LEN DEIGHTON
SAHARA Bitland
2001.11.1 0 08:49:10 +01'00'
Roman
Marion von Schröder Verlag in der Econ-Gruppe
Der T...
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LEN DEIGHTON
SAHARA Bitland
2001.11.1 0 08:49:10 +01'00'
Roman
Marion von Schröder Verlag in der Econ-Gruppe
Der Titel, der bei Jonathan Cape, London, erschienenen
Originalausgabe lautet: TWINKLE, TWINKLE, LITTLE SPY Copyright © 1976 by Len Deighton Deutsch von Gudrun Khatschi bearbeitet von Matthias Büttner
1. Auflage 1979 Copyright © 1979 by Marion von Schröder Verlag GmbH, Düsseldorf Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Gesetzt aus der Times der Linotype GmbH Papier: Papierfabrik Schleipen GmbH, Bad Dürkheim Druck und Bindearbeiten: May + Co, Darmstadt Printed in Germany ISBN 3 547 72025 7
Allzusehr liebt' ich die Sterne, darum furcht' ich nicht die Nacht Grabinschrift eines unbekannten Astronomen
KAPITEL l
»Die Luft hier..., riechen Sie mal«, sagte Major Mann. Ich schnupperte. »Wieso — ich rieche überhaupt nichts«, erwiderte ich. »Eben das mein' ich ja«, sagte Mann befriedigt, kratzte sich und grinste. »Einmalig, was?« Tausend Meilen weit mitten in der algerischen Wüste sind Gerüche selten. Da gibt es wenig zu riechen, wenig zu tun - und wenig zu essen. Für Reisende, die nur die staatlichen Hotels am Nordrand der Sahara mit ihren Schwimmbecken und Klimaanlagen kennen, ist Adrar natürlich ein Schock. Hier hat das einzige Hotel den Touristen als Schutz vor der Hitze nichts weiter als unten dicht geschlossene Vorhänge zu bieten; und das Hotelpersonal streitet sich jeden Nachmittag lauthals um ein Plätzchen auf dem kühlen Steinboden der Eingangshalle. Den ganzen Tag über wach blieben sowieso nur Europäer, wie die vier bärtigen Österreicher, die Tag und Nacht im abgedunkelten Speisesaal Karten spielten. Sie warteten auf ein Ersatzteil für ihren Lastwagen: Die Benzinpumpe tat es nicht mehr. Zwischendurch kippten sie flaschenweise lauwarme, zuckrige Cola hinunter. Denn Alkohol gab es hier nicht zu kaufen, und wer es wagte zu rauchen, der bekam gleich einen mißbilligenden Blick zugeworfen. Gestein und Sand strahlten selbst an einem Winterabend wie diesem noch immer die Gluthitze des Wüstentages zurück. Der Himmel war mondlos, doch die Sterne hatten schon eine solche Leuchtkraft, daß wir unsere Fahrzeuge mit der hoch aufgetürmten Ausrüstung, dem Sextanten und dem Schild DEMPSEY DESERT TOURS klar erkennen konnten. Wir hatten auf dem weitläufigen Marktplatz von Adrar geparkt, und Mann machte noch einmal die Runde um die Wagen, weil er sich vergewissern wollte, daß von unseren Vorräten inzwischen nichts abhanden gekommen war. Aber an sich war das so gut wie ausgeschlossen, schließlich standen die Wagen direkt vor der Polizeistation. Mann blieb stehen und lehnte sich gegen den Landrover. Er kramte eine Zigarrenschachtel hervor; nur vier Stumpen waren noch übrig. »Sehen Sie sich bloß mal diese Sterne an!« sagte er. »Ja, die Milchstraße - so deutlich habe ich sie noch nie gesehen. 7
Stellen Sie sich vor: Ein Raumschiff mit einer Geschwindigkeit von hunderttausend Meilen pro Stunde würde etwa sechshundertsiebzig Millionen Jahre benötigen, um die Milchstraße zu durchqueren. Man schätzt sie auf hunderttausend Millionen Sterne.« »So? Wo haben Sie denn das schon wieder her?« fragte Mann gereizt. Er klemmte sich einen Stumpen zwischen die Zähne und fing an, auf ihm herumzukauen. »Aus dem Reader's Digest Atlas.« Mann nickte herablassend. »Und jetzt will ich Ihnen mal was sagen.. ., wenn das so weiter geht, werden wir in ein paar Jahren noch eine Million mehr von diesen Dingern da oben haben- nämlich Spionagesatelliten, die uns beide aus dem Geschäft bringen.« »Weißt du, wieviel Sternlein schnüffeln?« summte ich. Mann versuchte mit einem kurzen Seitenblick auf mich herauszufinden, wie das von mir gemeint war - doch nicht etwa aufsässig? »Gehen wir rein«, sagte er schließlich. Offenbar hatte er sich zu dem Entschluß aufgerafft, den Stumpen noch aufzusparen. Er legte ihn zurück in die Schachtel. »Kommen Sie -ich spendiere Ihnen 'ne Flasche Limonade - von der köstlichen einheimischen Marke.« Er lachte ordinär. Mann kam mir wie ein zu klein geratener, aufgeputzter Gorilla vor - er hatte die gleichen wulstigen Brauen und die tiefliegenden Augen, ähnlich lange Arme und vor allem auch den gleichen Humor. Der Speisesaal war geräumig, und obwohl sich die großen Ventilatoren längst nicht mehr drehten, war er bei weitem der kühlste Raum im Umkreis von einigen hundert Kilometern. Seine Wände waren hellblau getüncht und mit grobgewebten Läufern behängt. Auch der Fußboden war mit diesen gestreiften Teppichen ausgelegt. Doch jeder Schritt auf den Holzdielen über uns dröhnte wie Dschungeltrommeln in den Ohren, und plötzlich setzte dann noch das Prasseln einer Dusche und das laute, unvermeidliche Röhren der altersschwachen Wasserleitung ein. Wir legten das Geld für unsere alkoholfreien Drinks auf die Kasse und bedienten uns selbst. »Dieser verdammte Engländer geht aber auch alle fünf Minuten unter die Dusche!« »Ja, beinahe«, mußte ich zugeben. Mickey Mann, Major a.D. der US-Fernmeldetruppe, CIA-Experte für sowjetische Elektronik und gegenwärtig mein Boß, hatte trotz seiner korrekt gebundenen Krawatte und der langen Hose den ganzen heißen Tag über nicht das geringste Anzeichen von Unbehagen gezeigt. Jetzt musterte er mich 8
heimlich, wie jedesmal, wenn er eine gehässige Bemerkung über einen meiner Landsleute und Kollegen fallengelassen hatte. »Der verdammte Engländer hat eine Metallplatte im Schädel, und ein Bein von ihm ist vollgespickt mit deutschen Granatsplittern«, gab ich ruhig zurück. »Außerdem ist er ein alter Mann - einundsechzig Jahre.« »O.K. - O.K. - lassen Sie bloß die Schnulzen im Plattenschrank ich breche sonst in Tränen aus!« »Würde ich ja, aber Sie tun immer so, als ob der alte Dempsey nicht bis drei zählen könnte. Sie haben wohl vergessen, daß dieser Mann vier Jahre lang bei einer speziellen Sahara-Einheit war und ganze dreißig Jahre, oder wenigstens den größten Teil davon, in Algerien zugebracht hat. Er spricht nicht nur fließend arabisch, sondern auch sämtliche Wüstendialekte. Und falls es in der Sahara zu echten Schwierigkeiten kommen sollte, sind wir völlig auf ihn angewiesen, denn nur er kann mit dem Sextanten richtig umgehen.« Mann gab so etwas wie ein Grunzen von sich. Er saß am Tisch und spielte mit einem Schweizer Militärtaschenmesser herum, das er sich im Souvenirladen des Genfer Flughafens gekauft hatte. »Wenn Wind aufkommt, heute nacht...«, er versuchte vorsichtig das Messer mit der Klingenspitze auf einer Fingerkuppe zu balancieren, »wird der Sand die Straße nach Süden unpassierbar machen. Also, zu der Erkenntnis bin ich auch ohne Ihren Freund Percy gekommen.« »Sogar für den Landrover?« »Erinnern Sie sich an den Dreitonner? Bis zu den Achsen drin.« Er ließ das Messer los, es stand; er hatte es perfekt ausbalanciert. »Der Sand würde einen Landrover glatt unter sich begraben, wenn er schon einen Lastwagen mit drei Achsen zum Einsinken bringt.« »Die haben einfach zuviel Gas gegeben«, meinte ich. »Auf die Tour gräbt man sich natürlich selbst sein Grab.« »Das haben Sie wohl aus dem Handbuch für Pfadfinder - aus dem Kapitel: Wie kampiert man in der Wüste?« bemerkte der Major spöttisch. Er knallte das Taschenmesser auf die Tischplatte - es blieb zu meinem Erstaunen wie eine Eins auf der Spitze stehen. »Wie dem auch sei«, setzte er hinzu: »Woher nehmen wir eigentlich die Gewißheit, daß sich der Iwan ein Fahrzeug mit Vierradantrieb organisieren kann? Womöglich versucht er, in einem Moskwitsch bei uns aufzukreuzen.« »Halten Sie den Russen wirklich für so beschränkt?« »Na, wissen Sie, so weltweit, wie Sie meinen, wird die Intelligenz 9
von Professor Bekuv gar nicht anerkannt«, sagte Mann. »Als er mit der Delegation der russischen Wissenschaftler bei der UNO war, hatte er gerade zwei Artikel über kleine Männchen in fliegenden Untertassen veröffentlicht. Das hat ihn eher in den Ruf eines Spinners gebracht.« »Um einen schrulligen Überläufer würde sich die CIA doch wohl kaum kümmern«, gab ich zu bedenken. »Da ist was dran«, meinte Mann nachdenklich. »Tja, wer weiß vielleicht hat ihn seine Suche nach den kleinen grünen Männchen überhaupt erst zu seiner Arbeit über den Maser angeregt? Denn daran ist nicht zu rütteln: Bekuv gehört zu den bedeutendsten Maserexperten der Welt.« »Mir ist immer noch nicht klar, was so ein Maser ist«, sagte ich. »Haben Sie denn nicht das technische Merkblatt gelesen?« »Doch, zweimal sogar. Trotzdem hab ich nicht viel davon kapiert.« »Was ist denn daran so schwer zu verstehen? >Maser< ist doch einfach nur die Abkürzung für eine Mikrowellen-Implikation durch Stimulierte Emission der Radiation«, belehrte mich Mann. »Darf ich mir das notieren?« »Also gut, Sie Pflaume, noch simpler ausgedrückt: Es handelt sich um die Umwandlung elektromagnetischer Strahlen der verschiedensten Frequenzen auf dem gesamten Meßbereich in eine um das Vielfache verstärkte, kohärente Mikrowellenstrahlung.« »Und hat das nun irgendwas mit dem Laser zu tun?« »Ja, sicher. Ein Maser ist natürlich gleichzeitig auch ein Laser, während ein Laser nicht unbedingt ein Maser sein muß.« »Demnach ist also der Maser so 'ne Art Schneewittchen - die Schönste im ganzen Land -, während der Laser immer um 'ne Nasenlänge zurückliegt, wie die böse Stiefmutter?« »Wenn Ihnen das so leichter eingeht - genauso ist es!« »Aha, und nun bekundet also plötzlich jemand großes Interesse für diesen Maser — sonst wären wir ja nicht hergeschickt worden, um für Bekuv den roten Teppich auszurollen.« »Oder für fliegende Untertassen«, spöttelte Mann. »Wenn aber dieser Rußki doch so ein Spinner ist, wie können Sie ihn dann für fähig halten, unbemerkt aus der sowjetischen wissenschaftlichen Station zu entkommen, ein wüstentüchtiges Transportmittel zu entwenden und uns obendrein mitten in der Sahara ausfindig zu machen — an unserem Treffpunkt morgen?« »Verstehen Sie mich da ja nicht falsch, Kleiner - Bekuv ist ein ganz 10
schön gerissener Bursche. Er mag vielleicht ein Sonderling mit einem Tick für fliegende Untertassen sein - andererseits hat er aber auch Berichte an den KGB geliefert - damals, als er in New York an diesem Affenzirkus von einer UN-Tagung teilgenommen hat. Und er gehört dem >Bund 1924< an - und das will was heißen. Okay, ich weiß, die Öffentlichkeit hält den >Bund< für einen Klub der Ausgeflippten— daß aber ein paar der ganz Großen der wissenschaftlichen Welt zu seinen Mitgliedern zählen, das vergißt man meistens. Bekuv hat sich einen Spaß daraus gemacht, endlose Vorträge über die Debatten sowjetischer Wissenschaftler rund um das galaktische Plasma vom Stapel zu lassen. Rein gar nichts davon hatte Hand und Fuß. Aber dann hörte er wie ein Luchs zu, wenn die anderen Koryphäen ihm mitteilten, was sie ihrerseits mit ihren Radioteleskopen und elektromagnetischen Wellenübermittlungsversuchen an Forschungen geleistet hatten.« Major Mann fuhr sich mit der Hand durch sein schütteres Haar, das von Tag zu Tag grauer wurde, seitdem er den letzten Tropfen der dunklen Abdecktönung verbraucht hatte. Unbewußt schob er einen Haarstrang über die kahlwerdende Stelle an seinem Hinterkopf. »Professor Bekuv war ein Spitzel—vergessen Sie das nicht. Wie gut er das auch hinter der Fassade eines freien Meinungsaustauschs wissenschaftlicher Erkenntnisse versteckt haben mag - jedenfalls hat er geschickt eine ganze Menge mehr als nur müßiges Gerede über fliegende Untertassen aus seinen Kollegen herausgeholt.« Ich betrachtete Mann interessiert. Ich hatte bei meinen Einsätzen rund um die Erde schon eine Anzahl ähnlicher Typen kennengelernt - von den Shetlandinseln bis nach Alaska und auch auf meinen Reisen durch das kommunistische Algerien: entwurzelte Amerikaner mit sauberen Hemden, einer kranken Leber und einer Aussprache, die durch zu viele Reisen noch undeutlicher geworden war. Im übrigen fand ich es durchaus passend, aus diesem etwa fünfzigjährigen, zähen Burschen einen »Rohölexperten« zu machen - so stand es nämlich in seinem hübschen nagelneuen Paß. »Und wo ist Bekuv der Fehler unterlaufen, durch den er uns aufgefallen ist?« fragte ich. »Dadurch, daß er als Entwicklungshelfer - als Angehöriger des sowjetischen Hilfsprogramms für die afrikanischen Länder - runter nach Mali geschickt wurde - er, der vorher Leiter einer sechsköpfigen wissenschaftlichen Delegation der Russen in New York gewesen war.« Mann griff nach seinem Flachmann. Bevor er seiner zuckrigen Cola einen Schuß Whisky beimengte, schaute er sich prüfend um, ob 11
ihm auch niemand dabei zusah. »Trotzdem — niemand weiß etwas Genaues. Neuerdings vermutet man, daß Bekuv und seine fliegenden Untertassen zu einem ständigen Ärgernis für die Sowjetische Akademie wurden und man ihn einfach für eine Weile strafversetzt hat, damit er sich wieder etwas mehr mit der politischen Realität beschäftigt.« »Ich dachte, die Sowjetische Akademie wäre völlig aus dem Häuschen wegen der fliegenden Untertassen«, sagte ich. »Was hat es denn sonst mit dem großen Radioteleskop auf sich, das sie im Nordkaukasus aufgestellt haben - dem Ratan-600?« »Besser konnten Sie mir den erschreckenden Tiefstand Ihrer Kenntnisse gar nicht beweisen«, gab der Major ätzend zurück. »Es gibt doch wohl einen immens großen Unterschied zwischen der soliden wissenschaftlichen Durchforschung der Weltraumtiefe auf Signale außerterrestrischer Intelligenz und dem unseriösen Zeitvertreib, nach >unbekannten Flugobjekten< Ausschau zu halten - dem Blödsinn, den die Science-fiction-Spinner >Ufologie< nennen.« »Ich bin froh und dankbar, daß Sie mir das alles so genau erklärt haben«, sagte ich und wimmelte Manns Angebot, seine Reiseflasche mitzubenutzen, höflich ab. »So ist das also. Deshalb wurde Bekuv degradiert - ein Stockwerk tiefer ins Auslandhilfsprogramm, was ihn natürlich sehr verbittert haben muß und ihn veranlaßte, zu uns überzulaufen. Ist ja logisch - paßt haargenau zusammen.« Mann goß seinen Drink runter und deutete mir mit einem schiefen Lächeln an, daß simple Feststellungen wie diese in den Kreisen, in denen wir uns bewegten, nur selten ehrliche Komplimente waren. »Stimmt«, sagte er schließlich. »Also dann - ab unter die Dusche mit uns beiden«, sagte ich. Als ich vom Tisch aufstand, bemerkte ich, daß sein Taschenmesser nicht von selbst das Gleichgewicht wahrte - er hatte gar nicht die Klingenspitze auf der Tischplatte balanciert, sondern den winzigen ausklappbaren Schraubenzieher fest ins Holz gerammt.
