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Dieses System unterliegt bestimmten schreiblandschaftlichen und/oder distributionellen Modifikationen, die hier unberücksichtigt bleiben. Aufs Ganze gesehen, ist seine Nähe zum Nhd. hervorzuheben. (4) Entwicklungsgeschichtlich wichtig erscheint, daß mit diesem System tendenziell eine graphematisch faßbare Vereinheitlichung der beiden genannten regionalen Schriftdialekte stattgefunden hat, der sich, zunehmend auf der Zeitachse, auch die übrigen landschaftlichen Graphemsysteme annähern. Standardsprachliche Qualität wird jedoch in dieser Epoche noch nicht erreicht: Der nur „mittleren Reichweite“ der Texte entspricht eine nur mittlere Kodifizierung (Besch 1985, 1782).
169. Konsonantische Lautsystementwicklungen in der Geschichte des Deutschen
(5) Die Ausgleichstendenzen bleiben typischerweise auf die literale Existenzweise von Sprache beschränkt, die damit die ohnehin abständige Entwicklung zwischen Oralität und Literalität im Frnhd. vertieft, insofern die schreiblandschaftlichen Systeme ⫺ entgegen älteren Annahmen ⫺ grundsätzlich nicht als kontinuierliche Entwicklungen aus bäuerlichen oder städtischen landschaftlich-sprechsprachlichen Grundlagen anzusehen sind (vgl. u. a. Besch 1967). Überprüfbare Angaben zu den oralen konsonantischen Phonemsystemen der frnhd. Sprachlandschaften können, der ausschließlich schriftlichen Überlieferung entsprechend, nur mit Schwierigkeiten beigebracht werden. Mit hinlänglicher Sicherheit ist mit einer Leseaussprache „nach der Schrift“ (Schriftlautung) zu rechnen (vgl. Weithase 1961, 251 ff.). Es handelt sich dabei aber zunächst um ein abstraktes Prinzip des Lesenlernens in der Tradition des Lateinunterrichts, nicht um tatsächliche phonematische Interferenzprozesse, wenngleich das religiös motivierte, von Wittenberg ausgehende „Korrektsprechen“ nach der Schrift perspektivisch als Grundlage für die Herausbildung der nhd. orthoepischen sprechsprachlichen Norm angesehen werden kann (v. Polenz 1991, 186 ff.). Für die weitaus meisten Sprecher waren jedoch nur die mundartlichen bzw. stadtumgangssprachlichen Systeme zugänglich. Mundartliche Lautentwicklungen sind aus vorwiegend alltagssprachlichen Texten wie Verhörprotokollen usw., dazu aus rezenten Dialektverhältnissen (in Spuren) erschlossen worden (Hartweg/Wegera 1989, 80 ff.); dialektale Texte des Mittelalters und der frühen Neuzeit gibt es praktisch nicht (vgl. Heinrichs 1961, 99). Die verfügbaren Daten sind in der Mehrzahl ⫺ im gegebenen Zusammenhang signifikant ⫺ mit den arealen substandardsprachlichen Spezifika des Nhd. identisch. Im Bereich des Konsonantismus betrifft das u. a. die Lenisierungen von /p, t, k/, die Entwicklung der Affrikaten und von /w, j, h/, Assimilations- und Dissimilationsprozesse. Auch für das Frnhd. ist es (wie für das Nhd.) auf Grund der etymologisch bestimmten Einzellautbeschreibung jedoch nicht möglich, die Daten dieses Kommunikationsbereichs in konsonantischen Systemzusammenhängen darzustellen. Sie erfüllen aber deskriptiv die wichtige Funktion von Markern für die (grundschichtigen) oralen Systeme der Periode. (6) Insofern die heterogenen schreiblandschaftlichen Konsonantensysteme und an-
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nehmbar ebenso die dialektalen Konsonanteninventare und -strukturen des Frnhd. in Teilen systematisch übereinstimmen, in anderen aber abweichen, erfüllen sie die Merkmale eines Diasystems. Dieses Diasystem unterscheidet sich strukturell jedoch in signifikanter Weise von dem des Nhd., insofern es ⫺ die Virtualität des avisierten übergeordneten graphematischen (Super-)Systems macht es deutlich ⫺ in einem grundsätzlichen Nebeneinander der beteiligten Systeme (= polysystemar) organisiert ist. Das deckt auch ab, daß die schreiblandschaftlichen literalen Systeme keine erkennbare Einflußnahme auf die landschaftlich-oralen (mundartlichen) Systeme ausüben. Für diesen Systemzustand insgesamt scheint daher die Metapher diasystematisch organisierter Modularität eine angemessene Bezeichnung abzugeben, wenn man Module als in sich geschlossene, linear oder komplex untereinander zu einer Funktionseinheit verbindbare bzw. verbundene Systeme begreift, die über Schnittstellen miteinander kommunizieren, aber nicht durch strukturell integrative Homogenität gekennzeichnet sind. Die sprachgeschichtliche Spezifik des Diasystems der frnhd. Konsonantensysteme läßt sich in diesem Verständnis als modular strukturiert charakterisieren. Die Modularität der Verknüpfung zwischen den Systemen bezieht sich dabei ausdrücklich auch auf deren jeweils internes Verhältnis von mündlichen und schriftlichen sprachlichen Existenzweisen. (7) Zunächst weitgehend unabhängig von der Herausbildung des frnhd. Diasystems hat sich seit dem 14. Jh. im Norden des dt. Sprachgebiets mit dem Mnd. „lübischer Norm“ eine eigenständige schreiblandschaftliche Entwicklung vollzogen (vgl. u. a. Sanders 1982), die in etwa in die gleiche Periode fällt wie das Frnhd. und wie dieses durchaus die Voraussetzungen hatte, sich zu einer (zweiten) dt. Schriftsprache zu entwickeln (v. Polenz 1991, 168). Trotz gewisser Unterschiede zum Frnhd. (etwa der verkehrssprachlichen Geltung weit über den sprachgeographischen Ursprungsbereich hinaus im Nord- und Ostseeraum) weist auch der Konsonantismus des Mnd. deutliche Merkmale eines ⫺ sprachgeschichtlich selbständigen ⫺ modular strukturierten (polysystemaren) Diasystems auf, wobei hier die (relative) funktionale und distributionelle Autonomie des graphischen gegenüber dem phonischen Kode noch stärker in Erscheinung tritt als im Frnhd. Im Frmnd. gibt es zunächst mehrere
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
regionale Schreibsprachen. Ihre Zusammenführung zur „lübischen Norm“ vollzieht sich durch Variantenreduzierung durch Variantenvermeidung, und zwar wie im hd. Süden nach dem Prinzip der „Landschaftskombinatorik“ (vgl. 2.3. (3)), nicht durch bewußte Normsetzung. Neben der „klassischen“ mnd. Schriftsprache und durch diese weitgehend unbeeinflußt existierten die historisch gewachsenen Dialektsysteme des West- und des Ostniederdeutschen. Das konsonantische Phonemsystem des Mnd. wird ⫺ beschränkt auf den graphischen Kode ⫺ wie folgt angegeben (Niebaum 1985, 1226): /p/ /b/ /v/ /f/ /m/
/t/ /d/ z s /n/
/k/ g g /x/ /n/
/l/
/r/
/j/ /h/
Unter Einbeziehung der diasystematischen Verhältnisse müßten dieser Systemdarstellung für den Bereich der Mündlichkeit nun in entsprechender Notierung die einzelnen dialektalen Entsprechungen hinzugefügt werden. Das ist für die frühe Neuzeit faktisch unmöglich. Die rezenten niederdeutschen Dialekte lassen allenfalls die vorsichtige Schlußfolgerung zu, daß für die Reihen der Explosiva wie der Frikativa Stimmtonkorrelation besteht und die stl. Verschlußlaute das Merkmal Aspiration aufweisen. (8) Bedingt durch politische, ökonomische und geistesgeschichtliche Prozesse (Niedergang der Hanse, Einfluß der Reformation), werden, beginnend im 16. Jh., die kommunikativen Voraussetzungen für zunehmend engere hd.-nd. Kontaktbeziehungen zwischen beiden frühneuzeitlichen Diasystemen geschaffen (vgl. Bichel 1985). Die daraus resultierende hd.-nd. Interferenz im konsonantischen Bereich ist, wie auf Grund der strukturell übereinstimmenden modularen Organisationsform beider Systeme naheliegend, zunächst ausschließlich auf den graphischen Kode beschränkt und führt auf dieser Systemebene bis zum Ende der frühneuzeitlichen Periode (⬃1650) zum nahezu vollständigen Abbruch der mnd. Schriftsprachtradition; zu Folgen für das nhd. Konsonantensystem vgl. 3.2. (3). 2.4. Koexistierende konsonantische Phonemsysteme im hochmittelalterlichen Deutsch (1) In der Regel wird in der historiographischen Praxis in bezug auf das hochmittelalterliche Deutsch dem konsequenterweise
anzusetzenden Postulat einer entsprechend ganzheitlich ausgelegten Beschreibung (als Gesamtheit seiner Existenzweisen) gar nicht oder nur punktuell entsprochen. Es erfolgt stattdessen eine faktische Reduzierung der Deskription auf hd. Systemzustände, zudem noch mit der weitgehenden Einschränkung auf ein literarisch bestimmtes Textsortenspektrum; die entwicklungsgeschichtlich verwertbaren Befunde erweisen sich dementsprechend als hoch defizitär. (2) Das in Grammatiken und Handbüchern angegebene Konsonantensystem des Mhd. repräsentiert, soweit überhaupt corpusgestützt ermittelt, Ergebnisse der strukturellen Interpretation einer funktionell stark restringierten Datenmenge. Zu nicht unerheblichen Teilen beruht diese auf dem philologischen Konstrukt einer zeitgenössisch so nicht vorhandenen Schreibnorm auf alemannischostfränkischer Grundlage, festgelegt auf Grund des Schreibusus einer, statistisch gesehen, geringfügigen Textmenge überlieferter „klassischer“ Dichtungstexte mit überlandschaftlicher Verbreitung und dadurch bedingter Variantenvermeidung; zur wissenschaftsgeschichtlichen Genese vgl. u. a. Henzen (21954, 51⫺66), Jellinek (1936, 186⫺220). Spätere Erweiterungen der untersuchten Textbereiche und die Anwendung moderner Analysemethoden (vgl. Penzl 1972) haben ⫺ ungeachtete objektiver Schwierigkeiten hinsichtlich der Zugriffsmöglichkeiten auf die literale Überlieferung der Epoche ⫺ in nicht unbedeutendem Umfang Korrekturen ermöglicht, zugleich aber auch auf eine Fülle von deskriptiven Defiziten aufmerksam gemacht und die Erkenntnis vertieft von der bisher ungenügend erfaßten Vielschichtigkeit mhd. Schreibdialekte (Simmler 1985b, 1130). Unter diesen stark einschränkenden Vorbehalten gilt, von einzelnen Modifikationen abgesehen (vgl. Kufner 1960, 24; Philipp 1965, 202⫺204; Paul/Wiehl/Grosse 231989), das folgende konsonantische Phonemsystem des Mhd. (vgl. Valentin 1969, 343; Simmler 1985b, 1135); es beruht auf den als primär angesehenen Kriterien von Druckstärke (und Quantität) und den sekundären von Artikulationsmodus und -ort. Hinsichtlich des Phoneminventars ist auf das (etwa zwischen dem 11. und 14. Jh. aus der Phonemverbindung /s ⫹ k/ bzw. positionsbedingt aus /s/ entstandene) Phonem /sˇ/ aufmerksam zu machen; zu den Regularitäten im einzelnen vgl. Wurzel (1970).
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Fortes
Verschlüsse Reibungen Affrikaten
b d g v f h ppf
pp ff tts
tt ss
t zz sˇsˇ kkh
Halbvokale
j w
l ll
r rr
m n mm nn
kk xx Liquide/Nasale
Abb. 169.2: Konsonantensystem des Mhd (aus: Simmler 1985a, 1135)
(3) Es muß begründet angenommen werden, daß diesem System hinsichtlich der medial, funktional und sozial äußerst heterogenen bzw. in sich stark differenzierten kommunikativ-pragmatischen Realität der Epoche nur der Charakter eines virtuellen Bezugssystems zugeschrieben werden kann. Darauf verweisen ⫺ die „Unterschiede der Landschaftssprachen“ in der literalen Überlieferung. Es handelt sich dabei u. a. um eine Vielzahl unterschiedlicher Realisierungsformen von konsonantischen Lauteinheiten als Indikatoren für offenbar diskrete Systemzustände bzw. Entwicklungen in kommunikativ relativ selbständigen, areal begrenzbaren literalen Existenzweisen. Zu solcherart „Besonderheiten“ existieren vielfache Nachweise in einer umfangreichen Literatur; zur Übersicht vgl. Paul/Wiehl/Grosse (231989, 167⫺ 179). In bezug auf deren landschaftliche Zuordnung gilt allerdings die Einschränkung, daß die Diatopie des Mhd. sich historiographisch im wesentlichen an den neuzeitlichen Mundarteinteilungen nach dem unterschiedlichen Durchführungsstand der II. LV orientiert, also prinzipiell deren historische Unveränderlichkeit seither annimmt; ⫺ umfangreiche Erkenntnisse urkunden- bzw. kanzleisprachlicher und namenkundlicher Forschungen zu (bezogen auf die spätere Normentwicklung) nicht-schriftsprachlich gewordenen konsonantischen Systemgegebenheiten. Dazu zählen die wohl für diese Epoche anzusetzenden systemspezifisch verschiedenen Konsonantenschwächungen (Lenisierungen); sie haben zu unterschiedlichen Ausprägungen der phonematisch relevanten Druckstärkekorrelation und zu Veränderungen der distinktiven Merkmale der Stimmtonbeteiligung bzw. der Aspiration geführt (vgl. Simmler 1983). Zu ihrer arealen Distribution in den (rezenten) dt. Mundarten gibt es seit Lessiak (1933) eine umfangreiche Literatur mit minutiösen Einzellautbeschreibungen (vgl. zur Übersicht Schirmunski 1962). Die ⫺ vom nhd. Standpunkt aus ⫺ vorzugsweise dialektale bzw. regionalsprachliche Geltung der konsonantischen Schwächungserscheinungen darf jedoch nicht automatisch zu einer (fehlerhaften) Projektion auf hochmittelalterliche Zustände verleiten, d. h. es gibt keine hinreichende
Begründung dafür, daß sie auch für diese Epoche als nur grundsprachlich zu klassifizieren wären. Es dürfte sich hier vielmehr um (verschieden ausgeprägte) strukturell signifikante Merkmale einander gleichrangiger arealer Konsonantensysteme handeln, zu denen in der Regel freilich nur höchst ungenügende Informationen verfügbar sind. Entsprechendes ist, cum grano salis, für die neuzeitlich ebenfalls ausschließlich oder vorwiegend mundartlich belegbaren, hinsichtlich ihrer Entstehungszeit nur in relativ großen Toleranzen zu bestimmenden konsonantischen Lautwandelerscheinungen der verschiedenen Velarisierungen (vgl. Werlen 1983), der Metathese (vgl. Rein 1983) und von konsonantischen Assimilationen oder Dissimilationen (vgl. Guentherodt 1983) in Anspruch zu nehmen. Durch die letztgenannten Lautwandelerscheinungen wird die phonematische Struktur der betreffenden konsonantischen Systeme freilich annehmbar nicht affiziert, sondern es treten nur distributionelle Veränderungen bzw. Veränderungen der phonematischen Belastungen ein. Bedauerlicherweise handelt es sich jedoch in allen angeführten Fällen immer nur um die Beobachtung bzw. geographische Beschreibung von lautlichen Einzelmerkmalen, aus denen die dahinterstehenden heterogenen konsonantischen Systeme derzeit nicht rekonstruiert werden können; deren Existenz muß aber wohl als wahrscheinlich angesetzt werden.
(4) Auf Grund des ⫺ gegenstandsbezogen allerdings signifikant lückenhaften ⫺ deskriptiven Gesamtbefundes erscheint die vorsichtige Schlußfolgerung gerechtfertigt, daß sich der hochmittelalterliche dt. Konsonantismus als Ganzes in einem systematisch nicht erkennbar geregelten Nebeneinander einer Vielzahl von eigenständigen Systemen realisiert. In dieses Erscheinungsbild kann ohne Schwierigkeit auch das (in der Überlieferung später einsetzende) Mnd. in seiner Frühphase eingeordnet werden, gegebenenfalls sogar das Konstrukt einer „temperierten maasländisch-westmd.-thür. Literatursprache“ (Schieb 1970, 352 f.), wenn es sich denn halten läßt. Damit ist gegenüber dem Frnhd. eine wiederum verschiedene Qualität des diasystematischen Bezugs zwischen selbständigen Sy-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
stemen angezeigt: Wesentliche Kennzeichen sind die (annehmbare) Autonomie einer Anzahl nicht sicher bestimmbarer oraler Kodes, das Nebeneinander heterogener, aber untereinander vergleichbarer literaler Kodes ohne allgemein wirksame nachhaltige Vereinheitlichung, der (potentielle) wechselseitige Bezug der Systeme aufeinander in mehr oder weniger stabilen, in soziokommunikativen Netzwerken realisierten Kontaktkonstellationen. Man kann in diesem Verständnis von koexistierenden Phonemsystemen sprechen (vgl. Pulgram 1964). 2.5. Desintegrierte konsonantische Phonemsysteme im frühmittelalterlichen Deutsch im Rahmen einer kommunikationsgeschichtlichen Beschreibungskonvention (1) Auch für das frühneuzeitliche Deutsch wird in der sprachhistoriographischen Praxis traditionell eine nach dem Kriterium durchgeführter/nichtdurchgeführter LV getrennte Betrachtungsweise appliziert (Ahd. vs. Asächs./ And.); vgl. dazu 1.2. (1). Für das Ahd. liegt, befördert durch die wissenschaftsgeschichtlich überakzentuierte Interessenfokussierung auf jenen Lautwandel, eine Vielzahl von konsonantischen Systemkonstruktionen vor. Sie beruhen auf unterschiedlichen Datengrundlagen, z. T. hochdifferenten methodologischen Konzepten (von historisch-vergleichend über philologisch bis generativ-dialektologisch) bzw. Zielsetzungen und/oder analysemethodischen Zugriffen; zum detaillierten Forschungsüberblick und zur wechselseitigen Kritik im einzelnen vgl. u. a. Schützeichel (1961); Lerchner (1971); Bergmann (1980). Venema (1997). Die Verschiedenheit der ermittelten Systeme indiziert das gravierende Defizit vollständiger graphemisch-phonischphonemischer Auswertungen der Überlieferung Denkmal für Denkmal und Schreibdialektgebiet für Schreibdialektgebiet (Simmler 1985a, 993) sowie die prinzipielle Unhaltbarkeit einer sprachräumlich bestimmten Be-
Lenes Fortes Sonorlaute
schreibungshypothese, die von rezenten Dialektbefunden ausgeht. Insofern die graphematische Analyse der ahd. Denkmäler Isidor, Tatian, Otfrid, Notker bei allen Vorbehalten die meisten wechselseitigen Übereinstimmungen im Konsonantensystem des Tatian festgestellt hat (Valentin 1962), sei dies trotz aller berechtigter Einwände (vgl. Fleischer 1966, 10; auch Penzl 1964, 289) in der Funktion einer allgemeinen deskriptiven Vergleichsgröße angeführt; die z. T. nicht unerheblichen Differenzen, die eventuell auch den einzurechnenden zeitlichen Unterschieden zuzuschreiben sind, können hier nicht im einzelnen diskutiert werden (vgl. Lerchner 1971, 136ff.). Generell ist für das aobd. Konsonantensystem dessen durch die Besonderheiten der Dentalordnung bedingte Inkonzinnität hervorhebenswert. Es entsteht mit dem „scharfen“ s-Laut ein neuer Phonemtyp neben dem „alten“ /s/. Wenn man sich für monophonematische Wertung entscheidet, sind die Affrikaten ebenfalls als Phonemtyp auffällig. Als Korrelationsmerkmal gilt, wie durch Notkers Anlautgesetz erweisbar, Druckstärke; in obd. Systemen auch Quantität. (2) Aus der Vielfalt der untereinander abweichenden phonematischen Strukturierungen des ahd. Konsonantismus läßt sich die Schlußfolgerung rechtfertigen, daß diese, und zwar nicht nur durch unterschiedliche Beschreibungsansätze oder die Überlieferungslage bedingt, auf die Gesamterscheinung von „in den bedeutendsten Scriptorien ausgebildeten recht unfesten Schreib- und Schulsprachen“ verweisen, „die kaum über den Einflußbereich des betreffenden Klosters hinausreichten“ (Schröder 1959, 54). Beträchtliche Unterschiede zwischen gesprochener Sprache sprachlandschaftlicher Geltung und Schriftgebrauch konnten gerade auch im Entwicklungsstand des Konsonantismus nachgewiesen werden (Sonderegger 1961). Gleichwohl legt der bezeugte Schreibsprachenwechsel in bedeutenden Scriptorien (Reichenau, Fulda) eine weitgehende wechselseitige Kommunika-
schwachklingende Laute
scharfklingende Laute
/b/ [d] /g/ /t/
/v/ [th] /s/ /h/
/bb/ /tt/ /gg/ /cc/
/f/ /ph/
/ss/ /zz/ /hh/ /ts/
/w/ /j/ /m/ /mm/ /n/ /nn/ /l/ /ll/ /r/ /rr/
Abb. 169.3: Konsonantensystem des ahd. Tatian (aus: Valentin 1962, 345)
169. Konsonantische Lautsystementwicklungen in der Geschichte des Deutschen
tionsfähigkeit zumindest auf literaler Ebene nahe (vgl. u. a. Simmler 1985a, 993). Daß diese durch das kulturell überdachende Latein befördert worden ist, kann mit aller Vorsicht angenommen werden. (3) Den ahd. Systemen steht auf literaler Ebene ein and. System gegenüber (Klein 1985, 1077), das überlieferungsbedingt im wesentlichen auf den Verhältnissen in Heliand und Genesis beruht: /p/ /b/ /[f v]/ /w/ /m/
/t/ /d/ /[p d]/
/[s z]/
/[k c]/ /[g g]/ /x/ /j/
/h/
/n/ /l/ /r/
Abb. 169.4: Konsonantensystem des Asächs. (aus: Klein 1985, 1077)
Der Systemvergleich ergibt sowohl hinsichtlich der Phoneminventare als auch der jeweiligen Strukturen gravierende Differenzen (neben den Phoneminventaren vor allem Stimmton- gegen Druckstärkekorrelation). Diese werden traditionell als einseitige Neuerung im Hochdeutschen ⫺ als Ergebnis der diesem eigentümlichen II.LV ⫺ gegenüber Beharrung auf Westgermanischem im Asächs. interpretiert. Es ist mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß sich diese Sichtweise aber einer verkürzten sprachgeschichtlichen Perspektive verdankt: Zum einen dürften die Differenzen im Konsonantismus Teil sein komplexerer bzw. tieferer Systemgegensätze, die freilich zum guten Teil auch nur erschlossen sind; vgl. 1.2. (4). Andererseits ⫺ und dies auf wesentlich gesicherterer Grundlage ⫺ haben die umfangreichen Nachweise von historisch alten Belegen bzw. Spuren bodenständiger LV im Moselfränkischen (Bruch 1953), im Ribuarischen und im Westfränkischen (Schützeichel 1961; 1966/67; 1971), dazu möglicherweise auch in der weiteren Ost- und Westgermania (Höfler 1958) das Beschreibungsraster einer nur hd.-nd. Bedingungskonstellation frühneuzeitlicher konsonantischer Systemgegensätze objektiv gesprengt. Wie im einzelnen auch immer zu bewerten: Wenn man sich von der forschungsgeschichtlich oktroyierten zwanghaften Vorstellung befreit, den frühneuzeitlichen „deutschen“ Konsonantismus zu irgendeinem vorgeschichtlichen hypothetischen System (oder zu Systemen) in lineare Beziehungen setzen und dann von diesem schwanken Grund aus
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prädisponierte Verlaufs- und Ursachenerklärungen für die von diesem Blickwinkel aus gefaßten Veränderungen geben zu müssen, dann interessiert vom Interessenstandpunkt einer Beschreibung konsonantischer Entwicklungen in der Geschichte des Deutschen eigentlich nur der aus der anhaltenden Diskussion unstrittig ableitbare Sachverhalt, daß es in dieser (sehr langwährenden Epoche!) mit großer Wahrscheinlichkeit eine größere Anzahl selbständiger, durch erhebliche Heterogenität gekennzeichneter Systeme gegeben hat, und zwar solche wie das Altalemannische/Altbairische; solche, die dem Aobd. ähnliche (aber nicht notwendig damit identische) konsonantische Strukturen aufgewiesen haben wie z. B. das merowingische West- und das Mittelfränkische; und solche wie das Asächs. Alles andere ⫺ also auch denkbare Kontaktbzw. Interaktionsbeziehungen der Systeme zueinander (vgl. Lerchner 1971, 254 ff.) ⫺ kann dann in den Bereich von mehr oder weniger scharfsinnigen, in ihrer wechselseitigen Unvereinbarkeit aber mit sprachwissenschaftlichen Instrumentarien nicht zuverlässig verifizierbaren oder falsifizierbaren Hypothesen verwiesen werden. Gegen deren grundsätzliche Nützlichkeit ist damit selbstverständlich nichts gesagt. Referat und Kritik der einander fortzeugenden heterogenen Lautverschiebungstheorien sind hier jedoch verzichtbar. (3) Aus kommunikationsgeschichtlicher Sicht legt der mit vielen Lücken und starken Unsicherheiten belastete Befund zum frühneuzeitlichen Deutsch zumindest die Frage nahe, ob in dieser Periode auf die mit den verschiedenen (arealen) Systemen annehmbar korrelierenden Gemeinschaften von Sprechern überhaupt schon die neuzeitlich geprägten Vorstellungen von Sprachgemeinschaften unreflektiert anwendbar sind, sei es in der Form der strukturalistischen Homogenitätsthese oder des von der historischen Dialektologie applizierten sozialgeographischen Makrokonzepts über Jahrhunderte hinweg im wesentlichen statischer, in sich einheitlicher Landschaftssprachen. So sicher, wie das in Grammatiken und Sprachgeschichtsdarstellungen scheinbar selbstverständliche Hantieren mit einem Gemisch aus politischen, geographischen und soziokulturellen Bezeichnungen für sprachliche Gebilde unterschiedlicher historischer Reichweite und Stabilität dies suggeriert, kann das für frühmittelalterliche Verhältnisse keineswegs in Anspruch genommen werden. Es erscheint angesichts der gerade erst zur Ruhe kommenden demogra-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
phischen und politischen Bewegungen der Zeit durchaus hinterfragenswert, ob die den Schreibdialekten der Überlieferung zuzuordnenden Sprechergruppen wirklich bereits fest etablierte, sprachlich homogene kommunikative Gemeinschaften im neuzeitlichen Verständnis gebildet haben. Welche dieser „Dialekte“ gar retrospektiv in den Beschreibungsverbund dt. Sprachentwicklung einzubeziehen sind, unterliegt ausschließlich historiographischer Konvention (vgl. Art. 1, Abschn. 2 und 3). Ansätze einer analytisch feststellbaren überregionalen Integration sind, von forschungsgeschichtlich längst abgelegten spekulativen Konstrukten wie dem einer „karlingischen Hofsprache“ (Müllenhoff 1863) abgesehen, nicht erkennbar. Aus alledem ergibt sich für die Periode mit einem vertretbaren Wahrscheinlichkeitsgrad der Befund eines durch systemare Desintegration gekennzeichneten Nebeneinanders voneinander weitgehend unabhängiger, untereinander ⫺ möglicherweise in graduellen Differenzierungen ⫺ kommunikationsfähiger konsonantischer Systeme in zeitlich wechselnden Kontaktsituationen.
