Front unterstützen. Kommentar von Coughlin: die Russen werden in Europa versuchen, eine möglichst große Einflußzone für sich zu schaffen. Und — wenn sie die Mandschurei erobern, steht zu erwarten, daß sie den in Jenan liegenden kommunistischen Truppen damit den Weg für die Eroberung ganz Nord- und Nordostchinas ebnen. Wie distanziert man auch Coughlins Unkerei beurteilt, seine Vermutung kann natürlich annähernd zutreffen. Mir scheint, was Europa angeht, werden dort auf lange Sicht die einzelnen Kleinstaaten selbst über ihr weiteres Schicksal entscheiden. Im Falle der Mandschurei allerdings geben solche Überlegungen wie die von Coughlin eher Anlaß, sich mit der Politik des Generalissimo gegenüber den Kommunisten auseinanderzusetzen. Wäre er zeitig genug auf ihr Angebot der Einstellung aller Feindseligkeiten und das gemeinsame Engagement gegen Japan eingegangen, dann würde damit zumindest der Einfluß der Kuomintang in ganz China, einschließlich der Mandschurei, wer immer sie befreit, erhalten bleiben. So aber ist das ungewiß. Interessant ist, was unser Büro an Geheiminformationen über die sogenannte Kairo-Konferenz vorliegen hat. Sie fand wenige Tage vor der von Teheran statt, Stalin nahm daran nicht teil, es trafen sich Roosevelt, Churchill und — Tschiang Kai-shek! Nun wissen wir ja zur Genüge, wie ausgeprägt Tschiangs Eitelkeit ist und wie es ihn verletzt, daß er nicht zu den >Großen Drei< als >Vier“ hinzugezogen wird. (Epstein, einer der Korrespondenten hier, ich glaube, er arbeitet für die >New York Times< und >Time< sowie für >Lifefinden Schläfer< nennen die Engländer so etwas, ich weiß es aus der Ausbildung. Da gibt es die >VerrücktenNora< angezeigt ist, mit Li Tschins Foto. Ich schließe den eingebauten Tresor auf und hole die Kopie hervor. Holly wirft nur einen kurzen Blick auf das Bild, dann sieht er mich an und fragt, jedes Wort langsam aussprechend: »Weißt du, wessen Frau das ist, alter Junge?« Ich weiß es nicht, für mich ist es Li Tschin. Ich bin auch nicht sonderlich neugierig. Holly sagt leise, obwohl er wahrlich Vorkehrungen getroffen hat, daß wir nicht belauscht werden können: »Mao Tse-tungs Frau in Jenan. Wir haben ein Foto von Snow. Es ist dasselbe Gesicht. Ich habe es geahnt, und ich habe mich nicht getäuscht.« Tags darauf besucht er Chi-Pao-Lily in der Nanping Lu. Was er mit ihr bespricht, erfahre ich nur bruchstückweise aus Bemerkungen, die er später macht. Ich sehe Lily nicht wieder. Schließlich gerate ich mit Holly beinahe noch in Streit. Er rückt zögernd damit heraus, daß seine Einwilligung, die er mir zum Abfassen von einer Art
Tagebuch
gab,
im
Lichte
künftiger
Entwicklungen
problematisch erscheint. Er macht mich eindringlich aufmerksam, daß meine Aufzeichnungen — solange sie sich hier in China befinden — mir erhebliche Gefährdungen einbringen können. Völlig unbegründet ist seine Sorge nicht: China ist ein Land, in dem man nur sehr schwer etwas vor den Mitmenschen verbergen kann. Aber er gesteht mir zu, daß diese Aufzeichnungen ganz selbstverständlich in sehr ferner Zeit einmal Dokumente von großer Bedeutung sein könnten. Nicht zuletzt sieht er ein, daß in meiner Situation die Verständigung mit mir selbst für mich oft die einzige Art sein könnte, auf die ich mich gegen wachsende Blindheit für das, was mich umgibt, immunisieren kann. Ich lasse nicht über die Einstellung meiner Aufzeichnungen mit mir reden. So kommen wir zu einem Kompromiß. Ich schreibe auf 94
und sichere das Aufgeschriebene nach allen Regeln der Kunst. Aber ich nutze jede Möglichkeit, meine niedergeschriebenen Gedanken aus dem Lande zu befördern, und zwar auf Wegen, die Holly für den ständigen Kontakt mit mir auch in ferner Zukunft schaffen wird. So wird er, wie bisher, alles lesen und aufbewahren, was ich schrieb. Er nimmt es auf seine eigene Kappe, das Büro darf davon nichts erfahren, es würde nie seine Einwilligung geben, mich notfalls sogar zurückberufen. Freunde, die wir sind, besiegeln wir den Entschluß mit einem reichlichen Quantum Whisky. Am nächsten Morgen sitzen wir wieder beisammen und spielen Möglichkeiten durch, die sich in Jenan ergeben können ...
Wo die Sonne blaß ist Order an alle Teilnehmer der Mission >Dixie< 95
20.7.1944 Die Mission trägt die offizielle Bezeichnung >Alliierte Beobachter- und BeratermissionDixie< ergibt sich daraus die taktische Notwendigkeit, Parteinahme für die eine oder andere Seite nach Möglichkeit zu vermeiden. Unsere Verhandlungen beziehen sich nicht auf innerchinesische Angelegenheiten, sie haben die Stärkung der militärischen Zusammenarbeit im Kampf gegen Japan zum Ziel. Vereinbarungen, die in die Zukunft nach der Niederwerfung Japans zielen, sind nicht Sache einzelner Mitglieder der Mission. Persönliche Bekanntschaften sind nach Möglichkeit anzuknüpfen. Die kommunistischen Partner sollen den Eindruck bekommen, sie haben es mit Besuchern zu tun, die keine politischen Vorurteile hegen. Sympathien mit der chinesischen Welt, mit Sitten und Gebräuchen sowie für die Hingabe und die Anspruchslosigkeit der Kommunisten sollen geäußert werden. Vergleiche mit den Lebensgewohnheiten der Tschungkinger Regierung und ihrer Beamten sind zu vermeiden. Im persönlichen Verkehr sind Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit zu zeigen. Da die Lebensbedingungen in Jenan karg sind, ist 96
es nötig, alle gewohnten Ansprüche zurückzunehmen. Intimkontakte mit Frauen sind zu unterlassen, sofern sie lediglich kurzfristigen Charakter tragen. Die Absicht, langfristige Bindungen einzugehen, ist dem Leiter der Mission zu melden, bevor persönliche Entscheidungen getroffen werden. In allen Fragen, deren Entscheidung individuell nicht möglich ist, muß unbedingt der Leiter der Mission konsultiert werden. Aufgezeichnet nach der Verlesung: S. R.
24.7.1944 Von der Maschine aus gesehen gleicht das Land da unten einer graubraunen, verkarsteten Wüste. Es gibt nicht die >Zuckerhutberge< des Südens, die Anhöhen haben das Aussehen schmutziger, räudiger Höcker, manchmal sind sie tafelförmig, abgebröckelt ringsum, ihre Oberfläche wirkt wie bemoost. Tiefe Flußläufe unterbrechen das öde Einerlei. Sie sind vielfach verzweigt, ausgeufert, gelb und lehmig, blinken nicht im Licht. Ansiedlungen sind hier kaum auszumachen, aber sie sind da. Nur sind sie ebenso schmutzig, farblos wie die gesamte Umwelt, sie verschwinden in dem Einerlei aus Erde und staubbedecktem Grün. Dies ist die Landschaft, in der Jenan liegt, die Hauptstadt des Reiches der Roten, gleichzeitig eines der ältesten Siedlungsgebiete Chinas. Selbst aus unserer Höhe von annähernd dreitausend Metern spürt man, da unten sind Armut, Hunger und Dreck, die Urplagen Chinas, lebendig, regieren sie das Leben. — Aus den Materialien Hollys weiß ich, daß sich 1926 hier eine erste >rote Zelle< organisierte. Enthusiasten der Revolution, zweifellos inspiriert vom russischen Modell, machten den Versuch, 97
das stumpfe Bauernvolk zur Aktion zu bewegen. Später fanden hier auch die Reste der von Mao Tse-tung angeführten Bauernrebellen Zuflucht, etwa 8000 von ehemals 100000, nach ihrem legendären >Langen MarschLangen Marsch< stark angewachsen. Er hatte den Verlust der Kiangsi-Stützpunkte Leuten angekreidet, die angeblich innerhalb der Kommunistischen Partei eine >falsche Linie< verfolgten. Nun baute er seine Position aus. Ich verfüge über Beschreibungen dieses Mannes, die Edgar Snow,
Korrespondent
einiger
amerikanischer
Blätter
und
Vertrauensmann des State Departments (übrigens auch persönlicher Vertrauter Roosevelts), angefertigt hat, als er das Gebiet besuchte. Obwohl Snows Beschreibungen den Eindruck von Exaktheit machen, behalte ich mir ein eigenes Urteil vor. Jedenfalls ist Mao Tse-tungs Autorität in dem unter unserer Maschine liegenden Gebiet so gut wie unbestritten, er ist der Mann, mit dem wir zu verhandeln haben. Der > Flugplatz < in Jenan besteht aus einem Plateau, dessen Boden festgestampft, graslos ist. In der Länge reicht es für unsere Dakota entweder nicht ganz aus, oder der Pilot macht einen Fehler beim Anflug, jedenfalls muß er nach der Landung plötzlich so stark 98
abbremsen, daß unsere Maschine die Nase senkt und seitwärts ausbricht, wobei wir alle ziemlich unsanft aus unseren Sitzen gerissen werden. Einer der Propeller ist mit dem Boden in Berührung gekommen, größerer Schaden entsteht aber nicht, der Pilot beruhigt uns lachend, das sei ihm auf anderen Landeplätzen schon des öfteren passiert. Die erste Gruppe der Mission >Dixie< schickt sich an zum Schritt ins Ungewisse: Colonel David D. Barrett, Leiter des Unternehmens, enger Freund General Stilwells, der bekanntlich mit den Kommunisten sympathisiert, soweit es ihre Fähigkeit zu militärischen Leistungen betrifft. Er besitzt China-Kenntnisse, versteht
auch
die
Sprache
einigermaßen.
Von
seinen
siebenundzwanzig Army-Jahren hat er die meisten auf den Philippinen und in China verbracht, bei der 15. Infanteriedivision in Tientsin, aber auch einige Jahre als stellvertretender Militärattache in Peking. Jetzt kommt er von der Army-Aufklärung. Captain Charles Stelle war bis zu seiner Berufung zur Army Professor für Orientalistik in Harvard. Er wuchs in Peking auf, wo seine Eltern lebten, spricht und schreibt wie ich chinesisch und hat erhebliche Sympathien für die Leute in Jenan. Für einige Zeit hat er im OSS-Hauptquartier in Washington die China-Abteilung geleitet. Später gehörte er zur Tschungkinger OSS-Station. Captain John Colling ist ebenfalls ein erfahrener Chinakenner. Gleichzeitig der von uns, der am längsten im OSS tätig ist. Seine Familie lebte länger als zwanzig Jahre in Tientsin, wo der Vater Offizier der Army war (des amerikanischen Kontingents, das dort seit dem Boxer-Aufstand residierte). Brooke Dolan ist vielleicht die farbigste Figur unter uns. Er hat sich seit seiner Jugend in Asien sozusagen herumgetrieben, hat seine Reisen mit Aufträgen geografischer Zeitschriften oder 99
Forschungsgesellschaften
finanziert
und
wurde
vom
OSS
>entdecktregierenDixieinteressante
Kontaktpersonen< mich ansprechen werden. Der Empfang ist überwältigend, und er ist, was man auf den ersten Blick erkennt, sorgfältig einexerziert. Eine Militärformation mit Musikkapelle ist angetreten. Rote Fahne. Ihr gegenüber drängt sich eine Menge von Zivilisten, die im Gegensatz zu den ordentlich gekleideten Soldaten den Eindruck einer Ansammlung von Lumpenbündeln macht. Vor der Maschine die Honoratioren: ein großer, hagerer Mann in dunkler Kleidung mit Ballonmütze — Mao Tse-tung, gelassen lächelnd, die Ruhe selbst, wie es scheint, aber etwas ungelenk wirkend. Sein Händedruck ist kraftlos, wie ich zu meiner Überraschung spüre. Tschu Teh, von Fotos, die Edgar Snow uns lieferte, mir ebenfalls bekannt, grinsend, gemütlich >Hao, hao ...< murmelnd, in Uniform ohne Rangabzeichen und mit einer Kappe, die aus japanischer Beute zu stammen scheint. Und dann tritt aus dem Hintergrund 101
Tschou En-lai auf uns zu, gemessenen Schrittes, wohl darauf achtend, daß er nicht in den Verdacht gerät, sich in den Vordergrund zu spielen. Ich kenne ihn von Fotos, habe ihn auch in einer Wochenschau gesehen. Ein ernster Mann, klein, mit asketischem Gesicht, ganz Asiate, sein Lächeln flammt auf, während er eine Hand drückt, und erlischt sofort wieder, bis er den nächsten von uns begrüßt. Ihm zur Seite ein junger Mann, der sich uns in fließendem, etwas nach Oxford klingendem Englisch als Tschen Dja-kang vorstellt. »Bevollmächtigter Dolmetscher bei den Gesprächen der hohen Gäste mit den Führern der Kommunistischen Partei Chinas.« Ich kann es mir nicht verkneifen, ihm in fließendem, besonders floskelreichem Mandarin mitzuteilen, daß ich die gleiche Funktion >... für unsere hocherfreute kleine Gemeinschaft auszuüben habe und es als eine unverdiente Würdigung meiner bescheidenen Stellung ansehen würde, wenn er mich nicht mit >Captain Robbins< anredete, ich hätte es gern, wenn er mich einfach >Sid< nennt, wie alle meine Freunde das täten. Er verbeugt sich tief, will etwas sagen, aber da gibt der Anführer, Mao, ein Zeichen. Schweigen entsteht. Dann intoniert die Kapelle etwas, das sich bei einiger Phantasie wie das >Star Spangled Banner< anhört. Wir nehmen die Hände an die Mützenschirme, behalten sie auch da, bis die zweite Melodie verklungen ist, eine Mischung aus chinesischer Opernmusik und Marschrhythmus. Anschließend bricht die Hölle los: Alles, was sich auf der Landepiste versammelt hat, klatscht, jubelt, brüllt Grußworte für uns. Wir sollen zehntausendfaches Glück haben, wir neun Amerikaner, die erste Hälfte von >DixieDelegierten< zusammenzusetzen. Die Funktionäre der > Regierung < machen den Eindruck von abkommandierten Militärs. Wie überhaupt der gesamte
Apparat
hier
absolut
militärisch
organisiert
ist.
(Beispielsweise dürfen die Beamten nur zu festgesetzten Zeiten eine Arbeitspause machen, es ertönt dann der Pfiff eines Postens. Beim nächsten Pfiff haben die Beamten wieder vor ihren Papieren zu sitzen.) Die Regierungsgewalt übt also ausschließlich die ebenfalls nach 108
streng militärischen Gesichtspunkten organisierte Kommunistische Partei aus, sie verteilt lediglich Verwaltungsaufgaben an zivile Fachleute. Parteischule (oder >AkademieSchen-Kan-Ning< nennt, in Zusammenfügung der Abkürzungen für die drei Provinznamen Schensi, Kansu und Ninghsia. Diese Bank gibt Geldscheine für das Gebiet aus. Es scheint aber über die Grenzen des kommunistischen Gebietes hinaus einen schwunghaften Handel zu geben, der sich auch in anderen Währungen vollzieht, vornehmlich mit den im Norden residierenden Kriegsherren, die das KP-Gebiet als einen willkommenen Puffer gegen allzu direkte Einmischung Tschiang Kaisheks schätzen und daher tolerieren. Auf diesem Wege gelangen gewisse Mengen von Lampenöl und anderen dringend benötigten Gütern hierher. Die Kommunisten zahlen auch in Naturalien, beispielsweise Salz und Rohopium. Dieser Schleichhandel steht unter strenger
Aufsicht
der
>Schen-Kan-NingAbwehr< nennen könnte. Mao Tse-tung selbst hat in Tsaoyuan eine Art Ausweichquartier, wohl aus Sicherheitsgründen. Dabei handelt es sich wie bei Maos offiziellem Quartier in Yangdjialing um eine Höhle im Hang. Kang Sheng ist absolut einig mit Mao, er scheint überhaupt dessen verlässlichster Mann zu sein, obwohl er sich nicht in den Vordergrund spielt, jedenfalls ist sein Einfluß dem Tschou En-lais gleich, dem offiziell die Zusammenarbeit mit unserer Mission obliegt. Kang Sheng scheint indessen von vielen Leuten hier gefürchtet zu werden. Nach meiner vorläufigen Einschätzung ist er ein kühler Rechner, ein Mann ohne Emotionen und auch ohne Illusionen. Ich höre, daß er wenig Wert auf persönliche Freundschaften legt und daß manche der hier ansässigen Intellektuellen ihn heimlich einen >Bluthund< nennen. Das hängt vermutlich auch mit einer politischen Aktivität zusammen, die hier offenbar seit 1941 läuft, unter der Bezeichnung >Tscheng FengVerbandsplätzen< die einzige Einrichtung dieser Art. Chefarzt ist ein Russe, den Moskau entsandt hat. Er scheint fähig zu sein und gilt als angesehener Mann. Außer diesem Russen gibt es hier auch noch eine russische Funkstation, die mit zwei Mann besetzt ist. Es soll sich dabei um Militärjournalisten handeln. (Russische Waffen sind nirgends zu sehen, die Waffen der Kommunisten sind meist japanischen Fabrikats, wohl erbeutet.) Offiziell gibt es keine russische Mission in Jenan, die Sowjets scheinen sich streng an ihren Vertrag 110
mit der Kuomintang zu halten. Aber ich bin überzeugt, daß von Mao Tse-tung über die russische Funkstation ganz sicher eine Verbindung nach Moskau gegeben ist. Die zwei russischen Journalisten sind ruhige, gelassen wirkende Männer, sicherlich ausgebildete Abwehrleute, aber sie benehmen sich uns gegenüber freundlich, wenngleich eine gewisse Zurückhaltung spürbar ist. Kunstakademie — in Bei Men Wai (>Lu Hsün AkademieBildung< scheint sich auch auf Professoren der verschiedensten Fachdisziplinen zu erstrecken, sowie auf Lehrer. Lebensweise: In der so gut wie total zerstörten Stadt gibt es einige hundert ehemalige Einwohner. Man läßt sie in den Resten der Bauten hausen. Die
anderen
sind
evakuiert,
größtenteils
werden
sie
als
Arbeitskräfte in den um Jenan herum und im übrigen Gebiet verstreut liegenden Produktionsstätten verwendet. Es gibt eine Abart von Kindergärten, in denen im wesentlichen ganz kleine Kinder betreut werden. Für größere sind primitive Schulen vorhanden. Die meisten Bewohner des Gebietes unmittelbar um Jenan hausen in Höhlen, die in die Abhänge gegraben sind. Das gilt ebenso
für
die
kommunistischen
Funktionäre
und
das
Militärpersonal. Es finden sich sehr große Stollen, die als Versammlungsräume dienen, und relativ luxuriös ausgestattete, die für höhere und höchste Funktionäre vorgesehen sind. Keine Elektrizität. Wasser aus Brunnen, ausreichend. Auf Hygiene wird streng geachtet. Offenbar keine Seuchen oder ansteckenden Krank111
heiten. Gelegentlich Läuse. Nahrungsmittel knapp, meist werden Fladen aus gestampfter Hirse gegessen. Fleisch ist rar. Auch Fisch. Trotz dieser Zustände gibt es keine Zeichen von Unzufriedenheit oder Aufruhr. Ich führe das einerseits darauf zurück, daß die Leute früher schon unter vergleichsweise schlimmeren Bedingungen gelebt haben und sich nun hier bei allen Entbehrungen wenigstens sicher fühlen. (Die Höhlen bieten kompletten Schutz gegen Luftangriffe.) Andrerseits tut die unermüdliche Indoktrination durch die KP das ihrige. So trifft man oft auf Leute, die eine Art messianisches Bewußtsein offenbaren: Wir sind das echte, das eigentliche China, wir werden China durch alle Schwierigkeiten in eine bessere Zukunft führen. — Das steigert sich bis zu einem ausgesprochenen Elitebewußtsein, wie man es vor allem unter höheren Funktionären findet. Diese betrachten die Kuomintang als einen Haufen korrupter, völlig demoralisierter Lumpen, weil sie mit allen ihren modernen Waffen nichts gegen die Japaner tut. Sie leiten eine moralische Überlegenheit daraus ab. Versteckt begegnet man dem Vorwurf, daß die Russen keine Waffen in das KP-Gebiet liefern. Ich habe den Eindruck, daß hier von offizieller Seite keinerlei forcierte prosowjetische Propaganda betrieben wird. Ob das Taktik uns gegenüber ist oder ob es dafür tiefere Gründe gibt, kann ich noch nicht abschließend beurteilen. Jedenfalls werden wir hier als >Alliierte< regelrecht gefeiert. Es gibt nicht den Schimmer einer feindseligen Haltung. Unser Verhältnis zu Tschiang wird in Gesprächen höflich übergangen. Innenpolitik: Auffällig ist die von mir bereits erwähnte Bewegung >Tscheng FengTscheng Feng< wörtlich mit >Korrektur des Arbeitsstils< zu übersetzen, wäre irreführend, die Kampagne hat mit dem 112
Arbeitsstil der hiesigen Organe weit weniger zu tun als mit ihrem Inhalt.) Sie ist im Aufwand durchaus vergleichbar mit einer Wahlkampagne in den Staaten, allerdings verfolgt sie ein anderes Ziel, und es werden völlig andere Mittel verwendet. Im folgenden gebe ich wieder, was ich von Tso Wen, dem persönlichen Vertrauten Kang Shengs über diese > Bewegung < erfuhr, wobei ich zu berücksichtigen bitte, daß die Mitteilungen Tso Wens gewiß von
Kang
Sheng
gesteuert
sind.
Trotzdem
bleiben
sie
aufschlußreich, bis wir mehr erfahren. — Mao Tse-tung, so heißt es, hatte bereits in den zwanziger Jahren bemängelt, daß die Zugehörigkeit seiner Partei zur Kommunistischen Internationale auch die chinesischen Kommunisten disziplinarisch an Beschlüsse band, die er im einzelnen für fragwürdig hielt. Während die Kommunistische Internationale dazu riet, eine Art Einheitsfront von Kuomintang und Kommunisten zu schaffen, machte Mao — in Abkehr von den Beschlüssen der Internationale — seine eigene Politik auf, die der absoluten Konfrontation gegenüber Tschiang. Er begründete das
damit,
daß
er
Tschiang
Kai-sheks
offenkundigen,
pathologischen Kommunistenhaß als Hindernis für jede ernsthafte Zusammenarbeit bezeichnete, wofür ihm das tatsächliche Verhalten Tschiangs willkommene Argumente lieferte. Wie man weiß, führte diese Konfrontationspolitik dazu, daß Mitte der dreißiger Jahre die kommunistischen Kerngebiete in Kiangsi schließlich aufgegeben werden mußten und Mao mit dem Rest seiner Getreuen den sogenannten > Langen Marsch < begann, der hier in Jenan endete, eine klassische Ausweichbewegung. Während dieser Zeit hatte Mao ständig Auseinandersetzungen mit der sogenannten »Moskauer Gruppefalsche Linie< verträten;
die
von
Tschiang
geschaffene
Realität
der
Kommunistenverfolgung untermauerte seine These. Wang Ming selbst lebt zwar heute in Jenan, aber er hat praktisch keinen Einfluß mehr. Außerdem soll er sehr krank sein. Er und seine Freunde wurden gelegentlich sogar als >Vertreter fremder Interessen in der KP Chinas< bezeichnet, was ich höchst aufschlußreich finde. Als Hitler die Sowjetunion angriff, besaß Mao Tse-tung bereits die unumschränkte
Macht
in
Chinas
kommunistischer
Partei.
Allerdings hatte sich für ihn inzwischen ein anderes Problem ergeben: Die Partei brauchte, wenn er sie schon auf einen eigenen Weg brachte, auch eine eigene Doktrin. Er ging daran, sie auszuarbeiten. Dazu hatte er in Jenan Zeit. Außerdem beschäftigte er einen schreibtüchtigen
Intellektuellen
namens
Tschen
Po-ta
als
persönlichen Sekretär. Wie man unter vorgehaltener Hand hört, äußerte Mao lediglich die Hauptgedanken und überließ es Tschen Po-ta, sie zu formulieren, worauf er dann das Endprodukt einer Redaktion unterzog. (Diese Version stammt von einem Kursanten der Kunstakademie >Lu HsünVorwort zu Untersuchungen der Verhältnisse im DorfGegen die BücherverehrungÜber den Widerspruch^ >Unser Studium umgestalten^ >Den Arbeitsstil der Partei verändernGegen den ParteischematismusReden in Jenan übe Literatur und Kunst< (identisch übrigens mit der Substanz des mir seinerzeit übersandten Stenogramms) und > Einige Fragen der Führungsmethoden Arbeiterklasse< zwar oft erwähnt, über die Städte mit ihrer Arbeiterbevölkerung und das dort existierende Subproletariat gibt es jedoch lediglich knappe Hinweise. Darstellung der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Flügel in der Partei, der Politik grundsätzlich im Kontext mit Moskau und der ehemaligen Kommunistischen Internationale machen wollte, als >Kampf gegen die falsche Linie in der Parten. (Anmerkung: Für uns ergibt sich daraus, daß Mao unbestreitbar der einzige 115
potente Partner auf kommunistischer Seite ist: er hat tatsächliche Macht. Übrigens geht er sehr vorsichtig vor. Die im vergangenen Jahr erfolgte Auflösung der Kommunistischen Internationale hat seine Bestrebungen erleichtert. Er kann jetzt eigene Politik machen. Verbal distanziert er sich in der Öffentlichkeit weder von der Internationale noch von Moskau, er zollt ihnen sogar gedämpften Beifall,
der
allerdings
stets
kritisch
akzentuiert
ist.
Aus
Nebenbemerkungen von anderen Funktionären geht indessen folgende Einstellung hervor: Wir haben immer als chinesische Kommunisten unsere eigene Politik betrieben, wir wußten immer, was für uns richtig war, um das zu erkennen, brauchten wir die Komintern nicht.) Maos Bestreben, die Partei >militärisch< zu organisieren, ist ablesbar. In diesem Sinne ist die KP Chinas mit keiner der uns bekannten
politischen
Parteien
vergleichbar,
sie
ist
streng
zentralistischorganisiert und kein Organ von Meinungsbildung, sondern ein Instrument, das vom Zentrum gebildete Meinungen aufnimmt und von dort gegebene Zielstellungen >nach untern durchsetzt. Mao benutzt für die Technik der Parteiführung den Ausdruck >MassenlinieMeinung der Massen< erforschen und auf der Basis des Erforschten dann Maßnahmen festlegen, die wiederum von den Massen durchgeführt werden. Vermittels dieser Technik ist es natürlich möglich, eine Partei äußerst stark zu manipulieren, indem die Führung nämlich bei jeder von ihr erlassenen Maßnahme erklärt, es handle sich um das Ergebnis der Erforschung der Massenmeinung. Niemand an der Parteibasis hat vermutlich die Möglichkeit zu kontrollieren, ob das tatsächlich so ist. Nach der >geistigen Offensive< durch die von mir genannten Schriften, die hier dem Vernehmen nach jedermann buchstäblich 116
eingepaukt wurden, setzte Mao >Tscheng Feng< in Gang. Meiner Einschätzung nach hat diese Kampagne, die noch anhält, folgende hauptsächlichen Ziele: Einschwörung großer Mengen von Funktionären auf unbedingte Treue zu Mao Tse-tung und gleichzeitig auf die Ablehnung dessen, was >falsche Linie< genannt wird. Besonders intensive Beschäftigung mit Leuten, die nicht zum bäuerlichen Kern der hier versammelten Revolutionäre gehören oder die erst später nach Jenan kamen. Das geht so vor sich: Jeder hat über seinen gesamten bisherigen Lebensablauf ausführliche Aufzeichnungen zu schreiben (oder schreiben zu lassen), wobei der Schwerpunkt auf den politischen Ansichten und der bisherigen politischen Tätigkeit liegt, bis hin zu Bekanntschaft mit Ausländern und der Lektüre fremdsprachiger Bücher. In sogenannten >Kampfversammlungen< werden diese Aufzeichnungen dann verlesen und zur Debatte gestellt. Der Betreffende wird meist scharf kritisiert und hat Selbstkritik zu üben. Das geht bis in Details seines Intimlebens hinein. Erst wenn der Betreffende die Versammlung davon überzeugt, daß er von nun an ein treuer Kämpfer für die Ziele Mao Tse-tungs sein wird, ist er von weiteren Belästigungen befreit. Sein selbstgeschriebenes (oder diktiertes) Dossier wird von Kang Shengs Dienststelle verwahrt. Ergibt sich bei den Versammlungen kein befriedigendes Ergebnis, kann es zu Bestrafungen kommen. Es werden körperliche Schikanen angewendet. Meist wird in solchem Falle der >Bestrafte< nachträglich als >Kuomintang-Spion< entlarvt, und dann ist die Todesstrafe fällig. Es gibt — streng abgeschirmt — Haftlager .Über die hier beschriebene Praxis muß es in der Vergangenheit
in
der
Führungsgruppe
um
Mao
Meinungsverschiedenheiten gegeben haben. Mao hat zeitweise mildernd eingegriffen, Kang Sheng wohl auch in Einzelfällen 117
zurückgepfiffen. Man erblickt darin ein Zeichen seiner persönlichen Integrität und seines Gerechtigkeitssinns. 3) Künstler und andere Intellektuelle unterliegen besonders starker Kontrolle. Sie dürfen nur arbeiten, wenn sie sich nachdrücklichst zu Maos Kommunismus-Konzept bekennen. Eines der Ergebnisse solcher Arbeit nach erfolgter >Überprüfung< ist ein Lied, das inoffiziell als Vorwegnahme der Nationalhymne eines zukünftigen kommunistischen Chinas gilt. Titel: >Der Osten ist rotDixieSir< anzureden. Eine selbstverständliche Kameraderie beherrscht das Zusammenleben, sie ähnelt der Art, in der Fronttruppen sich persönlich näher kommen, ohne daß dabei das Gefühl für Disziplin und Unterordnung leidet. Barrett wiegt den Kopf. Er setzt den Tropenhelm ab, wischt den Schweiß von der Stirn und gibt zurück: »Medikamente, Verbandszeug, ein paar chirurgische Instrumente, Muster von Automat-Gewehren und Thompsons, Ferngläser, Handentfernungsmesser. Aber das sind die Nebensächlichkeiten. Die Maschine bringt sechs komplette Funkstellen mit Stromerzeuger für Tretbetrieb und allem, was sonst noch dazugehört ...« Er gibt mir die von der inzwischen in Kunming residierenden 119
Station an ihn ergangene Weisung zu lesen, und ich staune, wie schnell die Dinge vorangehen. Die Funkgeräte sollen von den Kommunisten in einem von ihnen kontrollierten Partisanengebiet an der Küste des Gelben Meeres postiert werden und von dort regelmäßig Wettermeldungen funken. Außerdem sollen sie als Peilstationen für unsere Flugzeuge dienen, die Japan bombardieren. Ich erinnere mich, daß die neuen B-29 der 20.Luftflotte, die in aller Stille auf einem schnell ausgebauten Flugfeld in der Nähe von Tschengtu stationiert wurden, tief in Szetschuan, Anfang Juni ihren ersten erfolgreichen Angriff auf Kiuschu flogen, die große Südinsel Japans. General Curtis LeMay hat das Kommando über die 20. Er nennt das, was er vorhat, >strategisches Bombardements wohl an dem orientiert, was wir von England aus nach Deutschland hinübertragen, mit großem Erfolg, wie zu sehen ist. Nun gibt es Komplikationen, was Japan betrifft. Die große Entfernung von Tschengtu bis Japan läßt keine genaue Wetterbestimmung zu. Für die B-29 ist aber wichtig, sich auf die über Japan herrschende Wetterlage einzustellen, bevor sie angreifen: entweder die Sicht ist klar, es gibt geringe Bewölkung, dann können die riesigen Viermotorigen aus der vor japanischen Jägern sicheren Höhe von über 7 km bomben — oder es herrscht hochprozentige Bewölkung, dann muß der Angriff nicht im Formationsflug, sondern in aufgelöster Ordnung und unterhalb der Wolkengrenze erfolgen. Illegale Funkstationen, an der Küste Chinas postiert, könnten nach Aussage von Fachleuten durch Mitteilung ihrer Beobachtungen erheblich zu einem genauen Wetterbild über Japan beitragen. Das ist soweit verständlich, und ich frage mich, ob diese Angriffe der Auftakt zur Landung in Japan sind. Barrett verhandelt mit Tschou En-lai über die Möglichkeiten koordinierter militärischer Aktionen an der chinesischen Küste. Unser Generalstab zieht offenbar in 120
Erwägung, zuerst an der Küste Chinas, etwa zwischen Tsingtao und Shanghai ein großes Landeunternehmen durchzuführen und so den Seeweg nach Japan für den entscheidenden Angriff zu verkürzen. Die japanischen Verbände an dieser Küste sind nur dünn, das von ihnen tatsächlich beherrschte Gebiet ist begrenzt. Es gibt kommunistisch kontrollierte Gegenden mit ziemlicher Ausdehnung dort, etwa in Schantung, Schansi, Hopei, aber auch im Norden von Kiangsu. Die Besprechungen darüber, ob und unter welchen Bedingungen
rotchinesische
Partisanenverbände
bei
einer
Anlandung unserer Truppen zur Entlastung in den Rücken des japanischen Gegners stoßen könnten, dauern an. Es gibt zwei Komplikationen: Einmal steht eine solche Anlandung noch nicht fest, wir operieren sozusagen mit Unbekannten; zum anderen verlangen die Kommunisten, um einen Angriff in den Rücken der Japaner führen zu können, erhebliche Mengen an Waffen, Munition und anderem Material. Gegen dessen Lieferung würde Tschiang Kai-shek in jedem Falle Sturm laufen. Ich habe den Eindruck, daß wir uns hier festgefahren haben, und sehe keine schnellen Ergebnisse. Anders verhält es sich mit der Postierung der Funkstationen. »Die Geräte werden ihnen geschenkt«, meint Barrett. »Also haben wir die Chance, etwas im Gegenzug dafür zu bekommen.« Wie wahr! Ich hebe mir das Lesen der Post von Holly für später auf und gehe mit Barrett, nachdem wir zusammen gegessen haben, hinaus, wo der Jeep steht, den ebenfalls eine Dakota eingeflogen hat, samt Benzin. Der Jeep war zerlegt, unsere Techniker haben ihn hier wieder
zusammengebaut.
Jetzt
ist
er
ein
viel
bestauntes
Transportmittel, das unbewacht vor Barretts Unterkunft steht, Tag wie Nacht. Niemand nähert sich ihm auch nur auf Griffweite. (Man 121
stelle sich vor, er stünde in Tschungking: binnen einer Nacht wäre er unauffindbar verschwunden!) Barrett teilt seine Unterkunft mit John Service. Von außen macht sie den Eindruck eines Slum-Quartiers, gebaut aus ungebrannten Lehmbrocken; aber innen ist sie recht komfortabel eingerichtet, Feldbetten mit Schlafsäcken, Tisch, Hocker, die Eisenkästen, in denen Dokumente aufbewahrt werden, Behälter mit Konserven, Bier, Zigaretten, Whisky. Ein Radio ist da, batteriebetrieben, und ein Grammophon mit einem Stapel Platten. Barrett träumt davon, daß er
hier
auch
kommunistischen
Parties
abhalten
wird,
mit
Funktionären. Bisher ist das
den
höheren
noch nicht
geschehen, die hohen Herren laden zwar uns ein, aber mit Besuchen sind sie sparsam. Nun, wir haben Zeit ... Tschou En-lai ist ein schmächtiger, asketisch wirkender Typ. Seine Frau, die in irgendeiner Parteidienststelle arbeitet, ist unscheinbar; erst, wenn man mit ihr spricht, spürt man Intelligenz, zugleich allerdings auch eine rigide kommunistische Einstellung. Tschou En-lai besitzt europäische Bildung, er gehörte zu jenen jungen Leuten, denen die Eltern ein Studium im Ausland ermöglichen konnten. Dort hat er sich mit anderen zusammengetan und eine kommunistische Gruppe gebildet. Zu Mao Tse-tung stieß er sehr früh. Es wird erzählt, er habe in der Anfangsphase seines Parteiengagements des öfteren Meinungsverschiedenheiten über Strategie und Taktik mit Mao gehabt, letztlich aber habe er immer wieder zu Mao zurückgefunden, was dieser wiederum dadurch belohnt, daß er Tschou mit höchst verantwortungsvollen, teils delikaten Aufgaben betraut. Tschou ist in Tschungking gewesen, es erübrigt sich, ihm Fähigkeiten eines geschickten Politikers zu bescheinigen, man weiß, daß er sie hat. Er betreibt nach meiner Beobachtung kommunistische Führungspraxis mit der nüchternen 122
Gelassenheit eines Managers, er versteht die Kunst der Diplomatie, nie hört man von ihm ein erregtes oder unbeherrschtes Wort, er hört geduldig zu und äußert dann in wenigen, knappen Sätzen seine Meinung. Entscheidungen trifft er auf die gleiche Weise, sie sind stets genau durchdacht. Mao schätzt ihn, und er verbirgt das nicht. Staub steigt in einer hohen Wolke hinter unserem Jeep auf, als wir zu der Höhle fahren, in der Tschou En-lai uns empfängt. Sie ist, wie alle anderen, in einen Hang gegraben, ist aber größer als üblich, es gibt Wände aus Brettern und eine Art Eingangsverkleidung, ebenfalls aus Holz, mit Luftlöchern, die in kunstvollen Mustern angeordnet sind. Wir müssen den Jeep am Fuße des Hanges stehenlassen und einige hundert Meter bergan klettern, wir sehen, daß Tschou En-lai uns bereits vor dem Eingang erwartet. Zwei Soldaten, die hier Posten stehen, nehmen stramme Haltung an, abenteuerliche Gestalten mit japanischen Flinten und prall gefüllten Taschen, in denen sich Patronen befinden. Wir gehen an ihnen vorbei, Tschou schüttelt uns nach europäischer Sitte die Hände, lächelt und fragt, ob wir uns langsam an die schwierigen Verhältnisse in Jenan gewöhnen. »Wir sind Soldaten«, erwidert Barrett, lächelt, nimmt wieder den Tropenhelm ab und wischt Schweiß von der Stirn. Tschou En-lai nickt. Dann ruft er in gepflegtem Mandarin den Posten vor der Tür zu, daß sie Tee und feuchte Tücher bringen sollen. Es ist alles vorbereitet — in zwei Minuten wischen wir uns die Gesichter mit dampfenden Lappen ab. Vor uns stehen kleine, mit Deckeln versehene Emailletöpfe voll grünem Tee. Eine Kostbarkeit in dieser Gegend, zumal er noch dazu nach Jasmin duftet, wie es in Nordchina Sitte ist. Wir staunen darüber, daß der Gastgeber selbst nur heißes Wasser trinkt. Aber wir enthalten uns einer Bemerkung, die Lage ist ohnehin klar: Gastfreundschaft 123
einerseits und sparsame, spartanische Lebensweise zum anderen. Wie üblich, reden wir eine Weile über das Klima, über den allgemeinen Kriegsverlauf, die kleinen Misshelligkeiten des Lebens in Jenan, dann ist zu spüren, wie Tschou En-lai zur Sache kommen möchte. Barrett interpretiert den Wunsch, den General LeMay über die Kunminger Station an die Kommunisten richtet. Er begründet die Notwendigkeit von möglichst exakten Wettervorhersagen, und als Tschou sich nach der B-29 erkundigt, beschreibt er diesen neuen Bombertyp,
die
>Superfortress
Geschenke< gefallen, die in der Dakota warten. Tschou setzt sich wieder, fordert uns auf, Tee zu trinken. Er zieht ein Notizbuch aus der Brusttasche und schreibt ein paar Zeichen. 124
»Natürlich haben wir keine ausgebildeten Funker. Wer soll die Geräte bedienen?« Er verzieht keine Miene, als ich ihm erläutere, daß die Geräte in den Besitz der kommunistischen Truppen übergehen sollen und daß die technischen Sergeanten unserer Mission ein Dutzend durchschnittlich begabter junger Soldaten aus den roten Truppen in wenigen Tagen einweisen könnten. Er nickt. Hält es für möglich. Als er sich nach den strategischen Fernzielen der geplanten Bombardements erkundigt, erläutert Barrett diese. Tschou En-lai begnügt sich damit. Dann überrascht er uns wieder mit einem Beispiel seiner nüchternen Entschlusskraft und der Schnelligkeit seiner Entscheidungen. »Meine Herren, ich sehe die Notwendigkeit der Maßnahme ein. Sie wird dem Sieg der Alliierten über Japan dienen. Unter diesem Gesichtspunkt unterstützen wir Sie voll. Innerhalb einer Woche werden Ihnen zwölf Männer vorgestellt werden, die nach unserer. Meinung die Aufgabe der Übermittlung von Wettermeldungen erfüllen können. Ich bitte Sie, mir vom Abschluß der Ausbildung Kenntnis zu geben. Danach werden wir die Beförderung der Geräte an ihre Bestimmungsorte organisieren. Teilen Sie General LeMay mit, daß er bei seinen Absichten unsere volle Zustimmung hat.« Es klingt wie die Ansprache eines Außenministers anläßlich eines Diplomatenempfangs. Wir sehen uns etwas verdattert an, die Sache war uns zuvor viel schwieriger erschienen. Tschou trinkt einen Schluck Wasser, ermuntert uns, Tee zu trinken, ganz Gastgeber alter Tradition, dann will er wissen, ob sich hinsichtlich des Landeunternehmens an der chinesischen Küste Neues ergeben habe. »Noch nicht«, informiert ihn Barrett. »Die Bedingungen werden gegenwärtig geprüft.« 125
Tschou lächelt fein. »Wir sollten wohl auch nicht die Schwierigkeiten unterschätzen, auf die das amerikanische Oberkommando stoßen wird, wenn Tschiang Kai-shek erfährt, daß die Amerikaner uns Waffen und Material liefern wollen ...« Er sagt es vor sich hin, so, als ob er keine Antwort erwartet. Wir haben auch keine. Barrett macht einen schwachen Versuch: »Nun, wir mischen uns nicht in die chinesische Innenpolitik. Uns geht es um den Kampf gegen Japan ...« Aber das hat zur Folge, daß Tschous Lächeln breit wird, demonstrativ. Er sagt leise: »Colonel, Sie übersehen, daß der Sieg über Japan unweigerlich eine Entscheidung in China näher rücken wird. Falls Tschiang Kai-shek danach immer noch nicht bereit ist, uns als reale politische und militärische Kraft zu akzeptieren, werden wir ihn vernichten müssen. So gesehen ist die Lieferung von Waffen an uns selbstverständlich auch ein innerchinesisches Problem.« Mich fasziniert, auf welch selbstverständliche Art er davon spricht, Tschiang zu vernichten. Als ob das heute schon nur noch von der Entscheidung der Kommunisten abhinge. Um das Gespräch in Gang zu halten, erkläre ich ihm, daß wir die Kompliziertheit des Problems wohl erkennen, trotzdem aber die Entscheidung über das Schicksal Chinas nicht von außen her beeinflussen möchten. Doch damit bin ich in die Falle getappt, die Tschou klug aufgebaut hat. »Warum eigentlich möchten Sie das nicht?« fragt er. Barrett murmelt etwas von Nichteinmischung und Selbstbestimmung. Mit dem Ergebnis, daß Tschou den Kopf wiegt und uns ernst anblickt. »Warum können die Vereinigten Staaten nicht zu der Kraft in China, die einmal das Land beherrschen wird, jetzt schon gute Beziehungen pflegen?« »Sie sind sehr zuversichtlich«, bemerkt Barrett ausweichend. Aber Tschou macht ihn aufmerksam: »Tschiang Kai-shek kann ge126
gen uns auf die Dauer nicht bestehen. Er könnte sich, nach Niederwerfung Japans, vermutlich noch eine Weile halten, vorausgesetzt die Vereinigten Staaten unterstützten ihn weiter gegen uns. Aber auch in diesem Falle wäre die Zeit begrenzt. Nur — das Verhältnis zwischen uns und den Vereinigten Staaten wäre dann unnötig gestört. Man sollte das vermeiden. Denken Sie an das, was Ihnen unser Vorsitzender bereits bei der ersten Begegnung sagte: Es gibt keinen Grund für uns, den Vereinigten Staaten gegenüber feindselige Gefühle zu hegen. Unsere beiden Länder könnten zum gegenseitigen Nutzen sehr eng zusammenarbeiten.« Ich sehe meine Chance, ihn zu testen, und werfe den Einwand hin: »Sir, Sie vergessen offenbar Moskau!« Nachdem er einen weiteren Schluck Wasser getrunken hat, sagt er langsam: »Sie erinnern sich sicher, daß die Sowjetunion im Jahre 1937 das erste Land war, das China zu Hilfe kam, als die Japaner losschlugen. Kein anderes Land folgte übrigens diesem Beispiel. Wir haben das nicht vergessen. Damals bekam China Kriegsmaterial aus der Sowjetunion, mit dem binnen sehr kurzer Zeit 24 Divisionen ausgerüstet werden konnten. Sowjetische Militärberater halfen bei der Ausbildung. Die Kredite, die Moskau China gewährte, beliefen sich auf hundert Millionen Dollar, das war eine gewaltige Summe, und der Zinssatz war der niedrigste, den man bisher in solchen Fällen erlebt hat. Quer durch Sinkiang rollten sowjetische Konvois und brachten dringend benötigte Güter nach China. Etwa fünfhundert sowjetische Flugzeuge schützten unseren Luftraum, sie wurden zum größten Teil von sowjetischen Piloten geflogen, viele von ihnen sind gefallen. Und die Sowjetunion massierte in der Mongolei und an der mandschurischen Grenze starke Truppenverbände, das entlastete China. Sie werden verstehen, daß nach solchen Erfahrungen das Verhältnis Chinas zur 127
Sowjetunion eine sehr spezifische Beschaffenheit hat.« Ich will ihn aus der Reserve locken, die Gelegenheit scheint günstig, also werfe ich ein: »Ich habe mich vielleicht unpräzise ausgedrückt, ich meinte vorhin die Haltung Moskaus zu den chinesischen Kommunisten, Sir!« Er sieht mich nachdenklich an, dann sagt er, ohne jeglichen belehrenden Akzent: »Mister Robbins, mir scheint da ein Mißverständnis Ihrerseits vorzuliegen. Wenn Sie Geduld haben, mir zuzuhören, werde ich es vielleicht aus der Welt schaffen können, es liegt mir viel daran. Sehen Sie, ein China, in dem das Volk selbst die Macht ausübt, so wie das hier in Jenan geschieht, wird selbstverständlich ein souveräner Staat sein, und zwar der einzige auf chinesischem Boden. Dieser Staat wird sich von niemandem seine Politik vorschreiben lassen, er wird sie immer nur zu seinem eigenen Nutzen betreiben. Was die Vereinigten Staaten angeht, so können sie jederzeit auf unsere Bereitschaft zu freundschaftlichem Entgegenkommen zählen. Es hängt also ganz von ihnen ab. Die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten geografisch weiter von uns entfernt liegen als die Sowjetunion, muß nicht bedeuten, daß wir nicht Wege der Verständigung im Interesse des gegenseitigen Vorteils
beschreiten
können.
Im
Gegenteil.