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KAPITEL 2
Die Route du Hoggar ist an sich der Hauptverkehrsweg nach Süden; sie führt quer durch die Sahara über InSalah und Tamaurasset bis hinunter zum Atlantik. Aber wir nahmen eine andere Route, die fast parallel verläuft und weit weniger bekannt ist. Sie führt viele Meilen weiter westlich in ziemlich unerschlossene Gebiete Afrikas - in Richtung Gao und Bamako, der Hauptstadt des rings von anderen Ländern eingeschlossenen Mali. Das war übrigens auch die Straße nach Timbuktu. Am nächsten Morgen, vier Uhr fünfzehn, brachen wir vom Hotel auf. Mann und Percy fuhren im Landrover, und ich kam mit Johnny, einem zusätzlichen Fahrer von DEMPSEY DESERT TOURS, in einem VW-Bus hinterher. Im Dämmerlicht der Wüstennacht überquerten wir den Marktplatz von Adrar. Auch die großen Lastzüge mit ihrer Fracht aus Stockfisch und Orangen, die im Konvoi die Wüste passieren, waren fast startklar. Es war verdammt kalt, und die Fahrer hatten sich in Schals eingemummt und Wollmützen übergezogen. Einer der Lastwagenfahrer hob grüßend die Hand, als wir an ihm vorbeifuhren. Wüstenfahrer haben seit eh und je eins gemeinsam - die Frage, ob man heil durchkommt. Man weiß eben nie so ganz genau, ob man nicht plötzlich dringend Hilfe braucht. Wir wandten uns südwärts. Ich folgte einfach den Schlußlichtern des Landrovers. Der Weg bestand nur aus einer festgefahrenen Sandschicht. Nachdem wir einige primitive Schilder zu irgendwelchen entlegenen Oasen hinter uns gelassen hatten, brachten wir es auf eine ganz beachtliche Geschwindigkeit. Stellenweise war Treibsand auf die Piste geraten, und jedesmal, wenn die Schlußlichter des Landrovers auf- und niederhopsten, trat ich rasch auf die Bremse. Zum Glück waren die Verwehungen noch nicht so hoch, daß sie einem die Achse in zwei Teile zerhacken konnten. Langsam hellte sich der metallgraue Himmel auf, und der Horizont brannte glutrot, bis mit einem Mal die Sonne wie ein glühender Spieß eine weißglimmende Scharte in ihn hineintrieb. Westwärts türmten sich die Dünen am Horizont hoch wie ein sturmgepeitschter Ozean, während das Land nach Osten zu flach und strukturlos war - grau und fest wie Zement. Ab und zu fuhren wir an einer Herde mottenzerfressener Kamele vorbei; sie scharrten nach einem kargen Maulvoll 13
Dornbuschzweigen, oder was es sonst noch an spärlichem Gestrüpp gab. Der Verlauf der Piste war hin und wieder durch kleine Steinhaufen markiert. Manchmal sahen wir auch einen einsamen Araber auf seinem dürren Eselchen hocken. Die Viecher waren so krumm und ausgemergelt, daß die Fußsohlen des Reiters fast am Boden schleiften. Einmal fuhren wir an einer arabischen Familie vorbei, die gerade die Lastballen auf den Tragsätteln ihrer drei armseligen Kamele umpackte. Außer uns war kein weiteres Auto unterwegs. Wir waren etwa drei Stunden Fahrt von Adrar entfernt, als die Piste plötzlich aufhörte. Das heißt, sechs verbeulte Öltonnen blockierten auf einmal die Strecke, und ein sonnengebleichtes Holzschild verhieß, ab hier gäbe es eine Umleitung, und es sei von nun an den Reifenspuren zu folgen. Der Landrover holperte also als erster von der Piste und verursachte ein wahres Sandgestöber, als er über trügerische Lagen von Treibsand schlingerte. Meine ziemlich abgenutzten Reifen schafften es noch so eben, und ich fuhr vorsichtig auf dem abwechslungsreichen Muster der Reifenspuren hinterher. Ich folgte nach Möglichkeit dicht auf, damit uns später das Abschleppen wenigstens nicht allzuviel Zeit kostete, denn ich machte mir nichts vor - wenn, dann war ich derjenige, der irgendwann steckenblieb. Die da vorne mit ihrem Vierradantrieb kamen inzwischen spielend zurecht. Die Umleitung war so ungefähr alle hundert Meter durch eine alte öltonne gekennzeichnet. Ein paar von ihnen waren umgeweht und weit von ihrer ursprünglichen Position weggerollt, zwei hatte der Treibsand fast unter sich begraben. Es war daher tatsächlich leichter, wenn man sich einfach an die Wagenspuren hielt. Nach etwa acht Kilometern hielt der Landrover an, Mann stieg aus und kam zu mir nach hinten. Inzwischen war es taghell geworden, und ich konnte trotz Sonnenbrille nur noch mit zusammengekniffenen Augen in das vom Sand reflektierte, grelle Licht blinzeln. Obwohl es noch früh am Morgen war, bekam man, wenn man hielt, die Gluthitze der Sonne auf der Stelle zu spüren. Und dazu stieg mir noch der Geruch von erhitztem Gummi, von verdunstetem Benzin und der Duft von Major Manns Gesichtswasser in die Nase. »Wie weit schätzen Sie's seit der letzten Tonne?« fragte der Major. »Es werden ein paar hundert Meter sein.« »Glaub' ich auch. Und vor uns kann ich keine mehr entdecken. Am besten, Sie bleiben hier, und ich grase inzwischen die Gegend ab.« »Warum folgen wir nicht den Reifenspuren?« 14
»Letzte Worte am Rande des Grabes!« sagte Mann mit bühnenreifem Pathos. »Fährten wie die können einen irgendwohin ins Sandmeer führen, und dann steht man plötzlich da, an der Nase herumgeführt - wenn sie nämlich auf einmal abdrehen und wieder zurückgehen.« »Wieso aber dann die vielen Reifenspuren?« »Vielleicht ein altes, aufgegebenes Ölsuchercamp oder ein Depot des Straßenbautrupps.« Er trat mit dem Fuß auf einen der Reifenabdrücke. »Die Spuren sehen aber noch ganz frisch aus«, meinte ich. »Ja«, sagte Mann gedehnt und versetzte der zusammengepappten Furche einen kräftigen Tritt. Sie war zementhart. »... Wie die Spuren von den Panzerketten, die Sie im Süden von Libyen finden. Die stammen noch von Rommel.« Ich sah auf die Uhr. Mann schien sich Sorgen zu machen. »Hoffentlich ist diese verdammte Umleitung vom Süden aus auch gut markiert, sonst fährt der Iwan noch glatt an uns vorbei, während wir in dieser lausigen Sanduhrfabrik wie bestellt und nicht abgeholt herumstehen.« Nun stieg auch Percy Dempsey aus dem Landrover und kam zu uns nach hinten gehumpelt. Er gab mit seinem Schlapphut, der wollenen Strickweste, den knielangen Shorts und den Gamaschen eine urkomische Figur ab. »Du meine Güte!« brummte Mann, »jetzt kommt auch noch Miss Marple.« »Ich frage mich, mein Bester...«, fing der Alte an und stockte. Offenbar fiel es ihm schwer, unsere Namen zu behalten. Sicher deshalb, weil wir sie ständig wechselten. »Mr... Anthony, mein' ich. Machen Sie sich vielleicht Gedanken wegen der Piste vor uns?« »Ja«, sagte ich. Mein Name war im Augenblick tatsächlich Anthony - Frederick L. Anthony, Tourist. »Soll ich uns einen Tee aufgießen?« erkundigte sich Dempsey. Er mußte blinzeln. Seine Gesichtszüge waren weich und babyhaft verschwommen, wie das bei alten Männergesichtern häufig vorkommt. Jetzt, wo er die Sonnenbrille abgenommen hatte, fingen seine blauen Augen gleich an zu tränen. Mann sagte grob: »Nur nicht nervös werden, Tantchen. Wir kriegen das schon hin.« »Wenn Sie's hinkriegen wollen -«, sagte der Alte, »die Öltonnenmarkierung geht weiter.« 15
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Mann blasiert. »Ich kann sie sehen«, erwiderte Dempsey. »Ach ja?« sagte Mann ironisch. »Sie können sie also sehen. Wie kommt's, daß ich sie nicht sehen kann und mein Kollege auch nicht?« »Ja nun, ich hab' ja auch das Fernglas dazu benutzt«, murmelte der Alte wie zur Entschuldigung. »Verdammt noch mal! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, daß Sie eins haben?« brüllte Mann den Alten an. »Aber ich habe es Ihnen doch direkt hinter Oran angeboten. Da haben Sie gesagt, Sie hätten nicht vor, in die Oper zu gehen.« »Los — weiter«, kommandierte Mann. »Ich möchte das Lager aufgeschlagen haben, bevor die Sonne im Zenit steht. Außerdem müssen wir einen erhöhten Platz suchen, an dem uns der Iwan von der Piste her sofort entdecken kann.« Der DEMPSEY DESERT TOURS-VW-Bus war mit zwei seitlichen Zeltplanen ausgestattet, die ausgespannt für eine ansehnlich große, schattige Fläche sorgten. Ferner ließ sich über das Busdach ein Nylontuch zurren, wodurch verhindert wurde, daß die Sonne direkt auf die Busoberfläche prallte. Andernfalls wäre der Wagen für uns zu der Art Backofen geworden, wie jeder hohle Metallkörper in der Wüstensonne. Die grellorange Zeltplane war meilenweit sichtbar. So war es denn auch für den Russen kein Problem, uns auszumachen. Er war Nonstop von einem südlich von Timbuktu am Niger gelegenen Schürfgelände hergefahren, fraglos eine furchtbar anstrengende Fahrt über weite Strecken schlecht markierter Pisten. Er hatte es schließlich in der brennenden Hitze des Frühnachmittages bis zu uns geschafft. Der Russe hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht und war etwa vierzig Jahre alt. Er war ziemlich groß und hager, sein kurzgeschnittenes Haar zeigte noch keine Spur von Grau. Der dunkle Anzug war ausgebeult und verstaubt - das Jackett achtlos über die breiten Schultern geworfen. Auch das rotkarierte Hemd war staubbedeckt, und der in die Brusttasche geklemmte goldene Kugelschreiber sah deshalb regelrecht verdächtig aus. Seine blaßblauen Augen waren verklebt von puderfeinem Wüstenstaub. Das ganze Gesicht war tief zerfurcht und wies merkwürdige bläuliche Male auf, wie sie bei akuten Erschöpfungszuständen des öfteren auftreten. Seine Arme waren muskulös und dunkelbraun gebrannt. Major Mann öffnete die Nylonklappe und deutete auf die hinteren Fahrgastsitze, vor die eine Tischplatte montiert war. Trotz der getön16
ten Fensterscheiben fühlten sich die Plastikbezüge der Sitze verdammt heiß an. Ich setzte mich dem Russen gegenüber und ließ ihn nicht aus den Augen. Er nahm seine Sonnenbrille ab, gähnte herzhaft und kratzte sich mit dem Autoschlüssel an der Nase. Es war ganz typisch für Manns gerissene Denkweise und für seine taktische Schulung, daß er dem Russen von vornherein keine Gelegenheit gab, sich auszuruhen. Er schob ihm sofort ein Glas und eine mit Eiswürfeln gefüllte Thermosflasche zu. Dann folgte ein vernehmliches Knacken, denn Mann hatte das Verschlußsiegel einer Halbliter-Whiskyflasche aufgebrochen und goß unserm Gast ein großzügiges Quantum ein. Der Russe blickte den Major mit einem dünnen Lächeln an, rückte den Whisky beiseite und klaubte sich statt dessen eine Handvoll Eis aus der Thermosflasche. Damit rieb er sich langsam das Gesicht ab. »Zeigen Sie mir erst mal Ihre I.D.«, sagte Mann. Um sein Gesicht zu wahren, schenkte er nachträglich sich selbst und mir etwas Whisky ein. »Was ist das-I.D.?« »Ihre IDentifikation, Ihr Paß - oder eine Bürgschaft - oder sonst was.« Der Russe zog seine Brieftasche aus der hinteren Hosentasche und entnahm ihr einen an den Rändern arg mitgenommenen braunen Pappdeckel, auf den sein Photo geheftet war. Er überreichte ihn dem Major, der ihn an mich weitergab. Es war ein Passierschein für die Militärzone entlang der Grenze zwischen Mali und Niger. Eine detaillierte Beschreibung aller charakteristischen Merkmale wiesen den Russen als Professor Andrej Mikhail Bekuv aus. Bezeichnend war, daß dieser Paß in russisch, chinesisch und auch in arabisch abgefaßt war. Ich gab ihn an Bekuv zurück. »Haben Sie das vereinbarte Photo meiner Frau?« »Das war ein zu großes Sicherheitsrisiko«, behauptete Mann. Er nahm einen Schluck von seinem Drink, doch als er ihn wieder absetzte, schien der Whisky nicht weniger geworden zu sein. Professor Bekuv schloß die Augen. »Fünfzehn Monate sind es nun, seit ich sie zuletzt gesehen habe.« Mann rutschte peinlich berührt auf seinem Sitz herum. »Bis wir in London angekommen sind, ist sie längst da.« Bekuv erwiderte mit betonter Gelassenheit, als müsse er jetzt gewaltsam einen Wutanfall unterdrücken: »Eure Leute haben mir ein Photo von ihr versprochen - ein Photo von ihr auf dem Trafalgar Square.« 17
»Das war...« »Das war unsere Abmachung!« sagte Bekuv scharf, »und Sie - Sie haben sie nicht eingehalten!« »Weil sie nicht in Kopenhagen angekommen ist«, rechtfertigte sich Mann. Bekuv blieb eine ganze Zeit lang stumm. »War sie auf dem Schiff von Leningrad?« fragte er schließlich. »Mein Gott, Sie werden doch wohl die Passagierliste überprüft haben!« »Wir wissen nur, daß sie mit dem vereinbarten Flugzeug nicht in London eingetroffen ist.« »Sie lügen!« stieß Bekuv hervor. »Ich kenne Leute wie Sie. Meine Heimat ist voll von solchen Leuten. Sie hatten doch bestimmt Ihre Männer dort, die sie in Empfang nehmen sollten!« »Sie wird noch kommen«, sagte Major Mann. »Ich komme nicht mit - ohne sie!« »Sie wird noch kommen«, wiederholte Mann. »Wahrscheinlich ist sie längst da.« »Nein!« widersprach Bekuv zornig. »Damit laß ich mich nicht abspeisen! « Er drehte sich auf seinem Sitz um, in Richtung auf die Straße, die tausend Meilen zurück nach Timbuktu und zu den Russen führte. Trotz der getönten Scheiben war der Sand nur eine einzige, gleißende Grelle. Bekuv nahm seine ramponierte Brille, die er neben seine Wagenschlüssel auf den Tisch gelegt hatte. Er fingerte nervös an ihr herum und steckte sie schließlich in seine Brusttasche. »Ohne meine Frau bin ich ein Nichts«, murmelte er gedankenverloren. »Ohne sie ist das Leben nicht lebenswert für mich!« Mann machte einen neuen Versuch: »Ihre Forschungen müssen weitergeführt werden, Herr Professor. Der Lehrstuhl für Interstellare Kommunikation an der Universität New York ermöglicht Ihnen jederzeit den Zugang zum Joddrell-Bank-Radioteleskop, dem schwenkbaren 250-Fuß-Parabolspiegelteleskop - aber das kennen Sie ja längst. Doch außerdem will die Universität für Sie einen Termin für das 1000 Fuß hohe, feststehende Radioteleskop in den Bergen von Puerto Rico nahe Arecibo vereinbaren.« Bekuv gab keine Antwort, machte dagegen auch keine Anstalten aufzubrechen. Ich sah zu Mann hinüber, der mir seinerseits in die Pupillen starrte, mit einem eiskalten Blick, der augenscheinlich darauf angelegt war, mich zu einem leblosen Etwas einzufrieren. Jetzt ging mir überhaupt erst ein Licht auf, daß Manns abgeschmackte Witze über die kleinen Männchen in den fliegenden Untertassen gar keine Witze waren. 18
»Es gibt weit und breit niemanden, der diese Art Kosmologie so beherrscht wie Sie«, fuhr der Major fast beschwörend fort. »Selbst wenn es Ihnen nicht gelänge, mit Lebewesen aus anderen Sonnensystemen Kontakt aufzunehmen, hätten Sie immerhin dadurch auch einen definitiven Nachweis erbracht, und wir könnten das Ganze ad acta legen.« Bekuv blickte herablassend auf den Major nieder. »Es gibt bereits jetzt genügend Beweise, um selbst den größten Einfaltspinsel zu überzeugen.« »Professor. Sie wissen, daß dieser Lehrstuhl für Interstellare Kommunikation erst vor ganz kurzer Zeit eingerichtet wurde. Falls Sie ihn nicht annehmen, wird von neuem ein erbitterter Kampf um ihn ausbrechen... und das nächste Mal werden wahrscheinlich die Skeptiker ihren Kandidaten durchbringen. Professor Chataway und der alte Delahousse zum Beispiel würden ja nur zu gern die Gelegenheit beim Schöpf packen und nachweisen, daß nirgendwo sonst im Weltraum Leben existiert.« »Hornochsen«, sagte Bekuv geringschätzig. Mann verzog das Gesicht und zuckte unbeteiligt mit den Schultern. Bekuv griff sein altes Thema wieder auf: »Ich habe eine wunderschöne Frau ... durch all die Jahre hat sie treu zu mir gestanden ... die anbetungswürdige Mutter meines vielversprechenden Sohnes, der bald auf die Universität kommt. Nichts in der Welt bedeutet mir mehr als diese beiden!« Mann nippte wieder an seinem Drink, doch diesmal trank er wirklich. »Angenommen, Sie kehren jetzt nach Timbuktu zurück, und Ihre Frau wartet inzwischen in London auf Sie - was dann, ha?« »Das Risiko muß ich auf mich nehmen«, sagte Bekuv verbissen. Er glitt von seinem Platz und stieg aus dem VW. Doch dann blieb er stehen. Das Licht der Nylonzeltbahnen gab ihm ein grelloranges Aussehen. Mann zuckte mit keinem Muskel. »Machen Sie mir doch nichts vor, Bekuv!« rief er. »Sie haben ja gar nicht vor zurückzufahren. Sie haben Ihre Entscheidung schon vor Jahren getroffen - und jetzt haben Sie überhaupt keine Wahl mehr! Los - gehen Sie doch zurück zu Ihren werten Genossen - man wird Sie wie ein Tier behandeln und mitten in der Wüste anpflocken, und man wird Sie bestimmt nicht nur mit angeschimmelten Piroschki beschießen! « Bekuv schwieg. 19
»He - Sie haben Ihre Autoschlüssel bei uns liegenlassen, Professor!« Mann versuchte es nun ganz drastisch — mit Hohn. Bekuv fing die Schlüssel, die ihm Mann zuwarf, schweigend auf, und doch tat er immer noch nicht den entscheidenden Schritt aus dem Schatten. Das plötzliche Summen einer Fliege hörte sich in der absoluten Stille unnatürlich laut an. »Herr Professor, es liegt doch auch in unserem Interesse, daß Sie und Ihre Familie zusammen sind«, schaltete ich mich ein. Bekuv zog ein Taschentuch heraus und wischte sich den Sand aus den Augenwinkeln. Er gab mit keinem Zeichen zu erkennen, daß er mich gehört hatte. »Wenn ich Sie beide recht verstanden habe, dann gibt es doch für Sie als Wissenschaftler noch verdammt viel zu tun. Ich würde jede Wette eingehen, daß die amerikanische Regierung alles in ihrer Macht Stehende beitragen wird, um Sie in jeder Hinsicht zufriedenzustellen.« »Eben, nur das in ihrer Macht Stehende...«, erwiderte Bekuv trübe. »Es gibt immer Mittel und Wege«, fuhr ich fort. »Es gibt sowohl den offiziellen Austausch wie auch Ausreisen unter der Hand. Und denken Sie an die Geheimabkommen zwischen den Regierungen, über die wir kaum je etwas erfahren. Die Handelsabkommen, die Anleihen, die Getreidelieferungen ... all diese Vereinbarungen enthalten eine Menge von Geheimklauseln, die eigens den Austausch von Menschen zum Inhalt haben.« Bekuv bohrte die Spitze seines Schnürstiefels in den Sand und begann, ein kompliziertes Muster sich kreuzender Linien zu zeichnen. Mann beugte sich im Sitz vor und legte begütigend die Hand auf des Russen Schulter. Der aber zuckte gereizt zurück. »Sehen Sie es doch mal von unserer Warte, Professor«, sagte Mann mit einer Stimme, die er selber wahrscheinlich für äußerst sympathisch und einschmeichelnd hielt. »Wenn Ihre Frau freikommt, dann werden wir sie Ihnen postwendend zuführen - ist doch klar, oder nicht? So besehen können Sie also getrost mit uns fahren. Falls sie jedoch gefangengehalten wird ...«, er machte eine vielsagende Pause, »... da wäre es ja purer Wahnsinn von Ihnen umzukehren.« Er klopfte nochmals aufmunternd auf Bekuvs Schulter. »So ist nun mal die Lage, Professor.« »Merkwürdig - diese Woche war kein Brief von ihr dabei«, sagte Bekuv sichtlich beunruhigt. 20
Der Major blickte ihn erwartungsvoll an, äußerte sich aber nicht dazu. Ich kannte das alles schon. Menschen wie Bekuv sind denkbar ungeeignet für die Praktiken des Frontenwechsels — ganz zu schweigen von dem Streß eines jahrelangen konspirativen Verhaltens, das ständig die Sicherheit seiner Familie gefährdet hatte. Die zermürbende Fahrt durch die Sahara hatte ihm den Rest gegeben; die Grenze seiner Belastbarkeit war erreicht. Sein größter Fehler war freilich, daß er inbrünstig auf den Augenblick zu warten schien, wo alles vorbei war - wo alles hinter ihm lag; ein Mann vom Fach würde sich diese Illusion nie erlauben. »Oh Katrinka!« flüsterte Bekuv verzweifelt vor sich hin, »und du, mein geliebter Sohn! Was habe ich euch beiden angetan? Was hab' ich nur getan?« Ich regte mich nicht, auch Mann nicht. Bekuv stieß die Nylonkappe auf und trat hinaus in die brütende Hitze. Dort blieb er lange Zeit unbeweglich stehen.