3.
Markierte Prozesse im Gang der Herausbildung des nhd. Konsonantismus
3.1. Zur Markierung von entwicklungsgeschichtlich signifikanten Veränderungen in der Diachronie des dt. Konsonantismus bedarf es der Feststellung von Zäsuren in der infrasystemaren Entwicklung eines über die Epochen verfolgbaren virtuellen Systems einnerseits und/oder in den systemgeschichtlichen Organisationsformen intersystemarer Systemgenese andererseits. Diese Zäsuren müssen keineswegs mit den für die Beschreibung in Abschn. 2 gewählten Schnittstellen zusammenfallen. Die Beschreibungsergebnisse legen vielmehr nahe, daß wohl generell nur mit sehr „schrägen Rissen“ und nicht im Verständnis von glatten Periodisierungsschnitten zu rechnen sein dürfte. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß diese interne Ungleichzeitigkeit (phonem)systematischer Veränderungen ⫺ oder die querschnitthafte Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität ⫺ die Gewähr bietet für die historische Identität eines dt. konsonantischen Systems mit sich selbst. 3.2. Der Strukturvergleich zwischen den für die verschiedenen Epochen angegebenen
Phonemsystemen ermöglicht ⫺ bei aller Virtualität der Vergleichsgrundlagen ⫺ die folgenden Feststellungen: (1) Gravierende strukturelle Veränderungen lassen sich zwischen frühmittelalterlichem und hochmittelalterlichem Hochdeutsch beobachten. Die Veränderungen beziehen sich insbesondere auf den Inkonzinnitätsabbau in der Dentalordnung, den Zusammenfall der beiden /s/Phoneme, die Erweiterung des Phoneminventars um /sˇ/ und den damit verbundenen Aufbau einer sibilantischen Opposition /s/ vs. /sˇ/; auf die (dialektal im Obd. allerdings z. T. weiterbestehende) Aufgabe der Quantitätskorrelation; die verschiedenen Konsonantenschwächungserscheinungen, die im gesprochenen Binnenhochdeutschen zum kompletten Zusammenfall von Verschlußlaut-lenesund -fortesreihe und damit zum Wechsel des Korrelationsmerkmals von Druckstärke zu Verschluß vs. Enge führt. Hinzu kommen die distributionellen Veränderungen, die durch Velarisierung, Metathese, h-Schwund, Assimilations- und Dissimilationserscheinungen sowie den partiellen Zusammenfall von /b, g/ mit /w, j/ in nicht-schriftsprachlichen Systemen bedingt sind. Ob für das Mhd. bereits ein Nasalphonem /n/ gilt oder Phonemverbindung /n ⫹ g/, ist umstritten. Da die phonematischen Wertungen hier im einzelnen von dem für den Systemaufbau in den verschiedenen Existenzweisen als bestimmend angesehenen Primärkorrelationen abhängen (Koppelungen von Druckstärke, Sonorität, Aspiration und Quantität), weichen die historiographischen Beurteilungen z. T. nicht unerheblich voneinander ab. Insgesamt gibt es guten Grund für die Annahme, daß beim Übergang vom Ahd. zum Mhd. ein grundlegender Wandel in der Systemstruktur stattgefunden hat (Simmler 1985b). Dies gilt ausdrücklich nicht für den nd. Bereich, dessen konsonantische Systeme, soweit erkennbar, nur von distributionellen Veränderungen betroffen sind. (2) Spätere Veränderungen in konsonantischen Systemen betreffen nicht mehr die internen Systemstrukturen. In diesem Verständnis kann von erreichter (relativer) Stabilität ausgegangen werden. (3) In bezug auf denkbare sprachgeschichtliche Markierungsleistungen von konsonantischen Entwicklungen im Deutschen darf nie die spezifische Tendenz vernachlässigt werden, daß sich dessen phonischer Kode zur Entwicklung seines literalen Kodes signifi-
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kant asynchron verhält. Diese sprachhistorische Spezifik übersteigt bei weitem das universell durchschnittliche, medial bedingte Maß an Ungleichmäßigkeit: Das dadurch hervorgerufene codebedingte Spannungsverhältnis induziert Innovationen des Systems, die in zeitphasen-verschobenen, d. h. in voneinander verschiedenen sprachgeschichtlichen Perioden „in Erscheinung treten“. Markantestes Beispiel ist die Konstituierung des nhd. oralen Standards als Resultat nd.-hd. Interferenz auf literaler Ebene. 3.3. In bezug auf die intersystemare Genese von kommunikationsgeschichtlich-realen diasystematischen Entwicklungen des dt. Konsonantismus fallen die historischen Zäsurbildungen wesentlich differenzierter aus. Sie werden gekennzeichnet durch signifikante Unterschiede ihrer Komplexität und ihrer funktional-pragmatischen Organisationsstrukturen. (1) Die sprachgeschichtliche Abfolge: desintegrierte Phonemsysteme ⫺ koexistierende Systeme ⫺ modular organisierte Diasysteme ⫺ monosystemares Diasystem kennzeichnet qualitativ markierte Unterschiede eines spezifischen Integrationsprozesses sprachgeschichtlich heterogener dt. Konsonantensysteme. (2) Damit sind zugleich Zäsuren unterschiedlicher funktionaler Komplexität und Differenziertheit des konsonantischen Gesamtsystems der dt. Sprache indiziert. Der Systemausbau erfolgt in der sprachgeschichtlichen Entwicklung in spezifischer Weise: nicht durch die Ausdifferenzierung eines historisch homogenen Systems, sondern durch intersystemare Interaktion. Das bedingt eine entwicklungsgeschichtliche Inhomogenität in der Abfolge der diasystematischen Systemzustände, die ihrerseits sprachhistorisch markierend wirken.
4.
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Gotthard Lerchner, Leipzig
2440
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
169a. Systementwicklungen des Deutschen im Bereich des Vokalismus 1. 2.
8.
Einleitung Die „neuhochdeutsche Monophthongierung“ Die „neuhochdeutsche Diphthongierung“ Entrundung der Umlaute und kombinatorische Rundungen Senkungen und Hebungen Dehnung und Kürzung Die systematischen Vokalentwicklungen im Ostthüringisch-Obersächsischen und ihre Integration in die neuhochdeutsche Schriftsprache Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
3. 4. 5. 6. 7.
Der folgende Beitrag bezieht sich auf Systementwicklungen im Vokalismus, die sich vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen vollzogen haben. Mit Bezug auf die nhd. Schrift- und Standardsprache werden als qualitative Lautwandlungen die „neuhochdeutsche Monophthongierung“, die „neuhochdeutsche Diphthongierung“, Entrundungen und Rundungen, Senkungen und Hebungen sowie als quantitative Veränderungen die „neuhochdeutsche Dehnung“ und Kürzungen auf dem Hintergrund ihrer zunächst dialektalen Entwicklungen behandelt. Seit den Anfängen der historischen Grammatik um 1820 wurden die einzelnen Lautentwicklungen isoliert betrachtet und allenfalls sich parallel verhaltende Erscheinungen zu Lautgruppen zusammengefaßt. Obwohl die sich um 1870/80 entwickelnde Phonetik die korrespondierende Bildungsweise vorderer und hinterer Hoch- und Mittelzungenvokale erkannte und auch parallele Entwicklungen konstatierte ⫺ so schon 1876 Jost Winteler anhand der Schweizer „Kerenzer Mundart des Kantons Glarus“ und dann 1886 Johann Willibald Nagl am Dialekt des südöstlichen Niederösterreichs ⫺, stand der weiteren sprachhistorischen Nutzung solcher Erkenntnisse der sprachliche Atomismus und Mechanismus der Junggrammatiker lange Zeit entgegen. So hatte zwar August Leskien 1876 die Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze postuliert, aber schließlich Eduard Sievers (1893, 251) für die ‘spontanen’ Lautveränderungen angenommen, daß sie „lediglich der freien Willkür der Sprechenden ihren Eintritt verdanken, ohne an eine andere Bedingung geknüpft zu sein“.
Willkürlichkeit als Konzept und Atomismus als Methodik schienen ihre Bestätigung durch die um 1910 sich bildende Dialektographie der Marburger Schule Ferdinand Wredes (Knoop/Putschke/Wiegand 1982, Grober-Glück 1982) zu erhalten, der aus abweichenden Grenzverläufen gleichartiger Lauterscheinungen folgerte, daß jedes Wort und damit auch seine lautliche Gestaltung über eine eigene, selbständige Entwicklungsgeschichte verfüge. So wurden auch außersprachliche Faktoren wie der geographische Raum, die Territorialgeschichte und die diözesanen und dann konfessionellen Verhältnisse mit ihren jeweiligen Raum- und Grenzbildungen sowie der Verkehr und damit die geographisch, territorial, kirchlich und wirtschaftlich bedingten Kommunikationsverhältnisse für die diachronischen Veränderungen verantwortlich gemacht. Wrede (1919) sah daher an Stelle der Phonetik im historischen Atlas das wichtigste Erklärungsinstrument der Dialektgeographie. Zugleich anerkannten die Philologen für die ältere Zeit bloß die schriftliche Überlieferung als einziges wirklich verbindliches sprachhistorisches Zeugnis, während die von der Dialektgeographie aus der Territorialgeschichte gezogenen Datierungsschlüsse nur als hypothetisch galten. Dabei wurde außerdem unterstellt, daß schriftliche Wiedergaben überall als Abbildungen der tatsächlichen Lautverhältnisse anzusehen wären. Daß dies im Vergleich mit anderen europäischen Sprachen wie etwa dem Englischen und Französischen aber nicht der Fall ist, die nämlich schriftlich auf einer älteren Stufe verharren, während die Aussprache geneuert und jünger ist, wurde dabei übersehen und somit für das Verhältnis von Schreibung und Aussprache älterer Perioden des Deutschen nicht in Betracht gezogen. Solchen Anschauungen widersprach die weiterhin an der Phonetik festhaltende und sie nützende, sich ebenfalls um 1910 konstituierende Wiener dialektologische Schule (Wiesinger 1976, 1983). In ihr trat zunächst Anton Pfalz für die Wirksamkeit innersprachlicher Kräfte ein und wies 1918 mit dem Prinzip der „Reihenschritte“ parallele Weiterentwicklungen der korrespondierend gebildeten vorderen und hinteren Mittel- und Hochzungenvokale und der mit ihnen gebildeten steigenden und fallenden Diphthonge nach (Wiesinger
169a. Systementwicklungen des Deutschen im Bereich des Vokalismus
1970, Bd. 1, 3 ff.; 1982). Damit widerlegte er die Auffassung von der Willkürlichkeit des Lautwandels und trat 1925 auch der atomistischen Unsystematik Wredes und der Marburger Schule entgegen, indem er Verbreitungsunterschiede bei gleichen lautlichen Grundlagen auf soziologische Sprachschichtunterschiede zurückführte. Es war in Wien, wo der seit 1922 als Slavist tätige Nikolai S. Trubetzkoy als Angehöriger der sogen. „Prager Schule“ sich mit Fragen der Lautsystematik beschäftigte und die Phonologie als funktionale Lautlehre mit dem Phonem als Einheit, seinen allophonischen phonetischen Realisierungen und seinen Verankerungen durch Relationen und Korrelationen im Lautsystem entwickelte. Obwohl Trubetzkoys „Grundzüge der Phonologie“ erst posthum 1939 erschienen, gab es persönliche Kontakte mit Pfalz, so daß dieser bei verwandten Anschauungen bereits 1936 mit dem Beitrag „Zur Phonologie der bairisch-österreichischen Mundart“ die neuen Erkenntnisse erstmals im Deutschen praktisch anwandte und damals seine Schüler Paul Rauchbauer, Adolf Korkisch und Alexander Laky in leider ungedruckten Dissertationen mittelbairische Dialekte phonologisch bearbeiten ließ. Auf die Bedeutung der lautsystematisch-phonologischen Betrachtungsweise machte dann in den 1950er Jahren in der Wiener dialektologischen Schule, wo ja durch das Festhalten an der Phonetik und durch die Erklärung des Lautwandels als eines gerichteten, von innersprachlichen Faktoren ausgelösten Prozesses die besten Voraussetzungen für die Anwendung bestanden, Eberhard Kranzmayer aufmerksam. Während er in seiner phonetischphonologischen Studie von 1953 „Lautwandlungen und Lautverschiebungen im gegenwärtigen Wienerischen“ rezente Wandlungen im Vokalsystem aufzeigte, behandelte er in seiner „Historischen Lautgeographie des gesamtbairischen Dialektraumes“ von 1956 die Vokalentwicklungen als Reihenschritte. Der Strukturalismus und insbesondere die Phonologie ⫺ nach amerikanischer Terminologie oft auch Phonemik genannt ⫺ nahm dann in den folgenden rund 25 Jahren bis gegen 1980 großen Aufschwung. Es war der Amerikaner William Moulton, der anhand schweizerdeutscher Dialekte mit Hilfe der Phonologie vokalische Systemwandlungen im Anschluß an die Weiterentwicklung der Phonologie durch Andre´ Martinet als Schub und Sog seit mhd. Zeit aufzeigte und zugleich nachwies, daß Systemwandlungen nicht
2441
punktuelle Erscheinungen sind, sondern genaue areale Verbreitungen zeigen. Peter Wiesinger gab dann 1970 in seinen „Phonetischphonologischen Untersuchungen zur Vokalentwicklung in den deutschen Dialekten“ eine systematische Darlegung der Reihenschritttheorie, ihrer Voraussetzungen, Auswirkungen und Ausnahmen und verband sie mit dem später als taxonomisch bezeichneten Strukturalismus zur Darstellung und Erklärung der Langvokale und Diphthonge als Ergebnisse regulärer struktureller Entwicklungen seit dem Mittelhochdeutschen. Unter Miteinbeziehung der aus den verschiedenen Vokalentwicklungen abgeleiteten Phonogenetik als Lehre von den Entwicklungsmöglichkeiten der Vokale (Wiesinger 1985, 1991) versuchte dann Wiesinger die diachronischen Systementwicklungen von Dialektgebieten als Strukturgeographie zu rekonstruieren wie des Hochpreußischen (1971), des Nordripuarisch-Bergischen (1975), des Hessischen (1980) und des Neiderländisch-Schlesischen (1988). Von Moulton wurde die Phonologie 1961 auch zur Erklärung der historischen Lautentwicklungen des Deutschen vom Alt- über das Mittel- zum Neuhochdeutschen und damit zum strukturellen Verständnis der historischen Lautlehre als Teilgebiet der historischen Grammatik eingesetzt. Ihm folgten u. a. Herbert Penzl (1969, 1975), Wolfgang Herrlitz (1970) und Aleksander Szulc (1987). Es ist zwar prinzipiell möglich, das nhd. Lautsystem aus dem mhd. Lautsystem abzuleiten. Was jedoch ein solches, letztlich als Entwicklung verstandenes Verfahren fraglich macht, ist die Tatsache, daß die nhd. Schriftsprache als geschriebene Sprache nicht die unmittelbare Weiterentwicklung des Mittelhochdeutschen darstellt, abgesehen davon, daß das Mittelhochdeutsche keine Einheitssprache war, wie das bei solchen Verfahren zugrundegelegte „Normalmittelhochdeutsche“ suggeriert, das ein aus der handschriftlichen Überlieferung und aus den Reimverhältnissen der „klassischen“ mhd. Dichtungen um 1200 abgeleitetes, normiertes Konstrukt ist. Die hier namhaft gemachten wesentlichen Entwicklungen der sogen. nhd. Monophthongierung und Diphthongierung sowie der Dehnung mhd. Kurzvokale in offener Silbe und der Kürzung einzelner Langvokale sind vielmehr in unterschiedlichem Umfang geltende Entwicklungen der einzelnen Dialekte, wozu noch einzelne Senkungen und Hebungen sowie Entrundungen und Run-
2442
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
dungen hinzukommen, die in den Dialekten ebenfalls systematisch durchgeführt sind. Sie wurden in die verschiedenen regionalen frnhd. Schreibsprachen auch unterschiedlich integriert und insbesondere in die omd.-obersächs. Schreibsprache Meißens, die von Martin Luther aufgegriffen und in der 1. Hälfte des 16. Jhs. mit dem Protestantismus und der Reformation schließlich zur Grundlage der sich im omd.-norddt. Raum entwickelnden nhd. Schriftsprache wurde. Nicht nur daß sie erst durch Johann Christoph Gottsched im Rahmen der Aufklärung ab 1750/60 im obd. Süden von Österreich und Bayern an die Stelle der auf der Grundlage der bair. Kanzleisprache Kaiser Maximilians I. entwickelten obd. „katholischen“ Schriftsprache trat, waren die landschaftlichen Ausspracheverhältnisse, wie Friedrich Neumann am unterschiedlichen Reimverhalten der omd.-norddt. Dichter des 17./18. Jhs. schon 1920 zeigen konnte, regional recht unterschiedlich. Die Zusammenführung von schon um die Mitte des 17. Jhs. sich weitgehend festigender nhd. Schreibung im omd.-norddt. Raum und erst im 19. Jh. sich durchsetzender norddt. Aussprache auf schriftlicher Grundlage als Basis derartiger diachroner struktureller Betrachtungen hat daher keine unmittelbaren realen Grundlagen und bleibt somit Konstrukt. Es ist daher notwendig, die für die nhd. Schriftsprache prägend gewordenen vokalischen Lautverhältnisse in ihren dialektalen Entwicklungen darzustellen und weiter zu verfolgen, wie sie in die nhd. Schriftsprache gelangt sind. Vorweggenommen sei, daß ihre Erklärung in hartnäckig festgehaltener Tradition vielfach immer noch ausschließlich unter dem Aspekt der Wellentheorie und damit der punktuellen bzw. kleinräumigen Monogenese mit sich anschließender großräumiger Ausbreitung gesehen wird und nicht, wie es die teilweise unterschiedlichen Ausprägungen nahe legen, unter dem Aspekt der Entfaltungstheorie mit mehrfacher Entstehung, also Polygenese, so daß sich mit der Durchsetzung in den einzelnen Kleinräumen schließlich durchaus ein gleichgestalteter Großraum ergeben kann.
2.
