Harry Thürk
Taifun
Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes Drittes Buch Auge des Sturmes Weimar 1988
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Harry Thürk
Taifun
Aufzeichnungen eines Geheimdienstmannes Drittes Buch Auge des Sturmes Weimar 1988
Mit diesem Buch möchte der Autor seine Verbundenheit mit China und dessen sozialistischer Entwicklung bekunden und seine auf eingehenden Studien beruhende persönliche Ansicht über einen wichtigen Abschnitt der Geschichte unseres Jahrhunderts einbringen.
Buchclubausgabe © Harry Thürk 1988 Alle Rechte vorbehalten Lizenz-Nr. 444-300/86/88 - 7001 Gesamtausstattung: Gerhard Medoch Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 Band I – III : 03680
Vorbemerkung l944 hat das OSS, der erste US-Geheimdienst, seinen hervorragenden Mitarbeiter Sidney B.Robbins, der bereits als Kind in China lebte, im Machtbereich der chinesischen Kommunisten angesiedelt, in Jenan. Spezialisten der OSSOstasienabteilung sahen voraus, dass die Kommunisten sehr bald ganz China beherrschen würden. Ihre Voraussage traf ein, 1949 entstand die Volksrepublik nach jahrzehntelangen revolutionären Kämpfen. Sidney B. Robbins, der als wenig auffallender Privatgelehrter mit Einwilligung der neuen chinesischen Behörden in der Pekinger Ping Tjiao Hutung residiert, ist inzwischen zum inoffiziellen »Kanal« zwischen führenden Geheimdienstkreisen Washingtons und hohen chinesischen Funktionären geworden, die ihr eigenes Spiel spielen. Ein Mann, über den viele Fäden laufen, und der, obwohl zuweilen von Zweifel und Depressionen geplagt, eine äußerst wichtige Verbindung darstellt. Dieser dritte Band seiner Aufzeichnungen beginnt in der Phase, die Chinas Ultralinke irreführend »Kulturrevolution« nannten und die heute von chinesischen Politikern und Historikern als »eine Zeit chaotischer Zustände, an denen nichts, aber auch gar nichts positiv war«, bezeichnet wird.
Sidney B. Robbins dokumentiert auf seine Weise diese politische Verirrung einer originär sozialistischen Partei, er durchschaut auch, wer sie herbeigeführt und mit welchem Ziel. Und er hält in seinen Aufzeichnungen fest, wie aus den Wirren der sogenannten Kulturrevolution letztlich die Voraussetzung erwächst, daß China und die USA sich einander entscheidend nähern. Auch an dieser Aktion ist Robbins unmittelbar beteiligt, er fühlt sich am Ziel seines langen Weges. Er schildert die streng geheimen, auf abenteuerlichen Wegen geknüpften ersten Kontakte
mit
dem
US-Sicherheitsberater
Kissinger,
die
schließlich zum Besuch des Präsidenten Nixon in China führen. Und er denkt über seine eigene Zukunft nach, als die so lange von ihm konspirativ vorbereitete Annäherung Chinas an die USA endlich in Dokumenten fixiert ist. Sidney B.Robbins will die Aufzeichnungen über sein bemerkenswertes, ungewöhnliches Leben, die er bereits aus China herausgeschmuggelt hat, veröffentlichen, weil er sie für ein aufschlußreiches zeitgeschichtliches Dokument hält. Er ahnt wohl die Probleme, die seine Absicht aufwirft und auf die ihn Freunde aufmerksam machen. Aber er unterschätzt sie…. Der Autor
Das Hauptquartier bombardieren
Meldungen Tue Star, Hongkong, 10. April 1965: Schnee in Moskau — Snow in Peking — Nebel um Vietnam
>... Die Empörung Pekings kennt wieder einmal keine Grenzen: da haben es doch am 4. März die letzten noch in Moskau ihr Studium zu Ende führenden jungen Chinesen verstanden, ein Grüppchen Gleichgesinnter um sich zu scharen, um vor der tief eingeschneiten Moskauer US-Botschaft mit Sprechchören gegen die Aktivitäten der USA in Vietnam zu demonstrieren. Solange sie nur das taten, sahen die sowjetischen Bewacher dieser Botschaft, deren Amt es ist, die Insassen exterritorialer Häuser zu schützen (wie international üblich!), gelassen zu. Als die Demonstranten dann aber tätlich wurden, über den Zaun kletterten, Tintenfässer und Steine in die Fenster
warfen, griffen die Polizisten ein und verdrängten die jungen, sehr aufgeregten Leute,
die sich wehrten,
>Schande! Schande!< schreiend
und
immer dabei
>Nieder
mit
den
Revisionisten!< (Nein, sie schrien nicht >PolizistenRevisionisten brutaler Unterdrückung!, >Körperverletzung ernster Natur und ähnlichem. Was aber den Protestmarsch der jungen Helden in Moskau unserer Meinung nach so fragwürdig macht, ist ein Eindruck, der mit dem ganzen Theater geweckt werden soll und den der chinesische Botschafter in Moskau ebenso dick herausstrich wie der Brandredner des Abends in der Pekinger Sporthalle: Die Sowjets sind Verräter! Sie reden von Unterstützung Vietnams gegen die US-Angriffe aus der Luft, aber wenn entrüstete junge Leute nun den Moskauer BotschaftsAmerikanern einmal zeigen wollen, was Hammer und Sichel sind, dann werden sie — oh Graus! — von Sowjetpolizei zusammengeschlagen! Na, hört sich das nicht heroisch an? Oder eher ein bißchen heuchlerisch? Wir erlauben uns im Zusammenhang mit der Sache einige Fragen an die entrüsteten Pekinger Verbündeten Vietnams. Unserer Meinung nach ist Amerika berechtigt, in Vietnam seine Interessen wahrzunehmen. Trotzdem lassen wir auch andere Meinungen gelten, vorausgesetzt, sie sind ehrlich. Untersuchen wir das doch einmal:
1.
Die
Volksrepublik
China
unternimmt
große
Anstrengungen, international anerkannt zu werden, besonders in afrikanischen und lateinamerikanischen, aber auch in asiatischen und europäischen Staaten. Will sie sich denn über die alten, ehrwürdigen Prinzipien der Diplomatie hinwegsetzen und fortan (wir konstruieren da einen Parallelfall) ausländischen Pekinger Studenten
gestatten,
etwa
die
britische
Botschaft
mit
Tintenfässern und Steinen zu bombardieren, ohne daß die Polizei einschreitet? Sollte das eine Eigenart der von Mao erfundenen >revolutionären Diplomatie< sein? Und wenn ja: dürfen Studenten dann auch fröhlich in anderen Ländern chinesische Botschaften mit Müll bewerfen, ohne daß die Ordnungskräfte des Gastlandes sich nachher Beschwerden anhören müssen ? 2. Am 5. Februar landete auf dem Pekinger Flugplatz eine sowjetische sowjetischen
Langstreckenmaschine. Premier
Kossygin,
Sie einen
beförderte etwas
den
mürrisch
wirkenden, aber nicht zu unterschätzenden Mann, nach Hanoi, wo er mit der Regierung Nordvietnams das
traf
was
man
Vereinbarungen
über
unterkommunistischen Staaten
brüderliche Hilfe< nennt, es handelt sich um effektive Unterstützung Nordvietnams mit Waffen, Gerät und anderem, was es angesichts der amerikanischen Angriffe braucht.
Kossygin wurde auf dem Hinflug bei seinem Zwischenstop protollgemäß von Tschou En-lai begrüßt. Kossygin versuchte, das wissen wir aus verläßlicher Quelle, mit Tschou En-lai Fragen der Hilfeleistung für Vietnam zu erörtern. Der sow jetische Premier habe auf gemeinsames Handeln Moskau— Peking zur Hilfe für Hanoi gedrängt. Tschou En-lai verurteilte die amerikanischen Angriffe in Vietnam. Als Kossygin aber bat, sowjetischen Militärspezialisten die Durchfahrt bis Vietnam zu gestatten, erklärte sich Tschou En-lai außerstande, das zu genehmigen. Warum? Hat er die vielen Transparente in Peking nicht gelesen, die zur Hilfe für Vietnam auffordern? Oder verfolgt er den Sowjets gegenüber absichtlich eine Taktik, die im Endeffekt den Amerikanern nützt? 3. Selbiger Mister Kossygin landete fünf Tage später, am 10. Fe-bruar, wieder in Peking, aus Hanoi kommend, wo er amerikanische Luftangriffe selbst miterlebt hatte, was man von Mao Tse-tung nicht sagen kann, der Kossygin diesmal empfing. Der Russe, offenbar ein Mann, der nicht so leicht aufsteckt, verwendete zwei Tage darauf, dem Pekinger großen Chef klarzumachen, daß angesichts der schwierigen Lage Hanois wirtschaftliche,
politische und
militärische
Unterstützung
koordiniert von allen >Bruderländern< gegeben werden müsse. Und der große Steuermann, auf den man sich in Wind und
Wellen verlassen kann? Er lehnte ab. Gemeinsame Aktionen, so Mao, der große Beschützer aller kämpfenden Revolutionäre, kämen
nicht
in
Frage,
dafür
müßten
erst
die
Meinungsverschiedenheiten, über die marxistische Theorien beseitigt werden, die es zwischen China und der UdSSR gibt. Es ist verbürgt, daß der sowjetische Premier ob dieser peinlichen Ausrede nicht laut gelacht hat, er blieb höflich. Daß inzwischen die Hanoier den amerikanischen Bombenregen relativ schutzlos einstecken müssen, weil es den Sowjets nicht leichtfällt, Hilfsgüter über See nach Vietnam zu expedieren, scheint Mao nicht gerührt zu haben. Er ließ den Bittsteller Kossygin ergebnislos nach Hause fliegen. Warum? Wirklich wegen der bestehenden theoretischen Streitfragen? Oder etwa, um die Amerikaner nicht zu reizen? Weil die sonst eventuell ihre Bomber auch über die chinesische Grenze schicken könnten? 4. Ist das Verhalten des großen Steuermannes Mao vielleicht weniger auf die theoretischen Meinungsverschiedenheiten mit Moskau zurückzuführen als auf das Bestreben, sich aus dem Vietnam-Konflikt möglichst herauszuhalten? Sehen wir die Sache so, wie sie ist und wie Mao selbst sie darstellte, seinem alten amerikanischen Lautsprecher Edgar Snow gegenüber, den er immer nach Peking holt, wenn er sich den Amerikanern verständlich machen will. Wie Hsinhua meldete, gewährte er
ihm am 9. Januar ein Interview. Das ist eine hanebüchene Albernheit: Kein Mensch kann annehmen, daß Snow auch nur über die chinesische Grenze, geschweige denn in Maos Büro gekommen wäre, wenn der ihn nicht ausdrücklich hinbefohlen hätte! Außerdem aber: wenn der Parteichef einem Ausländer ein Interview gibt, dann interessiert die Landesbewohner ge meinhin, was der Chef gesagt hat! Das allerdings konnte man in Peking nirgends lesen, es stand in der >New RepublicChinas Volksarmee wird Nordvietnam nicht zu Hilfe eilen, nein, nein, nein! Nur wenn die Amerikaner China selbst zu Lande angreifen, wird Chinas Volksarmee kämpfen. China hat eigene Probleme zu lösen. Und — jenseits der eigenen Grenzen zu kämpfen, ist doch verbrecherisch! Warum sollten die Chinesen das tun? Die Vietnamesen können sehr gut mit ihren Angelegenheiten selbst fertig werden. Im Übrigen könne man ja eine internationale Konferenz in Genf abhalten, um das Vietnam-Problem zu lösen. Derweil sollten ruhig US-Truppen um Saigon herum stehen, ähnlich wie in Süd-Korea. Denn — mit der Zeit würde den Amerikanern das Engagement in Vietnam ohnehin über werden, und sie würden wieder nach Hause gehen! Hsinhua, März 1965: > Aus dem Pekinger Zoo erfahren wir, daß hier eine höchst seltsame Erscheinung zu beobachten ist: Seit längerer Zeit leben ein Fuchs und ein Hahn im selben Gehege und vertragen sich außerordentlich gut. Es wurden keine Versuche des Fuchses beobachtet, den Hahn zu beißen. Der Hahn seinerseits pflegt dem schlafenden Fuchs gelegentlich Ungeziefer aus dem Fell zu picken, wobei dieser nicht einmal aufwacht.