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KAPITEL 3
Als nächstes Problem stellte sich uns nun die Frage, wie wir Bekuvs fahrbaren Untersatz am besten loswerden konnten. Es handelte sich um einen russischen Geländewagen mit Vierradantrieb, Typ GAZ 59 A, ein mehr als nur leicht aus dem Rahmen fallendes Vehikel - Planenverdeck, kantig-plumpe Karosserie, deutlich durch die Sitzbezüge hindurchscheinende Sprungfedern. Verbuddeln ließ er sich beim besten Willen nicht, und wenn wir ihn in Brand gesteckt hätten, würden wir wahrscheinlich erst recht die Aufmerksamkeit auf uns gelenkt haben. Und das wollten wir ja unter allen Umständen vermeiden. Mit einem Monstrum von Schraubenschlüssel ging Mann zuerst den Nummernschildern zu Leibe und zerkratzte sodann auch das ovale Kennzeichen »R.M.M.« bis zur Unleserlichkeit, denn das hatte jeder Beschatter - sogar einer, der nicht lesen konnte - als Emblem von Mali erkannt. Major Mann traute Percy Dempsey nicht über den Weg und schon gar nicht Johnny, dem arabischen Fahrer, der das Grinsen nicht sein lassen konnte. Aber weil er selber auf keine bessere Idee kam, mußte er schließlich Johnnys Vorschlag, ihn den GAZ bei der Rückfahrt chauffieren zu lassen, wohl oder übel akzeptieren. Johnny fuhr also als erster los, und wir, das heißt Mann und ich mit Bekuv im Fond, folgten als nächste im VW-Bus. Percy bildete mit seinem alten Landrover die Nachhut. Während der Fahrt konnte es Mann nicht lassen, sich ständig prüfend nach Bekuv umzudrehen und im Rückspiegel nach Percy Ausschau zu halten. Die ganze Zeit über nörgelte er an Percy herum - der sei sein Geld nicht wert gewesen, behauptete er -, ich hätte ihn viel zu sehr in den Himmel gehoben. »Verdammte Hitze!« war alles, was ich darauf antwortete. Mann hatte für mich nur ein verächtliches Knurren übrig. Ihm erschien es wichtiger, Bekuv im Auge zu behalten - der übrigens ganz friedlich auf dem Rücksitz eingeschlafen war. »Wenn wir den GAZ doch nur hier irgendwo stehenlassen könnten«, brummte er vor sich hin. »Aber da würde die Polizei garantiert sofort Nachforschungen anstellen, ob da nicht jemand vor Durst eingegangen ist. Andererseits - je weiter wir nach Norden kommen, desto häufiger werden wir mit dieser blöden Kiste Aufsehen erregen.« 22
»Was soll's? Ignorieren wir es einfach.« »Und was ist mit der Polizei? Mir ist in ganz Algerien noch kein Auto von diesem komischen Typ unter die Augen gekommen.« »Keine Sorge«, sagte ich. »Percy hat hier draußen in der Wüste schon solche Dinge geschaukelt, als Rommel noch in den Strampelhöschen steckte.« »Müßt ihr verdammten Engländer immer wie Pech und Schwefel zusammenhalten? « »Warum übernehmen Sie nicht mal zur Abwechslung das Steuer, Major Mann?« Durch das Anhalten und Platzwechseln gerieten wir etwas in Verzug, und Johnny bekam ein paar Kilometer Vorsprung. An sich war der GAZ alles andere als ein Rennwagen. Überhaupt - er unterschied sich nur wenig von dem guten alten Ford-Modell A, das ganz offenbar als Vorlage gedient hatte. Selbst für unseren VW war es kein Problem, ihn einzuholen. Und tatsächlich kam der GAZ nach fünfundzwanzig Minuten Fahrzeit wieder in Sichtweite: Er war gerade dabei, im Schrittempo eine sanft ansteigende Düne hochzukriechen. Mann ließ, sozusagen als Lebenszeichen, die Scheinwerfer einmal kurz aufleuchten. »In dem Abstand bleiben wir von jetzt an«, sagte er und lehnte sich zufrieden zurück. Hinter uns kam nun auch Percy und sein Landrover in unser Blickfeld. »Ist Percy eigentlich so was wie 'ne Tunte?« fragte Mann aus heiterem Himmel. »Ein Homo? Sie meinen: Percy und Johnny? ... Kann ich mir nicht mal in den wildesten Träumen vorstellen.« »Doch -Percy und Johnny«, beharrte Mann. »Klingt das nicht sowieso irgendwie nach einer schmuddeligen, kleinen Bar in Tanger?« »So? Macht's das einfacher, sie sich als Homosexuelle vorzustellen?« »Solange sie ihre Arbeit ordentlich verrichten«, erwiderte Mann, »können sie von mir aus machen, was sie wollen.« Abermals schaute er prüfend in den Rückspiegel, zog gleichzeitig eine Schachtel Camel aus seiner Brusttasche, angelte sich eine Zigarette heraus und zündete sie an - und das alles mit einer Hand. Er sog mit einem tiefen Atemzug den Rauch ein, und nachdem er ihn wieder ausgestoßen hatte, sprach er mürrisch: »Wenn wir bloß schon auf dieser gottverdammten Landepiste wären, da könnten sie von mir aus machen, was sie wollen.« Und mit seinen großen, knochigen Fäusten umklammerte er das Lenkrad. »Sollen sie doch - von mir aus!« 23
Ich mußte lächeln. Der erste Hinweis über einen möglichen Seitenwechsel Bekuvs war nämlich von einem britischen Wissenschaftler gekommen, und das bedeutete, daß der britische Nachrichtendienst sich nun mit der Klebrigkeit einer Napfschnecke an den Überläufer anheften würde. Und eben mich hatte man zur Napfschnecke gemacht - und Mann schien wohl was gegen Napfschnecken zu haben. »Vielleicht hätten wir doch lieber die Nacht abwarten sollen«, meinte ich, mehr um ein anderes Gespräch in Gang zu bringen als aus einer ernsthaften Überlegung heraus. »Und wie hätten wir das der Polizei erklärt? Etwa, daß wir auf Nachtfalter Jagd gemacht hätten?« »Ach was, kein Mensch würde von der DEMPSEY DESERT TOURS eine Erklärung verlangen. Wahrscheinlich ist gerade nachts, wenn sich's abgekühlt hat, auf diesen Strecken mehr Verkehr als sonst. Wir wären höchstens laufend mit Fußgängern und Kamelen zusammengestoßen.« »Mensch - sehn Sie sich das an - Herrgottnochmal!« Ich folgte Manns starr geradeaus gerichtetem Blick, konnte jedoch nichts Außergewöhnliches vor uns entdecken. Ehe ich gewahr wurde, daß er in Wirklichkeit in den Rückspiegel sah, war es bereits zu spät. Mann riß das Lenkrad herum, und wir steuerten bedrohlich schwankend in einer dichten Staubwolke aus der Spur. Der Aufschrei hinter uns besagte, daß Bekuv etwas unsanft geweckt worden war: Er war vom Rücksitz mit aller Wucht auf den Boden geschleudert worden. Ich hatte das Düsentriebwerk des Hubschraubers schon im Ohr, ehe ich ihn sichtete. Vor meinen Augen sah ich den GAZ plötzlich in einem Sandgestöber und in einem grellen Aufblitzen verschwinden unmittelbar darauf entstand an der gleichen Stelle ein seltsames Gebilde, das wie ein gigantischer, schmelzender Tropfen ausschaute, der langsam stärker und stärker anschwoll, bis er auf einmal zu einem glutroten Ballon wurde - in dem Moment, als sich der Treibstoff in einer gewaltigen Detonation entzündete. Der aufsteigende Qualm wurde von den rotierenden Klingen des Hubschraubers erfaßt und in einzelne Wölkchen zerhackt, die nun wie ein indianisches Rauchsignal eins über dem anderen in der Luft hingen. Und dann ging das winselnde Geknatter des Hubschraubers in ein tuckerndes Dröhnen über - er war im Abstand von ein paar knappen Metern über uns hinweggefegt. Die Plexiglasblase blitzte kurz in der Sonne auf, um Haaresbreite 24
verfehlten die säbelnden Rotorspitzen eine Düne: Der Helikopter war in Schräglage in die Kurve gegangen. Sekunden später war er außer Sicht. Als mir das Motorengedröhn von neuem in den Ohren donnerte, lag ich bereits vierzig Meter von der Piste entfernt flach auf dem Bauch und versuchte, meinen Kopf in den Sand zu graben. Direkt über der Straße machte der Pilot eine rechtwinklige Schwenkung auf den brennenden GAZ zu. Er umkreiste ihn mehrmals, drehte ab, kam wieder zurück, bis er von der ordnungsgemäßen Ausführung seines Auftrags restlos überzeugt war. In einer eleganten Kehrtwendung nach Osten entzog er sich bei seiner geringen Höhe in Sekundenschnelle unseren Blicken. »Wie haben Sie das so schnell gemerkt?« fragte ich Mann beeindruckt. »Die Art, wie er über der Piste hing. Ich kenne Kampfhubschrauber von Vietnam her. Ich wußte sofort, was er vorhatte.« Er schüttelte den Staub von seiner Hose. »Alles O.K., Professor?« Bekuv nickte - allerdings irgendwie ein wenig irritiert, fand ich. Offenbar hatte dieses Ereignis ihm die letzte Hoffnung genommen, durch seine reumütige Rückkehr nach Mali und mit einer kleinen, freundlichen Geste alles rückgängig machen zu können. »Wir sollten schleunigst machen, daß wir hier wegkommen, sonst haben wir die Polizei am Hals. Die wird hier nämlich bestimmt bald aufkreuzen und in dem Schutthaufen da vorn das Unterste zuoberst kehren.« Mann schaltete in den ersten Gang zurück, als wir durch den dichten Qualm und den penetranten Gestank von Gummi und verkohltem Fleisch hindurchfuhren. Bekuv und ich sahen zurück, um uns zu vergewissern, daß es für den Jungen nicht die geringste Überlebenschance gegeben hatte. Mann gab sofort wieder Gas, doch ich bemerkte, daß der Landrover hinter uns zum Stehen kam. Der Major blickte kurz in den Rückspiegel: er hatte es also auch gesehen. »Wozu hält der alte Trottel?« Ich gab keine Antwort. »Haben Sie Watte in den Ohren, oder was ist?« »Er will den Jungen beerdigen.« »Du liebe Zeit! Hat Dempsey den Verstand verloren?« »Das ist in der Wüste von alters her so üblich.« »Und wenn die Polente ihn bei seiner feierlichen Grabrede erwischt, was dann? Meinen Sie, das wäre alles, was Dempsey ihnen erzählen wird - daß er das Brauchtum aufrechterhält?« 25
»Davon bin ich überzeugt.« »Ach, Quatsch! Sie werden ihn tüchtig in die Zange nehmen. Sie werden den Alten auf den Kopf stellen, bis ihm zum Schluß ein paar Sachen aus dem Mund fallen - ich wette, nicht nur die Zahnprothese, sondern was noch?« »Nichts!« »Doch - wir!« sagte Mann und starrte weiter in den Rückspiegel. »Dieser blöde, sentimentale Homo!« »Schätzungsweise haben wir noch zwanzig Kilometer bis zur Abzweigung in Richtung Landepiste.« »Na -wer weiß? Vielleicht hat der Kampfhubschrauber unserm Pilotenfritzen einen solchen Schreck eingejagt, daß er jetzt die Hose bis oben hin voll hat und zurück nach Marokko abgeschwirrt ist.« »Wahrscheinlich ist unser Mann im Moment überhaupt erst dabei, sein Logbuch zu fälschen. Schließlich ist er bloß knapp fünfzehn Minuten Flugzeit von uns entfernt.« »O.K., O.K., O.K.«, sagte der Major gereizt. »Kommen Sie mir jetzt bloß nicht noch mit den dämlichen Dünkirchen-Durchhalteparolen!« »Denken Sie bitte rechtzeitig an die Markierung für die Abzweigung, es waren ja nur ein paar aufeinandergepackte Steine, und der Treibsand ist weitergewandert, seit wir hier heruntergefahren sind.« »Übrigens war kein Spaten im Landrover«, sagte Mann. »Glauben Sie, er begräbt ihn mit bloßen Händen?« »Bitte etwas langsamer - der Steinhaufen ist hier vorn auf meiner Seite.« Vom Nordwesten her hüpfte über die Dünen ein Flugzeug heran. Es war eine der Dornier-Skyservant-Kurzstreckenmaschinen, die als Charterflugzeug marokkanische Verwaltungsbeamte, Politiker und Techniker hinunter zu den nahe der algerischen Grenze gelegenen Phosphatgruben flogen. Denn der international ansteigende Bedarf an Phosphaten hatte den Abbau zum wichtigsten Industriezweig Marokkos werden lassen. Der Pilot setzte gleich beim ersten Landeversuch gut auf. Immerhin war es ja sein Job, auf jedem Fleckchen Erde - genauer, auf jedem Stück freien und festen Gelände - sicher niedergehen zu können. Die Maschine rollte erst direkt auf uns zu, dann ließ der Pilot den Backbordmotor aufheulen, so daß sich das Flugzeug um seine eigne Achse drehte und auf diese Weise gleich in der richtigen Position für 26
den Abflug zum Stehen kam. »Vorsicht, der Propellersog!« brüllte Mann gegen den Wind, als wäre er um mich besorgt. Manns Vater war Flugkapitän gewesen, und er selbst besaß ein Zehnjahresabonnement für die Aviation Week. Flugzeuge zeigten ihn denn auch immer sogleich von seiner allerschlimmsten Seite. Zunächst einmal klopfte er liebevoll auf die Metallaußenhaut, ehe er durch die Luke ins Innere kletterte. »Klassedinger, diese Dorniers!« rief er. »Haben Sie überhaupt schon mal früher eine zu Gesicht bekommen?« »Doch«, sagte ich. »1940 hat mein Onkel George eine runtergeholt.« »Schon gut«, sagte Major Mann indigniert. »Machen Sie wenigstens die Luke dicht.« (Nichts ging dem Major über seine Kenntnisse im Flugzeugbau.) »Los, los, machen Sie schon!« rief der Pilot, ein junger Schwede mit einem für meine Begriffe zu lang herabhängendem Schnauzbart. Auf seinem Bizeps war »Elsa« tätowiert. Ich stieß Bekuv unsanft vor mir her. Es waren etwa ein Dutzend Sitze da, und Mann hatte sich natürlich direkt neben der Tür niedergelassen. »Beeilung!« drängte der Schwede. »Ich muß auf meine Route zurück und Zeit aufholen!« »Casablanca?« fragte Mann. »Ja - Bauchtanz und Hammel-Couscous inbegriffen!« schrie der Schwede und riß die Gashebel auf volle Leistung, noch ehe ich dazu gekommen war, die Luke zu schließen. Die Startbahn, von der jetzt die Dornier steil aufwärts stieg, befand sich auf einem Gelände, das die Leute vom Straßenbau irgendwann mal aufgegeben hatten. Nun standen nur noch leere Öltonnen haufenweise aufeinandergestapelt herum, dazu ein paar Markiersteine und die nackten Fahrgestelle zweier Traktoren - alles andere hatten die Beduinen weggeschleppt. Aber - da sah ich noch etwas - einen nagelneuen, roten VW-Bus mit der Aufschrift DEMPSEY DESERT TOURS. Er stand in der flachen Senke eines Wadis. »Mist! Jetzt ist uns dieser Landeplatz auch flötengegangen«, sagte Mann erbittert. »Sobald die Polizei den VW entdeckt hat, wird sie das Gelände auf ewig überwachen.« »Dempsey wird den Bus vorher weggeschafft haben«, sagte ich. »Für Sie, ist Ihr Freund Percy wohl so ein richtiger kleiner Lawrence von Arabien, was?« 27
»Jedenfalls wäre er auch allein mit diesem Auftrag fertig geworden«, erwiderte ich. »Es war reiner Blödsinn, uns auch noch herunterzuschicken.« »Also wirklich! Manchmal sind Sie dümmer, als die Polizei erlaubt!« schnaubte Mann und blickte hastig nach hinten, um sicherzugehen, daß Bekuv nicht zuhörte. »Wieso denn?« »Mensch, überlegen Sie doch mal—falls der Professor wegen seiner besseren Hälfte sich die Seele aus dem Leib schreit - da wird sich einer von uns beiden wohl oder übel auf den Weg machen müssen und sie ihm besorgen.« »Dafür haben sie doch ihre Spezialisten«, meinte ich. »Ach Quatsch! Dafür brauchen sie jemanden, der den Professor kennt — das wissen Sie Naivling genauso gut wie ich — einen, der hier mit von der Partie gewesen ist, der mit der Frau darüber sprechen kann, damit ihr das Ganze auch überzeugend vorkommt!« »Na, dann gute Nacht - ganz schön lebensgefährlich«, sagte ich. »Allerdings!« bestätigte Mann und nickte nachdenklich mit dem Kopf. »Denn wenn die Russen solche Dinger drehen und mit einem Kampfhubschrauber am hellichten Tag in dieser gottverlassenen Gegend herumkutschieren und ein Auto so mir nichts, dir nichts in die Luft sprengen, dann werden sie natürlich auch die gute Madame Bekuv nicht ganz ohne Widerstand aus ihren Klauen lassen.« »Aber wahrscheinlich haben sie jetzt Bekuv als tot abgeschrieben«, gab ich ihm zu bedenken. Der Major drehte sich um und warf einen prüfenden Blick auf den Professor, der sich total erschöpft auf einen Sitz geworfen hatte - sein Kopf hing kraftlos über die Lehne nach hinten, seine Augen waren geschlossen, der Mund offen. »Sieht fast so aus«, bemerkte er trokken. Inzwischen war der Hohe Atlas sichtbar. Die Berge waren fast ganz in den Glutflimmer getaucht, der von der ausgebleichten Wüste unter uns aufstieg. Doch darüber konnte man die schneebedeckten Spitzen der einzelnen Gipfel deutlich unterscheiden. Demnach mußten wir also auch bald den Atlantik sehen.