Unmittelbare
Nachbarschaft ist keinesfalls immer eine Garantie für gute Beziehungen, das kann man anhand vieler Kriege in der Weltgeschichte beweisen ...« Er pausiert kurz, so als wolle er das Gesagte wirken lassen. Dieser Mann ist ein Fuchs. Nach einer Weile fährt er fort: »Nun ja, wir werden noch Gelegenheit haben, unsere Auffassungen auszutauschen. Jedenfalls ist unser Vorsitzender außerordentlich stark an einer Verbesserung unserer Beziehungen interessiert. Er ist ein Bewunderer der amerikanischen Nation. Wissen Sie weshalb? Er betrachtet Ihr Volk als das erste, das ein 128
ausländisches Kolonialregime, nämlich das englische, abgeschüttelt hat. Er misst diesem historischen Ereignis zukunftsweisende Bedeutung bei. Auch China muß die Ketten ausländischer Bevormundung abschütteln. Es wird von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung in der Welt sein, ob Amerika dabei für oder gegen China Partei nimmt. Und China — das ist nicht Tschiang Kai-shek. Der wird abtreten, oder er wird zerschmettert werden. China — das sind wir! Vergessen Sie das nie!« Er tippt sich an die Brust und lächelt. Seine Offenheit ist entwaffnend. Die Alternative ist zu klar, um übersehen zu werden. Ich bin versucht, noch etwas weiter auf dem Problem Moskau herumzureiten. Schließlich wissen wir recht gut, daß es sich hier nicht nur um eine Frage der Nachbarschaft handelt. Die Sowjets haben ein geistesverwandtes System, wenngleich Mao durchblicken läßt, daß er es nicht in allen Einzelaspekten für verbindlich hält. Trotzdem gibt es so etwas wie einen internationalen Zusammenhalt aller Kommunisten. Existiert er nach Auflösung der Komintern nicht mehr? Wird er in anderer Gestalt wiederkehren oder nicht? Wie
weit
kann
gemeinsame
Weltanschauung
Staatspolitik
beeinflussen? Was ist bei positiver Beantwortung dieser Frage das Freundschaftsangebot Maos wert? An uns, die Verbündeten Tschiang Kaisheks! Noch sind wir das. Ich würde sehr gern testen, was unter diesen Umständen die Andeutungen Mao Tse-tungs bedeuten können, die Tschou hier zweifellos nur interpretiert, aber dann sage ich mir, daß diese Sache wohl doch mehr Zeit braucht. So bringe ich, als Barrett schweigt, das Gespräch auf die >Geschenke
Bauernbehausungen, mit der Einschränkung, daß in denen ein Tisch eine Art Luxusmöbel wäre und daß man Bücher bei Bauern nicht findet. Tschiang Tsching kramt nörgelnd in einer der Kisten, als wir eintreten. Sie begrüßt mich, schimpft aber gleich weiter, angeblich sei noch eine Gabel dagewesen, wer sie nur gestohlen habe! Ob ich zur Not auch mit Stäbchen essen würde? Sie ist erleichtert, als ich ihr gestehe, das wäre mir sogar lieber. Mao lacht dröhnend. »Wie du siehst, ist er schon ein richtiger Chinese! Essen kann er auf unsere Art, wir müssen ihm nur noch beibringen, auch auf unsere Art zu denken!« Sehr feinfühlig ist das nicht, aber das scheint wohl nur so. Als Mao mich unter angedeuteten Verbeugungen nötigt, auf einem der Hocker Platz zu nehmen, entschuldigt er sich dabei halblaut: »Wir würden Ihnen sehr gern mehr Bequemlichkeit bieten, Mister Robbins, es gehört zu unseren unveräußerlichen Tugenden, einen Gast als das Wertvollste zu schätzen, das man in seinem Haus haben kann. Nur — Sie kennen unsere Lage. Noch müssen wir mit dem auskommen, was Jenan hergibt. Später einmal ...« Tschiang Tsching eilt hinaus. Ich höre, daß sie die Zubereitung des Essens beaufsichtigt. Ein Koch ist damit beschäftigt, irgendwo in der näheren Umgebung der Höhle, man hört seine Stimme. Während Mao Unverbindlichkeiten plaudert, erscheint Kang Sheng in der Türöffnung, an jeder Hand ein Kind. Es sind Mädchen, das eine schätze ich auf sieben oder acht Jahre, das andere auf drei oder vier. Sie mustern mich mißtrauisch, bis Kang Sheng sie ermuntert: »Da, begrüßt den ausländischen Onkel, er ist unser guter Freund!« Er schiebt sie auf mich zu; ihre Augen hängen verlegen an mir. Keine sagt etwas. Mao selbst nimmt die Kleinere auf den Arm und tätschelt sie. Dabei teilt er mir mit, dies sei Li Na, aus seiner Ehe 166
mit Tschiang Tsching. Auf die andere, ältere weisend, erklärt er, Li Min stamme aus seiner vorherigen Ehe. Kang Sheng fügt an: »Die Mutter Li Mins ist sehr schwer krank. Auf ihren Wunsch wurde die Ehe geschieden.« Ich enthalte mich jeglicher Äußerung, lächle den beiden Mädchen zu, bis der Vater sie schließlich ermahnt: »Und nun habt ihr alles gesehen, was es zu sehen gibt. Schlafenszeit!« Er bringt sie hinaus, offenbar sind sie in einer separaten Behausung untergebracht. Wir trinken einen Becher roten Wein, der ziemlich süß schmeckt und den Mao zu schätzen scheint. Kang Sheng bedeutungsvoll ansehend, eröffnet er mir, daß er über meine Mission sehr genau unterrichtet sei, auch darüber, daß das OSS sich auf verschiedene Weise für eine Liaison der Vereinigten Staaten mit den demokratischen Kräften Chinas einsetzt. Er sagt demokratische Kräfte, das sind im Sprachgebrauch der Kommunisten nur sie selbst. Die Kuomintang betrachten sie nicht als demokratisch. Was Kang Sheng mir bei unseren ersten Begegnungen nur vorsichtig angedeutet hat, spricht Mao jetzt offen aus: »Wir schätzen Ihre Bemühungen in der Tat sehr, Mister Robbins, vor allem auch das, was Sie in Tschungking für unsere Genossen tun konnten. Wußten Sie, daß kürzlich einige von jenen, mit denen Sie sprachen, aus der Haft entlassen worden sind?« Ich weiß es nicht. Kang Sheng murmelt: »Ohne Angabe von Gründen. Verfahren eingestellt, keine Beweise.« Ich erinnere mich unwillkürlich an Wen Tsiao-tji, den Vernehmungsrichter in Tschungking. Was mag ihn bewogen haben, die Leute freizulassen? Oder ist das einfach ein Zufall? Mao Tse-tung meint, es könnte eine Taktik dahinterstecken, entweder man wolle die Freigelassenen sorgfältig beobachten, um über sie auf die Spur weiterer kommunistischer Untergrundkader zu kommen, oder aber 167
man versuche wieder einmal, der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen, den wahren Charakter der Kuomintang-Justiz durch die demonstrative Freilassung einiger Häftlinge zu verschleiern. »Es sind Despoten!« schimpft er auf die Kuomintang. »Nicht besser als die Faschisten! Das Volk wird sich nicht täuschen lassen, es wird sie unter unserer Führung hinwegfegen.« Er greift hastig zu einer Zigarette, bietet auch mir eine an, übrigens ist es eine Marke aus Tschungking, dann fordert er uns, wie um seine Vorhersage zu bekräftigen, zum Trinken auf. Erdnüsse liegen in einer Schale auf dem Tisch, wir knabbern sie freizügig, ich muß daran denken, daß man sie im ganzen Gebiet nicht kaufen kann, sie werden sonst ausnahmslos zu Öl verarbeitet. Doch da setzt Mao Tse-tung schon zu einer längeren Erörterung der Verhältnisse im Kuomintanggebiet an. Seine Argumente sind nicht neu, allerdings spitzt er sie zielstrebig auf die Aussage zu: »Es ist unvermeidlich, daß in China über kurz oder lang ein Bürgerkrieg ausbricht. Tschiang Kai-shek wird ihn beginnen. Wir wollen ihn nicht, lieber amerikanischer Freund, aber wir werden ihn gewinnen. Sie können das als sicher annehmen!« Kang Sheng verwendet dann längere Zeit darauf, mich über neue Entwicklungen in der Kuomintangführung zu informieren. Er macht mich mit bestürzenden Einzelheiten bekannt: Korruption, Neigung zur Kollaboration mit Japan, antikommunistische Verblendung — Aufklärungsergebnisse aus Kang Shengs Apparat offenbar. Im Prinzip kennen wir das, immerhin zeigen aber seine Ausführungen, daß die Kommunisten blendend unterrichtet sind. Mao nickt zustimmend. Hin und wieder macht er verächtliche Gesten, er raucht unablässig, vielleicht auch aus Nervosität, weil er nicht weiß, wie ich reagieren werde. Wenn er etwas sagt, dann geschieht es — im Gegensatz zu der Art, in der Kang Sheng verfährt 168
— nicht im Unterhaltungston: Alles, was Mao von sich gibt, nimmt sogleich den Charakter eines Statements an. Ist das unbewußt? Ich halte es für gezielt. Mao ist nach meinen Informationen im wesentlichen Autodidakt. Ein Lehrerseminar und ein paar Vorlesungen an der Universität vermitteln keine allseitig fundierte Bildung. Diese aber will er jenen, die mit ihm zu tun haben, offenbar vortäuschen. Es mag mangelnde Selbstsicherheit sein, die Mao dazu bringt, alles, was er sagt, bedeutungsvoll zu stilisieren, es durch die
geschickte
weitschweifiger
Verwendung alter Sinnsprüche
Anekdoten
aus
dem
bäuerlichen
oder Milieu
oberflächlich mit dem Odeur von Weisheit zu versehen. Ich habe von Kindheit an mit zu vielen gebildeten Chinesen zu tun gehabt, um mich hier zu irren. Wie dem auch sei — Mao ist keinesfalls ein schlechter Gesellschafter. Plötzlich ist seine Frau wieder da, mit ihr erscheinen zwei Ordonnanzsoldaten, und in Minutenschnelle ist der Tisch für das Gastmahl gedeckt. Mao hebt den Zeigefinger und doziert: »Der Mensch ist ein eigenartiges Wesen, er ernährt sich von toten Tieren und Pflanzen, und daraus gewinnt er die Kraft, neues Leben zu zeugen. Also produzieren wir neues Leben, indem wir uns die Kraft dazu durch Vernichtung von Lebendem verschaffen. Macht das nun den Menschen zum Raubtier? Oder erhebt es ihn in die Kategorie großen Schöpfertums?« Er wartet auf keine Antwort, lacht dröhnend über das, was er vermutlich nicht als alten sophistischen Hut erkannt hat, sondern für eine Äußerung von bestechender Weisheit hält. Kang Sheng lacht ebenfalls, und auch ich verziehe höflich das Gesicht. Tschiang Tsching serviert gedämpftes Hühnerfleisch mit verschiedenen Wildgemüsen, bereit stehen Mantou, eine Kreuzung zwischen Dampfnudel und Hefekloß, es gibt eine heftig mit rotem 169
Pfeffer gewürzte Eierspeise, etwas grau aussehenden Reis, eine Hühnersuppe, und zum Schluß gekochte Pflaumen. Mao legt mir nach alter Sitte die besten Happen in die Eßschale, er achtet darauf, daß ich die scharfe Soße probiere, und ist erfreut, als ich sie gut finde. Kang Sheng füllt indessen die Weinbecher immer wieder, wir essen, trinken, loben die > Köchin < und sind eigentlich recht privat, bis Mao, nachdem er eine Weile mit einem Bambusspan ungeniert in seinem Gebiß herumgestochert hat, eine Verrichtung, die er mit einem vernehmlichen Schnalzen erfolgreich beendet, schließlich seinen Weinbecher hebt und fast andächtig sagt: »Es ist eine Ehre für mich, mit unserem amerikanischen Freund zu speisen. Möge der Aufenthalt in unserem Lande ihn vom tiefen Gefühl der Sympathie
unserer
Menschen
zum
amerikanischen
Volk
überzeugen!« Wir scheinen bei der Sache zu sein. Nachdem ich getrunken habe, erprobe ich Maos Standort, indem ich meiner freudigen Verwunderung Ausdruck gebe, daß ein Kommunist von seinem Rang Sympathie zu Amerika äußert. Prompt erläutert er mir auch den Unterschied, den Marxisten zwischen Völkern und Staatssystemen machen, er läßt es aber nicht dabei bewenden, sondern kommt auf die Geschichte der Vereinigten Staaten zu sprechen, die er — arg vereinfacht für mein Verständnis — als Revolution eines kolonial unterdrückten Volkes gegen seine ausländischen Beherrscher (will sagen: die Engländer) ansieht. Es klingt sogar ehrlich, als er zuletzt seine Hochachtung vor der in Amerika herrschenden Demokratie ausdrückt und sie beispielhaft auch für die Zukunft Chinas findet. Ob ich seine Arbeit über die >Neue Demokratie< gelesen habe? Als ich vorsichtshalber verneine, empfiehlt er mir das Anfang der vierziger Jahre entstandene Pamphlet, es gäbe gerade dem Ausländer seiner Meinung nach hervorragend Aufschluß über die Ziele der 170
kommunistischen Bewegung in China, über die Besonderheiten des historischen Entwicklungsprozesses, über seine Gedanken zu Politik und Ökonomie in einem zukünftigen, von Kommunisten im Verein mit allen wahren Patrioten regierten Land. Er weist mehrmals auf Besonderheiten Chinas hin, wie etwa die enorme Zurückgebliebenheit, den Mangel an Industriearbeitern, die revolutionäre Grundhaltung der Masse der Bauern, das Fehlen demokratischer Gewohnheiten und nicht zuletzt die Erstarkung des Nationalgefühls durch den Existenzkampf gegen ausländische Mächte. Wieder hebt er den Zeigefinger. »Von denen die Vereinigten Staaten sich am ehrenhaftesten benommen haben! Zwischen ihnen und den übrigen Ausbeutern ist so leicht kein Vergleich möglich. Auch das bewirkt, daß wir zu den Amerikanern eben ein völlig anderes Verhältnis haben!« Unvermittelt erkundigt er sich, ob ich Edgar Snow persönlich kenne. Als ich das verneine, bedauert er es. Snow wäre geradezu das Musterexemplar eines amerikanischen Freundes, zu dem man als Chinese ohne Vorbehalte in ein enges Verhältnis kommen könne. Er will über Snow weiter erzählen, aber da vollzieht sich in seinem Gesicht plötzlich eine bemerkenswerte Wandlung. Die Hautfarbe wird rot, die Augen unruhig. Einige Male wetzt er auf seinem Hocker hin und her, dann sagt er lachend und für mich völlig überraschend: »Die amerikanische Medizin wirkt!« Er springt auf, rafft von einer Kiste ein paar Papierfetzen und verschwindet
nach
draußen.
Ich
erinnere
mich
an
die
Gebrauchsanweisung für das Medikament und wende mich an Tschiang Tsching, um zu erfahren, ob er es nach Vorschrift eingenommen hat. Sie ruft lachend: »Natürlich nicht! Der Genosse Vorsitzende ist ein starker Mann, er braucht auch starke Medizin!« Ich weiß nicht, ob ich lachen soll oder ob das eher ein Grund ist, 171
eine Entschuldigung vorzubringen. Dieses Öl wirkt katastrophal, Dr. Casberg hat mich darauf aufmerksam gemacht. Als ich es Tschiang Tsching vorsichtig andeute, winkt sie nur ab. »Beruhigen Sie sich, es wird ihm guttun, es ist fast eine Woche her, daß er auf dem Abort war!« Kang Sheng muß gespürt haben, daß die Situation sich zur Groteske hin bewegt, denn er lenkt mich ab, indem er auf Edgar Snow zurückkommt. So erfahre ich einige Geschichten über die Zusammenarbeit dieses tüchtigen Reporters mit Mao und den seinen. Obwohl Kang Sheng kein guter Erzähler ist, hört sich das an wie Detektivgeschichten. So hat Snow die Gattin Tschou En-lais einmal vor dem Zugriff der Japaner bewahrt, indem er sie als seine Hausangestellte ausgab. »Ist das nicht Mut?« fragt Kang Sheng schließlich. »Zeichnet sich nicht in der Haltung eines solchen Mannes bereits ein wenig das Bild des künftigen Verhältnisses unserer beiden Völker ab?« Ich weiche höflich aus. Natürlich ist bekannt, daß Snow nicht nur einer der profundesten Kenner der kommunistischen Seite in China ist, sondern auch einer der geschicktesten und emsigsten Propagandisten der kommunistischen Interpretation chinesischer Geschichte. Ich kenne aus einer Vorlesung, die er während meines Studiums an unserer Universität hielt, einige andere Beispiele seines Engagements in China. Eins davon beginne ich zu erzählen, als Mao freudestrahlend wieder eintritt. Er ist noch damit beschäftigt, seine Hose zuzuknöpfen, und ruft: »Wir müssen auf die Wirksamkeit der amerikanischen Medizin trinken! Nie zuvor war ich so erleichtert!« Spontan gießt er die Gläser randvoll und fordert uns auf, auszutrinken: »Gan bei!« Warum fühle ich mich in diesem Augenblick an die Anekdote aus der französischen Geschichte erinnert, die während meiner College-Zeit die Runde machte? Da soll es irgendeinen 172
französischen König Ludwig gegeben haben, der ähnlich litt wie Mao. Bei Hofe war es üblich, alle Geschäfte aufzuschieben, bis der große Herrscher sich hatte erleichtern können. Solange mußte jedermann warten. Aber dann, wenn der sonst ungenießbare Ludwig endlich Erfolg gehabt hatte und zu regieren begann, wurde er im Thronsaal stets von einem Hofmeister angekündigt, durch Aufstoßen der Hellebarde und den freudigen Ausruf: »Der König hat geschissen!« Eine Weile überlege ich, ob ich die Anekdote hier und jetzt erzählen soll, aber das scheint wohl doch nicht angebracht, obgleich ich mir vorstellen könnte, daß Mao dröhnend darüber lacht und gar nicht die ironische Parallele sieht. Ich lasse es, erspare mir die Hälfte des Becherinhalts durch einen Trick, indem ich nach dem ersten Schluck absetze und zu Mao sage: »Da gibt es übrigens über Edgar Snow eine hochinteressante Geschichte, die sozusagen eine völlig neue Dimension in der Nutzung der Presse für die Revolution eröffnete ...« Mao hört sogleich interessiert zu, ebenso Kang Sheng und Tschiang Tsching, so kann ich den Becher unauffällig absetzen und die Technik schildern, die Snow vermutlich als erster in dieser Konsequenz angewandt hat. Es muß Ende des Jahres 1935 gewesen sein, als Pekinger Studenten auf den Straßen demonstrierten, um jedermann zum Widerstand gegen Japans Absicht zu mobilisieren, ganz Nordchina klammheimlich zu besetzen, nachdem es bereits in der Mandschurei und der Inneren Mongolei saß. Snow begriff damals, daß lokale Empörung, die sich auf Peking beschränkte, die Japaner nicht würde bremsen können. Er kam auf die Idee, eine neue Demonstration gewissermaßen für die vorher eingeladene und vollzählig
versammelte
internationale
Presse
abhalten
zu
lassen.
Geheimnisvoll wurden alle ausländischen Journalisten, Fotografen 173
und Nachrichtenleute, die in Peking greifbar waren, an einem Dezembertag in Peking auf ein einmaliges Ereignis< neugierig gemacht und in genau den Straßen versammelt, durch die dann Tausende von Studenten demonstrierten, mit der Losung > Rettet China vor der japanischen Okkupation !< Was sonst vielleicht höchstens von einigen Agenturen als Randmeldung hinausgeschickt und in jeder Redaktion in den Papierkorb gewandert wäre, spielte sich nun vor einer wahren Legion aus allen Himmelsrichtungen zusammengeeilter Journalisten ab, und das Echo war dementsprechend. In der ganzen Welt erschienen tags darauf Schlagzeilen über >Chinas Widerständeschlaue Bauern< zu bezeichnen wären. — »Mister Robbins«, sagt Mao gemessen, »Sie sind unser Verbündeter. Wir sehen auch einen Vertrauten und Freund in Ihnen. Sie sind ehrlich, das wissen wir. Deshalb möchten wir Ihre Meinung hören zu einer Sache, über die wir uns Gedanken machen. Sagen Sie uns, ob unsere Gedanken sich in Übereinstimmung mit realen Möglichkeiten befinden ...« Er brennt sich eine neue Zigarette an, steht auf, reckt sich, dann geht er auf dem rohen Holz, mit dem der Boden der Höhle ausgelegt ist, hin und her, untermalt seine Worte mit Gesten, beobachtet meine Reaktion, tritt an den Tisch, um zu trinken, und entwickelt seine Überlegungen. »Wir wissen, daß große Teile der amerikanischen Bevölkerung eine verzerrte Vorstellung von kommunistischer Politik haben. Andere Teile Ihres Volkes wiederum haben Sympathien mit uns, sie möchten, daß wir einen verläßlichen Partner der Vereinigten Staaten in Asien abgeben. Bevor wir das werden können, müßte das Problem beseitigt werden, das der Despot Tschiang Kai-shek darstellt. Um aber dieses Problem
zu
lösen,
bedürfte
es
eines
noch
stärkeren
Meinungsumschwunges in den Vereinigten Staaten. Wie Sie sehen, eine Kette von Zusammenhängen. Wir haben in den Vereinigten Staaten keine Publicity. Andrerseits halten wir es für nötig, Ihre Bürger, vor allem die Leute in administrativen Positionen, über den wahren Charakter unserer Politik aufzuklären, ihnen überhaupt einmal ganz offen zu sagen, wie wir die Lage sehen und welche 175
Möglichkeiten wir für die Zukunft erwägen. Ist das auch Ihrer Meinung nach eine brauchbare Methode, um die Dinge in Fluß zu bringen?« »Ich wäre einverstanden damit«, sage ich. Und ich meine das sogar so. Publicity über die Jenaner könnte das Handwerk der Tschiang-Lobby in den Staaten ganz sicher einschränken. »Gut«, fährt Mao Tse-tung fort, »dann sollten Sie uns einen Rat geben. Wer könnte unsere Ansichten, unsere Vorstellungen von chinesischer Politik, die das Element der Zusammenarbeit mit den USA beinhaltet, bei Ihnen zu Hause am wirkungsvollsten ins Gespräch bringen? Haben Sie einen Vorschlag?« Spätestens jetzt merke ich, weshalb man mich hierher eingeladen hat. Nun gut, ich kann meine Meinung sagen. Ich deute an, daß ich die größten Schwierigkeiten für unsere Zusammenarbeit nicht so sehr beim Leser der Sonntagsblätter in den Staaten vermute, sondern eher unter den Senatoren im Kongreß, im State Department, in Teilen der militärischen Führung und in der höheren Administration. »Wie sehr das stimmt!« pflichtet Kang Sheng mir bei. »Tschiang Kai-shek hat alle diese Körperschaften regelrecht unterwandert, er hat entscheidende Leute korrumpiert, sie gegen uns aufgehetzt!« »Deshalb«, so meine ich, »wären Zeitungsberichte, so nützlich sie sind, nicht eine Sache von durchschlagendem Erfolg. Man müßte den Hebel direkt an der Administration ansetzen. Hier ist Aufklärung
angebracht,
hier
kann
sie
Denkumschwünge
herbeiführen.« Kang Sheng blickt Mao an, der nickt zustimmend, sinniert. Da fragt mich Kang Sheng unvermittelt: »Wie gut kennen Sie John Service?« 176
»Er ist ein aufgeschlossener Mann«, gebe ich vorsichtig zurück. »In China geboren, Sohn einer Missionarsfamilie. Als Berater im State Department hat er auf die Meinungsbildung in Fragen der China-Politik zweifellos den Rang eines glaubwürdigen Spezialisten.« Die beiden tauschen wieder einen Blick. Tschiang Tsching fängt an, das Geschirr abzuräumen. »Sie glauben, sein Wort hat Gewicht?« »Das glaube ich. Und — John Service hat eine sehr hohe Meinung von dem, was er hier sieht.« Mao sagt über die Schulter zu seiner Frau: »Mach uns Tee.« Sie holt eine verbeulte Blechbüchse aus einer Kiste und verschwindet. Kang Sheng putzt seine Brille mit einem aus der Tasche gezogenen Lappen. Dabei sagt er, mich kurzsichtig anblinzelnd: »Wir danken für den Hinweis, Mister Robbins.« Auch Mao bekräftigt das. Er fügt
an:
»Wir
bitten
Sie,
über
unser
Gespräch
keine
Verlautbarungen zu machen ...« Er lächelt, auch Kang Sheng verzieht das Gesicht. »Es versteht sich, daß wir nichts dagegen haben, wenn Sie mit Ihrem Dienstvorgesetzten darüber sprechen. Das ist eine andere Ebene, da sind wir uns einig ...« Und ob wir uns einig sind! Die Männer, die die Geschicke Jenans leiten, sehen das OSS als Verbündeten an. Den Militärs und Diplomaten gegenüber, die zu unserer Mission gehören, lassen sie eine gewisse Vorsicht walten. Wie mag dieses Spiel ausgehen? Ich werde, wenn Hollys Ankündigung stimmt, daß ich Jahre hier verbringen soll, Zeit genug haben, das zu beobachten. »Keine Freundin bis jetzt?« scherzt Mao plötzlich mit mir. Ich erkenne, daß die beiden das Ziel der Unterhaltung als erreicht ansehen und zu dem übergehen wollen, was man in der Diplomatie »small talk< nennt, unverbindliches Geschwätz. So setzt dann Kang 177
Sheng auch munter fort: »Er ist zu schüchtern, Genosse Vorsitzender! Wahrscheinlich glaubt er, junge Kommunistinnen hielten nichts von der Liebe!« Eine seltsame Unterhaltung, wenn man bedenkt, daß es sich hier um Chinesen handelt, die in solchen Dingen ziemlich zugeknöpft sind. Aber dies ist keine normale Situation. »Eine Lüge!« ruft Mao dröhnend. »Eine der vielen gemeinen antikommunistischen Lügen!« Er lacht, daß sein Gesicht rot wird, und ich habe die Befürchtung, er werde gleich wieder auf den Abort verschwinden müssen. Aber seltsamerweise scheint unser Medikament in diesem Körper nicht die vorgesehene Wirkung gehabt zu haben. Tschiang Tsching kommt mit dem Tee herein. Mao weist, immer noch lachend, auf sie und rät mir polternd: »Sprechen Sie mit meiner Frau! Sie wird Ihnen bezeugen, daß das ganz anders ist. Und — sie wird Sie mit den zauberhaftesten Geschöpfen auf dem Gebiet der Kunst bekanntmachen, wenn Sie nur wollen ...» Als wir beim Tee sitzen, unfermentiertem grünem Souchong von bemerkenswerter Qualität, provoziere ich Mao Tse-tung, indem ich frage: »Herr Vorsitzender, was gäbe das für Komplikationen, wenn ich beispielsweise hier heiratete?« Erstaunt blickt er mich an, die Teeschale zwischen den Handflächen, als ob er sich die Finger daran wärmen wolle. »Es gäbe gar keine Komplikationen«, sagt er dann knapp. »Wie ich orientiert bin, haben Sie ohnehin die Absicht, lange bei uns zu bleiben, oder irre ich mich da?« »Ich werde so lange bleiben, wie es mir möglich ist.« »Hao!« Er sagt es dumpf, grollend, wie ein zufrieden grunzender Eber. Zeichen dafür, daß er mit der Antwort einverstanden ist. »Und da wollen Sie leben wie ein katholischer Priester? Ein Missionar?« Ich lächle, ohne etwas zu sagen. Kang Sheng nimmt 178
die Gelegenheit wahr, mir scheinbar nebenbei noch etwas mitzuteilen: »Der Genosse Vorsitzende wird nicht immer Zeit haben, ausführliche Gespräche mit Ihnen zu führen. Aber er wird immer für Ihren freundschaftlichen Rat dankbar sein, auch wenn ich derjenige bin, der ihn von Ihnen entgegennimmt und an ihn weitervermittelt.« Mao bläst über seine Teeschale. »Das muß man ihm nicht erst sagen. Er kennt die Regeln.« Wie wahr, ich kenne sie. Wenn mir an diesem Abend etwas klargeworden ist, so das: Ich bin nicht der persönliche Kumpan des Vorsitzenden. Ich habe ihm zur Verfügung zu stehen, wenn er meinen Rat oder meine Vermittlung braucht. Ansonsten bin ich jemand,
der bei aller
Freundlichkeit,
mit der
man
ihm
entgegenkommt, eher ein Inventarstück darstellt. Immerhin aber wohl eines mit einem hohen Nützlichkeitsgrad. Wir verabschieden uns, nachdem wir noch eine Weile Unverbindliches geredet haben, über Jenan und über die Fronten des Krieges. Es wird ein höflicher Abschied, keine lärmende Szene. Wieder ein Händedruck, ein wohlwollendes Schulterklopfen Kang Shengs. Dann marschiert ein aus der Dunkelheit auf ein Zeichen Kang Shengs aufgetauchter Soldat neben mir her, bis zu meinem Quartier, wo er salutiert und verschwindet. Genau drei Tage später wird John Service von Mao Tse-tung eingeladen. Zu einem langen politischen Gespräch, in dem Mao dem Vertreter des State Departments sein politisches Konzept für China erläutert und Service aufgefordert wird, Fragen zu stellen. Wie ich von John erfuhr, wurde das Gespräch protokolliert. Es soll im beiderseitigen Einverständnis als politisches Dokument verwendet werden.
179
An Holly Analyse des augenblicklichen Verhältnisses UdSSR — China
30.8.1944 Unter den führenden Kommunisten von Jenan gibt es spürbare Zurückhaltung, was das Verhältnis zu Moskau betrifft. Allerdings wird Ablehnung nie offen geäußert. Einige der führenden Kommunisten von Jenan wurden zeitweilig in der Sowjetunion politisch geschult (u. a. auch Tschou En-lai und Kang Sheng). Man spricht von insgesamt 28 >Moskauer Bolschewiken Tscheng Feng< in den
Augen
der
übrigen
Parteimitglieder
zu
>Vertretern
ausländischer Konzeptionen ( gestempelt, die der chinesischen Sache schaden. Soweit sich übersehen läßt, gab es keine Tötungen. Profiliertester Gegner der Konzeption Mao Tse-tungs ist ein gewisser Wang Ming, der gelegentlich noch als >Vertreter der Moskauer Fraktion< bezeichnet .wird. Er ist für mich leider unerreichbar, soll krank sein. Maos Strategie für die Revolution in China findet offenbar nicht den Beifall Moskaus, das anstatt des von Mao als unvermeidlich angesehenen Bürgerkrieges einen Kurs 180
der nationalen Versöhnung und Stabilisierung der Verhältnisse anzusteuern scheint. Mao Tse-tung und seine Gruppe halten zu Moskau vorsichtige Distanz. Aus meiner Sicht ist der Grund nicht ein taktisches Entgegenkommen an uns, sondern eine prinzipielle Differenz zwischen Moskau und Mao in Fragen der politischen Strategie und Taktik. Ursache der Differenzen: Die Moskauer Revolutionstheorie stützt sich im wesentlichen auf die Führungsrolle der Arbeiter als Klasse. Bauern rangieren als Verbündete. Ohne eine zahlenmäßigstarke und von der KP gut durchorganisierte Arbeiterklasse ist nach der klassischen Theorie Lenins keine Garantie für das Gelingen der Revolution
gegeben.
Daher
konzentrierte
Moskau
seine
Bemühungen bereits sehr früh auf die Zusammenarbeit mit der damals
noch
sowjetfreundlichen
bürgerlichen
Kuomintang-
Regierung unter Sun Yat-sen, leistete vielseitige Hilfe mit dem Zweck der Stabilisierung Chinas als Staat, wobei es Vorhaben unterstützte, die auf lange Sicht der zahlenmäßigen und politischen Stärkung des noch geringen Anteils von Arbeitern an der Gesamtbevölkerung dienten. Sowjetrußland verfolgte damit das Ziel des systematischen Aufbaus revolutionärer Potenz im Schöße der bürgerlichen Kuomintang-Gesellschaft, wobei es zugleich zu dieser gute und sogar freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Kommunisten waren angehalten, in der Kuomintang mitzuarbeiten, im nationalen Interesse und für nationale Ziele. Das bedeutete fraglos die Zurückstellung eines Machtpokers KP-Kuomintang bis zur Erreichung einer günstigen Ausgangsposition. Dieses Konzept wurde von Mao Tse-tung abgelehnt. 5) Nach der Machtergreifung Tschiang Kai-sheks (1927) distanzierte dieser die Kuomintang scharf von den Kommunisten und begann deren Verfolgung. Damit ergaben sich für die KP im Hinblick 181
auf das von ihr verfolgte Konzept theoretische und praktische Probleme. Um diese Zeit begann Mao seine eigene Vorstellung von der kommunistischen Revolution in China verstärkt in die Debatte zu werfen: Die Umstände in China sind spezifisch, es gibt eine revolutionäre Situation, gibt aber nur wenige Arbeiter, demzufolge müsse die Initiative von den unübersehbaren Massen der verarmten Bauern ausgehen, sie sind das entscheidende Potential der Revolution, ihnen muß auch die führende Rolle zufallen. Das damalige Führungsgremium der KP hingegen zielte darauf ab, durch
Massenbewegungen
den
>wahren
Charakter
der
Kuomintang revolutionärer Bauernkriegsführung< (u. a. zettelte er den sogenannten > Herbsternte-Aufstand< in Hunan an). Sein Konzept lief auf die Errichtung von >Sowjets< der Bauern hinaus. Dieses Konzept schlug insofern zunächst fehl, als die Kuomintang den Aufstand niederringen konnte. Daraufhin zog sich Mao Tse-tung mit dem Rest seiner Kräfte in das unwegsame Gebirgsgebiet von Djinggangshan zurück, an der Grenze der Provinzen Hunan und Kiangsi. Hier erhielt er Zulauf von asozialen Banditengruppen, die seit längerem in den Bergen operierten. Mit ihrer Unterstützung gründete er den ersten chinesischen > Sowjets Es folgte nun ein längeres, sehr wechselvolles > Schattenboxen < zwischen Mao Tse-tung und der Parteiführung, bei dem Mao zugute kam, daß er immer stärkeren Zuspruch erhielt und seine Kräfte ausbauen konnte. (In der Tat liefen ihm ganze Truppenteile der 182
Kuomintang-Armee
geschlossen
zu,
deren
linksorientierte
Kommandeure, die das bewerkstelligt hatten, in der Folgezeit hohe Führungsposten bei ihm einnahmen.) Maos Gruppierung stellte zweifellos damals den militärisch schlagkräftigsten Teil der gegen die Kuomintang gerichteten Kräfte dar, verfolgte hartnäckig die Linie militanter Konfrontation und störte somit jeden von der Parteiführung
noch
unternommenen
(vermutlich
ohnehin
fragwürdigen) Versuch der Einigung mit der Kuomintang. Das lief auf die letztlich von Tschiang Kai-shek eingeleitete massive militärische Bekämpfung des >Sowjets< hinaus, bei der Maos Truppen schließlich arg dezimiert wurden und er die als > Langen Marsch< bekannte Ausweichbewegung in das hiesige Gebiet antreten mußte, wo er wieder in relativer Sicherheit war. Während dieser Ausweichbewegung aber machte er sich in Abwesenheit der meisten übrigen Parteiführer bei einem Zwischenaufenthalt in einer Stadt namens Tsunji auf einer schnell organisierten Konferenz zum Chef der Partei, indem er die Schuld an den Misserfolgen der falschen Linie< der anderen Parteiführer zuschob und der Masse seiner
Gefolgschaft
die
These
einhämmerte,
seine
Revolutionstheorie sei im Gegensatz zu der von den >Moskauern< vertretenen die einzig richtige für China. Er konnte sich an der Macht halten und seinen Apparat hier in Jenan ausbauen. Damit schob er seinen Gegenspielern stillschweigend die Offerte zu, entweder ihn als führenden Theoretiker und Praktiker der KPChinas
anzuerkennen oder sich
in Gegensatz
zu seinem
Machtpotential zu stellen. 6) Moskaus Haltung erklärt sich daraus, daß Sowjetrußland nicht nur eine theoretische Dimension als Zentrum der kommunistischen Weltrevolution hat, sondern auch eine praktische, nämlich als Staatswesen im internationalen Gefüge. Im wesentlichen deshalb 183
stellten sich die Vorgänge in China daher für die Sowjets offenbar in einem etwas anderen Lichte dar, wobei zusätzlich prinzipielle theoretischmarxistische Erwägungen eine Rolle gespielt haben mögen. Hinzu kam die inzwischen angelaufene japanische Invasion- in China, die nach Moskauer Sicht eine nationale Bedrohung bedeutete und daher den Zusammenschluß aller patriotischen Kräfte Chinas über weltanschauliche Schranken hinweg hätte erforderlich machen müssen. Angesichts der japanischen Invasion war es der Sowjetunion unmöglich, dem Staat Tschiang Kai-sheks die Unterstützung zu entziehen oder etwa Mao Tse-tung gegen Tschiang Kai-shek zu unterstützen, obwohl kein Zweifel daran bestehen dürfte, daß die Moskauer Sympathien sicherlich nicht auf der Seite des Kommunistenverfolgers Tschiang Kai-shek
lagen,
sondern
natürlich
bei
den
chinesischen
Kommunisten. Die Sowjets machten, wie wir wissen, Tschiang Kai-shek über diplomatische Kanäle immer wieder aufmerksam, daß angesichts der nationalen Bedrohung Chinas durch Japan seine Angriffe auf die patriotisch gesinnten Kommunisten zu einer Schwächung von Chinas Widerstandskraft führten. Sie deuteten sogar an, daß sein Konzept sich negativ auf die militärische Hilfsbereitschaft der Sowjetunion auswirken könnte. Dieses Engagement für die chinesischen Kommunisten (bei gleichzeitiger Unterstützung des nationalen Widerstandes gegen Japan), das den Handlungsspielraum der Sowjets weitgehend ausschöpfte, wurde von
Mao
Tse-tung
entweder
nicht
begriffen
oder
aus
unterschwelliger Abneigung gegen die Sowjets einfach ignoriert. Er selbst hielt sich verbal zurück, er unterband jedoch nicht, daß man auf niederen Ebenen von > Feigheit und Verrat< sprach. Mit dem Ausbruch der Kriegshandlungen im Pazifik, als sich zwischen Tschiang Kai-shek, den Vereinigten Staaten, England und der 184
Sowjetunion eine Allianz gegen die Achsenmächte ergab, erfuhr der Handlungsspielraum der Sowjets, was die Unterstützung Maos betraf, zwangsläufig eine weitere Einschränkung. Jede militärische Unterstützung Maos von Seiten der Sowjets hätte jetzt den Charakter der Sabotage an einem Bündnis gehabt. Tschiang Kaishek nützte diesen komplizierten Zusammenhang für seine Ziele skrupellos aus und baute die Konfrontation mit Maos Reservat nicht ab. Dieser hingegen zeigte sich nach außen hin (auch durch die wiederholte Entsendung von Kontaktpersonen nach Tschungking) bereit zur Zusammenarbeit im nationalen Interesse, verteidigte aber verbissen seine Position, wobei er keine Gelegenheit ausließ, immer wieder darauf zu verweisen, daß er im Gegensatz zu Tschiang Kaishek von niemandem (auch nicht von den Sowjets) irgendwelche Hilfe bekam. Seitdem ist, wie mir in Jenan ersichtlich wurde, die Missstimmung gegen die Sowjets langsam, aber stetig gewachsen, bei offenen Fragestellungen allerdings wird stets die Verbundenheit mit den Sowjets betont. Das wird bis zum Rand der Ironie getrieben, ist aber aus keinem offiziellen Dokument einwandfrei nachweisbar. 7) Im Lichte dieser Zusammenhänge gesehen scheint mir das Bestreben Mao Tse-tungs, mit den Vereinigten Staaten partnerschaftliche Beziehungen herzustellen, ernst gemeint. Wenn es manchmal so erscheint, als suche er eine regelrechte > Anlehnung < an uns, so halte ich auch das für echt. Es gibt in Maos privaten Überlegungen eine perspektivische Komponente, über die er selbst und seine Unterstellten nicht offen sprechen, die Ma Hai-te mir jedoch in einer Unterhaltung als >eigene Überlegung< präsentierte: Zwischen den Alliierten ist abgemacht, daß die Sowjets aktiv bei der Niederringung der Japaner mithelfen, sobald sie in Europa entlastet sind. Dieser Zeitpunkt rückt näher, sie stehen an den Grenzen 185
Deutschlands. Ihr Eingreifen auf dem asiatischen Schauplatz dürfte sich aller Wahrscheinlichkeit auf die Mandschurei konzentrieren, die ein ungeheures industrielles Potential darstellt und von japanischen Kerntruppen besetzt ist. Im Kreis um Mao rechnet man offenbar damit, daß die Sowjets die Chance wahrnehmen werden, die Japaner aus der Mandschurei zu vertreiben. Angesichts der Streitkräfteverteilung wäre es für die chinesischen KP-Truppen leicht, in das Vakuum hineinzustoßen, das voraussichtlich in der Mandschurei entsteht. Damit wäre das Schicksal Chinas besiegelt, denn es heißt nicht zufällig hier: wer die Mandschurei besitzt, der besitzt China. Nur — diese Perspektive hat, wie Ma Hai-te (sicher nicht zufällig) mir gegenüber durchblicken ließ, für Mao Tse-tung etwas Problematisches. Er sieht für die Zukunft ein unmittelbar an die Sowjetunion grenzendes China, in dem er mit seiner KP nach seiner Ansicht zweifellos die Macht behaupten wird. Dennoch macht ihn das nicht froh. Er sieht einen erheblichen Einfluß Moskaus auf das aus den Wirren des Krieges entstehende neue China voraus, und das scheint seinen Fernzielen zu widersprechen. Wie ich Ma Hai-te verstehe, wünscht Mao ein kommunistisch beherrschtes China, das in der Lage ist, die unvermeidlich zu erwartende chinesisch-sowjetische Partnerschaft durch bereits jetzt vereinbarte Partnerschaftsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten hochgradig zu neutralisieren. Dabei wäre er bereit, den Einfluß, den ein kommunistisches China seinerseits in der Zukunft auf den >weichen Unterleib < Südostasiens nehmen könnte, mit den Interessen der Vereinigten Staaten in dieser Region abzustimmen. Grob gesagt (und zu dieser Definition meinerseits lächelte Ma Hai-te lediglich zustimmend): Mao Tse-tung wünscht unser Gewicht auf seiner Waagschale zu haben, wenn Moskau sein Gewicht in die andere Schale legt. 186
8) Aus allem, was ich darstellte, geht die Notwendigkeit einer historischen Entscheidung für die Vereinigten Staaten hervor: Wir können entweder das Risiko eingehen, uns mit dem kommunistischen Mao Tse-tung für die Zukunft in Asien zu verbünden, oder wir können das aus grundsätzlichen Erwägungen gegenüber dem Kommunismus nicht tun. Im letzten Falle würde eine Kombination Moskau—Mao auf lange Sicht in der Lage sein, die Interessen der Vereinigten Staaten in dieser Region nach ihrer Wahl einzuschränken oder völlig auszuschalten. Wobei, wie ich nach meinen hiesigen Erfahrungen bestätigen kann, Mao Tse-tung in dieser Rolle nur widerwillig mitspielen würde. Es deutet sich hier ein Phänomen an, das in unseren Überlegungen über den Kommunismus bisher nicht ernsthaft in Erwägung gezogen wurde: nämlich daß der Anführer einer kommunistischen Bewegung sich aus subjektiven Impulsen heraus
als
Erstpartner
nicht
den
geistesverwandten
Sowjetkommunismus wählen will, sondern beispielsweise uns. Diese Erscheinung mit allen möglichen Konsequenzen gründlich zu überdenken und auf Chancen für unsere eigenen Interessen abzuwägen, ist dringend erforderlich. Eine Absage unsererseits könnte Mao Tse-tung zwingen, sein deutlich geäußertes Entgegenkommen zu unserem (und seinem) Nachteil aufzugeben. Noch haben wir es in der Hand, diese Umstände nicht eintreten zu lassen und uns durch ein Bündnis mit Mao die Tür in das Asien der Zukunft offen zu halten. Ich hebe hervor: es handelt sich um eine historische Entscheidung, die ich selbst in allen möglichen Folgen heute noch nicht absehen kann. Dabei steht zu erwarten, daß uns der Kongreß, die Tschi-ang-Lobby und kurzsichtige antikommunistische Kräfte zu Hause die Entscheidung nicht leicht machen werden, aber es ist 187
letztlich die Entscheidung über die zukünftige Rolle der Vereinigten Staaten in dieser Region der Welt. (Quellen: Kang Sheng, Mao Tse-tung, Ma Hai-te, John Service, Tschiang Tsching) Violet
15.12.1944 Wieder einmal landet eine Dakota in Jenan, am 7. November, auf dem inzwischen recht sicher gewordenen Flugplatz. Kaum schwingt das Schott auf und die Stahlgangway klappt herab, erscheint auf der obersten Stufe ein US-General in maßgeschneiderter Uniform, an der eine Unmenge Ordensbänder leuchten. Er hält eine Hand seitlich vor den Mund und stößt einen gräulichen Schrei aus, ähnlich dem Jaulen eines getretenen Hundes. Daraufhin trampelt er die restlichen Stufen herab, schwenkt seine Hände und erklärt den in stummer Verblüffung am Fuße der Gangway stehenden chinesischen Funktionären: »Das war der Kriegsruf der Indianer in meiner Heimat Oklahoma! Dachte, er wird euch bekannt vorkommen. Und wer von euch ist Mister Moose Dung?« Ich erschrecke zutiefst. Er meint Mao Tse-tung, und er spricht den Namen absichtlich so verquer aus, daß er im Amerikanischen >Elch-Scheiße< bedeutet, wörtlich, was die im Halbkreis um die chinesischen Funktionäre herumstehenden Kerle unserer Mission fast ausnahmslos mit schallendem Gelächter quittieren. Tschou En-lai reicht dem Ankömmling betont höflich die Hand und läßt ihn wissen, daß der Vorsitzende ebenfalls sogleich zur Stelle sein wird. »O.K.«, sagt der jovial tuende Gast, »ich bin sehr neugierig auf 188
den alten Burschen, werde sicher mit ihm einig werden, habe mich mit >Old Shek< ebenfalls geeinigt!« Er schüttelt Kang Sheng die Hand, dann anderen, schließlich wendet er sich lärmend an unsere Leute. Kang Sheng blickt mich fragend von der Seite an. Tschou En-lai tritt hinzu, der Ankömmling hat ihn einfach stehenlassen. Schnell versuche ich zu retten, was zu retten ist, und kläre Tschou En-lai auf: »Unser Sonderbotschafter spricht einen etwas ungewöhnlichen Dialekt, aber er hat offenbar eine gute Reise gehabt...« Tschou lächelt nur. Er versteht genug Englisch, um sich selbst ein Urteil zu bilden. Es ist ein Meisterstück an Diplomatie, was er jetzt leistet, als er mir ganz sachlich zu verstehen gibt, daß man in einigen Gegenden Chinas das >tung< aus Maos Namen tatsächlich wie >Dung< ausspricht, was bei etwas Phantasie schön eben diese anrührige Bedeutung herstellen könne. Er hört nicht auf zu lächeln, wir haben uns verstanden. Bevor er wieder zu dem Gast geht, läßt er nur noch die Bemerkung fallen: »Außerordentlich sympathisch, diese Affinität, die der Herr General zu den Ureinwohnern seiner Heimat hat!« Pat Hurley. Er führt sich in Jenan ein wie ein soeben halbtrunken aus einem Saloon torkelnder Goldgräber bei den Insassen einer Kutsche, die er besteigt. — Doch ich will versuchen, die Dinge nüchtern zu registrieren: Patrick Hurley ist ein steinreicher republikanischer Anwalt, der unter Präsident Hoover bereits einmal Kriegsminister war und den Roosevelt schon früher gelegentlich für Sondermissionen einsetzte. Jetzt hat er ihn als Sonderbeauftragten nach China geschickt, mit einer Aufgabe betraut, die nach Meinung der meisten Kenner der hiesigen Verhältnisse seine Fähigkeiten weit überfordert. Er soll >die Situation bereinigen< Ob er das kann? Ich zweifle daran, denn 189
>die Situation< ist so verfahren, wie sie wohl nie zuvor gewesen ist. Hier in Jenan gerät man in die Gefahr, in der Isolation gleichsam einzuschlummern. Man ist abgeschnitten, die Nachrichten von außen kommen spärlich, man gewöhnt sich an die täglich gleiche oder sich ähnelnde Routine. Ich habe erst, als Hurleys Besuch angekündigt wurde, einmal das Mosaik der Entwicklung zusammengesetzt, um klarer zu sehen. Hurley kommt, um mit Mao Tse-tung über ein mögliches Abkommen zwischen Jenan und der Kuomintang zu verhandeln, eine an sich erfreuliche Absicht, nur sind es vorausgegangene Ereignisse, die skeptisch stimmen. Während des trockenen, drückenden Sommers von Jenan, in dem wir hier alle ein wenig von dem Interesse für > außerhalb < einbüßten, hat die Erde sich weiter gedreht: Unsere Truppen haben nicht nur die Marshall-Inseln erobert, sondern auch Neu-Guinea, die Marianen und Guam, sie sind auf den Philippinen gelandet, die japanische Flotte ist weitgehend dezimiert, die »Straße von Tokio< schrumpft zusammen. In Europa gibt es die sogenannte >zweite FrontEssig-Joe< weigerte sich nämlich, seine Offensivkraft zu schwächen, und sagte wieder einmal ohne Umschweife die Wahrheit: Es sei militärischer Irrsinn, die Offensive in Burma lahm zu legen, nur weil Tschiang und sein Stab unfähig seien, oder unwillig, einen wirkungsvollen Widerstand gegen die in China angreifenden Japaner zu organisieren. Außerdem solle Tschiang, wenn er schon Verstärkungen brauche, gefälligst einige seiner zwei Dutzend Divisionen abziehen, die das Jenaner Gebiet - bewachen. Damit bescheinigte er Tschiang einerseits militärische Ignoranz und andrerseits politischen Starrsinn. Er beließ es nicht dabei, er beanspruchte, um endlich effektiv kämpfen zu können, daß er den militärischen Oberbefehl auch über die Ostchina-Front bekäme, sowie die Entscheidungsgewalt über die von uns nach China gelieferten Güter des Lend-Lease-Programms. Überraschenderweise stimmte Washington diesen Forderungen zunächst zu, vermutlich angesichts der tatsächlichen Bedrohung unserer entscheidenden Luftbasen in Südostchina (von denen nun inzwischen der größte Teil unter schweren Verlusten geräumt werden mußte!). Tschiang, der durch die Washingtoner Entscheidung wohl vorsichtig gemacht war, stimmte formell ebenfalls erst einmal zu. Aber, wie immer, zog er gleich darauf ein As aus dem Ärmel: Diplomatische
Verhandlungen 192
zur
Festlegung
von
Verantwortlichkeiten
in
Einzelfragen
seien
erforderlich.
Washington reagierte schnell. Während die Japaner auf unsere bedeutendste Luftbasis im Südosten, Kweilin, vorstießen, flogen Donald Nelson als Spezialist für Hilfsgüterlieferungen und Pat Hurley
als
politischer
Emissäre
nach
Tschungking.