Rote Fahne< einen Gedenkartikel zum 20. Jahrestag des Sieges über Hitlers Faschismus. Titel: >Gedenkt des Sieges über den deutschen Faschismus, kämpft bis zum Ende gegen den USImperialismus!< Autor: Lo Jui-tsching, 61, Mitglied des Sekretariats des ZK der KP Chinas, Vizepremier und Chef des Generalstabes
der
Volksbefreiungsarmee,
Armeegeneral,
ranggleich mit Lin Piao. (Lo Jui-tsching ist einer der ältesten Revolutionäre und Mitbegründer der roten Streitkräfte. Er war bis 1959 Minister der Sicherheitsorgane, wurde nach der Ent
fernung Peng Te-huais von Lin Piao als Stellvertreter ins Verteidigungsministerium
geholt
und
zum
Chef
des
Generalstabes gemacht, während er in den Sicherheitsorganen durch Hsieh Fu-tschi ersetzt wurde.) Die Grundtendenz der Abhandlung, die nur schwach verklausuliert war, lautete: Angesichts der amerikanischen Bedrohung Vietnams müssen die Sowjetunion und China sowie alle anderen sozialistischen Länder jedes andere Problem zurückstellen und gemeinsam gegen den US-Imperialismus kämpfen. Von Mao wurde das sofort als Widerspruch gegen sein eigenes Konzept verstanden. Das bewies ein bereits am 9. Mai in der Jenminshibao gedruckter Artikel (an dem Platz, der für Mao-Verlautbarungen reserviert ist), in dem der Schreiber scharf und in verletzendem Tonfall erklärte, es werde keine Gemeinsamkeit mit der revisionistischen UdSSR im Kampf gegen die US-Aggression in Vietnam geben, da die UdSSR bekanntlich schamlos mit den USA paktiere und es unanständig wäre, mit ihr Gemeinsamkeil zu pflegen. Im übrigen solle Vietnam sich nicht so sehr auf Hilfe von außen verlassen, es solle das >Volkskriegs-konzept< Mao Tse-tungs studieren, das würde den Sieg auch so verbürgen. Als zusätzlichen Effekt kann man die unmittelbar danach
demonstrativ gezündete zweite chinesische Atombombe sehen (14. Mai). Nächste Station der internen Auseinandersetzung war ein Artikel in der Pekinger Intellektuellenzeitung >Da Kung Bao< vom 26. Juli. Hier hieß es im Rahmen einer ausführlichen Argumentation: Vorbedingung des gemeinsamen Kampfes gegen
den
Imperialismus
ist
die
Zerschlagung
des
meldete
sich
Revisionismus in der UdSSR. Etwa
fünf
Wochen
danach
Verteidigungsminister Lin Piao in der Jenminshibao mit einem langen Artikel >Es lebe der Sieg im Volkskrieg!. Die Argumente gegen ein Zusammengehen mit den Sowjets wurden vertieft, das, was Lo Jui-tsching verlangt hatte, kategorisch, aber ohne Namensnennung zurückgewiesen. Interessant war, daß Lin Piao hier auch die Karten Maos insofern aufdeckte, als er für China die Führungsrolle gegenüber den
jungen
Staaten
Asiens,
Afrikas
und
Südamerikas
beanspruchte. China wisse um besten, und zwar aus eigener Erfahrung, was für diese Länder gut sei. China müsse deshalb zu einem >dritten politischen Weltzentrum< werden. —
An Holly
Schwerpunkt-Hinweis, Dezember 1965
Im Zusammenhang mit der uns bekannten Strategie Mao Tse tungs verweise ich auf eine weitere gesellschaftliche Kraft, die der Vorsitzende zielstrebig mobilisiert, was selbst von erfahrenen Gegenspielern hier, wie ich feststellte, noch nicht voll begriffen wird: Bereits am 13. Februar 1964 hielt Mao mit Teilnehmern aus dem Erziehungswesen, auch Studenten und Schülern, eine Aussprache
über
Mängel ab,
die
er
im
Schul-
und
Erziehungssystem Chinas entdeckt hat: Ausbildungszeiten seien zu lang, Lehrpläne zu stark mit Wissen befrachtet, Studien wären praxisfern, Prüfungen glichen Gerichtsverhandlungen usw. Aus Kreisen um den Staatschef Liu Shao-tschi erfuhr ich, daß man
das
Räsonnieren
Maos
als
lästige
und
letztlich
unqualifizierte Einmischung in die moderne Pädagogik empfand und sich nicht weiter damit befaßte. Das scheint als Fehler immer noch nicht erkannt zu sein. Mao war bei dieser Zusammenkunft nicht so sehr an tatsächlichen Reformen des Erziehungswesens interessiert, es kam ihm wohl eher darauf an, das unübersehbare Reservoir der Schüler und Studenten für sich zu gewinnen. Ich halte es für möglich, daß er (nach der Armee) das Gros der jungen Leute hinter sich scharen möchte, indem er
sich zum Fürsprecher von Behauptungen, Stoßseufzern und unterschwelligen Wünschen macht, die von Schülern zu allen Zeiten gegen ihre Lehrer und das Schulreglement überhaupt vorgebracht wurden. Soweit ich es im Augenblick beurteilen kann, legt Mao es auf eine Art > Sammlungsbewegung junger, revolutionsbegeisterter Leute gegen Pauker, Prüfungsschinder, Wissensüberschätzer und Fachbürokraten < an. Anzeichen dafür ist besonders ein umfängliches Papier, das im Augenblick unter Schülern und Studenten kursiert, und das — ähnlich wie Maos rotes Zitatenbüchlein — Kernsätze aus seinen Ausführungen im Frühjahr 1964 enthält. Über die Herkunft des begeistert verschlungenen Papiers gibt es keinerlei Aufschluß. Vertraute aus der Buch- und Zeitschriftenbranche ließen mir gegenüber durchblicken, nach Aufmachung und Typensatz sei es eindeutig ein Erzeugnis jener Druckereien, in denen die Publikationen der Armee hergestellt werden. Ich füge eine Anzahl von Zitaten an, die das von mir geschilderte Hauptanliegen der Mobilisierung einer zahlenmäßig bedeutenden Bevölkerungsschicht deutlichmachen können: >Die Zahl der Schuljahre sollte verkürzt werden< >Das Übermaß an Fächern fügt den Studenten unermeßlichen Schaden zu. Schüler und Studenten leben täglich unter ungeheurer Anspannung. Kurzsichtigkeit, bereits bei Kindern,
nimmt stark zu. Die Hälfte der Fächer muß gestrichen werden.< >In der Ming-Dynastie gab es zwei gute Kaiser: Tai-tsu und Tscheng-tsu. Der eine war Analphabet, der andere konnte zur Not einige Zeichen schreiben. Später kamen Intellektuelle an die Macht, und da wurde das Land schlecht regierte >Zu viel Buchwissen bringt keine guten Kaiser hervor, es ist sogar schädlich.< >Den Studenten sollte nicht verwehrt sein, während einer Vorlesung einzuschlafen. Von einem kurzen Schlummer haben sie viel mehr, als wenn sie dem Unsinn zuhören.< >Das herrschende System erstickt die Talente und zerstört die Jugend. Ich spreche mich dagegen aus.< >Laßt uns den fremden und einheimischen Dogmatismus im Bildungswesen über Bord werfen.< >Wir wollen die Opernsänger, Lyriker, Dramatiker und Schriftsteller aus den Städten hinausjagen und sie alle aufs Land schicken. Wer sich nicht an die Arbeit begibt, bekommt nichts zu essen.< >Es genügt, über Logik und Grammatik einige wenige theoretische Kenntnisse zu besitzen.!< >Man soll nicht zu viel lesen. Ein paar Dutzend Bände genügen, ein Übermaß an Lektüre wird aus euch das Gegenteil von dem machen, was ihr zu sein wünscht, nämlich
Bücherwürmer, Dogmatiker und Revisionisten.!< >Die
jetzige
Schulordnung
mit
ihren
Lehrplänen,
Unterrichtsmethoden und Prüfungsordnungen muß geändert werden, sie richtet nur Schaden an.< >Die kommenden Jahrzehnte werden für die Zukunft unseres Landes und das Schicksal der Menschheit von großer Bedeutung sein und müssen genutzt werden ... Junge Chinesen mit hohen Ambitionen müssen ihr Leben der Erfüllung unserer großen historischen Mission widmen. Für dieses Ziel muß unsere junge Generation entschlossen sein, den Rest ihres Lebens hartem Kampf zu weihen! ... Politik muß der Massenlinie folgen, es geht nicht an, alles den Führern zu überlassen ... Demokratie heißt, den Massen erlauben, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Entweder man verläßt sich auf wenige Einzelpersonen, oder man mobilisiert die Massen zur Regelung ihrer eigenen Probleme ...
durch und durch dekadent< hielt. Als Tjiuy Tong anrief, hatte ich einen kurzen, erfrischenden Spaziergang hinter mir, ich saß am Schreibtisch, vor mir eine der alten Ausgaben des >Traums der Roten Kämmen, und dachte über das Haus der Familie Tschia nach, in Shihtou, von dem die meisten Kenner behaupteten, damit sei Nanking gemeint gewesen. Während ich mit Tong sprach, klappte ich das Buch zu, ohne es eigentlich zu wollen. Ich mußte lächeln: Der Vorschlag, den er mir machte, war nicht nur reizvoll, er gab mir auch die Chance, wieder einmal einen meiner Informanten zu treffen, ohne daß dieser sich seiner Funktion überhaupt bewußt werden könnte. »Ich habe mit Chang Wen gesprochen«, teilte er mir mit, »vor einer Stunde. Er war in der Stadt, etwas besorgen. Und er sagte,
bei
Tagesanbruch
seien
die
Westberge
eine
Zauberlandschaft gewesen. Er ist da an einem solchen Platz ...« Chang Wen hatte ich lange nicht gesehen. Seine Frau traf ich gelegentlich in der Stadt, und sie hatte auch nach Abklingen der schlimmsten Reisknappheit die Gewohnheit beibehalten, bei
uns hereinzuschauen, falls sie in unserer Gegend war. Ich hatte richtig gerechnet, sie vergaß nicht, daß ich seit Tschungking ein verläßlicher Mitverschwörer war, und außerdem fühlte sie sich seit jener kritischen Periode, in der wir ihr ab und zu etwas Eßbares verschafften, auf besondere Weise mit uns verbunden. Daß wir den kranken, auf der Flucht befindlichen Chang Wen beherbergt hatten, verpflichtete sie noch stärker. Nun gut, so verschaffte man sich in diesem Handwerk Informanten. Warum sollte ich mir über den moralischen Aspekt dieser Technik Gedanken machen? Was ich hier tue, hat der Aufgabe zu dienen, alle anderen Überlegungen sind überflüssig. — Chang Wen war inzwischen in seiner neuen Funktion so gut wie sicher vor Verfolgung. Trotzdem verhielt er sich still, er zeigte sich selten in Peking. Seine Frau hatte mir erzählt, er habe sich verändert. Bei politischen Diskussionen mit Leuten, die er nicht kannte, stellte er sich naiv-unwissend, und er äußerte auch seinen Vorgesetzten gegenüber niemals eine Meinung, die von der allgemein verbreiteten abwich. »Über das, was ihn wirklich bewegt, sprechen wir, wenn wir allein sind«, vertraute sie mir eines Tages an. »Es ist schlimm. Wir haben eine Situation in der Partei, in der man nie genau wissen kann, auf welcher Seite der andere steht. Trotzdem — es gibt Genossen, die zueinander finden, um der Clique um Mao
Tse-tung Grenzen zu setzen, weil die Gefahr besteht, daß sie die Partei zerstört und die Volksrepublik aufs Spiel setzt...« Tong, mit dem wir wieder häufiger zusammenkamen, ließ sich über die Fraktionen innerhalb der chinesischen KP in seiner durch die Verbannung nicht zerstörten ironischen Art aus: »Es ist die geschichtliche Tragödie unserer Partei, daß es >Flügel< in ihr gibt, was eigentlich sonst
in einer modernen,
marxistischen Partei nicht üblich ist. Meist hatten wir zwei solche Flügel. Auch jetzt ist das so. Auf der einen Seite steht der Vorsitzende, und der hat natürlich recht, immer, denn er besitzt das Mandat des Himmels, wie alle früheren chinesischen Herrscher, davon ist er zutiefst überzeugt. Auf der anderen Seite stehen, wie schon früher so oft, die übrigen Parteimitglieder, und die müssen durch Umerziehung davon überzeugt werden, daß sie unrecht haben. Schwenken sie früh genug um, sind sie gute Leute, wie schon in der christlichen Bibel die Reumütigen, die umkehren, worüber sich der Herr freut. Wenn sie nicht umkehren, werden sie zu Parteifeinden. Ich frage mich manchmal, ob es noch eine Partei in der Welt gibt, die sich mit vergleichbaren Problemen herumplagen muß ...« Der alte Tong! Ohne Zigaretten und Zigarren, ein bißchen mager und zuweilen recht kurzatmig, aber es war schon erstaunlich, wie er seine Bestrafung und alles übrige hinter sich
gebracht hatte. Bei Ma Hai-te war er gut untergebracht. Dieser Doktor, obwohl er zu den ältesten Mitstreitern Maos gehörte, als eine Art Senior der in Peking residierenden Ausländer galt, ähnlich wie der Neuseeländer Rewi Alley, aber doch völlig anders als die alte Dame Strong, deren ganzer Ehrgeiz sich darin erschöpfte, >Vertraute Maos< zu sein, — hielt sich aus so delikaten politischen Angelegenheiten heraus. Er hatte gewiß seine alte Verbundenheit zu Mao behalten, aber es schien mir manchmal, als sei bei ihm im Laufe der Jahre doch eine Ernüchterung eingetreten und als gäbe er sich Mühe, daß niemand ihm das anmerkte. Gelegentlich handelte er nicht unbedingt nach den gängigen und gerade opportunen Weisungen des Vorsitzenden, sondern er traf seine Entscheidungen, wie im Falle Tongs, nach dem gesunden Menschenverstand. Er hatte Tong eine gutbezahlte und mäßig arbeitsintensive Stelle verschafft, er ließ ihn für den Dienstgebrauch medizinisch wissenschaftliche Texte aus dem Englischen übersetzen und ein wenig Schriftverkehr nebenbei abwickeln. Das alles aber zu einer Zeit, in der ehemalige >Rechtselemente< wie Tong anderswo, von Spitzeln argwöhnisch kontrolliert, ein Paria Leben führten und in der überall sonst die von Mao für die Medizin gegebene Devise galt: >Kürzung der Mittel für Forschung und Orientierung auf die Bedürfnisse der Bauern,
was durch schnell ausgebildete Heilgehilfen geschehen kann. Weg von der nichtsnutzigen Kompliziertheit der sogenannten westlichen Medizin, zurück zu Akupunktur, Lanzette, zu Aderlaß und Moxibustion!< Tong lächelte, als ich ihn darauf aufmerksam machte. Über Ma Hai-te sprach er mit Dankbarkeit, aber er war eben ein unbe-stechlicher Beobachter: »Ein Mann, den ein großer Traum zu uns gebracht hat. Etwas tun für die Unterprivilegierten dieser Welt! Die Realität hat ihn eingeholt. Er merkt es, denn er ist klug. Aber er ist auch älter geworden, er fühlt sich hier zu Hause, seine Kinder werden erwachsen, hier bei uns. Deshalb wird er vielleicht seinen Traum nach und nach vergessen, aber er wird immer alles tun, was man von ihm fordert. Mit Maß und Verstand, und so, daß sein Gewissen ihn nicht plagt...« Wir waren bis Wentjüan, im Gebiet der Westberge, mit dem Bus gefahren, durch eine Märchenlandschaft, mit dick bereiften Bäumen, einer dünnen Schneedecke, die sich malerisch über die glasierten Ziegeldächer der Pagoden und Tempel gelegt hatte und bei deren An-blick man die alten Meister verstehen konnte, die das malten. An der Thermalquelle waren wir ausgestiegen und zu Fuß in Richtung Dschoudjiahsiang gegangen, ein Dorf, das ich noch aus der Zeit kannte, da ich mit Kellis' Kommando auf dem
Adlergipfel residiert hatte, während in Peking die Japaner ihre letzten Monate verbrachten. Chang Wen war damals bewaffnet durch diese Berge gezogen... Es lief sich gut in dem pulverigen Schnee. Die Luft war klar und trocken. Eine gelbliche Sonne vergoldete alles, vom schäbigsten Eselkarren bis zur hoch aufragenden einsamen Kiefer. »Weißt
du,
was
der
große
Steuermann
über
das
Gesundheitswesen gesagt hat?« fragte Tong. Ich ließ ihn zitieren, er hatte die Worte im Kopf. »Er schlug vor, das Gesundheitswesen umzubenennen, in Ministerium für die Gesundheit der feinen Leute in den Städten.« »Was hat er nur gegen die Städter?« »Er ist Bauer«, gab Tong lakonisch zurück. »In den Städten leben Arbeiter.« »Und feine Herren?« Tong sagte: »Er verlangt eine Änderung der Ausbildung. Ob du
es
glaubst
oder
nicht,
er
hat
erklärt,
die
viele
wissenschaftliche Lektüre für angehende Ärzte sei überflüssig. Absolventen der dritten Mittelschulklasse sollen künftig an den medizinischen Hochschulen zum Studium zugelassen werden. Und dieses Studium muß verkürzt werden. Es ist zu lang, meint
er, das macht dumm. Außerdem ist er dagegen, daß ein Arzt einen Mundschutz aus Mull trägt. Das richtet zwischen ihm und dem Patienten eine Barriere auf ...« Als ich mich nicht dazu äußerte, lachte er. »Ma Hai-te hat das auf den Tisch bekommen, als ich in der Nähe war. Er legte es mir hin und sagte, ich solle es abheften. Kein Kommentar. Aber er trägt seit ein paar Wo chen eine große Plakette mit Maos Bild am Jackett. Eine von der Sorte, in der sich das Licht spiegelt. Da entstehen Strahlen um Maos Kopf herum, wenn man aus einem bestimmten Winkel hinzieht. Wie in dem Musical >Der Osten erglüht
Chang
Wen
kam,
während
wir
die
Pagode
bewunderten, auf der es schon kaum noch Schnee gab. »Haben Sie die Landschaft wieder erkannt?« rief er mir schon aus einiger Entfernung zu. Ich hatte mich nicht getäuscht, auch er bewahrte Erinnerungen an jene Zeit. Wieder war ich froh, daß er mich als Freund betrachtete. Seit dem Tag, an dem
ich mich in einer Gefängniszelle in Tschungking zum ersten Mal mit ihm unterhalten hatte, sah er in mir viel weniger den Amerikaner, eher den Mann gleichen Sinnes, denn ich hatte damals in der Tat einiges für ihn tun können. Vermutlich hatte ihm meine Intervention das Leben erhalten. Es kann nützlich sein, Leuten zu helfen, die auf der anderen Seite stehen! Chang Wen repräsentierte für mich jene Leute, die Mao zwar als Führer während der Revolutionsjahre akzeptierten, die ihn jedoch auch damals nicht unkritisch gesehen hatten und die ihn in den letzten Jahren, nach seinen verwirrenden Experimenten mit
der
chinesischen
Gesellschaft,
immer
skeptischer
beurteilten. Wenn es heute Widerstand gab, dann kam er von ihnen. Und wenn eines Tages vielleicht überhaupt jemand etwas in diesem Lande wieder umkehren konnte, dann würde es jemand wie dieser Chang Wen sein. Einer oder eine Gruppe. So gesehen, war Chang Wen für mich ein Widersacher. Aber unser Geschäft brachte es eben mit sich, daß man zuweilen zu den Gegnern besser Kontakt fand als zu jenen, auf die man zählte. »Die grünen Hügel unserer Jugend sind verschneit«, machte ich den Versuch, ihn nostalgisch einzustimmen, während wir uns begrüßten. Er trug einen Arbeitsanzug, darüber eine Felljacke, wie man sie bei Bauern oft findet, hatte eine nicht mehr neue Fellmütze auf und blinzelte vergnügt durch seine
verstaubten
Brillengläser.