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KAPITEL 4
Ich habe nie herausbekommen, ob die Universität New York je gemerkt hat, daß sie um den Lehrstuhl für Interstellare Kommunikation bereichert worden war. Eines ließ sich jedoch in dieser Hinsicht mit Bestimmtheit feststellen - Presseberichte und Analysen darüber gab es nicht. Das Gebäude, in dem wir uns häuslich niedergelassen hatten, befand sich auf dem Washington Square, den Universitätsgebäuden genau gegenüber, wenn auch Baumgruppen den direkten Blick dorthin ziemlich versperrten. Es war bereits seit vielen Jahren unter dem Decknamen einer Grundstücksagentur im Besitz der CIA und hatte schon für die verschiedensten Geheimvorhaben hergehalten, einschließlich außerehelicher Sonderaktionen gewisser Abteilungsleiter des Amtes. Rein technisch gesehen trug Major Mann die Verantwortung für Bekuvs Sicherheit, was natürlich eine höfliche Umschreibung für Schutzhaft war, worauf übrigens Bekuv selber mindestens dreimal täglich anspielte. Aber gerade Manns offenkundige Rolle als offizieller Aufpasser machte es andererseits erst möglich, Bekuv ganz davon zu überzeugen, daß es sich bei dem Team, dem er hier Rede und Antwort stand, um Akademiker der NYU handelte - als solche nämlich hatten sich seine Befrager vor ihm ausgegeben. Die erste Hürde war für sie, Bekuv, so weit es ging, von der Diskussion über die administrative Seite seines zukünftigen Amtes abzulenken. Natürlich liegt es einfach in der Natur der Sache, daß sich ein Akademiker aus der Sowjetunion eben für alles interessiert - angefangen von der Frage, wieviel Quadratmeter sein Institut umfassen würde, welche Gelder zur Verfügung stünden, wieviel Büropersonal ihm zustehe, wie weit sein Stimmeinfluß innerhalb der Universität reiche, bis hin zu der Frage, wieviel Studenten und Jungakademiker sich bei ihm immatrikulieren dürften. Das Frageteam allerdings wurde von Tag zu Tag mißmutiger. Der Verdacht, daß wissenschaftliche Forschungsergebnisse ständig weiter in den Osten durchsickerten, drückte sich in immer zahlreicheren, krittelnden Memoranden aus, die sich in meiner Akte »Geheimsachen-Eingang« stapelten. Als Assistenten des Professors getarnt, hatten sich die Ermittler eigentlich erhofft, durch die Eigenart irgendeiner Einzelinformation, 29
die Bekuv erwähnen würde, auf die amerikanische Quelle zu stoßen, die von den Russen angezapft worden war. Mit diesem Ziel vor Augen hatte man vor langem eigens für diesen Zweck beauftragte Angestellte in den verschiedensten Forschungszentren der Regierung mit Daten versorgt, die sich alle nur in einem geringfügigen Punkt voneinander unterschieden. Aber bis jetzt war nicht eine einzige dieser in Umlauf gesetzten Informationen über des Professors Lippen gekommen. Und nun hatte Professor Bekuv zudem noch - trotz heftigen Protests seitens seiner »Mitarbeiter« - ganz plötzlich von heute auf morgen den Beginn der Weihnachtsferien anberaumt! Mit schroffer Unnachgiebigkeit hatte er sie zu Weib und Kind nach Hause geschickt! Und kaum war er allein, machte er sich sofort mit Feuereifer daran, einen Berg aus elektronischem Gerumpel zu entwerfen, das Millionen Dollar kosten und mit absoluter Sicherheit endlich den Kontakt mit einer der Super-Zivilisationen herstellen würde, die alle rund um uns im All saßen und nur darauf warteten, angesprochen zu werden. Gegen Donnerstag abend fiel auf die Bäume des Washington Square der erste Schnee, und die Werbefachleute der Radio- und Fernsehstationen fingen an, die verbliebene Zeit für den Weihnachtseinkauf nur noch nach Stunden zu berechnen. Mann sah mir ungeduldig beim Rasieren zu. Ich war dabei, mich für eine dieser berühmt-berüchtigten Park-Avenue-Partys in der Wohnung eines höheren Sicherheitsbeamten der Vereinten Nationen fertig zu machen. Eine hastig hingekritzelte Fußnote am unteren Rand der gravierten Einladungskarte hatte mir nahegelegt, auch den »gezähmten Iwan« mitzubringen. Das hatte natürlich den Major in fieberhafte Unruhe versetzt. »Sagen Sie - hat dieser Tony Nowak Ihnen auch wirklich die Einladung über die Britische Botschaft in Washington geschickt?« fragte er mich jetzt bereits zum vierten oder fünften Male. »Mein Gott, Sie kennen doch Tony«, seufzte ich. »Man kann ihm nachsagen, was man will - aber taktlos ist er ganz bestimmt nicht. Schließlich hat er langjährige UN-Erfahrung.« »Dieser verdammte Verein von schwatzhaften Wichtigtuern!« »Glauben Sie etwa, daß Nowak über das Haus auf dem Washington Square Bescheid weiß?« »Auf jeden Fall müssen wir Bekuv morgen woanders unterbringen.« »Tony hält den Mund, wenn's drauf ankommt.« 30
»Tony interessiert mich einen Scheißdreck«, sagte der Major grob. »Aber wenn er in Erfahrung gebracht hat, daß wir beide hier sind, da können Sie Gift drauf nehmen, daß es mindestens ein Dutzend von UN-Vertretern ebenfalls weiß.« »Na gut, wie war's also mit Kalifornien - U.C.L.A. - University College of Los Angeles?« Ich wühlte durch meine letzten weißen Leinenhemden. Im übrigen trug ich neuerdings der Einfachheit halber bügelfreie Hemden - jetzt schwammen sie schon seit Tagen zu Dutzenden in der Badewanne. »Und wie war's mit Sing-Sing?« schlug der Major vor. »Ich glaube nämlich, daß Bekuv uns hinhält - vorsätzlich hinhält und vorhat, so lange mit uns Katz und Maus zu spielen, bis wir ihm seine Katrinka nachgeliefert haben.« »Dann glauben wir ja mal beide dasselbe, zur Abwechslung«, sagte ich und knöpfte das Hemd zu, zu dem ich eine vornehme Klubkrawatte ausgewählt hatte. Denn wahrscheinlich würde es die Sorte Party sein, bei der man am besten »auf englisch« ankam. »Ich werde diesem Scheißkerl von Russen noch eigenhändig die Zehennägel ausreißen!« drohte der Major grollend. »Übertreiben Sie doch nicht immer so schrecklich«, sagte ich. »Mit solchen Scherzen verdirbt man sich nur seinen guten Ruf.« Ich hatte mittlerweile eine fast krankhafte Freude daran, den Major zu provozieren. Er reagierte auch diesmal so, wie ich's mir vorgestellt hatte: Er drückte seine Zigarre aus und steckte sie anschließend in seinen Jim-Beam-Bourbon - wenn man ihn kannte, wußte man, wie nah das an Selbstzerfleischung grenzte. Ich fuhr mit dem Kamm durchs Haar - Mann sah auf seine Uhr. »Vielleicht lassen Sie heute mal ausnahmsweise die falschen Wimpern weg«, sagte er. »Um acht Uhr müssen wir Bessie abholen.« Bessie, Major Manns Frau, sah aus wie zwanzig, obwohl sie sicher auf die vierzig zuging. Sie war groß und schlank und hatte einen frischen Teint, der wohl noch aus ihrer Kindheit auf einer Farm in Wisconsin stammte. Wenn auch das Wort »Schönheit« etwas zu hoch gegriffen war, so sah sie doch immerhin so zauberhaft aus, daß sich alle Männer nach ihr umdrehten, als sie das Appartement in der Park Avenue betrat, wo die Party stattfand. Tony begrüßte uns herzlich und nahm geschickt drei gefüllte Champagnergläser vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners. »Also, jetzt kann die Party steigen«, sagte Tony Nowak - oder Nowak der Polack, wie ihn ein gewisser Bekanntenkreis boshaft titulier31
te, der für seinen resoluten, manchmal sogar gewissermaßen mit Nagelstiefeln gewaltsam erzwungenen Aufstieg von der Gosse bis in die sogenannte bessere Gesellschaft kein rechtes Verständnis aufbrachte. Denn Antony Nowaks Stellung beim UNO-Sicherheitsdienst bestand nicht etwa darin, daß er mit einer Schirmmütze im Foyer stand und mit einem kleinen Metallspürgerät die Handkoffer kontrollierte - nein, Tony hatte ein sechsstelliges Jahreseinkommen, ein Büro mit drei Fenstern und Blick auf den Hast River und obendrein einen ganzen Stall von Bürokräften, die in seinem Namen laufend Briefe in dreifacher Ausführung tippten - kurz, er war, im UN-Jargon ausgedrückt, ein Senkrechtstarter. »Also, jetzt kann die Party ja steigen«, wiederholte Tony noch einmal. Er küßte Bessie, nahm Mann den Hut ab und versetzte mir einen Boxhieb auf den Arm. »Schön, daß ihr kommen konntet Gott, seid ihr Kerle braun geworden in Miami!« Ich nickte höflich, und Major Mann versuchte ein Lächeln, das ihm jedoch mißlang. Es blieb ihm im Moment nichts weiter übrig, als seine Nase ins Champagnerglas zu stecken. »Man munkelt, du willst dich pensionieren lassen, Tony«, sagte Bessie. »Na, du müßtest es doch wohl besser wissen - daß ich noch längst nicht zum alten Eisen gehöre!« Er blinzelte ihr zu. »Vorsicht, Tony!« lachte Bessie. »Oder legst du's etwa darauf an, daß mein Alter Wind davon bekommt?« »Und wenn schon, du warst schließlich mutterseelenallein, während er sich in Miami herumgetrieben hat, wie man sieht«, konterte Tony. »Nur Höhensonne«, sagte der Major steif. »Von Bloomingdales, vierundfünfzig Dollar neunundneunzig, zusammen mit drei Sonnenbrillen.« »Dann haben Sie mich ganz schön reingelegt. Ich hätte eher gedacht, die Farbe wäre aufgespritzt.« Hinter uns ertönte ein melodisches Klingeln, und ein Dienstmädchen öffnete die Tür. Tony hielt noch immer Bessie liebevoll am Arm, doch als er die neuen Gäste zu Gesicht bekam, ließ er von ihr ab und strahlte: »Ah - meine Freunde vom Sekretariat!« »Los, gehen Sie schon, sonst verpassen Sie noch die High-Snobiety da hinten«, sagte der Major spöttisch. »Ich habe den Eindruck, daß Liz Taylor dringend Ihre Hilfe braucht.« »Sie wären da freilich nicht ganz der Richtige«, grinste Tony. Ahn32
lich flotte Komplimente pflegte er immer ins Gespräch einzuflechten, wenn er nicht gerade mit dem Aufzählen prominenter Gäste beschäftigt war, die tatsächlich seine Partiex frequentierten. »Mir ist schleierhaft, wieso er uns eingeladen hat«, sagte ich kopfschüttelnd zu Mann. Mann knurrte nur. »Oder sind wir >geschäftlich< hier?« »Warum - wollen Sie Überstunden bezahlt kriegen?« »Ich will nur wissen, was los ist.« Aus einer dunklen Ecke des Vestibüls drang die Art von schleppender Klaviermusik zu uns herüber, die dem Pianisten zwischen den Takten Zeit für einen Schluck Martini läßt. Mann war inzwischen bis zu dem chinesischen Wandschirm geschlendert, der das Foyer vom Speisezimmer trennte. Dort blieb er stehen, um sich einen Stumpen anzuzünden. Er ließ sich Zeit, so daß wir in aller Ruhe Umschau halten konnten. »Verhandlungen«, sagte der Major leise. »Verhandlungen - wer mit wem?« »Eben«, erwiderte Mann und sog an seinem Stumpen. Dann packte er mit eisenhartem Griff meinen Arm und erzählte mir übergangslos von irgendwelchen Leuten, die er schon von früheren Parties her kannte. Das Speisezimmer war vollständig ausgeräumt worden, und man hatte sechs Backgammon-Tische aufgestellt, an denen stumme Spieler im Gedränge der Zuschauer konzentriert um hohe Einsätze würfelten. Ein dichter Menschenhaufen umstand einen Spieltisch ganz hinten im Raum, an dem ein ältlicher Fabrikant von Ultraschall-Einbruchsalarmanlagen und eine atemberaubende, rothaarige Schönheit sich schweigend gegenübersaßen. »Das ist der Typ von Frau, der mich reizen könnte«, seufzte Mann. Bessie gab ihm einen sanften Rippenstoß. »Und so was wagt er vor mir zu sagen!« wandte sie sich an mich. »Stoß mich nicht, wenn ich französischen Champagner schlürfe«, protestierte der Major. »Na warte - wenn du einheimischen trinkst...«, drohte Bessie. Inzwischen war uns Tony mit einer Zweiliter-Champagnerflasche gefolgt und begann, uns allen die Gläser randvoll nachzugießen. Dabei summte er gut gelaunt die Melodie von »Alligator Crawl« vor sich hin - übrigens weit schwungvoller, als der Pianist es je zustande gebracht hätte - und verstieg sich plötzlich sogar zu einer komischen, kleinen Stepeinlage, bevor er daranging, weiter Gläser nachzufüllen. 33
»Tonys Aufmerksamkeit heute ist ja kaum zu überbieten«, meinte ich. »Er wird einfach Angst haben, euch zwei aus den Augen zu verlieren«, erwiderte Bessie. »Wahrscheinlich liegt ihm die Erinnerung noch im Magen, wie ihr damals mit den betrunkenen Musikern aus dem Village in seine vornehme Party hineingeplatzt seid und sie Knall auf Fall in eine Orgie verwandelt habt.« »Trotzdem - ich bleibe dabei, daß es Tonys Vetter Stephan war, dieser dreckige kleine Doppelagent, der die Spaghetti ins Klavier gekippt hat — und nicht wir«, verteidigte sich Mann. Bessie lächelte maliziös und deutete mit dem Finger auf mich: »Das letzte Mal, als wir dieses Thema anschnitten, bist du der Sündenbock gewesen.« Mann setzte ein Vampirgesicht auf und tat, als wolle er nach Bessies Kehle schnappen. »Ach, immer diese leeren Versprechungen!« sagte Bessie und drehte sich nach Tony um. Sie schaute ihm zu, wie er sich gewandt von einem Gast zum anderen schlängelte. Mann betrat das Speisezimmer, und ich folgte ihm. Der Raum war chinesisch ausgestattet - Laternen, vergoldete Buddhas und kostbare Miniaturen, auf denen sich orientalische Pärchen in akrobatischen Stellungen umschlangen - aber natürlich war das Ganze von hohem Niveau. »Die da hinten ist Red Bancroft«, flüsterte Mann und hielt seinen Blick starr auf die rothaarige Schöne gerichtet. »Sie ist internationale Klasse - geben Sie gut acht!« Er drängte sich, mit mir im Schlepptau, rücksichtslos durch die Menge der Zuschauer, bis er einen Platz ergattert hatte, von wo wir das Spiel genau beobachten konnten. Wir blieben stehen und schwiegen. Wenn die junge Dame ihr Spiel extra verzögerte, dann ging das hier weit, sehr weit über das hinaus, was ich unter Backgammon verstand, wo man möglichst jeden ungedeckten Stein des Gegners abschießt und im übrigen macht, daß man sein Zielfeld erreicht. Die Rothaarige dagegen ließ ihre Steine einzeln stehen und bot sich damit ihrem Gegner praktisch an. Vielleicht war das ihre Methode, den ändern aus ihrem Zielfeld zu locken. Andererseits schien sie nicht daran zu denken, es durch Häuser oder Bänder dichtzumachen. Ich fand ihr Spiel eigentlich planlos, denn ihre Steine waren über das ganze Spielfeld verteilt — alle ungedeckt. Zwei waren bereits abgeschossen worden, sie mußte sie also erst wieder ins Spiel bringen, bevor sie weiterspielen konnte. Was Manns Bemerkung betraf - nun, ich hielt ihre Taktik eher für ziemlich dilettantisch. Die Rothaarige lächelte, als ihr bejahrter Gegner nach dem Ein34