Ihre
Forderungen an Tschiang: Vereinigung der politisch unterschiedlich motivierten Militärkräfte der Kuomintang und der Kommunisten auf Kommandoebene gegen die Japaner und Übertragung der vollen militärischen Verantwortung für den abgestimmten Einsatz dieser Kräfte auf Stilwell. Tschiang Kai-shek muß sich unter dieser forsch vorgetragenen Washingtoner Forderung gewunden haben wie eine in der Astgabel gefangene Schlange. Aber er war nicht ohne Einfälle. Donald Nelson wurde von ihm mit sogenannten Zukunftsprojekten beschäftigt, wie etwa dem Nachdenken über den Bau eines Yangtse-Damms in der Nachkriegszeit, natürlich unter unserer Beteiligung. Und dazu gab ihm Tschiang zu überlegen, daß es eine >Entwürdigung einer großen Nation < sei, wenn diese (China) nicht mehr souverän über die Verteilung von Hilfsgütern selbst verfügen solle, sondern ein amerikanischer General. Außerdem verfiel Tschiang auf einen neuen, sehr cleveren Trick. Vermutlich über Kanäle Tai Lis sorgte er dafür, daß die Japaner in ihrem Rundfunk und auf Flugblättern die Chinesen aufmerksam machten, in Tschungking tobe ein interner Kampf darum, ob China weiter von Chinesen regiert werden soll oder vielmehr von amerikanischen Militärs. Mit einem solchen Flugblatt meldete sich der >Bankier< H.H.Kung, Tschiangs Schwager, der sich >zufällig< gerade in Washington aufhielt, während eines offiziellen Dinners bei Roosevelts persönlichem Berater Harry Hopkins und machte ihn 193
>auf den Ernst der Lage< aufmerksam: General Stilwell wolle sich endgültig zum Herrscher Chinas aufschwingen, er habe jetzt schon mehr Macht im Lande als Tschiang, und Tschiang würde alle Forderungen der Vereinigten Staaten sofort erfüllen, wenn Roosevelt ihm nur diesen militärischen Intriganten vom Halse schaffte. Umgehend ließ Tschiang in Tschungking das Gerücht verbreiten, Roosevelt habe seiner Bitte zugestimmt und werde einen geeigneten Kommandeur nach China entsenden. Offiziell hingegen erklärte er Anfang Oktober auf einer Konferenz des Zentralkomitees der Kuomintang, er werde alle ungerechtfertigten Forderungen der USA selbstverständlich
ablehnen,
Stilwell
würde
aus
China
verschwinden müssen, und was die Kontrolle über die USHilfsgüter beträfe, so habe Nelson ihm darüber bereits die totale Verfügungsgewalt zugesichert. Offenbar hat Roosevelt, der ja mitten in der Kampagne zu seiner (hoffentlichen) Wiederwahl steckt, um endlich eine Entscheidung in diesem von Tschiang eingefädelten Intrigenspiel herbeizuführen, sich
zwei
Wochen
später
entschlossen,
General
Stilwell
gewissermaßen zu > opfern Maos Staatskarosse< nennen. Jener uralte Lastwagen von Ford, mit seinem Kastenaufbau, zerbeult, rostzerfressen, eine stinkende Qualmwolke hinter sich lassend, wird von Mao gern dazu benutzt, Gäste am Flugplatz abzuholen. Das Vehikel ist auf abenteuerlichen Wegen hierher gelangt, nachdem es irgendein Chinese in New York, Besitzer einer Wäscherei, der es ein Jahrzehnt lang als Lieferfahrzeug benutzte, einem Aufruf der >China Defense League< folgend, für die >Patrioten von Jenan< gespendet hat. Mit einer donnernden Fehlzündung bleibt das Ding in der Nähe Hurleys stehen, Mao entsteigt ihm, kämmt sich mit den Fingern sein wildes Haar und wird von Hurley prompt mit »Hallo, Mr. Moose Dung!« begrüßt. »Ich komme, um diese kleine Sache zwischen Ihnen und Old Shek zu bereinigen, wie stehen die Dinge hier?« Wenn es eine Auszeichnung für instinktloses Verhalten gäbe, hätte Hurley sie verdient. Er ist eher eine amerikanische Karikatur als ein Diplomat, jedenfalls deutet sein Auftreten darauf hin, daß er keine Ahnung von den tatsächlichen Problemen hat. Irgendwie erinnert mich seine Art an die Umgangsformen von College-Studenten, die nach einem Baseballspiel zum Duschen gehen. Yeh Tschien-ying, Chef des roten Generalstabes, der etwa fünfzig Jahre alte, etwas behäbige Südchinese, hat zwei Kompanien 195
roter Soldaten antreten lassen, als Ehrenformation, die Hurley nun würdevoll abschreitet, worauf er (ich drehe mein Gesicht verschämt weg) erneut die Hand an den Mund legt und den chinesischen Soldaten nochmals seinen Indianerschrei vorführt. Ich stehe zwischen Teddy White und Epstein. White, der an einem längeren Artikel oder sogar an einem ganzen Buch über Jenan arbeitet, meint grinsend: »Wowowopajeeh. Ich könnte das als Titel nehmen.« Epstein, der kleine Mann, dessen Gesicht unter einem breitkrempigen Strohhut kaum zu sehen ist, bemerkt bissig: »Dazu die alte Erdnuß Tschiang mit dem Western-Hut auf dem Umschlag, das gibt eine Millionenauflage!« Mao Tse-tung verzieht kaum das Gesicht, er macht den Eindruck gespannter Aufmerksamkeit und quittiert den Indianerheuler in der Manier der Sekretärin eines Generaldirektors, die einen vernehmlichen Rülpser ihres Chefs höflich überhört. Nichtsdestotrotz: Es wird Ernst. Unmittelbar nach dem Empfang beginnen Gespräche zwischen Hurley, Mao, Tschu Teh und Tschou En-lai. Gelegentlich wird Yeh Tschien-ying hinzugezogen. Von unserer Mission haben sich Barrett und Service ständig für Rückfragen bereitzuhalten. Ich selbst habe bei den Besprechungen nichts zu suchen, ich ziehe mich mit meinem Päckchen Kurierpost in meine Behausung zurück, lese, notiere, lasse mir von meinem Ordonnanzsoldaten ein Becken mit glühenden Kohlen in den zugigen Raum stellen, und als die Nachtkälte zu arg wird, schlüpfe ich in meinen Army-Schlafsack. Allerdings nicht für sehr lange. — »Mister Robbins!« Der Posten rüttelt mich, tritt einen Schritt zurück, als ich mich aufrichte, und dann erfahre ich, daß ich möglichst sofort im Versammlungsraum der Militärakademie erscheinen soll: Chinesische und amerikanische Verhandlungspartner laden zu einer 196
Feier ein. »Haben wir gesiegt?« frage ich Barrett, als ich dort eintreffe. Die chinesische Kapelle spielt Musik, über der jeder chinesische Musiker wohl ebenso verzweifeln würde wie ein amerikanischer Kollege. Viel Blech, viel Baß, wenig Harmonien. Barrett klärt mich auf, es handle sich um russische Volksweisen, was ich ebenfalls für kaum wahrscheinlich halte. »Wir sind dabei, vorwärtszukommen«, tut Barrett geheimnisvoll. »Aber die Feier läuft nicht deshalb. Heute ist der Tag der russischen Oktoberrevolution, sie jährt sich zum 27. Mal.« Ich hadere eine Zeitlang mit mir, ob ich das für einen vertretbaren Grund halten soll, kurz vor Mitternacht aus dem Schlaf gerissen zu werden, die russische Revolution interessiert mich nicht, aber dann sehe ich, daß man in der Halle Tische mit allerlei Speisen aufgebaut hat, von Hühnerbeinen in einer dunklen, scharfen Soße bis zu Äpfeln, Erdnüssen, Melonen und Lotoskernen. Auch Alkohol gibt es. Das tröstet selbst über die chinesische Interpretation russischer Volksweisen hinweg. Whisky und Gin sind da, wohl von unserer Kunminger PX zu Ehren des Hurley-Besuchs mitgeschickt, vielleicht auch wegen der russischen Revolution, der Teufel soll sich da auskennen, schließlich sind wir Alliierte! Also esse ich ein paar Hühnerbeine, die leider etwas ranzig schmecken, nasche Nüsse, trinke einen Schluck, werde Hurley vorgestellt, ohne daß er mich mit Kriegsruf begrüßt, er sagt nur beiläufig: »Hallo, my boy!«, ich plaudere mit Ma Hai-te, der natürlich da ist,
mit
Epstein,
Tschou
En-lai,
erhalte
ein
freundliches
Schulterklopfen von Mao und lande schließlich bei seiner Frau, die in einem Stapel von zerschrammten Schallplatten wühlt. Man hat ein Grammophon in Gang gesetzt, nachdem die Kapelle pausiert, und jetzt wird getanzt. (Ja, die Jenaner Kommunisten tanzen Swing, 197
anläßlich der russischen Revolution, oder wegen Indianer-Hurley, Gott allein mag wissen, warum sie es wirklich tun!) Hurley allerdings meint, es sei die Bestätigung dessen, was er und andere lange vermutet haben. Er sagte es zu Service, während ich in der Nähe stand: »Wir haben uns wohl zu lange erzählen lassen, diese Leute hier wären Barbaren, die schon zum Frühstück Babyrippen
abnagen!
Das
sind
ja
gar
keine
wirklichen
Kommunisten, das sind bestenfalls Leute, die China auf eine etwas dubiose Art von seinen Krankheiten heilen möchten. Man wird sie in dieser Hinsicht beeinflussen können. Jedenfalls werden wir mit ihnen glänzend ins Geschäft kommen ...« Mir liegt die Frage auf der Zunge, was wohl der Generalissimus in Tschungking von dieser Wertung halten würde, aber ich werde gleich abgelenkt: Tschiang Tsching, die man hier nicht >Madamissima< nennt, nicht einmal >MadameTschiang Tsching Tungdschi SchattenboxensKoalitionsregierung< ansieht. Auch die Sowjets, so verrät Kang Sheng mir flüsternd, obgleich niemand uns zuhört, sähen eine solche Regierung gern, lieber als einen Bürgerkrieg. »Natürlich aus anderen Gründen, nämlich, weil sie nicht daran glauben, daß wir schon stark genug sind, einen Bürgerkrieg zu gewinnen!« fügt er augenzwinkernd an. Es ist nicht gerade ein rauschendes Fest, das ich gegen Morgen heimlich verlasse, aber es ist ein Beisammensein, das Hoffnungen erweckt. Am Abend des 9. November tritt das Zentralkomitee der KP zusammen und bekommt vorgelesen, was Mao Tse-tung mit Hurley ausgehandelt hat. Es gibt keinen Widerspruch. Entstanden ist ein 5Punkte-Dokument. Nach dem, was Kang Sheng mir schnell mündlich mitteilt, enthält es substantiell folgende Vereinbarungen: Bildung einer Koalitionsregierung aus Kuomintang und KP, unter Beteiligung kleinerer demokratischer Parteien und Gruppen, für ganz China, Bildung eines gemeinsamen militärischen Oberkommandos für den Kampf gegen Japan, Einbeziehung der kommunistischen Streitkräfte in das System der Belieferung mit amerikanischen und anderen Hilfsgütern, Gewährung von demokratischen Grundrechten und Freiheiten in ganz China, Einleitung demokratischer Reformen in ganz China und Vorbereitung des Wiederaufbaus nach dem Sieg über Japan, auf der Grundlage der von Sun Yat-sen entworfenen Prinzipien. »Und das hat Hurley unterschrieben?« frage ich ungläubig. »Er hat.« »Und das soll Tschiang Kai-shek gegenzeichnen?« 200
Da lächelt Kang Sheng. Hinter seinen wie immer etwas verstaubten Brillengläsern funkeln seine Augen. »Er wird das niemals tun, unter uns gesagt. Aber damit wird er für alles verantwortlich sein, was in der nächsten Zukunft geschieht, und zwar nicht nur vor dem chinesischen Volk, sondern vor der ganzen Welt.« Ich verstehe den Charakter der Falle, die hier von Mao Tse-tung für seinen alten Widersacher Tschiang aufgebaut wurde. Nur erstaunt es mich, daß Patrick Hurley das Dokument unterschrieben hat. Weil dies heißt, daß die USA, vertreten durch Hurley, Mao Tse-tungs Vorstellungen teilen. Auf nichts bin ich neugieriger als auf das, was Tschungking zu diesem Dokument sagen wird! Kang Sheng muß gemerkt haben, wie skeptisch ich bin. Er fühlt sich verpflichtet, mir etwas mehr mitzuteilen, als eigentlich nötig ist. Später überlege ich mir, daß er das zweifellos getan hat, um mir einen weiteren Beweis seines persönlichen Vertrauens zu geben. Er legt es auf eine Partnerschaft an, bei der der eine dem anderen gegenüber absolut offen ist, ohne hinterhältige Tricks. Plötzlich zieht er ein Papier aus der Tasche, winkt mich beiseite, und dann lese ich in chinesischer Schrift, mit einer Schreibmaschine geschrieben, folgendes: >28.Juni 1944: Von Kunming aus schickt Vizepräsident Wallace, der von Roosevelt zur Erkundung der tatsächlichen Lage nach Tschungking entsandt worden war, einen längeren Bericht per Telegramm an den Präsidenten. Inhalt in Stichworten: Tschiang Kaishek mangelt es an Tatkraft und politischer Intelligenz, er erscheint nicht als ein lohnendes Objekt für Investitionen, die sich auf die Zukunft Chinas richten. Die rotchinesischen Politiker hingegen wären potente Partner für Zukunftsinvestitionen, alles weist darauf hin, daß sie mit ihrer stärkeren politischen Anziehungskraft Tschiang Kai-shek entweder auf lange Sicht politisch ausmanövrieren oder 201
ihn militärisch zermürben, falls die USA ihn nicht massiv stützen. Dies aber erscheine im Lichte der realen Verhältnisse als Fehlinvestition. Wünschenswerte Politik für die USA wäre die Herbeiführung einer vorläufigen Einheitsfront zwischen Kuomintang und Kommunisten, aus der sich von selbst der stärkere Partner mit der Zeit durchsetzen würde. Die USA sollten kontinuierlich im Zusammenspiel mit derjenigen politischen Gruppierung bleiben, die letztlich die Oberhand behält. Die Kommunisten seien übrigens zum Eintritt in eine solche Einheitsfront, die ja theoretisch bestehe, praktisch aber infolge der Kommunisten-Phobie Tschiang Kai-sheks paralysiert sei, bereit. Voraussetzung sei, daß sie darin eine ihren Kräften entsprechende Rolle spielen können. Die Tatsache, daß Moskau seit langem eine Vereinigung der nationalen Potenzen Chinas befürwortet, sollte nicht falsch ausgelegt werden: Nach allem, was unsere Informationen aus Jenan besagen, hält Mao Tse-tung bedachtsam Distanz zu Moskau. Die USA sollten sich nicht durch das Etikett >Kommunist< irreführen lassen. Wallace weist darauf hin, daß Tschiang Kai-sheks Verhältnis zu General Stilwell, seinem >amerikanischen Stabschef, irreparabel sei. Obwohl Stilwell mit seinen Ansichten durchaus im Recht sei, wäre es ratsam, ihn abzuberufen, und zwar im Interesse der Erreichung höherer Ziele. Tschiang Kai-shek würde durch die Geste der Abberufung Stilwells genötigt sein, auf die Forderung der USA nach Kooperation mit den Kommunisten elastisch zu reagieren. Käme es zu der vorgeschlagenen >Einheitsfront< mit allen Konsequenzen, dann würde sich damit das Einflußgebiet der USA bis
zur
Mandschurei
hin
ausdehnen,
was
ein
wichtiger
Gesichtspunkt im Zusammenhang mit den dort von der UdSSR in absehbarer Zeit zu erwartenden Aktionen sei. Durch die Präsenz amerikanischer Truppen, die mit der >Einheitsfront gemeinsam 202
operieren könnten, und zwar schon vor dem verabredeten militärischen Eingreifen der UdSSR in der Mandschurei, wäre die Gefahr einer Beherrschung dieses entscheidenden Industriegebietes durch die Sowjets elegant beseitigt. Als Ersatz für Stilwell schlägt Vizepräsident Wallace den auf Ceylon stationierten Generalmajor Albert Wedemeyer vor. Zusätzlich sollte der Präsident im Zuge dieser politischen Maßnahmen sofort einen von ihm zu bestimmenden Emissär nach Tschungking senden, dessen Tätigkeit das Ziel haben müsse, den drohenden militärischen und politischen Zerfall der gegenwärtigen chinesischen Zentralregierung dadurch zu verhindern, daß er die Koalition mit den Kommunisten auch gegen den Widerstand Tschiang Kai-sheks durchsetzt. Dazu wäre es nützlich, wenn dieser Emissär selbst Kontakt zu den Kommunisten aufnähme. Sie seien aufgeschlossen, was alle Informationen aus Jenan deutlich bestätigend »Erstaunlich«, kann ich nur sagen, als ich Kang Sheng das Papier zurückgebe. Während ich dabei die politische Substanz des Informantenberichts meine, glaubt Kang Sheng offenbar, ich sei verblüfft über sein Wissen. Er lächelt verschmitzt und sagt: »Nun ja, wie Sie sehen, sind wir ganz gut unterrichtet! Es wird für Sie von Bedeutung sein, die Ansichten Ihres Vizepräsidenten zu kennen. Damit erhöht sich die Zahl, die diese Information zu lesen bekamen, auf vier.« Er faltet das Papier zusammen und steckt es wieder ein. Ich kann mir ausrechnen, wer die übrigen drei Mitwisser sind. »Was nun?« frage ich. Kang Sheng wird nachdenklich. »Es ist eine Kraftprobe zwischen Tschiang und Roosevelt. Ihr Präsident kann sie gewinnen, allerdings nur dann, wenn er uns Kommunisten vertraut und sich für eine ehrliche Zusammenarbeit mit uns entscheidet. Halten Sie 203
das für möglich?« Es ist eine Gewissensfrage. Ich glaube, daß Roosevelt in arger Bedrängnis
ist.
Gewachsene
und
stetig
genährte
Profanvorstellungen des Phänomens >Kommunismus< sind in den Vereinigten Staaten, wie ich sehr gut weiß, weit von dem entfernt, was beispielsweise hier in Jenan kommunistische Realität ist. Ich glaube eher, eine oberflächlich orientierte öffentliche Meinung, die bis tief in den Kongreß, In die Ministerien, in den gesamten Regierungsapparat hineingeht, wird dem Präsidenten die historische Entscheidung, ein sogenanntes > kommunistisches China< für die Zukunft als Verbündeten und Partner zu präsentieren, unmöglich machen. OSS und eine nicht geringe Anzahl hoher Militärs würden zwar auf seiner Seite stehen, aber trotzdem habe ich wenig Hoffnung. Als ich das Kang Sheng offen erläutere, nickt er nur. Er versteht. Und er sagt nachdenklich: »Ebensowenig Hoffnung haben wir, daß der Despot Tschiang unsere mit Hurley ausgearbeiteten Vorschläge akzeptiert. Aber wir können nur gewinnen, so oder so. Wir werden vor der Geschichte als verhandlungsbereit bis zur letzten Minute dastehen, selbst wenn wir zutiefst pessimistisch sind.« Ich habe ein ungewohntes Schlafbedürfnis. Vielleicht liegt es an dem Tumult der letzten Tage, an der Spannung, mit der mich das erfüllte, was da geschieht. So lege ich mich schlafen, in meiner immer kühler werdenden Behausung. Verschlafe die Feier, die anläßlich der Unterzeichnung des 5-Punkte-Dokuments durch Mao Tse-tung und Hurley abgehalten wird, verschlafe den Trubel des Abflugs von Hurley (angeblich ohne Indianerschrei!), verschlafe alles. Barrett rüttelt mich einmal, er fliegt mit Hurley und Tschou En-lai nach Tschungking, um bei den Verhandlungen mit Tschiang dabei zu sein. Erst Tage später stelle ich fest, daß ich Fieber habe. 204
Der Wachsoldat ruft Ma Hai-te, und der ist sofort da, behorcht und beklopft meinen Rücken, untersucht mich von Kopf bis Fuß, ordnet an, daß laufend ein Kohlenbecken in dem Raum steht, gibt mir Chinin und Sulfonamidtabletten und beruhigt mich, es sei keine Lungenentzündung, nur eine dieser Jenaner Grippen, die allerdings nicht weniger gefährlich sind, und schickt mir schließlich eine von seinen Sanitäterinnen, die Tag und Nacht bei mir Wache hält, in Decken gewickelt auf dem Fußboden schläft und die ein einziger unregelmäßiger Atemzug von mir sofort weckt. Sie sagt, sie heißt Tjing. Ist ein robustes Bauernmädchen, irgendwo in der Nähe von Sian aufgewachsen. Sie geniert sich nicht, die Konservenbüchse mit meinem Urin entgegenzunehmen und draußen zu entleeren, sie tut das mit entwaffnender Selbstverständlichkeit, ebenso wie sie mich jeden Tag mit einem in heißes Wasser getauchten Lappen abreibt und danach abtrocknet. Ich bin so schwach, daß ich kaum die Hühnerbrühe schlucken kann, die sie mir eingibt. Irgendwann besucht mich Kang Sheng, ich nehme erstaunt wahr, daß er vor Mund und Nase eine Lage Mull trägt, mit einem Bändchen am Hinterkopf verknotet. Ob er sich vor Anstekkung fürchtet? Er teilt mir mit, Mao Tse-tung habe ein freundschaftliches Schreiben an Roosevelt gerichtet, es sei ihm ebenso freundlich bestätigt worden. Freundschaft der beiden Völker, tiefverwurzelt, große Nationen, gemeinsame Anstrengungen zur Erringung des Sieges, friedliche Zusammenarbeit, all diese üblichen Formeln. Ich registriere das alles kaum, es interessiert mich nicht, ich fühle mich wie eine Leiche, die selbst noch nicht weiß, daß sie das schon ist. — Als ich wieder zu etwas klarerem Denken in der Lage bin, erfahre ich, daß Patrick Hurley mit seinen Jenaner fünf Punkten bei Tschiang selbstverständlich abgeblitzt ist. Kalte Schulter. Die fünf 205
Punkte
würden
Staatsgewalt
einer
durch
Aufgabe
die
der
Kuomintang
Ausübung
souveräner
gleichkommen.
Dem
Vernehmen nach soll Hurley ratlos gewesen sein. Vermutlich auch wütend. Tschiang nutzte die Chance, ihm ein Gegenpapier vorzulegen.
Drei
Punkte:
Eingliederung
der
bewaffneten
kommunistischen Verbände in die chinesische Nationalarmee unter dem Oberkommando Tschungkings, Zusicherung der ungehinderten Betätigung der Kommunisten, vorausgesetzt ihre Aktivitäten richten sich nicht gegen die Tschungkinger Zentralregierung, einige Reformen im Verwaltungsapparat der Kuomintang. »Lächerlich«, krächze ich, als John Service mir das bei einem Besuch mitteilt. »Damit stehen wir wieder da, wo wir zuvor standen. Zwei unvereinbare Konzepte.« Er nickt. »Du klingst noch ziemlich krank. Ruh dich aus. Wenn es eine Chance gibt, das durchzusetzen, weswegen wir überhaupt hierher gekommen sind, dann ist es die, daß wir die Öffentlichkeit zu Hause umstimmen.« Es klingt nicht sehr zuversichtlich. Ich schlafe, schlafe, schlafe. Spüre die Hände von Tjing, die kontrolliert, ob meine Stirn noch heiß ist, trinke Tee, höre dem Gebrabbel der Posten vor meiner Behausung zu, beobachte Tjing, die Tropfen irgendeines Gebräus in einen Löffel abzählt: »I ...Erh ...San ...« Das Zeug schmeckt nach Erde. Ich versuche mit Tjing zu scherzen und sage ihr, es riecht wie ein angepißter Laternenpfahl, aber sie weiß nicht, was ein Laternenpfahl ist, daher versteht sie den Scherz nicht. Vielleicht tut sie auch aus anerzogener Pietät nur so, Gott weiß es! »Ginseng!« sagt Ma Hai-te lachend, als ich ihn später nach dem Zeug frage. Er kommt regelmäßig, freut sich, daß es mir besser zu gehen beginnt. 206
»Der Saft ist Gold wert, Sid! Eine Wurzel. Sehr selten. Sehr gut für einen geschwächten Kreislauf. Manche nehmen es auch für die Potenz, haha! Deine Ration stammt aus den Vorräten des Genossen Vorsitzenden, und in der Hölle wirst du schmoren, wenn du jemals ein Wort darüber verlierst, ich habe nämlich geklaut!« Er ist, wie fast immer, guter Dinge. Aber ich spüre, daß ihn unter der Oberfläche seiner demonstrativen Heiterkeit der politische Misserfolg drückt, der aus der Hurley-Mission entstanden ist. Wie er mir verrät, liegen die Dinge weit schwieriger, als man zunächst annahm. Nicht nur, daß Stilwell heimgeschickt und durch Wedemeyer ersetzt wurde, Botschafter Gauss in Tschungking ist inzwischen durch Hurley abgelöst worden. Vor ein paar Tagen hat Mao Tse-tung zum Zeichen seiner Mißbilligung
gegenüber
Hurleys
mangelnder
Durchsetzungsfähigkeit seine beiden Unterhändler Tschou En-lai und Tung Pi-wu aus Tschungking abberufen. Er hat sich auch geweigert, auf den neuen Gegenvorschlag Hurleys und Tschiangs überhaupt einzugehen. Er habe mit Hurley ein 5-Punkte-Dokument ausgearbeitet, es sei von ihm und Hurley unterzeichnet, stelle den Standpunkt der KP-Chinas und Amerikas dar, also solle Hurley gefälligst Tschiang zur Räson bringen. Das aber schafft Hurley nicht, und nach dem, was Ma Hai-te mir mitteilt, ist es fraglich, ob er es überhaupt noch will. »Weißt du«, meint der kleine, quirlige Internationalist^ während er auf der Kante meines Schlaflagers hockt, »Hurley hatte keine Ahnung von den tatsächlichen Verhältnissen, als er nach China kam. Jenan hat ihn beeindruckt, er war wohl gutwillig, aber sobald er wieder in Tschungking war, hat Tschiang ihn in die Mangel genommen: Wer will schon gern als Kommunistenfreund dastehen! Der alte Gauner hat es geschafft, Hurley buchstäblich umzudrehen. 207
Hurley ist so weit, daß auch er heute die einzige Lösung des ChinaProblems darin sieht, daß wir unsere Truppen dem Kommando Tschiangs unterstellen. Und das wäre unser eigener Selbstmord ...« Es ist eine Variante des alten Tauziehens, was da abläuft, und ich, da ich an diesem offenen politischen Geplänkel nicht beteiligt bin, beobachte es gewissermaßen aus der Distanz. Dabei allerdings verstärkt sich meine Skepsis. »Trink was«, rät mir Ma Hai-te, nachdem er Tjing für die Zubereitung eines Tees gelobt hat. Er ist überhaupt stolz auf sie, weil er sie selbst ausgebildet hat. Ich trinke Tee, überlege mir, ob ich eine Zigarette riskieren soll, Tjing hantiert mit ein paar Eiern, die Ma Hai-te mitgebracht hat, und dann höre ich plötzlich draußen Barrett mit dem Posten sprechen. Der Colonel war von Tschungking nach Kunming geflogen, jetzt erscheint er im Eingang, muß sich bücken, grinst breit, sagt: »Hallo, fröhliche Weihnachten!« Und dann zerrt er mit Hilfe des Postens eine umfängliche Kiste herein, tippt an seinen Tropenhelm und lacht. Es ist noch etwas Zeit bis Weihnachten, aber Holly hat offenbar Sorge, daß es mir nicht sehr gut geht, und er hat in seine Reserven gegriffen. Barrett bleibt nicht lange. Er trinkt nur hastig eine Tasse Tee, läßt dabei die Bemerkung fallen, die Dinge stünden lausig, alles gehe drunter und drüber, er müsse sogleich mit Tschou En-lai konferieren, dann verabschiedet er sich, nicht ohne mir die Post von Holly kommentarlos in die Hand zu drücken. Ich bin noch zu schwach, die Kiste zu öffnen. Aber Ma Hai-te und Tjing schaffen es spielend mit Hilfe eines Seitengewehres, das sie sich vom Posten ausleihen. Die nächste Stunde verbringen wir damit, süße Keks und Früchtekonserven zu naschen, Luckies zu rauchen, Schokolade zu lutschen und Tjing beizubringen, daß man 208
saure Drops nicht zerbeißt, sondern langsam im Munde zergehen läßt: sie hat nie im Leben Bonbons gesehen! »Dafür weiß sie, was Bakterien sind und wie man einen Verband anlegt oder wieviel Tropfen Opiumtinktur man jemandem bei Dysenterie geben kann, ohne ihn umzubringen!« Ma Hai-te lacht gemütlich. Es macht ihm Spaß, sich den PX-Segen, den Holly mir geschickt hat, immer wieder anzusehen, er liest jedes Etikett, als handle es sich um wissenschaftliche Abhandlungen. Holly hat mir aus Gründen, die ich erst beim Lesen seiner Post begreife, ein paar kleine Geschenke für Freunde in Jenan mitgeschickt: billige Uhren, Füllfederhalter, Taschenlampen und winzige Pistölchen vom Kaliber 6,35 samt Munition. Ich schenke Ma Hai-te eines dieser kleinen Schießwerkzeuge, die bequem in der Brusttasche zu tragen sind, und er ist überglücklich. Eine Uhr besitzt er, aber einen Füllfederhalter nimmt er mit Freuden. Tjing weigert sich, als ich ihr eine der Uhren in die Hand lege. Sie braucht nicht zu wissen, wie spät es ist, meint sie. Das Tageslicht ist ihr Zeitmaß, im Zweifelsfall, beispielsweise bei der Essenausgabe, gibt es ein Signal. Ma Hai-te macht mich grinsend aufmerksam, daß es ihr natürlich nicht gestattet ist, von Ausländern Geschenke anzunehmen, das könnte ihr einen sehr schlechten Ruf eintragen. So rettet er die Situation dadurch, daß er ihr erklärt, wie sie mit Hilfe des Sekundenzeigers der Uhr von nun an die Pulsfrequenz bei Kranken sicherer messen könne. Er weist sie an, die Uhr ausschließlich zu diesem Zweck zu benutzen und sie im übrigen nicht als Geschenk, sondern als von den Verbündeten übergebenes Instrument zur Verbesserung der medizinischen Versorgung der roten Truppen zu betrachten. Als er sie dazu noch aufmerksam macht, jeder Schaden daran würde ihr als mangelnde Sorgfalt im Umgang mit Volksbesitz ausgelegt werden, ändert sich 209
ihre Haltung sofort, sie steckt das 3-Dollar-Stück von Sears & Roebuck, nachdem sie es in einen Lappen gewickelt hat, folgsam ein. »Du mußt noch viel lernen, bei uns!« zieht Ma Hai-te mich auf. Dann drückt er dem Mädchen auch noch einen der mitgekommenen Drehbleistifte in die Hand, und sie nimmt ihn, weil er ihr befiehlt: »Du schreibst damit jeden Tag zehn Schriftzeichen auf, oder einen zusammenhängenden Satz. Ich kontrolliere das immer am Abend. Wenn du einen Tag faul bist, bekommt den Stift eine andere Genossin!« Er akzeptiert eine Flasche in Indien produzierten Whiskys, dann bricht er auf. Ich erhole mich langsam, aber stetig. Der Rest der Geschenke landet bei Kang Sheng, Tso Wen und einigen anderen Bekannten. Zum Schluß bleiben mir eine Menge Süßigkeiten, Kaugummi, Lebensmittelkonserven, einschließlich einer Büchse Truthahn, die Holly wohl als Weihnachtsgeschenk gedacht hat. Und da ist Hollys Mitteilung, die ich lese, nachdem ich mit meiner Ölfunzel und den beiden glühenden Kohlebecken, zwischen denen Tjing eingerollt schläft, allein bin ...
An Violet 14.12.1944 Hurley-Mission gescheitert. OSS verfolgt Kontakterhaltung unter veränderten Bedingungen. Kang Sheng informieren: OSS hat Möglichkeit, eigenen Stütz210
punkt in Sian aufzubauen. Vorarbeiten laufen. Kontakt Sian-Jenan vorgesehen. Kurierflugzeug nimmt dich ab 15. Februar 1945 von Jenan mit. Zwischenlandung in Sian. Dort weiteres. Holly
März/April 1945 Ich sitze in der unangenehm schaukelnden Dakota, die auf dem kleinen Flugplatz von Sian landet. Hier lag Changan, die glanzvolle Hauptstadt des Tang-Reiches. Wir rollen noch auf der dürftigen Piste, und ich muß mich, zwischen Postsäcken und Kisten eingepfercht, festklammern, um nicht nach hinten zu rutschen, als der Schwanz der Maschine sich senkt, da erscheint schon der Funker aus dem Cockpit, einer dieser lässigen Jungens, denen eine Luftfahrt der gehabten Art längst zur Routine geworden ist. Er hält sich an einer Schlaufe fest und ruft uns zu: »Los, raus! Wir haben zwei Minuten!« Kaum stehen wir, da reißt er das Schott auf, die Eisentreppe klappt herab, und ich klettere hinunter. Hier werde ich unsanft beiseite geschoben, zwei Jungens in Steppjacken klettern hinauf, zerren mein Gepäck herab, schleppen es zu einem Jeep, und dann ist die Luke auch schon wieder dicht, die Motoren der Dakota heulen auf, die Maschine wendet, rollt an, beginnt nach einigen hundert Metern sich in die Luft zu erheben. Das alles ist so schnell gegangen, daß ich erst zur Besinnung komme, als plötzlich Holly neben mir steht, mir kräftig auf die Schulter schlägt und mich anruft: »Hier ist die Musik, alter Knabe! Alles O.K.?« Wir haben uns ausgiebig begrüßt, bevor wir in den Jeep kletter211
ten. Holly hielt sich schon einige Tage hier auf, und bei ihm ist John P. Davies, der ebenfalls von Kunming kam und hier eine Weile bleiben will, bevor er nochmals zu >Dixie< nach Jenan fliegt. Davies ist ebenfalls einer von den State-Department-Leuten, die man zu Recht >Old China Hands< nennt. Er war vor dem Krieg Vizekonsul der Vereinigten Staaten in Mukden, der Hauptstadt jenes japanischen Pseudostaates von japanischen Gnaden, an dessen Spitze die Politiker des Tenno einen Prinzen gesetzt haben, einen der letzten Sprösslinge der Tjing: Aisin-Gioro Pu Yi. Ich schätze sein Alter jetzt auf nicht ganz vierzig Jahre. Vermutlich versprechen sich die Japaner dadurch, daß sie diesen Abkömmling der mandschurischen Dynastie feierlich auf den Thron setzten, ein leichteres Regieren der Mandschurei, zumal Pu Yi nicht die geringste eigene Entscheidungsmöglichkeit hat, sondern nur folgsam die japanischen Weisungen ausführt. Es ist still geworden um diesen fürstlichen Kollaborateur, aber ich kenne seine Geschichte aus Erzählungen von Davies, der sogar die Ehre hatte, von ihm in Privataudienz empfangen zu werden. Wie er uns an einem der langen Abende in Jenan einmal unter dem schallenden Gelächter Tschu Tehs und Tschou En-lais erzählte, hatte sich ihm Pu Yi als ein ziemlich eitler Fatzke präsentiert, kurzsichtig durch seine Brillengläser blinzelnd, nach Parfüm duftend, mit dem Wunsch, daß er über das aus Gründen der taktischen Präsenz eingerichtete US-Konsulat nun endlich regelmäßig die Zeitschrift >Esquire< beziehen könnte. Aber — ich schweife ab, nur weil ich mich an Davies, an einen Mann erinnere, der in >Dixie< ebenso wie Service den entscheidenden Schritt zur behutsamen Ausweitung unseres Einflusses bis an die sowjetische Grenze erblickt, was in seiner Sicht unserer AsienPolitik in der Zukunft ein Gewicht verleihen könnte, das sie nie zu212
vor gehabt hat. Davies hatte, wenn er nicht in Jenan war, viele Gesinnungsfreunde aufgesucht und sich mit ihnen über die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den Kommunisten in Jenan unterhalten. Was dabei herausgekommen ist, weiß ich nicht genau, Davies selbst scheint nicht sehr zuversichtlich zu sein. Zunächst fuhren wir mit Holly auf einem einigermaßen glatten Weg ostwärts. »Sian«, sagte Holly schmunzelnd, »wirst du später sehen. Viel später vielleicht. Wir haben Weisung, uns in der Stadt nicht blicken zu lassen. Bleiben ein wenig unter uns ...« Der Fahrer, ein junger GI, spuckte ungeniert seinen Kaugummi aus dem Seitenfenster und schob sein Käppi noch etwas weiter in Genick. US-Army gerade an der Stelle der Kuomintang->FrontCamp 7< nannte: ein weitläufiges, ummauertes Anwesen mit einer Unzahl von ebenerdigen Behausungen, die fast an
amerikanischen
Bungalow-Stil
erinnerten,
sauber,
mit
blinkenden Fensterscheiben und qualmenden Schornsteinen, dazu Höfe und Ställe, eine seltsam amerikanisch anmutende Kirche mit Turm und Glocke und chinesische >BoysKantine< auf, und plötzlich rieche ich all das, was man in jeder GI-Kantine zwischen San Francisco und Kalkutta riechen kann, den Duft von gebratenem Fleisch und den von pulvergemachter Soße, Essig und Vanillepudding, Virginiatabak und Desinfektionsmittel. »Wie denkst du über ein Steak?« Holly grinst. Der Küchenchef steht abwartend da, ein echter Army-Küchenbulle, etwas fett, mit weißer Mütze. »0. K. Steak«, sagt er lakonisch. Und Holly fügt hinzu: »Mit allem, was ihr habt. Pilze und Gemüse, Gänsekleinsuppe zuvor, Eiscreme danach, einschließlich Bier.« Es ist in Sian gebrautes Bier, aber es schmeckt trotzdem wie das feinste Schlitz. Und es ist eine Suppe, nach der ich eigentlich kapitulieren möchte, aber danach kommt erst das Steak, dessen blutiger Kern auf der Zunge zergeht, so exakt hat der Koch die Zeit eingehalten. Wie es scheint, bin ich heimgekehrt, in Uncle Sams weit ausgebreitete Arme. »Iß!« fordert mich Holly auf. »Danach kannst du schlafen, solange du willst. Auf deinem Zimmer wird Whisky sein und ein Eisbehälter. Mit einer Klingel kannst du den Boy rufen. Erst wenn du wieder ein Mensch bist, wirst du hier Aufgaben erfüllen. Inzwischen werde ich dich ein bißchen ins Bild setzen ...« Ich schlürfe, kaue, schmatze, während Holly mir in der leeren Kantine knapp und präzise mitteilt, was ich als erstes wissen muß. >Camp 7< ist ein Anwesen, das der amerikanischen 7. Day Adventist Mission gehört, einer jener von uns scherzhaft zuweilen »Intensivkirche< genannten Glaubensgemeinschaften, die hier seit vielen Jahren missionieren. OSS-Kunming hat im Einvernehmen mit dem Chefpriester der Mission gegen entsprechendes Entgelt 215
hier einen Stützpunkt eingerichtet, für Training und Leitarbeit. Ausgesuchte Leute werden in >Camp 7< für den KommandoEinsatz
in
Nord-
und
Nordostchina
vorbereitet,
also
für
Unternehmungen im Okkupationsgebiet der Japaner, vorwiegend in der Mandschurei. Spezialisten, vom todsicheren Scharfschützen über den Funker bis zum Sprengtechniker, Männer mit chinesischen und japanischen Sprachkenntnissen, vorgeschult in der Kunst des Überlebens, des Versteckens, der Improvisation. Das Ziel ist die Durchdringung des japanischen Machtbereiches vor dem Zeitpunkt des japanischen Zusammenbruchs, den Holly als unvermeidlich bevorstehend bezeichnet. Ich habe die Aufgabe, Informationen über die Jenaner Kommunisten zu vermitteln, Kenntnisse über ihre Operationsweise, über Eigenarten ihrer Reaktion auf Ausländer, über ihre spezifische Psyche. Bei den Planungen ist der Gedanke vorherrschend, daß die Sowjets vermutlich in Kürze in den Krieg in Fernost eingreifen. Theoretisch haben sie keinerlei Ansprüche auf Gebiete, die jetzt japanisch okkupiert sind, werden auch keine geltend machen. Aber unsere Operationen sollen unsere Präsenz in dem voraussichtlich von ihnen eroberten Gebiet sichern, unsere Leute sollen dort anwesend sein, um später mitwirken zu können, daß die Gebiete nach und nach von Kuomintang-Truppen in Besitz genommen werden und die Sowjets sich zurückziehen. Eine hochinteressante Konstellation: wenn die Mandschurei Tschiang zufällt, könnten wir in Aufrechterhaltung des alten Bündnisses auf diese Weise in unmittelbarer Nähe der sowjetischen Fernostgrenze Stützpunkte haben. Was aber geschieht, wenn uns die Jenaner Kommunisten zuvorkommen? Ich neige zu dieser Ansicht, aus allem, was ich in Jenan darüber erfahren konnte. Mao wird zweifellos seine Chance nutzen, er stellt jetzt bereits die Weichen, indem er angeblich sein Verhältnis zu den Sowjets bessert. Wo 216
stehen wir dann? Helfen wir Tschiang in dem Bürgerkrieg, der in diesem Falle unvermeidlich ist? Oder helfen wir Mao? Oder — bleiben wir neutral und ziehen uns zurück? Für mich gibt es nur diese drei Möglichkeiten. »Sag mir eins«, bitte ich Holly, »ist Dixie gescheitert!« Er nickt. »Es ist aus. Wir bauen das Engagement da oben nach und nach ab.« »Ich werde die Leute also nicht mehr wiedersehen?« Er wiegt den Kopf. »Du wirst. Aber anders, als wir uns das noch vor Monaten dachten.« Dann holt er aus und schildert mir die Situation. Roosevelt mußte Stilwell zurückziehen, um nicht auf dem Höhepunkt der Wahl noch einen außenpolitischen Skandal zu riskieren, außerdem hatte Tschiang sich dafür im Kongreß stark gemacht, und nach und nach ist sogar Hurley auf seine Position eingeschwenkt. Jetzt ist er Botschafter in Tschungking, betreibt eine Politik der >unabdingbaren Zusammenarbeit mit Tschiang. Damit ist jede unmittelbare Kooperation zwischen den USA und jenan auf absehbare Zeit zur Illusion geworden. Aber nicht nur aus diesem Grunde. Inzwischen hat sich an der Gesamtlage einiges verschoben. Die Sowjets sind von uns fraglos unterschätzt worden. In einem beispiellosen Tempo haben sie Hitlers Truppen buchstäblich zusammengedroschen und stehen vor Berlin, keine Frage, daß sie es einnehmen, mit Hitler, der angeblich dort in einem Bunker sitzt. Und sie werden weiter vorstoßen, westwärts. Beobachter melden, daß ihre Operationsfähigkeit sprunghaft anwächst. Wenn es noch vor Jahren so aussah, als ob die Sowjets sich an diesem Krieg auf Jahrzehnte hinaus zermürben würden, so ist das Gegenteil eingetreten, sie haben an Kraft zugenommen. Das wird sich in der Weltsituation nach dem Krieg auswirken, man kann es jetzt bereits absehen. Wir haben damit zu rechnen, daß sich der sowjetische Einfluß bis weit nach Mitteleuropa hinein ausweitet. Und wir 217
können sicher sein, daß die Sowjets entschlossen sind, mit den Japanern in der Mandschurei kurzen Prozeß zu machen. Danach aber sähe das Bild der Kräfteverteilung für uns äußerst ungünstig aus: die Sowjets im Norden, zweifellos vereint mit den Jenaner Kommunisten, und dagegen eine morsche Kuomintang, die früher oder später zusammenfallen wird, falls wir nicht eingreifen. Ich begreife, daß es hier gar nicht mehr so sehr um die Japaner geht, die hat man bei uns so gut wie abgeschrieben: es geht darum, ob das China, das aus den Wirren des jetzigen Krieges und aus dem, was noch folgt, als kommunistischer Staat hervorgeht oder nicht. Wobei OSS zweifellos am frühesten begriffen hatte, daß man mit Hilfe der Männer in Jenan auch in diesem Falle die Hand im Teig behalten könnte. Aber die Politiker daheim haben offenbar anders entschieden, für sie ist selbst das Wort >Kommunismus< schon eine Blasphemie, sie denken nicht mehr in taktischen Kategorien, halten es für unmöglich, daß eine freiheitliche Macht wie Amerika sich aus geostrategischen Gründen selbst mit dem Teufel verbünden muß, sofern dieser Teufel eine weiche Stelle für die USA hat. Holly bestätigt meine Gedanken. Er fügt hinzu, daß General Wedemeyer,
der
Nachfolger
Stilwells
als
amerikanischer
Oberkommandierender in China-Burma-Indien, inzwischen im Fahrwasser Hurleys läuft, der seine Politik auf der Grundlage der neuen
Überlegungen
macht.
Allerdings
gibt
es
zwischen
Wedemeyer und unserem Chef Donovan ein stillschweigendes Einverständnis, die Kontakte zu den Kommunisten nicht abrupt abzubrechen. Sie sollen gewissermaßen >eingefroren< werden, und OSS hat nun sogenannte Kommando-Aufgaben Sian-Zwischenfall< nennt oder auch >die rote Meuterei von Sian< Vor knapp zehn Jahren, als einige von Tschiangs Generälen ihren Chef an die Kommunisten auslieferten, ließen diese ihn wieder laufen, nachdem er allerdings versprochen hatte, künftig eine nationale Politik zu betreiben. Kellis, der sich, während ich erzählte, gelegentlich vor Lachen gekrümmt hatte, schüttelte den Kopf und meinte: »Junge, du solltest das professionell betreiben, die Leute würden deine Geschichten verschlingen: zuerst eine Kurtisane am Strick, dann ein gebißloser Generalissimus in Unterhosen als Gefangener der Kommunisten!« 242
Er lachte, bis eine Staubfahne in einiger Entfernung den Jeep ankündigte, der uns abholte. Nach weiteren fünf Übungssprüngen, drei davon bei Nacht, sagte mir Kellis, daß er nun sicher sei, ich werde alles, was vor uns liegt, mit Bravour hinter mich bringen. Eines Abends erscheint Holly in meinem Zimmer. »An der Wache ist ein Bursche aus Jenan. Mit einer persönlichen Botschaft für dich. Ohne Waffe.« »Aus Jenan?« frage ich verblüfft. »Du solltest ihn empfangen, er sagt, es dauert nur ein paar Minuten und ist wichtig. Soll ich vorsichtshalber einen Posten vor die Tür stellen?« Ich schüttle den Kopf. »Bring ihn herein!« Es geschieht etwas Seltsames. Der Bursche ist einigermaßen adrett gekleidet, könnte sich in Sian ohne weiteres sehen lassen. Ich kenne ihn nicht, aber er scheint mich zu kennen, denn er begrüßt mich sehr erleichtert. Dann trennt er das Futter seiner Jacke ein Stück auf und zieht ein Blatt Papier hervor, das mit chinesischen Schriftzeichen bedeckt ist. Als ich schon die Hand ausstrecke, lächelt er verlegen. »Ich habe den Auftrag, es Ihnen zu verlesen, Mister Robbins. Ich habe das da selbst geschrieben, nach Diktat. Wollen Sie es hören?« Als ich verwundert nicke, beginnt er: »Meine Botschaft an Sie, Mister Robbins, lautet: Bleiben Sie persönlich mit uns in Kontakt, egal, was in den nächsten Monaten geschehen sollte. Wir sind Freunde, und unsere Zukunft hat viele Tage. Das gilt auch für Ihre Vorgesetzten, sofern sie ebenfalls unsere Freunde sind. Mag das Meer auch weit sein, immer werden sich Schiffe begegnen. In Freundschaft, Kang Sheng.« Während ich das überdenke, fragt der Bote, ob ich alles verstan243
den habe, und als ich etwas zerstreut nicke, hält er ein Feuerzeug an die Botschaft, läßt sie in Sekundenschnelle zu Asche verbrennen. Ich erkenne in dem Feuerzeug eines jener billigen Dinger wieder, die Holly mir mit seiner >Weihnachtskiste< schickte und die ich in Jenan verschenkte. »Möchten Sie mir eine Antwort diktieren?« Wie durch Zauberei hat der Bote Papier und Füllfeder in der Hand. Ich zögere nicht. Holly brauche ich nicht zu fragen, ich weiß, daß auch er für weitere Kontakte ist. Also diktiere ich, mich unbewußt dem Stil Kang Shengs anpassend: »Meine Botschaft an Sie, Mister Kang Sheng, lautet: Ich werde immer für Kontakte zur Verfügung stehen. Jedenfalls solange Sie und meine Vorgesetzten das wünschen. Unsere Zukunft wird viele Tage brauchen, um uns ans Ziel zu bringen. In Freundschaft, Sidney B. Robbins.« Ich bringe den Kurier selbst durch die Wache. Eine seltsame Art, miteinander Botschaften auszutauschen, aber in China ist nichts wirklich seltsam, alles ist bedingt. Als ich Holly berichte, atmet er erleichtert auf. »Wir haben auf ein solches Zeichen gewartet, Sid. Absolutes Schweigen deinerseits. Den Rest wird die Zeit erweisen, die vor uns liegt.« Eine Woche danach werde ich durch >George< zum Major befördert. Eine Feier findet nicht statt. Dafür teilt mir > George < mit, daß Holly mir in etwa einer Stunde meinen Marschbefehl erteilen werde. Er drückt mir die Hand, wünscht mir alles Gute und gesunde Heimkehr. Heimkehr — wohin? Die Zeremonie bei Holly geht leger vor sich. Er kommt in mein Zimmer, ein Blatt Papier in der Hand und sagt vorweg: »Junge, das ist alles, was ich dir offiziell mitteilen darf. Aber — sei beruhigt, es geht auf der Linie weiter, die wir eingeschlagen haben. Ich habe nur 244
eine Frage und bitte dich, ehrlich zu antworten: Würdest du es weitere Jahre in China aushalten?« »Kannst du nicht mal was fragen, worauf ich noch nicht geantwortet habe?« »Das heißt ja?« »Ja!« »Viele Jahre?« »Meinetwegen auch viele Jahre. Es müssen ja nicht gerade immer Höhlen sein!« Er grinst. Dann beginnt er zu lesen, wobei ich, mehr aus Gewohnheit, straffe Haltung annehme: »Major Sidney B. Robbins erhält den Befehl, als Übersetzer in besonderer Mission dem Kommando K. anzugehören. Kommando K. wird von Major James Kellis geführt, seine Befehle gelten in jedem Falle. Kommando K. wird 24 Stunden nach Ausgabe dieses Marschbefehls an seinen Einsatzort verlegt. Unterschrift.« »Das ist alles?« »Das ist alles«, bestätigt Holly.
Vom Adlergipfel zur Ping Tjiao Hutung Juli 1945 Während ich an meinem Fallschirm hing, machte ich unten am Boden drei kleine Lichter aus, die abwechselnd aufblinkten und verloschen. Es war Nacht, mondlos, aber sternenklar. Hochsommer, mit einer trockenen, seltsam würzigen Luft, ohne den geringsten 245
Windhauch. Wenn ich ein geübter Springer gewesen wäre, hätte ich den Schirm jetzt mit Hilfe der Leinen manövrieren können, hin zu dem Dreieck, das die Lichter mit ihrem unsteten Blinken bildeten, aber ich war ein Amateur, und ich hatte Bedenken, an einer der Leinen zu ziehen: Der Schirm könnte unstabil werden und das wäre das Ende gewesen. So ließ ich mich treiben. Bald erkannte ich unter mir das gebirgige, scheinbar kaum besiedelte Terrain genauer. Es gab Wald, Felswände, dazwischen flache Stücke, auf denen ich Wege auszumachen glaubte. Ich schwebte auf eine dieser ebenen Flächen zu, die von einzelnen Nadelbäumen und Gebüschen bestanden war. Ein paar Sekunden vor dem Aufkommen wußte ich, daß alles normal verlaufen würde, es gab kein gefährliches Hindernis weit und breit, keine elektrische Leitung, keinen hohen Baum, keine schartigen Felskanten. Ich landete wie in einem Kessel, der ringsum von Hügeln eingerahmt ist, konnte schnell den Schirm bergen und tat dann das, was mir Kellis geraten hatte, ich kroch hundert Meter weiter, setzte mich still auf den Boden und wartete. Eine mir unendlich scheinende Zeit verging. Aber dann waren sie ganz plötzlich da. Ich hörte dort, wo mein Fallschirm lag, ein Geräusch, hob meine Thompson, doch da kam schon der halblaute Ruf: »Mister Robbins!« Er jagte mir in Sekundenbruchteilen mehrere Gedanken durch den Kopf: Kein GI, auch nicht Kellis, würde mich mit >Mister Robbins< anrufen! Die rufende Stimme war auch nicht die eines Amerikaners, sie hatte einen unverkennbaren Akzent. Ich verhielt mich still, ließ den Mann dreimal rufen, lockte ihn dadurch schließlich aus seiner Dekkung, nicht ihn allein, sondern auch seine beiden Begleiter. Es war, wie ich im Ungewissen Sternenlicht gerade noch erkennen konnte, 246
eine große, hagere Gestalt in Zivilkleidung, mit Brille, und hinter ihm — endlich — erkannte ich zwei Burschen in derselben Uniform, wie ich sie trug. »Mister Robbins!« rief die Stimme nochmals, den Anfangsbuchstaben meines Namens auf jene unverwechselbar chinesische Weise aussprechend, die eher an ein >L< erinnerte als an ein >RGeiergipfelVilla< geschickt, während ein Dutzend anderer roter Guerillas schon die Behälter mit unserer Ausrüstung barg und hinaufschaffte, wofür Kellis ihnen großzügig die Fallschirme schenkte, die sie angeblich zu Moskitonetzen verarbeiten wollten. Hinter Kellis 251
erscheint ein junger Soldat, der sich höflich als Vic Maloney vorstellt und hinzufügt, er sei der Funker des Kommandos K. Man stehe mit Sian in Verbindung, die Meldung von unserer Landung sei bereits abgesetzt. Chang Wen hält mir die Hand hin. »Wir werden uns morgen sehen, Mister Robbins. Jetzt muß ich zu meiner Abteilung.« Dann sind wir allein. Kellis schließt die Tür, die ohnehin nur aus einem Rahmen mit Moskitodraht besteht. Dieser aber ist, wie auch die Fenster, mit Papier beklebt, damit kein Lichtschimmer nach draußen dringen kann. Es gibt nur Armeelampen, das Haus hat keinen
Stromanschluss.