Die „neuhochdeutsche Monophthongierung“
Unter „nhd. Monophthongierung“ erfaßt man die im Vergleich zu den normalmhd. Diphthongen ie ⫺ üe ⫺ uo in der nhd. Schrift-
und Standardsprache geltenden Monophthonge *ie+ ⫺ *ü+ ⫺ *u+ / [ı¯] ⫺ [ü¯ ] ⫺ [u¯ ], z. B. [lı¯p] ‘lieb’, [brü¯dA] ‘Brüder’, [gu¯t] ‘gut’, die quasi durch Monophthongierung aus jenen entstanden sind. Der zugrundeliegende Lautwandel war jedoch zeitlich ein frühmhd. Vorgang des 11./12. Jhs. und beschränkte sich räumlich auf den ostfränkischen, westmd. und ostmd. und niederfränkischen Raum. Die gängige Bezeichnung „nhd. Monophthongierung“ kann daher ebensowenig als zeitlicher Prozeßterminus gelten wie der Versuch Penzls (1975, 115), mit „frühnhd. Monophthongierung“ eine Präzisierung zu erreichen. Reichmann/Wegera (1993, 67 ff.) sprechen daher richtiger von „md. Monophthongierung“, die in die nhd. Schriftsprache Eingang fand. Die Entwicklungsvorgänge und lautlichen Formationen sind daher in den ostfränkischen und ostmd. und niederfränkischen Dialekten zu betrachten. Die mhd. fallende Diphthongreihe ie ⫺ üe ⫺ uo hatte sich schon spätahd. Ende des 10. Jhs. formiert, indem sich der ahd. Reihe ie ⫺ uo (oder ia ⫺ ua) aus germ. e¯2 ⫺ o¯ der ahd. Diphthong io aus germ. eo, dem Ergebnis der „Brechung“ von germ. eu vor a, e, o der Folgesilbe, durch Abschwächung seiner 2. Komponente angeschlossen und damit das nur schwach besetzte palatale erste Reihenglied aufgefüllt hatte. Die fallende Diphthongierung der germ. Reihe e¯2 ⫺ o¯, die zuletzt auf jeden Fall geschlossene Qualität aufwies, war im Fränkischen und Alemannischen schon im 8. Jh. über ea ⫺ oa mit anschließender Hebung der 1. Komponente zu ie ⫺ uo erfolgt, während sich dieser Prozeß im Bairischen erst in der 1. Hälfte des 9. Jhs. vollzog. Die Monophthongierung setzte dann im Westmd. und Niederfränkischen in der 2. Hälfte des 11. Jhs., also in frühmhd. Zeit ein, indem zunächst für mhd. uo und üe neben verbleibendem *u˚ + die monographische Schreibung *u+ auftritt, während für mhd. ie vielfach die digraphische Schreibung *ie+ fortbesteht ⫺ so im niederfr. Niederländischen bis heute ⫺ und monographisches *i+ zurücktritt. Beim niederfränk.-limburgischen Dichter Heinrich von Veldeke gelten um 1165 bereits monophthongische Reime wie nı¯t : rı¯t für mhd. niht : riet. Auch Assonanzen in älteren mittelfränk. Dichtungen wie im Annolied von etwa 1085 wie mhd. kriechen : rıˆche, diet : begeˆt, bestuont : truˆt und in der Mittelfränkischen Reimbibel um 1120 wie mhd. kriuze: lieze, liute : güete, suoze : schoˆze dürften wegen größerer Ähnlichkeit
169a. Systementwicklungen des Deutschen im Bereich des Vokalismus
bereits Monophthonge voraussetzen. Die Monophthonge des Ostfränkischen, die im Oberostfränkischen bewahrt sind, führt Hugo Steger (1968, 333 ff.) im Zusammenhang mit der Entstehung des Ostfränkischen auf thüring.-md. und obd. Sprachmischung zurück. Auf Sprachausgleich beruht auch das Ostmd., das in der deutschen Ostsiedlung des 11.⫺14. Jhs. durch Siedler aus dem Ostfränkischen, Thüringischen und Westmd. zustande kam, und dessen Monophthonge somit mitgebrachtes Erbe sind. Die Qualität der neuen Monophthonge war großteils offenes ¯˛ı ⫺ ü˛¯ ⫺ u˛¯ , so daß stets der Unterschied zu den ursprünglichen mhd. Monophthongen ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ als geschlossenes ¯ı ⫺ ü¯ ⫺ u¯ gewahrt war. Eine genaue Beschreibung der Verbreitung der Monophthongierung und der phonologischen Verhältnisse in den Dialekten gibt Wiesinger (1970, Bd. 2, 1 ff. und Ktn. 12⫺14; 1983 b und Kt. 2). Sie gilt im Niederfränkischen, im gesamten Westmd. und Ostmd. sowie im anschließenden Ostfränkischen und als Grundlage im Nordbairischen des Obd., während das übrige Obd. mit dem Alemannischen und dem Süd- und Mittelbairischen die Diphthonge bewahrt, z. B. [liAb] ‘lieb’, [brüAdA/briAdA] ‘Brüder’, [guAd] ‘gut’. Ursprüngliches offenes ¯˛ı ⫺ u˛¯ bei Umlautentrundung hat sich nur mehr im südlichen Rheinfränkischen des östlichen Lothringens und nordöstlichen Elsaß sowie resthaft in Teilen des Ost- und Nordhessischen und des Thüringischen erhalten und fiel im Niederfränkischen sowie in anderen Teilen des Ost- und Nordhessischen und des Thüringischen mit den erhaltenen Monophthongen für mhd. ˆı (⫺ üˆ) ⫺ uˆ meist erst im Laufe des 19. Jhs. in geschlossenes ¯ı (⫺ ü¯) ⫺ u¯ zusammen, wobei gebietsweise mhd. uo und mhd. uˆ noch durch Palatalisierung des letzteren zu ü¯ unterschieden sind. Im größten Teil des Rheinfränkischen, im Ostfränkischen, Obersächsischen, Schlesischen und Hochpreußischen gelten geschlossene Monophthonge ¯ı (⫺ ü¯) ⫺ u¯, die diese Qualität erst durch Aufrücken auf die durch die nhd. Diphthongierung von mhd. ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ freigewordenen Positionen erlangt haben. Im Mittelfränkischen mit Moselfränkisch und Ripuarisch sowie im Kerngebiet des Osthessischen treten geschlossene Monophthonge e¯ (⫺ ö¯) ⫺ o¯ auf. Obwohl teilweise Fortbestand von germ. e¯2 ⫺ o¯ vermutet wurde, was schon wegen des Anschlusses von germ. eo problematisch ist, zeigt das strukturelle lautsystematische Verhalten, daß in all
2443
diesen Gebieten zunächst die fallenden Diphthonge galten und diese bei offener Qualität ihrer 1. Komponenten und in Verbindung mit gleichzeitiger Senkung zu geschlossenen Mittelzungenvokalen monophthongiert wurden (vgl. Wiesinger 1970, Bd. 2, 40 ff.; 1983b, 1081). Im Zentralhessischen, im Nordbairischen sowie im ostfränk.-obersächs. Übergangsbereich des Reußischen trat unabhängig von einander steigende Diphthongierung der neuen, inzwischen geschlossenen Monophthonge zu ei ⫺ ou ein, die im Reußischen auch mhd. Dehnungs-ı¯ ⫺ ü¯ ⫺ u¯ miterfaßte. Die neuerliche steigende Diphthongierung vollzog sich auch im südwestlichen Moselfränkischen des oberen Mosel- und unteren Saargebietes mit dem westlichen Lothringen und Luxemburg. Umgekehrt wurden die Monophthonge im Unterostfränkischen des Würzburger Raumes und im Hennebergischen sowie in einem zentralthüringischen Gebiet neuerlich zu ie ⫺ üe ⫺ ue fallend diphthongiert. Vereinzelt begegnen Senkung und neuerliche steigende oder fallende Diphthongierung auch sonst noch. Die Entstehung der Monophthongierung wird unter dem Aspekt der Wellentheorie von den einen im Westmd. (z. B. Paul/Wiehl/ Grosse 1998, 71 ff.; Reichmann/Wegera 1993, 69) und von den anderen im Ostmd. (z. B. Penzl 1969, 83) mit sich jeweils anschließender Ausbreitung gesucht. Strukturelle Erklärungsversuche mit Hilfe von Schub und Sog führen zu keinen befriedigenden Lösungen, vor allem dann nicht, wenn im Sinne der nhd. Schriftsprache eine Kausalverkettung mit der nhd. Diphthongierung versucht, jedoch kein Bezug auf ein bestimmtes Dialektgebiet vorgenommen wird. Die Entstehungsursache muß vielmehr in den Dialekten und ihrer Lautgeschichte gesucht werden. Hier weisen zwischen 1880 und 1930 beobachtete und mehrfach beschriebene Lautwandlungen im Mittelalemannischen des Bregenzer Vorderwaldes um Hittisau den Weg, deren Ursache akzentuelle Wandlungen sind. Steigender Akzent bewirkte dort als rezenter Prozeß die Monophthongierung der fallenden Diphthonge für mhd. ie ⫺ üe ⫺ uo zu ¯ı ⫺ ü¯ ⫺ u¯, während die bisherigen geschlossenen Monophthonge für mhd. ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ den Weg der steigenden Diphthongierung zu dissimilierten ˛i¯ı ⫺ ü˛ü¯ ⫺ u˛u¯ einschlugen. Das hätte zu regelrechten steigenden Diphthongen ei ⫺ öü ⫺ ou führen können, hätten schließlich regionalsprachliche Ausgleichsvorgänge um 1940 diesen Prozeß nicht unterbunden (vgl. Wie-
2444
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Karte 169a.1: Monophthongierung von mhd. ie vor Plosiven und Frikativen (aus: Handbuch Dialektologie, Bd. 2, 1983)
singer 1970, Bd. 2, 12 und Bd. 1, 82 mit Angabe der älteren Literatur). Ein solcher Akzentwandel, wobei für das Mittelfränkische zu berücksichtigen ist, daß mhd. ie ⫺ üe ⫺ uo und mhd. ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ im Rahmen der sogen. „Rheinischen Akzentuierung“ verschiedene Tonakzente aufweisen, wird auch im Mitteldeutschen wirksam gewesen sein. Bereits Victor Michels (1921, 98) hat mit akzentuellen Ursachen gerechnet und darauf hingewiesen, daß die unterschiedlichen Akzentschreibungen von Notker von St. Gallen im Spätahd. als *ı´e+ ⫺ *u´o+ und *ıˆ+ ⫺ *uˆ+ verschiedene, auch für das Mitteldeutsche anzunehmende Akzentuierungen ausdrücken.
Sowohl das südwestliche Moselfränkische als auch das Zentralhessische zeigen in der Entwicklung ihrer Vokalsysteme dieselben Vorgänge wie im Bregenzer Vorderwald, indem der Monophthongierung der fallenden Diphthongreihe die steigende Diphthongierung der ursprünglichen Mononphthongreihe gefolgt ist. Ja der steigende Diphthongierungsvorgang ging dort weiter, indem in einem zweiten Entwicklungsschritt die neuen geschlossenen Monophthonge ¯ı ⫺ u¯ für mhd. ie (⫺ üe) ⫺ uo ihrerseits zu ei ⫺ ou steigend diphthongiert wurden und die älteren steigenden Diphthonge für mhd. ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ durch Öffnung bzw. Senkung zu e˛i ⫺ o˛u bzw. ai˛ ⫺
169a. Systementwicklungen des Deutschen im Bereich des Vokalismus
au˛ auswichen. In dieser Abfolge von Sog und Schub waren auch mhd. eˆ (⫺ oe) ⫺ oˆ schließlich zu geschlossenem ¯ı ⫺ u¯ gehoben worden und boten somit neuerlich die Voraussetzung zur steigenden Diphthongierung. Während sie als dritter Schritt im südwestlichen Moselfränkischen des unteren Saargebietes nur im Auslaut eintrat, vollzog sie sich im übrigen Bereich auch vor Konsonanten, so daß dort schließlich die neuen steigenden Diphthonge für mhd. eˆ (⫺ oe) ⫺ oˆ mit den schon älteren für mhd. ie (⫺ üe) ⫺ uo in ei ⫺ ou zusammenfielen, weil bereits die Diphthonge für mhd. ˆı (⫺ üˆ) ⫺ uˆ durch Senkung zu offenem e˛i ⫺ o˛u bzw. ai˛ ⫺ au˛ ausgewichen waren und mehr als drei steigende Diphthongreihen phonologisch auf Dauer nicht unterscheidbar sind (vgl. die Übersicht bei Wiesinger 1970, Bd. 2, 40 ff.). Ähnliche strukturelle Entwicklungsvorgänge zeigt auch das Nordbairische. Dort wurde durch steigende Akzenteinwirkung nicht nur mhd. ˆı (⫺ üˆ) ⫺ uˆ über ei ⫺ ou zu ai˛ ⫺ au˛ und mhd. ie (⫺ üe) ⫺ uo über ¯ı ⫺ u¯ zu ei ⫺ ou steigend diphthongiert, sondern auch offenes e˛¯ ⫺ o˛¯ für mhd. eˆ (⫺ oe) ⫺ oˆ und überoffenes a˚ für mhd. aˆ unterlagen der steigenden Diphthongierung zu e˛i ⫺ o˛u und a˚u˛, so daß dieser akzentuell ausgelöste Prozeß alle alten bzw. frühen Langvokale erfaßte (vgl. die Übersicht bei Wiesinger 1970, Bd. 1, 18 f. und das nordbair. Vokalsystem bei Wiesinger 1983a, 1054 f.). Es sollte daher hinsichtlich des genetischen phonetischen Vorgangs von der aus schriftlicher Sicht stammenden Bezeichnung der steigenden Diphthonge ei (⫺ öü) ⫺ ou für mhd. ie (⫺ üe) ⫺ uo als „gestürzte Diphthonge“ Abstand genommen werden. Zur Integration der neuen md. Monophthonge für mhd. ie ⫺ üe ⫺ uo in die nhd. Schriftsprache siehe Abschnitt 7.
3.
Die „neuhochdeutsche Diphthongierung“
Unter „nhd. Diphthongierung“ versteht man die im Vergleich zu den normalmhd. Monophthongen ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ in der nhd. Schrift- und Standardsprache geltenden Diphthonge *ei+ ⫺ *äu/eu+ ⫺ *au+ / [ai˛] ⫺ [o˛ü] ⫺ [au˛] z. B. [tsait˛] ‘Zeit’, [ho˛üsA] ‘Häuser’, [hau˛s] ‘Haus’, die in dieser quasi durch Diphthongierung aus jenen entstanden sind. Ihrer Herkunft nach gehen mhd. ˆı und uˆ auf die entsprechenden Monophthonge des Ahd. zurück, wobei sich mhd. ˆı gebietsweise Kontraktionen von
2445
ahd. -igi- und -ibi- wie ligit > lıˆt ‘liegt’ und gibit > gıˆt ‘gibt’ angeschlossen haben. Mhd. üˆ umfaßt die Umlaute von ahd. uˆ und des Diphthonges iu wie huˆsir > hüˆser ‘Häuser’ und liuti > lüˆte ‘Leute’. Während der nicht umgelautete ahd. Diphthong iu im Bairischen und Schwäbischen als mhd. iu fortbesteht und dann verschiedene selbständige Entwicklungen einschlug (Wiesinger 1970, Bd. 2, 233 ff. und Kt. 18), fiel er im östlichen Hochalemannischen mit dem umgelauteten Diphthong zusammen, so daß dort schon Notker von St. Gallen († 1022) im Spätahd. die gemeinsame Schreibung *iu+ verwendet, die sich durch den aus diesem Raum stammenden Dichter Hartmann von Aue dann im Normalmhd. fortsetzt. Durch die sogen. „Fränkische Regel“ ⫺ germ. eu wurde vor a, e, o der Folgesilbe durch „Brechung zu ahd. eo/io ⫺ war im Ostfränkischen und im Mitteldeutschen das Vorkommen von nicht umgelautetem iu sehr beschränkt, z. B. ahd. viur ‘Feuer’, hiutu ‘heute’, bliuwan ‘bleuen’. Während es im Ostfränkischen zum Anschluß an mhd. üˆ kam, erfolgte im Mitteldeutschen Monophthongierung und damit Zusammenfall mit mhd. uˆ (vgl. zusammenfassend Wiesinger 1970, Bd. 2, 241 ff.). Bezüglich des nicht umgelauteten ahd. Diphthongs iu befindet sich die nhd. Schriftsprache auf dem Zustand des Ostfränkischen, so daß im allgemeinen weder bezüglich dieser noch bezüglich des Normalmhd. auf diesen Sonderstatus hingewiesen wird. Der der „nhd. Diphthongierung“ zugrunde liegende Lautwandel war jedoch zeitlich und räumlich ein gebietsweise unterschiedlicher und läßt sich vor allem im mittelbairischen Donauraum schriftlich schon im 12. Jh. fassen, so daß er dort in die frühmhd. Zeit fällt. Die heutige räumliche Ausdehnung betrifft einen geschlossenen Bereich vom Bairischen im Osten bis ins Moselfränkische im Westen und bis ins Schlesische und Hochpreußische (bis 1945) im Nordosten, spart aber im Südwesten einen alemannisch-rheinfränkischen, im Nordwesten den ripuarischniederfränkischen sowie im Norden einen osthessisch-thüringischen Raum aus. Die gängige Bezeichnung „nhd. Diphthongierung“ kann daher nicht als zeitlicher Prozeßterminus gelten. Das noch heute allseits übliche und in so gut wie allen sprachhistorischen Lehrwerken zu findende Bild einheitlichen Verhaltens in allen Dialekträumen basiert auf der Wellentheorie und wurde in der Zeit von 1880⫺1930
2446
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
und somit von junggrammatischen und Marburger dialektgeographischen Auffassungen geprägt. Danach sei das Bairische und angeblich speziell das alpenländische Südbairische Tirols und Kärntens des 12. Jhs. der Entstehungsraum, in dem sich die Diphthongierung als Monogenese vollzogen habe. Von dort aus hätte sich dann allmählich der allerdings in seiner Art ohne jegliche weitere Entsprechungen einzigartige Ausbreitungsvorgang vollzogen, bis er schließlich im Nordwesten im 16. Jh. das Moselfränkische und das Hessische und im 15. Jh. im Nordosten das Obersächsische erreicht hätte. Bereits Karl Weinhold (1883, 98 ff.) hatte anhand des massierten Auftretens in der schriftlichen Überlieferung ein solches sukzessives schriftliches Voranschreiten konstatiert, welches dann Otto Bremer (1895, 47 ff.) als mündliche Ausbreitung deutete. Mit den sich auch in der sprachgeschichtlichen Betrachtung etablierenden Ansichten der Marburger Dialektgeographie fand schließlich die Kombination von schriftlichem Niederschlag und entsprechender mündlicher Aussprache ihre fortan weitgehend gültige Fixierung durch Kurt Wagner (1927, 36 ff.). Theodor Frings propagierte dann diese Auffassung 1948 in seiner „Grundlegung einer Geschichte der deutschen Sprache“ (1957, 31 ff.), wozu er eine damals verbreitete militärische Metaphorik gebrauchte und seine Karte mit Pfeilen versah, die die Vorstöße ausdrücken sollten. Für die Entstehung und Aufnahmebereitschaft der Diphthongierung im Sinne der Wellentheorie wurden verschiedene Ursachen namhaft gemacht. Ferdinand Wrede (1895) vermutete einen Zusammenhang zwischen Diphthongierung und e-Apokope, indem die zunächst auf zwei Silben verteilten Atemdruckgipfel bei e-Apokope sich im Monophthong vereinigen und diesen in die beiden Diphthongkomponenten spalten würden, was nicht nur dialektgeographisch, sondern von Kaj B. Lindgren (1961) auch anhand der Schreibverhältnisse widerlegt wurde. Eberhard Zwirner (1959) wollte mit Hilfe phonometrischer Analysen der absoluten Vokaldauer einen Zusammenhang von vokalischer Quantitätsdisposition und Aufnahme der neuen Diphthonge nachweisen, indem sich zunächst jene durch den Handelsverkehr der Medici und Fugger von Italien über Süddeutschland in die Niederlande ausgebreitet und dadurch dann die Bereitschaft zur Aufnahme der vom Bairischen kommenden Diphthonge begünstigt hätte. Herbert Penzl
(1974) suchte eine strukturelle Erklärung, indem im Bairischen die zunächst eingetretene „nhd. Dehnung“ von mhd. i ⫺ ü ⫺ u als phonologischer Schub die Diphthongierung von mhd. ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ als Ausweichen ausgelöst habe. Dieser Annahme schloß sich jüngst Erich Seidelmann (1999) an, indem er vor allem aus alemannischer Sicht einen Zusammenhang von unterbliebener bzw. durchgeführter Dehnung und Diphthongierung herzustellen trachtete, was sich jedoch keineswegs in verallgemeinernder Weise mit den durchaus unterschiedlich gestalteten Verhältnissen in den Monophthonggebieten vereinbaren läßt. Dialektologen wie Karl Bohnenberger (1913, 56) und Theodor Baader (1923, 189 und 195 f.) sowie ein Phonetiker wie Alfred Schmitt (1931) erkannten anhand von Beobachtungen als auslösendes Moment der Diphthongierung von langem geschlossenem ¯ı ⫺ ü¯ ⫺ u¯ den akzentuellen Wandel zum Steigton mit Zunahme von Atemdruck und Tonhöhe vom Anglitt zur Kernphase und daraus resultierender Dissimilierung des Vokaleinsatzes zu ˛i¯i ⫺ ü˛ü¯ ⫺ u˛u¯. Hingewiesen sei auch auf den in Abschnitt 2 genannten Diphthongierungsansatz im mittelalemannischen Dialekt des Bregenzer Vorderwaldes, wie er zwischen 1880 und 1930 mehrfach beschrieben wurde. Unter solchen phonetischen Voraussetzungen einer akzentuell bedingten Entstehung gewinnt auch die Annahme von Polygenese an Wahrscheinlichkeit, wie sie u. a. vertreten wird von Primus Lessiak (1933, 7), Hugo Moser (1969, 129), Peter Wiesinger (1962; 1970, Bd. 1, 69 f. 1983 b, 1080 f.) und Peter von Polenz (1978, 72 f.; 2000, 148 f.). Dafür sprechen nicht nur die unterschiedlichen Entwicklungsstufen der Diphthongierung im Westen, sondern auch die parallelen Entwicklungen in Teilen des Niederdeutschen (West- und Ostfälisch, östliches Hinterpommersch), des Niederländischen und des Englischen, aber auch romanischer und slawischer Sprachen. Nach der Phonogenetik kann die geschlossene lange Vokalreihe ¯ı ⫺ ü¯ ⫺ u¯ unter Steigtoneinwirkung zunächst zu ˛ii ⫺ ü˛ü ⫺ u˛u dissimiliert werden, was bei fortschreitendem Prozeß zu geschlossenen Diphthongen ei ⫺ öü ⫺ ou führt. Durch Nachlassen der Spannung und Senkung der 1. Komponenten entstehen daraus offene Diphthonge e˛i ⫺ ö˛ü ⫺ o˛u, die weiter zu überoffenen Diphthongen mit gleichzeitiger Angleichung der 2. Komponenten äi˛ ⫺ a˚ü˛ ⫺ a˚u˛ geöffnet werden können. Am Ende des Senkungsprozesses werden schließlich ae ⫺ aö ⫺ ao erreicht. Sie können laut¯ ⫺U ¯ , EI ⫺ ÖÜ ⫺ OU und typologisch als I¯ ⫺ Ü AI ⫺ AÜ ⫺ AU zusammengefaßt werden. Hinzuweisen ist, daß phonologisch auf Dauer höchstens drei steigende Diphthongreihen verschiedener Her-
169a. Systementwicklungen des Deutschen im Bereich des Vokalismus kunft, nämlich geschlossenes /ei/ ⫺ /ou/, offenes /e˛i/ ⫺ /o˛u/ und /ai/ ⫺ /au/ unterschieden werden können, während vier Reihen mit drei Phonemreihen im Bereich EI ⫺ OU nur kurzen Durchgangswert haben (vgl. das Vokalsystem des Nordbairischen und mit akzentueller Differenzierung des südwestlichen Moselfränkischen bei Wiesinger 1983 a, S. 1055 f. und 1058).