satzwürfel griff und ihn zwischen seinen Fingern drehte und wendete, als könne er dadurch seine Gewinnchancen abtasten. Endlich setzte er ihn. Hinter mir hörte ich Geraune - die Menge war überrascht, wie hoch er gesetzt hatte. Wenn die Rothaarige jetzt vielleicht auch bestürzt war, sie ließ es sich jedenfalls nicht anmerken. Ihr Lächeln war jedoch um eine Spur zu sorglos und hielt sich um eine Spur zu lange auf ihrem hübschen Gesicht. Freilich gehört neben Geschick genausoviel Glück wie Bluff zum Backgammon, und die Rothaarige tat nun wie gelangweilt und gähnte und hob die Hand, um es zu verbergen. Diese kleine Geste brachte übrigens ihre Figur recht vorteilhaft zur Geltung. Dann nickte sie zustimmend. Der ältere Herr schüttelte die Würfel noch länger und heftiger als vorher, und ich bemerkte, daß sich seine Lippen bewegten - wie zu einem Gebet. Er hielt den Atem an, als die Würfel über das Brett rollten. Wenn es ein Gebet gewesen war, dann wurde es prompt erhört - Doppel-Sechs! Er schaute die Rothaarige von unten her an. Sie lächelte so, als gehöre das zu ihrem Plan. Der Mann starrte lange überlegend aufs Spielfeld, ehe er seine Steine bewegte. Sie nahm die Würfel und warf sie achtlos hin, und doch veränderte sich ihre Spielweise von diesem Augenblick an ganz drastisch. Das Zielfeld ihres Gegners war noch völlig frei, sie konnte also ohne weiteres ihre beiden geschlagenen Steine plazieren. Mit dem nächsten Wurf begann sie ihr eignes Zierfeld, in das sie scheinbar planlos einzelne Steine hineingebracht hatte, korrekt auszubauen. Eine Vier und eine Drei - das war alles, was sie brauchte, um alle sechs Plätze zu besetzen. Und damit hatte sie ihren Gegner blockiert. Nun hätte er dringend einen hohen Wurf benötigt, aber zu diesem Zeitpunkt schienen auch Gebete nichts mehr zu nützen, denn sie hatte jetzt das Spiel, Wurf für Wurf, für sich allein. Ihr Gegner zündete sich mit gekünstelter Umständlichkeit eine Zigarre an und mußte eine Zeitlang hilflos zusehen, wie das Spiel zu ihren Gunsten weiterlief. Erst als sie mit dem Abnehmen der Steine begann, konnte er sich wieder einschalten. Jetzt nahm sie ihrerseits den Einsatzwürfel in die Hand, und sie erhöhte - auch das gehörte zu ihrer Taktik. Der Mann sah auf die Würfel herunter und dann zu den Gesichtern seiner Freunde, die inzwischen Wetten auf ihn abgeschlossen hatten. Er grinste und gab durch ein zögerndes Nicken zu verstehen, daß er mit der Erhöhung des Einsatzes einverstanden war, obwohl ihm sicher klar war, daß nur ein paar hohe Augen im Doppel ihn jetzt noch retten konnten. Er packte 35
die Würfel und schüttelte sie frenetisch. Als sie zum Stillstand gekommen waren, zeigten sie eine Fünf und eine Eins. Er seufzte. Er hatte nicht einmal alle Steine im Zielfeld. Die Rothaarige warf eine Doppel-Fünf. Mit diesem Wurf und fünf vorher abgehobenen Steinen hatte sie das Spiel praktisch beendet. Er gab sich geschlagen. Sie lächelte, als sie die tausend Dollar in Hundertdollarscheinen in ihre krokodillederne Brieftasche mit echter Goldfassung steckte. Die Zuschauer verzogen sich. Die Rothaarige blickte zu Bessie hoch und lächelte, und dann strahlte sie auch Major Mann an. Sie hätte durchaus als Orientalin gelten können, wenn nicht ihr zarter, irischer Teint gewesen wäre. Sie hatte hohe, breite Backenknochen und einen etwas zu großen Mund. Ihre um eine Nuance zu weit auseinanderliegenden Augen waren mandelförmig, und wenn sie lächelte, wurden sie zu schmalen Schlitzen. Dieses Lächeln war es, das mir immer gegenwärtig blieb, auch als alles andere von ihr in meiner Erinnerung schon verblaßt war. Es war seltsam und irgendwie unergründlich - oft belustigt, manchmal auch geringschätzig, aber deshalb nicht weniger verführerisch, wie ich später zu meinem Leidwesen erfahren mußte. Sie hatte ein teures, in herbstlichen Farben gestreiftes Strickkleid an, und an ihren Ohrläppchen hingen winzige Ohrringe aus Jade, die genau zu ihrer Augenfarbe paßten. Bessie kam mit ihr zu mir herüber - ich hatte mich inzwischen zum Champagner und zum Büfett durchgezwängt. Kurz darauf ließ uns Bessie allein, und die junge Dame deutete auf meine Pizza und meinte: »Davon setzt man sofort Speck an.« »Tja, alles, was ich mag, scheint dick zu machen.« »Alles?« »Nun ja, so ungefähr das meiste«, sagte ich. »Übrigens, meinen Glückwunsch - Sie haben großartig gespielt.« Sie holte ein Päckchen mit Mentholzigaretten heraus und steckte sich eine zwischen die Lippen. Ich gab ihr Feuer. »Danke für das Kompliment. Aber einen Moment lang hat mich mein Gegner ganz schön aus der Fassung gebracht, kann ich Ihnen sagen.« »Das hab' ich gemerkt«, erwiderte ich. »Als Sie gegähnt haben.« »Ja, das machen die Nerven. Was hab' ich nicht schon alles versucht, mir das abzugewöhnen!« »Ach seien Sie doch froh«, sagte ich. »Es gibt nämlich auch Leute, die fangen an zu lachen, wenn die Nerven mit ihnen durchgehen.« 36
»Sagen Sie bloß - Sie lachen, wenn Sie die Nerven verlieren.« »Mein Anwalt hat mir geraten, im Augenblick keine Aussage zu machen«, sagte ich geschraubt. »Gott, wie schrecklich britisch! Meinen schwachen Punkt durchschauen Sie auf Anhieb, aber aus dem Ihren müssen Sie gleich ein Geheimnis machen!« »Bin ich nun in Ihren Augen ein männlicher Chauvinist?« »Es verringert Ihre Chancen«, sagte sie. Bald darauf ertappte sie sich schon wieder dabei, wie sie ein Gähnen unterdrückte. Allmählich amüsierte ich mich. »Kennen Sie die Manns schon lange?« lenkte ich ab. »Bessie habe ich vor vier Jahren in einem Yogakurs kennengelernt - sie wollte abnehmen, und ich versuchte, mir das Gähnen abzugewöhnen.« »Jetzt machen Sie Witze.« »Stimmt. Ich habe mit Yoga angefangen, weil...« Sie stockte und schien von der Erinnerung schmerzlich berührt zu sein. »Einmal kam ich etwas früher als sonst nach Hause, und da bin ich einer Bande von jugendlichen Einbrechern in die Arme gelaufen. Sie haben mich zusammengeschlagen - ich verlor zum Schluß das Bewußtsein. Als ich dann aus dem Krankenhaus entlassen wurde, bin ich eben auf diese Yogafarm gefahren, um mich noch etwas zu erholen. Und Bessie war zur selben Zeit da.« »Und wie sind Sie zum Backgammon gekommen?« »Durch meinen Vater. Er war ein echter Könner. Einmal ist er in Illinois ins Meisterschafts-Semifinale gekommen - tatsächlich große Klasse. Und ich habe mit Backgammon fast mein ganzes Studium finanziert. Vor drei Jahren bin ich dann ins Profilager übergewechselt. Auf diese Weise kann ich, von Turnier zu Turnier, fast die ganze Welt bereisen - es ist ja nicht saisonbedingt. Und Geld steckt darin - Geld wie Heu, denn es ist nun mal das Spiel der oberen Zehntausend.« Sie seufzte leicht. »Nun, das war vor drei Jahren - aber inzwischen habe ich lausige Zeiten hinter mir. Und ein lausiges Jahr in Seattle ist, weiß Gott, wirklich lausig, das können Sie mir glauben. Und was treiben Sie so?« »Nichts von Bedeutung.« »Na, Bessie hat mir da was ganz anderes erzählt.« »Und ich hab' gedacht, sie war' ein guter Kumpel!« »Natürlich nur Ihre guten Seiten - zum Beispiel, daß Sie Engländer sind.« 37
»Ach wirklich? Seit wann wird das denn bei den Backgammonspielern aus Illinois zu den Vorzügen gerechnet?« »Sie und Bessies Mann arbeiten zusammen in der Abteilung für Wirtschaftsanalyse bei einer Bank im Zentrum, von der ich allerdings nie gehört habe. Außerdem -« Ich legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Ach, hören Sie auf«, sagte ich. »Das ist ja nicht auszuhalten!« »Ihre Familie ist auch hier?« Sie begann jetzt mit mir ganz ungeniert zu flirten; ich hatte ganz vergessen, wie gern ich so etwas manchmal hatte. »Nein«, sagte ich. »Aber Weihnachten werden Sie doch wenigstens mit Ihrer Familie verbringen?« »Nein.« »Aber das ist ja schrecklich!« Impulsiv legte sie ihre Hand auf meinen Arm. »Ich habe keine nahen Verwandten mehr«, bekannte ich. Sie lächelte. »Ich wollte Bessie nicht danach fragen. Sie ist nämlich darauf aus, Ehen zu stiften.« »Was ist daran so schlimm?« »Einfach, daß ich kein Glück in der Liebe habe - nur Glück im Spiel.« »Und wo sind Sie zu Hause?« »Mein Zuhause - das besteht aus einem mittelgroßen SamsoniteKoffer.« »Ach ja... diese Adresse kenne ich auch recht gut. Wieso ausgerechnet New York?« Sie lächelte ein wenig. Ihre blendendweißen Zähne waren eine Spur unregelmäßig. Sie nippte an ihrem Drink. »Ich hatte von Seattle ganz einfach genug«, sagte sie. »Und da fiel mir eben New York ein. Sie drückte ihre halbgerauchte Zigarette so heftig im Aschenbecher aus, als wolle sie damit ganz Seattle dem Erdboden gleich machen. Aus dem Zimmer nebenan hörten wir den Pianisten in eine träumerische Version von »How langs has this been going on?« übergleiten. Unbewußt rückte mir Red etwas näher, hielt aber ihre Augen konstant auf ihr Glas gerichtet — wie jemand, der versucht, in einem Kristall seine Zukunft zu lesen. Der Fabrikant für Einbruchsalarmanlagen kam an uns vorbeigeschlendert und grinste. Red griff nach meinem Arm und legte den Kopf auf meine Schulter. Als er außer Hörweite war, hob sie ihr Ge38
sieht und blickte mich von unten herauf an. »Das hat Ihnen doch hoffentlich nichts ausgemacht?« fragte sie. »Ich habe ihm nämlich gesagt, daß mein Freund auch hier wäre, und das wollte ich ihm noch mal in Erinnerung bringen.« »Von mir aus jederzeit«, erwiderte ich und legte zur Bestätigung den Arm um sie - sie fühlte sich mollig und warm an, und ihr rotschimmerndes Haar duftete angenehm, als ich sie näher an mich zog. »Immerzu trifft man am Spieltisch auf diese schlechten Verlierer, die meinen, sie könnten sich auf andere Weise schadlos halten«, murmelte sie. »Jetzt bringen Sie mich dazu, über Sie nachzudenken«, sagte ich. Sie fing an zu lachen. »Was gibt es da zu lachen?« fragte ich. »Ich mag Sie einfach«, sagte sie und lachte wieder. Doch diesmal war es nicht das gekünstelte Zähnezeigen, das ich während des Backgammomspiels bei ihr gesehen hatte - diesmal war es ein unbeschwertes, rauchig-kehliges Gelächter. Sie wurde ernst. »Sie haben richtig getippt. Ich versuche gerade eine dumme Liebesaffäre zu vergessen.« Während sie sprach, hatte sie sich von mir losgemacht. »Und jetzt fragen Sie sich vermutlich, ob es richtig war, daß Sie Schluß gemacht haben.« »Er war ein Gauner«, sagte sie. »Eine Weibergeschichte nach der anderen... ich mußte für seine Schulden aufkommen ... und dann noch seine Zechtouren. Nein, ich frage mich nicht, ob es richtig war. Ich frage mich eher, warum ich nicht schon früher auf die Idee gekommen bin.« »Und nun ruft er Sie täglich an und beschwört Sie, zu ihm zurückzukehren.« »Sie wissen aber auch alles«, flüsterte sie, an meine Schulter gelehnt. »Es läuft immer auf das gleiche hinaus«, sagte ich. Spontan packte sie meinen Arm. Wir standen eine ganze Weile beieinander und schwiegen. Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, als kannte ich sie schon ein Leben lang. Dann stolzierte dieser Kerl mit den Alarmanlagen von neuem an uns vorbei. Und grinste uns beide an. »Verschwinden wir doch von hier«, schlug sie vor. Mir wäre nichts lieber gewesen als das, aber Major Mann war nun schon längere Zeit von der Bildfläche verschwunden, und wenn er — 39
wie er mir vorhin angedeutet hatte - an irgendeiner Verhandlung teilnahm, dann würde er sich natürlich auf mich verlassen und erwarten, daß ich hierblieb und die Augen offenhielt. »Ich kann die Manns nicht einfach hier sitzenlassen«, meinte ich diplomatisch. Sie verzog schmollend den Mund, lächelte mich jedoch im nächsten Augenblick bereits wieder an: Unter Minderwertigkeitskomplexen schien sie wirklich nicht zu leiden. »Natürlich«, sagte sie, »das verstehe ich.« Und doch schien sie nicht genug zu verstehen, denn kurz darauf sah sie ein paar Bekannte und winkte ihnen, sich zu uns zu gesellen. »Spielen Sie auch Backgammon?« fragte mich einer von ihnen. »Nicht so gut, um damit aufzufallen«, sagte ich. Red schenkte mir ein Lächeln, aber als sie erfuhr, daß sich soeben zwei ehemalige Champions nebenan zu einem Match zusammengesetzt hätten, nahm sie mich bei der Hand und zog mich fast ungeduldig mit hinüber ins Spielzimmer. Backgammon ist mehr nach meinem Geschmack als Schach. Denn durch die Würfel empfängt dieses Spiel ja die Würze des Zufalls, und ein blutiger Anfänger kann ohne weiteres auch einmal einen erfahrenen Spieler schlagen - genau wie manchmal im Leben. Aber wenn sich das Glück beider Spieler in etwa die Waage hält, wird das Spiel ziemlich langweilig. Und eben das war bei diesem Match der Fall. Oder fühlte ich mich nicht schlicht und einfach nur deswegen plötzlich so mißgestimmt, weil Red die meisten Umstehenden mit Kopfnicken und Lächeln begrüßte? Die beiden Exchampions waren gerade in die Eröffnungsphase getreten, als Bessie mich am Ärmel zupfte und mir flüsternd mitteilte, daß ihr Mann mich sprechen wolle. Ich ging in die Eingangshalle und weiter, bis ich bei Tony Nowaks Chauffeur anlangte, der vor dem Schlafzimmer Wache hielt. Aus Zeitvertreib starrte er, eine finstere Grimasse nach der anderen schneidend, in den Spiegel gegenüber und versuchte, wie ein Polizist auszusehen. Auf seinen finsteren Blick war ich also gefaßt gewesen, nicht aber auf das blitzschnelle Abtasten nach einer Waffe. Ich machte die Tür auf. Trotz der schwachen Beleuchtung sah ich Tony Nowak auf dem Toilettentisch hocken: die Krawatte gelockert, das Gesicht verschwitzt. Es roch nach teuren Zigarren und kostspieliger After-shave-Lotion. Und im Klubsessel - die bequemen Wildlederschuhe auf einem bestickten Fußschemelpolster gelagert, ruhte Harvey Kane Green40