Wir
brennen
in
der
geräumigen
Empfangshalle ein paar der Ölfunzeln an, mit denen die GIs gewöhnlich ihre Bunker beleuchten, wir erkennen Rohrsessel, Tische, einen Kamin, eine gediegene, gepflegte Einrichtung, die mich zu der Frage veranlaßt, wer um Himmels willen denn hier gehaust habe, in diesem Bergparadies, das sogar für jeden von uns ein eigenes Zimmer hat und ein Bad, in dem man das Quellwasser, das draußen vorbeifließt, mit einem sinnreich konstruierten Ofen erwärmen kann. »Millionär«, sagt Kellis lakonisch. »Export von Tee, Nudeln und Sojasoße in alle Länder Asiens. Eine Bank hat ihm auch gehört, oder wenigstens ein Teil davon. Er ist vor den Japanern ausgerissen. Die haben das Haus dann als Erholungsquartier für den Chef der Pekinger Garnison benutzt. Gelber Mann mit gelbem Fräulein am Wochenende, so etwa. Er traut sich nicht mehr hierher, seitdem es Chang Wen und seine Leute gibt. Tja, diese Japse sind nicht mehr ganz das, was sie über Pearl Harbor noch waren ...« Dann wird er ernst, er weist uns an, in den Sesseln sitzend die Order entgegenzunehmen, die das Kommando K. auf den Weg mitbekam. Er liest sie vor, nachdem jeder von uns ein Glas Whisky 252
in der Hand hält und — außer Kamasuki — eine Zigarette angebrannt hat. Eine seltsame Art des Befehlsempfanges, aber die Army überrascht einen immer wieder. Wie es scheint, sind wir an einem Ort angekommen, der zwar einsam liegt, uns aber keine großen Entbehrungen abfordern wird. Es ist eine Idylle mitten in dem langsam ausbrennenden Krieg. Die Japaner könnten unseren Funkverkehr zwar abhören, vermutlich wären sie auch noch in der Lage, unseren Standort zu bestimmen, aber wir wissen, daß sie nicht mehr die Kraft haben, uns anzugreifen. In den letzten Wochen haben sie, in Erwartung des sowjetischen Eingreifens, immer mehr Truppen aus dem Hinterland in die Mandschurei abziehen müssen. >Das Adlernest< taufe ich insgeheim unseren Stützpunkt. Ringsum wimmelt es von roten Guerillas. Sie haben Befehl, uns Hilfe zu leisten. Vor allem schirmen sie uns gegen Überraschungen jeder Art ab. Über den Befehl, den Kellis uns vorliest, gibt es keine langen Debatten. Er trägt uns im Grunde nichts weiter auf, als hier zu liegen, unsere Chance abzuwarten und dann die Höhle des japanischen Löwen in China gewissermaßen zu einem Käfig für ihn zu machen ...Befehl Kommando K., geführt von Major James Kellis, bezieht Quartier an dem dafür vorgesehenen Platz. Bis zum Eintreffen neuer Befehle verhält sich das Kommando ruhig und verläßt seine Basis nicht. Während dieser Zeit macht sich das Kommando mit den geografischen und topografischen Gegebenheiten des Gebietes Peking vertraut. Das Kommando muß spätestens zwei Wochen nach seinem Eintreffen am Bestimmungsort die Bedingungen dafür geschaffen haben,
daß
es
binnen
fünf
Stunden
nach
Erhalt
eines
entsprechenden Befehls das Zentrum der Stadt erreichen kann. Über 253
die Art und Weise, in der das zu geschehen hat, entscheidet Major Kellis nach Empfang des per Funk erfolgenden Zeichens. Funkkontakt: Empfang von 12 bis 14 Uhr, tägl. Sendung von 0 bis 2 Uhr, tägl. In Sonderfällen jederzeit: Frequenz K-47,4
1.8.1945 Trägheit. Gedanken an das einzige, was in diesem Paradies fehlt: ein paar Mädchen. Tagsüber sitzen wir in der Sonne des heißen Kontinentalsommers, wir trinken Limonade, die Ted Osborne aus Army-Zitronenpulver und eiskaltem Quellwasser mixt, Maloney und Kamasuki spielen Black Jack. Wenn Maloney an seinem Radio sitzt
und
in
die
Welt
hinaushorcht,
spielt
Kamasuki
Mundharmonika. Kellis stöbert in den Buchbeständen des ehemaligen Besitzers der Villa, macht mich auf englische Ausgaben aufmerksam und vergräbt sich schließlich in die Lektüre von Hudsons > Green MansionsCaravanGeierbäumeVaterland< bezeichnen. Nein, es ist ein Anliegen, das tief in mir wurzelt. — Eines Nachts bekommen wir, nach vorheriger Ankündigung über Funk, einen Nachschubabwurf. Kamasuki klettert hinunter in die Siedlung am Kuanyin-Tempel, wo die roten Guerillas ihr Stabsquartier haben. Wie schon vorher, werden sie uns bei der Bergung der Behälter helfen. Holly hat in seinem Funkspruch versteckt mitgeteilt, daß die Behälter einiges enthalten, das für die Guerillas bestimmt ist. In dieser Nacht sind wir mit Ausnahme des Funkers alle unterwegs. Die Maschine zieht einen Kreis, dann purzeln die Güter für uns herab. Zum Glück haben die Abwerfer Routine genug, um sie so zu plazieren, daß wir nicht allzu lange suchen müssen. In weniger als zwei Stunden haben wir das Zeug auf dem Gipfel: neue Batterien für Funkgerät und Radio, Lebensmittel, Zeitungen, einen Berg Waffen. Ich suche daraus einiges zusammen, was wir den roten Guerillas übergeben. Zielfernrohrgewehre, schwere Revolver, Thompsons. Gegen Mittag, als Chang Wen das alles mit einem Trupp abholt, habe ich Gelegenheit, endlich einmal ausführlich mit ihm zu reden. Er läßt seine Guerillas mit den Waffen abziehen, dankt mir mehrmals für die Thompson, die ich ihm persönlich geschenkt habe, und dann sitzen wir auf der Veranda, bei einem kühlen Getränk, und können Rückschau halten. Ich will vor allem wissen, wie es zu seiner Freilassung gekommen ist, und ich bin überrascht, als er mir 256
berichtet, er sei nicht freigelassen worden, sondern geflohen. »Lange nachdem Sie damals das Gespräch mit mir hatten, Mister Robbins, hat man ganz plötzlich einige Leute aus der Haft entlassen«, erzählt er, und ich erinnere mich wieder an die Mitteilung von Kang Sheng in Jenan über diese seltsame Anwandlung von Tschiang Kai-sheks Gerichtsbarkeit. »Allerdings«, so fährt er fort, »waren diese Entlassungen gezielt. Ich saß damals noch im > Weißen HausBewußtsein< mußte wohl mehr beinhalten, als uns in den Seminaren von OSS gelehrt worden war. Chang Wen hielt mich wohl, besonders nachdem ich lange in Jenan gewesen war, für so etwas wie einen amerikanischen Sympathisanten des Kommunismus in Militäruniform. 259
»Sehen Sie«, erklärte er mir ruhig, »ich bin weiter nichts als ein Arbeiter aus Shanghai. Ich bin als sehr junger Bursche zur Revolution gekommen, habe in der Fabrik, in der ich arbeitete, Streiks organisiert, habe Leute versteckt gehalten, hungernden Kindern von Genossen meinen Reis gegeben. Und dabei habe ich begonnen, auch Bücher zu lesen. Shanghai war ein Zentrum der Revolution. Eine Exilrussin, die in der französischen Konzession auf den Strich ging, lehrte mich das kyrillische Alphabet. Zuerst das. Dann übte sie mit mir diese fremde Sprache, solange, bis ich die Broschüren lesen konnte, die aus Moskau zu uns geschmuggelt wurden. Sie sagte, ich sei eine Sprachbegabung, es machte ihr Spaß, mit mir an den Vormittagen zu arbeiten, wenn ich Nachtschicht hatte. Dabei konnte ich ihr nichts bezahlen, ich versah lediglich die Tür ihrer Kammer mit massiven Eisenriegeln, auch die Fenster, damit sie sich sicher fühlen konnte. So eigenartig sind manchmal die Wege von Menschen ...« »Waren es die russischen Texte, die Sie zum Kommunisten machten?« Er schüttelt den Kopf. »Worte allein bewegen nichts, Mister Robbins. Es war der Hunger, der mich zum Rebellen machte. Die Erkenntnis, daß meine Freunde in der Fabrik auch hungerten, drängte uns zum Zusammenschluß. Was die russischen Texte betraf, so gaben sie uns die Zuversicht, daß es sich lohnte, für die Befreiung zu kämpfen. Die Russen hatten das geschafft, sie hatten gesiegt. Sie lehrten uns, daß die Welt erst dann wirklich gerecht sein wird, wenn Arbeiter sie regieren.« »Oder Bauern«, versuche ich, seine Meinung weiter zu erforschen, denn ich hatte in Jenan die Chance, von Mao Tse-tung selbst zu erfahren, wie er die Prioritäten setzte. Chang Wen sagt nur: »Beide sind in China arm. Da gibt es keinen Unterschied. Nur in 260
der Zahl, da sind die Bauern stärker. Wahrscheinlich noch für lange Zeit. Meine Gruppe da unten am Tempel besteht aus Bauern. Ich führe sie. Wir fragen einander nicht, ob der eine Schweißen gelernt hat oder der andere Reis pflanzen kann und sonst nichts. Bei uns sind sogar einige ehemalige Soldaten, die unter dem Verräter Wang Tsching-wei gedient haben. Man hat sie rekrutiert — was sollten sie tun? Wir haben Vernunft in ihre Köpfe gebracht, heute sind sie zuverlässige Mitkämpfer ...« Ich erinnere mich, daß Wang Tsching-wei, der Chef der pro-japanischen Kollaborationsregierung, einer Gruppe mit stark faschistischer Prägung, in Nanking residierte. Das war ein Mann, der unter der Schirmherrschaft Japans so etwas Ähnliches aus China zu machen beabsichtigt hatte, wie es Deutschland oder Italien gewesen waren. Im November vergangenen Jahres war Wang Tsching-wei gestorben. Seitdem bestehen seine Truppen zwar noch, aber ihr Zerfall schreitet fort, meist werden sie unter japanischem Kommando für Hilfszwecke verwendet, soweit sie noch nicht desertiert sind. »Haben Sie mit ihnen eine >Tscheng-Feng-Kampagne< gemacht, wie man das in Jenan hatte?« erkundige ich mich. Chang Wen lächelt nur. Über >Tscheng-Feng< äußert er sich indirekt, als er sagt: »Mister Robbins, wir sind Revolutionäre, wir glauben nicht daran, daß man das Bewußtsein eines Menschen durch eine Kampagne ändern kann. Bewußtsein ist eine Mischung aus Emotionen und Wissen, es muß wachsen, und man muß es behutsam pflegen, damit es sich entwickelt. Im übrigen — den Charakter eines Menschen, auch den Grad, den sein Bewußtsein erreicht hat, erkennen wir am besten, wenn wir ihm Aufgaben stellen und darauf achten, wie er sie bewältigt.« »Das sieht man aber in Jenan anders«, mache ich ihn aufmerk261
sam. Er blickt mich an, als verstünde er den Sinn meiner Frage nicht. Schließlich sagt er: »Man spricht vernünftig mit solchen Leuten, die auf der falschen Seite gestanden haben. Wenn sie gutwillig sind, ist es ganz natürlich, daß sie; sich uns anschließen. Man kann wohl Menschen nicht nach einem Stundenplan umerziehen, jedenfalls produziert man Revolutionäre nicht, indem man ihnen etwas für eine vorher festgelegte Zeit einpaukt und sie nach Ablauf dieser Frist dann für fertig erklärt. Menschen haben jeden Tag von neuem an sich zu arbeiten, sie haben neue Erkenntnisse zu gewinnen und zu verdauen, alte Vorurteile abzulegen. Gewiß kann man sich dabei gegenseitig helfen, und wenn man dazu noch gemeinsam kämpft, ist das alles viel leichter ...« Es reizte mich schon, mit diesem Mann noch viel länger zu reden, er unterscheidet sich auf mancherlei Art von vielen Kommunisten, die ich in Jenan kennengelernt habe. Doch jetzt ist nicht die Zeit dafür. Er muß zurück zu seiner Gruppe. »Danke für die Maschinenpistole«, sagt er noch einmal, als er geht. »Ich hoffe, wir werden uns bald wiedersehen. Immer wenn ich an unser Gespräch in Tschungking zurückdenke, kommt mir zu Bewußtsein, wie verschlungen die Wege der Menschen sind. Sagen Sie mir bitte: Haben Sie damals dafür gesorgt, daß die Verräterin Wang Kwei-fan verschwand?« Ich hätte mir denken können, daß ihm diese Frage seit unserem erneuten Zusammentreffen unter den neuen Umständen keine Ruhe ließ, er will genau wissen, was er von mir zu halten hat. Aber ich werde mich hüten, alle Karten mit einemmal aufzudecken, deshalb erwidere ich nur zurückhaltend: »Lieber Freund, ich habe Sie damals gefragt, ob Sie eine Botschaft hätten, die ich übermitteln könnte. Sie hatten eine. Ich habe lediglich dafür gesorgt, daß sie außerhalb der Gefängnismauern gehört wurde, nicht mehr.« 262
Er lächelt. Sagt nichts weiter. Drückt meine Hand, dann geht er, die Thompson über der Schulter. Ich habe Kurierpost von Holly bekommen, ein versiegeltes Kuvert, das bei den Papieren steckte, die für Kellis bestimmt waren. Jetzt habe ich Zeit zu lesen. Da ist ein kurzer Hinweis von Holly, daß es in Jenan fünfzig Tage lang den sorgfältig vorbereiteten 7.Parteitag der KP-Chinas gegeben habe. Eine Analyse liegt bei, sie ist von einem Dixie-Mann verfaßt, der sich während der Veranstaltung einigermaßen informieren konnte. Dessen Schlußfolgerungen: Die Position Mao Tse-tungs in der KP-Chinas kann als absolut gesichert angesehen werden, obwohl seine alten Gegner weiterhin in der Partei und auch in der Führung arbeiten. Das neue Statut stellt Mao Tse-tung demonstrativ als geistigen Führer der KP-Chinas heraus. Die Partei nimmt stärker militante Züge an. Ein vorsichtiges Vortasten in Richtung auf die UdSSR ist unverkennbar. Die USA wurden auf dem Parteitag noch als >mögliche Verbündete < gesehen. Der Parteitag sprach sich für die >revolutionäre Lösung der chinesischen Frage< aus. Auf die politische Konstellation im Lande umgesetzt, bedeutet das die Vorbereitung zum Bürgerkrieg gegen die Kuomintang und deren Verbündete.
3.8.1945 Gegen Mittag wurden wir auf Flugzeuggeräusche aufmerksam. Kellis befahl uns, in Deckung zu gehen. Für diesen Zweck waren an der Hinterfront unserer >Villa< Löcher ausgehoben und getarnt worden, in sie sprangen wir, als sich das Geräusch näherte. 263
Nach einer Weile konnten wir die Maschine sehen, einen Doppeldecker. Kamasuki betrachtete sie lange durch das Fernglas, ehe er schließlich sagte: »Eine alte Kawasaki S-98. Ungefährlich.« Wir blieben trotzdem in den Löchern, bis der pummelige Doppeldecker mit dem ratternden Motor verschwunden war. Es war nicht nötig, die Japaner aufmerksam zu machen, daß sich in dem idyllischen Haus auf dem Adlergipfel Leben regte. Kellis machte sich lustig über das Maschinchen: »Ich dachte, den Typ hätten sie längst verschrottet!« Wie es schien, konnten die Japaner in der derzeitigen Situation selbst auf solche ausgedienten Stücke ihrer einstigen Luftmacht nicht mehr verzichten. Die Berichte, die uns über die Schlacht um Okinawa erreicht hatten, sprachen davon, daß sie dort selbst Sportflugzeuge für ihre Kamikaze-Angriffe auf unsere Träger eingesetzt hatten. Ich hatte genug Zeit, mich mit dem Report über den Jenaner Parteitag intensiv zu beschäftigen, so viel ist mir klargeworden: Mao Tse-tung hat seine eigene Machtposition in der Partei in einer Weise gestärkt, daß es für den Fall einer Annäherung an Moskau lediglich ihn als Partner gibt. Eine geschickte Taktik, die Sowjets werden das zu berücksichtigen haben, denn zweifellos sind die Jenaner entschlossen, sich Moskau anzunähern, nachdem ihre Gespräche mit uns keinen Erfolg gebracht haben. Sie haben oft genug durchblicken lassen, daß diese Hintertür für sie offen steht. Was die Teilnehmer von >Dixie< betrifft, so haben wir diese Andeutungen sehr wohl verstanden, nur Washington begriff nicht. Wie mir scheint, beurteilen die Jenaner die Lage höchst nüchtern, obgleich sich ihr Anspruch auf völlige Befreiung Chinas oberflächlich etwas großsprecherisch ausnimmt. Aber sie spüren, daß es mit Japan zu Ende geht, und sie wissen, daß die Sowjets eingreifen wer264
den. Für diesen Zeitpunkt rüsten sie sich. Dann werden sie vermutlich demonstrativ ihre bisher kaum erwähnte >marxistische Geistesverwandtschaft aus der Kiste holen und zusammen mit ihren Moskauer Genossen, den ungeliebten, in ganz Nordchina auf den Plan treten, um deren kaum in Frage stehenden Sieg über die japanische Gruppierung in der Mandschurei zu teilen und davon zu profitieren. Wäre das alles zu verhindern gewesen? Ich denke ja. Aber es hat keinen Sinn mehr, über vergebene Chancen zu trauern. Neue werden sich eröffnen, vielleicht, es fragt sich nur wann. Ich fluche, als ich aus dem Deckungsloch klettere, weil ich meine frisch gewaschene Uniform beschmutzt habe. Während ich mir den Dreck abklopfe, ruft Osborne, daß das Mittagessen in einer halben Stunde fertig sein wird: Büchsenfleisch mit Dauerbrot, dazu etwas, das auf dem Etikett der Büchsen als >Pudding< bezeichnet wird, das sich aber nach dem Erwärmen stets zu einer Substanz verwandelt, die an dünne Milch mit Himbeersaft erinnert. Nachdem wir gegessen haben, liest Kamasuki, der regelmäßig die Nachrichten aller möglichen Stationen abhört, uns das vor, was sich in den letzten Tagen auf der Welt ereignet hat. Eine Mischung, für
die
wohl zum Teil Kamasukis
Geschmack
bei der
Zusammenstellung verantwortlich ist: Amerikanische Soldaten im besetzten Deutschland dürfen jetzt >mit erwachsenen Deutschem Kontakt pflegen, allerdings nur auf Straßen und in öffentlichen Lokalen. — Admiral Halseys 3. Flotte beschießt das japanische Festland ohne Widerstand seitens der japanischen Marine. — 1500 Bomber haben japanische Städte angegriffen. Resultat: 126 Quadratmeilen Wohngebiete der größten Städte Japans existieren nicht mehr. — 265
In Potsdam, in der Nähe von Berlin, sind die > großen Drei< zu einer Konferenz über Fragen der Beendigung des Krieges und der Sicherung des Friedens in Europa zusammengetreten: Präsident Truman, der an Roosevelts Stelle getreten ist, Premierminister Churchill und Marschall Stalin. — In England wird inzwischen Churchill abgewählt, ein gewisser Clement Attlee ist der neue Premierminister. Er fliegt nach Potsdam und löst dort Churchill bei den > Großen Drei< ab. — Während der Potsdamer Konferenz ergeht — unterzeichnet von Truman, Churchill und Tschiang Kai-shek — die Aufforderung an Japan, bedingungslos zu kapitulieren. Eine Weigerung hätte >die sofortige und völlige Zerstörung Japans < zur Folge. — »Der Krieg brennt aus«, sagt Kellis gelassen. Er ist überhaupt ein ruhiger, besonnener Mann, was man nicht sogleich vermutet, wenn man zum ersten Mal mit ihm zu tun hat. Nach und nach entpuppt er sich als jemand, der nicht allein das Kriegshandwerk unter den Bedingungen des Kommandoeinsatzes beherrscht — er verfügt über eine erstaunliche politische Bildung. Während wir am späten Nachmittag im kurzen, verdorrten Gras vor unserer Behausung liegen und uns faul die Sonne auf die Haut scheinen lassen, meint er: »An die Stelle der großen Feuer werden die kleinen treten. Indien ist reif für einen Aufstand, auf den Philippinen gärt es, die Holländer haben Ärger mit ihren Insulanern, die Engländer mit den Burmesen — es sieht so aus, als ob wir einer Periode der Rebellionen entgegengehen. Kolonien, die keine mehr sein wollen. Rebellen, die meistens rot sind. Das Signal für neue Konflikte ist bereits gezogen ...« »Und in China gibt's Bürgerkrieg«, füge ich an. Er nickt. Stimmt mir zu. Er hat sich relativ schnell mit den politischen Verhältnissen hier vertraut gemacht. 266
»Gibst du Tschiang Kai-shek eine Chance?« will er von mir wissen. Ich antworte prompt: »Wenn die Roten sich mit den Sowjets zusammentun, bleibt Tschiang nur noch die Kapitulation, jedenfalls auf lange Sicht.« »Und wenn wir intervenieren?« »Gegen die Russen?« Er verzieht das Gesicht, denkt lange nach, dann sagt er: »Das wäre die eine Möglichkeit. Nicht sehr angenehm, daran zu denken. Aber es heißt, wir sind uns mit den Russen einig, daß die Nachkriegsprobleme Chinas möglichst nicht in einen Bürgerkrieg ausufern sollen, wir unterstützen ihren Wunsch, die beiden Widersacher zu Vereinbarungen zu bringen ...« Es ist möglich, daß das gelingt. Aber das kann heute noch niemand genau beurteilen. Ich glaube aus meinen Erfahrungen heraus nicht daran, daß Mao Tse-tung sich auf lange Sicht damit abfinden wird, die Macht mit Tschiang Kai-shek zu teilen. »Wir können ein bißchen nachhelfen«, meint Kellis. »So daß Tschiang Positionen bekommt, die seine Seite stärken.« »Wie ich die Kuomintang beurteile, wird sie auch diese Positionen wieder verspielen. Der Grundfehler Tschiangs ist, daß er Mao für einen Primitivling hält, der leicht auszutricksen ist. Er täuscht sich. Wenn es um Schläue geht, wird Mao den Generalissimo austricksen, soviel habe ich in Jenan begriffen.« »Und das heißt, letztlich würden wir auf der Seite des Verlierers stehen?« meint Kellis düster. Ich widerspreche ihm nicht, es ist das, was ich befürchte. Abends bringt Chang Wen uns frisches Ziegenfleisch herauf. Osborne hat Zeit, also macht er sich daran, den Braten herzurichten, und wir hören Radio, sitzen da, unterhalten uns, essen dann unmäßig viel, so daß auch Chang Wen meint, am liebsten würde er 267
sich gleich hinter einen Busch legen, eingerollt wie eine verdauende Schlange. Als die Zeit für den Funkkontakt gekommen ist, rudert Maloney plötzlich wild mit den Armen und schreit: »Runter, los! Maschine in dreißig Minuten! Eine Person mit Sonderauftrag!« Es ist Holly. Die Maschine zog nur einen Kreis, während wir mit unseren Lampen blinkten, dann spie sie das dunkle Bündel aus, das bald an der Glocke des entfalteten Schirms niederschwebte. Der ferne Donner der Motoren war noch nicht verklungen, als wir Holly bereits halfen, die Gurte abzustreifen. Wir stiegen aufwärts, für den Rest der Nacht gab es Gespräche über das, was nun wohl von uns verlangt werden würde. Holly hielt sich mit Voraussagen zurück. »Wir warten. Über Funk wird der Befehl für die nächste Aktion kommen. Bis dahin ordne ich allgemeine Alarmbereitschaft an. Waffen und Ausrüstung griffbereit, Uniform wird nicht abgelegt.« Er führte ein Gespräch mit Chang Wen, über dessen Inhalt er keine Mitteilungen an uns machte. Chang Wen verschwand, und Holly wies uns an auszuschlafen. Erst am späten Vormittag des 4. August nahm er mich beiseite. Aus einem der Behälter, der kürzlich abgeworfen worden war und den wir wegen seiner Beschriftung >Aufbewahren, erst auf Sonderbefehl öffnen! bisher verschlossen gelassen hatten, nahm Holly nun zuerst einen Zivilanzug, den ich sogleich anzuprobieren hatte. Er paßte. Auch die Hemden waren in meiner Größe geliefert worden, Halbschuhe, ein leichter Mantel und einige andere Stücke. »Deine neue Ausrüstung«, erklärte Holly mir schmunzelnd. »Und nun setz dich, ich habe dich zu instruieren.« Eine Stunde später weiß ich, daß mein weiterer Aufenthalt in China sich in Zivil abspielen wird. Ich bin weder aus dem OSS entlassen, noch hat sich an meinem Dienstgrad etwas geändert, ich bin 268
einfach zum Zivilisten geworden. »Privatgelehrter wirst du sein«, verkündete Holly mir grinsend. »Oder jedenfalls so etwas Ähnliches. Gewöhne dich an entsprechende Umgangsformen. Army und OSS wirst du nicht mehr kennen. Die Bedingungen haben sich einschneidend geändert. Alle OSS-Teams, die wir bis hinauf in die Mandschurei zum Einsatz gebracht haben, lauern dort auf die japanische Kapitulation. Wir operieren ab sofort offiziell im Kontext mit der Kuomintang. Da oben sozusagen als Quartiermacher, anderswo in anderer Eigenschaft. Regierungspolitik, mein Junge, nichts daran zu ändern. Nur für dich sieht die Sache etwas anders aus. Wir arbeiten auch für übermorgen, ohne viel darüber zu reden, in diesem Falle reden wir überhaupt nicht darüber, nicht einmal mit der Regierung. Also: die japanische Kapitulation ist für dich bereits Nebensache. Du wirst in Peking etabliert, als respektabler Privatmann, ohne die geringsten Kontakte zu uns, und von da an wartest du, bis Kang Sheng wieder Kontakt zu dir aufnimmt. Von unserer Seite werden wir für Kontakterhaltung ohnehin sorgen. Klar?« Es war mir absolut nicht so klar, wie Holly vermutete, und ich hatte eine Menge Fragen: »Weiß Kang Sheng, wo ich bin?« »Er bekommt sogar deine Hausnummer.« »Und was habe ich zu tun?« »Gar nichts, soweit es uns betrifft. Vorläufig jedenfalls. Du bist ein privater Resident amerikanischer Abstammung mit Kenntnissen der Landessprache und ausgeprägtem Faible für chinesische Kunst und
Literatur
in
Peking.
Du
gründest
einen
Hausstand,
meinetwegen kannst du dir eine Tai-tai nehmen und Kinder zeugen, nur über Amerika hast du ab sofort eine Meinung, die sich nicht mehr mit der eines loyalen Staatsbürgers deckt, daher bleibst du in China ...« 269
»Und das sollen mir die Chinesen abnehmen?« Ich mußte lachen. Aber Holly blieb ernst. »Die Chinesen — die gibt es nicht. Solange Tschiang Kai-shek in Peking das Sagen hat, sind auch wir da. Anruf genügt, und wir bringen alles in Ordnung, was dich drückt. Und wenn er ... nun, sagen wir, wenn Old Tschiang eines Tages mal nicht mehr da ist ...« »Du meinst, wenn die Roten zum Zuge kommen?« Er wiegte den Kopf. »Wenn du Hurley fragst, passiert das nie. Wenn du mich fragst und die Leute, die sich das mit dir ausgedacht haben, ist es eine Frage der Zeit.« »Bürgerkrieg?« Es kann sogar ein großer Krieg werden, das ist noch nicht heraus.« »Und da sitze ich in Peking. Privatgelehrter!« »So ist es«, sagte er seelenruhig. »Du wirst in jedem Falle sicher sein wie in Abrahams Schoß. Niemand wird dir etwas tun. Solange wir da sind, nicht, und nach uns kann nur Kang Sheng kommen — was du dann zu tun hast, erfährst du früh genug. Spätestens von ihm selbst. Klar?« Ich hatte noch unzählige Fragen, aber ich hob sie mir für später auf. Immerhin hatte Hollys Planung etwas, das mich reizte. Also sagte ich erst einmal Ja, und Holly umarmte mich vor Freude, worauf wir eine Flasche echten >Old Crow< austranken und dann umfielen. Zwei Tage später merkten wir, daß der Funker an seinem Gerät eine offenbar sehr wichtige Meldung mitschrieb. Es dauerte lange. Das Ergebnis war eine nüchtern abgefasste Nachricht, von der wir nur vage ahnten, daß sie den Lauf der Weltgeschichte verändern würde. 270
6. August 1945. Präsident Truman: Statement
Vor sechzehn Stunden hat ein Flugzeug der Vereinigten Staaten eine Bombe auf die japanische Stadt Hiroshima abgeworfen, einen wichtigen Stützpunkt der japanischen Armee. Diese Bombe hatte mehr
Sprengkraft
als
die
Menge
von
20
000
Tonnen
herkömmlichen TNTs. Es handelte sich um eine Atombombe, sie verkörpert die geballte Energie des Universums ... (atmosphärische Störungen) ... Wir haben zwei Billionen Dollar in das bedeutendste wissenschaftliche Unternehmen der Geschichte investiert, und wir haben Erfolg gehabt. Die große Errungenschaft ist jedoch weder der Umfang des Unternehmens, noch seine Geheimhaltung oder seine Kosten, sondern vielmehr die Zusammenfassung der Kenntnisse und Fähigkeiten von Wissenschaftlern der verschiedensten Disziplinen für ein gemeinsames Ziel... (atmosphärische Störungen) ... Die Tatsache, daß der Mensch die Energie des Atoms entfesseln kann, eröffnet eine neue Ära des Wissens um die elementaren Kräfte der Natur. Mit der Bombe haben wir die Möglichkeiten der Zerstörung auf eine revolutionäre Weise erhöht... (atmosphärische Störungen) ...
Aufzeichnungen 7.8.1945 Wir Sitzen auf der Veranda und warten. Vic Maloney, der Funker, dreht an den Knöpfen des Radios, lauscht, ganz gespannte Aufmerksamkeit. 271
Irgendwann verkündet Maloney, in Hiroshima gäbe es jetzt da, wo einmal die Häuser standen, eine etwa vier Quadratmeilen große, absolut ebene Fläche. Ein Drittel der Bevölkerung wird als tot gemeldet, die Zahl der Verletzten ist unübersehbar, es herrscht Chaos. Wir versuchen, uns das vorzustellen. Es erscheint unfaßbar. Jedenfalls ist das Ende des Krieges nahe. 8.8.1945 »Die Sowjets haben den Japanern den Krieg erklärt!« ruft Maloney uns zu, dann schiebt er den Kopfhörer wieder über die Ohren. Holly nickt bedächtig. »Jetzt entscheidet sich die Zukunft Asiens ...« Osborne bringt eine Flasche, will aus Anlaß der Neuigkeit die Gläser füllen. Aber Holly winkt ab. »Laßt das. Es kann buchstäblich jede Sekunde losgehen ...«
•
Draußen, auf der Veranda, sitzt Chang Wen. Zwei seiner Guerillas liegen im Schatten der Büsche und schlafen. Chang Wen hat mit Holly darüber gesprochen, daß alle Vorbereitungen getroffen sind, aber ich weiß nicht, welcher Art Vorbereitungen. Werde es früh genug erfahren, versichert mir Holly. 9.8.1945 Der Funker fängt erste Meldungen über Kampfhandlungen in der Mandschurei auf. Danach sind sowjetische Truppen mit zwei Stoßkeilen, die sich zu einer Zangenbewegung entwickeln werden, bereits mehr als 15 Meilen über die vordersten japanischen Linien vorgedrungen. Holly schüttelt den Kopf. »Das ist nun die gefürchtete Kwantung-Armee!« Ich sage: »Die Russen machen Kleinholz daraus ...« Aber Holly,
mürrisch,
knurrt
bloß:
»Zu
schnell,
Junge,
zu
schnell ...« Radio Tschungking meldet, rote Truppen unter dem Befehl Tschu Tehs bewegen sich aus dem Jenaner Gebiet 272
nordwärts. Das überrascht uns nicht. Dann, plötzlich, horcht der Funker an seinem Gerät angestrengt, springt auf und verkündet: »Eine zweite von diesen neuen Bomben! Diesmal auf Nagasaki!« Am Abend erfahren wir, daß es auch in dieser einstmals bedeutenden Metropole im Westen Kyuschus lediglich noch Trümmer, Tote und Chaos gibt. Holly trommelt ungeduldig mit den Fingerspitzen auf den Tisch der Veranda. Eine ruhige, sehr warme Nacht. Bei der geringsten Bewegung bricht uns der Schweiß aus. Wir schlafen unruhig, während Maloney und Kamasuki sich am Funkgerät ablösen.
10.8.1945 Angeblich hat Japan um Frieden gebeten. Maloney fängt die obskure Station, die das meldet, nur für Sekunden ein. Der Meldung zufolge soll Japan die Bitte geäußert haben, den Gottkaiser Hirohito behalten zu dürfen. Holly ist nervös wie immer in den letzten Tagen. Er fiebert dem Ende des Krieges entgegen. Aber es ist nicht nur das, was ihn nervös macht. Für uns steht mehr auf dem Spiel. Ich ahne, was Holly drückt, als ich sein Gesicht beobachte, während der Funker meldet, die Sowjets seien bereits tief hinter den japanischen Befestigungslinien, Amur und Ussuri seien von ihnen überschritten.
11.8.1945 Funkspruch an Kellis aus Sian. Er hält eine kurze Beratung mit Holly ab, dann baut Maloney das Funkgerät ab, uns bleibt lediglich das batteriebetriebene Radio. Kellis, Osborne, Kamasuki und Maloney verlassen den Adlergipfel.. Sie nehmen Waffen und Munition mit, außer dem 273
Funkgerät. Chang Wen holt sie ab, zusammen mit einigen seiner Männer, die das Gepäck tragen. Bevor sie gehen, ruft Kellis Holly und mir zu: »Ich sehe euch in Peking!« Nachdem sie verschwunden sind, verrät Holly mir, Chang Wen und seine Leute hätten Kontakt zu einer Einheit der ehemaligen Wang-Tsching-wei-Truppen in der Stadt, diese wären von den Japanern bisher zu Wachdiensten verwendet worden, jetzt aber seien sie bereit, den Amerikanern gegen die Japaner zu helfen. »Die Jungens werden stillschweigend in der Stadt untertauchen«, sagt Holly. »Sie werden als erste da sein, wenn der japanische Kommandeur Schluß macht...« Spätabends höre ich im Radio die Meldung eines von der Army betriebenen Senders in Manila. Es heißt, nach Konsultationen der Alliierten sei den Japanern mitgeteilt worden, Hirohito dürfe vorläufig auf seinem Thron bleiben, er unterstünde jedoch nach der Kapitulation
dem
Oberkommandierenden
der
Alliierten
Besatzungstruppen. Wir schlafen kaum. Plötzlich ist es unheimlich auf dem Adlergipfel. Wir wissen nicht, ob es unten am KuanyinTempel noch rote Guerillas gibt. Die Zikaden veranstalten ein ohrenbetäubendes Konzert in der Mittsommerhitze. Beide sind wir froh, als der Himmel nach der kurzen Nacht sich im Osten grau färbt.
12.8.1945 Einer der Männer Chang Wens klettert zu uns herauf und teilt uns mit, Kellis und sein Team seien wohlbehalten in Peking angelangt. Wir bewirten ihn mit Büchsenfleisch und Brot, er trinkt etwas von unserer GI-Limonade, dann geht er wieder abwärts, verspricht
aber,
uns
weitere 274
Botschaften
Kellis'
sofort
weiterzuleiten. Im übrigen sei der Adlergipfel nach wie vor sicher, am Kuanyin-Tempel befände sich der größte Teil von Chang Wens Abteilung.
14.8.1945 Wortlaut des Freundschafts- und Bündnisvertrages wird verlesen, der soeben zwischen der Republik China und der UdSSR in Moskau unterzeichnet worden ist, und zwar von den jeweiligen Außenministern Molotow und Wang Shih-tschieh. Ich kann sehen, wie Holly bei dieser Mitteilung aufatmet. Während wir beide an dem kleinen Empfänger sitzen, jeder einen der beiden Kopfhörer am Ohr, sagt Holly: »Das gibt uns Luft, Junge! Sie haben sich tatsächlich an die Abmachungen der Alliierten gehalten. Man lernt nie aus ...« Ich überlege, wie Mao Tse-tung diese Nachricht aufnehmen wird. Mit Holly bin ich mir einig, daß der Parteitag von Jenan ziemlich unverschleiert die Weichen in Richtung Bürgerkrieg gestellt hat. Nun aber würde Mao, wenn er tatsächlich Ernst macht, die Sowjets kaum zum Verbündeten haben ... Als der Text verlesen ist, sind wir uns darüber klar, daß er einige Artikel enthält, über den Beistand im Kampf gegen Japan etwa, die bereits von der Geschichte überholt sind. Interessant ist der Artikel, in dem sich beide Parteien verpflichten, keine Bündnisse und keinerlei
Koalitionen
einzugehen,
die
sich
gegen
eine
Vertragspartei richten. Es folgen Absätze über Zusammenarbeit in der Nachkriegszeit, gegenseitige Hilfe beim Wiederaufbau sowie über die Achtung der gegenseitigen Souveränität und die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten des Partnerstaates. »Das ist die Entscheidung«, sagt Holly, als der gesamte Text 275
verlesen ist. »Deutlicher konnten die Sowjets nicht ausdrücken, daß sie nicht an einem Bürgerkrieg in China interessiert sind, sondern an nationaler Versöhnung. Mao wird mit Tschungking verhandeln müssen ...« Ich bezweifle, daß er das tun wird, aber Holly widerspricht mir lachend: »Natürlich wird er! Er braucht Zeit! Und er wird solange verhandeln, bis seine Karten in diesem gottverdammten Poker besser liegen ...« Wie zur Bestätigung dessen, was Holly vorausgesagt hat, gibt Tschungking noch am späten Abend bekannt, Generalissimus Tschi-ang Kai-shek habe Mao Tse-tung zu politischen Gesprächen über die Zukunft Chinas nach Tschungking eingeladen. — Noch in derselben Nacht donnern die ersten schweren Transportmaschinen der Air Force, von Südwesten her kommend, über den Adlergipfel hinweg. Peking scheint ihr Ziel zu sein. Wir lauschen auf der Veranda dem Motorenlärm, und Holly meint, es müßte eigentlich jetzt bald einmal etwas geschehen. Spöttisch prüft er, wie mir der Zivilanzug sitzt. Er ist zufrieden. Ehe sich einer von uns zum Schlafen hinlegen kann, erscheint Chang Wen plötzlich bei uns. Er ist müde, aber seine Augen leuchten freudig, als er uns informiert, Major Kellis habe am Abend die formelle Kapitulation des japanischen Generalstabes für Nordchina entgegengenommen. »Der alte Grieche«, Holly lachte. »Er wird noch in die Weltgeschichte eingehen, während wir hier herumsitzen!« Wenig später entscheidet er, daß Chang Wen uns am nächsten Vormittag nach Peking bringen soll. Der nickt nur und erklärt: »Keine Schwierigkeit. Ich habe vorgesorgt. An der Thermalquelle von Wen Tschuan steht ein requiriertes japanisches Auto für uns bereit!« 276
30.9.1945 Vor einer Woche nun schon saß ich mit Holly zusammen an einem reich gedeckten Tisch im Innenhof meines Hauses. Es war die herbstliche Tag- und Nachtgleiche, nach dem alten chinesischen Mondkalender der neunte Tag des achten Monats. Man nennt das Fest >Tschong DjiuYü Bing< dazu, süße, runde, manchmal mit Fleisch oder Nüssen gefüllte Kuchen, die an diesem Tage überall angeboten werden. Mein Koch, Lao Wu, hatte sie mit seiner Frau zusammen selbst gebacken. Die Wu Tai-tai war aus Anlaß des Festes in eine Art Sauberkeitswut verfallen, hatte jeden Winkel im Hause gefegt und gewischt, die Fenster geputzt und schließlich den Tisch gerichtet, für mich und meinen einzigen Gast. Nun war ich also ein rechtmäßiger Einwohner der Stadt! Das alles war ziemlich still und ohne Aufsehen arrangiert worden. Einige Tage hatte ich in dem nun von Japanern geräumten >Grand Hotel de Peking< verbracht, in dem auch Kellis' Kommando zeitweilig residiert, inzwischen war Holly mit Chang Wen in der Stadt unterwegs gewesen und hatte mit dessen Hilfe ein Haus für mich gekauft, das mir auf Anhieb nicht nur gefiel, sondern für mich buchstäblich den Inbegriff chinesischer Wohnkultur darstellte. So wohnte ich, noch bevor General MacArthur die offizielle Kapitulationsurkunde mit den Japanern austauschte, bereits in der Ping Tjiao Hutung 4, außerhalb des alten Stadttores Tjien Men, südlich der arg verfallenen Stadtmauer. Diese nicht sehr breite Gasse ist gesäumt von grauen Lehmziegelmauern, hinter denen sich 277
überfüllte, vereinzelt allerdings auch komfortable Wohnstätten wie die meine verbergen, was kein Mensch für möglich hält, bevor er nicht durch das rotlackierte Eingangstor Zugang gefunden hat: zum Vorhof mit den Quartieren der Bediensteten, zum großen Innenhof, der durch eine runde Öffnung in einer Glasurziegelwand betreten wird, zu dem geräumigen Haus, um dessen riesigen Wohnraum sich nach allen Himmelsrichtungen /immer gruppieren. Nebengebäude schließen sich an, in denen sich Küche und Bad befinden, Aufbewahrungskammern für dies und jenes, eine Heizanlage und eine selbst nach amerikanischen Begriffen vorbildliche Toilette, einschließlich Bidet! Sogar über ein Telefon verfüge ich. — Holly brauchte mich nicht lange zu überreden. Für jeden, der China kannte, war dies ein Paradies, ich sagte sofort ja. Der Erwerb war einfach, das Haus hatte einem Kollaborateur gehört, dem Inhaber eines Tanzlokals aus Hongkong, der während der japanischen Besatzung in Peking ein Etablissement für Offiziere betrieben und wohl nur zeitweise hier gewohnt hatte. Es war von der neuen Stadtverwaltung enteignet worden, als der Besitzer sich wieder in Richtung Hongkong davonmachte, wohl um Unannehmlichkeiten zu entgehen, die er mit den neuen Behörden haben könnte, und vor denen er in Hongkong gewiß sicherer war. Den Preis blätterte Holly in großen Dollarnoten auf den Tisch des chinesischen Beamten, der mit
einer
für
Kuomintang-Bedienstete
unglaublichen
Geschwindigkeit meine Besitzurkunde ausfüllte und gleichzeitig das Geld verschwinden ließ, mit ziemlicher Sicherheit in die eigene Tasche. Chang Wen hatte inzwischen Lao Wu aufgetrieben, einen ehemaligen Koch in einem kleinen Restaurant, samt seiner Frau, zwei verlässliche Leute, die sich glücklich schätzten, bei einem (der siegreichen) Ausländer angestellt zu werden. Als alles geregelt war 278
und als ich das Haus binnen zweier Tage aus den Beständen eines verstaubten Magazins möbliert hatte, zog sich Chang Wen wieder in die Gegend des Adlergipfels zurück. Es war den roten Abteilungen nicht gestattet, sich in den Städten aufzuhalten, hier übte die schnell aus dem Süden herangeflogene Beamtenschaft der Kuomintang die Macht aus, und einige tausend amerikanische Marines wachten darüber. Also versprach Chang Wen, irgendwann einmal wiederzukommen, nun sei ja der Krieg vorbei, und im übrigen habe sich Mao Tse-tung doch entschlossen, nach Tschungking zu Verhandlungen zu fliegen — es sähe so aus, als würde sich die Lage im Lande nach und nach normalisieren. Ich glaubte ihm das nicht ganz, denn wie so oft, war ich besser informiert: Mao hatte seine Truppen bereits nach dem Norden in Marsch gesetzt, sie okkupierten dort, wo die Sowjets sich auf die Kontrolle der größeren Städte beschränkten, bereits weite ländliche Gebiete und bauten sie zu Stützpunkten aus, gemäß der von Mao bereits in Jenan so oft verkündeten Taktik, daß man die Städte vom Land aus einkreisen müsse. Tschiang Kai-shek hatte das Fernziel dieser Operation fraglos erkannt, er hatte die UdSSR bereits gebeten, ihre ursprünglich auf drei Monate vorgesehene Besatzungszeit in den mandschurischen Provinzen um vorerst weitere drei Monate zu verlängern: die Kuomintang hatte Transportprobleme, sie konnte trotz unserer Hilfe ihre Behörden und Truppen nur langsam in die nördlichen Gebiete umverlegen. — Eigentlich war dieses Herbstfest für Holly und mich eher ein trauriger Anlaß. Einige Zeit hatte ich in meinem neuen Heim faul dahingelebt (eine ganze Kammer steckte voller PX-Verpflegung!), hatte mich mit der Einrichtung beschäftigt, kleine Reparaturen ausführen
lassen,
ein
paar
vorsichtige
Spazierfahrten
mit
spottbilligen Rikschas durch die Stadt unternommen, um mich 279
wenigstens oberflächlich mit ihr vertraut zu machen, da war das Fest gekommen, und Holly, mit etwas Schnaps, ein paar Stangen Zigaretten, mit einer Kassette voller alter Gold- und Silbermünzen, die er mir in die Hand drückte (»Kriegsbeute, du wirst es brauchen können!«), und einer Miene, die nichts Erfreuliches verhieß. So zauberhaft der Mond war, so würzig der mit Jasmin gebrühte Tee, so süß die Mondkuchen — wir kamen uns beide plötzlich vor wie verwaiste Kinder. »Ich muß dir eine betrübliche Mitteilung machen«, begann Holly, »wir haben kein Dach mehr über dem Kopf. Am 20. September hat Präsident Truman das OSS aufgelöst. Er soll dabei inoffiziell geäußert haben, er lege keinen Wert auf eine NachkriegsGestapo. Ein Slogan übrigens, den Hoover vom FBI erfunden hat, für uns, obwohl er auf seinen Laden weit besser passen würde.« Ich mußte das erst eine Weile verdauen. Dann erkundigte ich mich noch einmal: »Aufgelöst? Tatsächlich?« »OSS existiert offiziell nicht mehr, mein Junge. Ich fliege morgen früh über Tokio in die Staaten zurück. General Magruder, Donovans
Stellvertreter,
ist
mit
der
Abwicklung
des
Auflösungsjobs beauftragt, bei ihm habe ich mich zu melden.« »Und Kellis?« »Magruder hat verfügt, daß er vorläufig bleibt. Sein Kommando läuft ab sofort unter der Bezeichnung >US-Kommission für die Repatriierung von militärtechnischem Personals Aber das braucht dich nicht zu interessieren, du hast ohnehin nichts mehr mit ihm zu tun.« »Das heißt, ich bleibe hier für mich allein, habe keine Vorgesetzten mehr, stehe auf keiner US-Lohnliste und kann gottverdammt zusehen, wie ich mich durchs Leben schlage?« Er zuckte die Schultern. Dann unterhielten wir uns lange Zeit, 280
während der Mond gravitätisch über den klaren Himmel wanderte, und ich erfuhr nach und nach, was eigentlich geschehen war. Holly kam aus Tokio, wo er einige Tage beim Stab MacArthurs zu tun gehabt hatte, und dort hatte er auch John Service getroffen. Einiges war vor sich gegangen, schon in den Sommermonaten, wovon wir keine Ahnung gehabt hatten, und nun begannen für uns Konsequenzen spürbar zu werden. Da gab es in Washington die geopolitische Zeitschrift >AmerasiaAmerasia< in der Frage, mit wem die USA in China paktieren sollten, deutlich den Kommunisten den Vorrang gegeben hatte. Holly vermutete, daß die Affäre, die sich explosionsartig um das Blatt entwickelte, auf eine Falle zurückging, die Tschiang Kai-shek über seine Lobby in den Staaten geschickt aufgebaut hatte, um die öffentliche Meinung von den Sympathien für Mao Tse-tungs Experiment abzubringen. Er erinnerte sich daran, daß Barrett ihm einmal mitgeteilt hatte, er habe den Verdacht, alles, was John Service an Berichten zum State Department schicke, werde in unmittelbarer Nähe des Präsidenten von irgendeiner Person eingesehen, die mit Tschiang Kai-shek Informationen austausche. Im März erstattete jemand, der offenbar vom FBI vorgeschickt worden war, bei Donovan Anzeige, die >Amerasia< würde Geheimdienstmaterial
veröffentlichen.