Auch
seine
Kleidung
war
staubbedeckt. »Die grünen Hügel sahen uns bereits als entschlossene Männer«, erwiderte er gutgelaunt. Er trat an die Quelle, nahm die Mütze vom Kopf, wusch sich das Gesicht, schüttelte die Tropfen ab, und dann fuhr er fort: »Wir hatten Waffen in den Händen, Sie als amerikanischer Genosse ebenso wie ich, der chinesische Kommunist. Wenn das nicht ein viel zu wenig bekanntes Kapitel internationaler Gemeinsamkeit ist!« Tong
bemerkte
trocken:
»Man
müßte
den
Großen
Steuermann hierauf aufmerksam machen, er würde daraus ein Zitat formulieren. Klar, daß es ganz unangebracht ist, wenn Chinesen und Amerikaner sich über solche Nebensächlichkeiten wie Vietnam streiten.« Mit Chang Wen gab es eine Veränderung. War er eben noch heiler gewesen, so machte er plötzlich einen bissigen Eindruck. Dann entspannte sich sein Gesicht wieder, er lächelte. »Meine Frau wartet da vorn ...« Eine vage Handbewegung wies in die Richtung, aus der er gekommen war. Als er merkte, daß wir überrascht waren, bequemte er sich zu einer Erklärung, die ihm sichtlich zu schaffen machte. »Ich war so oft bei Ihnen zu Gast, Kamerad Robbins, auch meine Krau, und es waren manchmal Festtage, an denen wir uns
trafen. Heute ist für uns ein Festtag. Kommen Sie mit, Sie werden alles selbst sehen ...« Ich hatte durch das Gesprudel der Quelle gelegentlich ein anderes, aus einiger Entfernung kommendes Geräusch zu hören vermeint. Jetzt, während wir den Dadjüase verließen und am Fuße des Yangtai-Berges südwärts weitergingen, hinter Chang Wen her, der den Weg bestimmte, verstärkte sich das fremde Geräusch, das nicht in diese idyllische Landschaft von schneebestäubten Bäumen, Sonnengold und dunkelgrünen Nordhängen paßte. Es war das Rattern von Maschinen, zuerst noch unklar auszumachen, je weiter wir in das Tal gingen, aber um so deutlicher vernehmbar. Und dann standen wir auf einer kleinen Bodenwelle, unter uns das weite Tal, und wir sahen die Bagger, die Förderbänder, Transportlastwagen, die wie Käfer auf einem provisorisch angelegten Fahrweg entlangkrochen, zur Straße hin. Preßlufthämmer waren zu hören, und selbst aus die ser
Entfernung
sah
man
das
bläuliche
Licht
von
Schweißflammen. »Es ist nichts streng Geheimes«, sagte Chang Wen. »Die Bevölkerung der Bergdörfer weiß es, die Arbeiter sind nicht einmal zu Stillschweigen verpflichtet, und außerdem — die Amerikaner werden es auch wissen, seitdem sie ihre fotografierenden Flugzeuge regelmäßig über dem Land kreisen
lassen. Wir bauen unterirdische Anlagen hier, für den Fall eines Krieges. Da drüben wollen wir hin ...!« Er deutete auf eines der Pilgerhäuschen, wie sie von den Klöstern früher zur Beherbergung von wandernden Gläubigen errichtet worden waren. In den Bergen westlich Pekings hatte es unzählige solcher Klöster gegeben, einige existierten heute noch. »Irgend jemand hat es gepflegt«, sagte Chang Wen, als wir angekommen waren. »Wir benutzen es als Quartier für den Aufsichthabenden des Tunnelbaues. Der bin ich. Abgeordnet aus meinem Gästehaus, bis die Anlage unter der Erde hier fertig ist. Und da ist Chen Tsu-lin, und der junge Mann ist Dao-tsu ...« Chen Tsu-lin, seine Frau, trug eine Schürze über ihrer blauen Einheitskleidung. Sie sah freudig erregt aus, eine leicht ergraute Haarsträhne fiel ihr über die Stirn, sie strich sie weg, gab mir die Hand und sagte, daß sie sich so freue, mich und Tong zu sehen, gesund und als ihre Gäste. Nichts war mir klar, weder der Anlaß, noch, wer der junge Mann sein konnte, der mich und Tong höflich begrüßte, leicht lächelnd. Ich starrte ihn verblüfft an, als Chen Tsu-lin mich aufmerksam machte: »Mein Sohn. Erkennen Sie ihn?« »Er ist es!« versicherte mir die Mutter stolz. »Und, sehen Sie nur, wie groß er geworden ist! Ich sagte Ihnen einmal, daß er in
der Ölgegend arbeitet, oben im Norden ...« Das hatte ich in Erinnerung, aus der Zeit, da ich den von der Kwan-Tochter gestohlenen Reis für Chen Tsu-lin besorgte. Sie hatte den Sohn erwähnt, ja. Für einen Augenblick dachte ich darüber nach, daß nicht nur aus dem Tschungkinger Kind ein Mann geworden war — in der gleichen Zeit war ich zwanzig Jahre älter geworden! »Vater hat mir erzählt, daß er einen amerikanischen Genossen kennt, seit seiner Haft ...« Er sagte >VaterBauquartier< nannte und worin es außer
Schlafstellen,
einem Herd,
Sitzgelegenheiten
und
Arbeitspulten sogar ein Telefon gab. »Damit ich sofort in Peking Hilfe anfordern kann, wenn etwas nicht klappt«, erläuterte Chang Wen. Es gab natürlich auch einen technischen Baustab mit unzähligen Architekten und Leitern, es gab ein Militärkommando, das die Baustelle sicherte, aber Chang Wen oblag es, über alle Tagesarbeit die Übersicht zu behalten, und er entschied auch darüber, ob eine Komplikation auf der Baustelle ernst genug war, um Peking zu alarmieren oder nicht. »Trinken wir auf Dao-tsu«, forderte er uns auf, während Chen Tsu-lin uns >Löwenköpfe< vorsetzte, eine seltene Delikatesse in den letzten Jahren, diese in Öl gebratenen Fleischbälle. »Er
wird
heute
dreißig
Jahre,
und
er
hat
viele
Schwierigkeiten auf sich genommen, um aus dem fernen Landschou an diesem Tage zu uns zu kommen!« Während wir aßen, erkundigte sich Tong nach den näheren Lebensumständen des Sohnes, und wir erfuhren, daß er
Ingenieur in einer Raffinerie war, seine Frau die Tuberkulose überwinden konnte, er sie und den Enkel leider nicht hatte mitbringen können, aber — es würden ja eines Tages bessere Zeiten kommen! Chen Tsu-lin, die sich zwischen mich und ihren Mann gesetzt hatte, flüsterte mir auf englisch zu, daß sie sehr glücklich sei. Obwohl Chang Wen ihr zweiter Mann war, hatte der Junge sich entschlossen, ihn Mutter zu nennen. Seit jener Nacht, in der Chang Wen, von Sinkiang kommend, als Flüchtiger, bei dem Sohn seiner Frau, in einer Notunterkunft am Rande eines Ölfeldes, angeklopft und um eine Schale Reis gebeten hatte. »Damals sind sie Freunde geworden«, sagte sie. »Ich habe es lange nicht gewußt, erst jetzt haben sie es mir gesagt. Dao-tsu kannte das Vorleben Chang Wens, ich hatte mit ihm darüber gesprochen. Er war, ohne ihn noch gesehen zu haben, voller Respekt für den Mann, den Tschungkings Gefängnisse nicht hatten umbringen können und der unserer Partei treu geblieben war, obwohl man ihn nach seiner Flucht in Jenan wie einen Verbrecher behandelte. Nun stand dieser Mann eines Nachts vor seiner Tür. Da entschied sich Dao-tsu endgültig für ihn. Er ist sehr nachdenklich geworden, seit damals. Vieles besieht er sich jetzt genauer als früher, bevor er urteilt'...« Sie mußte das Geflüster unterbrechen, weil Chang Wen sie
erinnerte: »Wenn du, liebe Frau, mit dem Kameraden Robbins englisch sprichst, werde ich mich bald mit meinem Sohn in russisch unterhalten!« Auch Dao-tsu hatte in der Sowjetunion studiert,
in
Baku,
an
einem
Institut
für
Erdölförderungstechnologie. Und ich merkte wenig später, daß ich inmitten von Leuten saß, die genau das Gegenteil von dem für richtig hielten, was Mao Tse-tung anstrebte. Als ich nämlich Dao-tsu fragte, ob er in der gegenwärtigen Atmosphäre nicht lieber über seine Ausbildung in Baku schwieg. »Natürlich ist es klug, manchmal zu schweigen«, gab er zurück. »Aber letztlich kann man doch nicht das leugnen, wovon man überzeugt ist. Vielleicht kennen Sie das aus Peking ein bißchen anders — ich lebe unter Arbeitern, die hart zu schaffen haben, und da lügt man nicht, auch wenn die Bilder des neuen Gottes noch größer werden ...« Es war die überraschendste Erfahrung, die ich seit langer Zeit machte:
ein
junger,
gebildeter,
in
der
Volksrepublik
aufgewachsener Mann, der in einer Offenheit über gegenwärtige politische Probleme sprach, die ich nicht mehr gewöhnt war. Chang Wen lächelte nur. Die Mutter schwieg. Tong machte ein so unbeteiligtes Gesicht, daß man es nur als stille Zustimmung werten konnte. »Sie kennen das Leben meines Vaters«, machte er mich
aufmerksam, als ich ihn auf die Ansicht Maos hinwies, daß in Ghina der Klassenkampf nötig sei, entschlossene Aktionen gegen die Revisionisten und unbedingtes Vertrauen in die Ideen des großen Steuermanns. »Ich habe lange darüber nachgedacht. Mir ist klargeworden, daß er im Recht war, als er in Wuhan gegen den Unsinn auftrat, der dort gemacht wurde.« »Könnte er nicht als Direktor in Wuhan mehr als hier leisten, für China?« Er aß etwas von dem Gemüse, das die Mutter auftrug, und erwiderte: »Alle Chinesen, Arbeiter, Bauern, Wissenschaftler und Künstler könnten heute mehr leisten, wenn nicht ein Phantast seine Fieberträume fortwährend der Gesellschaft als großartige Ideen aufzwingen und damit allen wahren Erfolg ihrer Arbeit zerstören würde!« Der Phantast ist Ihrer Meinung nach ...?« Er sprach es aus, ohne zu zögern, er dämpfte nicht einmal seine Summe. »Mao Tse-tung, natürlich! Schauen Sie sich an, Genosse Robbins, was er aus China gemacht hat! Ein Land des Fraktionskampfes, in dem einer den anderen denunziert, Kinder in den Kommunen ihre Eltern der Bestrafung zuführen, weil diese geäußert haben, das Gemeinschaftsessen sei nicht so gut wie das, was die Großmutter früher kochte! Klassenkampf nennt er das! Es ist Schwachsinn. Studenten spucken heute vor ihren Professoren aus und nennen sie
antikommunistische Verbrecher, nur weil sie die vom Staat beschlossenen Lehrpläne einhalten wollen. Da kann jeder von jedem beschuldigt werden, keiner verteidigt jemanden. Eine Versammlung jagt die andere, ein Plan wird vom anderen umgeworfen, es gibt keine Ordnung mehr, wir haben kein Bohrwerkzeug, wenn wir das aber laut sagen, werden wir zu Gegnern Mao Tse-tungs erklärt, der behauptet, man könne allein mit dem Bewußtsein ebensogut bohren wie mit Diamantkronen! Aus unserem Betrieb sind alle Großmaschinen abgezogen worden, niemand wußte, wohin. Heute ist bekannt, daß die Ma schinen ganz oben im Norden, an der mongolischen Grenze und an der sowjetischen, Bunker ausheben, Schützenstellungen, unterirdische
Munitionslager.