wood persönlich. Es war nun schon ewige Zeit her, seit man ihn zum letzten Mal den »jungen, vielversprechenden Senator« genannt hatte - Greenwood hatte es inzwischen »geschafft«. Das lange, mit der Brennschere in leichte Wellen gelegte, gefärbte Haar, die saloppe Baumwollhose, das Batikhemd - gerade so weit aufgeknöpft, daß noch das Medaillon an dem goldenen Halskettchen sichtbar wurde -, dies alles gehörte zu seinem sorgsam gepflegten Image. Und das traf auch auf Gerry Hart zu, seinen jungen Assistenten, den er kürzlich eingestellt hatte, um sich bei seiner aufreibenden Tätigkeit im Unterausschuß für Wissenschaftliche Entwicklung des Senatsausschusses für Internationale Zusammenarbeit ein wenig helfen zu lassen. Als sich meine Augen so einigermaßen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, konnte ich nun auch das Hepplewhite-Sofa deutlich erkennen, auf dem zwei kahlköpfige Schwergewichtler saßen und nur knapp Platz hatten. Sie verglichen gerade ihre Armbanduhren und begannen dann im Flüsterton auf russisch heftig aufeinander einzureden. Weder sie noch Gerry Hart schenkten mir Beachtung. Hart war damit beschäftigt, auf einer Serviette ein paar Diagramme für seinen Chef aufzuzeichnen, der ihm dafür väterlich zunickte. Ich stand noch an der Tür, da gab mir Major Mann den eindeutigen Wink, wieder kehrtzumachen. Wortlos schob er mich vor sich her an Nowaks Wachposten vorbei und quer durch die ganze Eingangshalle, bis wir schließlich am anderen Ende des Korridors in der Küche angelangt waren. Auf der Anrichte türmten sich stapelweise die Teller mit den Speiseresten von der Party, daneben standen schmutzige Aschenbecher und einige Plastikbehälter, vollgepackt mit benutzten Bestecken. Was noch von den beiden Truthähnen übriggeblieben war, lag übereinandergeschichtet auf dem Blech eines offenen, in die Wand eingelassenen Backofens. Eine Katze sauste blitzschnell davon, als wir die Tür aufmachten. Sonst war die Küche leer und taghell erleuchtet. Mann riß die Kühlschranktür auf und holte sich eine Tüte Buttermilch raus. Dann nahm er zwei Gläser vom Regal und goß sie voll. »Keine Lust auf Buttermilch?« »Ziemlich wenig«, sagte ich ehrlich. Er trank hastig einen Schluck, riß ein Papiertuch von der Küchenrolle ab und wischte sich den Mund. Während der ganzen Zeit hatte er die Kühlschranktür offengelassen, und es dauerte auch nicht lange, da setzte das Surren des Kompressors ein. Dieses Geräusch zusammen mit dem Summton, der von der Neonbeleuchtung oben an der 41
Decke ausging, schützte uns in etwa vor eventuellen Abhörwanzen auch wenn sie vielleicht supersensibel waren. »Einen ganz schönen Koffer haben wir hier am Bein«, sagte Mann. »Dann sollte ich wohl doch etwas Buttermilch trinken«, meinte ich. »Ob wir Madame B. geliefert haben möchten, fragt man mich doch tatsächlich!« Er konnte seiner Empörung kaum noch Herr werden. »Wo soll denn das vor sich gehen?« fragte ich. »Hier!« schnaubte Mann aufgebracht. »Direkt hier in Dummsdorf!« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Und natürlich stammt der Vorschlag von diesem Gentleman-Jim-Typ Greenwood und seinem speziellen Freund Hart, wie?« »Ganz recht, von ihnen und von diesen miesen Wodkavertretern aus dem Bezirk Omsk-Stadtmitte.« »Leute vom KGB?« »Also - fettes Sitzfleisch, Stiefel mit stahlverstärkten Zehenkappen, Fünfzigdollarmaniküre und dicke Havannas - in der Tat, darauf läuft mein Verdacht hinaus.« »Hart hat sie vielleicht auch nur von einer Komparsen-Agentur für Spionagefilme gemietet.« Der Major schüttelte den Kopf. »Schwere Jungs sind das«, stellte er grimmig fest. »Ich habe sie mir mal von nahem betrachtet: ganz schwere Jungs.« Mann hatte die Angewohnheit, die Hand aufs Herz zu legen und mit Daumen und Zeigefinger am Hemd herumzufummeln. Das machte er auch jetzt. Er sah aus, als wolle er die beiden Russen auf seinen Eid nehmen. »Aber weshalb?« »Eine durchaus berechtigte Frage«, konstatierte Mann. »Wo doch Greenwoods gottverdammter Ausschuß schon seinen Stolz dareinsetzt, jedem hergelaufenen Ausländer Amerikas geheimste wissenschaftliche Erkenntnisse weiterzugeben - wozu ist dann das KGB noch nötig?« »Und Sie haben also über B. gesprochen?« »Tja, ich glaube, ich werde allmählich senil oder so«, meinte der Major trocken. »Warum hab' ich nicht sofort geschaltet und an diese trüben Tassen im Ausschuß für Wissenschaftliche Kooperation gedacht - alles Rote, die ganze Bande, wenn Sie mich fragen.« »Aber was steckt hinter dem Ganzen?« Mann hob mit auseinandergespreizten Fingern eine Hand und ver42
harrte einen Moment in dieser Gebärde. »Diese Kerle - Greenwood und sein Genösse -, die kommen mir mit feierlichen Vorträgen über die Freiheit. Und sie behaupten, ich würde so etwas wie eine Hexenjagd auf Wissenschaftler planen.« »Und — planen wir so etwas?« »Jedenfalls werde ich mir jeden Freund und Bekannten von Bekuv einzeln vorknöpfen ... und auch Greenwood und sein rosa angehauchtes Komitee werden mich nicht daran hindern.« »Man hat aber doch wohl dieses Treffen nicht nur arrangiert, um Ihnen die Hexenjagd auszureden?« »Ehrlich, diese Leute kennen sich in unserem Handwerk aus -viel besser als wir«, knurrte der Major erbittert. »Sie sagen, sie könnten Bekuvs Frau spielend leicht aus der UdSSR rausholen - einfach, indem sie mit dem Kreml ein bißchen flirten.« »Heißt das vielleicht, sie wollen ihr eine legale Ausreisegenehmigung besorgen—vorausgesetzt, daß wir alles Material, was das Komitee kompromittieren könnte, unter den Tisch fallen lassen?« »Was denn sonst? Darum geht es natürlich. Los - trinken Sie noch ein bißchen Buttermilch!« Er goß mir nach, ohne sich darum zu kümmern, ob ich noch etwas haben wollte. »Nun, schließlich ist es ja genau das, was wir auch wollten«, erwiderte ich, in der Hoffnung, seine Wut zu beschwichtigen, » ... Ich meine, Mrs. Bekuv hierher zu bekommen ... ich will sagen, wir hätten es doch dadurch mit ihm wesentlich leichter.« »Na klar - genau die große Chance, auf die wir so lange gewartet haben, wie?« ereiferte sich der Major. »Und wissen Sie was? Diese Sippschaft hat wirklich damit gerechnet, daß wir Bekuv heute abend mit herschleppen! Und jetzt drohen sie, darauf zu bestehen, daß er vor dem Ausschuß erscheint.« »Wieso denn?« »Sie wollen von ihm persönlich hören, daß er aus eigenem Antrieb in den Westen übergewechselt ist. Wie finden Sie das?« »Das finde ich überhaupt nicht gut«, sagte ich. »Stellen Sie sich vor: sein Photo in den Daily News, Reporter, die ihm Dutzende von Mikrophone unter die Nase stecken. Die Russen werden sich gezwungen sehen, darauf zu reagieren. Und das könnte ganz schön ins Auge gehen.« Mann verzog das Gesicht und griff nach dem Wandtelephon. Er legte die Hand auf die Muschel und lauschte erst eine Weile, ob die 43
Leitung frei war. Zwischendurch wandte er sich an mich. »Ich werde wieder reingehen und ihnen noch mal zehn Minuten lang die Daumenschrauben ansetzen.« Er wählte die Nummer der CIA-Garage in der zweiundachtzigsten Straße. »Hallo? Mann am Apparat. Schicken Sie mir meinen Wagen Nummer zwo zur Verstärkung. Ich bin noch an der gleichen Stelle.« Er hängte auf. »Und Sie gehen runter«, sagte er. »Sie gehen vors Haus und warten auf den Wagen. Sagen Sie Charlie, er soll die beiden russischen Gorillas verfolgen. Und geben Sie ihm ihre genaue Beschreibung.« »Das wird nicht ganz einfach sein«, gab ich zu bedenken. »Die sind doch sicher auf so was vorbereitet.« »Und wenn schon. In jedem Fall ist es interessant, wie sie darauf reagieren.« Mann warf mit einem Knall die Kühlschranktür zu: Das Gespräch war zu Ende. Ich salutierte mit gebührendem Ernst und begab mich sodann in die Halle, um meinen Mantel zu holen. Zufällig befand sich dort auch Red Bancroft und schlüpfte gerade in ihren teuren, im Military-Stil geschnittenen Wildledermantel mit Lederbesätzen, Messingknöpfen und Schnallen. Sie blinzelte mir zu, während sie ihr langes, kastanienbraunes Haar unter eine verrückte kleine Strickmütze zwängte. »Da kommt er ja endlich«, sagte sie zu dem Alarmanlagenfritzen, der sein Spiegelbild betrachtete, während sich ein Dienstmädchen am Kragen seines Kamelhaarmantels zu schaffen machte. Der Fabrikant zupfte an seinem Schnurrbart und nickte jovial. Er war von hoher, sehniger Statur, und sein Haar begann auf eine edle Art zu ergrauen, wie man es eben nur bei Industriemagnaten und Filmstars erlebt. »Die junge Dame hat schon überall nach Ihnen gesucht«, sagte er mit leichtem Vorwurf in der Stimme. »Darum habe ich schon versucht, sie zu überreden, mit mir bis zur sechzigsten Straße mitzufahren.« »Ich werde mich schon um sie kümmern«, sagte ich. »Gut. Dann bleibt mir also nichts anderes übrig, als Ihnen beiden noch einen recht schönen Abend zu wünschen«, erwiderte er. »Es war mir ein Vergnügen, das Match gegen Sie verloren zu haben, Miss Bancroft. Hoffentlich geben Sie mir irgendwann einmal die Gelegenheit zur Revanche.« Red Bancroft lächelte zustimmend, und dann strahlte sie mich an. »Jetzt aber nichts wie weg!« flüsterte ich ihr zu. Sie hakte sich bei mir unter und küßte mich lachend auf die Wange 44
- im gleichen Moment, in dem sich der Alarmanlagenmensch nochmals nach uns umdrehte. Ob das nun nur gutes Timing war oder rein impulsiv - um das zu wissen, war es noch zu früh. Aber jedenfalls ergriff ich jetzt natürlich die Gelegenheit, zog sie an mich und gab ihr den Kuß zurück. Tony Nowaks Dienstmädchen taten mit einem Male alle so, als hätten sie dringend etwas woanders in der Halle zu tun. »Hast du etwa Buttermilch getrunken?« fragte Red. So dauerte es immerhin eine ganze Weile, ehe wir endlich im Treppenhaus waren. Der Alarmanlagenfabrikant war ebenfalls noch da; er regte sich darüber auf, daß der Lift noch immer nicht gekommen war. Doch kaum standen wir vor der Lifttür, kam er auch schon. »Bei Verliebten klappt halt immer alles«, seufzte der Alarmanlagenmann schmunzelnd. Ich fand ihn plötzlich gar nicht mehr so unsympathisch. »Sie haben doch wohl einen Wagen - oder nicht?« Mit einer Verbeugung ließ er uns den Vortritt. »Natürlich«, beruhigte ich ihn. Er drückte auf den Knopf fürs Erdgeschoß, und gleich darauf setzte auch schon das Aufflackern der Zahlen ein. »Denn das ist eben leider keine Stadt für Spaziergänge im Mondschein«, erklärte er. »Nicht mal hier in der Park Avenue.« Er sollte recht behalten. Wir hielten an, und die Lifttüren öffneten sich langsam. Wie in allen Situationen tödlicher Gefahr schien sich der folgende Zwischenfall schrittweise, ja fast geruhsam vor meinen Augen abzuwickeln. Zwar sah ich alles, doch brauchte mein Gehirn eine gewisse Zeit, um die einzelnen Bestandteile des Geschehens in logische Beziehung zueinander zu bringen. Das Foyer des Gebäudekomplexes war durch in die Decke eingelassene Lichtblenden indirekt, aber strahlend hell erleuchtet. Ein ansehnlicher Blumenkübel mit Plastikpflanzen zitterte vor sich hin - die Vibrationen rührten wahrscheinlich von der unterirdischen Zentralheizung her -, und ein kalter Windstoß von der verglasten Eingangstür trug ein paar vereinzelte Schneeflocken mit sich. Der dunkelbraune Teppichboden, der wohl in dieser Farbe ausgewählt worden war, um schutzige Fußspuren von der Straße her zu verdecken, ließ um so deutlicher die zusammengepappten Schneeklumpen sichtbar werden, die von den Schuhen der ins Haus gekommenen Passanten abgefallen waren. Die Eingangshalle war nicht ganz menschenleer. Drei Männer lun45
gerten herum — jeder für sich —, und alle drei trugen sie dieselbe Art von dunklem Regenmantel und Schirmmütze, wie sie von Chauffeuren gern als Uniform getragen werden. Der eine von ihnen hatte den Fuß zwischen die gläserne Eingangstür geklemmt. Er kehrte uns den Rücken zu und beobachtete die Straße. Und direkt vor uns -vor der Lifttür - stand der zweite. Er hielt einen schweren .38 S&W-Revolver in der Faust, und der war genau auf uns gerichtet. »Keine Bewegung!« sagte er. »Keine Bewegung, dann passiert euch auch nix, Leute. Und jetzt langsam her mit den Brieftaschen!« Wir blieben erstarrt stehen, so fassungslos, daß sich die Lifttür bereits wieder zu schließen begann. Der Kerl mit dem Revolver stieß seinen derben Stiefel in den Türschlitz und bedeutete uns, herauszukommen. Ich machte einen Schritt vorwärts und achtete dabei sorgfältig darauf, daß meine erhobenen Hände gut sichtbar waren. »Wenn Sie Geld haben wollen«, sagte der Fabrikant für Alarmanlagen, »hier - bedienen Sie sich«, und er griff hastig in die Brusttasche seines Kamelhaarmantels. Der winselige Ton seiner Stimme hatte etwas so Schreckerfülltes an sich, daß den Kerl mit dem Revolver ein Grinsen überkam. Er wandte den Kopf, um dem dritten Gangster zu zeigen, wie bombig er sich jetzt vorkam, und sein Freund grinste ebenfalls. Drei Schüsse ballerten hintereinander los - ein ohrenbetäubendes Gedonner, das im langen Vestibül widerhallte und einen Geruch verbrannten Pulvers hinterließ. Der Kerl mit dem Revolver schrie gellend auf. Mit vorquellenden Augen rang er nach Luft, spuckte Blut. Dann fiel seine Waffe mit dumpfem Aufprall zu Boden. Er brach zusammen und hinterließ eine lange Blutspur an der Wand. Red packte mich heftig am Arm, sie tat mir richtig weh. Der zweite Schuß hatte den Mann getroffen, der das Treppenhaus bewachte. Die Kugel drang ihm in die Schulter und zerschmetterte sein Schlüsselbein. Er ließ den Revolver fallen und umklammerte seinen Ellbogen, man sagt, das sei das einzige Mittel, die höllischen Schmerzen einer solchen Fraktur einigermaßen auszuhalten. Mit seiner Verwundung konnte er natürlich nicht weit kommen: Der Fabrikant hatte Zeit, in aller Ruhe seine Waffe in Augenhöhe zu bringen und zu zielen. Der dritte Schuß traf den Gangster genau in die Wirbelsäule. Das genügte, um ihn in voller Länge hinschlagen zu lassen - auf die zerstreut herumliegenden Schneeklumpen und auf die Plastikplane, die man an der Frontseite des Foyers zum Schutz über den Teppich gelegt hatte. Er starb, den Kopf auf der Fußmatte mit der Aufschrift »Willkommen«. Er hatte sehr wenig Blut verloren. 46
Sein Körper versperrte mir den Weg, als ich die Glastür aufmachen wollte. Ich mußte dem elektronischen Türöffner mit der Hand nachhelfen. Und nun stieß auch noch der Alarmanlagenmensch im Eingang mit mir zusammen - wir stolperten also beide mehr oder weniger auf die Straße hinaus und sahen noch den dritten Mann weglaufen. Er hatte die Schirmmütze verloren und war schon auf der anderen Seite der Allee. Ich hörte, wie ein Auto angelassen wurde. Der Alarmmann hob zielend die Waffe, rutschte jedoch aus und fiel krachend und mit einem Fluch gegen ein geparktes Auto. Ich rannte über die verlassene Straße. Weiter vorn öffnete sich die Tür eines schwarzen Mercedes, um den Killer aufzunehmen. Der Mercedes schoß bereits vorwärts, als die Tür noch offen war. Ich sah nur noch ein Gewühl von Armen, ein nachschleifendes Bein, das Spuren im Schnee hinterließ, ehe der Mann ganz im Wageninnern verschwunden war. Die Tür schloß sich. Erst als der Wagen die nächste Straßenkreuzung erreicht hatte, schaltete der Fahrer die Scheinwerfer ein. »Ein Fulton-County-Kennzeichen«, sagte jemand hinter mir. Es war der Alarmfritze. »Das müssen Sie doch auch gesehen haben, daß es ein Auto aus dem Bezirk Fulton war. Haben Sie vielleicht auch die Nummer erkannt?« Er war von seinem Sturz noch ganz außer Atem, ich keuchte nicht minder. »Drei Zahlen und dann ein großes F und ein großes C. Mehr war nicht zu sehen, das Schild war zu verdreckt«, stieß ich hervor. »Verdammtes Mistwetter!« schimpfte er. »Wenn das Glatteis nicht gewesen wäre, hätte ich ihn bestimmt zur Strecke gebracht.« Er drehte sich mißmutig um, und wir machten uns gemeinsam auf den Weg zurück. »Davon bin ich überzeugt«, sagte ich. Er klopfte mir jovial auf die Schulter: »Übrigens besten Dank, daß Sie ihn von mir abgelenkt haben, junger Freund!« »Was soll ich getan haben?« »Nun, wie Sie so brav die Hände hoben und sich dabei so erschrokken gestellt haben - das hat natürlich seine Aufmerksamkeit ganz auf Sie gelenkt. Ich muß schon sagen, alle Achtung vor dieser Geistesgegenwart!« Er kletterte über den leblosen Körper im Eingang des Foyers. Ich stieg hinterher. »Erzählen Sie es meinetwegen überall rum«, erwiderte ich. »Aber unter uns gesagt: Ich habe mich nicht erst erschrocken stellen müssen — ich war erschrocken.« 47