Zunächst
war
dieser
Vorwurf noch nicht öffentlich erhoben worden, aber FBI-Hoover, ohnehin ein Rivale Donovans, der seine Position als >oberster Aufklären durch OSS bedroht sah, schaltete sich nun offiziell ein, und es kam zu einem nächtlichen Einbruch in die Redaktionsräume 281
der >AmerasiaDixie< angeblich in den Fall verwickelt war. Im Sommer gelangte die Affäre dann in die Zeitungen, eine Vernehmung folgte der anderen, auch John Service wurde peinlichen Verhören unterzogen. Tenor der gesamten Aktion, an der die konservativsten Leute aus State Department, Kongreß und Justiz mit geradezu missionarischem Eifer arbeiteten: im State Department und im OSS haben sich Kommunisten eingenistet, die die Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten gefährden. »Das riecht nach Hochverrat!« sagte ich. Holly nickte. »Das tut es.« Für die Dauer der Ermittlungen, bis zur Abhaltung des Prozesses, dessen Ergebnis Holly erst gestern vor seinem Abflug aus Tokio erfahren hatte, waren alle Beteiligten zeitweilig vom Dienst suspendiert worden, auch Service. Diesen hatte das State Department jedoch bereits im Juli wieder einstellen müssen, da eine Zwischenentscheidung
des
Distriktsgerichts
Columbia
ihm
bescheinigen mußte, daß die Berichte, die aus seiner Feder stammten und die >Amerasia< benutzt hatte, keinen Verrat von Dienstgeheimnissen im Interesse einer fremden Macht darstellten. Er war sogleich auf einen Posten in Tokio abgeschoben worden. Nun hatte das Distriktsgericht Columbia auch das endgültige Urteil gefällt, und das lief ebenfalls weder auf Spionage noch auf Geheimnisverrat
hinaus,
sondern
lediglich
auf
solche
Minimaldelikte wie Verletzung der Dienstpflichten. Es verhängte einige geringfügige Geldstrafen und stellte im übrigen fest, daß sich die Veröffentlichungen in der >Amerasia< im Rahmen der 282
gesetzlich verbürgten Informationsfreiheit bewegten. Soweit war die Geschichte juristisch beigelegt. Aber sie hatte eben alle üblichen, durch Pressekampagnen dieser Art hervorgerufenen Nebenerscheinungen: die China-Abteilung des State Departments stand in dem Ruf, mit Kommunisten durchsetzt zu sein, die mit Mao Tse-tung paktieren wollten und damit die antikommunistische Grundkonzeption der Vereinigten Staaten verrieten. OSS erschien als eine Verschwörung linker Intellektueller, und besonders seine China-Sektion bestand, wenn es nach der Meinung einer Meute konservativer Senatoren und Journalisten ging, aus instinktlosen, irregeführten, im schlimmsten Falle geistesverwandten Verehrern des Weltkommunismus. »Haben wir denn eine so massive antikommunistische Welle bei uns zu Haus«, fragte ich Holly, »nachdem die Russen immerhin unsere jahrelangen Verbündeten waren?« Holly antwortete bedächtig: »Wir haben da einen Umschwung, Junge. Kein Zweck, es zu leugnen. Die Russen haben Stärke gezeigt, anstatt sich in dem Krieg aufzureiben. Sie sind ernst zu nehmen, gerade der Krieg hat ihre Schlagkraft erwiesen. Das Märchen vom inneren Zusammenbruch des Sowjetsystems liegt in Berlin begraben. Daheim bei uns hat das bei den Leuten, die unsere Allianz mit den Russen ohnehin immer als fragwürdig betrachtet haben, neue Widerstände ausgelöst. Dazu kam die Atombombe. Mit diesem unheimlichen Ding hat sich Amerika von Grund auf verändert. Mit dieser Bombe können wir jeden Gegner binnen einiger Stunden zerstören, restlos, die Bilder von Hiroshima und Nagasaki beweisen es. Solch eine gewaltige Vision beeinflußt das Denken vieler Leute zu Hause auf eine ganz eigenartige Weise: sie sehen im Kommunismus, zumal er sich gegenwärtig schon in Osteuropa ausbreitet, den potentiellen Gegner der Zukunft. Warum 283
nicht ihn präventiv mit Atombomben ausschalten, heute schon? Warum ihn nicht mit der Waffe unter Druck setzen, zu Konzessionen zwingen? Du wirst zugeben müssen, solche Vorstellungen sind nicht von vornherein als absurd abzutun, es stecken Überlegungen dahinter, Zukunftsprojektionen. Und hier sind wir bei dem Problem des chinesischen Kommunismus: es gibt für die Mehrzahl der Leute zu Hause, die politischen Einfluß haben, keinen Unterschied mehr zwischen dem Kommunismus Maos und dem Stalins. Das Wort Kommunismus genügt, und du hast keine Gesprächspartner mehr, selbst bei größter Mühe um Sachlichkeit. Kommunismus — das ist etwas, das wir zerschlagen müssen. Gut. Wir beide würden uns vermutlich auch wohler fühlen, wenn es ihn nicht gäbe — nur: wir wissen um die Unterschiede, und wir trauern um die grandiosen strategischen Chancen, die hier vergeben werden, nur weil ein Reizwort undifferenziert zu wirken begonnen hat ...« »Glaubst du«, fragte ich, »daß wir im Falle eines Bürgerkrieges Tschiang Kai-shek retten können?« Er bezweifelt es. Er weiß wie ich, daß uns, wenn wir das ernstlich versuchten, ein kräftezehrender Landkrieg in China bevorstünde. Gegen Mao Tse-tung, der eigentlich gern unser Verbündeter sein würde und dem bei einem Eingreifen amerikanischer Truppen gegen die Kommunisten sicherlich Moskau beistehen würde. Eine schizophrene Konstellation. »Weltkrieg Nummer drei«, sagte Holly düster. »Die Russen wissen genau, weswegen sie Tschiang und Mao lieber am Verhandlungstisch hätten als im Schützenloch. Und wir werden, wenn ich mich nicht sehr irre, am Ende nicht im Sinne der Brandredner daheim entscheiden, sondern unter Anwendung unserer Vernunft. Wir müssen nämlich eins bedenken, und das bedenkt zu Hause in dem augenblicklichen Freudentaumel über die Bombe niemand: eine 284
solche technische Entwicklung kann nie allein unser Privileg bleiben. Die Russen haben die Potenzen, unvermutet schnell mit uns gleichzuziehen. Dann gnade uns Gott, wenn wir sie zum Gegner haben ...« Das alles änderte nichts daran, daß wir sozusagen ohne Job waren. Holly versuchte zwar, mich zu beruhigen: »Zunächst wird man uns dem Kriegsministerium unterstellen, wenn ich mich nicht irre. Ich habe das aus Andeutungen in Tokio entnommen. Das wird uns Zeit geben, unsere Kräfte neu zu formieren. Seit dem vergangenen Herbst liegt dem Präsidenten ein Vorschlag von Donovan vor, über einen kombinierten Abwehr- und Aufklärungsdienst in der Nachkriegszeit, eine völlig unabhängige, nur dem Präsidenten rechenschaftspflichtige Organisation. Haben wir die, dann können die geeigneten Leute darin insofern Politik machen, als sie ganz ohne Aufsehen Tatbestände schaffen, die den Präsidenten in Zugzwang bringen. Aber vorerst läuft Hoover noch Sturm dagegen. Immerhin — auch der FBI-Chef hat politische Gegner, wir werden sie in aller Stille sammeln. Wenn alle unsere guten Leute von ihren bisherigen Posten im Ausland nach Hause zurückkehren, haben wir binnen kurzer Zeit eine Macht beisammen. Dann sind wir wieder da, Junge!« Lao Wu erschien, aus der Küche kommend, gemessenen Schrittes, von Kopf bis Fuß weiß gekleidet, eine Platte tragend, auf der ein besonders kunstvoll gemachter Mondkuchen lag. Weiß ist zwar die
Trauerfarbe
der
Chinesen,
aber
Lao
Wu
hatte
als
anpassungsfähiger Mensch schnell begriffen, daß Ausländer mit ihr eher Sauberkeit und Hygiene verbanden, er trug die Kochuniform, die aus einem Arsenal der Army stammte, mit Stolz. Und als er uns den neuen Kuchen vorsetzte, machte er uns aufmerksam: »Dies ist ein Kuchen, wie wir ihn früher, bevor die Japaner kamen, stets 285
gebacken haben. Aber jetzt sind die Japaner geschlagen ...« Er war ein glühender Nationalist, allerdings mehr in Worten als in Taten, er hatte zu keiner der in der Stadt bestehenden Widerstandsgruppen gehört, sich als Pastetenbäcker in einer ehemals französischen Bäckerei durchgeschlagen, am Ha Ta Men, einem der vielen Stadttore, von denen ich bislang erst wenige kenne. Der Kuchen zeigte im Relief das Bild eines Hasen, der in einem Mörser etwas zerstampft. Kaum hatten wir das Kunstwerk gebührend bewundert, erschien Lao Wus Frau mit einer Schale voller Melonenscheiben, Pfirsiche, Pflaumen und Äpfel. »Die Früchte des Herbstes ...« Auch sie gab sich feierlich, wie der Anlaß es gebot. Keiner der beiden ließ sich dazu bewegen, ein Stück Mondkuchen an unserer Tisch zu essen oder eine Frucht. Sie würden es vorziehen, vom Küchenfenster aus in aller Stille den Mond zu betrachten. »China ...« sinnierte Holly, nachdem sie wieder gegangen waren, »wer wird es je verstehen?« »Verstehen wir es denn?« Er zuckte die Schultern. Ein Mann, der wie ich in diesem unermeßlich scheinenden Land aufgewachsen war, der seine Geschichte kannte, seine Tragödien. »Wir verstehen, daß Mao lieber mit uns zusammengehen will als mit den Sowjets, und wir können dieses Stück politisches Gold keiner Bank andrehen. China — vielleicht verstehen wir es wenigstens ein bißchen. Aber wir werden nicht lange genug leben, um es ganz zu begreifen. Wie John Birch.« Ich erinnerte mich an den Namen. War das nicht der junge Captain gewesen, in >Camp 7< in Sian, der gelegentlich heikle Fragen zu stellen pflegte? Der Baptistenmissionar, der zuvor bei Chennaults Fliegertruppe gestanden hatte? »Genau der«, bestätigte Holly mürrisch. »Er ist tot. Irgendwann 286
im August geriet er mit seinem Kommando, auf dem Weg nach Norden, in eine Straßensperre der Roten. Ich kenne bisher nur einen lückenhaften Bericht darüber. Paul Frillmann hat ihn mitgebracht, er ist von Kunming gekommen, um die Leitung dessen zu übernehmen, was in Peking vom OSS übrigbleibt. Kennst du ihn?« Ich hatte Frillmann kennengelernt, erinnerte mich aber nur noch daran, daß er vom OSS zu Chennaults Fliegern geschickt worden war, als Kaplan der Einheit, was mir damals ziemlich eigenartig vorkam, aber wer wollte schon die Verschlungenen Wege des OSS beurteilen! Wahrscheinlich würde Frillmann das fortführen, was Kellis aufgebaut hatte: die japanischen Truppen zwar entwaffnen, sie aber in geschlossenen Truppenteilen halten und je nach den Erfordernissen der schwachen Kuomintangabteilung, die wir hergeflogen hatten, zur Aufrechterhaltung von > Sicherheit und Ordnung< zur Verfügung stellen. Das alles geschah, um zu verhindern, daß die roten Guerillas, die rings um Peking lauerten, einfach im Handstreich die Macht an sich rissen, wie das in den Gebieten nördlich von Jenan inzwischen geschah, sogar in entfernten Gegenden der Mandschurei. »Was wird Kellis tun? Unter Frillmann arbeiten?« »Nein«, sagte Holly. »Frillmann löst im Grunde die OSS-Station langsam auf. Offiziell. Kellis scheidet aus, er bleibt hier, in ähnlicher Eigenschaft wie du, nur daß er nicht so lange bleiben wird. Er wirbt ohne viel Aufsehen für uns Leute an. Vorsorge für die Zukunft ...« »Aber — es gibt uns nicht mehr! Wozu brauchen wir dann Leute?« Er lachte. »Es wird uns wieder geben. Und es gibt die Zukunft, Junge.« Dann verfiel er in die düstere Stimmung zurück, als ich ihn fragte, wie Birch ums Leben gekommen sei. 287
»Die Roten wollten seinen Trupp nicht durchlassen. Angeblich hat er ihnen daraufhin mit der Atombombe gedroht, und es gab eine Schießerei.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so ...« »Einfach so?« »Er ist nicht der einzige, den wir bis jetzt verloren haben. Und er wird nicht der letzte sein. Das ist das, was diese Narren im State Department oder bei FBI nicht gern hören. Kennst du Peter Dewey?« »Colonel Peter Dewey?« »Just den meine ich. Du mußt ihn bei der Ausbildung getroffen haben, in Honolulu ...« Ich erinnerte mich an Dewey. Ein Harvard-Mann, mit viel Erfahrung in Asien. >Das bebrillte Genie < nannten wir ihn. »Tot«, sagte Holly. »In Saigon, vor ein paar Tagen. Als ich in Tokio war, kam gerade der Sarg an, mit Fahne.« »Aber — was suchte der in Saigon?« Ich war so lange aus dem OSS-Geschäft heraus gewesen, daß ich Mühe hatte zu begreifen, was inzwischen dort vorgegangen war. Holly klärte mich mit ein paar Worten über einen Aspekt unserer Arbeit auf, von dem ich bislang keine Ahnung gehabt hatte. »Wir hatten von Kunming aus einen Kanal zu einem gewissen Nguyen-ai-Quoc. Er benutzt jetzt den Namen Ho Chi-minh. Ein Kommunistenführer, der in Indochina eine bewaffnete Bewegung gegen
die
Japaner
anführte.
Reservate
in
unzugänglichen
Gegenden, Überfälle, viel Zulauf von der Bevölkerung, lief ganz ähnlich wie bei Mao Tse-tung. Wir hatten Informationen, daß dieser Kerl Matrose gewesen war, unter anderem. Außerdem fanden wir heraus, daß er keine direkte Verbindung mit Moskau unterhielt. Es lag nahe, ihn anzugehen, zumal er bekanntgegeben hatte, sein Endziel sei die Unabhängigkeit Vietnams nicht nur von Japan, 288
sondern auch von Frankreich. Da schien ein Einstieg für uns möglich:
Unterstützung
gegen
Zusicherung
von
kleinen
Entgegenkommen in der Zukunft. Archimedes Patti, einer unserer besten Indochina-Kenner, hat die Sache in die Hand genommen. Leider sind ihm offenbar die Franzosen auf die Spur gekommen, sie haben gerochen, was wir vorhatten, und sie konterten. Ich vermute, Sainteny war es, der uns das Holz querlegte. War in Kunming stationiert, nannte seinen Laden >Mission 5 Freundschaft auf der Basis absoluter Souveränität< war keiner von uns mehr interessiert. Zumal zu allem Unglück die Franzosen, von Sainteny zur Eile angetrieben, daran gingen, Kontingente nach Saigon zu verschiffen. Als Antwort darauf proklamierte dieser alte Fuchs Ho Chi-minh am 2. September die nationale Unabhängigkeit Vietnams. Dewey starb etwa drei Wochen später, bei einer Schießerei auf offener Straße in Saigon. Indochina ist in Aufruhr. Die Franzosen können entweder die Sache allein ausfechten oder sich zurückziehen. Was uns betrifft, so ist der 289
Versuch misslungen. Die Besserwisser daheim halten uns jetzt natürlich vor, jeder ähnliche Versuch mit Mao Tse-tung wäre ebenso verlaufen ...« »Schade um Dewey«, sagte ich. »Schade überhaupt um alle, die wir auf diese Weise verlieren.« Holly bewegte die Schultern. »Sie sind der Einsatz in dem Spiel, Sid. Bauern auf dem Schachbrett. Entbehrlich. Liegt in der Natur unserer Arbeit, seien wir nicht unrealistisch, wir alle sind im Grunde entbehrlich ...« Er nahm die Whiskyflasche und goß die Gläser wieder voll, wir tranken, aber der Whisky schmeckte plötzlich schal, und ich spülte den Geschmack mit einem Schluck Tee herunter. »Also bin ich es auch?« »Wir sind Soldaten, Sid. Zivil oder Uniform. Manchmal gewinnen wir, manchmal verlieren wir. Manchmal triumphieren wir, wie MacArthur, manchmal verschwinden wir im Nebel, wie Stilwell ...« »Oder wir werden zu Privatgelehrten, wie Sidney B. Robbins, OSS-Major, gestrandet in Peking, in der Ping Tjiao Hutung, den Mond genießend!« Er spürte meinen Sarkasmus, nach einer Weile wurde er ziemlich ernst und schlug vor: »Laß uns noch einmal in aller Ruhe überlegen, wie es für dich weitergeht. Vom OSS wird nach der Auflösung ein harter Kern übrigbleiben, verstreut, in der Diaspora sozusagen. Aber abrufbereit. Und ich rechne fest damit, daß wir in ein oder zwei Jahren so etwas wie ein neues OSS haben werden, egal wie man es nennen wird; wir brauchen es! Wenn wir nämlich das, was die Konservativen daheim jetzt fordern, die >Weltmacht Nr. 1Wu< wie >Hu< aussprach, was >Tiger< bedeutet, wußte sofort Rat. Eilfertig trocknete er sich die Hände ab. »Am Ende der Gasse wohnt ein Maler! Er arbeitet billig und gut. Ich werde alles erledigen, Sir!« Die Wu Tai-tai trippelte mit kurzen Schritten in die Küche zurück. Sie stammte aus einem Dorf in der Provinz Schantung, und man hatte ihr als Kind noch die Füße eingebunden, jener alten, mir völlig unverständlichen Sitte folgend, daß die verkrüppelten Füße der
Frau
in
reiferen
Jahren
besondere
Grazie
verleihen.
>Lotosfüße< nannte man es, der Teufel weiß, wer diese wohlklingende Bezeichnung für die Tortur erfunden hat! Ich machte mich auf den Weg zum Zentrum. Bis zur Dschou 293
Sche Kou zu Fuß, und von da mit einer Rikscha (für den Gegenwert von etwa fünfzig Cents) die Tjien Men Dadji nordwärts, durch das Tjien Men, in Richtung Changan-Boulevard. Etwas östlich der roten Mauern der > Verbotenen StadtTor des ewigen Friedens < verliehen hatten, lag, nicht weit von der Einmündung der Morrison-Street, benannt nach einem englischen Berater der letzten Tjing-Herrscher, das > Grand Hotel de PekingZivilisten< Kellis zur Verfügung, habe aber viel Zeit. Den >JobPeking< erreichen«, vertraute Kamasuki mir an. »Bis zu meiner Abberufung residiere ich dort. Kellis auch. Wir haben so gut wie nichts zu tun, ein paar Kleinigkeiten ...« Nun ja, ich kannte die Art Kleinigkeiten, um die sich Kellis kümmerte. Aber sie waren, wie man zu sagen pflegt, nicht mehr Haut von meinem Hintern. Von Kamasuki erfuhr ich in den nächsten Tagen eine Menge von dem, was sich in der Mandschurei abspielte, ich bekam Zeitungen, wurde sogar zum Empfang eingeladen, als weitere Kontingente der mit Schiffen in Tientsin angelandeten Marineinfanteristen in Peking eintrafen, und ich lernte dabei einige Offiziere kennen. Doch das war alles nicht wichtig. Für mich entschied sich einiges, als ich in einer Zeitung ein ziemlich großes Inserat aufgab: »Erteile Unterricht in Englisch. Beherrsche die chinesische Sprache ebenfalls. Vereinbarungen zwischen 11 bis 12 Uhr täglich. < Wenig später hatte ich fürs erste zwei Dutzend Schüler, die regelmäßig Stunden bei mir nahmen. Es waren sehr unterschiedliche Leute: Studenten, die in der Beherrschung einwandfreien Englischs 295
den Absprung an eine Universität in England oder Amerika suchten, Beamte aus dem neuen Kuomintang-Apparat, die täglich mit Amerikanern zu tun hatten, Fabrikanten, die sich auf neue Exportchancen vorbereiteten — selbst ein Rikschamann stellte sich ein, verfügte über eine bereits modernisierte Version des traditionellen Vehikels, die durch ein Fahrrad gezogen wurde. Er hatte oft amerikanische Kunden, war ein junger, kräftiger Bursche, und er wollte das notwendigste Englisch erlernen, damit die Marinesoldaten nicht immer wütend wurden, wenn er ihre Kommandos nicht verstand. Am Tor meines Hauses befestigte ich ein Schild in Englisch und Chinesisch: Sprachlehrer. Ich war vom OSS-Major zum freien Unternehmer geworden! Und — was sich sehr bald zeigte — dieses Geschäft ernährte seinen Mann. Nicht selten zahlte einer meiner Fabrikanten in Lebensmitteln. Außerdem bekam ich bald Besuch von amerikanischen Offizieren, die mit den chinesischen Zivilbehörden zusammenarbeiteten. Sie wollten in der Regel nicht viel mehr lernen als ein paar gängige Idiome der Umgangssprache: Guten Tag. Danke. Möchten Sie Bier? Wo ist ein Frisör? Wo kann man Antiquitäten kaufen? Sind Sie ärztlich untersucht, mein Fräulein? — Mein Gemüt stellte sich auf die neue Situation schneller ein, als ich selbst das erwartet hatte. Wieder einmal bemerkte ich, daß ich eine nahezu unbegrenzte Anpassungsfähigkeit besaß, eine Eigenschaft, von der ich beim OSS so oft gesagt bekommen hatte, sie sei für einen guten Agenten die Grundvoraussetzung des Erfolgs. Nun denn! Mit Kamasukis Hilfe gelang es mir, in einem der soeben eingerichteten Army-Läden eines der neuesten Radiogeräte zu erwerben, einen Empfänger mit besonders leistungsfähigem Kurzwellenteil, für tropische Bedingungen entwickelt, robust und dabei ziemlich 296
klein. Nun höre ich jeden Tag von einem Dutzend Stationen, was so in der Welt geschieht. Lao Wu und seine Frau halten mich für einen der größten Gelehrten der Welt, und für einen treuen Freund Chinas, was ganz in meinem Sinne ist. Sie beteuern einmal ums andere, wie glücklich sie sind, bei mir arbeiten zu dürfen. Abends, wenn ich an meinem Radio sitze, schleichen sie auf Zehenspitzen um mich herum. Sie ahnen nicht, daß ich seit neuestem außer AFRS, unseren Militärstationen (Armed Forces Radio Service), und Manila oder Hongkong auch Jenan höre. Radio Hsinhua nennt sich die Station. Jeder Nachrichtendurchsage folgt die ausdrückliche Aufforderung, die roten Nachrichten beliebig weiterzuverbreiten. Kein Copyright!
Nachkriegswelt im Radio Hsinhua, 11.10.1945 Die Verhandlungen zwischen der KP Chinas und der Kuomintang, zu denen sich der Vorsitzende Mao Tse-tung seit dem 28. August in Tschungking aufhielt, wurden abgeschlossen. Vorsitzender Mao Tse-tung, der inzwischen wieder in Jenan eingetroffen ist, erklärte: »Sollte die Kuomintang nun doch noch einen Bürgerkrieg entfesseln, so wird die ganze Nation sie allein als Urheber erkennen, und auch die übrige Welt wird es als gerecht empfinden, wenn wir den Angriff der Kuomintang allseitig zerschlagen ...«
Radio Tschungking, 11. 10. 1945 Unter Bruch der bestehenden Abkommen hat der rote Generalstab in Jenan über 100000 Soldaten unter Führung der Generale Tschu Teh und Lin Piao in Richtung Mandschurei in Marsch ge297
setzt. Unter Ausnutzung des sowjetischen Entgegenkommens gelang es den roten Truppen, einen großen Teil der von den Japanern niedergelegten oder in Arsenalen abgestellten Waffen, darunter auch Artillerie und Panzer, in ihren Besitz zu bringen und sich damit auszurüsten.
Radio Manila, 15.10.1945 US-Truppen sind gegenwärtig damit beschäftigt, Zehntausende kommunistischer Guerillas zu entwaffnen, die sich während der japanischen Besatzungszeit zusammengerottet haben und die völlige Unabhängigkeit der Philippinen unter roter Vorherrschaft verlangen. Ihr Verhalten ähnelt dem der auf den holländischen Besitzungen in Niederländisch-Indien existierenden roten Banden, sowie denen, die in Burma, Indochina und Malaya auftreten. In Indochina, wo kommunistische Kräfte Anfang September bereits einen sogenannten unabhängigen Staat Vietnam ausgerufen hatten, sind weitere französische Truppenkontingente zur Niederwerfung des Widerstands eingetroffen.
Hsinhua, 17.10.1945 Es erweist sich immer deutlicher, daß Tschiang Kai-shek nicht ehrlich um eine Zusammenarbeit im nationalen Interesse bemüht ist. In den letzten Tagen häufen sich Angriffe der Kuomintangtruppen auf das Gebiet von Jenan und andere von der KP-Chinas befreite Zonen. Vorsitzender Mao Tse-tung rief zur entschlossenen Abwehr gegen alle Angriffe der Kuomintang auf und befahl die Errichtung von sicheren Stützpunkten in der Mandschurei...
Hsinhua, 25.10.1945 Aus den von der Volksbefreiungsarmee besetzten Gebieten im 298
Norden und Nordosten wird gemeldet, daß Maßnahmen zur Bodenreform gemäß den Richtlinien des Zentralkomitees der KP-Chinas durchgeführt werden und auf allseitige Unterstützung der Bauern stoßen. Patriotische Großbauern haben weiter die Gelegenheit, ihr Land zu bebauen, nur die Ausbeutung von Pachtsklaven ist ihnen nicht mehr gestattet.
Afhs, 14.11.1945 In einer Woche wird in Nürnberg, einer Stadt im Süden Deutschlands, das internationale Tribunal gegen die Nazi-Kriegsverbrecher beginnen. Zwanzig Hauptangeklagte erwartet vermutlich die Höchststrafe.
Hsinhua, 11.11.1945 Wie aus Washington bekannt wurde, bekräftigte die US-Regierung ihre Absicht, weiterhin einseitig Waffen und Hilfsgüter an die Kuomintang zu liefern. Präsident Truman ließ verlauten, die USHilfe würde nicht durch weitere Truppenentsendungen ergänzt werden. Gleichzeitig aber behauptete er, die Existenz der vom chinesischen Volk geliebten Volksbefreiungsarmee mache eine politische Einigung in China unmöglich.
Afrs, 27.11.1945 US-Botschafter Patrick Hurley ist von seinem Posten in Tschungking zurückgetreten. Der von Präsident Truman nach Tschungking entsandte General George Marshall wird neuer Botschafter in China werden. Es ist beabsichtigt, daß er bereits in wenigen
Wochen
mit
Generalissimus
Tschiang
Kai-shek
zusammentrifft, der das Regierungszentrum nach Nangking verlegt... 299
31.12.1945 Neujahr. Ich frage mich, ob ich schon so viel von der chinesischen Lebensweise in mir habe, daß ich es nicht feiere. Ich habe keine Lust, mich in das Gewimmel der Militärs von Rang zu mischen, die sich heute in den besseren Hotels treffen. Noch weniger reizt es mich, mitzuerleben, wie sich die fünftausend GIs in den Animierkneipen um die Morrison-Street herum betrinken. In den letzten Wochen sind solche Lokale wie Pilze nach dem Regen aus dem Boden geschossen. Peking ist nicht mehr von Tschungking zu unterscheiden, wenn es darum geht, Lustbarkeiten und Geschäfte, Betrug und Prostitution aufzulisten. Insofern könnte man sagen, das normale Leben ist wieder eingezogen. Mit der Kuomintangadministration allerdings kam auch alles das, was es dieser immer noch bedeutenden Partei und ihrer Führung — leider für uns, denn wir sind fest mit ihr verbündet — unweigerlich verwehren wird,
das
Riesenland
zu
vereinen
und
die
bestehenden
Widersprüche aufzulösen. Neue Probleme kommen täglich hinzu. Die Ökonomie ist katastrophal, man hat die Pekinger Fabriken darauf abgestellt, den gehobenen Bedarf der Oberschicht zu befriedigen, was der arme Mann ißt, womit er sich kleidet, was seine Kinder vor Krankheiten schützt — das alles ist gleichgültig. Als Amerikaner könnte ich das, was sich hier abspielt, eigentlich mit ziemlicher Gelassenheit und aus einer gewissen Distanz heraus beobachten, nur ist mir das nicht möglich, ich bekenne, es liegt an mir selbst. Ich bin zwar kein Missionar, der sozusagen professionell die Leiden anderer mitleidet und daraus Festigkeit für seinen Glauben schöpft, ich bin überhaupt nicht religiös, nur braucht man das in dieser Stadt gar nicht zu sein, um das würgende Unbehagen zu empfinden, das mich plagt. Eines Tages beobachtete ich, wie Lao Wu, als er mich bei der 300
Schreibarbeit wähnte, einen Kübel mit Abfall auf die Gasse hinaustrug. Gemüseschalen, Obstreste, leere Konservendosen, dazwischen den Inhalt ausgeleerter Aschenbecher. Ich hätte mir weiter keine Gedanken gemacht, wenn ich nicht kurz darauf vor dem Tor einen ziemlichen Lärm gehört hätte. So kam ich dazu, wie sich ein halbes Dutzend Kinder aus der Nachbarschaft um das balgten, was Lao Wu weggeworfen hatte, um es problemlos vom Hals zu bekommen. Es wird mir wahrscheinlich nie im Leben gelingen, das Bild loszuwerden, so wie manche andere Bilder aus diesem Land, die sich mir unauslöschlich eingeprägt haben: in Lumpen gegen die Winterkälte gehüllte kleine Mädchen rauften mit Jungen um den Strunk eines Kohlblattes, andere hieben mit Fäusten aufeinander ein, um einen Knochen zu ergattern, den Rest eines Hühnerbeins, ein Mädchen biß in die Rückengräte eines Fisches, an der Dreck und Asche klebten, und der Kleinste von allen, ein Knirps mit im Schritt geschlitzter Hose, wie sie Kinder seines Alters hier üblicherweise tragen, damit sie ihre Notdurft verrichten können, indem sie sich lediglich hinhocken, schrie aus Leibeskräften — er hatte den Finger in einer Schmalzbüchse verklemmt, die ihm ein anderer zu entreißen versuchte, das scharfe Blech schnitt schmerzhaft ins Fleisch. Lao Wu kam, als ich den Versuch machte, schlichtend einzuschreiten. Er ließ eine Fluchkanonade los und warf Steine nach den sich balgenden Kindern, wohl in der Ansicht, daß er für mich Ruhe schaffen müsse. Ich hielt ihn zurück. »Sie wachsen auf wie Tiere!« schimpfte er. »Sie schänden das Gesicht des Landes!« Ich wies ihn zurecht: »Es sind Menschen, Lao Wu, nur haben sie Hunger. Und Hunger macht verzweifelt. Haben Sie selbst nie welchen gehabt?« Da wurde er still. Natürlich habe er Hunger gehabt, 301
aber es gehöre sich nicht, vor dem Haus eines Ausländers ein Schauspiel dieser Art aufzuführen. Ein Mensch muß Stolz besitzen. Ich sagte: »Für einen Satten mag es leicht sein, Stolz zu zeigen, für einen Hungrigen ist es schwer. Es sind Kinder mit knurrenden Magen, deshalb werden sie vor meiner Tür nicht verflucht. Holen Sie für jeden eine Handvoll Reis!« Er folgte verblüfft meiner Aufforderung, obwohl er es sich nicht verkniff, mich aufmerksam zu machen, daß diese Kinder fortan jeden Tag um Reis betteln würden, vor meiner Tür, mich bei der Arbeit stören mit ihrem Geschrei. Aber wir gaben ihnen den Reis. Sie sahen mich mit ihren großen, dunklen Augen an wie ein Wesen, von dem sie nicht wissen, ob sie es fürchten oder lieben sollen. »Nun geht«, forderte ich sie auf, und sie gingen, bis auf den einen, den Kleinsten, der immer noch flennend auf der Erde hockte, den Zeigefinger der einen Hand zwischen dem rissigen Blech der Schmalzbüchse eingeklemmt, blutend, in der anderen Hand den klebrig gekochten Reis, den Lao Wu ihm gegeben hatte. Als ich nach ihm griff, schrie er auf. Aber als er mich verstand, weil ich in seiner Sprache zu ihm redete, sehr langsam und geduldig, er solle keine Angst haben, wir würden das mit dem Finger schnell in Ordnung bringen, da war nur noch Mißtrauen in seinen Augen. Er mochte fünf Jahre alt sein. Mit einer blitzschnellen Bewegung führte er die Hand mit dem Reis zum Munde und verschlang alles gierig. Noch immer daran würgend, blickte er mich an, als wollte er sagen: So, jetzt kannst du mir das wenigstens nicht mehr nehmen! Er ließ sich nach einigem Zureden von mir ins Haus führen, wo ich ihn von der Blechdose befreite, und er ließ es ohne einen Schmerzlaut über sich ergehen, als ich die Wunde auswusch, mit verdünntem Mercurochrom, jener violetten Universalsubstanz aus jedem Army-Verbandkasten, betupfte und zuletzt mit einem Ver302
band versah. »Man muß aufpassen, daß er nicht stiehlt!« brummte der besorgte Lao Wu im Hintergrund. Ich reagierte nicht darauf, fragte den Kleinen, wie er heiße. »Di-di. »Nun gut, du bist Di-di, der kleine Bruder, aber aus welcher Familie?« Es stellte sich heraus, daß sein Vater zu den Soldaten gezogen worden war, vor langer Zeit schon, und daß niemand wußte, ob er noch lebte. Die Mutter fuhr Kohlenstaub aus, mit einem Handkarren, sie kam immer erst spätabends nach Hause, schmutzig, todmüde, und nur manchmal mit etwas Eßbarem. »Solche Kohlen macht man aus dem, was meine Mutter ausfährt!« Er deutete auf die hier üblichen Presskohlen, gefertigt auf ähnliche Art, wie ich es in Jenan gesehen hatte. Dann ging er an den großen Kamin, den ich im Wohnzimmer gern heizte. Er streckte beide Hände dem Feuer entgegen, um sie zu wärmen, es war draußen bereits empfindlich kalt. Ich wußte längst, daß in der Gasse nicht nur wohlhabende Leute wohnten. Es gab Häuser wie das meine, die von sechs bis acht kinderreichen Familien zusammen bewohnt wurden, und nur wenige der Eltern hatten Arbeit. »Hast du oft Hunger?« Er überlegte lange. Angst vor dem Fremden, den die übrigen Kinder
natürlich
>Langnase
ausländischen TeufelHerrTeufel
vor, Sir. Unter so vielen hungernden Landsleuten bin ich satt und wohlhabend ...« Das Peking des Jahres 1945. Es ist nahezu unbeschreiblich, wie hier die Gegensätze aufeinanderprallen, tiefstes Elend und verschwenderischster Luxus. Ein Gemisch, das unweigerlich zur Explosion kommen muß. Doch — ist das nicht in ganz China heute so? Ich saß an diesen Wintertagen mit ihren nächtlichen Frösten und dem
wärmenden
Sonnenschein
der
Mittagsstunden
fast
unausgesetzt über Gedichten, die ich übersetzte. Außerdem gab ich Sprachstunden, und chinesische wie amerikanische Dienststellen begannen mir Texte zuzuleiten, die jeweils in die andere Sprache zu übertragen waren. Das Ergebnis: ich schwamm förmlich in Geld. Das war also das Leben eines > Privatgelehrten Peking< zu tun hatte. Man hatte ihm gerade seine Abkommandierung nach Tokio mitgeteilt. Kellis war bereits verschwunden. Aus einem Impuls heraus, vielleicht, weil er freundschaftliche Gefühle für mich hegte, lud Kamasuki mich zu einem Abschiedsessen in eines der teuersten Lokale der Stadt ein, das >TjüandjüdeZusammentreffen aller Tugenden< übersetzen 306
könnte. Es lag in einer unauffälligen Seitenstraße, ein wenig außerhalb des Tjien Men, und man erkannte es an seinem eigenwilligen Eingang, einer kreisrunden Öffnung in der knallroten Außenwand. Dies war die andere Seite des Pekings dieser Zeit: ein sich tief verbeugender Wirt in langem, dunklem Gewand empfing uns, würdig und trotzdem unterwürfig, er sprach das grässlichste Pidgin-Englisch, das ich seit langer Zei gehört hatte — unsere GIs nennen es den >Shopkeeper-Slang< —, und er führte uns in eines der vielen Abteile des Restaurants, das nach drei Seiten abgeschlossen und durch einen luxuriösen handbemalten Lampion beleuchtet ist. Der Tisch stand bereits voller Schalen und Schüsselchen, Teller waren da und Löffel und Gabeln, für den unkundigen Ausländer, aber auch Stäbchen, und zwar solche aus handgeschnitztem Elfenbein. Hier ißt man >Peking-Entealten Kameraden< den letzten Abend in Peking so angenehm wie möglich zu verbringen. Immer wieder erschien der Wirt, achtete darauf, daß alle Zutaten auf dem Tisch waren, dirigierte den Kellner, der uns bediente, überwachte die Temperatur der Getränke. Und er zeigte sich hocherfreut, als ich mich in seiner eigenen Sprache mit ihm unterhielt. Er ließ sich sogar dazu überreden, einen Mao Tai mit uns zu trinken: auf die ewige Freundschaft der ehrenwerten Amerikaner mit den Chinesen! Ganbei! Stolz wies er uns das auf einen Zug geleerte Schälchen vor, zum Zeichen, daß er es mit dem >Ausleeren bis auf den Grund< ehrlich gemeint hatte. Ein echter Gentleman der alten Schule, sogar der zentimeterlange Nagel am kleinen Finger fehlte nicht, der Beweis dafür, daß er hier nicht etwa jemand war, der seine Hände zur Arbeit benutzte, sondern der Chef. Kamasuki erzählte mir, daß er Post von seiner Mutter habe, sie sei nach langer Internierung während des Krieges jetzt wieder zu Hause, habe auch ihre alte Arbeit wieder aufgenommen, in einer Fabrik, die Damenstrümpfe aus Nylon herstellte. Er war glücklich darüber, und er sah auch seine eigene Zukunft recht rosig — solange die Army ihn in Tokio brauchte, würde er im Dienst bleiben, danach würde er, gemäß dem eben ergangenen >GI-BillTjüandjüdePeking< residierte. Vor dem Lokal, in gebührendem Abstand zu den Autos, die bereits vorgefahren waren, drängten sich die klapprigen Karren, teils noch vom alten Typ, bei dem der Mann zwischen den beiden langen Zugstangen lief, barfuß, trotz der bereits beißenden Nachtkälte, aber es gab auch schon einige, bei denen die Sitzgondel hinter ein Fahrrad montiert war, mit einer Art Verdeck versehen, was die Fahrt angenehmer machte, allerdings wohl nur für den Gast. — Während ich mit einem dieser Fahrrad-Rikschamänner den Preis aushandelte, hörte ich die Pipa. Ein Bettler spielte sie, an der Mauer des Restaurants sitzend, alt, mit ein paar langen Bartfäden, blind. Er spielte das alte chinesische Instrument, das zwar der Gitarre entfernt ähnelt, aber einen völlig anderen Klang ergibt, neben ihm auf dem Boden stand eine leere Konservendose, so eine wie die, mit der Didi sich verletzt hatte: amerikanisches Schmalz. Ich wollte weg von dem Restaurant, so schnell wie möglich. Kamasuki warf ein paar Dollarmünzen in die Büchse. Der Mann spielte weiter, wie entrückt. Ob ihm der nächstbeste Dieb das Geld stehlen würde? »Was ist los?« erkundigte sich Kamasuki mit leicht schleppender Stimme. »Dir hat's wohl nicht gefallen, wie? Keine Weiber, ist es das?« 309
Ich mußte alle Überredungskünste aufwenden, um ihn davon abzuhalten, daß er den Rikschafahrer zum nächsten Bordell umdirigierte. Ein eisiger Wind pfiff durch Peking in dieser Nacht. Es war, als kröche die Kälte förmlich aus dem Boden. Wir waren trotz der Plane ziemlich erfroren, als wir am >Peking< ankamen. In der Halle, um die Bar herum, saßen die Spättrinker mit ihren einheimischen Mädchen. Wir leerten noch ein paar Gläser Whisky, hörten uns ein paar GI-Witze an, dann waren wir plötzlich beide müde, und ich schlief die wenigen Stunden, die bis zu Kamasukis Abreise verblieben, auf seinem Zimmer. Morgens hatte ich einen Hunger, als hätte ich seit Tagen keine Mahlzeit mehr gehabt. Eigentlich wollte ich dem Chinesen hinter dem Rezeptionstisch nur ein Trinkgeld in die Hand drücken, dafür, daß ich im Hotel übernachtet hatte, was ihm natürlich nicht entgangen war, doch als ich an die Rezeption kam, blieb ich länger stehen. Der beleibte Zivilist, der hier wild gestikulierend immer wieder verlangte, mit einer bestimmten Telefonnummer verbunden zu werden, verlangte ausgerechnet meine eigene Nummer, in einem akzentgefärbten Englisch, und abwechselnd in ebenso akzentgefärbte Chinesisch, wütend und ungeduldig, weil seine Aufregung den Chinesen hinter dem Tisch nicht weiter berührte. Dieser versicherte nur immer wieder höflich, es melde sich niemand unter der verlangten Nummer: »Sir, vielleicht ist das Kabel defekt. Viele Kabel sind jetzt defekt in Peking ...« »Quatsch!« tobte der Ausländer. »Der Mann hat diese Nummer, und ich wette, das Kabel ist in Ordnung! Geben Sie sich, gottverdammt, Mühe!« Nachdem ich mir das eine Weile angehört hatte, tippte ich dem Ausländer auf die Schultern: »Kann ich Ihnen helfen? Wie war die Nummer?« Er sagte sie auswendig her. »Ich habe 310
sie nun seit gestern abend schon so oft wiederholt, daß ich sie im Schlaf singen könnte! Hallo, übrigens, danke für die gute Absicht, wer sind Sie?« Er war in Eile, hatte sein Gepäck neben sich stehen. Ich hielt ihn für einen Europäer, wegen seines Akzents. Ein nicht sehr großer, massiger Mann, tadellos gekleidet, der ganz im Widerspruch zu seiner Ungehaltenheit gegenüber dem Chinesen auf mich eher einen gemütlichen Eindruck machte. Er öffnete den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen, als ich sagte: »Ich heiße Robbins. Wenn ich recht verstanden habe, verlangten Sie meine Nummer ...« »Gott im Himmel, sind Sie etwa dieser Robbins?« »Sidney B. Robbins, wenn Sie den meinen, ja.« »Der Tu-Fu-Mann?« Ich blickte ihn etwas überrascht an. Er überschüttete mich mit einem Schwall von Worten, aus denen ich nach und nach entnehmen konnte, daß er Verleger sei, oder jedenfalls in der Verlegerbranche
tätig,
aus
San
Francisco,
Herausgeber
schöngeistiger Literatur, besonders chinesischer, alter, klassischer, daß er als Emigrant lange in Shanghai gelebt habe, wo Verhandlungen mit einem Mister Ku zu führen gewesen waren, wegen eines Rechtsstreits um Urheberrechte mit dem >Victory Digest< ... »Eine Version von >Readers Digestabgewaschen LotosfüßeGroßabnehmer< sind und nun zu ihrem festen Kundenkreis zählen, bedeutet das für sie eine nicht zu unterschätzende Sicherheit. Zwar läßt sich Lao Wu nicht dazu herbei, ihr beim Abladen und Hereintragen zu helfen — das wäre unter seiner Würde —, aber ich konnte beobachten, daß er sie nach der Anlieferung mit einer großen Schale Reis verpflegte. Es ist so gut wie sicher, daß sich zwischen dem Reis auch Fleischstückchen und Gemüse befanden. So verwunderte es mich nicht, daß Di-di am Tage des Frühlingsfestes erschien, mit einem aus Buntpapier geklebten Lampion und einem >Tang Hulu Leute, die am gleichen Ufer wohnen Insel im Meerwestlichen< Anzug. »Lieber Kamerad Robbins!« rief er, dann schüttelte er mir freudig die Hand, klopfte mir auf die Schulter und dirigierte mich ins Innere des Gasthauses. Der Wirt und seine Frau, offenbar mit den Guerillas in dieser Gegend seit längerem im Einvernehmen, standen wie ein Empfangskomitee da und verbeugten sich tief. Außer Kang Sheng und mir befand sich niemand in dem kleinen Raum, wir ließen uns an dem bereits gedeckten runden Tisch nieder, und Kang Sheng ließ sich berichten, wie ich mich in Peking eingelebt hatte. Er schüttelte besorgt den Kopf, als er von meiner gerade überstandenen Grippe erfuhr, und dann tranken wir Tsingtao-Bier, das ihm sichtlich schmeckte. Ich erzählte von dem, was sich seit meiner Ankunft in Peking ereignet hatte, und konnte beobachten, daß Kang Sheng mich mit einem Blick ansah, in dem Bewunderung zu spüren war. »Wir freuen uns sehr, daß Sie sich in der Stadt eingelebt haben, Kamerad Robbins«, sagte er schließlich. »Es ist gewiß nicht einfach gewesen. Ich gebe zu, ich habe Sie unterschätzt, Sie sind ein Mann, der sich schnell zurechtfindet. Ich darf Ihnen die herzlichen Grüße 322
des Genossen Vorsitzenden ausrichten. Er weiß als einziger, daß ich mich hier mit Ihnen treffe ...« »Danke«, erwiderte ich. »Wenn Sie mit ihm zusammenkommen, übermitteln Sie ihm bitte auch meine Grüße!« Er versprach das. Aber er hielt sich nicht lange bei Vorreden auf, er war gekommen, um mich über Zusammenhänge zu informieren, alles andere war höfliches Beiwerk. »Wenn Sie gestatten, werde ich Ihnen die Lage erläutern, wie wir sie sehen. Es wird für Sie von Bedeutung sein, unsere Beurteilung zu kennen. Vermutlich haben Sie erfahren, daß der neue Beauftragte des amerikanischen Präsidenten, Mister Marshall, seine Tätigkeit seit Januar darauf richtet, eine Art >große Pause< herbeizuführen, in der sich die Kuomintang mit uns auf eine ehrliche Zusammenarbeit einigen soll, bevor wir eine Konsultativkonferenz abhalten, um danach China politisch einigen zu können. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß wir diese Bemühungen des Herrn Marshall kritisch beurteilen, um nicht zu sagen, wir halten sie für heimtückisch. Trotzdem haben wir dem Waffenstillstand seit dem 10. Januar zugestimmt, haben an der Konsultativkonferenz teilgenommen, und dort ist dann ja auch formal die Bildung einer Koalitionsregierung beschlossen worden, die
Vereinigung
aller
Streitkräfte
unter
gemeinsamem
Oberkommando, sowie eine Anzahl minder wichtiger Reformen auf verschiedenen Gebieten. Mister Robbins, wir sind uns darüber klar geworden, daß nichts davon in der Realität durchführbar ist ...« »Sie glauben, daß die Verhandlungen nicht das geringste Ergebnis bringen werden?« »Genau das glauben wir«, antwortete er freundlich. »Sie haben lediglich dazu geführt, daß der verdeckte Bürgerkrieg jetzt als Waffenstillstand bezeichnet wird. Mister Marshall sorgt dafür, daß währenddessen immer mehr Kuomintangtruppen um die von uns 323
besetzten Gebiete zusammengezogen werden, die Garnisonen in den mandschurischen Städten werden aufgestockt, und der >Waffenstillstand< soll lediglich dazu dienen, daß wir diese Vorbereitungen zu unserer Vernichtung nicht behindern dürfen. Das ist die bittere Wahrheit, das ist der Verrat, den die gegenwärtige Regierung der USA an uns übt...« Er unterbrach sich, dachte nach, dann versicherte er mir: »Kamerad Robbins, man wird uns nicht unvorbereitet finden, wir sind nicht untätig, auch wir bereiten uns auf das Unvermeidliche vor, und zwar mit aller Kraft. Aber — wir wissen andrerseits, daß es in den Vereinigten Staaten Kräfte gibt, die dieses bedingungslose Engagement für Tschiang Kai-shek missbilligen, die lieber mit uns zusammen ein freies China schaffen würden, das als Partnerland der USA eine höchst wichtige Rolle auf dem asiatischen Festland spielen könnte, weil es nämlich ein innerlich stabiles Land sein würde. Wir wissen, daß beispielsweise Sie zu diesen Kräften gehören, auch andere Ihrer Landsleute, die wir in Jenan kennen lernten. Aber wir sind Realisten, wir blicken den Tatsachen ins Auge: diese von uns hochgeschätzten Leute sind vorerst unterlegen, sie werden sich auf lange Zeit in der amerikanischen Politik nicht durchsetzen können. Der schwelende Bürgerkrieg zwischen uns und der Kuomintang wird also eines Tages explosionsartig ausbrechen. Wir treffen alle Vorbereitungen, seien Sie unbesorgt. Wir werden uns der Kuomintang nicht beugen, wir werden uns die Macht in China erkämpfen, das ist sicher. Sicher ist auch, daß die amerikanische Unterstützung Tschiang Kai-shek nicht retten wird. Und wenn die USA noch mehr Truppen schicken, die sich etwa an den kommenden Kämpfen beteiligen, so würde das den dritten Weltkrieg bedeuten ...« Ich fühlte mich verpflichtet, eine Äußerung zu tun, und ich be324
merkte: »Bis hierher bin ich genau Ihrer Meinung. Ich bedaure das, was unsere Administration gegenwärtig tut, aber es gibt wohl kaum eine Möglichkeit, daran etwas zu ändern. Ich möchte Sie aufmerksam machen, daß die Atombombe eine Art Zäsur in der amerikanischen Politik herbeigeführt hat, mit der wohl niemand rechnete ...« Er stimmte mir zu. Aber dann sagte er, nachdem er etwas Bier getrunken hatte: »Wir haben keine Furcht vor dieser Bombe, Kamerad Robbins. Wir sind entschlossen, der Kuomintang endgültig und mit Waffengewalt die Macht aus der Hand zu schlagen. Ich möchte, daß Sie das Ihren Gesinnungsfreunden in den Vereinigten Staaten übermitteln. Wir lassen uns mit dem Despoten Tschiang Kai-shek auf keine Wagnisse mehr ein, unser Kurs ist festgelegt, wir werden ihn vernichten. Reinen Tisch machen wir. Was den dritten Weltkrieg betrifft, so glauben wir, daß die Völker, auch in unserer Region, kriegsmüde sind. Amerika würde diese Völker gegen sich aufbringen, wenn es tatsächlich Truppen zu Tschiang Kai-sheks Hilfe entsenden würde. Und dann ist da zu bedenken, daß es die Sowjets gibt. Sie würden ein amerikanisches Engagement unmittelbar vor ihren Grenzen zweifellos als Bedrohung empfinden. Mehr möchte ich dazu nicht andeuten. Nur — wir werden trotz allem unsere Angebote an die Vereinigten Staaten offenhalten. So wie wir das in Jenan erklärt haben. Ich möchte Sie bitten, die ganze Kompliziertheit der Lage gründlich zu durchdenken. Im bevorstehenden Kampf gegen Tschi-ang Kai-shek werden wir uns Verbündete suchen müssen ...« »Moskau?« Er lächelte. »Sobald der Bürgerkrieg voll entbrennt, werden Kommunisten aus dem einen Land einfach den Kommunisten im anderen Land helfen müssen, Mister Robbins, wenn sie nicht ihr Gesicht verlieren wollen. Unter uns gesagt: die Sowjets möchten 325
den Bürgerkrieg vermeiden. Sie halten das noch für möglich, sie glauben an die Chance einer Koalitionsregierung, in der die KP eine wesentliche Rolle spielt, die sie dann nach und nach ausbauen soll. Wir glauben nicht an diese Möglichkeit, und wir werden mit den Sowjets nicht mehr lange darüber debattieren, wir werden sie vor vollendete Tatsachen stellen — nur das ist nicht Ihr Problem. Ich möchte, daß Sie' Ihren Vorgesetzten mitteilen, es wird sich angesichts
der
gegenwärtigen
Haltung
der
amerikanischen
Administration nicht vermeiden lassen, daß wir uns an die andere Seite anlehnen. Wir haben keine Wahl, wenn wir unser Ziel erreichen wollen. Man soll das berücksichtigen: es ist nicht unser eigener Entschluß, es ist das politische Verhalten Amerikas, das uns dazu zwingt.« »Nur«, wandte ich ein, »habe ich keine Vorgesetzten mehr, Mister Kang Sheng. Das OSS ist aufgelöst. Jeder, der in Jenan war, gilt heute zu Hause als des Kommunismus verdächtig ...« Er winkte ab, ungeduldig, wie es mir schien. »Ja, ja, ich weiß das. Aber ich bin auch informiert, daß bestimmte Kräfte sich für die Schaffung
eines
zentralisierten
neuen
Apparates
einsetzen.