Bezüglich der dialektalen Entwicklung und Verbreitung von mhd. ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ sind die Positionen im Hiatus und vor Konsonanten zu unterscheiden, die von Wiesinger (1970, Bd. 1, 69 ff. und Ktn. 1⫺5; 1983 b und Kt. 1) genau beschrieben werden. Vor Konsonanten unterbleibt die Diphthongierung im Südwesten mit dem Höchst- Hoch-, Mittel- und Niederalemannischen und einem anschließenden südlichen rheinfränkischen Gebiet im nordöstlichen Elsaß und im östlichen Lothringen mit dem südlichsten Saarland, im Nordwesten im Ripuarischen und (deutschen) Niederfränkischen sowie im Norden im osthessisch-thüringischen Raum. Dagegen tritt dort die Diphthongierung im Hiatus und teilweise im Auslaut allegrößtenteils ein und unterbleibt nur im Südwesten im Höchstalemannischen mit einigen anschließenden hochalemannischen Gebieten sowie in ein paar Kleinräumen, während in Teilgebieten des Thüringischen die Halbvokale zu Kürzungen zu ii4 ⫺ uu4 /ug geführt und somit die Diphthongierung verhindert haben. Man hat aus diesem unterschiedlichen Verbreitungsbild zurecht auf einen zeitlich unterschiedlichen Ablauf der Diphthongierung in zwei Phasen geschlossen, was nicht automatisch zwei Ausbreitungsphasen im Sinne der Wellentheorie zur Folge haben muß. Obwohl sich angesichts der wenigen Beispiele dafür keine schriftlichen Zeugnisse finden, wird teilweise das in ahd. Glossen (des 12./13. Jhs.) auftretende lat. Lehnwort abbateia ‘Abtei’ aus lat. abbatia angeführt, dessen *ei+ teilweise aber auch anders erklärt wird (vgl. A. L. Lloyd/ O. Springer, Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen, Bd. 1, Göttingen/Zürich 1988, 21 f.). Es gibt lediglich zwei kleine Gebiete an der allgemeinen Diphthong/Monophthonggrenze im Moselfränkischen westlich Freudenberg und im nordhessisch-osthessischen Übergangsgebiet der Schwalm um Treysa-Ziegenhayn (Schwalmstadt), wo die offenen Hiatusdiphthonge ai˛ ⫺ ö˛ü ⫺ au˛ bzw. ai˛ ⫺ aü˛ den geschlossenen Diphthongen ei ⫺ öü ⫺ ou bzw. e˛i ⫺ ö˛ü gegenüberstehen, z. B. in der Schwalm, [sˇbai˛e] ‘speien’, [baü˛we] ‘bauen’ gegenüber [dse˛id] ‘Zeit’, [hö˛üs]
2447
‘Haus’. Das sonst gemeinsame Verhalten der Diphthongierung im Hiatus und vor Konsonanten läßt sich bei meist noch weiteren steigenden Diphthongphonemen anderer Herkunft durch sogen. Reihenaufsaugung erklären, wobei gliederarme Reihen, wie es die Hiatusdiphthonge sind, von der lautlich nächst verwandten, stärker besetzten Reihe „aufgesogen“ werden. Das geschah in den beiden Kleinräumen deshalb nicht, weil es dort keine weiteren steigenden Diphthongreihen gibt. Der Ablauf des Diphthongierungsprozesses vor Konsonanten in den aufeinanderfolgenden, oben dargelegten Phasen spiegelt sich in den westlichen obd. und md. Dialekten als Raumprojektion, in¯) ⫺ U ¯ Didem auf die Monophthonge I¯ (⫺ Ü phthonge des Typs EI (⫺ ÖÜ) ⫺ OU folgen, ehe im Zentrum AI (⫺ AÜ) ⫺ AU erreicht werden. So zeigt der schwäbische Südrand für mhd. ˆı zunächst geschlossenes ei und unterbleibt im Raum um Rottweil ⫺ Spaichingen vor ehemals wohl velarem ch aus (germ. h), das heute teilweise geschwunden ist, die Diphthongierung, z. B. [sı¯(h)e] ‘seihen’ [lı¯(x)t] ‘leicht’, ehe dann zentralisiertes offenes e˛i folgt, während zentralisiertes o˛u ohnehin etwas offener ist als sein palatales Gegenstück. Erst am Nordrand im schwäbisch-ostfränkischen Übergangsgebiet bzw. im Ostfränkischen und im Osten im Bairischen folgt mit ai˛ ⫺ au˛ die extreme Endstufe. Ähnlich liegen die Verhältnisse im Moselfränkischen, das sich zwischen den Monophthonggebieten des südlichen Rheinfränkischen in Lothringen mit dem südlichsten Saarland im Süden und dem Ripuarischen im Norden erstreckt. Hier gelten unter Tonakzent 2 („Trägheitsakzent“) offenes e˛i ⫺ o˛u (das teilweise zentralisiert ist) und unter Tonakzent 1 („Schärfung“) entweder ebenfalls e˛i⬘ ⫺ o˛u⬘ oder die Extremdiphthongstufe ai˛⬘ ⫺ au˛⬘. Erst im Norden kommt der gerundete Umlaut hinzu. Schließlich finden sich auch am Süd- und Westrand des dem osthessisch-thüringischen Monophthonggebiet vorgelagerten Diphthongierungsbereiches einige kleinere Gebiete mit einheitlichem e˛i (⫺ ö˛ü) ⫺ o˛u bzw. in der obgenannten Schwalm mit e˛i ⫺ ö˛ü durch Palatalisierung. Weiters bewirkt einerseits das ostfränkisch-hennebergisch-osthessische Quantitätengesetz im nördlichen Randbereich eine Spaltung der Reihe in e˛i ⫺ ö˛ü ⫺ o˛u bei Kürzung und sonstiges ai˛ ⫺ aü˛ ⫺ au˛. Ähnlich verhält sich das Nordhessische mit einer umfänglicheren Kürzung und gebietsweisen Palatalisierung des velaren Gliedes, so daß sich hier im Osten e˛i ⫺ o˛u und ai˛ ⫺ au˛, im Westen e ⫺ o (wohl aus ei ⫺ ou) und ai˛ ⫺ au˛ und im Nordosten ˛i ⫺ u˛ und e˛i ⫺ o˛u gegenüberstehen, wobei die letztere Entwicklung den Diphthongierungsprozeß am geringsten durchgeführt hat, der sonst um eine Stufe weitergediehen ist. Erst im Zentralhessischen und im Unterostfränkischen des Würzburger Raumes ist in allen Positionen die Extremdiphthongstufe mit ai˛ ⫺ o˛i ⫺ au˛ bzw. ai˛ ⫺ aü˛
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Karte 169a.2: Diphthongierung von mhd./mnd. ˆı vor Plosiven und Frikativen (Handbuch Dialektologie, Bd. 2, 1983)
⫺ au˛ erreicht worden. Daß jedoch auch wie in allen anderen Gebieten der Diphthongierungsprozeß ¯ ⫺U ¯ über EI ⫺ ÖÜ ⫺ OU sukzessive von I¯ ⫺ Ü zu AI ⫺ AÜ ⫺ AU verlaufen ist, zeigt z. B. das Zentralhessische am Umlaut. Während heute entpalatalisiertes o˛i gilt, findet sich bei Kürzung vor -er und -el das aus ÖÜ hervorgegangene entrundete e˛, z. B. [se˛fer] ‘Säufer’, [dre˛vel] ‘Träubchen’. Auch für das Ostmitteldeutsche des Obersächsischen und Schlesischen mit heutigen Extremdiphthongen ai˛ ⫺ au˛ läßt sich die Zwischenstufe EI ⫺ ÖÜ ⫺ OU teils durch die Monophthongierung zu e¯ ⫺ o¯ oder e¯˛ ⫺ o˛¯ wie im Neiderländisch-Schlesischen und teils durch Kürzungen zu e˛ ⫺ o˛ nachweisen. Im Bairischen wird sie durch entsprechende Entlehnungen in die Nachbarsprache des Slowenischen erwiesen (Lessiak 1903, 72, 76). Überall bleibt das Diphthongierungsergebnis von mhd. ˆı vom Weiterentwicklungs-
ergebnis von mhd. ei getrennt, was weitgehend auch für mhd. uˆ und üˆ bezüglich mhd. ou und öü gilt, z. B. im Bairischen [wai˛d] ‘weit’ : [bro˛Ad] ‘breit’, [sau˛ffA] ‘saufen’ : [khaffA] ‘kaufen’ und im südlichen Moselfränkischen des unteren Saargebietes [we˛is] ‘weiß’ : [gee¯˛ s] ‘Geiß’, [wai˛⬘zen] ‘weisen’ : [ree¯˛ ⬘zen] ‘reisen’, [sˇtro˛ux] ‘Strauch’ : [ra¯x] ‘Rauch’, [sˇnau˛⬘ven] ‘schnupfen’ : [ra¯⬘ven] ‘rauben’.
Diese kaum beachteten, besonders gegen die Ränder der Diphthongierung im Westen höchst differenzierten systematischen Lautverhältnisse, die bei der allgemein üblichen globalen Beurteilung übergangen werden, erlauben keine andere als eine polygenetische Beurteilung der „nhd. Diphthongierung“. Was den zeitlichen Eintritt der Diphthongie-
169a. Systementwicklungen des Deutschen im Bereich des Vokalismus
rung betrifft, erweist die strukturelle Gesamtbetrachtung der Vokalentwicklungen z. B. im Bairischen, Hessischen und Moselfränkischen frühen und im Schwäbischen späten Eintritt. Die Schreibverhältnisse haben den frühen Lautwandel der gesprochenen Sprache, der sich z. B. für das Moselfränkische auch aus der Abwanderung der Siebenbürger im 12. Jh. ergibt, bei Festhalten an Schreibtraditionen erst viel später nachvollzogen, wie sich auch aus den Zusammenstellungen von Kaj B. Lindgren (1961) aus Texten ergibt. Für das Bairische hat jüngst Ingo Reiffenstein (1999) die bisherigen Ansichten durch Analyse vor allem von Ortsnamenschreibungen in Originalen revidiert. Hier ergibt sich ein Erstauftreten der Diphthongschreibungen für das Mittelbairische des 12. Jhs. in Nieder- und Oberösterreich und im östlichen Südbairischen der Steiermark und Kärntens, während das von Kranzmayer (1956, 48) und danach von Lüdtke (1968) angesprochene Tirol, speziell Südtirol und wohl auch das oberbayerische Lechraingebiet (Freudenberg 1974, 88 ff.) erst später folgen und keineswegs das Ursprungsgebiet darstellen, was auch sonstigem Verhalten der bairischen Sprachgeographie mit aktivem Mittel- und passivem Südbairisch entspricht. Die sich bis um 1330 neben neuen Diphthongschreibungen besonders in herzoglichen und bischöflichen Kanzleien haltenden Monographe verkörpern außerdem eine traditionelle höhere schreibsoziologische Ebene, obwohl seit Beginn des 12. Jhs. Diphthonge gesprochen wurden. Zur Integration der neuen Diphthonge für mhd. ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ in die nhd. Schriftsprache siehe Abschnitt 7.
4.
Entrundung der Umlaute und kombinatorische Rundungen
Für einen großen Teil der hochdeutschen Dialekte ist als systematische Entwicklung die Entrundung der im Mhd. palatal-gerundeten Umlaute bedeutsam, die in der nhd. Schriftsprache nur einzelne Beispiele betrifft. Keine systematische Erscheinung ist dagegen die nur gebietsweise in den Dialekten auftretende Rundung palatal-gespreizter Vokale vor und nach mit Lippenrundung gebildeten Konsonanten als Assimilation des Vokals, die in der nhd. Schriftsprache ebenfalls nur in Einzelbeispielen begegnet. Da der wesentlich größere Teil der dt. Dialekte Umlautentrundung zeigt, ist es vorteil-
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hafter, die vier bzw. fünf Bereiche mit erhaltener Umlautrundung zu nennen. Es sind, von Einzelorten abgesehen, im Süden des Hochdeutschen das Hochalemannische der Schweiz und Südbadens und das Mittelalemannische Vorarlbergs, in der Mitte ein ostfränkisch-hennebergischer Bereich mit dem südlichen Osthessischen, im Norden ein kleines nordhessisch-nordthüringisches Gebiet an der hd./nd. Sprachscheide und im Westen ein mittelfränkisch-niederfränkischer Bereich mit dem nördlichen Moselfränkischen, dem Ripuarischen und dem Niederfränkischen (Wiesinger 1970, Bd. 1, 36 ff.; 1983 d, 1102 ff. und Kt. 1). Dazu kommt der größte Teil des Niederdeutschen mit Ausnahme einer südlichen Zone, die an das Omd. vom Thüringischen bis zum Schlesischen anschließt, sowie des östlichen Ostpommerschen und Niederpreußischen (bis 1945). Durch die Umlautentrundung wurde ein aus dreigliedrigen Reihen bestehendes Vokalsystem durch den jeweiligen Zusammenfall des palatal-gerundeten mit dem palatal-gespreizten Glied zu einem zweigliedrigen Vokalsystem gewandelt, z. B. [sˇtük] ‘Stück’ > [sˇtik] = [dik] ‘dick’. Wenn für mhd. ü in den Umlautentrundungsgebieten des Zentralhessischen, des mittleren und östlichen Obersächsischen und des Schlesischen der Diphthong o˛i gilt, so handelt es sich dabei nicht um bewahrte Umlautrundung, sondern um Entpalatalisierung, indem bei der Senkung von ö˛ü zunächst die 1. Diphthongkomponente zu o˛ entpalatalisiert und dann bei Eintritt der Umlautentrundung die 2. Diphthongkomponente von o˛ü zu o˛i entrundet wurde. Derselbe Diphthong o˛i aber kann im ostfränkischen Bereich mit erhaltener Umlautrundung bei einem Vokalsystem mit dreigliedrigen Reihen die Funktion des palatal gerundeten Gliedes haben, wie dies in den Entpalatalisierungsgebieten auch vor Eintritt der Umlautentrundung der Fall war. Obwohl die Umlautentrundung in der gesprochenen Sprache teilweise schon im 13. Jh. eintrat, wie z. B. im Bairischen (Kranzmayer 1956, 39), fand sie immer wieder nur unsystematisch in Einzelbeispielen Eingang in die frühnhd. und nhd. Texte, und dies im Obd. bis in die 1. Hälfte des 18. Jhs. Ebenso kam es auf Grund des Zusammenfalls mit den palatal-gespreizten Vokalen auch immer wieder zu einzelnen hyperkorrekten Schreibungen dieser mit den gerundeten Graphemen. Es war sichtlich teilweise das Bestreben der Oberschicht, gerundete Umlaute zu sprechen, wie aus dem Reimverhal-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
ten der älteren frühnhd. Dichter des 14./ 15. Jhs. hervorgeht, aber noch stärker der Schreiber, die Schreibtradition der gerundeten Umlaute festzuhalten (Wiesinger 1996, 62 f.). Dabei zeigt sich insofern eine schreibsoziologische Differenzierung, als höhere Kanzleien wie z. B. im Bairischen die Wiener Stadtkanzlei und die herzogliche Kanzlei fast keine Entrundungen und auch keine Hyperkorrektionen aufweisen, die aber in Texten aus Klöstern durchaus begegnen. Dieses traditionelle Schreibverhalten der frühnhd. Zeit des 14.⫺16. Jhs. wurde auch für die nhd. Schriftsprache ausschlaggebend. Dazu kam, daß dann die Grammatiker des 16. und 17. Jhs. auch auf die etymologischen Zusammenhänge achteten und dadurch nicht nur die Entsprechungen von Velar und Umlaut wie *u+ ⫺ *ü+ und *o+ ⫺ *ö+ einhielten, sondern statt des für mhd. üˆ geläufigen *eu/ew+ im Falle von *au+ auch die Umlautschreibung *äu+ systematisch durchführten. Da man sich im niederdeutschen Raum bei Aufnahme der nhd. Schriftsprache als gesprochener Sprache seit dem 16. Jh. an den Grundsatz „Sprich, wie du schreibst“ hielt und im Niederdeutschen ohnehin weitestgehend gerundete Umlaute gelten, festigten sie sich im nordd. Raum und wurden gerundete Aussprachen dann zum Teil gegen die Sprechgewohnheiten auch der Oberschicht im Md. und Obd. von Grammatikern und Sprachlehrern empfohlen. In die nhd. Schriftsprache eingegangene Umlautentrundungen sind z. B. Kissen < küssen, Pilz < bülez, Bimsstein < bümez, Gimpel < gümpel, Kitt < küte, Findling < vündelinc, spritzen < sprützen, Steiß < stüˆz, Kreisel < krüˆsel, spreizen < sprüˆtzen, Mieder < müˆeder, Schleife < slöüfe.
Kombinatorische Rundungen von (mhd.) palatal-gespreizten Monophthongen und Diphthongen erfolgen als progressive und regressive Assimilierung des Vokals an die mit Lippenrundung gebildeten Konsonanten b, p, f, pf, w, m, sch, l. Sie begegnen in den Dialekten mit erhaltener Umlautrundung sowie in Dialekten mit gerundeten Vokalphonemen anderer Herkunft wie im Mittelbairischen durch die Vokalisierung von auslautendem und präkonsonantischem l. So heißt es etwa im südlichen und östlichen Oberösterreich nicht nur durch l-Vokalisierung [sˇdö¯n] ‘stellen’ und [hö¯ ] ‘Hölle’, sondern auch [nö¯wö] ‘Nebel’, [löffö] ‘Löffel’, [sˇöpfm] ‘schöpfen’, [öpfö] ‘Äpfel’, [lösˇsˇn] ‘löschen’. Kombinatorische Rundungen in der nhd. Schriftsprache sind fünf < vinf, Würde < wirde, rümpfen
< rimpfen; schwören < swern, gewöhnen < wenen, löcken < lecken, zwölf < zwelf, Löwe < lewe, wölben < welben, Gewölbe < gewelbe, Schöffe < scheffe, Löffel < leffel, schöpfen < schepfen, schröpfen < schrepfen, löschen < leschen, Flötz < vletze, Hölle < helle (Bahder 1890, 168 ff.).
Die in die nhd. Schriftsprache eingegangenen einzelnen Beispiele mit Umlautentrundung bzw. mit kombinatorischer Rundung ziehen also keine Systemveränderungen nach sich, sondern verursachen im diachronischen Vergleich nur einzelne phonemische Umbesetzungen. Sie verdanken ihre Aufnahme dem vorbildlich gewordenen Schreibverhalten Luthers, der sich seinerseits der kursächsischen Kanzlei anschloß (Kettmann 1967, 121 ff.; Bach 1974, 30 ff.).
5.
Senkungen und Hebungen
Unter Hebung und Senkung versteht man die spontanen und kombinatorischen Verschiebungen der Hoch-, Mittel- und Tiefzungenvokale in der Vertikalen. Da sich der artikulatorische Vorgang in Verbindung mit der Spannung, der straffen bzw. schlaffen Artikulation, als Hebung bzw. Senkung des Zungenrückens gegen den Gaumen vollzieht und dadurch bei den Hoch- und Mittelzungenvokalen der Typen I ⫺ Ü ⫺ U und E ⫺ Ö ⫺ O Schließung und Öffnung entsteht, hängt davon deren akustische Beurteilung als geschlossen und offen ab. Deshalb werden wechselseitige Verschiebungen innerhalb eines Vokaltypus wie e˛ ⫺ ö˛ ⫺ o˛ O e ⫺ ö ⫺ o auch als Schließung bzw. Öffnung bezeichnet, während man den Übergang von einem Vokaltypus zum anderen Hebung bzw. Senkung nennt. Beide kontinuierlich verlaufenden Prozesse unterliegen bei den Hoch- und Mittelzungenvokalen dem Reihenprinzip. Da der Tiefzungenvokal a eine neutrale Position an der Spitze des Vokaldreiecks einnimmt, kann er sowohl nach vorne zu ä/e˛ als auch nach hinten zu a˚/o˛ gehoben werden, was unter dem akustischen Eindruck auch als Aufhellung bzw. Verdumpfung bezeichnet wird. Umgekehrt ist es auch möglich, daß offenes e˛/ä und o˛/a˚ schließlich zu a gesenkt werden. Obwohl die Hebung von a > a˚/o˛ mit zunehmender Lippenrundung verbunden ist, ist es falsch, diese grundsätzliche Hebung nach dem zusätzlichen artikulatorischen Teilvorgang als „Rundung“ zu bezeichnen. Die Vorgänge der Hebung und Senkung bzw. der Schließung und Öffnung betreffen nicht nur kurze und lange Monophthonge,
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sondern auch die 1. Komponenten von Diphthongen wie ee ⫺ öe ⫺ oe > ie ⫺ üe ⫺ ue, e˛i ⫺ ö˛ü ⫺ o˛u > ai˛ ⫺ aü˛ ⫺ au˛ oder ai˛ > o˛i, wobei ja die Senkung ein Teilvorgang bei der „nhd. Diphthongierung“ ist (vgl. Abschnitt 3). Im Falle derselben Vorgänge bei den 2. Diphthongkomponenten kommt es als Assimilierungen zu Monophthongierungen wie e˛i > e˛˛i > e˛e > e¯˛ . Obwohl spontane und kombinatorische Hebungen und Senkungen sehr häufige Vorgänge der vokalischen Entwicklungen in den deutschen Dialekten sind und als solche starke Umgestaltungen der Vokalsysteme und ihrer Besetzungen vom Mhd. zum Nhd. hervorgerufen haben, finden sie nur geringfügigen Niederschlag in der nhd. Schriftsprache. Ein solcher Vorgang ist die teilweise Senkung von mhd. u ⫺ ü zu o ⫺ ö vor Nasalen, die wie eine kombinatorische Entwicklung aussieht. In Wirklichkeit ist die Senkung von mhd. i ⫺ ü ⫺ u zu geschlossenem e (⫺ ö) ⫺ o ein systematischer Lautwandel der westmd. Dialekte einschließlich des Niederfränkischen und ist im Ostmd. wenigstens im West-, Zentral- und Ostthüringischen, im Ostmeißnischen des Obersächsischen, im Sudetenschlesischen und im Hochpreußischen noch bewahrt (vgl. Wiesinger 1983e und Kt. 2). Sie wurde aber im größeren Teil des Obersächsischen und Schlesischen bis auf einzelne Relikte wieder aufgegeben und gilt vor Nasalen noch inselhaft im Altenburgischen, z. B. [kend] ‘Kind’, [lenks] ‘links’, [benel] ‘Bündel’, [gebon] ‘gebunden’, [gesonken] ‘gesunken’.
In der nhd. Schriftsprache stehen sich hauptsächlich vor Nasal ⫹ Konsonant Beispiele ohne und Beispiele mit Senkung gegenüber wie Brunnen, Brunst, gebunden, gefunden, Grund, Funke, krumm, brummen, Lumpen, stumpf usw. und Sonne, sondern, sonst, gewonnen, geronnen, kommen, fromm, gönnen, können. Vor einfachem Nasal gilt mit Dehnung verbundene Senkung in Sohn und König. Schon die kursächsische Kanzlei und Luther schwankten, indem sie einige Wörter nur mit *u+ und andere teils mit *u+/*ü+ und teils mit *o+/*ö+ verwendeten, wobei sich Luther in den letzteren Fällen zunehmend zugunsten von *o+/*ö+ entschied (Kettmann 1967, 84 ff.; Bach 1974, 66 ff.). Das wurde dann in der Weiterentwicklung der „protestantischen“ md. und nhd. Schriftsprache im Lauf des 16./17. Jh. ausschlaggebend. Dagegen hielt die „katholische“ obd. Schriftsprache zunächst am bodenständigen bair. *u+/ *ü+ fest und führte nur allmählich *o+/*ö+
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ein. So bewahrte sie z. B. das Präteritum *kundte+ und seinen Konjunktiv *kündte+ trotz *können+ fast bis zu ihrem Ende in der Mitte des 18. Jhs. Ähnliches gilt für das mit progressiver Nasalbeeinflussung bei Luther schwankende *mügen/mögen+ und *müglich/ möglich+. Wenn es für die Stoffadjektive mhd. güldıˆn und hülzıˆn bei Luther noch fast durchgehend *gülden+ und *hültze(r)n+ heißt, so war für heutiges golden und hölzern der allmähliche analoge Ausgleich mit regulärem Gold und Holz und nicht md. Senkung ausschlaggebend. Auf dialektalen Hebungen beruhen einige schriftsprachliche Wörter mit *o+ für mhd. aˆ. Mhd. aˆ wurde mit Ausnahme des Höchstalemannischen der Südschweiz in allen Dialekten teils zu offenem [oo˛¯ ] und teils weiter zu geschlossenem [o¯ ] gehoben, die ihrerseits wieder teilweise zu [o˛u˛/au˛/ou] steigend und gelegentlich auch zu [o˛e/oe] fallend diphthongiert und manchmal auch noch weiter zu [uu˛¯ /u¯ ] gehoben wurden. Je nach dem früheren oder späteren Eintritt der Hebung blieb das Ergebnis phonologisch selbständig, oder es erfolgte teilweise Zusammenfall mit mhd. oˆ oder auch schon mit mhd. Dehnungs-o¯. Eine genaue Beschreibung gibt Wiesinger (1970, Bd. 1, 288 ff. und Kt. 10). Das hatte zur Folge, daß für das gehobene mhd. aˆ in den einzelnen frnhd. Schreibsprachen neben weiterhin traditionellem *a+ als Variante auch *o+ geschrieben wurde. Aus solchen Varianten stammen in der nhd. Schriftsprache Brodem < braˆdem, Docht < ta¯ht, Dohle < taˆhele, Ton < taˆhe, Mohn < maˆhen, Odem neben Atem < aˆtem, Schlot < slaˆt (Bahder 1890, 154 ff.). Ein auf mhd. aˆ folgender Nasal hatte gebietsweise unterschiedliche Wirkung, indem er gegenüber der Normalentwicklung einerseits die Hebung um eine Stufe weiter zum Teil bis [u¯ ] fördern konnte und andererseits die Hebung hemmte bzw. sekundär wieder Öffnung und auch steigende Diphthongierung hervorrief. Der stärkeren Hebung sind in der nhd. Schriftsprache zu verdanken Mond < maˆne, Monat < maˆnoˆt, Montag < maˆntac, ohne < aˆne, Ohnmacht < aˆmaht, Brombeere < braˆmbere. Ähnlich wirkte sich der progressive Einfluß von w aus in Woge < waˆc, wogen < waˆgen, Kot < quaˆt, wo < waˆ (Bahder 1890, 154 ff.).