Der Alarmanlagenmann lachte kurz auf. Doch seine Lache klang gepreßt, sie enthielt eine Menge unterdrückter Spannung. Immer noch spielte er mit seinem Revolver herum. Es war ein stahlblau polierter Colt »Agent« mit Hahnschutzvorrichtung, die verhindert, daß der Colt beim Ziehen im Jackett hängenbleibt. Er mußte ihn vorher bereits gespannt haben, denn zwischen der blitzschnellen Bewegung seiner Hand und dem Ballern der Schüsse hatte es nicht den geringsten zeitlichen Spielraum gegeben, »An Ihrer Stelle würde ich das Ding da verschwinden lassen, bevor die Polizei hier aufkreuzt«, meinte ich. »Wieso? Schließlich habe ich ja einen Waffenschein«, sagte er. »Ich bin, nebenbei bemerkt, Präsident unseres Bezirksschützenvereins.« »Mensch, nehmen Sie doch Vernunft an. Wenn die Bullen hier hereinstürzen und Sie mit Ihrem heißen Schießeisen über zwei Leichen stehen sehen, wird man Sie wahrscheinlich auf der Stelle umlegen und sich erst anschließend um Ihre Papiere kümmern.« Mürrisch steckte er den Colt weg, zuvor aber drehte er die Trommel um eine geladene Kammer weiter. Dann knöpfte er umständlich seinen Mantel und das Jackett auf und ließ ihn in ein äußerst elegantes Berns-Martin-Schulterhalfter mit eingebautem Sprungfedergriff gleiten. Wir hatten das Foyer kaum betreten, da erschienen auch schon Mann und Tony Nowak auf der Bildfläche. »Sie Mistkerl!« sagte Mann zu dem Fabrikanten für Einbruchsalarmanalgen, wobei ich das Gefühl hatte, daß er eigentlich mich meinte. »Was sollte ich machen?« entschuldigte sich der Alarmmensch, während er prüfend in den Spiegel schaute und sein Haar glattstrich, »mich von diesen Halunken durchlöchern lassen? Das hätte mich ja in der gesamten Branche für Alarmanlagen für immer zu einer Witzfigur gemacht.« »Beide sind tot. Sie haben offensichtlich von vornherein mit Tötungsabsicht geschossen«, konstatierte Mann eisig. Der Alarmmensch wandte sich um und blickte den Major verständnislos an. Dann schaute er auf die Leichen runter und wieder zurück zu Mann. Ich hatte einen Augenblick lang das Empfinden, als wolle er, Mann zum Trotz, laut seiner Zufriedenheit Ausdruck verleihen, wie glänzend er eben auf seine Kosten gekommen war. Aber dafür kannte er die Gesetze wohl doch zu gut. »Über diesen Punkt 48
sollten Sie sich vielleicht lieber mit meinem Anwalt unterhalten«, sagte er schließlich vorsichtig. Etwas von der freudigen Hochstimmung, die man wohl verspürt, wenn man einem Terroranschlag erfolgreich mit dem Faustrecht entgegengetreten ist, flaute langsam bei ihm ab. Seine Laune ließ sichtbar nach -ja, er bekam es nun sogar etwas mit der Angst zu tun. Ich fing einen vielsagenden Blick von Mann auf. »Das ist nicht mein Bier«, erklärte er. »Ich mache, daß ich hier wegkomme.« »Schließlich bin ich nicht Wyatt Earp«, versuchte sich der Industrielle zu rechtfertigen. »So gut bin ich eben doch nicht, daß ich einem Gangster die Waffe aus der Hand schießen kann.« Ich faßte Red Bancroft behutsam am Ellbogen. »Wäre es nicht besser, wenn ich dich jetzt nach Hause brächte?« fragte ich sie leise. »Die Polizei will mich doch aber bestimmt als Zeugen vernehmen«, wandte sie ein. »Nicht nötig«, meinte ich. »Tony kann das für dich in Ordnung bringen.« Tony Nowak ging sofort darauf ein. »Sie gehen schön brav nach Hause, Red, ich werde meinem Chauffeur Bescheid geben. Und glauben Sie mir, es ist reine Zeitverschwendung, diesen Gangstern eine Träne nachzuweinen. Im vergangenen Monat hat sich hier ein Raubüberfall nach dem anderen ereignet, eine richtige Serie war das schon. Daher kenne ich auch den dafür zuständigen Polizeibeamten. Ich werde dafür sorgen, daß er Sie aus allem raushält.« Bisher war ich im Glauben gewesen, Red hätte den Überfall mit einer fast übermenschlichen Gelassenheit über sich ergehen lassen. Nun wurde mir mit einem Mal klar, daß sie vor Angst wie erstarrt war. Ihr Gesicht hatte jegliche Farbe verloren, und als ich schützend den Arm um sie legte, spürte ich, daß sie am ganzen Körper zitterte. »Jetzt beruhige dich doch, Red«, sagte ich. »Ich werde leider dableiben müssen.« »Beide tot«, murmelte sie tonlos und tat einen großen Schritt über den Körper des in der Tür liegenden Gangsters, ohne dabei auf ihn herabzublicken. Erst draußen, im Schneegestöber, machte sie halt und schlang sich noch einen gestrickten Schal um den Kopf. Dann zog sie mich zu sich herunter und drückte mir einen schwesterlichen Kuß auf die Lippen. Sie sah mich fragend an. »Ob das vielleicht doch etwas Besonderes ist ... zwischen dir und mir?« »Ja«, sagte ich. Wir standen noch am gleichen Fleck, als der erste Polizeiwagen eintraf und gleich dahinter ein Auto mit einer Notarztaufschrift. 49
Tony Nowaks Chauffeur öffnete beflissen die Tür des Lincoln, und ich stand und winkte Red noch lange nach, bis der Wagen meinen Blicken entschwunden war. Als ich das Foyer betrat, war die Polizei bereits emsig am Werk: Die Leichen der Verbrecher waren beide total entkleidet, und ihre Sachen wurden gerade als Beweismaterial in die dafür vorgesehenen Plastikbeutel gepackt.
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KAPITEL 5
Tony Nowaks Appartment gehört zwar zum siebzehnten Polizeirevier, doch die Toten dieses Nobelviertels werden ins Leichenschauhaus in der einundzwanzigsten Straße gebracht und dort gemeinsam mit den Pushern vom Times Square und den Chinesen von den zahllosen, kleinen Wäschereianstalten im Vergnügungs- und Verbrecherviertel Tenderloin in den gekühlten Schubfächern aufbewahrt. »Darf man rauchen?« fragte ich den ältlichen Aufseher. Der eiskalte Raum gab jedes Geräusch mit einem geradezu schauerlichen Echo zurück. Er nickte, zog eine Schublade auf und studierte schweigend eine Liste. Offenbar befriedigt trat er dann einen Schritt zurück, damit wir einen Blick auf den Verbrecher werfen konnten. Er lag mit den Füßen nach vorn im Schubfach - wir sahen daher zuerst das beschriftete Etikett, das an seinem großen Zeh befestigt war. Zwar hatte man sein Gesicht vom Blut gesäubert und sein Haar gebürstet, aber man hatte nichts gegen seinen weit aufgerissenen Mund machen können, der ihm einen Gesichtsausdruck verlieh, als ob er an einem akuten Anfall von Verblüffung gestorben sei. »Die Kugel hat die Luftröhre durchbohrt«, sagte der Aufseher. »Tod durch Ersticken.« Er klappte den Bericht zu. »Das war hier wieder mal eine recht anstrengende Nacht«, erklärte er dann. »Wenn's Ihnen nichts ausmacht, geh' ich zurück ins Büro. Schieben Sie ihn einfach wieder rein, wenn Sie mit ihm fertig sind.« Er klemmte seinen Aktendeckel unter den Arm und schaute auf seine Taschenuhr. Es war genau 2 Uhr 15. Er gähnte und stemmte ächzend den Sack mit den Effekten auf die Tischplatte aus rostfreiem Stahl. »Der Arzt hat die Kerle gleich an Ort und Stelle ausziehen lassen, damit die Gerichtsmedizin diesmal nicht wieder behaupten kann, daß bei uns Beweismaterial verschüttgeht.« Er puffte gegen den durchsichtigen Plastikbeutel, der die Schirmmütze, den dunklen Regenmantel, einen billigen Drillichanzug und schmutzige Unterwäsche enthielt. »Der Papierkram für Sie ist auch drin.« Er drehte die Plakette mit dem Identitätsnachweis am Zeh des Toten um und machte sich daran, sie umständlich zu entziffern: »... starb in der Park Avenue -na, sieh mal an, ein wählerischer Spitzbube.« Er sah prüfend auf die Leiche nieder. »Nicht anfassen oder umdrehen, der Photograph hat noch mit ihm zu tun.« 51
»O. K.«, versicherte ich. »Der zweite ist in Schubfach siebenundzwanzig. Wir halten nämlich alle tödlichen Schußverletzungen schön ordentlich hier in dieser Reihe beisammen. Wenn Sie noch was brauchen - ich bin im Büro, gleich hinter der Autopsiekammer ...« Mann schnürte den Beutel auf und fand auch bald, was er suchte: das Hemd. Das Einschußloch befand sich im Kragen. »Ein Kunstschütze«, meinte ich. »Ein Scharfschütze«, korrigierte mich Mann. »Ein Kunstschütze hätte sich mit seinem rechten Arm begnügt.« »Glauben Sie, daß der Überfall irgendwie mit der Bekuv-Angelegenheit in Zusammenhang steht?« »Kleben Sie Bekuv ein gepflegtes Menjoubärtchen unter die Nase, schleppen Sie ihn zu Saks in der Fifth Avenue, stecken Sie ihn in einen Anzug für vierhundert Dollar, färben Sie ihm die Schläfen grau, und lassen Sie ihn ein paar Chocolate-Sodas zuviel trinken, damit er etwas fülliger um die Gürtellinie wird — na, wen hätten Sie da vor sich?« »Den großen Unbekannten oder so. Ich weiß nicht, was Sie meinen. Worauf wollen Sie hinaus?« »Den um sich schießenden verdammten Mister Einbruchalarm den haben Sie dann vor sich, Sie Trottel!« Ich zog diese Möglichkeit einen Moment lang in Betracht. Es gab tatsächlich eine flüchtige Ähnlichkeit zwischen Bekuv und dem Fabrikanten. »Das ist aber ziemlich weit hergeholt«, sagte ich schließlich. »Aber wenn Sie ein nervöser Gorilla mit 'ner Knarre in der Hand wären, und Sie stehen wartend im Vestibül und sind schon ganz kribbelig und drehen langsam durch, und Sie haben als einzigen Anhaltspunkt einen winzigen, alten Schnappschuß von dem Professor würde es nicht vielleicht doch ausreichen?« »Aber wer hätte denn damit gerechnet, daß Bekuv auf der Party sein könnte?« »Na, wer wohl? Greenwood und Hart natürlich - die haben ihn nämlich eingeladen.« Ich schüttelte verblüfft den Kopf, darauf war ich nicht gefaßt gewesen. »Und wenn ich Ihnen jetzt noch verrate, daß der Professor gestern abend, eine halbe Stunde nachdem wir weg waren, im Smoking steckte und dem Pförtner einzureden versuchte, ich hätte ihm erlaubt, auf eigne Faust loszuziehen - was sagen Sie dann?« 52
»Sie glauben doch nicht, daß Greenwood & Co. mit ihm Verbindung aufnehmen konnten und ihm persönlich eine Einladung zukommen ließen?« »Jedenfalls hat sich Bekuv nicht in Schale geworfen, weil er die Junggesellentreffs in der Third Avenue durchprobieren wollte.« »Dann müssen Sie es Greenwood, Hart und Nowak versprochen haben - ich meine, Bekuv mit auf die Party zu bringen!« »Ja, ja, hinterher kann jeder den Schlaumeier spielen«, versuchte Mann den Spieß umzudrehen. Er bediente sich seiner Zungenspitze, um einen Tabakkrümel zwischen seinen Zähnen zu lokalisieren. »Also gut -ich hab's versprochen, ich hab's aber nicht gehalten.« Mit einer geschickten Bewegung seines kleinen Fingers entledigte er sich der Tabakfaser. »Diese Kerle im Vestibül - haben die etwa Geld oder seine Armbanduhr oder die goldene Krawattennadel von ihm gefordert? Nein - sie haben ausdrücklich seine Brieftasche verlangt, einfach, weil sie sichergehen wollten - immerhin waren sie reichlich unsicher, und sie brauchten eben einen Beweis, daß der Mann da vor ihnen tatsächlich Bekuv war.« Ich zuckte die Achseln. »Brieftasche... Geldbörse... ist doch an sich normal, daß ein Gangster nach der Brieftasche fragt, wenn er Geld sehen will! Was hat es übrigens mit dem Fulton-County-Kennzeichen auf sich?« »Haben Sie eine Ahnung, wie groß Fulton County ist?« »Selbst, wenn es sich um einen schwarzen Mercedes handelt?« »Aber ja doch - dem sind wir auch schon längst nachgegangen. Wenn's Sie erleichtert: Wir haben sogar den Kerl von der Zulassungsstelle aus dem Bett geholt.« »Na, da bin ich beruhigt. Aber noch wohler wäre mir, wir hätten wirklich den >winzigen, alten Schnappschuß< zwischen diesen Sachen hier gefunden. Bis wir nichts Handfestes haben, bleibt es eben doch nur ein ganz alltäglicher New Yorker Raubüberfall.« »Möglich. Trotzdem - wenn ich es Bekuv erzähle, werde ich es so hinstellen, als wären sie hinter ihm hergewesen.« »Weshalb?« »Vielleicht bekommen wir eher etwas aus ihm heraus, wenn er zu der Auffassung kommt, daß er besser abgeschirmt werden müßte. Ich werde ihn sowieso irgendwo anders einquartieren, wo ihn niemand so leicht findet.« »Wo denn?« »Über Weihnachten muß er ohnedies anderswo untergebracht werden - hier wird es mir für ihn zu mulmig.« 53
»Ja schon - aber wohin mit ihm? Nach Miami oder in die Tarnwohnung in Boston?« »Nu kommen Sie mir bloß nicht komisch! In eine CIA-Tarnwohnung! Da könnten wir ja gleich eine Kleinanzeige mit seiner Adresse in die Prawda setzen!« Mann schob die Lade mit dem Körper wieder zurück ins Kühlfach. Das quietschende Geräusch, das dabei entstand, ging mir durch Mark und Bein. »Sie fahren mit dem Ersatzwagen zurück«, ordnete Major Mann an. »Ich nehme den anderen.« »Und wo wollen Sie Bekuv nun hinbringen?« »Schlafen Sie sich morgen ruhig aus.« »Worauf Sie Gift nehmen können«, sagte ich leicht verärgert. Ich blickte ihm nach, als er an den vielen Reihen übereinanderliegender, viereckiger Schubfächer vorbeischritt. Jeder seiner Schritte klickte vernehmlich auf dem gefliesten Fußboden, begleitet von einem schrillen Ton, den ich erst nach einer ganzen Weile als das erkannte, was er war: Mann hatte vor sich hin gepfiffen. Wahrscheinlich war Manns unbekümmerter Abgang auch einem anderen Aufseher des Leichenschauhauses peinlich aufgefallen — wie auch immer - er kam zu mir geschlurft und fragte: »Was sind das heute nacht bloß für Umtriebe, Harry?« Dann sah er mich fragend an, brauchte jedoch ein paar Sekunden, ehe er merkte, daß ich gar nicht Harry war. »Sind Sie der Photograph?« »Nein«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Zum Teufel, wer sind Sie dann?« »Das siebzehnte Revier ist über mich informiert.« »Wenn schon - geht mich nichts an. Wie Sie hier hereingekommen sind, will ich wissen, Bürschchen?« »Nun beruhigen Sie sich schon - durch Ihren Kollegen. Ich kenne Ihren Kollegen.« »So - Sie kennen meinen Kollegen?« kreischte er erbost im höchsten Falsett. »Aber jetzt werden Sie mich mal kennenlernen!« Ich sah, daß er seine Hände zu Fäusten ballte und wieder lockerte mehrmals hintereinander. Man merkte ihm deutlich an, er wollte mich provozieren, wollte einfach einen Grund haben, auf mich loszugehen. Ich gab mir alle Mühe, seine Absicht zu durchkreuzen. »Ich bin wirklich offiziell hier«, sagte ich freundlich. »Na, dann rücken Sie mal mit Ihrem Ausweis raus«, fauchte er und stieß mir seinen knochigen Zeigefinger in die Rippen. »Der ist okay, Sammy.« Wir wandten uns um. Der andere Aufseher war durch den Haupteingang hereingekommen. »Ich hab' mich bei Charlie Kelly über ihn erkundigt. Charlie sagt, er ist okay.« 54