Kamerad Robbins, denken Sie selbst nach: Erfahrene Leute auf diesem Gebiet, Leute, die sich in Geheimdienstarbeit auskennen und gleichzeitig in Asien zu Hause sind, Leute, die mit uns bekannt wurden, die mit uns sprechen können, von Mann zu Mann — sie sind rar. Man wird auf alte Spezialisten zurückgreifen müssen, eines Tages, früher oder später. Alles, was wir haben müssen, ist Geduld. Wir Chinesen haben viel Geduld, es ist eine unserer wertvollsten Tugenden, wir werden den Zeitpunkt abwarten, zu dem sich die Dinge verändern lassen. Gibt es eine Verbindung zwischen Ihnen und Ihren ehemaligen Vorgesetzten?« Ich zögerte. Was ging es ihn an. Aber es war vermutlich klüger, 326
in diesem Falle mit offenen Karten zu spielen. »Ich kann meinem Führungsoffizier — dem ehemaligen — über eine Zwischenadresse Botschaften zusenden.« »Das ist doch sehr gut! Tun Sie das weiter. Wir arbeiten auf sehr lange Sicht, was das betrifft. Und auf sehr vielen verschiedenen Wegen. Informieren Sie Ihren ehemaligen Führungsoffizier über unsere Auffassung, wie ich Sie Ihnen darlegte. Wenn Sie von ihm eine Rückäußerung erhalten ...« Er unterbrach sich, suchte in seinen Anzugtaschen, brachte dann einen Zettel hervor und sah mich ernst an. »Kamerad Robbins, dies ist eine praktische Frage. Wir sind auf Mister Marshalls Taktik eingegangen, wie ich es beschrieb, es hat uns unter anderem auch einige neue legale Möglichkeiten eingebracht. Beispielsweise die, daß es jetzt in Peking eine sogenannte > Dreierkommission < gibt, Amerikaner, Kuomintang, KP-Vertreter, die ganz offiziell diese Farce von Waffenstillstand überwachen sollen. Wissen Sie davon?« Ich schüttelte den Kopf. Ich wußte tatsächlich nicht, daß es inzwischen in Peking offizielle KP-Vertreter gab. Aber selbst, wenn ich es gewußt hätte, wäre das für mich kein Grund gewesen, sie etwa zu suchen. Das sagte ich Kang Sheng. Er nickte bekräftigend, freute sich offenbar über meinen konspirativen Instinkt. »Sehr richtig! Lassen Sie sich nie auch nur in der Nähe dieser Kommission sehen! Halten Sie sich fern. Sie sind ein Privatmann, der in Peking lebt, sonst nichts. Ich gebe Ihnen eine Telefonnummer, die Sie sich merken, nicht aufschreiben, sondern nur ins Gedächtnis einprägen. Für den Fall, daß Sie eine Botschaft für mich haben, rufen Sie diese Nummer an und sagen, in der Ping Tjiao Hutung sei die Elektrizität ausgefallen, man solle das bitte reparieren. Nur das, sonst nichts. Einfach auflegen, warten. Es wird sich dann jemand bei Ihnen melden, und der wird nicht von einer Reparatur 327
an der elektrischen Anlage sprechen, sondern an der Wasserleitung. Sie führen ihn in Ihr Badezimmer, dort geben Sie ihm die Botschaft für mich, den Rest erledigt er. Hier die Nummer ...« Ich prägte sie mir ein, es war nicht besonders schwierig, man hatte uns beigebracht, solche Zahlen zu behalten. Nach und nach kam ich mir vor wie in einem Verschwörerfilm, aber das alles, was Kang Sheng hier mit mir besprach, gehörte wohl unvermeidlich zum Handwerk: der >Privatgelehrte< Robbins war dabei gewesen, das über Tu Fu und Li Po zu vergessen! Wie auf Verabredung erschien in unserer Gesprächspause der Wirt. Er trug einen unter Glut stehenden Feuertopf, eines jener mit Holzkohle befeuerten Kochgeräte, mit denen man am Tisch Mahlzeiten selbst kochen kann. Teller mit Gemüse, Fleischbrocken und Reis kamen hinzu, Schalen mit Soßen und Gewürzen. Kang Sheng forderte mich auf, zuzugreifen: »Ein bescheidenes Mahl!« »Immerhin«, sagte ich, während ich mit den Stäbchen ein Stück Fleisch in die siedende Brühe hielt, »es ist opulenter, als wir es in Jenan hatten!« Er lachte, zwinkerte mit den kurzsichtigen Augen. »Sie verstehen es, Fortschritte aufzudecken, Kamerad Robbins! In der Tat, wir haben uns verbessert. Nicht nur in dieser Hinsicht. Wir sind stärker geworden. In der Mandschurei haben wir den Japanern so viele Waffen abgenommen, daß wir eine Division nach der anderen damit ausrüsten können. Wir haben ihre Lastwagen, ihre Granatwerfer, ihre Geschütze — sogar ihre Panzer haben wir. Unsere Soldaten sind dabei, alle diese für sie neuen Waffen beherrschen zu lernen. Aber sie sind gelehrig — Tschiang Kai-shek wird das sehr bald spüren!« Ich tunkte das gegarte Fleisch in eine Schale mit Soße, es schmeckte gut, ich aß Lauch und hielt ein Stück Kohl in die Brühe. 328
Der Wirt kam mit einer der langhalsigen Brandyflaschen, die ich von Peking her kannte, er goß winzige Schälchen voll und entfernte sich wieder, fast lautlos. »Also Bürgerkrieg«, sagte ich, um nochmals auf das zurückzukommen, was Kang Sheng mir erläutert hatte. Er nickte. »Sie dürfen das Ziel von Jenan nie aus den Augen verlieren, Kamerad Robbins. Es ist unsere Stärke, daß wir das nicht tun. Das Leben verläuft in Wellenlinien, aus tiefen Tälern steigt man eines Tages zu lichten Höhen empor. Wir werden das erleben, beide ...« Er hielt das Schälchen mit dem Brandy hoch, wir tranken. Als er das leere Schälchen absetzte, schärfte er mir nochmals ein: »Was immer geschieht, wir werden die Hand Amerikas, wenn sie sich uns entgegenstreckt, nie ausschlagen. Morgen nicht, in zehn Jahren nicht, nie. Es ist wichtig, daß Sie das wissen und daß möglichst viele Leute in den Vereinigten Staaten das erfahren. Haben Sie übrigens irgendwelche Sorgen in Peking, die wir Ihnen abnehmen könnten?« Mir fiel nichts ein, ich spürte nur, daß sich das gemeinsame Essen seinem Ende zu bewegte und Kang Sheng den Zweck seiner Unterredung mit mir als erfüllt ansah. Deshalb schilderte ich ihm in kurzen Worten, womit ich mich beschäftigte, wie es mir ging, teilte ihm sogar mit, daß mir ein Verleger aus den Staaten ein Geschäft mit chinesischer Poesie eröffnet hatte. Er wiegte den Kopf. »Sehr gut! Es ist wichtig, daß Sie in Peking zu einer Persönlichkeit werden, der man Respekt entgegenbringt und an deren Rechtschaffenheit niemand zweifelt. Wir werden in dem Viertel, in dem Sie wohnen, verbreiten lassen, daß Sie zwar ein Ausländer, aber ein treuer Freund des chinesischen Volkes sind. Wenn ich mich nicht irre, wäre das sogar mehr als ein geschickt unter die Leute gebrachtes Gerücht, nicht wahr?« 329
»Sie wissen sehr gut, daß ich China tatsächlich liebe«, sagte ich. »Und es fällt Ihnen nicht etwa schwer, bei uns zu leben? Auch nicht, wenn Sie an all die zivilisatorischen Vorteile denken, die Sie in Amerika hätten?« Eigenartig, seine bohrenden Fragen ähnelten denen, die Holly mir mehr als einmal gestellt hatte. »Was ist schon Zivilisation«, sagte ich ausweichend, »verglichen mit der Chance, sich mit einer der ältesten Kulturen der Welt beschäftigen zu können, in der Ruhe meines Heimes, ohne Sorgen? Zu Hause würde ich vermutlich wegen kommunistischer Ideen unter Druck stehen. Nein, ich lebe gern in Peking!« Er hob den Zeigefinger. »Vergessen Sie nie, Kamerad Robbins, wir sind dabei, in diesem Land ein Stück neuer Geschichte zu schreiben, mit dem Gewehr. Aus dem Gewehrlauf kommt alle Macht, wie unser Genosse Vorsitzender sagt. Sie werden Zeuge sein, mehr noch, Sie werden teilhaben daran ...« Ich tauchte weiter Fleisch und Gemüse in die blubbernde Brühe über dem Holzkohlefeuer, aß, trank Bier, hörte Kang Sheng zu, wie er mir voraussagte, die Revolution werde unvermeidlich siegen, der Kuomintang würden in Kürze lediglich ihre Bürokraten verbleiben, jene Feiglinge in Maßanzügen, die Bauern aber würden zusammen mit der Befreiungsarmee eine Provinz nach der anderen erobern, wobei
die
zwangsrekrutierten,
politisch
unaufgeklärten
Kuomintangsoldaten ihnen in Scharen zulaufen würden, freiwillig. »Waren Sie in der Mandschurei?« fragte ich ihn zwischendurch. Er nickte. Beschrieb die riesigen Industrieanlagen, die sich dort befanden, die Bodenschätze. Und er sprach über die Beute, die Lin Piaos und Tschu Tehs Truppen dort gemacht hätten. Als der Wirt wieder mit der Brandyflasche erschien, beauftragte Kang Sheng ihn, Tso Wen zu rufen. Der kam, mit einer flachen Tasche, als sei 330
das zuvor abgemacht gewesen, legte sie vor Kang Sheng hin und ging wieder. Kang Sheng lächelte verschmitzt. »Wir sprachen von Beute, Kamerad Robbins. Ich darf Ihnen im Auftrage des Genossen Vorsitzenden etwas überreichen, das der Sicherung Ihres Daseins in Peking dienen soll ...« Ich erwartete eine Maschinenpistole, vielleicht eine Automatik, aber stattdessen zog Kang Sheng aus der Tasche ein Päckchen, das etwa die Größe einer Zigarrenkiste hatte. Er wickelte das Papier auf, vor mir lag ein Stapel hauchdünner Goldplatten, drei Dutzend, vielleicht auch fünf. »Es sind zwanzig«, erläuterte Kang Sheng, den das kostbare Metall kaum zu erregen schien, er drehte eine der Platten in der Hand um, als handle es sich um eine Postkarte, und machte mich auf einen Prägestempel mit japanischen Schriftzeichen aufmerksam. »Unser Eigentum. Sie haben es gestohlen, aber sie mußten es zurücklassen, wie der Dieb den Mantel ...« Er schob mir das Päckchen über den Tisch zu, vorbei an dem Feuertopf und den Tellern mit den Resten der Mahlzeit. »Das soll für mich sein?« Er lächelte nicht, als er sprach, sein Gesicht hatte überhaupt einen ernsten Ausdruck angenommen. »Wir haben Sie gebeten, in China zu bleiben, was immer in der nächsten Zukunft geschehen sollte. Sie sind bereit, uns zu helfen, das wissen wir zu schätzen. Und — niemand weiß, was die nächsten Monate uns allen bringen werden. Dies hier könnte eines Tages den Reis und das Kochöl für Sie bedeuten. Es wird Hunger geben, schlimmer, als er jetzt ist. Dann wird es gut sein, etwas eintauschen zu können. Nehmen Sie es ruhig, wir haben genug davon. Wie lautet die Telefonnummer, die Sie in Peking anrufen können?« Verblüfft wiederholte ich sie aus dem Gedächtnis. Er lobte mich 331
dafür, forderte mich noch einmal zum Zugreifen auf, dann rief er nach dem Wirt und bestellte den Tee: Das Mahl ging dem Ende zu. »Wir werden uns lange Zeit nicht sehen«, sagte Kang Sheng, als er mich zur Tür brachte. »Leider. Aber der Tag wird kommen, an dem wir die Ideen unseres Vorsitzenden auch nach Peking tragen, und dann wird das Leben eigentlich erst beginnen!« Er sprach fast feierlich, und er drückte meine Hand, wies jeden Dank zurück, winkte nur noch einmal und verschwand wieder in dem Restaurant. Tso Wen lachte, als ich nach Kuomintangsoldaten in der Nähe fragte. Er versicherte mir, daß wir in dem Auto absolut sicher seien. Es gäbe unzählige Augen rechts und links der Straße, aber das wären die Augen roter Guerillas. Jeder von ihnen habe den Befehl, seine Waffe gesichert zu lassen. Als wir die Straßenkontrolle nach Peking hinein hinter uns hatten, sagte er gedämpft in Englisch zu mir: »Es ist möglich, daß wir uns in Peking einmal aus Zufall irgendwo begegnen. Bitte, begrüßen Sie mich nicht, beachten Sie mich nicht, ich bin ein Fremder für Sie, so, wie Sie ein Fremder für mich sind ...« Das ABC der Konspiration. Ich legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »0. K., ich kenne die Spielregeln, mein Junge!« Er schien erleichtert, als er mich am Eingang zur Ping Tjiao Hutung absetzte. Ob er es war, den ich unter der mysteriösen Telefonnummer erreichen würde? Ich fragte ihn nicht, ich kannte die Regeln. Als ich mein Haus erreichte, das Päckchen mit den Goldblättern unter dem Arm geklemmt, traf ich einen enttäuschten Lao Wu. Seine Frau hatte Essen vorbereitet. Teigtaschen mit Fleisch gefüllt. Als er jetzt erfuhr, daß ich schon gegessen hatte, war er verärgert, aber das legte sich schnell, als ich ihm auftrug, selbst ausgiebig davon zu essen und den Rest zu Di-dis Mutter zu schaffen. Er liebte 332
es, mit den Nachbarn in gutem Einvernehmen zu leben, und wodurch würde das noch besser gestärkt werden können als durch ein so unerwartetes, fürstliches Geschenk! Ich ging an meinen Wandtresor. Da lag das Zeug, das Holly mir übergeben
hatte,
und
da
lag
das
Bündel
mit
den
Hundertdollarnoten. Die Packung Goldplättchen legte ich dazu. Ein Schatz, von dem man Jahre leben könnte, als Ausländer, Jahrzehnte als Chinese. Es war, als habe sich einer mit dem anderen abgesprochen, mich auf jeden Fall in dieser zwielichtigen Stadt zwischen Krieg und Bürgerkrieg zum Millionär zu machen. Himmel, warum steckten sie mir nur alle das Zeug zu, ich brauchte es nicht, es war nicht nötig, um mich in China zu halten, und meinen Lebensunterhalt konnte ich mir ohnehin selbst verdienen! Auf der Anrichte stand eine Flasche Whisky, ich goß mir ein Glas ein, und plötzlich, beim ersten Schluck, merkte ich, daß es mir nicht schmeckte. Warum trank keiner mit mir? Das Schicksal eines Krösus in einer zerrissenen Welt ... Morgen werde ich an Holly berichten. Zum ersten Mal, über die Hongkonger Adresse, die er mir gab. Und dann im >Peking< einen GI suchen, der den Brief mitnimmt...
April 1946 Es ist ein tristes Jahr, das da begonnen hat, und ich weiß nicht so recht zu sagen, woher die Tristesse kommt, die mich befällt. Da ist diese im Grunde wunderschöne, interessante Stadt, die ich immer noch kaum kenne. Wann werde ich zu ihrer Entdeckung aufbrechen können? Einige tausend Jahre Historie stecken in ihren Mauern, glänzen in den Palästen und modern unter der Erde. Es muß im 15. Jahrhundert gewesen sein, wenn mich meine Schulkenntnisse in der chinesischen Geschichte nicht im Stich lassen, als 333
der regierende Ming-Kaiser Peking zur Hauptstadt des Reiches machte. Zweihundert Jahre danach stürzten die Mandschu-Fürsten die Ming, und sie begründeten die letzte Dynastie chinesischer Herrscher hier, in den Mauern der Verbotenen StadtPeking< wo ich mich an der Bar niederlasse, um einen Whisky zu trinken. Hierher verirrt sich kein Chinese in Lumpen, dafür sorgen einige Türsteher in dezentem Zivil, junge, kräftige 337
Burschen, deren Jacketts von den untergeschnallten Revolvern ausgebeult sind. Nur die Schuhputzjungen vor dem Hotel dulden sie, und auch das nur, weil die ihnen Prozente zahlen. Ein Navy-Captain läßt sich nach einer Weile neben mir nieder. Junger Mann, der die Uniform mit Stolz trägt, wie man sehen kann. Auch den DSO. »Britisch?« fragt er mich. Ich bin erstaunt, wußte nicht, daß ich wie ein Engländer wirken kann. Als er hört, woher ich komme — ich nenne ihm die Universität und rede nicht von Tschengtu —, ist er sofort bereit, mir den nächsten Whisky zu bezahlen, und ich mache das Spiel mit, schließlich habe ich den Brief an Holly in der Tasche, und der Captain ist bei der Navy! »Lausiges Nest!« urteilt er über Peking. »Habe mir den Palast angesehen, von außen, versteht sich, war in diesem einen Park da, wo die weiße Pagode steht, habe einen Buddha gekauft, für Zuhause, aber damit scheinen die Möglichkeiten Pekings erschöpft zu sein ...« Er dient auf einem Zerstörer, der vor Tsingtao liegt. Landgang, auch für die Matrosen. Er lacht: »Ich bin gespannt, wie viele von ihnen mit einer Dosis Tripper an Bord zurückkommen! Werden schwere Tage haben, bis Hongkong!« »Sie laufen aus in Richtung Hongkong?« »Ohne eine Träne zu vergießen, Sir! Ist kein Geheimnis mehr, der Krieg ist vorbei.« Er lacht. »Da unten ist es gemütlicher. Klima, Mädchen, alles einfach. Der Süden ist überall schöner als der Norden. War arg zerstört, Hongkong, aber jetzt sieht es schon wieder recht angenehm aus. Die Engländer haben so ihre eigene Art, für Ordnung zu sorgen ...« Als er mich fragt, was ich als Zivilist hier treibe, erzähle ich ihm, daß ich bis Kriegsende Major war, heute aber für die zivile Hilfslei338
stung abkommandiert bin. Er respektiert sogleich meinen höheren Dienstgrad, indem er noch öfter >Sir< sagt, im übrigen stellt er keine Fragen. Es gibt Hunderte amerikanischer Zivilisten in China, es gibt die Beauftragten der UNRRA, die Ratgeber für den Verwaltungsapparat der Kuomintang, auch schon Handelsleute, die erste Marktsondierungen betreiben. Als ich ihn frage, ob er eine Postsache für mich in Hongkong erledigen würde, ist er sofort bereit. »Warum nicht, ich werde dort mehr Zeit haben als hier. Wir gehen ins Dock ...« Er wirft nur einen knappen Blick auf die Adresse, sagt dann lakonisch: »Sehr bequem, das liegt nicht weit von der Queens Road entfernt. Gute Gegend zum Einkaufen, früher. Jetzt auch schon wieder. Erwachsene Tochter im Haus?« Ich verstehe nicht sogleich. Er klärt mich auf: »Ich werde selbst hingehen, wenn es da eine Tochter gibt. Sonst schicke ich meinen Burschen ...« Als ich ihn aufkläre, es handle sich um eine Handelseinrichtung, lenkt er vergnügt ein: »Gehe trotzdem besser persönlich hin, vielleicht sitzt eine Sekretärin mit gewissem Format im Vorzimmer!« Er ist ein unbeschwerter junger Mann, vielseitig ausgebildet, und er hat das Bewußtsein des Siegers. Ich bin mir nicht klar, ob mir das imponiert, obwohl es ihm zusteht. Er wirft mit Trinkgeld um sich, blinzelt dem Zeitungsmädchen im Vorbeigehen zu, und als eine sehr alte Chinesin, vermutlich die würdige Schwiegermutter irgendeines Kuomintang-Beamten ihm auf dem Weg zur Tür vor die Füße läuft, tritt er höflich beiseite, verbeugt sich galant und sagt: »Pardon Mylady! Empfehlung an das Fräulein Tochter!« Ich kann ihm nicht böse sein, auch nicht, als er vor dem Eingang plötzlich nachdenklich wird und mit komischem Ernst sagt: »Hätte vielleicht lieber Enkeltochter sagen sollen, wie?« 339
Es sind diese Jungens, die Amerika hervorbringt, und es sind die, von denen die Last des Krieges getragen wurde. Ich bin froh, die Nachricht für Holly losgeworden zu sein. Der Captain macht einen verläßlichen Eindruck. Nun werde ich gespannt warten, ob Holly sich meldet. Und auch auf Antwort von Mister Löwenstein werde ich warten. Ob er meine Übersetzungen mag? »Diese gottverdammten Bastarde!« schimpft der Navy-Captain plötzlich. Wir stehen vor dem >PekingNumber One Rickshaw Boy< bezeichnet hat. Er ist kräftig, und er liegt vor den anderen. Über uns werden chinesische Stimmen laut. Da oben, auf einer wackeligen Stellage aus Bambuspfählen, hocken zwei Männer mit großen Haumessern, sie waren offenbar dabei, die Äste der Alleebäume zu stutzen. Nun springen sie auf ihrer kleinen Plattform aufgeregt herum und feuern Nummer sieben an. Ich habe in dieser Stadt schon manches gesehen, das mir nicht sonderlich gefiel, hier aber läuft etwas ab, gegen das mein Gefühl rebelliert. Nur muß ich mir verkneifen, eine abfällige Bemerkung über dieses Spektakulum zu machen, weil vermutlich niemand an dieser Stelle mir beipflichten würde, nicht einmal die Rikschafahrer selbst, denn für die bedeutet das Rennen sicherlich eine zusätzliche Einnahme. Außerdem ist es erfahrungsgemäß unklug, sich mit einem Rudel ausgelassener Matrosen anzulegen. Also sehe ich mir alles ruhig an, winke Nummer sieben, dem strahlenden Sieger, zu, der mich erkennt, höre den Jubel der Wetter um mich herum, und dann gibt es plötzlich über mir ein knirschendes Geräusch, etwas knallt mir an den Hinterkopf, danach wird es dunkel um mich. — Als ich wieder zu mir kam, blickte ich auf eine weiß gekalkte Wand mit einem Fenster, ich spürte, daß ich in einem Bett lag, roch 341
Desinfektionsmittel, und als ich mich aufzurichten versuchte, verspürte ich einen dumpfen Schmerz am Kopf, der bandagiert war. Was, um Himmels willen, war geschehen? Ich erinnerte mich mühelos an das Rikscha-Rennen, mir fiel auch ein, daß ich zuvor dem Navy-Captain die Nachricht für Holly mitgegeben hatte. Wo war ich jetzt? So vorsichtig es ging, bewegte ich den Kopf zur Seite. Ich lag in einem Bett in einem völlig weiß wirkenden Zimmer, es gab da einen Stuhl und eine Art Wandschirm und eine Tür, die — wie alles andere — weiß gestrichen war. Ein Krankenhaus? Die Aufklärung ließ nicht lange auf sich warten. Nach einer Weile wurde die Tür von außen leise geöffnet und eine nicht mehr junge Chinesin warf einen Blick in meine Richtung. Sie trug einen hochgeknöpften Krankenhauskittel und eine Kopfhaube. »Wo bin ich?« Meine Stimme klang krächzend. Die Chinesin legte erschrocken den Zeigefinger auf den Mund und rief halblaut: »Nicht bewegen, Mister, nicht sprechen, ich hole Doktor!« Damit war sie verschwunden. Also doch ein Krankenhaus. Wer weiß wo! Hinter den Fensterscheiben nur ein paar kahle Äste. Wieder ein Geräusch an der Tür, wieder eine Frau im hochgeschlossenen weißen Kittel, diesmal ohne Haube. Die Chinesin hielt sich hinter ihr. »Mister Robbins, sind Sie wach?« Ein akzentfreies, weiches Englisch, dazu ein Gesicht, das fast chinesisch wirkte, ähnlich dem der alten Frau mit der Haube. Nur war es jünger. Und anders. Diese Frau konnte aus dem Süden stammen, aus Kanton, eine Hakka vielleicht... Ich brummte, daß ich wach sei, schloß die Frage an, wo ich denn eigentlich wäre. Die Frau mit dem braunen Gesicht, in dem es zwei sehr leicht schräggestellte, graue Augen gab, verzog die Mundwinkel. Volle, sehr rote Lippen. »Ich bin Doktor Kwan«, sagte sie. »Sie hatten einen Unfall. 342
Schmerzt der Kopf?« »Ja«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Sie beugte sich über mich. Aus der Tasche zog sie eine winzige Taschenlampe mit einem Clip, wie ihn Füllfederhalter haben. Während sie den Lichtstrahl in meine Augen richtete, forderte sie mich auf, nach links und rechts zu blikken. An ihrem Gesicht war nicht abzulesen, was sie herausfand. »Doktor, was ist das hier?« Sie ging nicht darauf ein, bedeutete der Chinesin, meinen Kopf vorsichtig anzuheben, und betastete die Bandagen. Ihre Finger befühlten meine Nackenwirbel. »Schmerzen, wenn ich hier drücke?« »Keine Schmerzen.« »Drehen Sie ihn auf die Seite ...« Das war wieder an die Chinesin gerichtet, offenbar eine Krankenschwester. Und plötzlich fiel mir auf, daß sie mit ihr chinesisch sprach, nur war es nicht der rollende Pekinger Dialekt, der sich manchmal anhört, als spräche jemand mit einem halben Glas Schnaps im Mund. Ich spürte ihre Finger wieder an meiner Wirbelsäule, und als ich ihr bestätigte, daß ich alles spüre, ohne Schmerz dabei zu empfinden, schien sie erleichtert zu sein. Sie untersuchte mit sachlicher Konzentration meinen ganzen Körper, bis hinunter zu den Fußspitzen, ließ mich die Zehen bewegen und jeden Finger. Als sie sich aufrichtete, wobei sie eine Strähne ihres langen, tiefschwarzen Haares aus der Stirn strich, erkundigte ich mich wieder, ungeduldiger, wo ich sei. Sie beauftragte die Schwester: »Holen Sie einen Wagen. Und sagen Sie den Leuten im Röntgenraum Bescheid, ich brauche die gesamte Wirbelsäule, Kopf, vor allem an der Wunde ...« Bevor ich meine Frage wiederholen konnte, wandte sie sich mir zu: »Erinnern Sie sich an den Hergang der Sache?« 343
»Mir muß etwas auf den Kopf gefallen sein, Doktor«, sagte ich. »Es war ein Gerüst mit zwei Arbeitern. Ihr Name?« »Sie sagten ihn doch schon, Doktor, ich heiße Robbins!« Sie lächelte. Wenn sie das tat, wirkte sie warm, beinahe zärtlich. »Ihre Wohnung?« »Ping Tjiao Hutung«, antwortete ich folgsam; »Was haben Sie vor einer Woche gemacht?« Ich versuchte unwillkürlich wieder, mich aufzurichten, aber sie verhinderte es. Ich wurde langsam mißtrauisch. »Warum, zum Teufel, müssen Sie das wissen, Doktor?« Wieder lächelte sie. »Mister Robbins, ich bin nicht neugierig, dies ist keine Privatunterhaltung, ich möchte nur herausfinden, ob Ihr Gedächtnis durch den Schlag gelitten hat. Also — erinnern Sie sich?« Ich probierte ein Grinsen, aber ich war mir nicht klar, ob es unter der Bandage nicht eher wie eine Grimasse ausfallen würde. »Vor einer Woche habe ich in meinem Haus in der Ping Tjiao Hutung gesessen und Tu Fu übersetzt, falls Ihnen der Name ein Begriff ist. Und ich erinnere mich an mein Haus, an Lao Wu, seine Tai-tai, an den kleinen Di-di, an das >Peking Große Schwester nannte, und sie verriet mir, während sie aus einer Ampulle eine Injektionsspritze füllte: »Doktor Kwan ist ein sehr guter Mensch. Nie böse. Viel Arbeit, auch nachts. Sie schläft hier im Haus. Und Sie werden jetzt auch schlafen, Mister ...« Der Einstich tat nicht weh. Es war ein Beruhigungsmittel, und es wirkte relativ schnell. Ich hörte noch die Schwester sagen: »Alles ist sehr gut. Doktor Kwan hat schon gelächelt, als sie die Filme sah. 347
Keine schweren Schäden, nicht am Kopf und nicht woanders ...« Ich dämmerte vor mich hin. Sah die leere Spritze auf einem kleinen Tablett liegen, und dann hörte ich nur noch wie durch ein Wattepolster: »Wan An«, was soviel wie Gute Nacht bedeutete. — Die Routine begann, als ich nach vielen Stunden aufwachte. Irgendwann, während ich an Doktor Kwan dachte, erschien statt ihrer die Schwester Liao und verrichtete alle die Arbeiten, die an einem Kranken versehen werden müssen, sie fühlte meinen Puls, wieder lutschte ich an einem Thermometer, dann hielt sie mir eine Schale Suppe hin, dazu richtiges Armeebrot, achtete darauf, daß ich den Grießpudding mit der schaurig roten Army-Himbeersoße aß, und zuletzt den Apfel, worauf sie mein Bett aufschüttelte und das Fenster für einen Augenblick öffnete. Ich schnupperte nach der frischen Luft, die von draußen hereinzog, und sagte: »Wenn ich mich nicht irre, riecht es nach Frühling ...« Sie bestätigte es. Mein Kopf schmerzte weit weniger als bei meinem ersten Erwachen, und ich war ziemlich froh darüber. Ein Bambusgerüst kann einem Mann ganz leicht das Genick brechen! Doktor Kwan, als sie schließlich kam, gab mir die Hand und sagte, nachdem sie mich nochmals untersucht hatte: »0. K., das ist noch
einmal
gut
abgegangen,
Mister
Robbins.
Eine
Gehirnerschütterung bringt einen Mann wie Sie nicht um. Ich verordne Ihnen noch zehn Tage absolute Ruhe, und zwar hier, bei uns. Danach werden Sie entlassen und melden sich sofort wieder, wenn Sie das Gefühl haben, es stellen sich Unregelmäßigkeiten ein.« »Nun gut«, erklärte ich mich gottergeben bereit, »wenn Sie meinen. Wissen Sie eigentlich, daß draußen Frühling ist?« »Und ob ich das weiß! Morgen wird die Heizung abgestellt!« Sie ging zur Tür. Doch da fiel ihr ein: »Haben Sie einen Sohn?« 348
»Doktor«, sagte ich betont vorwurfsvoll, »ich habe nicht einmal eine Frau!« »Neffen?« Es dämmerte mir, aber ich schwieg vorsichtshalber. Sie verzog wieder das Gesicht zu ihrem Lächeln, das mich in den unruhigen Hospitalnächten verfolgte. »Da draußen ist ein kleiner, ziemlich schmutziger Junge. Sagt, er muß unbedingt seinen Onkel sehen ...« Es konnte nur Di-di sein, und er war es natürlich auch. Sie führte ihn herein und schärfte ihm auf Chinesisch ein: »Nur zehn Minuten. Und daß du nicht auf das Bett kletterst!« Er kletterte nicht auf mein Bett, er schob sich näher, zögernd, beklommen, hielt mir seine in der Tat nicht eben saubere Hand hin und begrüßte mich. Nachdem er begriffen hatte, daß ich sprechen und sogar lachen konnte, berichtete er mir, was es in der Gasse an Neuigkeiten gab, daß Lao Wu auch kommen würde, um mich zu besuchen, und daß es allen Nachbarn sehr leid täte wegen dieses Unfalls. Erst als Schwester Liao hereinkam und sich im Zimmer zu schaffen machte, erinnerte er sich an das, was die Ärztin gesagt hatte. »Waren das schon zehn Minuten, Onkel Sid?« Wer mochte ihm beigebracht haben, mich mit >Onkel Sid< anzureden? Es konnte nur Lao Wu, der alte Fuchs, gewesen sein. Ich ließ mir nichts anmerken, sagte nur, es sei besser, wenn er jetzt wieder ginge. Da griff er blitzschnell in die Tasche seiner Lumpenjacke und drückte mir eine Platte Kaugummi in die Hand. >Beechnut.< Wahrscheinlich irgendwo gestohlen oder von einem GI geschenkt bekommen. Ehe ich etwas sagen konnte, war er weg. Tage später, an einem Abend, als das Licht draußen eine bläulichgraue Farbe annahm, erschien Doktor Kwan wieder. Sie schien mehr Zeit zu haben als sonst. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß es mir weiterhin besser ging, erbat ich mir von 349
ihr die Erlaubnis, von nun an wenigstens meine Notdurft auf der Toilette verrichten zu dürfen. Sie lachte nicht, forderte mich nur auf: »Erheben Sie sich, versuchen Sie es ...«Ich hatte es bereits heimlich
versucht,
und
ich
tat
es
nun
wieder,
ohne
Beschwerden.»Kein Schwindelgefühl?»Nicht das geringste, Doc!« »Gehen Sie langsam bis zum Fenster.« Wie um das Tempo, in dem ich die Schritte setzte, selbst zu bestimmen, trat sie an meine Seite und nahm meinen Arm. Ich merkte, daß sie mich scharf beobachtete. Am Fenster standen wir eine Weile. Sie schien zufrieden zu sein. Sagte nur: »Sie sind tückisch, diese Gehirnerschütterungen, man kann nicht vorsichtig genug sein. Wie ist es mit den Augen? Sehen Sie alles scharf, oder verschwimmt das Bild?« Ich drehte mich ihr zu. Ein Mann wie ich weiß, daß man einer Ärztin Respekt schuldet, selbst wenn man sie am liebsten auf die Nase küssen und ihr einen Heiratsantrag machen möchte; deshalb sah ich sie nur an und sagte: »Doc, ich sehe Ihr Gesicht mit den grauen Augen so klar, daß ich es mein Leben lang nicht werde vergessen können. Selbst in meinen Träumen werde ich es nicht loswerden. Überzeugt Sie das von meiner Gesundung?« Ich hatte eine unwillige Reaktion erwartet, aber die schlanke Frau, von der jeder GI ohne zu zögern sogleich behauptet hätte, sie wäre an genau den richtigen Stellen gepolstert, nicht an den falschen, runzelte lediglich die Stirn und bemerkte: »Es überzeugt mich von etwas anderem, Mister Robbins. Und darüber ist jetzt nicht die Zeit zu reden. Gehen Sie langsam zum Bett zurück und legen Sie sich wieder hin, ich möchte das beobachten ...« »Weitere zehn Tage?« Es gelang mir immer wieder, sie zum Lächeln zu bringen. Sie schüttelte den Kopf. »Sie können nächste Woche nach Hause, wenn Sie mir versprechen, keine schweren Arbeiten zu machen, viel zu 350
liegen und wenig Alkohol zu trinken.« »O.K., Doc«, sagte ich. »Und ich lade Sie sogar ein, mich dabei zu kontrollieren. Oder hätte ich lieber sagen sollen: besuchen Sie mich?« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, dann setzte sie sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer. Ich konnte sehen, daß sie ArmySchuhe trug, klobige, wenig elegante Dinger. »Wie lange leben Sie schon in Peking, Mister Robbins?« »Seit einem halben Jahr.« »Und vorher? Army?« »Army, ja«, erwiderte ich der Einfachheit halber. »Wie kommt es, daß Sie so gut die Sprache beherrschen?« Ich erklärte ihr, daß ich hier aufgewachsen war. Ich ließ Jenan aus und alles, was damit zusammenhing. Aber ich hatte mich in ihr getäuscht, sie sagte, als ich schwieg: »Wenn ich Ihnen zuhöre, habe ich den Verdacht, Sie hätten da noch vieles mehr zu erzählen ...« »Das hätte ich. Aber es würde sehr lange dauern ...« »Vielleicht holen wir es einmal nach.« Der Vorschlag kam von ihr, zu meiner Verblüffung. Ich begann zu begreifen, was ich eigentlich hätte wissen müssen, daß es unter gewissen Umständen keine einsamere Kreatur geben kann als eine Frau, die bei der Army Dienst tut. Wir sahen uns an, ich sagte: »Gern. Jederzeit. Meine Einladung steht. Wo ich wohne, wissen Sie. Meine Telefonnummer kennen Sie auch.« »Lieben Sie China, Mister Robbins?« fragte sie mich unvermittelt. »Es ist eine Art Heimat für mich. Wie Kauai für Sie.« »Werden Sie lange hier bleiben?« Das hoffe ich sehr.« »Und Sie haben keine Sehnsucht ... nach den Staaten?« 351
»Sehnsucht, Miß Kwan, hat man nach Menschen.« Sie schüttelte den Kopf, wie in Verwunderung über sich selbst. »In Kauai, als Kind schon, und auch später, als ich in Honolulu studierte, hatte ich so oft Sehnsucht nach China. Ein Teil meiner Vorfahren stammt von hier ...« »Und jetzt?« Sie zuckte die Schultern, unschlüssig. »Mir scheint, Sie haben recht, Sehnsucht, wirkliche, hat man nach Menschen ...« Sie gab mir die Hand, als sie ging. War wieder ganz sachlich, die Ärztin, die dem Patienten erlaubt: »Und — das mit der Toilette — sagen Sie Schwester Liao Bescheid, beim ersten Mal soll sie noch neben Ihnen hergehen ...« »Bis zur Tür nur, wie ich hoffe!« Sie sah mich noch einmal mit ihrem sonderbar forschenden Blick an, lächelte, sagte dann: »Die Army hat Sie geprägt, Mister Tu FuRobbins. Aber sie hat ausnahmsweise keinen Kretin aus Ihnen gemacht, sondern einen amüsanten Menschen. Ich werde etwas Zeit brauchen, die Verwunderung darüber zu überwinden.« In der folgenden Woche wurde ich entlassen. Ich sah Doktor Kwan nur noch einmal, sehr kurz, als ich über den Flur ging. Sie hatte außer dem Kittel eine weiße Kappe auf, die ihr Haar verdeckte, vor Mund und Nase trug sie einen Mullschutz, ihre Hände steckten in Gummihandschuhen. »Ich habe zu operieren«, klang es undeutlich durch den Mull. »Alles Gute!« »Darf ich Sie anrufen?« Sie nickte. Ich sah nur ihre Augen, aber ich spürte, daß sie lächelte. Als ich in der Ping Tjiao Hutung ankam, empfingen mich Lao Wu und seine Frau wie einen verlorenen Sohn. Im Nu stand ein schmackhaftes Essen auf dem Tisch, überall in den Zimmern gab es blühende Kirschzweige. Mir wurde zum ersten Mal klar, wie viele 352
unnütze Zimmer ich hatte. Und dann war da der Brief aus Hongkong. Von der Southern Trading Company, aber nicht von jenem Mister Lee, an den ich meine Botschaft gerichtet hatte, sondern von Holly selbst. Kein Poststempel. Lao Wu berichtete, ein Bote habe ihn gebracht. Junger Mann, gut gekleidet. Glückspilz Sid Robbins: am Tode durch Erschlagen
vorbeigegangen,
das
Besuchsversprechen
eines
atemberaubend schönen Hawaii-Mädchens in der Tasche, und dazu den schriftlichen Beweis von Holly, daß ich nicht ganz vergessen bin in diesem konfusen Durcheinander, das heute China ist!
Von Holly an Violet 1) Informationen in Kanäle geleitet, die vorerst noch ebenso privat sind wie ich. Aber: Präsident Truman hat am 22. Januar den Erlaß für die Bildung einer >Nationalen Nachrichtenbehörde< unterzeichnet. Abwarten, bis das Bild sich klärt. An K.Sh.: Keine Chance im Augenblick für offizielle Kontakte. Kann lange dauern. Jeder, der in Jenan war und das in den Staaten nur erwähnt, wird untersucht. Kommunismus wird als undifferenziertes Phänomen in wachsendem Maße zum Gegenstand nationaler Hysterie. Erwähnte Anlehnung MTt an Moskau wird daher von uns nicht zu verhindern sein. Deine Perspektive: dort bleiben. Mit K.Sh. Verbindung halten. Angesichts der politischen Entwicklung wirst Du vermutlich bald die einzige und letzte Kontaktperson dort sein. Bei finanziellen Schwierigkeiten: Nachricht an mich. Bin jetzt für ständig in Hongkong. Holly 353
28.4.1946 Es ist Sonntag, und ich bin glücklich! Ein wenig unzufrieden, daß ich jetzt, nach einem unvergesslichen Wochenende wieder allein bin, aber wie ich mich kenne, wird sich das verlieren. Sobald Sandra Kwan wieder bei mir ist! Und — vorausgesetzt, es gibt in diesem P. U. M. C. keinen besonders schweren Fall, wird das vielleicht schon heute abend sein ... Sandra Kwan, diese einzigartige Frau, die mich im Krankenbett des P.U.M.C. vom ersten Augenblick beschäftigte, ließ mich warten, bis ich unruhig genug war, sie einfach anzurufen, »Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, Doc«, sagte ich, »aber Sie haben meine Schädeldecke geflickt. Und Sie hatten versprochen, mich zu besuchen. Darf ich Sie daran erinnern?« Sie hatte offenbar gerade etwas Zeit, sie fertigte mich nicht knapp und bündig ab, sondern sie antwortete beinahe belustigt: »Mister Robbins, natürlich erinnere ich mich! Nur muß ich Sie korrigieren, ich hatte Ihnen nichts versprochen, im Gegenteil, Sie deuteten an, daß Sie mich anrufen würden. Es freut mich, daß Sie das heute tun!« »Dann muß ich mich entschuldigen, wie es scheint, hat mein Kopf doch einen bleibenden Schaden davongetragen«, lenkte ich ein. »Kommen Sie her, ich werde Sie untersuchen!« Da machte ich Ernst. »Wenn Sie einverstanden sind, Doc, werde ich kommen, und zwar sofort. Aber nicht zur Untersuchung. Ich lade Sie zu einem Essen bei mir ein. Zu einer Stunde am Kamin, ohne den Geruch von Desinfektionsmitteln. Wann beenden Sie Ihren Dienst?« Sie hielt dagegen: »Langsam, langsam, Mister Robbins! Es ist Freitag, wir haben eine Schlägerei zwischen Matrosen und Army 354
gehabt,
es
gab
einige
Unfälle,
außerdem
habe
ich
Nachtbereitschaft.« »Bis wann?« »Samstag morgen, sechs Uhr.« »Danach werden Sie ausschlafen wollen, oder?« Ich merkte, daß sie zögerte. »Nun ja, das hängt davon ab, ob in der Nacht nicht etwa wieder ein Army-Truck mit einem betrunkenen Fahrer frontal ins Ha Ta Men rast und ich anschließend die Knochen der Leute schienen muß, die drinsaßen ...« »Sagen wir um zwölf Uhr?« »Im Peking?« Ich spürte, daß sie mich provozieren wollte, sie wußte genau, daß ich mich nicht in ein Restaurant mit ihr setzen wollte. Deshalb sagte ich: »Nein, nicht im >PekingDr. Sandra Kwan, US Medical ServiceButterfly< nahm sie Puder und betupfte sich vor dem Spiegel die Nase. Ein winziges Zimmer, ein niedriges Bett, Waschbecken, Schrank, Tisch, Stuhl. 355
»Ausgeschlafen?« Sie sah mich nur kurz an. »Ich bin seit acht Uhr morgens unterwegs gewesen, um ein Paar Nylons aufzutreiben! Im PX kenne ich einen Herrn, dem habe ich einen Bruch operiert, er steckte mir ein Paar zu ...« Unwillkürlich ging mein Blick zu ihren Beinen. Sie trug eine dünne chinesische Seidenhose unter dem Brokatkleid. Noch bevor ich etwas sagen konnte, kam sie mir zuvor: »Sie brauchen nicht so verdattert zu gucken! Als ich die Nylons hatte, fehlte mir das Ding, an dem man sie befestigt, und das hatte der Bruchpatient nicht in seinem Sortiment. Also habe ich das Problem anders gelöst. Erinnert Sie mein Aufzug ein bißchen an eine Tonkinesin?« Ich grinste, ich konnte es nicht verhindern. »Nie eine gesehen!« »Frauen im Krieg!« schimpfte sie. »Man sollte uns für die Zeit, die wir damit verbringen, zu Männern machen! Geben Sie mir bitte den Schal da ...« Ich sah, daß sie flache Schuhe trug, wie die Chinesen sie aus Kattun nähen, die Sohlen bestehen aus einem Dutzend oder mehr Lagen fest vernähter Lumpen und erweisen sich als äußerst dauerhaft. Als wir das Zimmer verließen, langte sie eine Umhängetasche aus Army-Drillich von einem Haken an der Tür, warf sie über die Schulter und ermahnte mich: »Nun reißen Sie Ihren Blick endlich von meinen Beinen los!« Ich legte ihr den Army-Wintermantel um die Schultern und bemerkte: »Was immer ich an Ihnen betrachte und worunter es auch immer versteckt ist, es gefällt mir, Doc!« »Ach ja, ich habe mir gedacht, daß es sich darum handelt. Und hören Sie auf, mich Doc zu nennen, ich bin jetzt privat!« Wir blieben im Ausgang des riesigen Hospitals stehen. Draußen war die Welt grau. Im Frühling, wenn aus dem Nordwesten die tagelang andauernden Stürme über Peking fauchen, bringen sie mikrofeinen 356
Staub mit sich, der selbst am hellen Tag das Licht der Sonne verdüstert, die ganze Stadt wie in einen Schleier taucht. Die Augen beginnen zu tränen, die Nase verstopft sich, und zwischen den Zähnen knirscht es noch Tage später, wenn die Sonne bereits wieder von einem klarblauen Himmel herab scheint. »Ich habe vergessen, beim Fahrzeugpool ein Auto zu bestellen«, erinnerte sich Sandra Kwan, »wie kommen wir jetzt in diese Hutung?« Aber ich hatte vorgesorgt. Wie aus dem Nichts tauchte vor uns eine mit solidem Verdeck versehene Fahrradrikscha auf, der Fahrer sprang vom Sattel und knöpfte den Einstieg auf. Dabei salutierte er fast militärisch und schmetterte uns seinen Gruß entgegen, in mühsamem Englisch: »Welcome Mylady, welcome Mister Robbins! I'm Number One Rickshaw Boy of Peking, safe and fast!« Nummer sieben des unglückseligen Rennens, mein Schüler! »Woher kennt der Sie?« erkundigte sich meine Begleiterin, als wir abfuhren. Sie zog den Schal vor den Mund, denn trotz der Planen war die Luft buchstäblich mit Staub gesättigt. Ich erklärte es ihr. Nach einer Weile wollte sie wissen: »Womit bezahlt er?« »Wir haben ein Abkommen. Ich bringe ihm das bei, was er für den Umgang mit Ausländern braucht, und er fährt mich, wann immer er mich irgendwo in der Stadt entdeckt, wohin ich will.« Sie schwieg längere Zeit. Der Sturm pfiff, die Rikscha knarrte. Dann, durch den Schal dumpf klingend, die gemurmelte Feststellung: »Mister Robbins, Ihre Tätigkeit in Peking erschien mir bisher etwas
schleierhaft.