Nennt
man
das
in
der
amerikanischen Partei etwa Klassenkampf? Nein, Genosse Robbins, wir waren, als ich in Landschou zu arbeiten begann, ein glückliches Land. Es gab noch eine Menge Armut, aber keinen Hunger, es gab Mißhelligkeiten, mehr als genug, aber wir hatten Zuversicht und eine gesicherte Perspektive. Wissen Sie, was wir heute sind, Kamerad Robbins?« Er gab die Antwort selbst: »Wir sind ein Experimentierfeld für die unberechenbaren Vorstellungen, die sich ein einsamer Mann vom Sozialismus zurechtgezimmert hat und die er als göttliche Erleuchtung verstanden haben möchte. Sich selbst zwingt er der Partei auf,
als gebe es nur seinen Kopf und sonst keinen mehr auf der Welt. Was haben wir davon? Eine zerrüttete Wirtschaft, Bauern, die nicht mehr alt werden, verwirrte Schulkinder und Studenten, Künstler, die als Schweinehirten arbeiten müssen, eine Außenpolitik, die keine neuen Freunde bringt, uns dafür aber den alten entfremdet. An den Grenzen zur UdSSR massieren wir Truppen. Dagegen, daß die USA unsere vietnamesischen Genossen abschlachten, haben wir nur Druckerschwärze. Mit den Sowjets reden wir nicht einmal mehr! Was haben sie uns getan? Was soll der Unsinn vom Revisionismus, von der Restaurierung des Kapitalismus? Vielleicht kann man das jemandem erzählen, der gar nicht weiß, wo die UdSSR liegt, aber uns, die wir sie kennen ... ? Die Sowjets wollten uns vor Fehlern warnen, die sie selbst beinahe oder tatsächlich gemacht haben und die sie uns ersparen wollten, deshalb nennen wir sie heute Feinde! Wer das zu verantworten hat und wer sich mit seinen skurrilen Ideen über die Partei stellt, wird nicht als verdienstvoller Mann in die Geschichte eingehen, so groß seine Verdienste in der Frühzeit der Revolution auch gewesen sein mögen ...« Es fiel mir auf, daß niemand Dao-tsu widersprach. Weder Chang Wen noch seine Mutter bremsten ihn. Wenn er an seiner Arbeitsstelle so sprach, konnte es nicht mehr lange dauern, bis
man ihn >an die Graswurzeln schickte, wie eine Menge aufmüpfiger Intellektueller. Er lachte laut auf, als ich ihm das zu bedenken gab. Ein schwer zu vergessendes Bild: der junge Mann mit dem sehr kurz geschnittenen Haar, das seinen Kopf bedeckte wie eine Kappe, die Eßstäbchen erhoben, ein Stück Gemüse zwischen ihnen. Er sagte: »Kamerad Robbins, ich bin an den Graswurzeln! Man kann mich nicht mehr dorthin schicken, wie andere. Ich lebe das Leben eines Arbeiters. Um mich herum sind ebenfalls Arbeiter. Was meinen Sie, was zwischen uns gesprochen wird? Glauben Sie, wir wiederholen den ganzen Tag die Sprüche aus dem roten Buch?« »Aber ihr müßt sie gemeinsam aufsagen«, warf Tong ein, »wie alle anderen auch!« »Wir absolvieren das wie einen Gang zur Toilette. Wissen Sie, der Kommunismus in China wird bleiben, wenn die Sprüche aus dem roten Buch längst vergessen sind und niemand mehr genau weiß, wie eigentlich das Gesicht auf den großen Ansteckplaketten aussah!« »Vielleicht wird der Sozialismus überhaupt erst dann aufblühen«, meinte Tong. Er griff nach der Trinkschale. Chang Wen hatte aromatischen Apfelschnaps eingeschenkt, vermutlich wurde er in irgendeinem Dorf in den Bergen heimlich gebraut.
Nachdem wir getrunken hatten, machte sich Tong mit einer Geste in Richtung des Bauplatzes lustig: »Und — das alles wird gemacht, weil die Sowjets das chinesische Volk vernichten wollen, wie?« »Ebenso wie die Tunnel unter Peking«, sagte Chen Tsu-lin. »Zuerst riß man alte Mauern ein, schaffte abgesperrte Bauplätze, schrieb über eine Metro. Unser Büro hielt diese Irreführung nicht für gut. Die Amerikaner würden mit ihren Spionageflugzeugen sowieso herausfinden, wie die Tunnels unter Peking verlaufen. Vor zwei Wochen erwies sich, daß wir recht gehabt hatten. Eine amerikanische Zeitschrift druckte Infrarotaufnahmen aus großer Höhe ...« Draußen wurde es kälter. An den Fenstern des Häuschens zeigten sich Eisblumen. Chang Wen erhob sich und schob Holz in den Herd. Er brachte die Suppe mit, die gar war. Während er sie ausschenkte, brummte er mürrisch: »Nun muß nur noch jemand das Kunststück fertigbringen, dem großen Steuermann beizubringen, was Infrarot ist und was man damit anstellen kann ...« »Wird schwer sein«, sinnierte Tong. »Infrarot hat es in Jenan nicht gegeben, also gibt es das auch jetzt nicht.« Chang Wen und seine Frau trafen sich wegen der Nachbarn in Peking meist hier draußen. Chen Tsu-lin war schon in ihrer
Jugend konspirativ tätig gewesen, und Chang Wen verfügte über die gleichen Erfahrungen, sie wußten, weshalb sie kein Risiko eingingen. Einen Augenblick lang stellte ich mir die Frage, ob ich sie verraten würde, wenn das unserer Sache diente. Ich würde es tun, gestand ich mir ein. Aber da die beiden für mich in Freiheit viel wichtiger waren, nämlich als Informanten, stellte sich ja das Problem nicht. »Vorher haben wir uns zuweilen in einem Kloster getroffen, in dem es ein paar Mönche gibt, die Räume übers Wochenende vermieten«, sagte Chen Tsu-lin. Sie sagte nicht, welches Kloster es gewesen war, es gab deren in den Bergen eine Menge. Als ich später mit Chang Wen für einige Zeit allein war, wir machten einen Spaziergang, der uns bis in die Nähe der Rausteile führte, brachte ich die Rede auf Vietnam. Chang Wen zuckte die Schultern und meinte: »Was wir da machen, ist Verrat. Es gibt kein anderes Wort dafür.« Mit einer ausladenden Geste wies er dorthin, wo sich die Maschinen in den Berg gefressen hatten, wo Erdhaufen lagen, Bagger unentwegt Lastwagen beluden. »Während
die
Amerikaner
Vietnam
bombardieren,
beaufsichtige ich einen Bauplatz, der angeblich nötig ist, um China gegen die Sowjets zu schützen. Wissen Sie, wie ich mir zum ersten Mal im Leben vorkomme?« »Wie ein unwissender Mann?«
»Wie ein verdammter Opportunist«, sagte er. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich das eines Tages werden würde. Aber — ich werde so einfach nicht aufstecken. Es gibt genug Genossen, die es an der Zeit finden, daß etwas unternommen wird!« »Und — man muß etwas unternehmen?« Er blieb stehen, sah mich forschend an. »Was würden Sie tun, als Kommunist, wenn in Ihrer Partei eine kleine Gruppe ihre früheren Verdienste und heutige Position dazu benutzte, einen Weg zu diktieren, von dem die meisten anderen überzeugt sind, daß er in die Irre führt?« Ich zog es vor, gedankenvoll zu nicken. Es war wohl besser, die Dinge nicht weiterzutreiben. Worüber ich Aufschluß haben wollte, das Kräfteverhältnis innerhalb der Partei, das blieb trotz aller offenen Worte, die hier gefallen waren, unklar. Noch stand alles auf des Messers Schneide. Letztlich würde wohl Maos Prestige den Ausschlag geben. Ich wechselte das Thema und sprach davon, daß ich nach Hawaii zu reisen beabsichtigte, irgendwann in diesem Jahr, wenn es sich einrichten ließ, daß Sandy sich in Akupunktur unterweisen ließ, neuerdings, den Weisungen Maos über die Bevorzugung traditioneller Medizin folgend, daß Tongs Sohn Jan unlängst sein Ingenieursexamen gemacht hatte, einer der letzten Prüflinge, denn es war schon bekannt, daß alle Examen
in Zukunft wegfallen würden, auf Weisung des Vorsitzenden. Und unsere Kinder — nun, Sue würde dieses Jahr sechzehn, Burt war gerade vierzehn geworden, man erkannte an den Kindern, daß man so langsam ein älterer Herr wurde ... Als wir zurückkamen, hatte Chen Tsu-lin schon Kaffee gebrüht, sie wußte, daß Tong ihn gern trank und auch ich ihn dem Tee vorzog. Sie hatte ihn über Kollegen aus dem Büro bekommen, die ihn aus dem Ausland mitgebracht hatten. Wir aßen Sesamkuchen und jenes billige, knallrot eingefärbte Kindergebäck, das wieder ab und zu im Handel war und das überraschend gut schmeckte. Wir spielten sogar, als sich herausstellte, daß Daotsu Karten spielte, ein paar Runden Poker. Draußen wurde der Tag nach und nach grau. Das Geräusch der Bagger und Erdförderbänder riß nicht ab. Und dann hupte draußen, vor dem Gebäude, ein Fahrzeug. Chang Wen ging hinaus. Daotsu kratzte ein paar Eisblumen vom Fenster. Ich weiß nicht, was mich bewog, neben ihn zu treten und ebenfalls einen Blick nach draußen zu werfen. Ich glaubte, meinen Augen nicht trauen zu können, es war ein Jeep, darin saß ein junger Mann, der vor Chang Wen eine Zeichnung ausbreitete. Sie sprachen miteinander, und ich war so überrascht über das Auftauchen des jungen Mannes, daß Chen Tsu-lin mich zweimal fragen mußte, ob ich noch Kaffee möchte, bevor ich es
hörte. »War das nicht Di-di?« fragte ich Chang Wen, als er zurückkam. Er lächelte. »Ein sehr begabter junger Ingenieur ist aus ihm geworden. Er ist seit kurzem für eine bestimmte technische Ausrüstung in den Tunnels zuständig ...« »Der Sohn der Kohlenfrau aus der Ping Tjiao Hutang!« Chang Wen nickte. Entwaffnend freundlich verriet er mir: »Es ist verboten, über Arbeiter, die hier tätig sind, Auskunft an Fremde zu geben. Nur — daß dieser Junge ein brauchbarer Mensch ist, das darf ich Ihnen mitteilen. Brauchbar in jeder Beziehung!« »Ich werde mir immer der Ehre bewußt sein, die Sie mir erwiesen haben, dadurch daß Sie diesen Tag mit uns verbrachten«, versicherte uns der dreißigjährige Daotsu, als wir aufbrachen. Chang Wen und seine Frau winkten uns lächelnd nach. Zwei Menschen, die getrennt leben mußten. Das Schwert der Gefahr über ihren Köpfen, waren sie glücklich, dem Sohn einen schönen Tag bereitet zu haben, gemeinsam mit Fremden, die sie für Freunde hielten. Wenn jemand nicht zu unterschätzen war, dann waren es wohl jene chinesischen Kommunisten, die offen oder verdeckt gegen Mao standen. Man mußte mit ihnen rechnen. — Es roch nach feuchtem Holz, nach Nudelbäumen, ein bißchen auch nach Moder, als ich mit Tong zurückging den
langen Weg bis zur Busstation. Der Schnee war verschwunden. Verdunstet in der trockenen Luft. Was tat's, es würde vielleicht in der Nacht zum Sonntag wieder schneien. Wieder würden die Äste dick bereift sein, die Landschaft würde den alten Malereien gleichen ... An der Bushaltestelle gab es eine Mauer mit einem riesigen Mao-Bild, das mir vorher gar nicht aufgefallen war. Jetzt aber konnte man das Porträt nicht übersehen, es war von zwei Scheinwerfern
angestrahlt.