»Du weißt doch, ich mag es nicht, wenn sich hier Leute ohne meine Genehmigung herumtreiben«, knurrte der kleine, zänkische Kerl. Er vertiefte sich in seinen Aktendeckel und verzog sich, immer noch vor sich hinschimpfend, über die Treppe nach oben - in dieser merkwürdig verkrampften Gangart, wie man sie oft bei alten Preisboxern sieht, die eins zu viel auf den Kopf bekommen haben. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte der andere Aufseher. »Ich hab' vergessen, Sammy zu sagen, daß Sie hier sind.« »Ich hatte schon Angst, er würde mich im nächsten Kühlfach verstauen«, sagte ich. »Sammy ist ganz in Ordnung«, nahm der Wärter seinen Kollegen in Schutz. Er musterte mich längere Zeit und beschloß dann, mir doch eine nähere Erklärung für Sammys aggressives Verhalten zu geben. »Wissen Sie, Sammy und ich, wir waren nämlich früher Cops ... sind sogar zusammen in die Polizei eingetreten. Und dann - ist schon lange her, so Anfang der sechziger Jahre - sind wir gleichzeitig bei einer Schießerei in der Nähe von Delancey verwundet worden. Danach waren wir beide für den Polizeidienst untauglich. Er ist sonst ein netter Kerl, der Sammy.« »Na, da habe ich mich wohl geirrt«, sagte ich. »Er hat mit ansehen müssen, wie sein Junge hier eines Tages reingetragen wurde... war von einem Laster überfahren worden, als er von der Schule kam, fünfzehn Jahre war der Junge erst. Wenn Ihnen so was passiert, das können Sie nie wieder vergessen. Jedesmal, wenn er jetzt den Reißverschluß von so'm Leichensack aufzieht, wird ihm gleich wieder schwindelig.« Er wandte sich zum Gehen. »Für Sie wenigstens ist alles gut ausgegangen, was? Ich hab' mir sagen lassen, Sie waren mittendrin, als die Ballerei losging.« »Ja, ich habe Glück gehabt.« »Und der dritte Gangster, der soll also in einem schwarzen Mercedes getürmt sein, hab' ich im Polizeibericht gelesen. Haben Sie das Nummernschild erkannt?« »Ich konnte nur ein >F C< entziffern. Man hat mir gesagt, das sei das Kennzeichen für den Fulton-Bezirk.« »Na großartig - haben Sie sich nicht mal vom Fulton-CountyKennzeichen reinlegen lassen?« »Wie meinen Sie das?« »Na - jeder Cop, der schon ein paar Dienstjahre auf dem Buckel hat, kann Ihnen erzählen, wie in den sechziger Jahren die Leute aus dem 'Fulton-Bezirk nach New York kommen sind und ihre Wagen 55
überall auf den Straßen von Manhattan abgestellt haben - im Parkverbot und oft in zweiter Reihe. Und kein Verkehrspolizist hat ihnen jemals einen Strafzettel verpaßt. Du liebe Zeit, wie oft hab' ich selbst diese Autos im Halteverbot stehen sehen! Können Sie sich das vorstellen - die haben doch tatsächlich manchmal sogar in dritter Reihe in der Madison Avenue geparkt - haben den ganzen Verkehr blokkiert, und ich bin einfach vorbeigegangen!« »Ich verstehe kein Wort.« »Können Sie auch gar nicht, Sie sind ja nicht von hier. Also passen Sie auf: Ein Fulton-Kennzeichen hat das >F C< vorn, dann erst kommen die Zahlen. Und die wenigsten Cops haben den Unterschied gemerkt - ich mein', zu dem Schild, wo die Zahlen zuerst stehen und das >F C< dahinter ... ein Polizist hat so'ne Menge Sachen im Kopf zu behalten, daß ihm eine Spitzfindigkeit wie die glattweg entgeht.« »Aber was ist denn so Außergewöhnliches dran - an einem Nummernschild, bei dem das >F C< hinten steht? Wieso darf man damit in zweiter oder dritter Reihe mitten auf der Madison Avenue parken?« Der Leichenschauhausaufseher blickte mich betrübt und nachsichtig an. »Ja, natürlich, so einer wie Sie ist ja auch nie einfacher Cop auf der Straße gewesen. Drei Nummern und danach ein >F Cwir< entnehmen, daß auch Sie bereit sind, den Kugelschreiber zu zücken und eine neue Packung Büroklammern anzubrechen?« Mann lächelte erhaben. Ich legte die Mappe neben mich aufs Sofa und begann, sie nach »dringlich«, »vordringlich« und »telefonisch« zu sortieren. Mann beugte sich von hinten über die Sofalehne und hob den säuberlich gestapelten Aktenstoß an einer Ecke an. Jedes Bündel hatte einen andersfarbenen Laufzettel angeheftet, damit ich sofort erkennen konnte, was ich da unterschreiben sollte. Mann atmete hörbar durch die Zähne. »Diese Schreibmaschinen-Geheimagenten im Parterre können zwar nicht mal 'nen Mikropunkt von der Posterbeilage im Playboy unterscheiden, aber man braucht ihnen nur die Gelegenheit zu geben - und schon wird man unter Papier begraben! Verdammt, ganze Lawinen rollen da gleich an!« Er ließ die Akten wieder aus der Hand fallen, und das dabei entstehende Geräusch unterstrich laut und deutlich seine Worte. 63
Ich schob die Unterlage mit den Schriftstücken aus Manns Reichweite, ehe er vielleicht beschloß, mir seinen Standpunkt ein weiteres Mal zu demonstrieren; ein paar Laufzettel und Büroklammern waren bereits abgegangen. »Also, ich werde Sie jetzt ganz Ihrem Eifer überlassen«, sagte Mann. »Ich muß machen, daß ich mein Flugzeug noch erwische. Falls mich jemand sprechen will, sagen Sie, er soll es im Hotel Diplomat in Miami, Florida, versuchen.« »Wie? Sie wollen doch nicht etwa Ihren richtigen Namen verwenden?« »Ich werde nicht einmal dort sein, Sie Spatzenhirn! Es soll nur so aussehen.« Ich griff nach dem nächsten Aktenbündel. »Übrigens, bevor ich gehe«, Mann stand noch immer in der Tür und sah mir bei der Arbeit zu, »Bessie läßt fragen, ob Sie Weihnachten mit uns verbringen wollen.« »Großartig«, sagte ich, ohne vom Schreibtisch aufzublicken. »Aber ich muß Sie vorher warnen. Bessie hat vor, auch diese Miss Bancroft einzuladen ... und Bessie bringt nun mal gern Leute unter die Haube...« »Und Sie wollen wohl inzwischen ein neues Versteck für Bekuv ausfindig machen, wie?« Mann entblößte als Antwort seine Zähne - zu jener Art von häßlicher Grimasse, die er selbst für sein wärmstes, entgegenkommendstes Lächeln hält. Ich arbeitete durch bis Mittag. Dann schaute einer von der Abteilung »Geheime Auswertung«, abgekürzt G.A., bei mir herein. »Ist Major Mann hier?« »Nein.« Ich ließ mich nicht gern bei der Durchsicht meiner Akten stören. »Wo kann ich ihn erreichen?« »Keine Ahnung«, sagte ich, ohne ihm Beachtung zu schenken. »Sie müssen doch wissen, wo er steckt!« »O.K. - unter uns: Zwei kräftige Kerle in weißen Kitteln haben ihn fortgeschleppt, obwohl er wie wild um sich schlug.« »Ach, hätt' ich beinah vergessen - Sie werden am Telefon verlangt«, sagte der Mann aus dem unteren Stockwerk, Abteilung G.A., und sah sich heimlich im Zimmer um. Offensichtlich wollte er sich vergewissern, daß ich den Major nicht irgendwo verborgen hielt. »Also, dann geh' ich wieder und sag' der Vermittlung Bescheid, das Gespräch an Sie durchzustellen.« 64
»Da ist einer auf der Wall-Street-Leitung - nennt sich Gerry Hart«, sagte mir der Mann von der Fernsprechzentrale. »Soll ich Sie verbinden?« »Ja, bitte.« Wenn es Hart nur einen Tag gekostet hatte, die Nummer der Handelsbank in der Wall Street auszumachen, die ich bislang für meine beste Deckadresse gehalten hatte, konnte man sich ja ausrechnen, wie lange es dauern würde, bis er den Rest auch noch geknackt hatte. Ich schob einen Stapel von Polizeiberichten beiseite. »Was halten Sie von einem gemeinsamen Lunch?« kam Hart gleich zur Sache. Seine Stimme hatte den warmen, vibrierenden Ton der Leute, die den ganzen Tag am Telefon hängen. »Warum?« »Es hat sich einiges ergeben.« »Sprechen Sie mit dem Chef.« »Hab' ich versucht, aber er soll ja in Miami sein.« Harts Tonfall gab mir unmißverständlich zu verstehen, daß er nicht daran dachte, das zu glauben. »Vielleicht erreichen Sie noch rechtzeitig die Nachmittagsmaschine, da wird sogar in der Touristenklasse Champagner serviert.« »Sagen Sie mal, sitzen Sie tatsächlich in der Wall Street, oder bin ich um drei Ecken mit einer gewissen Nummer in Langley, Virginia, verbunden?« Und er brach in ein amüsiertes Gackern aus. »Nun sagen Sie schon, was Sie auf dem Herzen haben, Gerry!« »Hören Sie, in Wahrheit möchte ich den Major gar nicht sprechen, sondern Sie. Schenken Sie mir eine halbe Stunde Zeit - sagen wir, bei einem Käse-Sandwich. Sie kennen doch Cockery auf der University-Plaza? Wie war's dort — um ein Uhr? Aber sagen Sie Mann nichts davon,ja?« Er hatte ausgerechnet das Restaurant vorgeschlagen, das unserem konspirativen Haus am allernächsten lag. Das konnte allerdings auch Zufall sein — Cockery war schließlich eines meiner Lieblingsrestaurants, und Gerry hätte das leicht in Erfahrung bringen können. Aber ich hatte nun mal das bestimmte Gefühl, daß er mich mit seinen Anspielungen einfach unsicher machen wollte, ehe er mit seinen Vorschlägen über mich herfiel. »Also schön«, sagte ich. »Ich habe mir inzwischen ein Schnurrbärtchen zugelegt - werden Sie mich da auch erkennen?« meinte er. »Am besten lese ich also noch zusätzlich die New York Times von heute.« »Dann bitte auch gleich mit zwei Löchern in der Titelseite zum Durchblinzeln.« 65
»Passen Sie lieber auf, daß Ihnen Captain America nicht hinterherschleicht«, erwiderte Hart und hängte auf. Gerry Hart zog beim Platznehmen sorgfältig die Hose oberhalb der Knie hoch, um seinen eleganten Mohairanzug zu schonen. Nachdem er das erledigt hatte, ließ er die Manschetten seines Hemdes aus den Jackenärmeln rutschen - gerade so weit, daß man die Manschettenknöpfe zu sehen bekam, andererseits aber reichte es auch noch, daß seine wertvolle Pulsar-Armbanduhr sichtbar blieb. Seiner Akte nach war er ein anerkannter Sachverständiger für den New-Orleans-Jazz. Mann hatte dazu nur bemerkt: »Immerhin etwas.« »Wissen Sie eigentlich, daß ich aktiv in der Politik stecke?« fragte mich Hart. »Ach - und ich habe gedacht, Sie spielen im Pferdelotto.« Er lächelte knapp. »Ihr Sinn für Humor war schon immer umwerfend. Doch falls Sie glauben, daß ich noch so allergisch gegen Witzeleien bin wie früher - da haben Sie sich aber gründlich getäuscht.« Er fingerte selbstbewußt an seinem Bärtchen herum. Mir fielen sofort die manikürten Fingernägel auf. Es lag auf der Hand, daß sich der unsichere, beschränkte kleine Angestellte des State Department, der er war, als ich ihm vor Jahren zum erstenmal begegnete, inzwischen gemausert hatte. Die Getränke kamen. Ich versetzte meine Bloody Mary mit einem Schuß Tabasco und bot Gerry auch davon an. Doch er schüttelte den Kopf. »Reinen Tomatensaft sollte man nicht nachwürzen«, meinte er blasiert. »Und daß Sie das bei der Menge Wodka noch für nötig halten, nimmt mich ehrlich wunder.« »Nach Ansicht meines Psychoanalytikers folge ich nur dem latenten Trieb, meinen Mund keimfrei sauberzuhalten.« Hart nickte: »Mit Ihrem Mundwerk hätten Sie einen guten Politiker abgegeben.« »Ach, Sie denken wohl, ich würde vor einem Problem auch immer mit offenem Mund dastehen?« Ich trank einen ausgiebigen Schluck Bloody Mary. »Scherz beiseite, falls ich vorhabe, in die Politik einzusteigen, werde ich mich natürlich zuerst an Sie wenden.« Ich war mir nur zu bewußt, daß es reine Dummheit wäre, wenn ich Hart jetzt vergrämen würde, bevor ich wußte, was er von mir wollte. Aus seiner Akte hatte ich lediglich entnommen, daß er einunddreißig Jahre alt und früher in Connecticut als Anwalt tätig war. Dennoch zählte ich ihn zu den Besten der wachsenden Schar junger Männer, 66
die ein paar Jahre Dienst im CIA als Sprungbrett für ihre Karriere benutzt hatten - ähnlich übrigens, wie der britische Mittelstand sich seinerzeit der Brigade of Guards bedient hatte, um zu avancieren. Hart war klein und von etwas plumper Gestalt, aber in seiner Art sah er ausgesprochen gut aus - mit dem Lockenkopf und den dunklen Ringen unter den tiefliegenden Augen, die einen zur Annahme verführten, daß er manchmal ein wenig vor sich hin träumte. Der Schein trog - er war vielmehr äußerst selbstdiszipliniert, weder trank er noch rauchte er, und wenn er ein wenig schläfrig aus der Wäsche guckte, dann vermutlich nur deshalb, weil er nächtelang aufblieb und bereits jetzt schon an seiner Antrittsrede herumfeilte, die er vor dem Kongreß verlesen würde - an dem Tag, an dem er zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt würde. Hart nippte an seinem Tomatensaft und wischte sich dann sorgfältig den Mund, bevor er mich fragte: »Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß ich gegenwärtig mit weit mehr Fakten höchster Geheimstufe zu tun habe als früher, wo ich noch für die Behörde arbeitete?« »Natürlich«, sagte ich. Hart schien es als Genugtuung zu empfinden, auf den CIA mit dem Wörtchen »Behörde« anzuspielen, um durchblicken zu lassen, daß auch er mal »mit dabei« gewesen war. Zwar war in seiner Akte nichts darüber vermerkt, doch das besagte im Grunde gar nichts. »Haben Sie jemals was vom >Bund 1924< gehört?« fragte mich Hart unvermittelt. »Gerade darüber hätte ich gern etwas Näheres von Ihnen erfahren«, erwiderte ich. »Mit Vergnügen«, antwortete Hart. Die Bedienung kam mit der Speisekarte an unseren Tisch. »Sie können gleich dableiben«, sagte er zu ihr. Mit flüchtigem Blick ging er die Menüvorschläge durch. »Club-Sandwich, gemischter Salat, auf französisch mariniert, und einen Kaffee - O.K.?« »Ja, Sir«, sagte die Kellnerin. »Für mich genau dasselbe«, sagte ich. Mir lag momentan sehr daran, daß Hart sich überlegen vorkam. Die Bedienung klappte den Notizblock zu, nahm uns die Speisekarte ab und kam überraschend schnell mit unserer Bestellung zurück. Gerry Hart beglückte sie dafür mit einem anerkennenden Lächeln. »Kurz gesagt - wir haben den >Bund 1924> unterwandert. Deshalb 67
können wir es überhaupt machen«, teilte mir Hart mit, als die Kellnerin weggegangen war. »Was ist eigentlich in so einem Club-Sandwich alles drin?« fragte ich Hart. »... Was machen?« »Mrs. Bekuv in den Westen bringen.« »Ist es nicht dasselbe wie ein >Dreidecker