Jetzt
erst
begreife
ich,
welch
hohen
völkerverbindenden Wert sie hat!« Sie ging durch die vielen Zimmer meines Hauses, voller Staunen, besah sich alles, selbst die Badestube und die Küche, wo die Wu Tai-tai verlegen auf ihren verkrüppelten Füßen umhertrippelte und Lao Wu diensteifrig auf Befehle wartete. Er grinste über das ganze 357
Gesicht, als sie ihm sagte, sie fände es schön warm. Dann beugte sie sich über eine der Pfannen, in denen Fleisch brutzelte, mit Knoblauch gewürzt und Anis. Sie zog den Duft ein, nahm schnell meine Hand und bat: »Lassen Sie uns dieses Zauberkabinett verlassen, bevor ich meinen Beruf vergesse!« Nach dem Essen, als wir Whisky tranken und Lotoskerne knabberten, als sie in meinen Büchern stöberte, Gedichtübersetzungen las, als wir aus dem Radio AFRS hörten, Jo Stafford, krähend, und das Geschrumm von Hillbillies, einigten wir uns darauf, daß wir nun nicht mehr Doktor und Patient waren, sondern Sandy und Sid. Wir lagerten uns auf das, was ich Couch nannte, was aber weiter nichts war als eine aus Federn und Polstern geschickt hergerichtete Variante des chinesischen Kangs, wir sprachen über die Armee und über China, ein paar Dinge, die in den Staaten vor sich gingen, und schließlich konnte es nicht ausbleiben, daß wir voneinander wissen wollten, was jeder für die Zukunft im Sinne hatte. In meinem Falle war das, ohne daß ich in der Lage gewesen wäre, ihr die volle Wahrheit zu sagen, ziemlich schnell erklärt: ich liebte das Land, seine Leute, ich war hier viel mehr zu Hause als in den Staaten, also hinderte mich nichts daran, hier zu bleiben. Sie nahm das ohne besondere Überraschung zur Kenntnis, >shacked-up Americans, Leute aus den Staaten, die sich irgendwo für immer einrichteten, hatte sie wohl schon erlebt. Sie hatte die Beine auf den gepolsterten Kang gezogen, trank einen Schluck und sagte nachdenklich: »Bei mir ist das alles vage. Nichts ist vorauszusagen. Lediglich, daß die Army mich entlässt, wenn ich das will. Manchmal hätte ich gern, daß meine Zukunft ein bißchen deutlicher markiert wäre ...« »Wirst du nach Hawaii zurückgehen?« Sie sah mich an, und dann sagte sie nach einer Weile doch das, 358
was sie hatte sagen wollen: »Würdest du versuchen, mich zurückzuhalten?« Es war die glänzendste Gelegenheit, ihr einen Heiratsantrag zu machen, und ich hatte eigentlich keinen Grund zu zögern. Oder doch? Ich entschloß mich zu der Frage: »Was würdest du zu Hause machen?« »In mein Hospital in Lihue zurückgehen und arbeiten.« »Sonst nichts?« »Meine Familie besuchen, besser gesagt die Angehörigen meiner Familie, die auf Kauai leben. Und dann die in Honolulu.« Ich lehnte mich zurück, blickte aus dem Fenster, wo der Staub auf die Stadt herabrieselte. »Schade«, sagte ich, »es wäre schön, dich hier zu haben ...« Sie wich mir aus, indem sie anfing, mir von ihrer Familie zu erzählen. Es fiel mir schwer, ihr zu folgen, was sie schilderte, war verwirrend, es ergab vermutlich erst Klarheit, wenn man es wie ein Diagramm vor sich sah. »Weißt du«, begann sie, »im Grunde bin ich weder Amerikanerin noch Chinesin, und ob ich sagen soll, ich bin Hawaiianerin, weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht findest du es heraus, wohin ich gehöre, wenn ich dir erzähle, daß mein Vater als sehr junger Mann aus Kanton nach Hawaii auswanderte, mit seiner ebenfalls sehr jungen Frau. Die beiden hatten Glück, zuerst jedenfalls, sie fanden Arbeit auf der Zuckerrohrplantage eines Amerikaners, der damals schon ziemlich reich war, in Kauai, ihm gehörte so gut wie alles Land zwischen Lihue und dem Tal von Hanalei. Ein Sohn wurde geboren, nach einem Jahr noch einer. Bei dessen Geburt starb die Frau meines Vaters. Da gab es nun einen ansehnlichen Kantonesen mit zwei kleinen Kindern. Das hawaiianische Küchenmädchen des Plantagenbesitzers verliebte sich in ihn. Ihr Vater war übrigens 359
Amerikaner gewesen. Vielleicht waren es eher die beiden Kinder, die ihr Mitgefühl antrieben, jedenfalls heirateten sie. Der Plantagenbesitzer, der ein reicher und trotzdem nicht geiziger Mann war, überschrieb ihnen ein ziemlich großes Stück Brachland unter der Bedingung, daß mein Vater weiterhin die Oberaufsicht über seine Besitzungen versah. Während er das tat, kaufte er über Jahre, in gewissen Abständen, neues Land hinzu. Ich wurde erst viel später geboren, als meine beiden chinesischen Stiefbrüder schon zur Schule gingen. Ist das langweilig für dich ...?« Ich fuhr aus meinen Gedanken auf. »Nicht langweilig, Sandy, nur etwas kompliziert. Ich sehe Zuckerrohrfelder vor mir, hoch, raschelnd im Wind, ich habe sie in Erinnerung, aus meiner eigenen Kinderzeit ...« »So wie ich«, sagte sie. »Zuckerrohr, soweit das Auge reicht. Ananas. Reis. Captain Cook muß gewußt haben, wie das Paradies aussah, als er ausgerechnet auf Kauai an Land ging! Die Geschichte meiner Familie ist schnell zu Ende erzählt. Der Besitzer der Ländereien, der meinen Vater immer noch als Angestellten führte, starb. Seine Frau siedelte nach Honolulu um, in eine Villa. Der Besitz wurde versteigert. Mein Vater ist ein guter Geschäftsmann, er war es damals schon, er nahm Kredite auf, bei der Bank of China, und heute gehört ihm das, worauf er als Emigrant zu arbeiten anfing. Einiges mehr noch. Meinen Stiefbrüdern gehören Raffinerien und Bonbonfabriken, Hotels und Gaststätten. Vater und Mutter leben auf ihrem Besitz. Und die Kinder meiner Stiefbrüder gehen vermutlich bald zur Schule. Eines wurde genau an dem Tag geboren, als die Japaner Pearl bombardierten. Ein Sonntagskind! Ein halbes Jahr zuvor war ich aus Honolulu zurückgekommen, nach Kauai, mit dem abgeschlossenen Studium in der Tasche. Die Army brauchte mich nicht zu überreden, ich packte meinen Koffer, zog 360
Uniform an, und dann sah ich die Welt, wie es immer so schön auf den Navy-Plakaten heißt: Lazarett in Honolulu, Lazarett in Wellington, Lazarett in Brisbane, und von dort nach Peking. P. U. M. C. Was macht man aus solch einem Leben, großer Denker?« Ich wanderte ein paarmal durch das große Wohnzimmer, wobei ich merkte, daß ihr Blick mir folgte. Schließlich goß ich nochmals Whisky in unsere Gläser. »Da gibt es mehrere sehr unterschiedliche Möglichkeiten. Du könntest die Plantage deiner Eltern übernehmen ...« »Ich habe Medizin studiert, nicht Landwirtschaft!« »Du könntest dir von einem deiner Stiefbrüder ein Hotel schenken lassen, in Waikiki ...« »In Hotels wohnen gesunde Leute!« Ich nahm allen Mut zusammen. »Am liebsten wäre mir, du sagtest jetzt, ich soll dir einen Kuß geben und dich als Tai-tai in diesen Mauern hier behalten.« »Du willst eine Wahine hier behalten? Das meinst du im Ernst? Ein
Mädchen
von
den
Inseln?
Etwas
chinesisch,
etwas
hawaiianisch, etwas amerikanisch?« »Was sollte ich gegen eine Wahine haben, Sandy? Es gibt kaum schönere Mädchen!« »Das habe ich schon von anderen Army-Captains gehört, ich war immer sehr beeindruckt.« Ich wandte mich ihr zu, ich wußte plötzlich nicht mehr genau, ob sie noch scherzte oder ob sie ernst sprach und enttäuscht. »Sandy«, sagte ich, »mein letzter Dienstgrad war Major. Ich muß dich weiterhin aufmerksam machen, daß du mit mir nicht nur das Innere dieser schönen Mauern teilen sollst, sondern ein ziemlich kompliziertes Leben, was dir erst in einiger Zeit aufgehen wird. Und mit einiger Zeit meine ich nicht ein paar Wochenenden, sondern das, was der 361
Beamte im Konsulat am Montag festlegen wird!« »Was hat der da zu sagen?« »Der sagt in der Regel: bis daß der Tod euch scheidet.« Sie nahm einen großen Schluck Whisky, stellte das Glas ab und fragte mit ihrem, wie mir schien, angeborenen Sinn für Komik: »Sidney B. Robbins, soll ich das für einen dieser altmodischen Heiratsanträge halten?« »Du kannst ihn ablehnen oder annehmen, Wahine!« Sie streckte die Arme nach mir aus. »Gott im Himmel, man muß dich förmlich dazu zwingen!« Am Abend fuhr sie nicht ins P.U.M.C. zurück, wir sprachen gar nicht darüber, es war alles gesagt, was es zwischen uns zu sagen geben konnte. Ich erinnere mich nur noch daran, daß sie viel später, in meinem Schlafzimmer, drohte: »Sidney B. Robbins, wenn du auch nur einen einzigen Blick auf meine langen Army-Winterunterhosen wirfst, werde ich sofort hinaus in den Staubsturm flüchten!« Lao Wu hat zwar alle Ritzen an den Fenstern und Türen mit Papierstreifen verklebt, trotzdem knirschte der Staub zwischen unseren Zähnen. Gegen Mittag rief das Hospital an. Frau Doktor Kwan werde dringend gebraucht. Sie hätte gestern diese Nummer hinterlassen. Ich bat darum, ein Auto zu schicken, und beschrieb den Weg ... Eben hat sie angerufen. »Sid, Lieber, es wird länger dauern, als ich dachte. Am Flugplatz hat es eine Havarie gegeben, mit drei C47. Wir haben alle Hände voll zu tun. Bist du einsam?« »Ohne dich immer, Wahine!« »Geh schlafen«, riet sie mir. »Schließ die Augen, bis ich komme. Schwester Liao sagt, wenn der Staubsturm bläst, schließen selbst die bronzenen Löwen vor den Palästen die Augen. Sie meint, sie 362
träumen dann das Spiel von den Wolken und dem Regen. Und jetzt muß ich fort, ich will dir lieber nicht beschreiben, was ich tun muß. Aloha, Darling!« Ich sagte nur: »Aloha!«
Osten ist rot Armed Forces Radio News, Tokio: In den frühen Morgenstunden des 25. Juni 1950 haben Truppen des von der UdSSR gestützten nordkoreanischen kommunistischen Regimes überraschend nach Artillerievorbereitung an vier verschiedenen Stellen den 38. Breitengrad überschritten, der das demokratische Südkorea vom kommunistischen Norden trennt. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind — ersten Verlautbarungen aus Washington zufolge — fest entschlossen, der kommunistischen Herausforderung energisch zu begegnen ...
Hsinhua News, Peking: In den Morgenstunden des 25. Juni 1950 hat die Volksarmee der Koreanischen Volksdemokratischen Republik erneute schwerste Grenzprovokationen mit einem energischen Gegenschlag beantwortet. Die südkoreanischen Angreifer wurden entlang der gesamten Demarkationslinie am 38. Breitengrad zurückgeschlagen und befinden sich auf der Flucht südwärts. Die Volksrepublik China steht voll und ganz auf der Seite der mit uns brüderlich verbundenen Koreanischen Volksdemokratischen Republik ... 363
15.7.1950 Es war am späten Vormittag jenes 25. Juni, eines strahlend schönen, sonnigen Sonntags, als die beiden so widersprüchlichen Nachrichten vom Kriegsausbruch in Korea in unser vergleichsweise beschauliches Leben einschlugen wie Bomben. Ich war im Hof damit beschäftigt, eine jener »Pendjing« genannten Miniaturlandschaften in einer Tonschale zu modellieren — traditionelle chinesische und auch japanische Gärtnerkunst, die ich neuerdings als Hobby betrieb, als Sandy, die in der Kühle unseres Wohnraums die kleine Sue stillte, unser zu Jahresanfang geborenes Mädchen, rief: »Hör dir das genau an!« Ich ließ mich in einen Sessel fallen und hörte der Wiederholung jener Meldung zu, die Hsinhua durchgab, gesprochen von einer schneidend scharfen Frauenstimme. Wenig später gelang es mir, unsere Army-Station in Tokio einzustellen, und ich hörte deren Darstellung. Eine Weile saßen wir uns danach schweigend gegenüber, Sandy mit dem Kind auf dem Schoß, ich mit meinen noch von der Miniaturgärtnerei verschmutzten Händen. Dann versuchte ich Sandy zu beruhigen: »Nun, so ganz unerwartet kommt das nicht. Aber, ich glaube, es wird sich abfangen lassen ...« »Abfangen?« Sie legte Sue, die friedlich schlummerte, in den Bambuskorb und bedeckte ihren Körper mit einem Frottetuch. »Ich meine, man wird eine Weile aufeinander schießen, und dann wird jeder in seine Ausgangsstellung zurückkehren ...« »Das glaubst du wirklich? Gerade du, Sid?« Sie war meine Frau, und seiner Frau gegenüber kann man eine verdeckte Tätigkeit wie die meine nur begrenzte Zeit verbergen, also hatte ich ihr nach unserer Eheschließung offen erklärt, welchem Zweck mein Aufenthalt in Peking hauptsächlich diente. Sandy, humorvoll wie sie ist, und durch nichts so leicht aus der 364
Fassung zu bringen, hatte nur den Kopf geschüttelt und mit unernstem Selbstmitleid gesagt: »Ich dachte es mir, daß diese schöne Geschichte mit uns beiden irgendwo einen 22er Haken hat, nun gut, laß uns hoffen, daß wir das beste daraus machen können ...« Jetzt war ich unsicher, denn ich wußte, wohin ihre Frage zielte: Südkorea, oder wie es sich selbst nannte, die Republik Korea, war ein Schutzkind der Vereinigten Staaten, seit Januar mit einem Pakt über gegenseitige Verteidigung und gegenseitigen Beistand, es gab dort US-Truppen, es gab unsere Berater in der Landesarmee, todsichere Anzeichen dafür, daß wir uns dieses strategische Faustpfand auf dem asiatischen Festland nicht einfach durch einen kommunistischen Angriff aus dem Norden nehmen lassen würden. Das aber konnte erhebliche Verwicklungen bedeuten, denn das nördliche Korea, nach dem Krieg einige Zeit von den Sowjets besetzt, war inzwischen als selbständige Volksrepublik mit den Sowjets durch Bündnis verflochten, ebenso wie China es als seinen >Bruder< betrachtete. Als ich das laut durchdachte, meinte Sandy nur: »Ab sofort kann uns jeder Chinese als Kriegsgegner betrachten. Vielleicht interniert man uns ...« Sie warf einen wenig frohen Blick auf das schlafende Kind. Ich beschloß, sofort von der Möglichkeit Gebrauch zu machen, Kang Sheng persönlich anzurufen. Er hatte mir vor Monaten, nachdem die kommunistische Volksregierung fest etabliert war, eine neue Nummer gegeben, unter der er jederzeit erreichbar sein würde. So ging ich ans Telefon und wählte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich eine Frauenstimme. Ich brachte mein Anliegen vor, und die Stimme teilte mir recht freundlich mit: »Es ist gut, Mister Robbins, ich übermittle Ihren Anruf. Genosse Kang Sheng wird mit Ihnen Verbindung aufnehmen, sobald er verfügbar 365
ist ...« An seiner Stelle erschien am Nachmittag Tso Wen. Er war in Eile, und als ich ihm meine Besorgnis vortrug, lächelte er nur hintergründig, eine Angewohnheit, die er anscheinend von seinem Chef übernommen hatte. Dann sagte er: »Mister Robbins, ich verstehe Ihre Befürchtungen sehr gut und kann Ihnen einstweilen versichern, daß sie unbegründet sind. Es wird Ihnen nichts geschehen. Genosse Kang Sheng wird sich in allernächster Zeit ausführlich mit Ihnen unterhalten. Gegenwärtig ist er durch wichtige Beratungen gebunden.« »Und falls meine Nachbarn sich entschließen sollten, mich in der Zwischenzeit zu lynchen?« Er lächelte nur wieder. »Nichts dergleichen wird geschehen, wir haben dagegen Vorsorge getroffen, seien Sie völlig beruhigt. Wenn jemand Sie nach Ihrer Meinung fragt, geben Sie zur Antwort, Sie leben in China und haben nicht das geringste mit der Aggression in Korea zu tun, auch nichts mit Amerika. Sollte wider Erwarten eine Situation entstehen, die Sie nicht allein meistern, rufen Sie sofort bei uns an, wir bereinigen das dann schnell.« Bei uns — das hieß das >Büro für öffentliche Sicherheit, die oberste Abwehrbehörde der Volksrepublik, in der Tso Wen einen hohen Posten bekleidete, nämlich den des Verbindungsmannes zwischen dem Sicherheitsminister und Kang Sheng, der selbst dieses Ministeramt nicht bekleidete, er versah die Funktion des Sicherheitsbeauftragten im Zentralkomitee der Partei. Seine Weisungen bestimmten die Tätigkeit des Ministers Lo Jui-tsching, den ich nicht einmal persönlich kannte.
,
Ich verabschiedete mich einigermaßen erleichtert von Tso Wen, und es gelang mir auch, Sandy ein wenig die Befürchtungen zu nehmen. Lao Wu und seine Frau waren durch die Nachrichten aus Ko366
rea nicht sonderlich beunruhigt, und wenn sie es waren, so ließen sie es nicht erkennen, sie taten ihre Arbeit wie stets zuvor, und am Nachmittag,
als
Sandy
und
ich
im Wohnzimmer
saßen,
beschäftigten die beiden sich damit, den Bambus, der auf dem Hof wuchs, zu stutzen. Was alles war um uns herum in den letzten vier Jahren geschehen! Unser beider Leben hat sich auf eine sanfte Weise, aber eben unaufhaltsam verändert, vor allem: wir leben, ohne es sonderlich wahrzunehmen, in einem kommunistischen Staat! Ich erinnere mich noch sehr gut an das Tauziehen zwischen Kuomintang und KP um eine gesamtnationale Lösung, während beide sich zum entscheidenden Kampf rüsteten. Anfang 1947 rief Mao Tse-tung dann, gewissermaßen als Antwort auf Tschiangs Manöver, zum allseitigen Kampf gegen die Kuomintang auf. Tschiang hatte inzwischen seine Truppen in Richtung auf das Jenaner Gebiet in Marsch gesetzt. Mao wich ihnen aus. Er tauschte Raum gegen Zeit, ließ Jenan räumen und die Angriffe Tschiangs monatelang ins Leere stoßen, bis sie sich schließlich totliefen. Ein halbes Jahr, bevor sich Mao von Jenan weiter nach dem Norden zurückzog, in die Nähe seiner nun bereits gefährlich schlagkräftigen und gut gerüsteten Hauptkräfte, artikulierte er nochmals seinen Standpunkt gegenüber uns. Nach dem, was ich erfuhr, trieb sich damals in seiner Nähe eine amerikanische Journalistin namens Strong herum, von der bisher niemand etwas gehört hatte und die auch keine bestimmte Zeitung vertrat. Epstein, der inzwischen in Peking residiert und mit dem ich mich gelegentlich unterhalte, beschrieb sie als >Reisejournalistin< ohne Bindung, aber mit starker Linkstendenz. Sie soll aus der Sowjetunion nach Jenan gekommen sein, nachdem sie sich in Moskau mit den Behörden aus schwer zu erforschenden Gründen verkracht hatte. In Jenan nutzte 367
Mao sie, um seine Stellungnahme per Interview jemandem darzulegen, der sie ins Ausland lancieren konnte. Er sagte, ob noch eine friedliche Lösung des innerchinesischen Problems möglich sei, hänge von der US-Regierung ab. Nur wenn sie die Kuomintang zügle, gäbe es Aussichten auf Frieden. Interessanter aber war seine Äußerung über die Gefahr, daß Amerika als Verbündeter der Kuomintang in China die Atombombe einsetzen könnte. Da sagte er, er halte diese Bombe für einen >Papiertigerinternationalen Journalistin< einbrachte. Ich hielt die Sache mit dem >Papiertiger< zwar für publizistische Schaumschlägerei, allerdings verging mir das Lachen darüber, als ich im November 1947 aus dem Radio erfuhr, der sowjetische Außenminister habe eine Erklärung abgegeben, wonach die Sowjetunion selbstverständlich ebenfalls die Kernspaltung gemeistert habe und im Besitz der entsprechenden Waffen sei. Jegliche Konfrontation konnte von nun an blitzschnell in einen großen Krieg mit dem Zerstörungspegel von Hiroshima ausufern. Dennoch schien die sowjetische Verlautbarung unsere Politiker daheim nicht umzustimmen, sie betrieben das, was man hier in der Propaganda bald den >kalten Krieg< gegen den Kommunismus nannte, mit wachsender Intensität. Und — sie änderten ihre China-Politik nicht. Abzusehen war daher, wenn nicht unvorherzusehende Ereignisse eintraten, eine Festigung der Allianz Peking—Moskau. Gegen Ende 1947 stellte Radio Hsinhua bereits fest, daß der Charakter des Bürgerkrieges in China sich grundsätzlich zu wandeln begann: Es ginge "nun nicht 368
mehr um die Verteidigung roter Gebiete, sondern um die endgültige Liquidierung der Reste von Tschiang Kai-sheks Macht. — Aus Hongkong erreichte mich um diese Zeit die Nachricht von Holly, in der er mir knapp mitteilte, per Nationalem Sicherheitsgesetz vom 18. September 1947 sei der neue Geheimdienst der USA endlich existent, er trage die Bezeichnung Central Intelligence Agency. Gleichzeitig bat er um Geduld, es werde noch einige Zeit vergehen, bis die Dinge so liefen, wie wir das brauchten. Ich versorgte ihn weiterhin mit Hinweisen, die Kang Sheng mir für diesen Zweck übermitteln ließ, und er versicherte mir, meine formelle Übernahme in die neue >Agency< sei lediglich eine Frage der Zeit. Kang Sheng teilte ich das vorsichtshalber mit, dieser hielt sich im Winter wieder einmal bei Peking auf, und er quittierte die Mitteilung
höchst
erfreut,
was
mich
einerseits
verblüffte,
andrerseits allerdings auch beruhigte. — Im April 1948 beherrschten die roten Truppen bereits den größten Teil der zentralchinesischen Provinz Honan, sie besetzten die alte Kaiserstadt Loyang. Unter dem Eindruck dieses Erfolges rief Mao die Mitglieder der demokratischen Parteien zur Zusammenarbeit mit der siegreichen KP auf. Im Herbst traten die von dem mir aus Jenan bekannten General Lin Piao angeführten Truppen in der Mandschurei zur Generaloffensive an, mit dem Ergebnis, daß die Kommunisten im November bereits dieses ungeheuer wichtige Industriegebiet samt seinen Zentren beherrschten. Der nächste Stoß zielte auf Tientsin und Peking, er erfolgte im Winter 1948/49. Um die Jahreswende war Peking von roten Truppen eingeschlossen. Unsere Dienststellen wurden bis auf ein Konsulat geräumt, das Personal auf dem Luftweg fortgeschafft. Ich selbst hatte um diese Zeit eines Abends Besuch von Tso Wen, der sich illegal bereits in der Stadt aufhielt. Er kam, 369
um mir von Kang Sheng auszurichten, ich solle mich keinesfalls durch die allgemeine unter den Amerikanern in Peking herrschende Panik anstecken lassen und mich unbedingt einer Evakuierung entziehen. Im gewissen Sinne war der Fall von Peking symptomatisch
für
die
Auflösungserscheinungen
nicht in
mehr
der
zu
kontrollierenden
Kuomintang-Armee.
Sechs
Wochen lang lauerten rote Truppen um die Stadt herum, aber sie beschossen sie nicht. In dieser Zeit handelten die Kommunisten mit dem Pekinger Garnisonschef, General Fu Tso-yi die kampflose Übergabe aus. Die Parade der >Volksbefreiungsarmee am Ha Ta Men vorbei war eindrucksvoll, besonders für mich, der ich rote Truppen aus Jenan kannte: dies erschien wie eine völlig andere Armee. Amerikanische Studebakers, voll besetzt mit einheitlich in Wintermontur gekleideten Soldaten, amerikanische Haubitzen und andere Geschütze, dazwischen japanisches Gerät, vor allem leichte Panzer, und dann wieder leger, aber geordnet marschierende Kolonnen, Pferdegespanne, kräftige, ausgeruht erscheinende Soldaten, das japanische oder amerikanische Gewehr über der Schulter. An der Spitze fuhr Mao Tse-tung, in einem amerikanischen Jeep stehend, winkend, lachend. Hier zogen keine Rebellen aus der chinesischen Legende ein, hier trat eine Armee auf den Plan, die die letzten Jahre genutzt hatte, sie war für das Kriegshandwerk ausgebildet und gerüstet. Ironischerweise waren die Waffen offenkundig
dem
Gegner
abgenommen
worden,
die
Milliardenlieferungen aus den Vereinigten Staaten hatten — wollte man es so sehen — nun doch noch den Empfänger erreicht, der so lange um sie geworben hatte. Ich biß mir auf die Lippen, als ich das alles sah: Diese Armee hätte unser Partner auf dem asiatischen Festland sein können, bis hinauf zu den Grenzen der Sowjetunion — jetzt marschierte sie an der Seite der Sowjets. — 370
Noch im Januar schlug der arg bedrängte Tschiang Kai-shek den Kommunisten einen Waffenstillstand mit anschließenden Friedensverhandlungen vor. Mao lehnte ab, im Bewußtsein, den Sieg vor sich zu haben, er wußte inzwischen, daß die USA keine Truppen zur Unterstützung Tschiangs entsenden würden. Einen Tag später erließ er an die >Volksbefreiungsarmee< den Befehl, im ganzen Land gewaltsam die letzten Reste der Macht Tschiangs zu brechen. Was folgte, war ein Amoklauf der roten Truppen nach dem Süden. Kein Sperrriegel hielt sie mehr auf, kein Luftbombardement, nicht einmal der Yangtsekiang, die große Naturbarriere. Tschiang Kai-shek floh mit dem Rest seiner Politiker und Generäle nach Taiwan. Dorthin konnte Mao ihm nicht folgen, er besaß keine Marine, aber er hatte schon offiziell bekanntgegeben, Taiwan sei ein Bestandteil Chinas, und es werde zu gegebener Zeit auch noch befreit werden. Die letzte offizielle Kommunikation zwischen der neuen kommunistischen Macht und den USA brach ab, als das State Department einen Vorschlag Tschou En-lais ablehnte, den dieser dem in Nanking verbliebenen US-Botschafter Leighton Stuart machte. Jener ehemalige Missionar und zeitweilige Leiter der Pekinger YenchingUniversität, dem Tschou En-lai nahelegte, als US-Botschafter nach der neuen Hauptstadt Peking überzusiedeln, man könnte dort über die
Versöhnung
Amerikas
mit
dem
revolutionären
China
verhandeln (ein wahrlich ungewöhnliches Angebot, das im Grunde der verzweifelte Versuch Tschous war, das Band zu uns nicht abreißen zu lassen!), wartete vergeblich auf die Erlaubnis dazu aus Washington. Sie kam nicht. Statt ihrer erhielt er die Weisung zur Rückkehr,
und
unser
State
Department
bezeichnete
die
>Volksregierung< in Peking als > Handlanger eines fremden Imperialismus Patrioten < ausweisen konnten oder der KP stillschweigend geholfen hatten, ihre Produktionsanlagen behalten durften. Eine eigenartige Revolution, das mußte wohl selbst unseren Politikern in Washington klarwerden, nur, ich vermute, sie erfuhren nie genau, was in China eigentlich vorging, hinter dem Vorhang, auf den sozusagen mit groben Schriftzeichen > Diktatur des Proletariats < gemalt war. Mit Sandy war ich mir in dieser Ansicht einig, wenn wir am Radio Nachrichten oder Kommentare aus Tokio hörten. Meine Frau faßte es in die Worte: »Sie sehen Rot, und zwar nur noch Rot.« Sie arbeitete seit dem Einmarsch der roten Truppen in Peking vorerst noch nicht wieder, die Militärabteilung des P. U. M. C. war aufgelöst. Doch dies war nicht der Grund dafür, daß sie sich zu Hause aufhielt; sie war schwanger. Das P. U. M. C. arbeitete weiter wie zuvor, jetzt als >VolkskrankenhausUS-Information Office< und das Konsulat, packten Anfang dieses Jahres ihre Koffer. Um diese Zeit wurde Sue geboren, sie war definitiv der letzte US-Bürger, der in dem bereits hochgradig geräumten Konsulat seine Staatsbürgerschaft amtlich bestätigt bekam. 373
Die feierliche Zeremonie, bei der Mao Tse-tung von der Tribüne des Tien An Men den Hunderttausenden von jubelnden Chinesen, die sich auf dem großen Vorplatz vor dem Kaiserpalast versammelt hatten, die Gründung der Volksrepublik verkündete, erlebte ich ohne Sandy, am Rande des Changan-Boulevards stehend. Die Worte Maos, in seinem schweren Hunan-Dialekt gesprochen und durch Dutzende von Lautsprechern verstärkt, versetzten mich in einen schwer zu beschreibenden Zustand: »Niemand wird unsere Nation jemals wieder beleidigen können! China, ein Viertel der Menschheit, hat sich erhoben!« Mao gab dann die Namen der neuen Regierungsmitglieder an: Es war tatsächlich eine Koalitionsregierung, es gab nicht nur Kommunisten in ihr, sondern einen beachtlichen Anteil von Leuten, die zu nichtkommunistischen Splitterparteien gehörten. Der kleine Schönheitsfehler, daß keine Wahlen vorausgegangen waren, fiel kaum ins Gewicht. Ich mußte oft an die Worte Tschou En-lais denken, mit einem Groll darüber im Herzen, daß >Dixie< ihre Aufgabe sehr wohl erfüllt hatte, doch der greifbar nahe Erfolg, einen willigen Verbündeten südlich der sowjetischen Grenzen zu gewinnen, an Politikern gescheitert war, die nie im Leben einen chinesischen Kommunisten auch nur von Angesicht zu Angesicht gesehen hatten! Zwei Monate später reiste Mao Tse-tung nach Moskau, und er führte sich dort damit ein, daß er erklärte, seine Verhandlungen mit den Sowjets hätten vor allem den Zweck, >das Weltfriedenslager mit der Sowjetunion an der Spitze zu festigen Pekinger Volkszeitung < (Jenminshibao) auf der Titelseite, was Mao beim Abschied in Moskau Reportern erklärt hatte: »Das von uns auf der Basis der Grundinteressen des chinesischen und des sowjetischen Volkes erzielte volle gegenseitige Einverständnis und unsere tiefe Freundschaft können durch Worte nur schwer ausgedrückt werden. Die durch Verträge gefestigte Freundschaft zwischen den Völkern Chinas und der Sowjetunion ist ewig, unzerstörbar und kann von niemandem aufgelöst werden.« Ein völlig neuer Mao Tse-tung? Oder ein angepasster? Jedenfalls verstärkte sich die prosowjetische Stimmung im Lande stürmisch. Russen in Peking wurden auf offener Straße von völlig Fremden begrüßt und gefeiert. Das große Bündnis der beiden volkreichsten kommunistischen Staaten, das wir hätten verhindern können, war Realität geworden. Wie diese Realität im einzelnen aussah, erläuterte mir Kang Sheng. Es war ihm anzumerken, daß die Entwicklung, die sich hier anbahnte, ihn nicht gerade in Entzücken versetzte. Aber er antwortete mir auf eine dahin zielende Frage: »Was hätten wir tun sollen, nachdem Amerika uns im Stich gelassen hat? Wir haben eine andere Chance wahrgenommen. Jetzt müssen wir versuchen, das Beste für uns daraus zu machen ...« Ich hatte inzwischen von Holly aus Hongkong ein weiteres Lebenszeichen erhalten. Er forderte mich auf, Kontakt zu einem Vizedirektor der noch in Peking bestehenden Bank of China aufzuneh375
men, einem cleveren Managertyp, der des öfteren Hongkong beruflich aufzusuchen hatte, weil dort interessanterweise eine Filiale dieser Bank weiter bestand. Vorsichtshalber informierte ich Kang Sheng über diesen neuen >KanalGemeinsamer Aktiengesellschaften vorzugsweise in Sinkiang, bei der Ortung und Ausbeutung von Erdöl-, Erdgas- und Kohlevorkommen sowie bei der Gewinnung rarer Buntmetalle. -Einrichtung ständiger Luftverkehrslinien mit sowjetischer Hilfe: Peking—Irkutsk, Peking—Tschita, Peking—Alma Ata.
Anmerkung: Informationen von K. Sh. mit Anweisung zur Weitergabe: K. Sh. definiert Abkommen als Konsequenz der von den USA betriebenen China-Politik, die sich nach Mao Tse-tungs Meinung frühestens in zehn oder zwanzig Jahren werde ändern lassen. Dem Anschein nach sieht K. Sh. den sich durch das Bündnis zwangsläufig ergebenden sowjetischen Einfluß auf die chinesische Staatsstrategie als problematisch an. Allerdings scheint MTt innerhalb der Führung des Partei- und Staatsapparates vorgebaut zu haben. Von den bekanntesten Vertretern der >Moskauer Richtung«, die noch in Jenan stark kritisiert wurden, ist keiner in ein Amt mit tatsächlicher
Entscheidungsgewalt
gekommen.
Wang
Ming
(nominell zwar ZK-Mitglied) ist mit der Gründung einer Kommission beauftragt, die sich mit >Rechtsfragen beschäftigen soll.
Yang
Shang-kun
(ebenfalls
ZK-Mitglied)
hat
eine
unbedeutende Funktion im technischen Apparat der Partei, er ist für die Organisation von Begräbnisfeiern beim Ableben verdienter Kommunisten verantwortlich. Tschang Wen-tien (Lo Fu) arbeitet irgendwo in der tiefsten Provinz als Parteisekretär. Lediglich Wang Djia-hsiang (ZK-Mitglied) wurde Botschafter Chinas in Moskau. Diese Entsendung soll mit Sicherheit einen gezielten Eindruck erwecken, nämlich den, daß zwischen den >Fraktionen< eine 377
Aussöhnung vonstatten gegangen ist. Schlussbemerkung: Das Leben normalisiert sich hier überraschend schnell. Keine blutigen Auseinandersetzungen, mit Ausnahme der Hinrichtung von bisher einigen hunderttausend Großgrundbesitzern im Zuge der Landreform. Anklage: Ausbeutung der ehemals Landlosen sowie Mißhandlungen. Violet
8.10.1950 Es vergingen Wochen, bis sich Tso Wen wieder bei mir meldete. Während dieser Wochen spielte sich in Korea eine Art Blitzkrieg ab. Die kommunistischen Truppen des Nordens stießen immer weiter südwärts vor. Indessen dampfte die 7. US-Flotte auf die koreanischen Küstengewässer zu und riegelte die Straße von Taiwan ab. In Japan stationierte Bomberverbände unserer Strategischen Luftstreitkräfte begannen die immer länger werdenden Verbindungswege der vorrückenden Nordkoreaner anzugreifen. In der UNO war — gegen die Sowjets — der Beschluß gefaßt worden, eine sogenannte >UNO-Streitmacht< nach Korea zu entsenden. Die Vereinigten Staaten stellten das Hauptkontingent, MacArthur kommandierte. Eine folgenschwere Entscheidung. Peking, das spüre ich, macht mobil. In den Zeitungen erscheinen Landkarten, die die chinesischkoreanische Grenze zeigen, und Kommentare weisen darauf hin, daß die »sogenannte UNO-Aktionunerschrocken gegen den Kommunismus zu kämpfen Südliche< (Nan Hai) und der >Mittlere< (Tschung Hai). An ihren Ufern standen modern gebaute eingeschossige Villen, die den größten Teil der hohen Partei- und Staatsbeamten mit ihren Familien beherbergten, aber wohl auch einige Regierungsdienststellen. Als ich das letzte Mal im Regierungsbezirk war, sah ich einen anderen Teil, sicher hatte man inzwischen Restaurierungen vorgenommen, und nun bot sich hier das Bild eines gepflegten Vorstadt-Villenviertels, wenn man von den Mauern absah. Es gab noch einen dritten See in dieser Gegend Pekings, den >Nördlichen< (Be Hai), aber dieser war nicht in den streng bewachten Komplex einbezogen, ihn umgab ein herrlich angelegter Park, der jedermann zugänglich war. An den Sonntagen tummelten sich Tausende auf seinen Wegen und Grünflächen, erholten sich am Wasser oder tranken Tee im erstklassigen Be-Hai-Restaurant. Das Gelände um die beiden anderen Seen hingegen ist Sperrgebiet. Wie ich feststellen konnte, stört sich kaum jemand daran, die Leute sagen, Be Hai ist ohnehin der schönste der drei Seen: die Insel Tjiong Hua mit der Pagode, mit dem Tempel der ewigen Ruhe und der Halle des Lichts, dem Tempel der zehntausend Buddhas, dem Fünf-Drachen-Pavillon und der Neun-Drachen-Wand, vor der ich mich zum ersten Mal mit Sandy und Sue auf einem Sonntagsausflug von einem Fotografen knipsen ließ (er benutzte 380
einen geradezu vorsintflutlichen Holzkasten von Kamera, gegen den eine amerikanische Speed-Graphic wie ein Ersatzteil aussehen würde!). Wir aßen im Restaurant Yi Lan Tang, auf der Nordseite der Insel gelegen, wo es auch den Anlegesteg für Ruderboote gibt, und nach dem Essen ruderte ich Sandy und das Baby länger als eine Stunde auf dem See herum, bis ich Blasen an den Handflächen hatte…. Die Villa, die ich in Tso Wens Begleitung betrat, war offenbar kürzlich erst fertig geworden. Das verwunderte nicht, denn gegenwärtig wurden in ganz Peking Verschönerungsarbeiten großen Umfangs
geleistet, von der Reinigung
der Gullys bis zum
Wiederaufbau alter Mauern. Was mich verwunderte, war die Nervosität, mit der Kang Sheng mich empfing. Er trug einen der sogenannten Kader-Anzüge, hochgeknöpft, militärisch einfach, grauer Gabardinestoff, ein paar Grade besser aussehend als die dunkelblaue Ausführung dieser Dinger, die für niedriger stehende Funktionäre zur Einheitskleidung geworden war. Kang Sheng zwang sich zu ein paar höflichen Floskeln, aber ihm war anzumerken, daß er so schnell wie möglich zur Sache kommen wollte. Also machte ich es ihm leicht, indem ich sagte: »Ich danke vielmals für Ihre Einladung, es schien mir unerläßlich, in dieser heiklen Situation, in der wir uns befinden, Ihnen meine Gedanken darzulegen ...« Er unterbrach mich, indem er mir die Hand auf den Arm legte. »Kamerad Robbins, wir haben Zeit, uns zu unterhalten. Etwas anderes hat aus technischen Gründen sofort zu geschehen. Wir brauchen ein Foto von Ihnen, für einen Paß. Ich erkläre Ihnen das alles später — würden Sie sich bitte da vorn auf den Hocker setzen ...« Etwas verwundert folgte ich seiner Aufforderung. Er rief einen Namen, und von draußen betrat ein Mann mittleren Alters den 381
Raum, in der Hand eine deutsche Rolleiflex-Kamera. Er nickte mir kurz zu, zog hinter Vorhängen zwei Lampen hervor, die er anschaltete und auf mein Gesicht richtete, dann tanzte er eine Weile vor mir herum, betätigte mehrmals den Auslöser, worauf er sich bedankte, die Lampen mitnahm und verschwand. Inzwischen hatte ein weißgekleideter Bediensteter Tee und Gebäck serviert, einen Teller mit Früchten und eine Flasche Brandy samt einem Glas. Kang Sheng dirigierte mich zu einem Sofa, auf dessen Lehne, wie auch auf den Armlehnen zweier Clubsessel, weiße Spitzendeckchen lagen. »Greifen Sie zu, Kamerad Robbins«, forderte er mich auf, »wir haben die Absicht, Sie in einer nicht ganz einfachen Sache um Ihre Hilfe zu bitten ...« Er deutete auf die Brandyflasche, bemerkte, das er leider aus Gesundheitsgründen nicht mit mir trinken könne, goß Tee ein, wobei er so hastig verfuhr, daß es große Pfützen auf dem Tisch gab, die ihn aber offensichtlich nicht störten. Eine Zeitlang unterhielten wir uns über den Korea-Krieg, tauschten Ansichten aus, ich äußerte meine
Besorgnis,
daß
daraus
ein
großer
Konflikt
unter
Einbeziehung meines Landes, Chinas und vermutlich auch der Sowjetunion werden könnte, wozu er gedankenvoll nickte. Seine Sorgen waren ganz gleicher Art. »Kamerad Robbins«, sagte er dann langsam, »das Schlimmste an diesem Krieg ist, daß ihn niemand von uns brauchen kann. Wir haben ihn nicht gewollt, auch die Sowjets nicht. Syngman Rhee hat ihn provoziert, um sein Regime mit der militärischen Unterstützung Ihres Landes am Leben zu erhalten; das alles ist nun außer Kontrolle geraten, das geschieht bei militärischen Aktionen sehr leicht, und nun ist die Lage äußerst gespannt, wir wissen, daß die Vereinigten Staaten eine Offensive vorbereiten ...« »Aber«, wandte ich ein, »die nordkoreanischen Truppen haben 382
ihre Gegner auf einem Brückenkopf im Südzipfel des Landes zusammengedrängt, der wenige Quadratmeilen groß ist ... Sollte das nicht der Sieg sein?« Ich glaubte selbst nicht, daß es so ausging, aber ich wollte hören, was Kang Sheng dachte. Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein. Das Gegenteil ist der Fall. Wir wissen, daß die Vereinigten Staaten große Reserven mobilisieren, andere Staaten senden ebenfalls Truppen und Waffen, das alles läuft auf einen noch lange währenden, erbitterten Krieg hinaus, zu einer Zeit, da China im Begriff war, die dringendsten Aufgaben der inneren Stabilisierung in Angriff zu nehmen. Wir versuchen in der Landwirtschaft Fortschritte zu machen, wir sind dabei, unsere Industrie neu zu organisieren, das Finanzwesen zu ordnen, das Schulwesen und manches andere ...« Ich hatte darüber gelesen, die Zeitungen hatten am Ende der zweiten Juniwoche noch über die Beratungen des 3. Plenums der KP berichtet, in großer Aufmachung. Kang Sheng sagte: »Die Gefahr ist bereits größer, als wir sie in der Öffentlichkeit darstellen, Kamerad Robbins. Von den amerikanischen Stützpunkten in Japan aus fliegen viermotorige Fernbomber über unsere Grenzen und werfen auf mandschurischem Gebiet Bomben ab. Wir haben Verluste. Sobald Amerika sich mit Truppen massiv auf dem koreanischen
Kriegsschauplatz
engagiert,
werden
unsere
mandschurischen Grenzen selbstverständlich auch zu Lande bedroht sein. Zudem besagen unsere Vereinbarungen mit der Koreanischen Volksdemokratischen Republik, daß wir zu Beistand verpflichtet sind. Wenn Sie sich jetzt noch vergegenwärtigen, daß China ein ähnliches Bündnis mit der Sowjetunion hat, dann können Sie die katastrophale Entwicklung dieses Konfliktes unschwer voraussehen. Angesichts dieser Perspektive wollen wir Sie bitten, der amerikanischen Seite inoffiziell und in aller Stille unsere 383
Position zu erklären, sowie ein paar Vorschläge zu unterbreiten. Wir haben keinen anderen Weg, es gibt keine offiziellen Kontakte mehr, wie Sie wissen. Vertraulich kann ich Ihnen sagen, daß wir versucht haben, über den Botschafter Indiens Verbindung zu Washington herzustellen"— es war vergeblich.« Ich wußte nur zu gut, wie schwer es sein würde, in dieser Atmosphäre einen offiziellen Kontakt herzustellen. Das State Department hatte bereits erklärt, daß die Vereinigten Staaten die Republik Korea, ebenso wie Taiwan und Japan als die >vorderste Linie ihres pazifischen Verteidigungsgürtels gegen den Kommunismus< und China als das > Banditennest auf dem Festland < ansahen. Deshalb war ich instinktiv völlig überzeugt davon, daß Kang Shengs Besorgnis echt war. Die Sache lag klar: Mao fühlte sich nicht wohl in der Rolle, in die er geraten war, nicht zuletzt durch die Abfuhr, die wir ihm erteilt hatten. Ob ich helfen könnte, und wie? Kang Sheng sah mich einige Zeit nachdenklich durch seine dicken Brillengläser an, dann fragte er unvermittelt: »Könnten Sie für uns eine Reise unternehmen?« »Wie lange?« »In drei Tagen kann alles erledigt sein.« Ich ahnte, daß es Hongkong sein würde, und er bestätigte es. Als ich darauf verwies, daß ich allerdings von dort aus kaum die Möglichkeit haben würde, viel zu erreichen, schüttelte er den Kopf und hielt mir entgegen: »Wir wissen, daß einige unserer alten Freunde inzwischen in die CIA übernommen worden sind. Unter anderem auch Ihr ehemaliger Vorgesetzter. Und wir wissen, daß er gute Verbindungen zum neuen stellvertretenden Direktor der Agentur hat, die beiden kennen sich seit Jahren. Wenn es uns überhaupt gelingen sollte, etwas zu bewegen, dann über diesen Kanal ...« Einiges war mir unklar. Nach allem, was ich wußte, war der Chef der CIA ein 384
Admiral namens Hillenkoetter, und ich wußte nichts von einer Bekanntschaft Hollys zu ihm. Kang Sheng berichtigte mich: »Ein Mißverständnis. Der neue Chef der Agentur heißt Walter Bedell Smith, es hat einen Wechsel gegeben. Smith war Stabschef des Oberkommandierenden der in Europa operierenden US-Streitkräfte während des Krieges, General Eisenhower. Dieser wiederum ist nun Stabschef im Weißen Haus. Mister Smith hingegen amtierte eine Zeitlang als Botschafter in Moskau. Ein sehr konservativer Mann. Ich meinte allerdings nicht ihn, sondern seinen Stellvertreter, dieser kommt aus dem OSS ...« Er war zweifellos hervorragend orientiert, er nannte auch den Namen. »Mister Dulles.« »Aber — ich dachte, Mister Dulles ist außenpolitischer Berater des Präsidenten! Wurde sein Name nicht im Zusammenhang mit einem Besuch am 38. Breitengrad genannt?« »Das war Mister John Foster Dulles, der Bruder des Mannes, den wir meinen«, erläuterte Kang Sheng geduldig. »Es wird interessant für Sie sein zu erfahren, daß Mister Allen Welsh Dulles zwar auch als ein Konservativer, aber als ein Mann mit sehr nüchternem Analytikerverstand angesehen wird, während sein Chef, Mister Smith, eher zu impulsiven Reaktionen neigt. Wenn wir überhaupt eine Chance haben, gehört zu werden, dann wird es Mister Allen Dulles sein, der unsere Worte zur Kenntnis nimmt. Mehr ist nach Lage der Dinge kaum zu erwarten, wir haben keinerlei Illusionen, Kamerad Robbins, aber wir versuchen es.« Ich konnte seine Bitte nicht ablehnen, und ich wollte das auch nicht. Ein Kampf, der von US-Truppen gegen China ausgefochten werden mußte und gegen dessen Verbündete, war ein von vornherein auf Verschleiß der amerikanischen Kräfte hinauslaufender Landkrieg. Es würde ein Krieg werden, in dem wir nicht nur gegen 385
Menschenmassen Chinas und der Sowjetunion gleichzeitig zu kämpfen hätten — er fände unter dem Schatten der sowjetischen Atombombe statt, die die unsere zumindest aufzuwiegen imstande war. »Was wir vorschlagen«, erinnerte mich Kang Sheng, »liegt tatsächlich im langfristigen Interesse Chinas ebenso wie der USA.« Dann zog er ein Blatt Papier hervor und las mir vor, was der CIA übermittelt werden sollte, in der Hoffnung, daß es einsichtigen Leuten dort gelingen könnte, die Regierung in ihren Entscheidungen zu beeinflussen. »Sie dürfen dieses Papier mitnehmen«, sagte er, als er fertig war. »Es trägt keine Unterschrift. Sie dürfen Ihrem Gesprächspartner mitteilen, es handelt sich dabei um die Meinung unserer höchsten Staatsführung. Was uns betrifft, so werden wir über das, was hier geschrieben steht, niemals auch nur ein Wort verlieren. Es wird vergessen sein. Selbst unsere Verbündeten werden nicht informiert werden,
egal
was
geschieht.