Maos
Gesicht
wirkte
rosig,
pausbäckig, es sollte wohl bewußt an die Neujahrsbilder erinnern mit den vergnügt grinsenden Gesichtern dicklicher Babys. Am Kinn hatte Mao auch auf diesem Bild die Warze, naturalistisch genau abgebildet. Als ich Tong darauf auf merksam machte, verzog er das Gesicht und knurrte: »Wohin man auch geht, sein Auge ist immer da. Oder ein Sprüchlein von ihm. Ich glaube, er und das US-Marine Corps haben die beiden besten Propa-gandaapparate der Welt!« Heute früh, am Sonntag, als Sandy, die Dienst hatte, gerade in das kleine Austin-Taxi stieg, mit dem sie während der Wintermonate zur Stadt zu fahren pflegte, erschien Tso Wen, in dicke Steppkleidung gehüllt, eine unförmige Hasenfellmütze auf dem Kopf. Er trank Tee mit Rum, wärmte sich auf und überbrachte mir von Kang Sheng die Mitteilung, daß der
Vorsitzende, der sich immer noch in Hangtschou befand und weiter dort verweilen würde, leider auf absehbare Zeit keine Chance sah, mich dort zu empfangen. Er, Kang Sheng, stehe zur Verfügung, jederzeit, der Vorsitzende würde durch ihn infor miert werden. — Draußen auf der Gasse erschien, nachdem ich Tso Wen verabschiedet hatte, Di-di. Immer noch nannte ich ihn so, und er nannte mich >Onkel SidRevolution ist gutGruppen für Kulturrevolution< waren geschaffen
worden,
um
Maos
Forderung
nach
Stärkung
des
kommunistischen Bewußtseins nachzukommen. Als oberste Kontrolleure dieser Bewegung galten offiziell Peng Dschen, der Pekinger Oberbürgermeister, Lu Ting-yi, Propagandachef des ZK der KP Chinas, Dachou Yang, im selben ZK für Kultur und Erziehung
verantwortlich,
Wu
Leng-hsi,
Direktor
der
Nachrichtenagentur Hsinhun, und Kang Sheng, dem man die Position der >grauen Eminenz< zuschrieb, in diesem Gremium, das >Fünfergruppe< genannt wurde. »Revolution ist gut«, las ich laut, gespannt auf Di-dis Reaktion. »Steht in dem kleinen roten Buch«, sagte er nur. Und dann, bevor er mit dem Essen zu seiner kranken Mutter ging, verriet er mir auch noch mit einem rätselhaften Lächeln, auf welcher Seite der Spruch stand. Ende der nächsten Woche will David Kung vorbeikommen...
An Holly
Hinweise, März 1966
1. Neueste These Mao Tse-tungs, hier bekanntgegeben:
Revisionismus und Imperialismus sind als feindliche Elemente« gleichzusetzen. gefährliche
USA und UdSSR
sind
>zwei gleich
Supermächte.< Es ist das erste Mal, daß UdSSR
und USA öffentlich von einem kommunistischen Politiker so nebeneinandergestellt werden. Man empfindet es hier in weiten Kreisen der Partei schon als normal, daß Mao gleichzeitig die Fortführung des Klassenkampfes fordert (Da Kung Bao). 2. Die von Mao angeheizte Stimmung gegen die Sowjets findet
bei
einem
zahlenmäßig
beträchtlichen
Teil
der
Parteimitglieder keinen Beifall. Aber die Betreffenden fürchten sich vor dem Stigma des Revisionismus, wenn sie sich gegen die >Weisheit Maos< äußern. Sie schweigen daher und fallen als Opposition gegen Mao zunächst aus. Mao hat — über eine Einstimmenmehrheit, die er im Büro des ZK in Peking für seine Ideen hat — angefangen, den aktiven und passiven Widerstand im Führungsorgan zu brechen. Die Parteiführung in Shanghai hat er bereits auf seine Seite gebracht. Mit Hilfe von Yao Wen yuan und Tschang Tschun-tjiao beherrscht er die dortigen Me dien. Es wird vermutet, daß Mao in eine neue >Fünfergruppe< seine beiden Shanghaier Vertrauten Yao Wen-yüan und Tschang Tschun-Ijiao lancieren will. Ersterer ist ein als radikal bekannter Literaturkritiker, >Revisionisten
Shanghaier Gruppe< führte bereits einen ersten Schlag: In einer vernichtenden Kritik in einer Shanghaier Zeitung werden alle Leute, die sich in der Art Peng Teh-huais den Weisungen Maos widersetzten, als Renegaten und Feinde bezeichnet. Peng Tschen >begab sich zum Zwecke der Erholung auf eine längere ReisePartei< sehr bedingt verwendet wird. Mao spricht (oder läßt sprechen) im wesentlichen von seinen >Ideen< und von >Elementen in der Partei, die einen kapitalistischen Weg einschlagen!. Auf diese Weise distanziert er sich zwar nicht offiziell von dem, was normalerweise >die Partei< ist, aber er teilt sie auf in >Elemente< und sich selbst. Wobei er keinen Zweifel läßt, daß er die geistige Führung beansprucht. 5.Durch Lin Piao (in dessen Schriftstück >Über den
Volkskrieg< ließ Mao verbreiten, daß er in der Volksarmee vor allem das >Instrument für die Weiterführung der Revolution< sieht, d.h. einen vorrangig innenpolitischen Machtfaktor. 6. Ausspruch Maos (wörtlich) anläßlich eines Banketts in Shanghai am 24.11.1965 für die achtzig Jahre alt werdende Anna
Louise
Strong:
»Ich
habe
dem
sowjetischen
Ministerpräsidenten Kossygin gesagt, wenn Sie mich einen Dogmatiker nennen würden, so wäre das für mich eine Ehre . Ich bin bereit, zehntausend Jahre gegen den Revisionismus zu kämpfen. Ihnen zuliebe, Herr Kossygin, will ich vorerst einmal neuntausend Jahre für diesen Kampf veranschlagen.« Unter der Hand wurde in Peking verbreitet, Kossygin habe massive Hilfsmaßnahmen gegen unsere Luftangriffe auf Vietnam vorgeschlagen, beispielsweise bot er an, sowjetische Fliegerkräfte
auf
Feldflugplätze
nahe
der
chinesisch
vietnamesischen Grenze zu verlegen, damit sie Angriffen auf Nordvietnam begegnen könnten. Mao lehnte das schroff ab, er wünsche keine neue »Ausbreitung fremder Truppen auf chinesischem BodenKulturrevolution< das Wort für Chaos?
In letzter Zeit kommen aus der Festlandsmetropole wirre, ja irre Nachrichten. Reisende berichten von Zuständen, für die sie keine Deutung finden. Die Lektüre der roten Zeitungen, die uns hier erreichen, wird zum Vexierspiel: wo in dem Durcheinander des äußeren Hildes sind die Goldkörner der Wahrheit versteckt, die Motive, die Realitäten? Wir haben sorgfältig recherchiert, was es mit dieser eigenartigen >Kulturrevolutionmein Job sich seinem Höhepunkt nähert und ich am Ort der Handlung gebraucht werde Polo< lief. Ein Test nur? Ich hielt es für mehr als das, aber es gab keinen Grund, darüber Auseinandersetzungen zu führen, ich war wieder Soldat, ich tat,
was mir befohlen wurde, auch wenn der Befehl von einem Mann kam, von dem ich immer noch nicht wußte, ob man ihm eigentlich trauen konnte. Ich bekam die Viscount der CAAC in Kanton, wie es geplant gewesen war. Die Stadt war ruhiger geworden. Es gab noch rauchgeschwärzte Trümmer hier und da, von den letzten kulturrevolutionären Zusammenstößen, und manche Straßen wirkten wie Altpapierlager, die Mauern waren voller Datse baos, teils abgerissen, teils vom Regen aufgeweicht. Alles zusammen machte den Eindruck von Unordnung, den selbst ein paar blühende Flammenbäume und der prachtvolle Oleander nicht
verwischen
konnten.
Peking
empfing
mich
mit
prasselndem Sommerregen. Ich hatte unterwegs geschlafen, das war jetzt in chinesischen Inlandsmaschinen wieder möglich, es gab zwar bei Start und Landung Agitationsmusik statt der sonst wo üblichen Bonbons, aber dafür tanzte die Stewardeß nicht mehr während des Fluges im Mittelgang mit dem roten Büchlein herum. Tso Wen winkte mir zu. Er hatte einen der großen chinesischen Ölpapierschirme aufgespannt und bemühte sich um mich, als sei ich der nach ewigen Zeiten heimgekehrte verlorene Sohn. »Alles beim Alten?« erkundigte ich mich routinemäßig. Worauf er mich wissen ließ, die Zeiten seien, im Vergleich zu
früher, wesentlich ruhiger geworden. Das fiel mir auch auf. Es schien, als gäbe die Stadtverwaltung sich Mühe, das Bild nach und nach wieder etwas freundlicher zu gestalten. Aber das würde schwer sein. Selbst die unter großem Aufwand auf dem Weg vom Flugplatz zur Stadt hinein angelegte Allee sah aus wie nach mehreren Taifunen: Hier waren jugendliche Demonstrierer von ihren Anführern ermuntert worden, die unteren Äste der jungen Bäume abzureißen, um beim Vorbeimarsch am Vor sitzenden damit zu winken. Was war schon ein Baum gegen die grandiosen Ideen des Steuermannes! »Keine jungen Revolutionäre mehr zu sehen«, konnte ich mir nicht verkneifen, etwas ironisch zu bemerken. Tso Wen grinste. »Was zu tun war, haben sie erledigt. Jetzt werden sie umerzogen.« Um die aus der Bahn gerissenen jungen Leute, für die es noch keine Schule wieder gab, auch keine Lehrstellen, von weiteren Zerstörungen abzuhalten, um sie zu beschäftigen und gleichzeitig von den Städten fernzuhalten, wo dringend wieder Ruhe einziehen sollte, hatte die >Gruppe< die Parole ausgegeben, die Jugend müsse aus den Leistungen der alten Revolutionäre lernen, auch aus ihren Entbehrungen. Also solle sie
versuchen,
den
legendären
>langen
Märsche
Außendienststelle< bezeichnete. »Hallo, mein lieber Kamerad Robbins!« Kang Sheng lächelte über das ganze Gesicht, so daß sich um seine kurzsichtigen Augen hundert Fältchen zeigten, die durch die starken Brillengläser enorm vergrößert wurden. Er war noch hagerer geworden, der Anzug schlotterte an seinem Körper, und die Haut war von einer aschefarbenen Blässe. Aber er war so gut gelaunt, wie ich ihn nie erlebt hatte. »Kommen Sie, trinken Sie einen Schluck Whisky, es ist englischer, machen Sie es sich bequem ...« Ein Diener brachte einen Imbiß, ich staunte, Kang Sheng ließ für uns beide auf Schinken gebratene Spiegeleier servieren, eine für
China
unbegreifliche
Speise,
die
man
nur
in
Ausländerrestaurants bekam, wo sie als >Hamandeggs< bezeichnet wurde, in absolut klassischem Pidgin, wie es von Tokio bis Sidney immer noch als Verständigungsmittel benutzt wurde.
Kang Sheng scherzte: »Lassen wir uns zu dem nieder, was man in Diplomatenkreisen ein Arbeitsessen nennt! Wir sind doch die eigentlichen Diplomaten, wie?« Ich ließ mir die Eier schmecken, den goldgelben Toast, trank Orangenlimonade dazu, bekam als zweiten Gang gegrillte Schweinswürstchen, und zwischendurch erkundigte ich mich, ob man in Peking schon Bescheid über die beiden Herren Huntress hatte, die bei Hongkong verschwunden waren, von chinesischen Küstenwachen aufgegriffen, wie ich bei meiner Abreise als Schlagzeile in allen Hongkonger Zeitungen hatte lesen können. Kang Sheng nickte. »Wir haben einen Routinebericht über den Vorfall. Ich kenne keine Einzelheiten. Was ist damit?« Dies war die Stunde, in der ich persönlich sein Vertrauen in mich erneut festigen konnte, indem ich ihm das Geschäft aufdeckte, das wir da aufgezogen hatten, und ihm zugleich verriet, meine Chefs wüßten selbstverständlich, daß ich ihn ins Vertrauen ziehen würde und rechneten mit seinem nächsten Zug, damit das Spiel weitergehen konnte. Das einzige, was ich ihm nicht verriet, war der Codename >PoloPolo< war, daran gab es keinen Zweifel mehr, eine Aktion, die von den beiden Geheimdiensten abgewickelt wurde, nachdem diese von ihren Regierungen sozusagen >grünes Licht< bekommen hatten. Hier schaltete Kang Sheng, der Altmeister, und auf unserer Seite war es wohl der Sicherheitsberater des Präsidenten, der die Dienstaufsicht über die CIA hatte, im Einvernehmen mit Mister Helms, unserem neuen Chef. Geheimdiplomatie, das hatten wir in der Ausbildung bereits gelernt, war eine Methode, selbst die ärgerlichsten Probleme zwischen Staaten so auszuräumen, daß die Bevölkerung sehr lange im Unklaren über die tatsächlichen Vorgänge blieb und zudem keine Chance erhielt, sich etwa mit gegenteiligen Argumenten zu Wort zu melden, bevor vollendete Tatsachen geschaffen worden waren. Die konnten dann eben nicht mehr rückgängig gemacht werden. Nur — wir hatten damals auch gelernt, daß Geheimdiplomatie eine Variante der Arbeit in den jeweiligen Außenministerien ist. Hier und heute lagen die Dinge wesentlich anders. Die Welt hatte
sich in den zweieinhalb Jahrzehnten verändert: Geheimdienste waren es, die im stillen Einvernehmen miteinander eine Palette von Fakten vorbereiteten, die durch ihre Regierungen später nicht mehr ignoriert werden konnten. CIA wie Kang Shengs Organisation
nötigten
sozusagen
ihre
Regierungen
im
stillschweigenden Einverständnis zu einem Vorgehen auf von ihnen abgesteckten Wegen. Und das war gewiß nicht nur eine neue Variante der Geheimdienstarbeit, es signalisierte für die Zukunft einen neuen Trend. Der bestand, wenn ich es richtig sah, im Vorrang geheimer, persönlich getroffener Abmachungen gegenüber offizieller Regierungspolitik und auch gegenüber bestehenden Gesetzen. — Darüber mit Kang Sheng zu sprechen, hatte ich nicht die Absicht. >Polo< war ins Rollen geraten, schneller, als ich es für möglich gehalten hatte, nach so langer, unbefriedigender, tatenloser Zeit des Nichtstuns. »Wie lautet die Mitteilung?« erkundigte ich mich, als der Tee kam. »Bekomme ich sie schriftlich?« Er schüttelte lachend den Kopf. »Ich spreche zu Ihnen, Kamerad Robbins. Sie können Notizen machen. Und Sie schreiben für Ihre Vorgesetzten auf, was mitzuteilen ist. Diese benachrichtigen den Präsidenten. So wollen wir verfahren, es wird keine Dokumente geben, nur mündliche Abmachungen und
private Notizen. Einverstanden?« Nach allem, was ich in dieser Sache bereits erlebt hatte, wunderte mich gar kein Schachzug mehr, selbst wenn er noch so skurril war. Kang Sheng kam schnell zur Sache. »Wir möchten, daß Ihr Präsident und sein Sicherheitsberater folgendes erfahren: China hat mit der Staatsführung von Pakistan, das Ihr Präsident auch besuchen wird, ausgezeichnete Beziehungen. Was immer er uns mitteilen möchte zu diesem Zeitpunkt, kann er dem pakistanischen Präsidenten mündlich übermitteln, wir haben Wege, es schnell zu erfahren. Zu Ihrer persönlichen Information: Der Botschafter Pakistans, Herr Agha Hilali, ist ein sehr guter Freund des pakistanischen Präsidenten Yahya Khan. Und der sehr geschätzte Herr Bruder des pakistanischen Botschafters in Washington ist gegenwärtig Botschafter seines Landes in Peking. Wußten Sie das?« Ich
schüttelte
den
Kopf.