Alle diese Beispiele verdanken ihre schriftsprachliche Gültigkeit weitgehend Luther, der fast durchwegs *Docht, Odem, Dohle, Thon, Mond, Monat+ gebraucht. Dagegen verwendet er zunächst *an+ und greift erst allmählich *on+ ‘ohne’ auf, wie er auch wei-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
testgehend bei *Amacht, amechtig+ bleibt und nur selten *Ommacht, Onmacht+ schreibt. Gegenüber anfänglichem *wa+ und seltenem dialektal-omd. *wu+ entscheidet sich Luther bald für *wo+ (Bach 1974, 157 ff.). Das schriftsprachliche Schwanken von *ä/ äh+ und *e/ee/eh+ für mhd. ae als Umlaut von mhd. aˆ hat allerdings bezüglich der Schreibweise nichts mit dialektalen Hebungen zu tun. Mhd. ae war, wie das Hochalemannische zeigt, überoffenes [ä¯], das teils wie im Bairischen zu [a¯ ] gesenkt und teils zu offenem [ee¯˛ ] leicht, gebietsweise aber auch zu geschlossenem [e¯ ] stark gehoben wurde, so daß es in beiden Fällen mit mhd. eˆ zusammenfallen konnte. Dies löste dann gebietsweise wieder fallende Diphthongierung zu [e˛e] oder steigende zu [e˛i/ei] aus, führte aber teilweise auch zu weiterer Hebung zu [ı¯], das seinerseits wieder fallend zu [ie] oder steigend zu [ei] diphthongiert werden konnte. Eine Verbindung von beiden Entwicklungen, nämlich teils Hebung und teils Senkung, zeigt das Unterostfränkische. Dort wurde mhd. ae vor r und im Hiatus leicht gehoben, so daß es mit offenem mhd. eˆ zusammenfiel und mit diesem zu [e˛e] fallend diphthongiert und dann teilweise wieder zu offenem bis sehr offenem [ä¯/ee˛¯ ] monophthongiert wurde, z. B. [sˇwe˛er] ‘schwer’, [le˛er] ‘leer’, [(ge)dre˛e] ‘drehen’, [(g)me˛e] ‘mähen’. Dagegen wurde es in allen anderen Positionen gemeinsam mit mhd. Dehnungs-ee¨¯ und Dehnungs-ä¯ zu [a¯ ] gesenkt, z. B. [ka¯s] ‘Käse’, [dra¯x] ‘träge’, [dsa¯ ] ‘zähe’. Das scheint die Ausgangsposition für das Omd. zu sein, wo allerdings angesichts seines Zustandekommens durch Siedlermischung und Sprachausgleich ein gebietsweises Schwanken derselben Beispiele herrscht, so daß man von einer Spaltung in geschlossenes ae1 und offenes ae2 sprechen kann. Die Weiterentwicklungen sind so, daß mhd. ae1 im Thüringischen und Nordmeißnischen des Obersächsischen mit mhd. eˆ zusammenfällt und vor allem im Zentralthüringischen und Nordmeißnischen als fallender Diphthong [ie] und im Ostthüringischen als Monophthong [ı¯] auftritt. Dagegen erfolgt im südlichen sowie im nördlichen Obersächsischen und im Schlesischen Zusammenfall mit mhd. Dehnungs-e¯ teils als geschlossenes [e¯ ] oder [ei] und teils als offenes [ee¯˛ ] mit Weiterentwicklung zu [i˛e˘˛ ] oder ˛[ı´e˛]. Mhd. ae2 wird mit Ausnahme des Nordobersächsischen, wo es als offenes [ee¯˛ ] auftritt, überall zu [a¯ ] gesenkt. Dieses galt jedoch bei der städtischen Oberschicht wie in Leipzig und Dresden als ländlich-bäuerlich, so daß es dort durch offenes [ee¯˛ ] ersetzt wurde. Eine Beschreibung der Entwicklungen von mhd. ae gibt Wiesinger (1970, Bd. 1, 288 ff. und Kt. 11).
In ihrem Schreibverhalten nehmen weder die kursächsische Kanzlei noch Luther auf derar-
tige zweifache lautliche Entsprechungen von mhd. ae als ae1 und ae2 Rücksicht und schreiben stets einheitlich *e/ee/eh+, z. B. *schwer, leer, were, drehen, seen, Kese, trege, angenehm+ (Kettmann 1967, 94 ff.; Bach 1974, 167 ff.). Es fragt sich allerdings, ob angesichts der mündlich sowohl in der obersächsisch-oberschichtigen Stadtsprache als auch im Nordobersächsischen geltenden Spaltung mit mhd. ae1 als geschlossenem [e¯ ] und mhd. ae2 als offenem [ee˛¯ ] eine solche nicht auch für Luther anzunehmen ist. Denn im ausgehenden 18. Jh. bemühte sich dann Johann Christoph Adelung, die Aussprache von schriftsprachlichem *e/ee/eh+ nach obersächsisch-stadtsprachlichem Verhalten in geschlossenes [e/e¯ ] und offenes [e˛/ee˛¯ ] meist nach ihrer etymologischen Herkunft zu trennen, und schon die aus dem obersächsischen Raum stammenden Dichter des 17./18. Jhs. hatten in ihrem Reimverhalten diese Unterschiede berücksichtigt (Neumann 1920, 8 ff.). Wenn freilich dann durch die Grammatiker des 16./ 17. Jhs. eine schriftsprachliche Trennung in *e/ ee/eh+ und *ä/äh+ eingeführt wurde, dann war dafür nicht die gesprochene Sprache, sondern das etymologische Schreibprinzip ausschlaggebend. Wo ein deutlicher Zusammenhang mit einer nicht umgelauteten Form erkennbar war, wie in *säen : Saat+, *nähen : Naht+, *wäre : war+, *nahe : Nähe+ oder die Herkunft bekannt war, wie bei *Käse+ aus lat. caseus, wurde der Zusammenhang mit *ä/äh+ sichtbar gemacht, während ansonsten das *e/ee/ eh+ beibehalten wurde. Mit dem dann von Norddeutschland ausgehenden Grundsatz „Sprich, wie du schreibst“ entstand schließlich das schriftgeborene standardsprachliche offene [ee˛¯ ] für *ä, äh+.
6.
Dehnung und Kürzung
Seit dem 12./13. Jh. erfolgten in mhd./mnd. Zeit im Großteil der hd. und nd. Dialekte quantitative Veränderungen, indem mhd./ mnd. Kurzvokale gedehnt und mhd/mnd. Langvokale gekürzt wurden. Schon an den Reimen des niederfränkisch-limburgischen Dichters Heinrich von Veldeke um 1170 wird die Dehnung in offener Silbe erkennbar, indem er z. B. die neuen Längen da¯ge : kla¯ge : dra¯ge : verza¯ge metrisch gleichbehandelt wie die alten Längen raˆde : spaˆde : baˆde : quaˆde (MF 57, 10 ff. und 26 ff.). Um 1200 weist das bairische „Nibelungenlied“ Dehnung von kurzem mhd. a vor n im Einsilber auf wie
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z. B. getaˆn : ma¯n, laˆn : da¯n (B 489, 564). Dagegen gelten bei Hartmann von Aue um 1200 wie heute noch im Mittel- und Hochalemannischen die aus dem Normalmhd. bekannten Kurzvokale in offener Silbe. Wenn man mit Bezug auf die nhd. Schriftsprache von „neuhochdeutscher Dehnung“ als einem systematisierten Vorgang spricht und dieser auch z. B. von Moulton (1961), Penzl (1969, 1975), Herrlitz (1970) und Szulc (1987) quasi als Entwicklungsvorgang der Schriftsprache dargestellt wird, so handelt es sich wie bei der „nhd. Monophthongierung“ und der „nhd. Diphthongierung“ um schon ältere Entwicklungsvorgänge der Dialekte, die dann in die sich im 16. Jh. konstituierende nhd. Schriftsprache Einigang gefunden haben. Gegenüber der Dehnung ⫺ man spricht nicht von „Längung“ ⫺ sind Kürzungen in den Dialekten weniger verbreitet und treten dementsprechend auch in der nhd. Schriftsprache in geringerem Umfang auf. Wenn die sprachgeschichtlichen Lehrwerke angesichts des frühen Auftretens im Niederfränkischen und des Unterbleibens im Mittel- und Hochalemannischen im Sinne der Wellentheorie mit einer großen Ausbreitung vom Nordwesten in den Süden und Osten rechnen ⫺ so z. B. Penzl (1975, 114) ⫺, so widersprechen dieser Ansicht die in den einzelnen Dialekten wechselnden, zum Teil recht komplizierten Verhältnisse, so daß die Entwicklungen polygenetisch abgelaufen sind und die Endergebnisse bloß das Bild eines weiten Ausbreitungsvorganges vortäuschen. Die dialektalen Quantitätsverhältnisse (Wiesinger 1983 c) resultieren aus der Kombination von lautartikulatorischen und prosodischen oder suprasegmentalen Eigenschaften und damit aus dem Zusammenspiel von Silbenstruktur und Silbenzahl des Wortes, Akzent und Intonation, Art des Vokals und Qualität sowie Intensität und Quantität der dem Vokal als dem Silberträger folgenden Konsonanten. In der Dialektologie werden in der Einheit „Wort“ phonetisch bis zu 5 Quantitäten dynamisch akzentuierter Monophthonge und Diphthong unterschieden: Überkürze ⫺ Kürze ⫺ Halblänge ⫺ Länge ⫺ Überlänge, was auf Grund der Pausarealisierung, also der Ansageformen von Wörtern bestimmt wird. Diese als diskrete Einheiten bestimmten Idealwerte erfahren jedoch im Kontext der Rede durch die Einwirkung von Satzakzent, Satzintonation, Sprechtempo und Redeemotion unterschiedliche Veränderungen, so daß man auch von „Lento- und
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Allegroformen“ spricht (Dressler 1973). Die durchschnittliche absolute Vokaldauer der phonologisch meist als Kürze und Länge definierten Quantitäten schwankt. So konnte Zwirner (1959, 104) feststellen, daß bei Festlegung der Kürze mit 1 das relative Verhältnis von Kürze und Länge z. B. im rheinfränkischen Mannheim 1 : 1,83 und im südbairischen Mittenwald nur 1 : 1,17 beträgt. Auf Grund der Relevanz prosodischer Eigenschaften gibt es bezüglich der Vokalquantitäten drei Gruppen deutscher Dialekte: (1) Dialekte, in denen die Vokalquantitäten allein relevant sind; (2) Dialekte mit einer Korrelation von Vokalquantität und Akzent; (3) Dialekte mit einer Korrelation von Vokalquantität, Akzent und Konsonantenintensität. Der größte Teil der deutschen Dialekte gehört zur Gruppe (1) mit einer phonologisch binären Quantitätsopposition von Kürze und Länge, so die hd. Dialekte Alemannisch, Südbairisch, Ostfränkisch, Rheinfränkisch, Zentral-, Ost- und Nordhessisch, Thüringisch, Obersächsisch, Schlesisch und Hochpreußisch (letztere bis 1945) sowie die südlichen nd. Dialekte Westfälisch, Ostfälisch und Brandenburgisch. So heißt es z. B. im Ostfränkischen /bidn/ ‘bitten’ : /bı¯dn/ ‘bieten’, /sˇ¯ıf/ ‘Schiffe’ : /sˇ¯ıf/ ‘schief’. Im Niederfränkischen bewirkt der sogen. „Cleverländische Akzent“ zwar Einsilber mit stark geschnittener Kürze und mit schwach geschnittener Überlänge sowie Zweisilber mit stark geschnittener Kürze und Länge, z. B. [sˇpe˛k] ‘Speck’ : [wee¯˛ k] ‘Woche’, [le˛ken] ‘lecken’ : [wee¯˛ ken] ‘Wochen’, doch bedingt diese positionsgebundene Distribution nur die phonologische Opposition von Kürze und Länge, also /e˛/ : /ee¯˛ /, so daß sich das Niederfränkische ebenfalls in die Gruppe (1) einreiht. Eine Übergangsstellung zwischen Gruppe (1) und Gruppe (2) nimmt das nördliche Niederdeutsche mit dem Nordniederdeutschen (Niedersächsischen), Mecklenburgischen, Ostpommerschen und Niederpreußischen (letztere bis 1945) ein. Dort gelten im Einsilber Kürze mit stark geschnittenem Akzent, mittelmäßig geschnittene Halblänge und sehr schwach geschnittene schleiftonige Überlänge sowie im Zweisilber stark geschnittene Kürze und normal schwach geschnittene Länge, z. B. [wi˛t] ‘weiß’, [wıˆt] ‘weit’, [wı¯ıd] ‘Weite’, [zi˛tn] ‘sitzen’, [bı¯tn] ‘beißen’. Solange dort bei e-Apokope der auslautende Konsonant nach Überlänge seine Stimmhaftigkeit bewahrt und die korrelierte Distribution garantiert, besteht phonologisch eine binäre Opposition von Kürze und Länge, also /i˛/ : /ı¯/. Der Verlust der Stimmhaftigkeit aber führt zur ternären Opposition von Kürze : Halblänge : Länge als /ı˛/ : /ıˆ/ : /ı¯/, wobei die „Länge“ im Einsilber als sehr schwach geschnittene schleiftonige Überlänge und im Zwei-
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silber als normal schwach geschnittene Länge realisiert wird. Zur Gruppe (2) gehört das Mittelfränkische mit dem Moselfränkischen und Ripuarischen. Dort bewirkt die sogen. „Rheinische Akzentuierung“, eine Verbindung von Atemdruck- und Tonhöhenverlauf, Ein- und Zweisilber mit schwach bzw. stark geschnittener stoßtoniger Kürze, Einsilber mit stark geschnittener stoßtoniger Halblänge oder schwach geschnittener Länge, z. B. [met] ‘mit’ : [me⬘t] ‘Mitte’ : [meˆ⬘t] ‘Miete’ : [we¯t] „Wicht“ = ‘Mädchen’, [drede] ‘dritte’ : [we⬘de] ‘wieder’ : [leˆ⬘de] ‘leiten’ : [je¯der] ‘jeder’. Das ergibt phonologisch zwei Vokalsysteme mit Tonakzent 1 (stark geschnittene „Schärfung“ oder „Stoßton“) und mit Tonakzent 2 (schwach geschnittener „Trägheitsakzent“ oder „Schleifton“). Die Gruppe (3) wird schließlich vom Mittel- und Nordbairischen gebildet. Dort herrscht eine Korrelation von Vokalquantität, Akzent und Konsonantenintensität, indem sich sowohl im Ein- als auch im Zweisilber Vokallänge mit schwachgeschnittenem Akzent und Leniskonsonanz und Vokalkürze mit starkgeschnittenem Akzent und Fortiskonsonanz verbindet, z. B. [fı¯sˇ ] ‘Fisch’ : [fiߡ ] ‘Fische’, [oo˛¯ idA] ‘(ein) alter’ : [o˛itA] ‘(das) Alter’. Seit Pfalz (1936) hat man sich phonologisch meist für die Relevanz der Konsonantenintensität als Lenis und Fortis entschieden, so daß die Vokalquantität und der Akzent irrelevant werden, also /fisˇ/ : /fiߡ/, doch gab es auch Entscheidungen zugunsten der Konsonantenquantität als Kürze und Länge (/fisˇ/ : /fisˇsˇ/) und zugunsten des Akzents (/fi`sˇ/ : /fi´sˇ/).
Die Dehnung ursprünglicher Vokalkürzen und die Kürzung ursprünglicher Vokallängen sowohl als Monophthonge als auch als Diphthonge verändern die Silbenstrukturen und resultieren meist aus dem Bestreben, im Zusammenspiel von Vokalquantität, Akzent, Konsonantenintensität bzw. -quantität und Silbenanzahl der Wörter einen Ausgleich der Silbenquantitäten (Silbengewichte auf Grund der Silbenstrukturen) und der Wortquantitäten (Wortgewichte auf Grund der Silbenanzahl) herzustellen, wie dies bereits Paul (1884) angedeutet hat. Damit verbunden ist auch die gebietsweise Erhaltung von -e in Nebensilben oder dessen Aufgabe durch Synkopierung und Apokopierung, die eine Folge der Quantitätsveränderungen sein dürften. Solche Ausgleichstendenzen lassen sich z. B. sehr schön im Mittel- und Nordbairischen, im Unterostfränkischen und Hennebergischen und im Schlesischen beobachten. Sie werden jedoch teilweise durch analoge Ausgleiche im Paradigma und Formassoziationen durchbrochen. Teilweise spielen aber auch die physiologischen Voraussetzungen der Lautartikulation und -kombination eine Rolle, indem die absolute Quantität eines
Lautes umso länger ist, je weiter der für seine Bildung und den Übergang zum nächsten Laut erforderliche Artikulationsweg ist. So wurde festgestellt, daß die absolute Dauer der Vokale von den Hoch- über die Mittel- zu den Tiefzungenvokalen und der Konsonanten von den Dentalen über die Velare zu den Labialen zunimmt, wobei Plosive vor Frikativen und Lenes vor Fortes gehen. Aus solchen Kombinationen ergibt sich, daß die Hochzungenvokale i ⫺ ü ⫺ u vor dem dentalen Plosiv t am stärksten und vor Plosiven und Frikativen insgesamt zur Kürze tendieren, während der Tiefzungenvokal a in diesen Positionen zur Länge neigt. Daraus erklärt sich, daß z. B. im Mittelalemannischen des Westallgäus mhd. ˆı ⫺ üˆ ⫺ uˆ bloß vor t und im Niederalemannischen des Elsaß vor allen ehemaligen Fortisplosiven und -frikativen gekürzt werden, während umgekehrt im Elsaß die Dehnung von kurzem mhd. i ⫺ ü ⫺ u in offener Silbe unterbleibt. Dort aber werden mhd. e¨ und a in offener Silbe stets zu a¯ und o¯ gedehnt. Solche lautbezogenen Unterschiede sprechen dafür, daß die Vorgänge der Dehnung und Kürzung wahrscheinlich lautbezogen als sukzessive Prozesse nacheinander erfolgt sein werden, so daß im Großteil der Dialekte mit Dehnung aller Kurzvokale besonders in offener Silbe ähnlich etwa der Entwicklung der „nhd. Diphthongierung“ nur mehr das die Gesamtheit umfassende Endergebnis vorliegt. Eine Übersicht über die Quantitätsveränderungen in den deutschen Dialekten geben Schirmunski (1962, 181 ff.) und Wiesinger (1983 c). Ältere Übersichten zum Hd. anhand der zu ihrer Zeit erst gering vorhandenen lokalen Dialektbeschreibungen versuchten für die Dehnung Ritzert (1898) und für Kürzungen Elsässer (1909). Eine Untersuchung der oberdeutschen Quantitätsentwicklungen besonders des Alemannischen legte ausgehend vom Ahd. Gabriel (1969) vor. Darauf aufbauend zeigte Wiesinger (1983 c, 1094 ff.) die Systematisierung der Quantitätsveränderungen im Bairischen auf.
Im Hinblick auf die Quantitätsverhältnisse in dem für nhd. Schrift- und Standardsprache bedeutsam gewordenen Schreib- und Druckgebrauch Luthers seien im folgenden kurz die Quantitätsverhältnisse im nördlichen Thüringischen und Obersächsischen und da für das Ost- und Nordostthüringische, das Osterländische, Nordmeißnische und Nordobersächsische beschrieben (vgl. u. a. Polenz 1954, 45 ff.; Schönfeld 1958 und Krug 1969). Sie sind aber ebensowenig einheitlich wie ihre qualitativen Entsprechungen im Vergleich
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zum Mhd. Dabei ist darauf hinzuweisen, daß der Norden im Altsiedelland bis etwa Worbis ⫺ Sondershausen ⫺ Querfurt ⫺ Merseburg/ Saale und im Neusiedelland östlich der Saale bis etwa Leipzig ⫺ Wurzen/Mulde ⫺ Belgern/ Elbe niederdeutsch war bzw. vom 11. bis 13. Jh. nd. besiedelt wurde. Dabei waren am nd. Siedlungszug im Nordwesten Sachsens nicht nur die benachbarten Ostfalen sondern auch niederfränkische Flamen beteiligt. Die Verhochdeutschung erfolgte allmählich etwa zwischen der 2. Hälfte des 14. Jhs. und dem Ende des 16. Jhs. auf Grund des sprachsoziologischen höheren Prestiges und Mehrwerts des Hochdeutschen, indem zunächst die Oberschicht der Städte und dann die niedrigere Stadtbevölkerung den Sprachwechsel vollzog und schließlich die ländliche Bauernbevölkerung folgte. So hat man in diesem für Luther und die nhd. Schriftsprache bedeutsam gewordenen Raum bei durchaus vom Süden her bestimmten Lautstand auch mit nd.-ostfäl. Substraten zu rechnen. Dabei schwanken nördliche, auf das Nd. zurückführbare Erscheinungen in einem Interferenzraum zwischen etwa Worbis ⫺ Bleicherode ⫺ Sondershausen ⫺ Kölleda ⫺ Naumburg/ Saale ⫺ Meuselwitz ⫺ Rochlitz ⫺ Döbern/ Mulde ⫺ Riesa/Elbe als Südgrenze und Harzgerode ⫺ Sangerhausen ⫺ Merseburg/Saale ⫺ Eilenburg/Mulde ⫺ Belgern/Elbe als Nordgrenze. Im allgemeinen erfolgt Dehnung der Kürzen in offener Silbe von mhd. Zweisilbern vor Leniskonsonanten, vor t und vor Liquiden und Nasalen wie [baa˚¯dn] ‘baden’, [o¯wesd] ‘Obst’, [he¯m] ‘heben’, [haa˚¯se] ‘Hase’, [bee¯˛ sn] ‘Besen’, [gaa˚¯dA] ‘Kater’, [bo¯de] ‘Bote’, [be¯re] ‘Beere’, [faa˚¯An] ‘fahren’, [sˇbı¯ln] ‘spielen’, [bı¯ne] ‘Biene’, [nee¯˛ m] ‘nehmen’. Die Dehnung unterbleibt aber vor -el, -er und teilweise vor -en, z. B. [jawl] ‘Gabel’, [ne˛wl] ‘Nebel’, [ho˛wl] ‘Hobel’, [awA] ‘aber’, [we˛dA] ‘wieder’, [e˛wA] ‘über’, [fe˛dA] ‘Feder’, [jebli˛m] ‘geblieben’, [jebo˛n] ‘gebogen’. Dafür werden Kürzen vor -l und meist auch vor -r ⫹ Konsonant sowohl im Ein- wie im Zweisilber gedehnt, z. B. [aa˚¯ld] ‘alt’, [saa˚¯lds] ‘Salz’, [baa˚¯le] ‘bald’, [gaa˚¯Adn] ‘Garten’, [sˇwaa˚¯Ads] ‘schwarz’, [naa˚¯Awe] ‘Narbe’, [fee¯˛ Are] ‘Pferde’, [wee˛¯ An] ‘werden’, [goo˛¯ Aw] ‘Korb’, [do o˛¯ Af ] ‘Dorf’, [sˇdoo˛¯ Ax] ‘Storch’. Im Einsilber galt ursprünglich vor Leniskonsonanz Kürze, die jetzt meist veraltet ist wie [da˚g] ‘Tag’, [hof ] ‘Hof’, [sˇbi˛l] ‘Spiel’ und durch Paradigmenausgleich teils schon älter und teils erst jünger durch Länge ersetzt wurde, z. B. [daa˚¯g] ‘Tag’ nach [daa˚¯ge] ‘Tage’, [ho¯f ] ‘Hof’ nach [he¯fe] ‘Höfe’, [sˇbı¯l] nach [sˇbı¯le] ‘Spiele’ und [sˇbı¯ln] ‘spielen’, [xlaa˚¯s] ‘Glas’ nach [xle¯sA] ‘Gläser’. In der Konjugation bewirkt lexemauslautendes -d mit den -t-hältigen Morphemen Kürzung. So heißt es zwar [ree¯˛ dn] ‘reden’, aber [du¯ re˛dsd] ‘du redest’, [A re˛d] ‘er redet’,
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[jere˛d] ‘geredet’. Solche Kürzungen erfahren umgekehrt auch ursprüngliche Längen wie [braa˚¯dn] ‘braten’ und [blu¯dn] ‘bluten’. Wie die Dehnung der Kürzen vor -el und -er unterbleibt, so erfolgt umgekehrt in denselben Positionen Kürzung der Längen, z. B. [fu˛dA] ‘Futter’, [hi˛nA] ‘Hühner’, [xre˛sA] ‘größer’, [sˇe˛nA] ‘schöner’. Auf Konsonantenhäufung gehen die verbreiteten md. Kürzungen von mhd. ie = md. ˛¯ı zurück wie [li˛xt] ‘Licht’, [fi˛xte] ‘Fichte’, [ji˛n] ‘ging’.
Zur Integration der neuen Längen und Kürzen in die nhd. Schriftsprache vgl. Abschnitt 7.
7.