Wir
erwarten
von
Ihrem
Gesprächspartner, daß er dieselbe Haltung einnimmt.« Zwei Stunden später packte Sandy meine Koffer. Ich nahm nur das Allernotwendigste mit, es würde eine kurze Reise sein. Sandy war wider Erwarten nicht ängstlich, als ich ihr gestand, ich würde China für kurze Zeit verlassen. »Hongkong«, murmelte sie versonnen, »darum könnte man dich beneiden!« »Du wirst dich nicht beunruhigen?« Sie zog mich zur Couch und setzte sich auf meinen Schoß. Sie konnte sehr nüchtern sein, wer wußte das inzwischen besser als ich, und oft schlich sich in diese Nüchternheit unversehens ein Zug Komik. Jetzt sagte sie: »Was würde es ändern, du fährst ja doch! Hättest du es lieber, wenn ich dir eine Szene mache? Die Frau des 386
Spions, die den Fehlgriff ihres Lebens bejammert?« »Ich bin kein Spion, Sandy!« »Eben«, sie zuckte die Schultern. »Nicht mal das. Eher eine Art Briefträger. In einem altmodischen Land, das noch an keine internationalen Telegrafenlinien angeschlossen ist.« Wir küßten uns, ich merkte, daß sie lachte. Selbstverständlich war sie besorgt um mich, aber dies war eben ihre Art, es zu äußern. »Lieber wäre es mir«, sagte sie, »du bliebest hier und würdest weiter Texte übersetzen. Wer weiß, was für Versuchungen an dich schwachen Menschen in Hongkong herantreten!« Damit hatte sie die ganze Sache endgültig in einen unernsten Bereich gezogen, sie wollte den Ernst dessen, was ich zu unternehmen im Begriff war, einfach nicht erörtern, obwohl sie ihn sehr gut begriff. Meine Wahine! Ich begann immer neue Züge an ihr zu entdecken. Als Tso Wen mich abholte, küßte sie mich, ich drückte die kleine Sue an mich, und am Tor drohte Sandy mir: »Wenn du zurückkommst, Sidney B. Robbins, werden wir ein Fest feiern! Luau unter freiem Himmel, im Hof! Und ich will endlich einmal Gäste im Haus sehen!« Tso Wen übergab mir im Auto verschmitzt lächelnd einen Paß, in dem das Bild klebte, das der Fotograf bei Kang Sheng von mir gemacht hatte. Die Leute verstanden ihr Handwerk, daran bestand kein Zweifel: ich hieß Samuel Bernhard Roney und war Neuseeländer. Alle übrigen Daten stimmten mit den meinigen überein, mit Ausnahme des Geburtsortes, der war Wellington. »Wir haben die Anfangsbuchstaben Ihres Namens, so gewählt, daß sie den Ihrigen entsprechen«, bemerkte Tso Wen. »Das ist eine bewährte Methode, sich schnell an eine neue Identität zu gewöhnen ...« Der Teufel mochte wissen, ob er recht hatte, ich reiste zum ersten 387
Mal mit falschen Papieren! Es ging zum Flugplatz. Die Maschine, in die wir stiegen, ähnelte einer Dakota zum Verwechseln, aber Tso Wen erklärte mir lächelnd, sie sei aus der Sowjetunion, dort habe man sie nach einer amerikanischen Lizenz gebaut, China würde sie übrigens in Kürze auch fertigen. In der Kabine war ich mit Tso Wen allein. Es kam mir immer noch wie eine gewagt fabulierte Story vor: Sidney B. Robbins (oder vielmehr Samuel Bernhard Roney) in vertraulicher Mission aus China unterwegs nach Hongkong! Nach etwas mehr als zwei Stunden landeten wir in Shanghai. Die Türen blieben geschlossen, während der Vogel aufgetankt wurde. Als das endlich beendet war, klebte meine Kleidung am Körper, immerhin war noch Sommer, und die Temperaturen lagen in diesem Jahr ohnehin hoch. — Nächster Stopp war Kanton. Inzwischen waren fünf oder sechs Stunden vergangen. Tso Wen stieg als erster aus, winkte mir dann, und während ich die Gangway hinabstieg, fuhr schon ein Militärjeep heran, Tso Wen verstaute meinen Koffer, wir fuhren ab, durch einen Seitenausgang des Flughafens der Stadt zu. »Wie ist es«, erkundigte sich Tso Wen vorsichtig, »möchten Sie noch etwas essen? Oder lieber die Zeit nutzen und drüben erst ...« Ich hatte keinen Hunger, aber es interessierte mich, wie lange ich noch unterwegs sein würde. Tso Wen blickte auf seine Uhr. »Zwei Stunden, höchstens.« Da entschloß ich mich, auf ein halbrohes Steak in irgendeinem Hongkonger Restaurant zu warten. Tso Wen war zufrieden. Er rief dem uniformierten Fahrer zu, er solle zum Bahnhof fahren, dann gab er mir ein ziemlich dickes Bündel Pfundnoten und einen Zettel mit einer achtstelligen Zahl. »Die Telefonnummer, unter der Ihr Gastgeber zu erreichen ist ...« Gastgeber war zwar eine recht ku388
riose Bezeichnung für Holly, aber immerhin frappierte mich die Routine, mit der das alles organisiert war. Seit den Höhlen von Jenan hatten diese Leute erstaunlich schnell zugelernt! Von Kanton fuhren in nicht allzu langen Abständen Bummelzüge die kurze Strecke bis zur Grenze von Hongkong. Ich brauchte, einmal im Zug sitzend, nicht lange zu warten, die Wagenschlange setzte sich klirrend und ratternd in Bewegung. Tso Wen, auf dem Bahnsteig, hob leicht die Hand, dann waren wir aus dem Bahnhof. Es folgte die sonnendurchglühte Perlflußniederung mit ihren Reisfeldern, auf denen die zweite Ernte reifte, saftiges Grün trotz der Hitze, und vielfarbige Blüten überall. Im Gegensatz zu Shanghai war es hier angenehmer, die Luft war weniger drückend, eine leichte Brise fächelte die Kronen der Zuckerpalmen. Der Zug war nur mäßig besetzt. Alte Frauen mit Tragkörben, aus denen Hühner lugten, ein paar jüngere Mädchen, denen ich anzusehen glaubte, daß sie aus Hongkong stammten, ein paar dienstreisende Männer mit Aktentaschen — hier im Süden markierte sich im Verhalten der Leute nichts von der Sorge, die jetzt vielleicht die Bewohner der mandschurischen Provinzen erregen mochte: wann kommen die amerikanischen Bomber? Das lag wohl daran, daß England in Hongkong eine sehr geschickte Politik betrieb, die auf alles andere angelegt war als auf Konfrontation. Die Briten mußten sich der kritischen Lage ihrer Kronkolonie bewußt sein, und sie hatten aus dieser Lage begonnen, systematisch Vorteile zu ziehen, von denen — um das mindeste zu sagen — nicht wenige sich auch als Vorteile für China erwiesen. Man trieb Handel auf immer großzügiger werdender Basis. Da die Zollbestimmungen in Hongkong äußerst günstig waren, bedeutete die Kolonie im wachsenden Maße eine ideale Einkaufsquelle für die Volksrepublik, und zwar für alle jene Güter, die sie aus dem 389
nicht befreundeten Ausland bekam. — Wenig Zeit verging, bis der Zug an der Grenzstation Schumtschun hielt. Vor uns lag eine Eisenbrücke. Ihr Zugang war gesperrt, hier kontrollierten chinesische Soldaten und Zollbeamte ziemlich routiniert die wenigen Reisenden. »Mister Roney?« Der Grenzposten musterte mich kurz, er gab nicht zu erkennen, ob er durch den effizienten Apparat Kang Shengs von meinem Auftauchen unterrichtet war, er besah sich das Visum und drückte dann seinen Stempel auf die nächste Seite des Passes, bevor er ihn mir zurückgab. Währenddessen hatte der neben ihm stehende Zollbeamte, soeben mit der Untersuchung eines Hühnerkorbes fertig, kommentarlos mit seinem Kreidestück ein Kreuz auf meinen Koffer gemacht und winkte mich durch die Schranke. Es waren etwa dreihundert Meter Brücke. Auf der anderen Seite wieder eine Schranke, daneben ein Chinese in britischer Uniform, der sich mit meinem Paß nicht lange aufhielt, ihn stempelte und freundlich »All right, Sir!« sagte. Der Zollbeamte war Engländer, wie aus dem Bilderbuch Seiner Majestät geschnitten, groß, hager, mit blondem Schnurrbart. Er sagte, überrascht über mein nichtchinesisches Gesicht: »Good afternoon, Sir!« Mein Gepäck interessierte ihn nicht, er bemerkte nur, indem er mir bedeutete, ich könne weitergehen: »Ziemlich heiß jetzt, da oben, wie?« Und er lachte aus vollem Hals, als ich ihm zublinzelte und zurückgab: »Keine Panik! Geschäft wie üblich!« Auch hier gab es einen Bahnsteig und eine kleine Station, auf der ein Zug wartete. Meine Mitreisenden stürmten bereits die Abteile. Ich warf gerade einen Blick auf das Schild dieses Grenzbahnhofes, auf dem ich noch nie gewesen war und der Lo Wu hieß, als mir jemand von hinten einen derben Schlag auf die Schulter versetzte: Holly! 390
Ich war mehr als verblüfft. Während wir uns begrüßten, überlegte ich, wie er von meiner Anreise erfahren haben konnte. Welche unsichtbaren Linien gab es zwischen Peking und der Kolonie? Und welche Rolle spielte Holly eigentlich in dem Netz, das da gespannt war? Er schob eine Beantwortung meiner Frage auf, bis wir den Bahnsteig verlassen hatten. Ich war darauf vorbereitet gewesen, mit dem Zug weiter südwärts durch Kowloon zu fahren, bis zum Star Ferry Pier an der Salisbury Road, von wo, wie man mir gesagt hatte, die Fähren nach der Insel Hongkong abgingen. Jetzt lachte Holly nur und wies auf einen kleinen schwarzen Austin: »Verlorene Zeit, mein Junge, wir nehmen diese Neuerwerbung von mir. Hat den Vorteil, daß uns niemand zuhört!« Ich war zum ersten Mal in Hongkong, und daher war ich erstaunt über die Atmosphäre in dieser alten britischen Kronkolonie. Kowloon, das wir jetzt auf einer sauberen Asphaltstraße durchquerten, war der größere Teil der Besitzung, und das Land machte einen erstaunlich aufgeräumten Eindruck. Die Felder waren mit Reis und Bohnen bestellt, säuberlich durch Dämme abgegrenzt, die Ansiedlungen, durch die wir fuhren, erweckten den Anschein, als habe man sie soeben abgewaschen. Ordnung war zu spüren, eine gewisse Heiterkeit der Leute, die zwar auch, wie in China, ärmlich gekleidet waren, das aber mit einer Anmut trugen, die sich wohl nicht allein durch das südliche Temperament erklären ließ. Holly meinte gleichmütig: »Laß dich nicht täuschen, Sid, die Leute haben gerade das Notwendigste zum Leben, aber — hier unten muß man sich daran gewöhnen, daß selbst die Armut noch bunte Farben hat, nicht graue, wie auf dem nördlichen Festland, wo du herkommst. Erzähl mir, wie es dir geht!« Ich berichtete ihm. »Deine Frau«, fragte er, »wird sie es durchhalten?« 391
Ich blickte ihn erstaunt an. Er kannte Sandy nicht, hatte keine Vorstellung von ihr, und er schien zufrieden zu sein, als ich ihm erklärte, ihre größte Sorge sei, bald wieder in ihrem Beruf arbeiten zu können. Wir fuhren an einigen gemauerten Reservoirs vorbei, und Holly bemerkte, daß es sich dabei um Zisternen zum Auffangen von Regenwasser handelte. »Das ist die Achillesferse dieser Kolonie, sie hat kein eigenes Wasser. Sie bezieht es von China. Was das in Krisensituationen bedeutet, kannst du dir ausrechnen ...« Wir hatten Glück, am Star Ferry Pier lag eine Fähre bereit, und zehn Minuten später waren wir auf der anderen Seite des Wassers, in Hongkong, Stadtteil Victoria, wie Holly mir erläuterte. Der Austin rollte munter in dem Gewühl von Autos, Rikschas und Radfahrern von der Connaugh Road zur Peddler Street, bog in die Queens Road Central ein und hielt nach einer Schleife vor einem nüchtern aussehenden Bürogebäude. Eine Tafel: Southern Trading Company. Wir waren angelangt! Noch hatten wir kein Wort über meinen Auftrag gesprochen, wir fuhren mit dem Fahrstuhl ein paar Stockwerke hoch, und als er anhielt, breitete Holly die Arme aus. »Hier ist mein Reich!« Ein Foyer, von dem gepolsterte Türen abgingen, unweit des Fahrstuhls ein halbkreisförmiger Schreibtisch mit einer Menge von Telefonen, dahinter eine junge Dame amerikanischen Zuschnitts, allerdings mit unverkennbaren Anzeichen dafür, daß ihre Ahnen nicht ausschließlich aus den Staaten stammten. »Miß Nancy«, bemerkte Holly im Vorbeigehen. Ich nickte höflich. Dabei fiel mir der Captain von der Navy ein, der meine erste Botschaft hierher befördert hatte. Es wäre wohl taktlos gewesen, Miß Nancy danach zu fragen, ob er bei ihr Erfolg gehabt hatte! Holly führte mich in ein riesiges, elegant möbliertes Appartement mit Bad, Pantry und zwei Räumen. »Was 392
ist das, ein Hotel?« Holly nahm aus einem Schrank in der Pantry eine Whiskyflasche und Gläser, er schenkte ein, wir stießen an, auf das Wiedersehen, dann fragte er: »Essen?« »Und ob! Ich darf um ein Steak mit Preiselbeeren bitten!« Also doch ein Hotel! »Nein«, gab Holly Auskunft, nachdem er in ein Telefon knapp die Anweisung gegeben hatte, für seinen Gast ein Steak zu braten. »Dies ist schon die > Southern Trading höchsten Regierungsstellen< was soviel heißt wie Mao Tse-tung selbst. Zu der Variante: die Truppen des Nordens würden dann vor Pusan stehenbleiben und es wären Möglichkeiten für Verhandlungen über den weiteren Ablauf der Dinge möglich, zwischen uns und den Südkoreanern auf der einen Seite und den Nordkoreanern als Partner. Ich vermute darin die Absicht, die Sowjets nach Möglichkeit aus der Sache herauszuhalten ...« Er grinste. »So klug bin ich auch. Aber — für diese Variante ist es zu spät. Abgesehen davon, daß die Sowjets schon drinstecken, und zwar in der UNO, wo sie uns Feuer unter dem Arsch machen, sind bei uns die Militärs am Zuge. MacArthur. Was der von Langzeitdiplomatie versteht, hat unter einem kurzgeschnittenen Fingernagel Platz. Überdies ist MacArthur einer, der schon rot sieht, wenn er das Wort Kommunismus nur hört. Keine Chance. Sehen wir uns die nächste Variante an ...« »Nun ja«, erläuterte ich, »für den Fall, daß die Kampfhandlungen weitergehen, sehen die Pekinger ein >roll-back< der nordkoreanischen Truppen voraus. Das würde mit Sicherheit nicht am 38. Breitengrad haltmachen und sich auf die mandschurische Grenze zubewegen. Peking möchte aber, daß die UNO-Truppen die alte Grenze zwischen den beiden Koreas möglichst nicht überschreiten ...« »Weil sie in diesem Augenblick gezwungen wären, Beistand zu leisten, richtig?« »Richtig.« Er wiegte den Kopf. »Damit, mein Junge, ist die Scheiße unwiderruflich im Ventilator. Der Angriff über den 38. Breitengrad hinaus ist bereits beschlossene Sache.« »Dann werden die Chinesen Truppen schicken!« »Eben. Und unsere Militärs hätten jeden Vorwand der Welt, sie 395
bis in die Mandschurei hinein zu jagen, was seinerseits den Bündnisvertrag der Pekinger mit den Sowjets aktivieren würde, und damit lägen dann wir auf dem Bauch.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn du mich fragst, Russen und Chinesen zugleich als Gegner — das ist zuviel.« »Du wirst die Vorschläge weitergeben?« Er lehnte sich zurück. »Ich werde in unsere Funkstation gehen, sobald ich meinen Kaffee getrunken habe. Nur — sei dir klar darüber, das ist ein heißer Krieg, und selbst wenn Allen Dulles es will, wird er ihn nicht so leicht stoppen können. Abgesehen davon, daß ich nicht glaube, er will überhaupt schon einen Ausgleich mit den Chinesen. Es ist zu früh. Und er ist auch erst Stellvertreter des Direktors. Er hat zwar ein offenes Ohr für alles, was mit uns zusammenhängt, er schirmt uns ab, er ist einer der wenigen Leute in der Agentur, die von unserem Kontakt zu Peking überhaupt wissen. Aber du mußt dir darüber klar sein, Junge, daß sich die Lage in der Welt verändert hat. Sieh dir Asien an, nichts als kommunistische Rebellionen, eine Besitzung nach der anderen wird von Leuten kassiert, die zwar meist ziemlich wenig von Kommunismus verstehen, eher sind sie Nationalisten, nur — für Washington sehen sie alle rot aus. Das Zeitalter der aggressiven Ausbreitung des Kommunismus. Es ist viel Wahres daran, aber der Rest ist Phantasie, und es wird lange dauern, bis es wieder vernünftige Analysen gibt. In der Zwischenzeit haben wir bei dem, was wir tun — jedenfalls mit Leuten wie Mao —, den Kongress gegen uns, die Industrie, das Militär, den Präsidenten, die UNO, und so gut wie die gesamte Presse ...« »Etwas viel«, bemerkte ich kleinlaut. Er nickte. »Ein äußerst ungünstiges Kräfteverhältnis, Junge. Und — hast du dir mal überlegt: es ist ja nicht so ganz abwegig zu behaupten, letzten Endes würde Mao uns auch nur für seine ganz eigenen Interes396
sen ausnutzen, oder?« »Ich weiß nicht«, gab ich unschlüssig zurück. »Mein Eindruck ist nach wie vor, dass die Leute unsere Partner werden möchten.« »Um uns gegen die Russen ausspielen zu können, ja.« »Man könnte das Sicherheitsbedürfnis nennen ...« Er wiegte den Kopf. »Das könnte man. Weißt du, ich glaube, dass ich für meinen Teil die Sache ganz gut durchschaut habe. Ich bin mir nicht mehr so sicher, daß Mao lediglich der gute Junge ist, der sich gern unter den Schirm der USA begibt. Er denkt weiter. Man darf ihn nicht unterschätzen, das haben wir vielleicht anfangs getan. Er möchte unter unseren Schirm, so glaube ich wenigstens, weil er dann sozusagen den Rücken frei hat, in Asien. Da ist so manches, was sich nicht reimt. Wir haben beispielsweise sichere Beweise dafür, daß Emissäre Maos fieberhaft in so gut wie allen diesen antikolonialistischen Bewegungen in Asien an Einfluß gewinnen. Das Interessante dabei ist, daß die Sowjets sich hier zwar prinzipiell engagieren, daß sie aber zurückhaltend sind. Sie schätzen die Chancen solcher Bewegungen nüchtern ein und raten zu überlegtem Vorgehen. Maos Emissäre hingegen provozieren den Aufstand um jeden Preis. Auch um den, daß die entsprechende Bewegung daran kaputtgeht /..« Ich hatte einiges zu überlegen, mein Horizont von Peking aus war begrenzt, ich begriff das. »Könnte man das nicht vielleicht als einen Versuch werten, in den Bewegungen, von denen du sprichst, die Führung zu erringen, bevor Moskau sie bekommt?« »Das könnte man. Nur — das Problem ist Chinas Bündnis mit den Sowjets. Solange das besteht, werden unsere Politiker nicht nachgeben. Da sehe ich kein Land ...« Mir wurde die Misere, in der wir steckten, immer klarer. Natürlich zielte Mao auf Ausbreitung seines Einflusses in kleineren Län397
dern Asiens ab. Die einzige Chance bestand darin, diesen Einfluß durch Annäherung an Mao nach und nach auch unter unsere Kontrolle zu bringen. Doch das war ein Gedanke, der so weit in die Zukunft ging, daß er im Augenblick noch irreal erschien. Wer weiß, ob wir jemals so weit kamen. »Ein äußerst ungünstiges Bild«, sagte ich. »Wir werden unter diesen Umständen kaum vorwärtskommen ...« Holly meinte: »Nun ja, in der Politik handelt nie die eine Seite ganz allein. Da ist immer auch die andere mit im Spiel. Wir haben das Konzept, daß wir jede Bestrebung Maos, die sich gegen die Sowjets richtet, nutzen. Im übrigen liegt es an uns, wo und wie wir ihn an der Leine halten, wenn es einmal so weit kommt.« »Aber wir kommen damit nicht vorwärts.« »Es braucht Zeit«, sagte Holly. »Und während dieser Zeit verbündet sich Mao immer weiter mit den Russen. Er kann das unter diesen Umständen nicht vermeiden, obwohl ich fest glaube, daß er das Gegenteil möchte. Es gibt nicht nur ihn, es gibt auch andere Leute in der Führung dort. Er muß mit den Hunden bellen, sonst fressen sie ihn.« »Du sagst es.« Er verfiel in ein stumpfes Brüten, und er blickte kaum auf, als das Mädchen den Kaffee brachte, den Apfelstrudel und Eiswürfel. Abwesend trank er einen Schluck nach dem anderen, dann erhob er sich abrupt. »Ich gehe es an. Wenn es länger dauert, leg dich schlafen. An der Tür ist ein Klingelknopf, wenn du ihn drückst, kommt das Mädchen ...« Ich mußte einige Stunden geschlafen haben, als ich davon aufwachte, daß Holly wieder da war. Draußen war es dunkel geworden. Gähnend erkundigte ich mich: »Was erreicht?« Er ließ sich in einen Sessel fallen, knipste die Tischlampe an und forderte mich auf: »Komm her, schreib. Bringen wir es hinter 398
uns ...« Ich rieb mir die Augen, fuhr in meine Schuhe, griff mir das Papier, das Holly bereitgelegt hatte, und dann begann er zu sprechen. »Konsultation mit dem Partner erbrachte folgendes: Einstellung der Kampfhandlungen im Pusan-Brückenkopf nicht möglich. Offensivvorbereitungen laufen bereits unter Militärkontrolle. Anhalten der Kampfhandlungen am 38. Breitengrad ebenfalls unmöglich, aus gleichem Grund. Ab Überschreiten des 38. Breitengrades würde politische Regelung möglich werden, auch falls inzwischen chinesische Truppen in den Konflikt verwickelt sind. Voraussichtliche Reaktion der UdSSR bei Annäherung von UNO-Truppen an mandschurische und sowjetische Grenze (Wladiwostok) wird Einlenken in Richtung auf Verhandlungen begünstigen. Wir raten, zu diesem Zeitpunkt Waffenstillstandsvorschlag zu unterbreiten. Endziel: Republik Korea verbleibt in US-Einflußsphäre, von Nordkorea durch alte Demarkationslinie getrennt. Danach offizielle Verhandlungen möglich, die den Konflikt endgültig beilegen. Gesprächspartner betont: Verfahren nach diesem Schema würde für spätere Kontakte USA—China Tür offenhalten. Langsame Rückkehr, über sehr langen Zeitraum, zu Vorstellungen, die von >Dixie< entwickelt wurden, bleibt von der Bündnispolitik Chinas und dessen innenpolitischer Situation abhängig. Gesprächspartner wird jedes Zeichen, das von Peking aus gegeben, wird, sorgfältig registrieren. Totale Integration in den Sowjetblock würde jegliche Form der Annäherung unmöglich machen. Austausch von Mitteilungen in bisher
geübter
Art
wird
vom Gesprächspartner
stärkstens
befürwortet, verbunden mit Erörterung taktischer politischer Maßnahmen, wenn Interesse daran besteht.« Ich
legte
den
sogenannten 399
Kugelschreiber,
eines
jener
praktischen neuen Schreibgeräte, das ich hier bei Holly zum ersten Mal sah, auf das Papier und sah ihn an. »Das heißt, der Krieg geht weiter.« »So ist es.« »Und wir beabsichtigen nicht, die Russen zu unmittelbarem Eingreifen zu provozieren?« »Richtig. Das ist die Stufe, bis zu der die Politiker zu Hause gehen werden. Wobei es zu Reibungen mit den Militärs kommen wird, so viel ist sicher, sie haben Blut gerochen, aber sie sind vermutlich nicht in der Lage, nüchtern einzukalkulieren, daß es bei Eingreifen der Russen in den Konflikt im wachsenden Maße unser Blut sein würde, das sie dann noch riechen ...« Damit
war
Kommunismus
alles bis
gesagt: an
die
militante äußerste
Eindämmung Reizschwelle,
des deren
Überschreiten uns durch einen Gegenschlag bedrohen würde. Eine sehr interessante Einschätzung des realen Kräfteverhältnisses lag unausgesprochen in dieser Strategie. Holly bestätigte das sofort. »Es gibt den Trend, Kamikaze zu spielen, Sid: alles erringen oder sterben. Er ist stark. Aber es gibt ebenso die illusionslose Kalkulation des Risikos, wie du siehst. Zwischen diesen beiden Polen wird sich auf lange Sicht die Politik der Vereinigten Staaten bewegen. Unter uns gesagt, diese Konstellation könnte sich eines Tages ändern, die Voraussetzung wäre, daß Mao eine rigorose Abkehr von Moskau vollzieht. Hältst du das für möglich?« Ich konnte nicht mit gutem Gewissen Ja oder Nein sagen. Aber ich antwortete ehrlich: »Auf absehbare Zeit hat er dafür wohl keine Chance, Holly. Das Land ist kommunistisch. Die Russen sind die >älteren BrüderTai Pake Southern Trading< gegründet. Das Anfangskapital war vergleichsweise einfach aufzutreiben gewesen in jener Zeit, vermutlich steckte einige Kriegsbeute mit in dem Unternehmen. »Ich hatte keine Lust, mich von ein paar hirnlosen Eiferern daheim ebenso vor ein Gericht stellen zu lassen, wie das John Service passierte!« Er lachte! »Nein, mein Junge, ich bin auf Tauchstation 403
gegangen, stillschweigend. Galt als verschollen, nur ein paar sehr gute Freunde wußten, wie sie mich erreichen konnten. John Davies beispielsweise. Er hatte Glück, er kam nach einiger Zeit wieder ins State Department. Er war es auch, der mich nach der gebotenen Sicherheitsfrist in die neugegründete Agentur lancierte. Um diese Zeit machten wir mit der >Southern Trading< bereits Gewinn, und ich konnte Bedingungen stellen! Dabei erwies sich, daß die Kerle im Grunde froh waren, ein paar alte China-Fachleute aufzutreiben. Es gab zwar ab und zu diese oder jene Verleumdung, wir wären alle Kommunisten, aber bisher haben wir das immer noch in Ordnung bringen können. Es sind ein paar kleine Kläffer, die uns heute noch mißtrauisch beäugen, die entscheidenden Leute kennen die Zusammenhänge inzwischen besser. Trotz Mister McCarthys Geschrei ...« Ich hatte den Namen gehört, auch gelesen, in Peking. »Wer ist das eigentlich? Zeitungsmann?« Holly schüttelte den Kopf. »Senator. Aus Wisconsin. Das sollte den Leuten eigentlich schon Aufschluß über die Grenzen seines Horizonts geben, aber — er hat einen Ausschuß gegründet, der nach heimlichen Kommunisten in Regierungsstellen schnüffelt, in der Presse, beim Film ...« »Ein Idiot?« »Oh, nein! Im Gegenteil, er versteht sein Handwerk. Nur — er merkt nicht, daß er seine Kräfte an den falschen Objekten vergeudet!« »Kaum vorstellbar, so etwas.« »Doch, es ist Realität, Junge. Von dir weiß er zum Glück wohl nichts, sonst hätte er dich längst vor seinen Ausschuß zur Vernehmung geladen. Oder deinen Paß für ungültig erklären lassen ...« Ich zog belustigt meinen Neuseeland-Paß aus der Tasche. Holly warf nur einen kurzen Blick darauf und bemerkte gelassen: »Wir 404
haben aus der gleichen Quelle auch ein paar Dutzend davon auf Lager. Und was diesen McCarthy angeht, so ist er jetzt erst richtig im Kommen. FBI-Hoover arbeitet mit ihm zusammen. Es wird noch eine Weile dauern, bis wir mit dieser Garnitur von Fanatikern fertig sind. Das Schlimme daran ist: sie sind keine Hochstapler, sie tun das aus echter Überzeugung. Wieweit das geht, siehst du am Beispiel von unserem guten John Birch ...« Ich hatte seit der Todesmeldung nie wieder den Namen dieses jungen Offiziers gehört. Jetzt klärte mich Holly auf: »Es gibt einen patriotischen Verein unter seinem Namen. Das Konservativste, was sich im Süden der Staaten zusammentrommeln läßt, hat sich zum Kreuzzug gegen den Kommunismus vereint, und John Birch ist ihr Märtyrer: der feige von den Roten ermordete saubere amerikanische Junge. Jede alte Jungfer weint bittere Tränen über sein Schicksal. Weshalb und wie er tatsächlich gestorben ist, erfährt keiner. Rache ist heilige Pflicht, so etwa läuft das. Du kannst froh sein, niemand von denen weiß, daß du mit Mao Tse-tung zusammen Melonenkerne geknackt hast! Sie ahnen nicht, daß es dich überhaupt gibt.« Ich mußte lachen, obwohl das, was Holly da in seiner schnodderigen Art erzählte, eigentlich nicht belachenswert war. »Meinen amerikanischen Paß habe ich jedenfalls noch, er liegt sicher in Peking!« »Wenn er abläuft, schick ihn mir, ich lasse ihn verlängern, ohne das er irgendwo vorgelegt wird.« Wir aßen uns durch die verschiedenen Vorspeisen. Krabben, gebacken, Lauch, panierte Pilze. Die Kapelle spielte etwas, das sich wie ein Foxtrott anhörte. »Was mich nur erstaunt«, sagte ich, »ist das Durcheinander in der Aufklärungsbranche, Holly. Allein in Peking sitzt ein halbes Dutzend Amerikaner im Gefängnis, denen 405
Spionage nachgewiesen wurde. Was sind das daheim für Idioten, die in einer solchen Situation verdecktes Personal opfern, statt die offiziellen Quellen zu nutzen, die wir erschlossen haben? Wir können über jede Frage, die uns tatsächlich auf den Nägeln brennt, von Kang Sheng Aufschluß erhalten. Und da verschleißen wir wertvolle Leute, die sich wie Amateurspione benehmen, im Auftrag der Navy-Aufklärung, oder der Marine — was weiß ich! Einen Rockefeller-Stipendiaten an der Pekinger Universität haben sie festgesetzt, weil er die Garnison auf ihre Stärke erkunden sollte, samt seiner Frau. Zwölf Jahre haben sie bekommen ...» Holly nickte ernst. Sein Gesicht wurde verschlossen. Nach einer Weile sagte er: »Ich weiß. Wir haben Listen. Es war dieses Durcheinander, das nach der Auflösung von OSS entstand, und es war die Kommunistenpanik, die Leute angefacht haben, von denen die meisten nicht einmal genau wissen, ob Stalin ein sibirischer Fallensteller ist oder die Bezeichnung für eine rostfreie Legierung. Ach ...« Er brach ab und winkte dem Kellner. »Whisky!« Schweigend warteten wir, bis der Kellner die Gläser brachte. Hollys mürrisches Gesicht hellte sich auf, als er mich aufforderte: »Trinken wir. Vergessen wir die Dummheit. Wir werden sie überwinden!« Daß ich inzwischen auf der Lohnliste der CIA stand, erfuhr ich nebenbei, während wir den süßsauren Karpfen mit unseren Stäbchen bearbeiteten. Eine erstklassige zubereitete Speise, die uns vollauf beschäftigte. Trotzdem nahm sich Holly dabei Zeit, mir zu eröffnen, ich würde in den Personalakten geführt, unter dem Vermerk >auf Außenstationjungen Kommunisten< kennzeichnete, stolz um den Hals gebunden, assistierte dabei. Auf der Tafel stand in großen fetten Schriftzeichen »Schützt die Grenzen Volkschinas! Helft den koreanischen Brüdern! Nieder mit dem US-Imperialismus!< »Der Straßenobmann hat es eben aus der Druckerei gebracht«, erläuterte Lao Wu in einem Ton, der sich wie eine Entschuldigung anhörte. Ich beruhigte ihn: »Ja, ja, das hat schon seine Richtigkeit!« Es war erstaunlich, wie die kommunistische Politik mit Hilfe eines Netzes von Obleuten in jeder Straße durchgesetzt wurde. Offenbar fand niemand an dieser Organisiertheit einen Nachteil, die Leute akzeptierten selbst die Kontrolle, die damit über ihre eigenen Lebensgewohnheiten
ausgeübt
werden 412
konnte,
ohne
zu
widersprechen. Und — was gab es bei diesem Zusammenleben von so vielen Menschen auf engstem Raum überhaupt voreinander zu verbergen? Jeder wußte ohnehin alles von jedem! Di-di teilte mir freudestrahlend mit: »Morgen ist die große Demonstration, da gehen wir mit, Onkel Sid!« Ich schenkte ihm einen Apfel. Er hielt sich oft bei uns im Hof auf, wenn er nicht in der Schule war, ging Lao Wu zur Hand oder achtete auf Sue, wenn die in ihrer Wiege aus Bambus lag. »Erzähl mir von der Welt draußen ...«, flüsterte Sandy, als wir viel später nebeneinander lagen, in unserem Schlafraum. Ich erzählte ihr von Hongkong, dem Lichtermeer von Victoria und den Booten in Aberdeen. Ich ließ Holly aus, und sie fragte nicht nach ihm. Sie hörte still zu, und dann, schon etwas schläfrig, murmelte sie: »Ob wir uns das alles einmal zusammen ansehen können?« Warum eigentlich nicht? Wir waren Staatsbürger der USA, mit ordentlichen Pässen, und niemand konnte etwas dagegen haben, daß wir reisten. Nur — da war dieser Krieg ... »Ja, der Krieg«, murmelte Sandy. Sie schmiegte sich an mich, ihr langes Haar fiel über meine Schulter. »Bist du glücklich?« fragte ich sie, ohne rechten Grund. Aber sie war bereits eingeschlafen. Heute, da ich mit dem Niederschreiben dieser Blätter am Ende bin, erscheint es mir sinnvoll, das, was sich nach meiner Reise in und um Korea abspielt, wenigstens in seinen aufschlussreichsten Details festzuhalten. Die Zeit ist schnelllebig geworden, und die Ereignisse überstürzen sich. Wenn ich beispielsweise an Jenan denke, so erscheint es mir wie eine unendlich lange zurückliegende Etappe, ich habe Mühe, mich an Einzelheiten zu erinnern, die Konturen verschwimmen. Hier, in der Ping Tjiao Hutung sitze ich und arbeite vorwiegend an Übersetzungen, die ich für verschiedene Amtsstellen anfertige, aber auch für Zeitschriften und Verlage. Obwohl mir das 413
Verlagshaus des Mister Löwenstein inzwischen mitteilte, man werde die Publikationen der Tu-Fu-Ausgabe auf einen >günstigeren Zeitpunkt< verschieben müssen, bin ich ein vielbeschäftigter (und gut bezahlter!) Mann, ich kann zufrieden sein. Korea ist es, was mich
beunruhigt.
Die
Ereignisse
dort
nehmen
ihren
unabänderlichen Verlauf. Aus den Nachrichten der verschiedenen Stationen beziehe ich ein oft widersprüchliches, im ganzen gesehen aber doch informatives Bild, zu dem fast täglich neue Striche kommen. Und dann, plötzlich, verkündet die Sprecherin von Radio Peking mit ihrer schneidend hellen Stimme eine Nachricht, die mich wieder einmal (und hoffentlich nicht nur mich) daran erinnert, daß wir es bei den Chinesen nicht etwa mit einfallslosen Leuten ohne weit reichendes Konzept zu tun haben: Während die ganze Welt wie gebannt auf Korea starrt, löst Peking — und zwar mit Gewalt — ein Problem, das mehrere Seiten hat. Es liquidiert die Selbständigkeit Tibets, jenes von religiösen Figuren beherrschten unermesslichen Gebietes auf dem >Dach der Welt Befreiung Tibets< aus dem Pekinger Radio höre. Danach wurden die
tibetischen Truppen
geschlagen,
ihr
Anführer
gefangengenommen und nach einer Belehrung über die Politik der Volksrepublik China gegenüber nationalen Minderheiten wieder freigelassen. Er und weitere tibetische Würdenträger werden in Kürze in Peking über die friedliche Wiedervereinigung mit dem chinesischen Mutterland verhandeln. Wenn ich Kommentare in ausländischen Radiostationen höre, bestärkt mich das stets in meiner Skepsis, was die Einschätzung Pekings durch unsere Politiker und Journalisten betrifft. Da ist von einer >rotchinesischen Banditenclique< die Rede, die ein Terrorregime über das Land ausübt, überall Chaos und den Zusammenbruch des gewohnten Lebens verursacht. Leute wie Mao oder Tschou werden als >Häuptlinge< bezeichnet, die nur durch Moskaus Wohlwollen ihr Spiel in China treiben können, solange die >Freie Welt< (auch so ein neuer Modeausdruck) das noch duldet, und am laufenden Band wird die Vorstellung vermittelt, es handle sich bei der Volksrepublik China um ein Gebilde auf tönernen Füßen, das alsbald in sich zusammenbrechen wird. Wie kurzsichtig dies doch alles ist, von wieviel Unkenntnis der tatsächlichen Verhältnisse es zeugt, von welcher katastrophalen Fehleinschätzung der Politik, die hier gemacht wird und die vielleicht viel weiter in die Zukunft zielt 415
als beispielsweise das, was die Vereinigten Staaten gegenwärtig tun. Ich spreche oft mit Sandy darüber, wenn wir an den warmen Herbstabenden geruhsam beim Tee an unserem Goldfischteich sitzen, und sie stimmt mir zu. Sie hat sich nicht nur erstaunlich gut in die Lebensweise hineingefunden, unter der wir hier residieren, sie beginnt vielem, was die Chinesen tun, Respekt entgegenzubringen, beispielsweise der Organisierung des Gesundheitswesens, den Kampagnen
zur
Realisierung
wesentlicher
hygienischer
Maßnahmen. Selbst wenn ich noch zuweilen darüber lächle, wie die Kinder mit den Fliegenklatschen durch die Straßen laufen, verbissen jedes Insekt vernichtend, wie man öffentliche Sammelstellen für getötete Ratten einrichtet und >Fangprämien< zahlt — Sandy meint, ähnliches sei unter den nun einmal gegebenen Umständen die einzige Möglichkeit, mit Infektionsträgern aufzuräumen, bis es bessere Allgemeinverhältnisse gibt. Man hat ihr übrigens angeboten, im >Volkskrankenhaus< halbtags zu arbeiten, unter sehr guten Bedingungen und bei einer Bezahlung, die wesentlich höher liegt als die chinesischer Ärzte. Ich glaube, Kang Sheng hat da unauffällig ein paar Fäden gezogen. Vermutlich wird Sandy annehmen, sie ist zwar noch voll und ganz mit der kleinen Sue beschäftigt, aber sie sehnt sich nach Betätigung in ihrem Beruf. Ich kann das nicht nur verstehen, ich würde es sogar begrüßen, wenn es dazu käme. Es wird Sandy die Zeit erleichtern, die wir hier zu verbringen gedenken, sie so heimisch in dem Land werden lassen, wie ich es bin ...
416
10.7.1951 Soeben
hat
Radio
Peking
bekanntgegeben,
die
Verhandlungsdelegationen der USA, Koreas und Chinas sind zu ihrem ersten Gespräch in einem Ort namens Kaesong am 38.Breitengrad zusammengetroffen. Gegenstand der Gespräche: Einstellung der Feindseligkeiten im gegenseitigen Einvernehmen, Bestimmung des 38. Breitengrades als erneute Demarkationslinie, Schaffung einer demilitarisierten Zone beiderseits dieser Linie und schrittweiser Abzug aller ausländischen Truppen sowie Rückführung der Kriegsgefangenen beider Seiten. — Ich habe lange keine Aufzeichnungen gemacht, heute aber drängt es mich aus vielerlei Gründen, meine Gedanken wieder einmal festzuhalten. Nicht zuletzt weil ich das Empfinden habe, daß trotz aller publizistischen Schaumschlägerei auf beiden Seiten doch ein erster, unauffälliger Schritt auf eine behutsame Annäherung hin getan wurde. Ob und wie es weitergeht, wird abzuwarten sein, jedenfalls scheint es so, als sei meine Reise nach Hongkong im vergangenen Jahr nicht völlig umsonst gewesen. Wobei mir schmerzlich klar ist, daß die Vereinigten Staaten zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen Krieg nicht mit ihrem Sieg krönen konnten. Egal was noch geschieht, daran ist nichts mehr zu ändern. Die Sowjets hingegen haben einerseits durch ihre umfangreiche Unterstützung der KVDR und andrerseits durch ihre letztlich erfolgreiche Politik der Herbeiführung einer Verhandlungslösung ihr internationales Image beachtlich heben können. Eine gefährlich erfolgreiche Politik! Wir haben ihr kaum etwas entgegenzusetzen als den wütenden Antikommunismus, und es zeigt sich, daß die Leute in sehr vielen Ländern
dieses
Geschreis
müde
sind,
sie
wollen
nicht
Auseinandersetzungen, sondern Verträglichkeit. Die Sowjets haben 417
das fraglos erkannt. Wie mir scheint, ist unsere Außenpolitik, und nicht nur, was China und Korea angeht, in eine Art Sackgasse geraten,
aus
Kurzsichtigkeit
heraus,
vielleicht
auch
aus
Überschätzung des Geklingels mit der Atomwaffe. Es kommen da wohl schwierige Zeiten auf uns zu. — Was China betrifft, so wäre jetzt die >Zeit der Signale< angebrochen, nur wie die Dinge liegen, werden sie wohl noch auf sich warten lassen, keinesfalls ist hier ein schnelles Vorankommen abzusehen. Immerhin — wenn ich an die Botschaft denke, derentwegen ich im vorigen Jahr nach Hongkong reiste, so wird mir klar, daß das dort empfohlene System des behutsamen Aufeinanderzutastens Erfolg versprechend sein könnte. Ein eigenartiger Krieg war das, was sich da im letzten halben Jahr in Korea abspielte. Es gab begrenzte Vorstöße auf beiden Seiten,
es
fehlte
nicht
an
Artillerieschlägen
und
Luftbombardements; um manchen Hügel, den man später wieder aufgab, wurde erbittert gekämpft, nur — alles in allem fror der Krieg sozusagen ein, keine der beiden Seiten legte es auf eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld an. Ob die Koreaner dafür einfach zu schwach waren, wage ich nicht zu entscheiden. Was uns betrifft, so haben unsere Militärs wohl endlich eingesehen, welche Dimensionen das Risiko hat, und sie mußten sich zähneknirschend mit dem Erreichten zufriedengeben. Das lief auf ein gegenseitiges Stillhalten hinaus, unter Vermeidung von Gesichtsverlust, eben ein klassisches Patt. Nordkorea gab zu erkennen, eine Vereinigung der beiden Landesteile sei ein Prozeß der Zukunft. Und wir mußten ebenfalls darauf verzichten, wie MacArthur es noch so farbig genannt hatte, >eine Wiedervereinigung durch das Schwert< zu erzwingen. Inzwischen ist MacArthur »zurückgezogen«. Kürzlich äußerte sich General Wedemeyer, der es ja wissen muß, aus langer China-Erfahrung: »Der Korea-Krieg war ein Faß ohne Boden, und 418
ein Sieg für uns war nicht abzusehen.« Nun folgt wahrscheinlich eine sehr lange Phase von Verhandlungen, schon um zu verschleiern, daß die Schlächterei uns nichts einbrachte, außer vielleicht der Einsicht, daß die primitiven Theorien der antikommunistischen Schreier eben durch die veränderten Kräfteverhältnisse auf der Welt überholt sind. Man kann den Kommunismus
wohl
nicht
mehr
frontal
im
umfassenden
Waffengang aus der Welt schaffen, obwohl diese Forderung, wie ich in Zeitungen aus den Staaten lese, immer noch erhoben wird. Man wird vielmehr auf lange Sicht neue Strategien entwickeln müssen, die darauf zielen, einen Blockcharakter nach und nach aufzuweichen. Solange wir bei dieser Aktion nicht nur einen einzelnen Gegner haben, sondern ein ganzes Weltsystem, können wir nicht auf Erfolg rechnen. Wir können höchstens das bestehende Patt aufrechterhalten. Man wird das bei uns zu Hause begreifen müssen, ob man will oder nicht, Korea war die erste, harte Lektion. Aber es gab für mich nicht nur diesen ebenso unsinnigen wie aufschlußreichen Krieg. Manches war auch erfreulich. Sue, unser Kind, entwickelt sich prächtig, es läuft bereits ohne Hilfe, ist kerngesund und gewöhnt sich immer mehr an die neue chinesische Amah,
die
wir
seit
einiger
Zeit
angestellt
haben,
ein
Bauernmädchen aus einem Dorf in Schantung, das sich bei uns wohlfühlt und die kleine Sue nicht eine Minute aus den Augen läßt. In Peking nennt man solch eine Hausangestellte Ba Mu, was eigentlich die Bezeichnung für eine Ziehmutter ist. Nun ja, unser Haushalt wächst! Das Mädchen heißt Hsiao Yü, sie trägt diesen lustigen Namen »kleiner Fisch< mit Würde, und sie zeichnet sich im übrigen durch einen trockenen bäuerlichen Humor aus, der manchmal sogar Lao Wu seine hohe Position im Haus vergessen läßt und zu lautem Ge419
lächter veranlaßt. Sandy arbeitet wieder im > Volkskrankenhaus Peking< landeten, um uns bei Limonade zu erfrischen. Weder das Hotel noch die Stadt überhaupt machen den Eindruck, daß sich China in einen Krieg verwickelt hat, und das ist schon etwas merkwürdig, wenn man überlegt, welche Konsequenzen Korea aufgeworfen hat. »Bist du zufrieden?« wollte ich von Sandy wissen. Sie trug ein leichtes, buntes Kattunkleid, und sie sah so blendend aus, daß einige der Nichtchinesen in der Hotelhalle ihr neugierige Blicke zuwarfen. Als ich sie darauf aufmerksam machte, lachte sie nur und erinnerte mich, daß ich sie vor Zeiten auch nicht gerade uninteressiert angesehen hatte. Man setzte sie als leitende Ärztin auf der eben erst geschaffenen Unfallstation ein, eine Stellung, die ihr 420
lag und in der sie sich wohl fühlte, wie sie mir verriet. »Es ist ein bißchen kompliziert«, erzählte sie dann. »Verbandmaterial ist knapp, auch Medikamente gibt es nicht gerade im Überfluß, trotzdem haben sich die Leute viel vorgenommen. Bezahlungsfreie Behandlung für jedermann, das war vor Jahren noch undenkbar ...« »Russische Medikamente?« erkundigte ich mich. Sie nickte. »Penicillin und Sulfonamide. Es ist gar nicht so einfach, die Pakkungen sind in dieser eigenartigen Schrift gekennzeichnet, nur ein einziges Mädchen auf der Station kann sie überhaupt lesen. Aber wir haben auch nagelneue amerikanische Medikamente. Man hat mir gesagt, sie stammen aus Kriegsbeute in Korea. Daneben gibt es japanische Sachen, die stammen noch aus der Besatzungszeit, da produzierten die Japaner in der Mandschurei viel Medikamente für ihre dort stehenden Truppen. Aber das Zeug ist meist überlagert, es gibt eine Anweisung, es nur in Notfällen zu verwenden und nach und nach aus dem Verkehr zu ziehen ...« Dann erzählte sie weiter, daß es bereits gut funktionierende Fabriken in Shanghai gab, die mit der Produktion von Medikamenten begannen. »Unter anderem habe ich heute eine Liste aufgestellt mit den notwendigsten Arten. Man hat mir gesagt, die Shanghaier Fabriken würden ihre Produktion danach einrichten. Sie haben übrigens russische Pharmazeuten dort, die sie anleiten. Rußland, der ältere Bruder, du brauchst nur die Rede darauf zu bringen, und die Augen der Leute leuchten auf, das ist keine Übertreibung ...« Die Hinwendung zu den Sowjets vollzog sich unaufhaltsam. »Su Lien«, sagte Sandy. »Das ist für viele eine Art Zauberwort. Als ich mich nach und nach mit den anderen Angestellten der Station bekanntmachte, wurde ich fast jedesmal erst gefragt, ob ich eine >Su Lien< sei, eine Sowjetbürgerin. Wenn ich dann sagte, ich sei Amerikanerin, gab es zunächst stummes Staunen. Danach 421
einigte man sich dann darauf, ich sei eben eine > fortschrittliche Amerikanerin VolksverlagBekämpft Amerika< läuft ...« »Sie meinen das im Zusammenhang mit Korea?« Ich nickte. »So viele meiner Landsleute sind in einem Krieg gestorben, der zu nichts führte. Und so viele Ihrer Landsleute. Eine schmerzliche Erfahrung für einen Mann, der im Grunde will, daß zwischen uns Einvernehmen herrscht ...« Sie sagte: »Ich kann Sie verstehen. Ich teile Ihre Gefühle. Der Vorsitzende hat unlängst den Gedanken geäußert, daß dieser Krieg vielleicht auf lange Sicht, trotz aller Verluste, auch in Amerika den Prozeß des Umdenkens befördern könnte. Wir müssen nur unbeirrt weiter daran arbeiten. Wußten Sie übrigens, daß der Vorsitzende einen Sohn in Korea verloren hat?« Ich wußte es nicht. Sie bestätigte, daß darüber nicht eine Zeile gedruckt worden war. »Mao An-ying. Er stammte aus der ersten Ehe des Vorsitzenden. Er fiel im November vorigen Jahres. Ich habe ihn nie gesehen ...« Das war alles, was sie dazu sagte. Plötzlich, wie um zur Sache zu kommen, wechselte sie das Gesprächsthema. Sie hatte sich zwei 448
Spielfilme aus der etwas zurückliegenden Produktion in den Staaten >Gone with the Wind< und >For whom the Bell tollsWu Hsün< produziert haben. Nun, heute ist die Filmindustrie insgesamt unter unserer Kontrolle. Ich selbst werde versuchen, weiter auf diesem Gebiet zu arbeiten, obwohl die Verräterbande innerhalb der Partei es durchgesetzt hat, daß ich meine Funktion abgebe. Wahrscheinlich werde ich kurzfristig eine neue Aufgabe übernehmen — trotzdem, man wird noch von mir hören, was die Kunst betrifft! Nur — mir fehlt die unmittelbare
Vergleichsmöglichkeit
zu
Spitzenfilmen
der
kapitalistischen Produktion, deswegen will ich mich orientieren ...« Ihr Englisch reichte nicht aus, um Dialoge zu erfassen, auch ihre historischen Kenntnisse waren begrenzt, so erhoffte sie von mir Assistenz.
Wir
verließen
den
Empfangsraum
mit
seinen
Polstermöbeln, auf denen spießige Spitzendeckchen lagen, und gingen in einen kleinen, offenbar nur der Information der Führungsspitze dienenden Kinosaal, wo wir, nebeneinander sitzend, hinter einem Tisch mit Obst und Getränken die beiden Streifen über uns ergehen ließen. Ich kannte sie beide noch nicht. >Gone with the Wind
Spanischen Episode< zu vergleichen sei, die allergrößte Sauberkeit im Verkehr von Männern und Frauen gegeben. Der Begriff Sauberkeit hätte mir beinahe ein Schmunzeln entlockt, aber ich beherrschte mich. Liebesbeziehungen als etwas Unsauberes zu bezeichnen, das war bislang das Vorrecht kirchlicher Eiferer gewesen. Ich hielt es jedoch für unangebracht, Tschiang Tsching in dem gegebenen Zusammenhang an ihr eigenes Abenteuer in Jenans revolutionären Höhlen zu erinnern, ich hätte 451
Schlafsack sozusagen mit Höhle in Abwägung zueinander bringen können, aber vermutlich hätte sie mich hinausgeworfen. Mit der Revolution, besser gesagt, mit der Gründung der Volksrepublik, das war mir nicht entgangen, war in das chinesische Leben ein Zug von Prüderie eingeflossen, der es nach und nach zu beherrschen begann. Ob das eine unvermeidliche und in einiger Zeit vorübergehende Randerscheinung dieses historischen Umbruchprozesses war, oder ein bleibender Bestandteil des Systems, darüber wagte ich im Augenblick noch keine Voraussage, jedenfalls artete diese Prüderie gelegentlich ins Groteske aus, so viel hatte ich schon bemerkt. Es war beispielsweise üblich geworden, daß man zwei junge Leute unterschiedlichen Geschlechts, die sich nach der Arbeit relativ harmlos trafen, eben eine Verabredung hatten, wenig später vor das Parteikomitee ihres Betriebes rief und sie allen Ernstes fragte, wann sie zu heiraten gedächten. Zeigte es sich, daß sie daran nicht interessiert waren, wurde ihnen eine Strafpredigt gehalten, in der das Wort >Moral< unverhältnismäßig oft vorkam, und am Ende wurden sie verpflichtet, sich unter diesen Umständen keinesfalls noch einmal zu treffen. Natürlich war das nicht ohne tiefere politische Ursachen. In China war das Prostituiertentum stets eine soziale Erscheinung gewesen. Trotzdem hatte man vermittels einer gezielten Propaganda in der Anfangsphase des neuen Staates den Leuten eingebläut, China sei unter der Kuomintang zu einer Art > frivolen und unmoralischen Lebens < verleitet worden, es sei höchste Zeit, daß diese nationale Schande abgeschafft werde. Im Ergebnis dieses Unsinns wagten es selbst Jungverheiratete heute noch kaum, auf der Straße nur Hand in Hand zu gehen. Ein Kuß in einem öffentlichen Park war sozusagen ein gesamtgesellschaftliches Ärgernis, die Betreffenden hatten zu erwarten, daß sie wenig später intensiv überprüft wurden, ob sie nicht etwa in der Vergangenheit 452
Prostituierte und Zuhälter gewesen waren, die nun in ihre alten schlechten Gewohnheiten< zurückfielen. Mit Tschiang Tsching einigte ich mich schließlich darauf, daß wir es bei Hemingways Film mit einem Sujet zu tun hatten, in dem es revolutionäre Substanz gab, die aber durch die Absicht des Publikumsfanges vermittels erotischer Elemente letztlich geschändet worden sei. Was lag mir schon daran? Ich konnte es mir allerdings nicht verkneifen, auf einen sowjetischen Film zu verweisen, der in Peking mit großem Erfolg gelaufen war und in dem man auf erotische Anspielungen wohltuenderweise verzichtet hatte. Sie hörte die Ironie aus meinen Worten nicht heraus. »Sie meinen diesen >Tschapajew