Da
zeichnete
sich
eine
abenteuerliche Konstellation ab! Kang Sheng lächelte mild, es war zu spüren, wie er seine Rolle als Wissender mir gegenüber genoß. »Nun ja«, sagte er, »das ist für Sie persönlich auch bisher uninteressant gewesen. Es bekommt erst jetzt Bedeutung. Wir haben da ein wenig vorgearbeitet. Kennen Sie den Herrn Sicherheitsberater Ihres Präsidenten?« »Nicht persönlich. Ich weiß nur, daß er in Harvard politische
Wissenschaften gelehrt hat, Professor ist ...« »Sehr richtig. Dabei fällt mir ein, daß der Herr Professor Kissinger vor etwa fünfzehn Jahren, es kann auch weiter zurückliegen,
in
Harvard
eine
Lieblingsstudentin
hatte.
Verstehen sie mich bitte recht, wenn ich sage, er wird sich an sie erinnern: Es handelte sich um Sympathie aufgrund ihrer Leistungen, die Sache hatte nicht das geringste mit einer Affäre zu tun — diese Studentin lebt inzwischen wieder in ihrem asiatischen Heimatland, das heißt, sie hält sich gegenwärtig für ein paar Tage in Peking auf und reist dann in die Heimat zurück, sie besucht hier ihren Bruder. Das ist der Botschafter Pakistans in Peking ...« Er grinste hinter seinen dicken Brillengläsern. Als er sah, daß ich noch auf weitere Erklärungen wartete, besann er sich: »Ach ja, natürlich ist der Herr Botschafter Hilali in Washington auch ihr Bruder! Wie sich die Dinge zuweilen so treffen, nicht wahr? Wie
sich
auch
für
Ihren
Herrn
Sicherheitsberater
Anknüpfungspunkte ergeben, beim Bruder seiner einstigen Lieblingsstudentin! Verwandtschaftliche Bande sind unter bestimmten
Umständen
sehr
nützlich
für
politische
Abmachungen, die man ein wenig gegen die Öffentlichkeit abschirmen möchte. Wir Chinesen haben in dieser Art der Diplomatie eine lange Tradition. Und Erfahrungen. Wenn wir
Ihnen unseren Rat anbieten, geschieht es aus wohlerwogenen Gründen des Entgegenkommens, nicht um Sie etwa zu übertölpeln .,.« »Das würde ich nie annehmen!« verwahrte ich mich gegen den Gedanken. Es klang nicht besonders forsch. Sollte es auch nicht. Mir wurde bewußt, wie unbedeutend meine eigenen Informationen waren. Hier lief in der Tat ein großes Spiel an, bedeutender als >Dixie< es gewesen war, und ich war ein Statist, nicht mehr. Ein unentbehrlicher Statist vielleicht, aber immerhin ... »Wird die Situation an Ihrer Nordgrenze sich weiter zuspitzen?« fragte ich. Er überlegte lange. Ich vermute, er dachte darüber nach, ob er mir reinen Wein einschenken sollte über die Hintergründe, beispielsweise, wer nun wirklich die bewaffneten Streitigkeiten begonnen hatte. Zuletzt erkundigte er sich: »Wollen das Ihre Vorgesetzten wissen?« »Ja«, log ich bedenkenlos. Er war einverstanden, mich zu informieren. Hatte wohl selbst keine Illusionen über die Möglichkeiten unserer Aufklärung per Satelliten. Sagte: »Es wird dort oben im Norden genau so viele Zwischenfälle geben, wie wir brauchen, um unserer — nun, sagen wir einmal — antiimperialistisch erzogenen Bevölkerung klarzumachen, daß China einen zuverlässigen Verbündeten braucht, einen neuen,
um sich gegen den ehemaligen, der uns heute bedroht, zu schützen.« Dabei lächelte er so maliziös, daß ich versucht war, ihn zu fragen, ob er für diese psychologische Meisterleistung die Ehrenmedaille unseres Kongresses erwartete, aber das wäre so unglaublich rüde gewesen, daß es mich vermutlich das Genick gekostet hätte und Amerika den Erfolg, deshalb verdrängte ich den ketzerischen Gedanken, was mir ein wenig erleichtert wurde, dadurch, daß Kang Sheng auf ein anderes Thema überging. »Es wird vermutet, daß es in absehbarer Zeit interne Gespräche zwischen Nordvietnam und den USA geben könnte. Zur Frage des amerikanischen Disengagements in Vietnam. Wissen Sie Näheres?« »Ich habe Andeutungen über einen Truppenabzug gehört, mehr nicht.« »Meinen Sie, daß Ihr Präsident entschlossen ist, das militärische Engagement in Vietnam abzubauen?« »Ich rechne damit«, gab ich zurück. »Er muß das allein deshalb
tun,
weil
unser
Engagement
in
Vietnam
die
amerikanische Bevölkerung förmlich aufgespalten hat. Wir sind eine zerrissene Nation, der Riß geht selbst durch die Familien. Meine eigene leidet übrigens auch darunter. Unsere Kinder denken anders über viele Dinge, als wir es tun.«
Die Augen hinter seinen Brillengläsern funkelten, es machte den Eindruck, als belustigte ihn mein Hinweis. Er sagte: »Das, lieber Kamerad Robbins, haben gerade wir im eigenen Lande beobachten können, in den letzten Jahren. Beantworten Sie mir offen die Frage: Wird das Disengagement in Vietnam die Position des Präsidenten festigen?« »Mit Sicherheit.« »Aber — wird ein Präsident, der zum ersten Mal amerikanische Truppen aus einem Krieg heimholt, den diese nicht haben gewinnen können — wird er nicht in eben diesem Asien einen großen politischen Erfolg brauchen, um den Abzug zu kompensieren? Um sozusagen Schatten zu Licht zu machen?« »Das halte ich für sehr wahrscheinlich«, gab ich vorsichtig zurück. Es war sinnlos, einem Mann wie Kang Sheng gegenüber diesen Zusammenhang zu leugnen. »Wird daher nicht jeder Fortschritt bei der Einigung mit uns ein ganz persönlicher und Aufsehen erregender Erfolg für Ihren Präsidenten sein?« Ich nickte. Seine Gedanken wiesen Kang Sheng als den Mann mit der phantastischen Kombinationsgabe aus, als den ich ihn immer bewundert hatte. Er vertraute mir lächelnd an: »Dies alles ist eine für unsere beiden Länder sehr vernünftige Konstellation. Was uns angeht, werden wir sie
nutzen. Ihr Entgegenkommen freut uns. Die Vereinigten Staaten werden Nutzen haben, wie wir auch. Aber — überlegt man sich bei Ihnen zu Hause auch, was in Vietnam geschieht, nachdem die USA sich von dort entfernt haben?« Da war wieder die Frage nach dem Vakuum, ich hatte sie vor langer Zeit schon mit Mao Tse-tung erörtert, noch bevor der Vietnam-Krieg auf den Höhepunkt kam. Hanoi würde sich nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten noch enger als bisher mit den Sowjets verbünden. Die Sowjetunion hatte dem kleinen Land unermeßlich geholfen, seinen Bestand zu wahren. Sie würde auch den Nachkriegsaufbau fördern. China, von dem man zwar wußte, daß es große Demonstrationen gegen uns veranstaltete, daß es Lebensmittel und anderes nach NordVietnam geliefert hatte, war mit den Männern in Hanoi nie so recht warm geworden. Man traute einander nicht. Ich glaube, es lag daran, daß Hanoi sich vor der chinesischen Dominanz fürchtete und vor den nie zurückgenommenen Gebiets forderungen Chinas an Vietnam. Von den Sowjets drohte in dieser Hinsicht kaum Gefahr, zumal ihr Land weit von Vietnam entfernt lag, mit China aber gab es eine gemeinsame Grenze! Jetzt machte sich Kang Sheng offenbar ähnliche Gedanken, wie Mao schon viel früher. Ich wurde den Verdacht nicht los, daß man hier in Peking nichts weiter dagegen gehabt hätte, wenn wir
unsere militärische Präsenz in Vietnam weiter aufrechterhielten, obwohl niemand das bisher offen gesagt hatte. Auch Kang Sheng sagte es nicht. Er nickte bedächtig, als ich ihm auseinandersetzte: »Ich glaube, es herrscht die Meinung vor, wenn wir ein gewisses Maß an Waffenhilfe leisten, wird SüdVietnam in der Perspektive mit dem Problem sehr gut allein fertig werden können.« Nach einer Pause, in der er schweigend überlegte, ging er ans Fenster und sprach von dort aus leise und gemessen, so als wolle er mich auf die Bedeutung seiner Gedanken aufmerksam machen: »Es wäre nützlich, eine Überlegung anzustellen, die gewisse unvorhersehbare Entwicklungen berücksichtigt. Wir schätzen die Kampfkraft der nordvietnamesischen Armee als sehr hoch ein. Wir wissen auch, daß ihre technische Ausrüstung von der Sowjetunion ständig verbessert wurde. Und wir wissen, daß Nord-Vietnam entschlossen ist, bis zur endgültigen Vereinigung des Landes weiterzukämpfen. Dabei könnte sich Erfolg einstellen, fürchten Sie nicht auch?« Ich blickte an ihm vorbei, aus dem Fenster auf die Berge. Ein paar Majolikadachziegel auf Tempeln und Pavillons, die sich im Wald versteckten, glänzten goldgelb unter den jetzt direkt einfallenden Sonnenstrahlen. Ich weiß nicht«, gab ich zurück, »so recht möchte ich daran
nicht glauben, nein ...« Er bewegte die Schultern. Sagte beinahe gleichmütig: »Sollte die Befürchtung zutreffen, die ich ihnen schilderte, hätten wir plötzlich an unserer Südgrenze einen Staat, für den der sowjetische Revisionismus der große Verbündete ist. Im Zusammenhang mit der Haltung Indiens und einigen anderen Faktoren könnte sich damit nicht nur das Gesicht Indochinas verändern, sogar das ganz Südasiens ...« Er ließ den Gedanken hängen. Hatte mich wohl nur indirekt einstimmen wollen für mein nächstes Gespräch mit den Vorgesetzten. Nun schlug er mir vor, mich nach der langen Reise erst einmal gründlich auszuschlafen. Das tat ich zu Hause, in dem stiller werdenden Haus in der Ping Tjiao Hutang, nachdem ich die Nachricht für Yang verfaßt hatte. Lao Wu und die Tai-tai schlichen auf Zehenspitzen herum, so als sei jemand gestorben. Sie vermißten Sandy und waren traurig, weil ich ihnen nicht sagen konnte, wann sie zurückkehren würde. Als ich ihnen Bilder von Sue und Burt zeigte, blickten sie einander an, und die Tai-tai sagte leise: »Es ist uns klargeworden, daß wir schon sehr alt sind ...« Mir schien, sie ahnten, daß die besten Zeiten für sie mit der Stellung bei uns zu Ende gingen. Ihre roten Armbinden hatten sie längst abgelegt ...«
Um zehn Uhr vormittag, mit dem Zeitzeichen des Pekinger Rundfunks, der Nachrichten sendete, erschien David Hong. Er war in Eile, am Ende der Gasse wartete ein Auto auf ihn. Wollte nur >Ni Hao< sagen, aus purer Verbundenheit. Ich verstand. Drückte ihm die Botschaft in die Hand. Ob wir uns in Hongkong sehen würden, wollte er wissen. Ich versprach ihm, bei einem Besuch die Nummer anzurufen, unter der er im Büro des Mister Ho Yin erreichbar war. Er schien interessiert zu sein, mich in der Kolonie zu treffen. Vielleicht wollte er mir ein Geschäft vorschlagen. Oder sein Chef, der — trotz allen Durcheinanders der letzten Jahre und allen Kampfes gegen > schwarze bourgeoise Strolche< — immer noch Abgeordneter des Nationalen Volkskongresses war und dort die Interessen der Auslandschiriesen vertrat. Nur daß der Kongreß nicht tagte ... Ich nehme mir vor, Tong anzurufen, Chang Wen zu besuchen, überhaupt
eine Anzahl von alten Kontakten
aufzufrischen, aber zuerst muß ich schlafen. Ich merke erst jetzt, wie müde ich bin. Zum Schreiben habe ich wenig Lust. Dazu hat nicht zuletzt die Überraschung beigetragen, die Franklin Delano Yang mir bereitete, als er mir mitteilte, über das Schicksal meiner Aufzeichnungen würde die Agentur mitentscheiden. Der Teufel wird mitentscheiden! Und — ich werde mich wohl kürzer fassen müssen, die Zeit wird knapp.
Beobachtungen und Daten
21.7.1969: Ich fiebere am Radio, wo die > Stimme Amerikas < läuft, mit den Amerikanern, die ihr für mich schwer vorstellbares Fahrzeug auf dem Mond aufsetzen! Keine Fernsehberichterstattung in Peking, lediglich die knappe Mitteilung. Ich höre unsere Nationalhymne zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg mit innerer Bewegung und mit dem Stolz eines Mannes, der froh ist, dieser Nation anzugehören ...
26.7.1969: Radio Hongkong meldet die >Freilassung von zwei in Rotchina
inhaftiert
gewesenen
SchiffbrüchigenUnsere Absicht ist es gewesen, Störfaktoren in unseren Beziehungen zu beseitigen und die Menschen auf dem chinesischen Festland daran zu erinnern, daß es eine historische Freundschaft zwischen beiden Völkern gibtehrenhafte Entflechtung< möglich zu machen. Später seien durch besagten Sainteny (wie recht der Kerl hat, ich kenne Sainteny noch aus Kunming, wo er während des zweiten Weltkrieges den französischen Geheimdienst repräsentierte!) weitere Vermittlungen erfolgt. Inzwischen gäbe es inoffizielle und informelle Gespräche beider Seiten, die in Paris geführt würden.