Die systematischen Vokalentwicklungen im OstthüringischObersächsischen und ihre Integration in die neuhochdeutsche Schriftsprache
Da sich die nhd. Schriftsprache seit dem 16. Jh. auf der Basis der von Martin Luther gebrauchten Schreib- und Druckersprache entwickelt hat und diese bereits die behandelten systematischen Vokalentwicklungen aufweist, ist einerseits die Frage zu stellen, wie sich die betreffenden Lautentwicklungen im omd.-ostthüringischen und obersächsischen Dialekt als der mündlichen Sprachform vollzogen haben und andererseits wie deren Aufnahme in die frühnhd. Schreibsprache dieses Raumes erfolgt ist. Vom besonderem Interesse sind hier die Entstehung des Omd., seine lautlichen Grundlagen und deren Weiterentwicklung sowie die Entwicklung der frühnhd. Schreibsprache dieses Raumes, wobei zwar Korrespondenzen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit bestehen, die jüngere Forschung aber die Autonomie der Schriftlichkeit betont und diese nicht als unmittelbare phonetische Abbildung des Gesprochenen sieht. Das Omd. östlich der Saale im ostthüringisch-obersächsischen Raum ist seit dem 11. Jh. im Rahmen der dt. Ostsiedlung durch Siedlerzuzug entstanden, so daß es auf Grund der verschiedenen Gebiets- und Dialektherkunft der Siedler zu Sprachmischung und Sprachausgleich kam (Putschke 1968). Theodor Frings (1957, 131) hat auf Grund der Detailforschungen ein bekanntes idealisiertes Bild entworfen. Danach kamen die Hauptströme im Süden zu beiden Seiten des Erzgebirges aus dem obd. Ostfränkischen. In der Mitte ließen sich die Siedler aus dem zentralen und westlichen omd. Thüringischen sowie aus den wmd. Gebieten des Zentral-, Ost-
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und Nordhessischen, des Rheinfränkischen, und des Mittelfränkischen nieder, während im Norden, wie bereits in Abschnitt 6 erwähnt, nd. Zuzug aus Ostfalen sowie von niederfränk. Flamen erfolgte. Während das südliche Obersächsische starke obd.-ostfränk. Züge aufweist, tritt in der ostthüringischobersächsischen Mitte das md. Gepräge hervor. Es bestimmt auf Grund des spätmittelalterlichen Sprachwechsels vom 13.⫺16. Jh. vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen auch den Norden, der aber zusätzlich noch nd. Substrate aufweist. Hinsichtlich des Vokalismus haben sowohl die wmd. als auch die ostfränkischen Siedler die schon im 11./12. Jh. in frühmhd. Zeit entwickelte „nhd. Monophthongierung“ von normalmhd. ie ⫺ üe ⫺ uo als offene Monophthonge ¯˛ı ⫺ ü˛¯ ⫺ u˛¯ mitgebracht. Erst seit dem 12. Jh. trat die Dehnung von mhd. Kurzvokalen in offener Silbe ein. Das gebietsweise unterschiedliche Verhalten der neuen Dehnungsvokalreihen gegenüber den ursprünglichen Langvokalreihen aber zeigt, daß die Dehnung schon im Altland entweder zu verschiedenen Zeiten bzw. auch zeitlich gestuft eintrat oder daß unterschiedliche Akzentuierungen eine gewisse Zeitlang für Unterscheidungen sorgten, so daß zum Teil voneinander unabhängige Reihenentwicklungen zustande kamen. Das betrifft auch den ostthüringisch-obersächsischen Raum mit unterschiedlichen Entwicklungen. Es ist daher damit zu rechnen, daß zur Zeit der Dialektkonstituierung noch unterschiedliche Zustände bestanden. Bezüglich der Entwicklung von mhd. i ⫺ ü ⫺ u war diese in thüringischer und wmd. Weise mit Senkung zu geschlossenem e ⫺ ö ⫺ o verbunden, so daß auch deren Dehnung zu geschlossenem e¯ ⫺ ö¯ ⫺ o¯ erfolgte und diese von den offenen Monophthongen ¯˛ı ⫺ u˛¯ ⫺ u˛¯ für mhd. ie ⫺ üe ⫺ uo wie noch im Nordostthüringischen unterschieden waren. Diese Senkungen wurden aber im Obersächsischen bis auf Reste wieder beseitigt, so daß dort mhd. ie (⫺ üe) ⫺ uo und mhd. Dehnungs-ı¯ (⫺ ü¯) ⫺ u¯ nun in geschlossenes ¯ı ⫺ u¯ zusammenfallen. Auch mhd. Dehnungs-e¯ bewahrte gegenüber mhd. eˆ seine Selbständigkeit als offenes e¯˛ im Ostthüringischen und als geschlossenes e¯ im Nordostthüringischen und Osterländischen gegenüber ¯ı für mhd. eˆ. Dessen Hebung erfolgte wohl erst im Siedelland, so daß sich ihm im Nordmeißnischen mhd. Dehnungs-e¯ anschloß und beide gemeinsam dann zu ie fallend diphthongiert wurden. Dies betrifft
dort als ie ⫺ ue jeweils alle Glieder der Reihen mhd. eˆ (⫺ oe) ⫺ oˆ und mhd. Dehnungse¯ (⫺ ö¯) ⫺ o¯, während von den sonst etwas abweichenden Verhältnissen von mhd. Dehnungs-o¯ ⫺ ö¯ hier Abstand genommen sei. Im Nordobersächsischen fallen insofern beide Reihen in e¯ ⫺ o¯ zusammen, als dort als nd. Substrat keine Trennung der mhd. Reihen eˆ (⫺ oe) ⫺ oˆ und mhd. ei (⫺ öü) ⫺ ou besteht (zum phonologischen Systemverhalten all dieser Reihen vgl. Wiesinger 1970, Bd. 1, 272 ff. und Bd. 2, 72 ff.). Was das phonologisch selbständige mhd. e¨ betrifft, war es, wie noch das Nordhessische zeigt, ein sehr offenes ä, das dadurch mit mhd. ä zusammenfiel. Als solches wurde es wohl noch von den md. Siedlern mitgebracht und konnte dann überall sowohl als Kürze als auch als Dehnungslänge zu [a]/[a¯ ] gesenkt werden. Nur das Nordobersächsische bewahrt als nd. Substrat offenes [e˛]/[ee¯˛ ]. Nd. Substrat ist auch im Nordostthüringischen und Nordobersächsischen das überoffene [aa˚¯] sowohl für mhd. aˆ als auch für das damit zusammenfallende Dehnungs-a¯. Da es gleich dem [ee˛¯ ] in den Städten sprachsoziologischen Prestigewert besitzt, hat es sich nach Süden und nach Nordwesten ins Ostthüringische ausgebreitet. Dagegen gilt noch im Altenburgischen das ursprüngliche geschlossene [o¯ ]. Daß aber teilweise für mhd. Dehnungs-a¯ ein von den Siedlern noch weniger gehobener OLaut als für mhd. aˆ mitgebracht wurde, zeigt die getrennte Entwicklung im Nordmeißnischen (vgl. Wiesinger 1970, Bd. 1, S. 342 ff.). Bezüglich der von allen anderen Langvokal- und Diphthongreihen unabhängig gebliebenen Reiche mhd. ˆı (⫺ üˆ) ⫺ uˆ bewahrt das Zentral- und westliche Nordthür. vor Konsonanten die geschlossenen Monophthonge, während das (Nord)ostthüringische und das gesamte Obersächsische die „nhd. Diphthongierung“ zu ai˛ ⫺ au˛ aufweist. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Diphthonge im Ostthüringischen eine obersächs. Überlagerung verkörpern. Nicht nur daß dort die Reliktlautungen [sˇlı¯se] ‘Federn schleißen’ und [glı¯se] ‘gleißen’ gelten, sondern westlich der Saale bestehen auch eine Reihe von Kürzungen zu i ⫺ u meist vor -er, -el und Konsonantenhäufungen fort, wie [bixde] ‘Beichte’, [widA] ‘weiter’, [sˇidxe] ‘Scheitchen’ [sˇufl] ‘Schaufel’, [drusn] ‘draußen’, [jelid] ‘geläutet’. In den obersächsischen Raum haben die Siedler aus Thüringen zwar Monophthonge, aber, wie jüngere sowohl systematische als auch sprachgeographische Beurtei-
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lungen ergeben haben, auch bereits Diphthonge mitgebracht wie aus dem Ostfränkischen, Zentralhessischen und Moselfränkischen. Es muß also im obersächsischen Raum je nach Überwiegen der einen oder der anderen Gruppen beide Lautformen gegeben haben, so daß es vor allem im (Nord)meißnischen zur selbständigen Diphthongentwicklung gekommen ist. Dafür spricht nicht nur die von der Reihe abweichende Entwicklung von mhd. üˆ zu [o˛i], deren Grundlage die 1. Diphthongstufe ö˛ü ist, das zunächst zu o˛ü entpalatalisiert und dann zu o˛i entrundet wurde, sondern auch die auf der 1. Diphthongstufe e˛i ⫺ ö˛ü erfolgten Kürzungen zu e˛, z. B. [le˛xd] ‘leicht’, [le˛xdA] ‘Leuchter’ (vgl. Wiesinger 1970, Bd. 1, 158 ff.). Diese Entwicklung zeigt aber auch, daß von den Siedlern noch gerundete Umlaute mitgebracht wurden und die Umlautentrundung erst später eintrat. Die Konstituierung des OstthüringischObersächsischen östlich der Saale als Siedeldialekt im Rahmen der dt. Ostsiedlung seit dem 11. Jh. durch Sprachmischung und -ausgleich erfolgte also gebietsweise unterschiedlich. So wurden auch nicht, wie es die ältere Forschung annahm, alle mit dem Altsiedelland übereinstimmenden rezenten Erscheinungen aus diesem abgeschlossen mitgebracht, so daß sie vom Mittelalter bis in die Gegenwart unverändert fortbestehen, sondern es kam nach der gebietsweise unterschiedlichen Dialektkonstituierung durch Sprachausgleich zu selbständigen Weiterentwicklungen. Als Polygenese konnten durchaus auf Grund gleicher Voraussetzungen auch Übereinstimmungen mit den Lautverhältnissen des Altlandes entstehen (Wiesinger 1975 a). Die für die nhd. Schriftsprache wesentlichen systematischen Lautwandlungen im Vergleich zum Normalmhd. sind also in den thüringisch-obersächsischen Dialekten teils von Anfang an da wie die „nhd. Monophthongierung“ oder haben sich während oder nach der Dialektkonstituierung im ostsaalischen Siedlungsgebiet vollzogen wie die „nhd. Dehnung“, die „nhd. Diphthongierung“ oder die Umlautentrundung. Ihr schriftliches Auftreten in der thüringischobersächsischen (wettinischen) Schreibsprache ist untersucht worden und kann nicht unmittelbar als schriftliche Spiegelung der Lautentwicklungen der gesprochenen Sprache gesehen werden. Vielmehr bestehen einzelne Schreibtraditionen seit mhd. Zeit
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weiter und bildet sich im 14./15. Jh. ein frühnhd. Schreibusus (vgl. die einzelnen Angaben zur Schreibentwicklung bei Kettmann 1967). Luther kann daher zu Beginn des 16. Jhs. auf den Schreibusus der kursächsischen Kanzlei zurückgreifen, der bereits alle für die nhd. Schriftsprache charakteristischen systematischen Vokalentwicklungen aufweist. Bei der „nhd. Monophthongierung“ schwanken für mhd. ie die Schreibungen *i+ und *ie+ bzw. *y+ und *ye+ bis ins 16. Jh. (Kettmann 1967, 113 ff.), und auch Luther gebraucht neben vorherrschendem *ie+ noch *i+ (Bach 1974, 232 ff.). Dagegen gilt für mhd. uo hauptsächlich monographisches *u+, und nur selten tritt das aus dem Obd. stammende *ue+ auf (Kettmann 1967, 118 ff.; Bach 1974, 242 ff.). Der Umlaut mhd. üe bleibt in der kursächsischen Kanzlei meistens als *u+ unbezeichnet, wird aber teilweise auch mit doppeldeutigem *ue+ wiedergegeben (Kettmann 1969, 120 ff.), während ihn Luther e meistens mit *u+ deutlich kennzeichnet und e neben *ue+ auch obd. *ue+ gebraucht (Bach 1974, 247 ff.). Die „nhd. Diphthongierung“ wird in den ostthüringisch-obersächsischen Kanzleien seit 1350 aufgegriffen und zwar zuerst im Hiatus und danach ab 1400 vor Konsonanz. Von den Urkundenorten sind es zunächst Gera, Schleiz und Leutenberg, wobei in Schleiz die Digraphen um 1450 bereits überwiegen und die Monographe sich gegen das Jahrhundertende völlig verlieren. Erst im letzten Viertel des 15. Jhs. beginnen die Digraphe in Gera, Kahla und Orlamünde und westlich der Saale erst nach 1500. Weitgehend fallen die neuen Diphthonge *ei/ey+ ⫺ *au/aw+ ⫺ *eu/ew+ mit den Wiedergaben für die mhd. Diphthonge ei ⫺ ou ⫺ öü zusammen, doch schon ab der Mitte des 15. Jhs. taucht für mhd. ei das obd. *ai/ay+ auf, dessen Gebrauch dann zunimmt (Kettmann 1967, 97 ff.; 107 ff.). Auch Luther verwendet anfänglich beide Graphien, doch läßt *ai/ay+ zunehmend nach und wird in späteren Drukken zur Unterscheidung von Homonymen eingesetzt wie *Weise+ : *Waise+ (Bach 1974, 210 ff.). Eine klare Unterscheidung von Längen und Kürzen und damit auch eine Kennzeichnung der „nhd. Dehnung“ war in keiner frühnhd. Schreibsprache üblich. Was jedoch im Md. mehrfach Anwendung fand, war der Gebrauch von Dehnungs-h bei allen Vokalen, weil intervokalisches mhd. h verstummt war. Sowohl die kursächsische Kanzlei als auch
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Luther machen davon über das heutige Ausmaß hinaus Gebrauch (Kettmann 1967, 125 ff.; Bach 1974, 372 ff.). Wegen des gebietsweisen Zusammenfalls von mhd. ie und mhd. Dehnungs-ı¯ wurde für jenes die Wiedergabe der Länge als *ie+ ermöglicht. Während es für beide Fälle in der kursächsischen Kanzlei nur sehr zurückhaltend verwendet wird (Kettmann 1967, 129 ff.), setzt es Luther neben *i+ und *ih+ wesentlich häufiger ein (Bach 1974, 378 ff.). Demgegenüber griff man zur Bezeichnung von Kürzen nach dem Vorbild der traditionellen Geminatenschreibungen besonders zur Verdoppelung der Nasale n und m und des Liquids l. Nur schwach kam für omd. Kürzen vor -er und -el in der kursächsischen Kanzlei die Konsonantenverdoppelung zur Anwendung wie in *widder+, *nidder+ (Kettmann 1967, 132 ff.). Dagegen machte Luther bis 1533 davon breiten Gebrauch, um dann zunehmend davon abzulassen (Bach 1974, 409 ff.). Davon haben sich bis heute *Futter+, *Mutter+, *Blatter+, *Natter+ erhalten. Das für die Entwicklung der nhd. Schriftsprache vorbildlich gewordene Schreib- und Druckverhalten Luthers mit den charakteristischen systematischen Vokalentwicklungen des Nhd. basiert auf dem zeitgenössischen frühnhd. Schreibverhalten der kursächsischen Kanzlei des beginnenden 16. Jhs., die in der Tradition der frühnhd. schreibsprachlichen Entwicklung des thüringisch-obersächsischen Raumes steht. Die seit der Dialektkonstituierung des Ostthüringisch-Obersächsischen durch Siedlermischung und Sprachausgleich im 11./12. Jh. schon vorhandenen oder im Lauf der Zeit entwickelten mündlichen Lautverhältnisse und da vor allem die systematischen Vokalentwicklungen fanden wenigstens zum Teil allmählich auch Eingang in die Schreibsprache.
8.
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170. Graphematische Entwicklungstendenzen in der Geschichte des Deutschen 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Begriffs- und Gegenstandsbestimmung Probleme der historischen Graphemik Entwicklungen in der Graphematik des Deutschen Weiterentwicklung des graphematischen Systems durch eine Orthographiereform Literatur (in Auswahl)
Begriffs- und Gegenstandsbestimmung
Bei der linguistischen Betrachtung von Phänomenen der geschriebenen Sprache erscheint es besonders ratsam, zunächst die verwendeten Termini und mit ihnen den betrachteten Gegenstandsbereich genauer abzustecken, da die relativ junge Disziplin der Schriftlinguistik noch nicht über eine in Form und Inhalt allgemein akzeptierte Terminologie verfügt. Soweit es den vorliegenden Artikel betrifft, muß es sich dabei vor allem um den Inhalt, den Umfang und die Abgrenzung des Begriffes Graphematik bzw. graphematisch handeln. Entwickelte Kultursprachen existieren normalerweise in zwei Ausprägungen: als gesprochene und als geschriebene Sprache. Beide Existenzweisen verfügen als Bestandteile einer Sprache über Gemeinsamkeiten in verschiedenen Teilbereichen, darüber hinaus besitzen sie jedoch bestimmte funktionale und strukturelle Besonderheiten, die sich überdies im Laufe der geschichtlichen Entwicklung durchaus verändern können. Die gesprochene und die geschriebene Sprache bestehen dem Wesen der Sprache gemäß jeweils aus einer Einheit von Formseite und Inhaltsseite. Die Formseite der gesprochenen
Sprache nennen wir Lautung oder Phonie, die Formseite der geschriebenen Sprache Schreibung oder Graphie; die Inhaltsseite nennen wir in beiden Fällen Bedeutung. Innerhalb des Sprachsystems stellen Lautung, Schreibung und Bedeutung die unilateralen Ebenen des Systems dar. Sie sind in ihrem Aufbau vielfältig differenziert und hierarchisch strukturiert und konstituieren in der Verbindung von Formseite und Bedeutungsseite die bilateralen Ebenen des Sprachsystems, nämlich die morphematische, die lexikalische, die syntaktische und die textuale Ebene (vgl. zu diesem Modell Nerius et al. 2000, 73 ff.). Die Schreibung als Teil des Sprachsystems besteht ihrerseits aus bestimmten graphischen Formeinheiten, die die graphische Formseite der Einheiten der bilateralen Ebenen ausmachen. Dazu gehören die Buchstaben und andere elementare Schreibungseinheiten (z. B. die Interpunkteme), gegebenenfalls auch Grapheme genannt, die graphische Morphemform, die graphische Lexemform, im speziellen Fall auch graphische Wortsegmente, die bei der Abtrennung von Wortformen am Zeilenende entstehen, die graphische Satzform und die graphische Textform. Die Schreibung weist ⫺ jedenfalls bei Sprachen mit Buchstabenschrift ⫺ eine mehr oder weniger enge, historisch veränderliche Beziehung zur anderen Formebene des Sprachsystems, der Lautung, auf, die in älteren Sprachdarstellungen mitunter auch zu einer ungerechtfertigten Vermischung oder gar Identifizierung beider Formebenen geführt hat. Für die Lautung als Bestandteil des Sprachsystems hat sich die Bezeichnung pho-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
nologische Komponente oder Ebene eingebürgert, für die Schreibung gibt es eine gleichermaßen gebräuchliche Bezeichnung leider nicht, da die an sich wünschenswerte parallele Konstruktion „graphologisch“ terminologisch bereits besetzt ist und ihre Verwendung in diesem Zusammenhang zu Mißverständnissen Anlaß geben könnte. So pflegt man diesen Teil des Sprachsystems nicht selten graphematische Komponente oder Ebene zu nennen, eine Verwendung, der auch wir uns in diesem Artikel bedienen wollen (vgl. aber Nerius et al. 2000, 77). „Graphematisch“ umfaßt hier dementsprechend die Gesamtheit der graphischen Formeinheiten des Sprachsystems von den Buchstaben bis zur Textform und ist nicht identisch mit der Hierarchiestufe der graphischen Basiseinheiten in diesem Gesamtgefüge, die wir Grapheme nennen und mit dem Adjektiv „graphemisch“ bezeichnen. Bezogen auf die Überschrift und damit den Gegenstand dieses Artikels heißt das, daß hier Entwicklungen in einer in diesem umfassenden Sinne verstandenen graphematischen Ebene zu betrachten wären und nicht nur Entwicklungen der Grapheme im engeren Sinne. In anderen Konzepten ist für diesen Teil des Sprachsystems auch die Bezeichnung Schriftsystem üblich (vgl. z. B. Eisenberg 1983). Graphematik bezeichnet demgemäß die Wissenschaftsdisziplin, die sich mit der Beschreibung und Erklärung der graphematischen Ebene des Sprachsystems beschäftigt. Ein spezieller Teil der Graphematik ist die Orthographie, die die Schreibung unter normativem Aspekt betrachtet und die Beschreibung und Erklärung der normierten Schreibung einer Standardsprache darstellt (vgl. auch Augst 1985). Das Verhältnis von Graphematik und Orthographie ist ebenfalls historisch veränderlich. In der Gegenwart, in der nahezu alles Schreiben gleichzeitig auch Rechtschreiben bedeutet, also auf Normentsprechung bzw. orthographische Korrektheit gerichtet ist, stehen sie einander sehr nahe. Für historische Zeiträume, in denen es noch keine allgemein verbindliche Norm der Schreibung gab, ist es zweckmäßiger, mit dem übergreifenden Begriff Graphematik zu operieren. Die graphematische Ebene steht als Teil des Sprachsystems in bestimmten, wiederum historisch veränderlichen Beziehungen zu den anderen Ebenen des Sprachsystems. Die Veränderung dieser Beziehungen im Prozeß der geschichtlichen Entwicklung und ihre Auswirkungen in den verschiedenen Teilberei-
chen der Schreibung sind Gegenstand der historischen Graphematik (vgl. 2.). Für eine voll etablierte standardsprachliche Orthographie können wir von einem Gefüge ausgehen, das in einer Abfolge von Hierarchiestufen abnehmenden Generalisierungsgrades die Beziehungen der graphematischen Ebene innerhalb des Systems immer weiter spezifiziert bis hinunter zur Fixierung der Einzelfallschreibung in den verschiedenen Teilbereichen der Orthographie. Die grundlegenden Beziehungen der graphematischen Ebene zu anderen Ebenen des Sprachsystems nennen wir in terminologischer Fortführung der Wissenschaftstradition orthographische Prinzipien. Gemäß dem Grundcharakter der Buchstabenschrift, dem Bezug der Buchstaben zu bestimmten Lautsegmenten, und dem Sinn und Zweck jeder Schrift überhaupt, nämlich der graphischen Repräsentation von Bedeutungen, nehmen wir zwei Hauptprinzipien an, ein phonologisches und ein semantisches, die ihrerseits jeweils aus einer Reihe von Einzelprinzipien bestehen, durch die Beziehungen von Gegebenheiten der graphischen Seite der Sprache zu solchen der lautlichen oder der semantischen Seite zum Ausdruck gebracht werden. So ordnen wir dem phonologischen Hauptprinzip ein phonematisches Prinzip, das die Beziehungen von Phonemen und Graphemen bei der Wortschreibung betrifft, ein syllabisches Prinzip, das die Beziehungen von Silben und graphischen Wortsegmenten bei der Worttrennung erfaßt, und ein intonatorisches Prinzip zu, das die Beziehungen zur Satzintonation ausdrückt und für die Interpunktion eine ⫺ heute allerdings nur noch geringe ⫺ Rolle spielt. Dem semantischen Hauptprinzip ordnen wir ein morphematisches, ein lexikalisches, ein syntaktisches und ein textuales Prinzip zu, die jeweils die Wiedergabe semantisch-struktureller Gegebenheiten der entsprechenden Ebene in der Orthographie zum Ausdruck bringen, z. B. in der Morphembzw. Wortschreibung, in der Groß- und Kleinschreibung, der Getrennt- und Zusammenschreibung und der Interpunktion (vgl. genauer Nerius et al. 2000, 84 ff.). Eine besondere Stellung unter den angeführten Prinzipien nehmen die Basisprinzipien der beiden Hauptprinzipien, das phonematische und das morphematische, ein, da sie für die Schreibung konstitutiv sind, während die anderen Prinzipien jeweils spezifische Anwendungsfälle betreffen. Im einzelnen sind bei der linguistischen Beschreibung der gegenwärtigen
170. Graphematische Entwicklungstendenzen in der Geschichte des Deutschen
deutschen Orthographie noch viele Fragen offen, auch wenn inzwischen ein differenziertes Beziehungsgefüge der graphematischen Ebene im Sprachsystem, mindestens aber ein „Morphemkonstanzprinzip“ und ein „Phonemkonstanzprinzip“ (vgl. Günther 1988, 66 ff.) weithin akzeptiert und rein phonographische Positionen bei der Beschreibung der Orthographie kaum mehr vertreten werden. Die Anwendung solcher oder ähnlicher Systemkonzepte auf die Darstellung der historischen Entwicklung der deutschen Schreibung steht im wesentlichen noch aus, obwohl viele Vorarbeiten dazu bereits vorliegen. Zu den in diesem Zusammenhang wichtigen und kontrovers diskutierten Fragen gehört die Bestimmung des Graphems. In diesem Problem widerspiegeln sich die unterschiedlichen Positionen zum Verhältnis von gesprochener und geschriebener Sprache bzw. von Lautung und Schreibung. „Es lassen sich hier in unserem Jahrhundert zwei Ansätze unterscheiden. Die eine Richtung versuchte, die grundlegende Einheit schriftlicher Sprache durch Bezug auf das Phonem zu definieren. Danach ist ein Graphem das, wodurch in der Schrift ein Phonem bezeichnet wird. Wir wollen dies als die Repräsentanzkonzeption bezeichnen. In der anderen Richtung wurde die methodologische Analogie zum Ausgangspunkt gemacht: Danach ist das Graphem die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der schriftlichen Sprache, dies sei als die Distinktivitätskonzeption bezeichnet“ (Günther 1988, 72). Gerade in historischen Arbeiten wurde und wird gemäß der hier häufig anzutreffenden Auffassung vom sekundären Status der geschriebenen Sprache oftmals die Repräsentanzkonzeption vertreten, eine Ansicht, die speziell bei historischen Untersuchungen besondere Probleme mit sich bringt (vgl. 2.). Auch wenn die Distinktivitätskonzeption als der theoretisch angemessenere Ausgangspunkt bei der Bestimmung des Graphems anzusehen ist, so heißt das nicht, daß zwischen den elementaren Einheiten von Lautung und Schreibung keine Beziehungen bestünden. Die durch den Bezug beider Einheiten aufeinander entstehenden Relationsgrößen sind von uns Phonographeme genannt worden, während die durch graphische Distinktion zustande kommenden Einheiten als Graphographeme bezeichnet wurden. Zu ihnen gehören außer den Buchstaben auch die Interpunkteme und mögliche Sonderzeichen (vgl. Nerius et al. 1989, 82 f.).
2.
2463
Probleme der historischen Graphematik
Die Struktur der Schreibung des gegenwärtigen Deutschen ist das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, in der viele Faktoren zusammengewirkt haben. Diese Entwicklung vollzog sich vor dem Hintergrund der Ausprägung und Durchsetzung der generellen Funktionen der Schreibung, die in ihrem Zusammen- und Gegeneinanderwirken die Entwicklung des graphematischen Systems maßgeblich beeinflußten. Es handelt sich dabei um die Funktionen, die die Schreibung einerseits für den Schreibenden und andererseits für den Lesenden erfüllt. Entsprechend den unterschiedlichen Abläufen und Merkmalen von Schreiben und Lesen ist zwischen der Aufzeichnungs- und der Erfassungsfunktion zu unterscheiden. Bei der Aufzeichnungsfunktion handelt es sich um die Wiedergabe von Bedeutungen und lautlichen Formen durch die Schreibung, bei der Erfassungsfunktion handelt es sich um die Entnahme von Bedeutungen aus schriftlichen Äußerungen und um deren Überführung in mündliche Äußerungen. Beide Funktionen müssen von der Schreibung gleichermaßen erfüllt werden, aus beiden resultieren aber auch unterschiedliche Anforderungen an die graphematischen Strukturen. Während für den Schreibenden z. B. eine möglichst direkte Entsprechung von Lautungs- und Schreibungseinheiten wünschenswert sein könnte, muß das für den Lesenden keineswegs optimal sein, weil dadurch beispielsweise Bedeutungszusammenhänge graphisch unmarkiert bleiben können und die rasche Bedeutungsentnahme aus schriftlichen Äußerungen nicht besonders unterstützt wird. Die Entwicklung graphematischer Systeme besteht im allgemeinen in einer allerdings noch von weiteren Faktoren beeinflußten Ausbalancierung zwischen diesen beiden Funktionen. Generell ist dabei in der Geschichte der Schreibung der deutschen Sprache ein zunehmender Einfluß der Erfassungsfunktion auf die Struktur des graphematischen Systems festzustellen. Er zeigt sich in einer immer deutlicheren Ausprägung der auf das semantische Hauptprinzip bezogenen Prinzipien in der Schreibungsstruktur, vor allem des morphematischen, aber auch des lexikalischen, syntaktischen und textualen Prinzips. Konkret wird das z. B. deutlich in der sich im Übergang zum Nhd. durchsetzenden Morphemkonstanzschreibung unabhängig von lautlichen Verän-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
derungen, was sich etwa in der graphischen Ignorierung der sogenannten Auslautverhärtung zeigt (mhd. tac, tages; nhd. Tag, Tages). Ebenso wird das deutlich in den sich entwikkelnden Regularitäten der Getrennt- und Zusammenschreibung, durch die Wörter bzw. im Wortverbund semantisch zusammengehörende Elemente auch als graphische Einheiten gekennzeichnet und mittels Spatium von anderen Einheiten abgegrenzt werden. Gleichermaßen tritt das auch in der Entwicklung der Groß- und Kleinschreibung hervor, die im Laufe der Geschichte der dt. Sprache zunehmend in den Dienst des lexikalischen, syntaktischen und textualen Prinzips tritt, indem durch die Großschreibung bestimmte lexikalische Klassen oder Subklassen wie Substantive und Eigennamen, bestimmte syntaktische Positionen wie Ganzsatzanfänge und bestimmte Textpositionen wie Überschriftenanfänge zusätzlich gekennzeichnet und dadurch für den Lesenden hervorgehoben werden. Schließlich zeigt sich diese Entwicklungsrichtung auch in der Interpunktion, die ebenfalls im Übergang zum Nhd. ihre Aufgabe zur Kennzeichnung intonatorischer Abläufe, von Sprechrhythmus und Pausen weitgehend verliert und nun vor allem syntaktisch-semantische Strukturen, Sätze und Teile von Sätzen markiert. Alle diese Entwicklungen dienen primär den Interessen des Lesenden, stehen somit im Dienste der Erfassungsfunktion; für den Schreibenden bieten sie dagegen eher zusätzliche Komplikationen. Daß sie sich in der graphematischen Struktur etabliert haben, ist sicher auch auf die in der Geschichte immer mehr zunehmende Bedeutung und Verbreitung des Lesens zurückzuführen, für das alles Schreiben ja letztlich veranstaltet wird. Ebenso unterstreichen sie, daß die primäre Aufgabe der Schreibung nicht die Visualisierung der Lautung ist, sondern eine möglichst effektive Übermittlung der Bedeutung. Natürlich darf dabei der Bezug von Schreibungseinheiten auf Lautungseinheiten als ein Mittel zur Erreichung dieses Zwecks nicht aus dem Blickfeld geraten. Für alle Sprachen mit Buchstabenschrift ist die Wiedergabe von elementaren Einheiten der Lautung durch elementare Schreibungseinheiten das grundlegende Verfahren zur graphischen Materialisierung von Bedeutungen. Die Beziehung von elementaren Schreibungs- und Lautungseinheiten ist die Basis der Aufzeichnungsfunktion der Schreibung, deren Ziel die graphische Reprä-
sentation von Bedeutungen ist. Deshalb ist diese Beziehung auch im Laufe der Sprachgeschichte im Interesse dieses Zieles durch Einflüsse, die auf die Erfassungsfunktion zurückgehen, vielfach differenziert und kompliziert worden, so daß sich heute eine z. T. mehrfache Polyrelationalität zwischen Phonemen und Buchstaben in unserer Sprache ergibt (vgl. Nerius et al. 2000, 119 ff.). Dennoch bleibt diese Beziehung grundlegend und eine wichtige Aufgabe für die Beschreibung der graphematischen Struktur. Entsprechend der relativen und im historischen Entwicklungsprozeß zunehmenden Eigenständigkeit der Schreibung kann auch die Entwicklung dieses Teiles des Sprachsystems natürlich nicht einfach als ein Nachvollzug von Änderungen in der Lautung verstanden werden, obwohl diese dabei zweifellos auch eine Rolle spielen. Insgesamt aber sind diese Prozesse viel differenzierter und komplizierter und von vielen Einflußfaktoren bestimmt. Zu diesen gehört beispielsweise auch der in der jüngeren Geschichte immer stärker hervortretende Aspekt der überregionalen und schließlich nationalen Normierung der Schreibung. Die Schaffung einer einheitlichen standardsprachlichen Orthographie hatte einen wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung des graphematischen Systems, indem sie vor allem zur Reduzierung der graphischen Variabilität und zur Durchsetzung bestimmter Schreibungsformen im allgemeinen Gebrauch führte. Daran war auch das Wirken der Grammatiker und Orthographielehrer nicht unmaßgeblich beteiligt (vgl. Bergmann 1982), und auch die kulturelle und politische Bedeutung einzelner Teile des Sprachgebietes spielte dabei sicherlich eine Rolle. Es ist aber nicht nur ein einfacher Nachvollzug der Lautungsentwicklung durch die Schreibungsentwicklung zu verneinen, es gibt sogar Rückwirkungen der Schreibungsentwicklung auf das phonologische System. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Entwicklung des Phonems /i:/ neben /e:/ im Ergebnis der Durchsetzung der Umlautschreibung im graphematischen System (vgl. von Polenz 1991, 158). In der Geschichte der Sprachwissenschaft sind die hier angedeuteten Entwicklungsprozesse im graphematischen System allerdings bei weitem nicht immer so gesehen worden. Lange Zeit, vor allem seit dem Wirken der Junggrammatiker, war in der Sprachwissenschaft eine phonographische Auffassung von
170. Graphematische Entwicklungstendenzen in der Geschichte des Deutschen
der Schreibung dominierend, die den sekundären Status der geschriebenen gegenüber der gesprochenen Sprache betonte und in der Schreibung nur ein mehr oder weniger unvollkommenes Abbild der Lautung sah. Diese bildete das eigentliche Ziel sprachwissenschaftlicher Untersuchungen zur Formseite der Sprache, während die Schreibung im Grunde gar nicht als eigener Gegenstand sprachwissenschaftlicher Forschung angesehen wurde (vgl. zur Wissenschaftsgeschichte Nerius et al. 2000, 55 ff.). Diese Position findet sich mitunter gerade in sprachgeschichtlichen Darstellungen noch bis heute, wogegen sich z. B. das vorliegende Werk konsequent darum bemüht, die beiden Formseiten der Sprache auseinanderzuhalten und separat zu beschreiben. Grundsätzlich stehen historische Untersuchungen auf dem Gebiet der Graphematik in bezug auf das Verhältnis von Schreibung und Lautung vor einem methodischen Dilemma, das umso stärker wird, je mehr man eine phonographische Position der Abhängigkeit der Schreibungseinheiten von den Lautungseinheiten vertritt. Man hat als Material der sprachgeschichtlichen Untersuchung nur geschriebene Texte. Zielt man auf die Ermittlung der Lautung in sprachgeschichtlichen Epochen, wie das häufig die Absicht sprachhistorischer Untersuchungen war und ist, muß man sie aus der Schreibung rekonstruieren. Das ist natürlich möglich, da ja eine grundsätzliche Beziehung von elementaren Lautungs- und Schreibungseinheiten für jede Buchstabenschrift als gegeben betrachtet werden kann, und man kann aus vielerlei Indizien in der Schreibung, wie z. B. Reimpaaren, theoretischen Angaben von Autoren zur gesprochenen Sprache, Gesprächsbüchern oder anderen Texten, die der gesprochenen Sprache nahestehen, Aussprachemarkierungen in Texten, vielleicht auch, obwohl das schon fragwürdig ist, aus Vergleichen historischer Texte mit lebenden Mundarten der entsprechenden Gebiete, Rückschlüsse auf die historische Lautung ziehen. Trivial ist die Ermittlung der historischen Beziehungen von Schreibung und Lautung aber keineswegs, und sie muß vor allem theoretisch und methodisch offengelegt werden, was in der deutschen Sprachgeschichtsforschung häufig nicht geschehen ist. Problematisch bleibt es natürlich auch, wenn die aus der Schreibung abgeleitete Lautung nun ihrerseits mit der Schreibung verglichen und dabei gegebenen-
2465
falls die Unvollkommenheit bzw. Unzulänglichkeit der Schreibung gegenüber dem angenommenen phonographischen Ideal konstatiert wird. Nicht selten sind aber sprachhistorische Untersuchungen in diesem Bereich so oder ähnlich vorgegangen, wogegen Untersuchungen zur historischen Graphematik ohne Bezug zu einer fiktiven Lautungsstruktur, wie sie für das Deutsche z. B. Piirainen (1968) unternommen hat, noch keineswegs in ausreichender Zahl und Breite vorliegen. Obwohl der autonome Ansatz bei der Beschreibung der Entwicklung des graphematischen Systems die Gefahr der Zirkularität vermeidet, die dem lautungsabhängigen Ansatz in historischen Untersuchungen innewohnt, ist auch dieser Ansatz methodisch und untersuchungspraktisch nicht unproblematisch. Während man bei einer fest normierten standardsprachlichen Orthographie das Grapheminventar durchaus mit Hilfe des Distinktivitätskonzepts ermitteln und graphotaktische Regularitäten feststellen kann (vgl. Günther 1988, 68 ff.), gestaltet sich das bei der Untersuchung historischer Sprachzustände mit erheblicher graphischer Variabilität bedeutend schwieriger (vgl. im einzelnen Glaser 1988). „Das zentrale Problem besteht dabei in der Abgrenzung von funktionalen, distinktiven graphischen Einheiten, meist Grapheme genannt, und deren Varianten“ (ebd. 319). Dafür sind unterschiedliche Verfahren mit zum Teil aufwendigen statistischen Ermittlungen (vgl. Piirainen 1968) entwickelt, aber kaum wirklich überzeugende Lösungen gefunden worden. Da bei den vielfältigen Schreibungsmöglichkeiten etwa im Frnhd. die Nicht-Distinktivität und damit der bloße Variantenstatus nur selten definitiv ermittelt werden kann ⫺ jedenfalls genügt dafür das wechselnde Vorkommen in einer bestimmten Wortposition natürlich nicht ⫺, deckt sich das Grapheminventar in solchen historischen Beschreibungen im Endeffekt weitgehend mit dem verwendeten Buchstabeninventar. Das ist aber ein relativ triviales Ergebnis, mit dem der Forscher in der Regel nicht zufrieden ist, so daß sich auch beim autonomen Ansatz für eine weitergehende Interpretation die Einbeziehung sprachhistorischen grammatischen und phonologischen Wissens als zweckmäßig erweist. Deshalb stehen die beiden Untersuchungsansätze einander faktisch in der Erforschung der sprachhistorischen graphematischen Verhältnisse nicht so gegensätzlich gegenüber, wie es zunächst den Anschein hat.
2466
3.
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Entwicklungen in der Graphematik des Deutschen
Wie schon dargestellt (vgl. unter 1.), wird hier der Begriff Graphematik nicht nur auf die elementaren Bestandteile schriftlicher Äußerungen, die Grapheme, bezogen, sondern umfaßt die graphische Repräsentanz aller sprachlichen Einheiten. Anders formuliert, die graphemische Ebene ist nur ein Teil der graphematischen Ebene, zu der außerdem noch die graphische Seite der morphematischen, lexikalischen, syntaktischen und textualen Ebene des Sprachsystems gehört (vgl. Nerius et al. 2000, 88). Traditionell wird dieser Gesamtkomplex der graphischen Repräsentation von Sprache in bestimmte Teilkomplexe oder Teilgebiete untergliedert, die bestimmte graphische Phänome umfassen und sogenannte Orthogramme darstellen. Sie fußen auf den unter 1. dargestellten orthographischen Prinzipien, sind diesen jedoch nicht immer eindeutig zugeordnet, ganz abgesehen davon, daß sich auch in diesen Zuordnungen historische Veränderungen vollziehen können. Diese Teilgebiete sind: ⫺
⫺
⫺
⫺ ⫺
das Buchstaben- und Grapheminventar mit ihren Verteilungsgesetzmäßigkeiten sowie den Zuordnungen und Differenzen von Buchstaben(graphemen) und Phonemen, auch Morphem- und Wortschreibung genannt; die Getrennt- oder Zusammenschreibung als graphische Markierung von Wortgruppen oder Worteinheiten mit dem Sonderfall der Schreibung mit Bindestrich; die Groß- oder Kleinschreibung als polyfunktionales graphisches Mittel zur zusätzlichen Kennzeichnung bestimmter sprachlicher Einheiten oder Positionen; die Interpunktion mit ihrem differenzierten Inventar zur Gliederung und Abgrenzung sprachlicher Einheiten; die Worttrennung am Zeilenende als technisches Verfahren zur Vermeidung von Lesebeeinträchtigungen an der Zeilengrenze.
Alle diese Teilkomplexe der Graphematik haben ihre eigene Geschichte, in der sich mehr oder weniger starke Veränderungen vollzogen haben. Eine Entwicklungsdarstellung der Graphematik müßte diese Prozesse vom Beginn bis zur neuesten standardsprachlichen Norm im einzelnen beschreiben. Das ist hier schon aus Raumgründen, aber auch wegen des in den einzelnen Teilgebieten sehr unterschiedlichen Standes der Erforschung ihrer historischen Entwicklung nicht möglich. Während z. B. die Entwicklung der Groß-
oder Kleinschreibung im Deutschen doch schon relativ genau untersucht worden ist (vgl. Bergmann/Nherius 1998), wissen wir kaum etwas Genaueres über die historische Veränderung der Getrennt- oder Zusammenschreibung. Raum und Forschungslage veranlassen uns deshalb zu einer auswählenden Darstellung und der Beschränkung auf einzelne Phänomene. Dabei konzentrieren wir uns hier auf Angaben zur Entwicklung (a) des Grapheminventars, (b) der Groß- und Kleinschreibung und (c) der Interpunktion. Allgemein vollzieht sich die Entwicklung des graphematischen Systems bis zur Durchsetzung der heutigen standardsprachlichen Orthographie in einem ständigen Prozeß der Wechselwirkung zwischen Schreibgebrauch und Normkodifizierung. In diesem Prozeß dominierte zunächst und praktisch bis ins 18. Jahrhundert der Schreibgebrauch, in dem sich über die Adaption des lateinischen Schriftsystems und unter allmählichem Wirksamwerden der unter 1. und 2. angedeuteten Funktionen und Prinzipien die Schreibung der dt. Sprache etablierte. Diese Schreibung war zu Beginn und noch über lange Zeit regional, institutionell oder sogar personenbezogen unterschiedlich und somit durch eine große Differenziertheit und Variantenfülle gekennzeichnet, wofür unter anderem einerseits die regionale Differenzierung des dt. Sprachgebietes, aber andererseits auch die unterschiedliche Wirksamkeit und das Gegen- oder Miteinanderwirken der verschiedenen Schreibungsprinzipien maßgebend waren. Variabilität in der Schreibung einzelner Wörter ⫺ selbst innerhalb eines Textes ⫺ ist noch im Frnhd. recht häufig, sogar bei Namen. So erscheint der Name der Stadt Wittenberg in den Schriften Luthers bis 1523 in vierzehn Schreibungsvarianten, 1524 in sechs, 1539 in drei und ab 1542 in zwei Varianten, wobei Wittemberg dominiert (Arndt/Brandt 1983, 154). Im Zuge der Entwicklung der schriftlichen Kommunikation und besonders seit der Verbreitung des Buchdrucks ergab sich immer mehr die Notwendigkeit der Angleichung der graphischen Formen sprachlicher Einheiten sowie der Herausbildung von Schreibungskonventionen und schließlich der Etablierung externer Normen. Die kodifizierten Orthographien, wie sie seit dem 16. Jh. durch Sprachgelehrte und Orthographielehrer in zunehmender Zahl vorgelegt wurden, wirkten ihrerseits über den Unterricht und die Praxis der Druckereien wieder auf den Schreibgebrauch zurück. Dieser zunächst im-
170. Graphematische Entwicklungstendenzen in der Geschichte des Deutschen
mer noch regional differenzierte Prozeß wird überwölbt durch die im 18. und 19. Jh. verstärkt hervortretende Orientierung auf den nationalen Raum, die eine zunehmende Überwindung der regionalen Unterschiede und eine stärkere Vereinheitlichung der Orthographie nach sich zog. Das bedeutet eine immer genauere Kodifizierung der Schreibungsnormen, das Bemühen um die Beseitigung nicht nur der regionalen Unterschiede in der Orthographie, sondern um die Minimierung orthographischer Varianten überhaupt und schließlich die allgemeine Durchsetzung und in weiten Bereichen auch amtliche Verbindlichkeit einer einheitlichen Orthographie, was in Deutschland im Jahre 1901 mit den Festlegungen der sogenannten II. Orthographischen Konferenz und ihren Nachfolgeentscheidungen erreicht wurde. Die Haupttendenz in diesem Prozeß der Entwicklung des dt. graphematischen Systems von der Ausbildung der Schriftlichkeit bis zur Durchsetzung der standardsprachlichen Orthographie besteht in der Reduzierung der Schreibungsvarianten, d. h. der unterschiedlichen graphischen Formen von Gegebenheiten verschiedener Ebenen des Sprachsystems. Eine einheitliche Dominanz oder Bevorzugung eines Schreibungsprinzips gibt es dabei nicht, und dementsprechend gestaltet sich der Prozeß im allgemeinen auch nicht konsequent, sondern als kompromißhaftes Zusammenwirken verschiedener Prinzipien, was schließlich zu der differenzierten Struktur unserer heutigen Orthographie geführt hat. Einzelheiten des in den einzelnen Perioden der dt. Sprachgeschichte jeweils erreichen Entwicklungsstandes des graphematischen Systems sind in den entsprechenden Artikeln dieses Handbuches ausführlicher beschrieben, als das hier möglich ist (vgl. Art. 76, 84, 94, 104, 115, 129). (a) Betrachten wir zunächst einige charakteristische Entwicklungen im Grapheminventar und in den Morphem- bzw. Wortschreibungen, so ist vor allem die Schaffung neuer Buchstaben zu erwähnen, durch die das aus dem Lateinischen übernommene Alphabet ergänzt und auf insgesamt 30 Buchstaben erweitert wurde. Es handelt sich um die Umlautbuchstaben ä, ö, ü und den Buchstaben ß, der allerdings nur als Minuskel existiert. Die Umlautbuchstaben bereichern seit dem 15. Jh. das deutsche Grapheminventar; sie werden zunächst durch ein über den entspree e e chenden Buchstaben gesetztes e (a, o, u) gekennzeichnet, was teilweise noch bis in die er-
2467
ste Hälfte des 18. Jh. üblich war, später durch die bis heute gebräuchlichen zwei Striche oder Punkte über dem Ausgangsbuchstaben. Wähe e rend man davon ausgeht, daß o/ö und u/ü primär auf die Wiedergabe der Phoneme /œ/ und /ø:/ bzw. /y/ und /y:/ zurückzuführen sind, ist e a/ä eindeutig ein rein graphisches Produkt, da dieser Buchstabe für die Wiedergabe eines speziellen Phonems nicht erforderlich war (zur Rückwirkung auf das Phoneminventar vgl. 2.). Die Anwendung der Umlautbuchstaben ist vor allem ein Indiz der zunehmenden Wirksamkeit des morphematischen Prinizips in der sich entwickelnden dt. Orthographie, denn durch diese Umlautbuchstaben wird der inhaltliche Zusammenhang bei paradigmatischen oder abgeleiteten Wortformen durch die Nähe zu den Ausgangsbuchstaben graphisch verdeutlicht (Bogen ⫺ Bögen, klug ⫺ klüger, tragen ⫺ Träger). Diese Tendenz ist als allgemeine Entwicklungsrichtung in der dt. Graphematik bis zur Durchsetzung einer standardsprachlichen Orthographie auch noch an einer Reihe weiterer charakteristischer Merkmale der Schreibung des Deutschen nachzuweisen, die bei einer Dominanz des phonematischen Prinzips nicht aufgetreten wären. Die Ursachen dieser Entwicklung liegen zweifellos in der zunehmenden Rolle des Lesens und damit der Erfassungsfunktion der Schreibung (vgl. auch 2.). Dazu gehört z. B. die Nichtbezeichnung der phonemischen Neutralisation der Opposition von Starkund Schwachverschlußlauten /p/ : /b/, /t/ : /d/, /k/ : /g/ im Auslaut und vor stimmlosen Konsonanten in der geschriebenen Sprache etwa seit dem 14. Jh. und bis in die heutige Orthographie. Diese Neutralisation, die sogenannte Auslautverhärtung, wird in mhd. Texten auch graphisch markiert ⫺ daher kennt man sie überhaupt ⫺ z. B. geben ⫺ gap, werden ⫺ wirt, tages ⫺ tac, während das seit dem Frnhd. nicht mehr geschieht, um im Interesse des Lesers die graphische Identität des Morphems bzw. Wortes im gesamten Paradigma zu wahren, obwohl die phonemische Neutralisation bis heute in unserer Sprache vorhanden ist. Dazu gehört auch die seit dem Frnhd. auftretende graphische Differenzierung von Homonymen, genauer von homophonen Wörtern, wie sie ebenfalls noch heute in der deutschen Orthographie häufig, aber keineswegs generell anzutreffen ist (leeren ⫺ lehren, Seite ⫺ Saite, Stiel ⫺ Stil, malen ⫺ mahlen, das ⫺ daß, aber: Ball/Ball, Weide/Weide, Schloß/Schloß). Die Unterscheidungsschreibung ging im 16., 17. und teilweise auch noch