Tonspulenabschrift (Auszüge) Gespräch mit Tjiuy Tong, am 18. Oktober 1969:
... Weißt du, Sid, Liu-Shao-tschi war nicht mehr sehr gesund. Ich weiß das von Chen Tsu-lin, sie hat mit mir einmal sehr offen über ihre Furcht gesprochen, daß man ihn langsam zermürbt. Er
selbst hat sich davor gefürchtet, er war ein charakterstarker Mann, aber er wußte, daß er ganz allein dastand wie auf einer Bühne, jeder konnte ihn mit faulen Eiern bewerfen. Er litt an einem fortgeschrittenen Diabetes, mußte schon Injektionen bekommen. Insulin. Um jede Ampulle mußte er betteln. Erniedrigend so etwas. Im Tschung Nan Hai war er ein Gefangener. Er konnte das abgesperrte Gebiet nicht verlassen, die Posten wiesen ihn zwar nicht zurück, aber sie benachrich tigten sofort bereitstehende Rowdygruppen, die ihn überfielen — ja, er war tatsächlich gefangen. Ohne Zelle. Ohne Ketten. Schlimmer ... ... Seine Frau war bereits verschwunden, seit Monaten, ebenso wie seine Kinder. Es heißt, ein Tribunal der Roten Garden habe sie zu zwölf Jahren >harter Arbeit an den Graswurzeln< verurteilt und sogleich weggeschafft. Liu war allein. Hatte noch einen Koch, der Diätküche für ihn machte, aber den haben sie auch vor einiger Zeit weggeholt. Verschwunden. Aus. Chen Tsu-lin war die einzige, der man gestattete, ihn aufzusuchen, angeblich, wie sie mir sagte, zur Abwicklung von Staatsgeschäften, die er noch besorgen mußte. Liu war der einzige Mann, der Mao oder Lin Piao hätte gefährlich werden können. Ein Marxist eben. Er sagte es offen, wenn er mit etwas nicht einverstanden war. Das vertrug Mao
nicht. Zumal Liu zu oft recht hatte, wie sich immer wieder herausstellte. Und dann war es die Rache Tschiang Tschings. Sie und Wang Kuäng-mei haßten einander. Tschiang Tsching beneidete Lius Frau um ihre solide Bildung, um die Sicherheit ihres Auftretens. Du darfst nicht vergessen, man hatte Tschiang Tsching bereits in Jenan untersagt, die nächsten zwanzig Jahre eine Parteifunktion zu bekleiden. Das hing mit der Scheidung Maos zusammen und mit Tschiang Tschings Ruf aus der Shanghaier Zeit. Sie rächte sich an Wang Kuang-mei persönlich, da bin ich sicher, und sie rächte sich besonders dadurch an ihr, daß sie Mao antrieb, den Kranken endlich loszuwerden ... ... Chang Wen hat mir erzählt, Chen Tsu-lin sei durch einen Zufall Zeuge gewesen, wie man ihn wegbrachte. Es war gestern. Chen Tsu-lin sagte, er habe eine schwere Grippe gehabt seit längerer Zeit, sei geschwächt gewesen. Sie hatte man im Büro beauftragt, ihm Medikamente zu bringen, das war üblich. Es gab Leute, die stillschweigend dafür sorgten, daß er Insulin bekam. Als Chen Tsu-lin in die Nähe seines Hauses im Tschung Nan Hai kam, sah sie, wie er gerade auf einer Trage in einen Krankenwagen
verladen
wurde.
Angeblich,
um
in
ein
Krankenhaus gebracht zu werden, sein Zustand sei danach, sagte man ihr. Er war wohl selbst nicht in der Lage zu sprechen. Chen Tsu-lin fragte den Fahrer, in welches Hospital man ihn bringe.
Da blickte der Fahrer sich um, ob jemand von den Posten mithörte, und dann flüsterte er: »Nicht Hospital. Ich fahre zum Flugplatz. Er wird nach Kaifeng transportiert.«
Tonspulenabschrift (Auszüge)
Gespräch mit Chang Wen am 20.November 1969:
... Ich habe schon ein paar Tage später mit einem Freund in
Kaifeng telefoniert. Er hat einen Bruder, der ist auf dem kleinen Flugplatz dort angestellt. Und der hat Liu Shao-tschi gefahren. Auf einem Elektrokarren, von der Maschine bis zu einem abgesicherten Raum ... ... Liu Shao-tschi habe völlig weißes Haar gehabt, er sei sehr krank gewesen, ohne Bewußtsein, von einer Virusgrippe gepackt, wie man beim Ausladen sagte. Er hatte hohes Fieber und Schüttelfrost. In dem abgesicherten Raum habe man ihn samt Krankentrage abgestellt, etwas hatte nicht geklappt mit der Abholung, man erwartete ein Gefängnisfahrzeug. Es wurde dann von Flugplatzleuten, denen die Sache nicht ganz geheuer war, ein Arzt gerufen. Der Posten, der Liu bewachte, konnte nichts dagegen machen, er war allein. Der Arzt sagte, der alte Mann habe eine ziemlich fortgeschrittene Lungenentzündung, man könne das über das Stethoskop an den Atemgeräuschen deutlich hören. Es soll schon dunkel gewesen sein, als man Liu abholte.
Gefangenenwagen. Sie schoben ihn samt Trage hinein. Mein Freund konnte mehrere Tage weiter nichts erfahren, als daß Liu Shao-tschi seine gerechte Strafe im Kaifenger Gefängnis abzusitzen habe, er werde dort auch ärztlich betreut, hieß es. Den Leuten auf dem Flugplatz wurde auf die Frage, ob das nicht Liu Shao-tschi sei, geantwortet: »Das ist der größte Machthaber in der Partei, der den kapitalistischen Weg geht. Die Massen haben ihn verurteilt, er wird hier seine Strafe verbringen!« ... Nein, getötet in dem Sinne, daß jemand ihn erschoß, oder köpfte, hat man ihn nicht. Er kam, wie ich viel später herausfinden konnte, in das Kaifenger Gefängnis und wurde in Abständen von einem Arzt betreut. Das Ganze war eine elegantere Art, ihn zu töten. Es war die Rache dafür, daß er sich seit vielen Jahren gegen tollkühne Gesellschaftsexperimente ausgesprochen hatte, offen, wenngleich mit der gebotenen Vorsicht, aber immerhin, er tat es. Er war gegen den sogenannten Großen Sprung und das Eisenschmelzen und die chaotische Auflösung aller Dorfstrukturen durch die rasante Kommunisierung, Familienbeziehungen Individualeigentums.
die
Zerstörung und
Er
die versuchte,
der
gewachsenen
Abschaffung diese
des
schädliche
Entwicklung wenigstens zu bremsen, er versuchte auch, den Wahnwitz der Kulturrevolution in Grenzen zu halten, anfangs
— das haben ihm weder der Initiator noch die Durchpeitscher der Kulturrevolution jemals vergessen. Sein Tod war wohl vorgeplant, nur der Zeitpunkt war noch nicht bestimmt ... ... Ja, er starb in Kaifeng. Es ist durch das Personal des Gefängniskrankenhauses bekannt geworden. Ich kenne Tag und Stunde: Es war am 12. November, frühmorgens, sechs Uhr fünfundvierzig.
Darüber
gibt
es
sogar
ein
Protokoll.
Todesursache: Lungenent-zündung und Herzschwäche ... ... Ein Grab gibt es nicht. Er wurde im Krematorium des Gefängniskrankenhauses sofort nach seinem Tode verbrannt. Ob eine Urne existiert, ist mir nicht bekannt. ... Ich weiß nicht, wo Wang Kuang-mei gefangengehalten wird. Auch über die Kinder hört man nichts. Nach Kaifeng, wo Liu Shao-chi im Sterben lag, wurden sie jedenfalls nicht gebracht ... ... Ob man ihn schnell vergessen wird? Sie fragen mich etwas Schwieriges. Eines Tages wird unsere Partei sich besinnen. Sie wird zu den Grundsätzen zurückkehren, auf denen unsere Überzeugung als Kommunisten fußt. Es wird eines Tages genug kluge Leute in China geben, tatsächliche Marxisten, die beurteilen können, wer Liu Shao-tschi wirklich war und warum er verleumdet wurde. Man wird auch wissen, wer es zu verantworten hat. Zu früh, jetzt darüber Aufschluß zu verlangen,
wir sind in einer sehr schwierigen Phase. Alles ist noch offen. Was der Genosse Liu verhindern wollte, das geschieht jetzt. Es wird
lange
dauern,
zusammenfinden,
um
bis
sich
diese
in
China
verhängnisvolle
Kommunisten Entwicklung
wenigstens aufzuhalten, wenn sie schon nicht gleich umkehrbar ist. Ich werde dabei sein, keine Frage. Aber das liegt noch weit in der Ferne ... ... Ich selbst? Werde arbeiten. Wie immer zuvor. Natürlich sind diese Tunnel ein Unsinn, die Sowjets bedrohen uns nicht. Aber ich werde nicht nur in den Tunnels gebraucht. Die Partei existiert wieder, wie immer sie auch aussehen mag. Sie braucht jeden von uns, denn nur wir, die wir Marxisten geblieben sind, können aus der jetzigen Partei wieder das machen, was wir >unsere Partei< nennen würden. Also werden wir das tun, was wir schon so oft zuvor taten, das Blut abwischen, uns erheben und weiterarbeiten. Unbeirrt. Eine Ernte wird erst gewogen, nachdem sie eingebracht ist ...
Mai 1970-April 1971
Wieder in Hongkong.
Peking war staubig und kühl, als ich es verließ. Dafür war der
Winter in Kauai, wo ich an meinem Buch gearbeitet habe, mild. Nach Absprache mit Professor Hotbread werden es nun sechs handliche Bände sein, die da ab nächstes Jahr in Berkeley herauskommen, ich bin noch nicht ganz fertig damit, die Einteilung vorzunehmen, es gibt Zäsuren, die wollen gut überlegt sein, man kann nicht allein nach Jahreszahlen oder Dynastien ein Phänomen wie die Erzählkunst der alten Chinesen in Kapitel aufteilen. Vor allem: meine Übersetzung der Tu-FuGedichte ist erschienen. Ich bin stolz darauf! Doch — zurück nach Peking ... Millionen jener, die vor nicht langer Zeit Leute geschunden und Werte zerstört hatten, sind in entfernte Gegenden des Landes verschickt worden, zum Mißvergnügen Tschiang Tschings wohl, deren Hausmacht schwindet. Aber es gibt noch genügend Hung Wei Pings in der Stadt. Die Bewegung, die sich vorher durch ihren Massencharakter ausgezeichnet hat, ist jetzt zwar kleiner, dafür aber ruchloser geworden. Es bleibt nicht mehr bei Demonstrationen und Kampfversammlungen. Wenn heute Hung Wei Ping ausrücken, dann kann man sicher sein, daß einige Schwerverletzte irgendwo liegenbleiben, wenn nicht Tote. In
den
Zeitungen
>Musterrevolutionär
Arbeiter< vorstellen soll. Jemand sagte ironisch zu mir, wenn es so weiterginge, würde er bald so populär sein wie Frühlingsröllchen oder Jasmintee. — Ich kümmerte mich nur wenig um das politische Leben in der Hauptstadt. Mein In teresse galt anderen Dingen. Einige Male traf ich mit Kang Sheng
zusammen,
und
wir
registrierten
gemeinsam
chinafreundliche Äußerungen von US-Politikern. Dann wieder machte mich Kang Sheng aufmerksam, welche positiven Äußerungen oder Zeichen äußerster Zurückhaltung es auf chinesischer Seite gab. Etwa bei den Bombardements, die unser Präsident auf angeblich von der Luftaufklärung erkannte Vietcong-Bereitstellungen in Kambodscha anordnete. Kurz zuvor hatte Nixon den Abzug von 150000 GIs aus Vietnam verfügt. Nun machte Kang Sheng ein besorgtes Gesicht. Wir sprachen seit dem vergangenen Jahr bemerkenswert offen miteinander, es gab keinerlei Schattenboxen zwischen uns, die Dinge wurden beim Namen genannt: »Wir haben alle Brücken
zu den Sowjets abgebrochen, Kamerad Robbins, wir bereiten uns auf einen Krieg mit ihnen vor — nun wollen wir endlich die Vereinigten Staaten auf unserer Seite haben. Wir brauchen Beistand, und die USA brauchen die Nähe zur sowjetischen Grenze — also ...« Unvorstellbar, das vor zehn Jahren so zu besprechen! Weder mit Kang Sheng noch mit irgendeinem anderen von den Leuten hier, die zu uns tendierten. Es folgte alles atemberauschend schnell aufeinander. Kambodschas
eitler
und
ziemlich
arroganter
Staatschef
Sihanouk hatte sich mit seiner Politik in eine Sackgasse manövriert: Er stand vor der Entscheidung, entweder mit uns zusammenzugehen oder mit den Vietcong. Da wählte er eine Reise nach Paris und wurde prompt (weil wir etwas nachhalfen) ausgebootet. Nach einigen Umwegen traf er als Exilant in Peking ein, wo er in Tschou En-lai und Kang Sheng Stützen hatte, die ihn gewissermaßen >auf Eis lagerngesicherter Verhältnisse< in Südvietnam
erscheinen
zu
lassen.
Augenwischerei,
die
Verhältnisse sind katastrophal. Kang Sheng machte mich eines Tages aufmerksam: »Kambodscha ist für uns ein wichtiges Gebiet, wir werden dort keinen fremden Einfluß dulden. Dafür sind unsere Interessen in Indochina zu gewichtig. China braucht angesichts der engen Verbindung Hanois zur UdSSR die Westflanke Vietnams. Das ist eine strategische Frage für uns, Kamerad Robbins.« Inzwischen hat Sihanouk in Peking mit Hilfe Tschou En-lais eine Art Exilregierung gebildet. Sie residiert im alten Botschaftsviertel in einer der geräumten Missionsvillen. Der
Herbst war voller schöner Tage, die Abende schenkten den Pekingern einen runden, prallen Mond, der zum Träumen einlud, zum Dichten — allein, die Zeiten waren noch längst nicht friedlich genug, um, wie die alten Poeten sagten, >Schwert und Schild am Fluß für immer niederzulegenroten Weltdorfes < machen. Eine der zeitgemäßen Bezeichnungen für die unterentwickelten Länder der Welt, deren Schicksal China durch den Export der Kulturrevolution von heute auf morgen zu ändern versprach. Schlagworte, von jungen Leuten so gedankenlos nachgeplappert, wie sie einst die Sprüche des Steuermanns heruntergeleiert hatten. »Er wird frieren, da oben«, sinnierte Elma. — Taxifahrer Nr. 1 kam immer noch, wenn ich in der Zentrale ein Auto anforderte. Er nahm Zigaretten von mir, wenn niemand zusah, sprach wenig, und einmal, als ich ihm eine Flasche Öl zusteckte, weil ich wußte, daß es immer knapper wurde, senkte er beschämt den Kopf und murmelte: »Früher ging ich in Lumpen, Mister Robbins, Sie erinnern sich bestimmt noch — aber ich war gewiß, die Revolution würde uns endlich ein Leben ohne Not bringen. Heute bin ich besser gekleidet. Aber ich bin arm. Weil ich nicht mehr daran glaube, daß diese Revolution wirklich für uns arme Leute gemacht ist.« »Für wen dann?« fragte ich ihn. Er zuckte nur die Schultern und gestand mir, er bestaune meine Freundschaft zu China, die mich trotz der schlimmen Zeiten hierbleiben ließ. Ich könnte doch nach Amerika zurückgehen und würde wesentlich besser
leben ... Kang Sheng ließ mich rufen, teilte mir mit, man habe sich >im Führungsgremium< entschlossen, das für den 20. Mai in Warschau vorgesehene Treffen der beiden Botschafter Stoessel und Lei Yang im Hinblick auf die Aktivitäten der USA in Indochina abzusagen. Er fügte an, es sei natürlich eine >Sache des Gesichts< für China. Ich war trotzdem verblüfft. In Warschau hätte an diesem 20. Mai
das
Datum
der
Reise
eines
amerikanischen
Sonderbeauftragten nach China festgesetzt werden sollen, soweit waren wir nämlich. Monate zuvor hatten die beiden Botschafter in schwerfälligen, von Formfragen belasteten Gesprächen immerhin eine Einigung darüber erzielt, daß ein solcher Besuch der Staatsvisite des amerikanischen Präsidenten in Peking vorausgehen und daß der Sonderbeauftragte sozu sagen das Register der gegenseitig interessierenden oder auszuklammernden Themen mit den Chinesen ausarbeiten sollte. »Wir können uns nicht lächerlich machen«, erläuterte mir Kang Sheng, »oder unglaubhaft. Verstehen Sie uns recht, wir haben volles Verständnis, daß die USA in Indochina günstige Verhältnisse schaffen wollen, bevor sie von dort weggehen. Nur — wir sind verpflichtet, darauf zu reagieren, offiziell jedenfalls.
Also schieben wir das Treffen auf. Wir erklären, daß der Zeitpunkt für uns unannehmbar ist, da kann jeder denken, was er will. Es werden zu gegebener Zeit neue Vereinbarungen zu treffen sein ...« Ich hatte schon verstanden. Wir durften nicht glauben, daß es sich hier um einen Operettenstaat handelte, der sozusagen um Hilfe bettelte. Peking bot Beziehungen an, aber zu einem eigenen
Preis.
War
das
auch
unser
Preis?
Um
das
Botschaftertreffen, auf das man bei uns große Hoffnungen gesetzt hatte, hob ein diplomatisches Tauziehen an, das Kang Sheng, wie er mir zu verstehen gab, >mit ein paar kühnen Schwertstreichen< beenden würde, sobald es dem Füh rungsgremium ratsam erschien. »Sie müssen verstehen, Kamerad Robbins«, machte er mich aufmerksam, »daß wir bis in die höchsten Führungskreise hinein nicht lediglich Befürworter des Ausgleichs mit den USA haben — es gibt da Kräfte, die zielstrebig dagegen arbeiten!« Ich beschloß, aufs Ganze zu gehen. »Nun«, sagte ich, »ich kann wohl voraussetzen, daß der Vorsitzende selbst seine Auffassung nicht geändert hat? Von Tschou En-lai weiß ich, daß er gern eine Annäherung sähe. Tschiang Tsching? Wang Hung wen? Tschen Po-ta?« Er schüttelte den Kopf. »Übrigens ist der Genosse Tschen
Po-ta wegen schwerer Abweichungen von der Linie des Vorsitzenden aus seiner Funktion entfernt worden.« »Bleibt Marschall Lin Piao?« Ich sprach meinen Verdacht absichtlich so direkt aus, daß ihm keine Chance blieb, als auszuweichen.
Er
murmelte
etwas
davon,
daß
man
jahrzehntelang eingeführte Feindbilder nicht so schnell abbauen kann, noch dazu, wenn die andere Partei wenig Instinkt zeigt. Dann schlug er vor, den Kanal zur Agentur wieder zu beleben. Damit hatte ich genug erfahren. Er leugnete es nicht, daß Lin Piao gegen die von Mao geplante Annäherung war. Das war für mich bedeutsamer, als er vielleicht vermutete. Wir unterhielten uns, da ich seine Meinung teilte, daß der CIA-Kanal bessere Chancen und höhere Sicherheit bot, sehr bald über neue >Signaleamerikanische Signale< anzuregen. Er erzählte mir über ein Geschäft, das Peking mit einer italienischen Autofirma abgeschlossen habe, dabei handelte es sich um den Import von
überschweren Lastautos. Der Haken sei, daß die Motoren dieser weltbekannten Fahrzeuge aus den USA kamen und immer noch auf der Embargoliste standen. Nur der Präsident selbst könne da eine Entscheidung treffen, und das wäre in jedem Falle ein deutliches Entgegenkommen. Ich konnte das Wort Signal schon bald nicht mehr hören, ohne unwillig zu werden: schließlich würde man es in Peking noch als freundschaftliche Geste auffassen, wenn jemand aus der entfernten Verwandtschaft des Präsidenten am Sonntag in San Francisco in ein chinesisches Restaurant ging und dort mit Stäbchen aß! Wenn man dieses stupide Denken in Signalkategorien in die Absurdität trieb, wonach es mir aussah, würde bald keiner der beiden Partner sich die Nase putzen können, ohne zuvor eine Konferenz über die mögliche Signalwirkung dieser Handlung abzuhalten! Und trotzdem fiel mir etwas ein, womit ich Kang Sheng verblüffte. Ich habe erst hier, und viel später erfahren, daß dieser Vorschlag von allen am Spiel Beteiligten als Stein der Weisen betrachtet wurde. »Warum«, so fragte ich Kang Sheng, »lädt der Vorsitzende nicht einen seiner ältesten amerikanischen Freunde nach Peking ein?« Weil er nicht wußte, wen ich meinte, sagte ich ihm, es handle sich um Edgar Snow, seines Zeichens Reiseautor, mit einer starken Affinität zu China und Mao. Außerdem habe er
schon zu Zeiten Roosevelts, als dessen persönlicher Freund, zwischen diesem und den roten Chinesen eine höchst delikate Mittlerrolle gespielt. Er würde sie fraglos wieder spielen. Kang Sheng sagte sofort zu. Er zerstreute meine Zweifel an der Bereitwilligkeit Maos mit der Bemerkung: »Der Vorsitzende wird denjenigen einladen, den wir ihm vorschlagen!« Das war überdeutlich. Ich hatte jetzt nicht den geringsten Zweifel mehr, wie die Dinge hier lagen. »Du bist ein Genie, Sid!« empfing mich Holly und Yang sprach mir seine tiefe Bewunderung aus. Ich hatte, angeregt durch Kang Shengs sofort bezeugte Bereitschaft außerdem noch den Vorschlag gemacht, mit Snow zusammen, oder wenigstens zur selben Zeit, ein paar Veteranen der amerikanisch chinesischen Annäherungsbemühungen einzuladen. Als völlig unmißverständliche
Erinnerung
daran,
daß
man
diese
Bestrebungen heute honorierte. Ich schlug von David Barrett über John Service, Charles Stelle und James Kellis vom Kommando K auf dem Adlergipfel alles vor, was mir an Namen aus der ehemaligen Dixie-Gruppe noch einfiel. Kang Sheng stimmte ohne lange Überlegungen zu. — »Wir haben John Service mobilisiert«, teilte mir Yang bei der Ankunft mit. »Kellis wird sowieso dabei sein, wenn es nach Peking geht. Sein Dienstrang ist jetzt Oberst, nur für den Fall,
daß Sie ihn mal auf die alte Art anreden möchten ...« Er ließ den Wagen, als wir durch Kowloon fuhren, anhalten, und schlug vor: »Kommt, laßt uns da drüben an der Bude ein Hamburger essen! Kinder, ich liebe Hongkong, aber ich bin Amerikaner, trotz meiner Augen — und ich sterbe, wenn ich nicht ab und zu ein Hamburger kriege!« Die Bude war noch mit einem Porträt Maos geschmückt, vermutlich war der Inhaber ein Peking-Sympathisant, oder aber er zielte auf diesen Kundenkreis. Was auch immer — Yang zog ein Fernschreiben aus der Tasche, erklärte, er werde uns jetzt mit einer hochintelligenten Analyse etwas die Zeit vertreiben, und dann las er vor, daß der absolute Höhepunkt des MaoKultes in der Volksrepublik etwa im Sommer 1968 gelegen habe. Als Beweis zitierte er uns, während wir kauten, ab und zu einen Schluck Bier durch die Kehle rinnen ließen: »China Pictorial,
die
Staatsillustrierte,
unzweifelhaft
eines
der
Leitorgane der Mao-Gruppe, druckte in der Juni-Ausgabe 1968 auf sechsundvierzig Seiten insgesamt zweihunderteinund zwanzigmal Maos Namen. Von einundsiebzig Fotos wurde auf fünfundfünfzig für ihn geworben, und auf diesen fünfundfünfzig Fotos war Mao insgesamt sechsundsiebzigmal abgebildet. Sein Zitatenbuch, das zählte man auch, tauchte in diesem Heft allein dreihundertsechsundsiebzigmal auf, das heißt, auf jeder Seite
rund achtmal ...« Nur um die Sache zu unterbrechen, warf ich ein: »Er hat unlängst diese übermäßige Propaganda mit seiner Person als falsch bezeichnet.« Der pfiffige, verschlagene Yang lachte laut, er verschluckte sich beinahe an seinem Hamburger. »Natürlich! Es ist vermutlich alles gegen seinen Willen gemacht worden, von den hundert Blumen über den Großen Sprung und die Kommunen und die Eisenschmelzerei bis zur Abschaffung der schwarzen Gewohnheiten! Der mächtigste Mann im Staate kann sich nicht gegen den Kult um seine Person verwahren, haha! Liu Shao tschi konnte er aus dem Weg räumen, aber die Inflation seines Gesichts, den Ausverkauf seiner Warze, das war er nicht in der Lage zu unterbinden, wie? Nun gut, jemand mit dieser Technik ist tatsächlich als Partner für uns brauchbar, selbst wenn er rote Anwandlungen hat! Hauptsache, er läuft gegen die Sowjets. Übrigens: seine Gedichte wurden in einer Auflage von sechs undneunzig Millionen Exemplaren gedruckt. Das kleine rote Buch mit seinen weisen Sprüchen hat bisher eine Auflage von siebenhundertfünfzig Millionen. Für jeden Chinesen, vom Baby bis zur Oma eins. Dagegen hat er sicher auch vergeblich protestiert, wie ich vermute, wie?« Man konnte wenig gegen seine Ironie sagen. Wenn die
Agentur solche Statistiken aufschlußreich fand, dann hatte das wohl seinen Grund. Holly brummte vergnügt zwischen zwei Happen: »Lieber Frank, wir werden es erleben, daß Salisbury oder ein anderer in seinem Blatt demnächst enthüllen wird, dieser Kult mit der Person Maos wäre eine gezielte Schweinerei Liu Shao-tschis gegen den Vorsitzenden gewesen! Oder zweifeln Sie daran?« »Aber nein! Es hängt davon ab, ob wir mit Mao ins Geschäft kommen. Wenn ja, können wir diese Version mühelos über unsere Agenturen verbreiten lassen, und jeder auf der ganzen Welt wird sie erst mal glauben.« »Außerdem ist Liu tot«, sagte ich. Yang meinte: »Egal, wer immer da nach vorn geschoben wird, wir haben Kang Sheng am Haken, der wiegt die anderen jederzeit auf. Könnt ihr euch vorstellen, wie das Gesicht Asiens aussehen wird, sobald die Russen merken, daß südlich des Ussuri nicht mehr nur kleine gelbe Männlein stehen und mit roten Büchlein winken, sondern die GIs mit elektronischen Stationen, die bis in den Ural hinein jedes Bettgeflüster mithören können?« »Sie werden außer sich vor Freude sein«, vermutete Holly. Ich fragte Yang: »Sie meinen, die Pekinger werden uns das gestatten?«
Er grinste. »Wir werden sehen, was wir erreichen. Jetzt wollen wir erst mal überlegen, wie wir die Sache mit Edgar Snow einfädeln, und dann widme ich mich diesem neuen Kanal über Pakistan. Ich gebe Kang Sheng recht, Warschau ist Schnee vom Vorjahr ...« In der Villa am Strand von Big Wave Bay absolvierten wir in der Folgezeit eine Menge von Planungsarbeiten. Ich telefonierte gelegentlich mit Sandy. Wir vereinbarten, daß ich sie, sobald ein Ende meines Aufenthaltes hier in Hongkong absehbar war, abholen und wir beide dann erst einmal nach Peking zurückkehren würden. Daß uns dort in nicht mehr allzu ferner Zeit die Auflösung unseres Haushaltes bevorstand, erfüllte uns eigenartigerweise nicht nur mit Freude. Ein wenig hatten wir uns an die rote Hauptstadt gewöhnt, wenngleich das politische System uns anwiderte. Da gab es vertraute Gegenden, eine reizvolle, uns weder fremde noch unverständliche Kultur, die trotz allen Krawalls wohl so leicht nicht zu zerstören war. — Yang offenbarte mir nach und nach das System des >Signalaustauscheszufällig< kannte, für sich einspannte und ihn seine Vietnam-Verbindungen für die USA nutzbar machen ließ. Ohne nennenswerte Zeitverluste konnten wir eine Station nach der anderen markieren, und ich mußte oft daran denken, wie lange ich auf einen so zügigen Fortgang der Arbeit hatte warten müssen. Jetzt wich die tief eingefressene Unzufriedenheit über die schwerfällige politische Bürokratie daheim der neuen Spannung: Würden wir noch einmal scheitern, wie damals >Dixie