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
im 18. Jh. sogar weit über das hinaus, was später in die standardsprachliche Norm Eingang gefunden hat. So wurde z. B. noch über die Mitte des 18. Jh. hinaus ziemlich strikt sein (Possessivpronomen) und seyn (Verb) graphisch differenziert, wie überhaupt der Buchstabe y in diesem Zeitraum in der deutschen Sprache ein breites Anwendungsfeld besaß und häufig in Konkurrenz zum i stand (bey, frey, Wayse, zwey, -ley). Im Zuge der Reduzierung der Variabilität in der Einzelwortschreibung (undt, unndt, unnd, vnd, vnnd, vnndt → und) im Prozeß der Herausbildung der einheitlichen deutschen Orthographie verlor der Buchstabe y seine Position in heimischen Wörtern, er wurde überall durch i ersetzt und blieb nur in Fremdwörtern aus dem Griechischen erhalten (Rhythmus, Mythos, Synthese), so daß er heute eigentlich ein Fremdgraphem darstellt. In diesem Zusammenhang wurden auch die entsprechenden Unterscheidungsschreibungen aufgegeben. Der Buchstabe ß wurde im 14. Jh. als Bestandteil des dt. Grapheminventars gebräuchlich. Er entstand als Ligatur aus der Buchstabenverbindung s und z und reihte sich ein in die Möglichkeiten der graphischen Wiedergabe der s-Laute im Dt. Auch dieser Buchstabe gewann erst allmählich die Position, die er im heutigen graphematischen System des Dt. innehat. Vorher, vor allem im 17. Jh., besaß er ein relativ breites Anwendungsfeld und konkurrierte sowohl in Medial- als auch in Endstellung mit anderen graphischen Bezeichnungen von /s/, nur in Initialstellung kommt dieser Buchstabe niemals vor (hauß, auß, ryß, alß, -los, -niß, beschloßen, wißen). Auch für die graphische Homonymendifferenzierung wird das ß eingesetzt, so seit dem Ende des 15. Jh. für die Unterscheidungsschreibung des Artikels und des Relativpronomens das von der Konjunktion daß. Die bisher bestehende Distribution dieses Buchstabens und seine Beziehungen zur Lautstruktur, wie sie 1901 festgelegt wurden, wurden in der kürzlich beschlossenen Orthographiereform geändert und neu festgesetzt (vgl. 4.). (b) Der Gebrauch der Groß- und Kleinbuchstaben weicht im Dt. gegenwärtig von dem in allen vergleichbaren Sprachen dadurch ab, daß nicht nur Überschriften, Satzanfänge, Eigennamen, bestimmte Ehrenbezeichnungen und Anredepronomina mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben werden, sondern auch alle Substantive einschließlich der Substantivierungen. Diese Regelung be-
stand in der dt. Sprache nicht von Anfang an, sondern ist das Ergebnis eines sprachgeschichtlichen Entwicklungsprozesses, der sich im wesentlichen zwischen dem 16. und 18. Jh. vollzog. Die Großbuchstaben sind ein spezielles graphisches Mittel, das ganz im Dienste der Erfassungsfunktion steht und keinen spezifischen Bezug zur Lautstruktur der Sprache besitzt. Ihren besonderen funktionalen Wert gewannen sie im Zuge der Differenzierung der Schrift in Minuskeln und Majuskeln. Nach der Durchsetzung der „karolingischen Minuskeln“ in mehreren europ. Sprachen wurden in diese Schrift zunehmend Buchstaben der aus der lateinischen Antike überlieferten Majuskelschrift als Großbuchstaben aufgenommen, und zwar zur speziellen Kennzeichnung bestimmter Stellen im geschriebenen Text. Durch sie wurden bestimmte Positionen im Text und im Satz und in der weiteren Entwicklung dann auch bestimmte Einheiten innerhalb von Sätzen zusätzlich gekennzeichnet und für den Lesenden hervorgehoben. Dieser Entwicklungsprozeß vollzog sich zunächst im Dt. in gleicher Weise wie in anderen Sprachen. Schon im Althochdeutschen treten Majuskeln gelegentlich am Anfang eines Textes (Initialen), eines Satzes oder auch am Strophen- und Versanfang auf. Bei der Ausbildung der Großschreibung im Satzinnern überkreuzen sich unterschiedliche Grundsätze: einerseits ein wortklassenindifferenter Hervorhebungsgrundsatz, d. h. die graphische Kennzeichnung besonders wichtiger, beim Vorlesen hervorzuhebender Wörter, andererseits die Markierung der Eigennamen, zunächst vor allem der Personennamen und geographischen Namen, und schließlich auch die Verwendung der Majuskel als Kennzeichen der Respektbezeugung oder Ehrerbietung, worauf etwa die Großschreibung der Nomina sacra oder bestimmter Standesbezeichnungen hindeuten. In der sich auf dieser Grundlage vollziehenden Entwicklung des Majuskelgebrauchs setzt nun in der ersten Hälfte des 16. Jh. im Dt. eine von allen vergleichbaren Sprachen abweichende Sonderentwicklung ein, die mit der Herausbildung der generellen Substantivgroßschreibung zu einer bis heute bestehenden Sonderstellung des Dt. unter den europäischen Sprachen geführt hat. Ansätze zu einer mit dem Dt. vergleichbaren Ausweitung der Großschreibung hat es kurzzeitig auch in anderen europ. Sprachen gegeben, so im Französischen, Englischen, Niederländischen und Litauischen. Nur im Dänischen hat die Ausweitung auf die gene-
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170. Graphematische Entwicklungstendenzen in der Geschichte des Deutschen
relle Substantivgroßschreibung längere Zeit Bestand gehabt und ist erst 1948 auf den sonstigen europ. Großschreibungsdurchschnitt zurückgeführt worden. Eine überzeugende Erklärung für die von den anderen Sprachen abweichende Sonderentwicklung des Dt. in der Großschreibung liegt bis heute nicht vor. Wohl aber wissen wir inzwischen ziemlich gut über den Entwicklungsprozeß der Großschreibung Bescheid (vgl. im einzelnen Bergmann/Nerius 1998). Während die Majuskel am Ganzsatzanfang bereits um 1500 weitgehend üblich war, breitete sich die Großschreibung im Satzinnern in einem zeitlich, regional und nach einbezogenen Teilklassen differenzierten, offenbar vor allem semantisch-pragmatisch bestimmten Entwicklungsprozeß seit der ersten Hälfte des 16. Jh. allmählich aus. Den Ausgangspunkt dieses Prozesses bildete die lexikalische Klasse der Eigennamen, deren zentrale Bestandteile, Personennamen und geographi-
sche Namen, als Einwortlexeme schon am Beginn des 16. Jh. überwiegend groß geschrieben wurden. Ausgehend von diesem Kernbereich, weitete sich die Großschreibung einerseits innerhalb der Subklassen und verschiedenen Formen der Eigennamen weiter aus, erstreckte sich aber schon im 16. Jh. mit deutlich zunehmender Tendenz auf verschiedene Teilklassen der Gattungsbezeichnungen. Davon wurden zunächst solche Teilklassen erfaßt, die als den Eigennamen nahestehend angesehen wurden, wie z. B. Personenbezeichnungen (Standes-, Einwohner-, Berufs-, Verwandtschaftsbezeichnungen u. ä.). In einer Reihe von Erweiterungskreisen wurden dann auch andere Unterklassen der Appellative erfaßt, wobei die Konkreta deutlich früher in die Großschreibung einbezogen werden als die Abstrakta (vgl. die beigefügte Tabelle). Um 1700 besitzen die Großschreibungen im Bereich des Substantivs insgesamt im ganzen dt. Sprachraum einen Anteil von gut
Tab. 170.1: Übersichtstabelle zur Entwicklung der Substantivgroßschreibung im Deutschen (Nach Bergmann/ Nerius 1998, S. 873) Zeitschnitt
geographische PersonenNamen namen
von geograph. Namen abgeleitete Pers.bez.
Nomina Sacra
Titel, Standesund Amtsbez.
Sachnamen
fremde Appellative
1500
80,3 %
64,0 %
55,3 %
1530
98,1 %
99,3 %
98,3 %
0,4 %
17,0 %
47,3 %
19,8 %
67,9 %
57,1 %
82,8 %
51,5 %
1560
99,5 %
99,9 %
99,8 %
1590
98,3 %
100 %
100 %
90,1 %
97,2 %
88,2 %
77,1 %
98,4 %
99,7 %
92,5 %
91,0 %
1620
99,9 %
100 %
1650
99,4 %
100 %
100 %
99,3 %
99,9 %
96,9 %
85,6 %
100 %
99,5 %
100 %
98,2 %
82,8 %
1680
99,7 %
1710
99,9 %
100 %
100 %
99,8 %
100 %
94,3 %
91,3 %
99,9 %
100 %
100 %
100 %
93,4 %
85,2 %
Zeitschnitt
eigennamenähnliche Appellative
sonstige Personenbez.
sonstige Konkreta
1500
10,3 %
8,9 %
3,8 %
2,5 %
0,8 %
1,9 %
1,1 %
1530
33,6 %
23,7 %
7,7 %
9,2 %
1,9 %
2,0 %
2,0 %
1560
76,7 %
55,4 %
39,9 %
24,3 %
16,6 %
9,9 %
4,9 %
1590
84,9 %
88,4%
83,7 %
56,6 %
48,4 %
44,6 %
30,0 %
1620
90,6 %
94,0 %
90,7 %
72,3 %
69,0 %
58,4 %
39,1 %
1650
95,3 %
91,7 %
93,2 %
75,9 %
73,1 %
74,5 %
39,3 %
1680
99,2 %
94,2 %
98,5 %
91,3 %
86,4 %
87,1 %
61,4 %
1710
98,1 %
96,9 %
93,8 %
90,3 %
89,8 %
88,6 %
71,6 %
sonstige Abstrakta
explizite Ableitungen
implizite Ableitungen
Konversionen
2470
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
90%. Obwohl in einer Reihe von Fällen auch danach noch Kleinschreibung auftritt, kann man feststellen, daß sich die Substantivgroßschreibung im Deutschen um 1700 weitgehend durchgesetzt hat. Diese Entwicklung ist im wesentlichen ein Resultat des Sprachgebrauchs, auf den die Grammatiker und Orthographen ⫺ nicht selten erst mit beträchtlicher Verspätung gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen ⫺ reagiert haben und den sie im nachhinein in Regeln zu fassen suchten. Aus der semantisch-pragmatisch motivierten Großschreibung von Bezeichnungen aus einer Vielzahl von Denotatsbereichen hat sich so durch die Interpretation der Grammatiker die grammatische Motivation der Substantivgroßschreibung ergeben. (Vgl. Tab. 170.1). c) Die Interpunktion als wichtiger Teilbereich des graphematischen Systems hat sich in der dt. Sprachgeschichte ebenfalls erheblich verändert. Das bezieht sich sowohl auf die Funktion als auch auf das Inventar der Satzzeichen. Es ist hier nicht der Raum, die Entwicklung aller 12 heute im Dt. gebräuchlichen Satzzeichen, ihr Aufkommen und ihren Funktionswandel im einzelnen darzustellen (vgl. Höchli 1981). Hervorzuheben ist jedoch der generelle Funktionswandel, der sich seit dem 17. Jh., vor allem aber im 18. und 19. Jh. in diesem graphematischen Teilsystem vollzogen hat. In ihren Anfängen bezog sich die Interpunktion vornehmlich auf die Wiedergabe von Erscheinungen der gesprochenen Sprache auf der Satzebene und zielte darauf ab, Elemente der Lautung wie Sprechmelodie, Rhythmus, Akzentverteilung und Pausen graphisch zu verdeutlichen. Die Satzzeichen waren zunächst Ton- und Pausenzeichen, die als Hilfsmittel für das sinngemäße laute Lesen dienten. Grundlage ihrer Anwendung war das intonatorische Prinzip (vgl. 2.). Das änderte sich im Zuge der allgemeinen Verbreitung der schriftlichen Kommunikation und des Übergangs vom lauten Vorlesen zum stillen Lesen grundsätzlich, und es vollzog sich ein Wandel von der sprechrhythmischen Interpunktion zur Satzstrukturkennzeichnung, vom intonatorischen zum syntaktischen Prinzip. In einem Prozeß, der über mehrere Jahrhunderte verlief und der zweifellos auch von der zunehmenden theoretischen Erkenntnis syntaktischer Strukturen seitens der Grammatiker beeinflußt wurde, entwikkelten und differenzierten sich die Satzzeichen zu den Grenz- und Gliederungszeichen syntaktisch-semantischer Einheiten, von Texten und Sätzen, wie wir das heute kennen.
Dabei haben sich sowohl die Funktionen einzelner Satzzeichen verändert als auch der Bestand an Satzzeichen insgesamt. Der Abschluß dieses Entwicklungsprozesses liegt erst im späten 19. Jh., seine Anfänge sind schon am Beginn des 17. Jh. zu beobachten. Zu den ältesten dt. Satzzeichen gehört der Punkt; die Masse der Satzzeichen wie Semikolon, Doppelpunkt, Fragezeichen, Ausrufezeichen, Gedankenstrich, Komma, Anführungszeichen, ist im Frnhd., etwa zwischen dem 15. und 17. Jh., hervorgetreten, wobei das heute flexibelste Satzzeichen Komma bis in die erste Hälfte des 18. Jh. nur eine geringe Rolle spielte und hinter der lange Zeit nahezu universell einsetzbaren Virgel, dem Schrägstrich (/), zurückstand. Erst im 18. Jh. verschwand die Virgel aus dem dt. Schreibgebrauch und wurde durch das Komma, aber auch durch andere Satzzeichen ersetzt.
4.
Weiterentwicklung des graphematischen Systems durch eine Orthographiereform
Im Prozeß der Wechselwirkung von Schreibgebrauch und Normkodifizierung, in dem sich die Entwicklung des graphematischen Systems vollzieht, verschieben sich die Gewichte im Zuge der Herausbildung einer einheitlichen standardsprachlichen Norm immer mehr zugunsten der Normkodifizierung. Ihr Einfluß auf den Schreibgebrauch wird größer, und nach der offiziellen Festlegung und amtlichen Verbindlichkeit einer einheitlichen Orthographie, wie das in Deutschland 1901 geschah, ist eine Weiterentwicklung dieser Norm ⫺ von speziellen Einzelfällen abgesehen ⫺ nur noch durch eine Umkodifizierung der Regelung, eine sogenannte Orthographiereform, möglich (vgl. Nerius 1994). Eine solche ist von Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie anderen beteiligten Ländern für den 1. 8. 1998 verabredet worden. Die dabei vorgesehenen Änderungen stellen in einigen orthographischen Teilbereichen einen partiellen Wandel des graphematischen Systems dar. Dazu gehört im Bereich der Phonem-Graphem-Zuordnungen die Umkodifizierung der ß-ss-Schreibung. Der Anwendungsbereich und die Distribution von ß und ss werden (außer in der Schweiz, wo kein ß mehr verwendet wird) so geändert, daß ß als Wiedergabe von /s/ nur noch nach Vokalbuchstaben für Langvokale und Dipthonge erhalten bleibt (Fuß, heiß) während nach Vokalbuchstaben für Kurzvokale das bisher
170. Graphematische Entwicklungstendenzen in der Geschichte des Deutschen
dort verwendete ß durch ss ersetzt wird (Fass, musste). Dazu gehört im Bereich der Großund Kleinschreibung die Ausweitung der Großschreibung auf bisher sogenannte Scheinsubstantivierungen, d. h. Adjektive in festen Wendungen sowie als Ordinalzahlen oder unbestimmte Zahladjektive mit formalen Merkmalen der Substantivierung (Seid ihr euch darüber im Klaren? Das ist im Wesentlichen richtig. Sie hat mir das des Näheren erklärt. Er konnte nicht das Geringste erfahren. Hierbei hat er den Kürzeren gezogen. Sie war die Erste in der Reihe. Der Nächste bitte! Alles Übrige besprechen wir später.). Dazu gehört, um noch ein drittes Beispiel zu nennen, im Bereich der Worttrennung am Zeilenende die Ausdehnung des syllabischen Prinzips auch auf die relativ kleine Zahl von Fällen, die bisher nur nach dem morphematischen Prinzip getrennt werden durften, vor allem Fremdwörter wie Chi-rurg, Pä-da-go-gik, In-te-resse, pa-ral-lel. Solche Beispiele verdeutlichen, daß bei einer Orthographiereform durch einen bewußten Akt der Regelungsänderung graphematische Strukturen und ihr Beziehungsgefüge partiell neu geordnet, daß im Zusammenhang mit angestrebten Zielvorstellungen zur Struktur und Funktion der Orthographie bestimmte Prinzipien und Relationen generalisiert oder ausgeweitet und andere reduziert werden, so daß schließlich mehr oder weniger veränderte Strukturen entstehen. Wieweit das mit Blick auf den bisherigen Entwicklungsprozeß des graphematischen Systems insgesamt zweckmäßig und sinnvoll ist, stellt ein anderes Thema dar, das hier nicht zu erörtern ist.
5.
Literatur (in Auswahl)
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2472
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
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171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen 1. 2.
4.
Forschungsstand Interpungierungen in der Schriftlichkeit von der Mitte des 8. Jhs. bis zu ersten Grammatikeraussagen im 15. Jh. Interpungierungen in Grammatikeraussagen vom 15. Jh. bis zum Buchdruckerei-Duden von 1903 und Gebrauchsnormen Literatur (in Auswahl)
1.
Forschungsstand
3.
Der Forschungsstand zur Geschichte der Interpungierungsmittel wird seit Bieling (1880) von folgenden Faktoren bestimmt: 1. von der Orientierung an präskriptiven Normen in Grammatikeraussagen, die erst seit dem letzten Viertel des 15. Jhs. vorliegen (J. Müller 1882; Höchli 1981; Garbe 1984; MoulinFankhänel 1994), 2. von der Konzentration auf den sog. Dualismus von rhetorischem und syntaktischem Prinzip der Interpunktion (Bieling 1880, 8⫺10, 45⫺48; Besch 1981), 3. von den Bemühungen um eine Orthographiereform unter Einschluß der Interpunktion (Zimmermann 1969; Baudusch 1980, 1981 a, b; Mentrup 1983; Veith 1985, 1488⫺1493) und 4. von der Vernachlässigung der Analyse von Gebrauchsnormen, zum Teil wegen nor-
malisierender Texteditionen (Reichmann 1984, 695; Simmler 1992 b, 49⫺72; Besch 1994; Simmler 1995).
2.
Interpungierungen in der Schriftlichkeit von der Mitte des 8. Jhs. bis zu ersten Grammatikeraussagen im 15. Jh.
2.1. Karolingerzeit und Antike Aufgrund dieses Forschungsstandes sind die Interpungierungen vor den ersten Grammatikeraussagen am wenigsten untersucht, obwohl im Deutschen „die volkssprachlichen Denkmäler des Mittelalters grundsätzlich mit den gleichen Schrifttypen wie die lateinischen Denkmäler aufgezeichnet“ werden (Sonderegger 1979, 16) und in der lat. Paläographie Untersuchungen zur Interpunktion vorliegen. So verweist bereits Wattenbach (1871, 186) darauf, daß Bücher wie die Bibel „zum öffentlichen Vorlesen bestimmt waren“, daß man sie daher „häufig nach dem Vorgang des alexandrinischen Diaconus Euthalius stixhrv˜ w oder per cola et commata, d. h. nach den Satztheilen abgesetzt“ schrieb und sie „auch mit Spiri-
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
tus, Accenten und Interpunctionen“ versah. Unter Karl dem Großen wurde große Sorgfalt darauf verwendet, korrekte kirchliche und später auch juristische Texte zu besitzen, wie aus dem Kapitel 71 des Capitulare von 789 hervorgeht: „Psalmos, notas cantus, compotum, grammaticam per singula monasteria vel episcopia (discant) et libros catholicos bene emendatos (habeant); quia saepe dum bene aliqui deum rogare cupiunt, sed per inemendatos libros male rogant. Et pueros vestros non sinite eos vel legendo vel scribendo corrumpere. Et si opus est evangelium, psalterium et missale scribere, perfectae aetatis homines scribant cum omni diligentia.“ (Wattenbach 1871, 190).
Zur Umsetzung der Beschlüsse schrieb Alcuin ein Buch de orthographia und legte großen Wert auf „die fast in Vergessenheit gerathene Interpunction“ (Wattenbach 1871, 251). In der Forschung bleiben diese Hinweise unbeachtet und führen nicht zu einer systematischen Analyse der Interpungierungsmittel und ihrer Funktionalität in den lat., dt.lat. und ausschließlich dt. Texttraditionen der Karolingerzeit. Vielmehr erfolgt ein Rückgriff auf die Interpungierungen der Antike, in der drei Punkte unten auf der Zeile (comma), in der Zeilenmitte (colon) und oben an der Zeile (periodus) als Hilfen für den Vortrag verwendet werden (zu den Weiterentwicklungen ab dem 9. Jh. Catach 1994, 14 f.). Sie signalisieren eine kurze, mittlere und lange Pause und begründen ein rhetorisches Interpungierungsprinzip (R. W. Müller 1964; Wingo 1972; Raible 1991 a, 21 mit Anm. 30), das jedoch an Sinneinheiten gebunden ist (Gardthausen 1913, 73 f., 405). Diesem Prinzip wird das syntaktische der Gegenwartssprache gegenübergestellt. Antike und Gegenwart bilden so zwei Pole mit unterschiedlichen Interpungierungsprinzipien. Alle Entwicklungen zwischen diesen beiden Polen werden auf den Dualismus von rhetorischem und syntaktischem Prinzip zurückgeführt und andere Interpungierungen in Handschriften (und später in Drucken) als Prinzipienmischungen oder Unzulänglichkeiten in der Prinzipverwirklichung durch Autoren oder Schreiber (und später durch Drucker) gedeutet (Philipp 1980, 33 f.), weshalb die Verständlichkeit solcher Texte durch normierende editorische Eingriffe zu sichern sei. Isolierend wird nach dem ersten Auftreten eines in der Gegenwartssprache vorhandenen Interpungierungsmittels gesucht, um Entwicklungsetappen markieren zu können. Auf diese Weise läßt sich einmal keine synchrone Ge-
2473
samtsystematik der Interpungierungsmittel in einer Epoche ermitteln. Zum anderen geht der Blick dafür verloren, daß Handschriften (und später Drucke) in vielen Textsorten durchkomponierte Einheiten sind (Parkes 1976, 121⫺123; Cancik 1979, 91 f.), in denen interpungierende, orthographische und hervorhebende Mittel zu Repräsentationstypen verbunden werden, die sich durch mindestens eine differentia specifica unterscheiden und funktionell auf Makrostrukturen wie Kapitel, Absätze und Abschnitte und auf syntaktische Kategorien wie Gesamtsätze, Teilsätze, Satzglieder und Satzgliedteile verweisen. 2.2. Repräsentationstypen für Makrostrukturen Anhand der elf ältesten lat. Handschriften der Regula Benedicti kann Simmler (1988) die Interpungierungsmittel mittelhoher Punkt [= P(m)], hoher Punkt [= P(o)], tiefer Punkt [= P(u)], drei Punkte (PPP), zwei Punkte mit Virgel (PPS), drei Punkte mit Virgel (PPPS), Strichpunkt »!« (SP), Semikolon »;« (Sem) und Doppelpunkt/Kolon (K), die orthographischen Mittel Majuskel (Maj), Minuskel (Min) und Initiale (In) und die hervorhebenden Mittel Unterstreichung (U), Randhervorhebung (RH), Verwendung von Ordinalzahlen (O), Spatienbildung (Spa), Farbauszeichnung (FA), Segmentierungszeichen (SZ), Verwendung von Teilüberschriften (TÜ) und Einsatz römischer Ziffern (rZ) nachweisen. Aus ihnen wird in jeder Handschrift eine besondere Auswahl getroffen und zu spezifischen Repräsentationstypen zusammengefügt; dabei kann eine Spatienbildung oder der Zeilen- oder Spaltenrand ein Interpungierungsmittel ersetzen. Im St. Galler Cod. 914 (um 817) verweist u. a. die Verbindung einer Überschrift in Rubrum mit einer Initiale beim ersten Wort nach der Überschrift und einer römischen Ziffer (Typus: Ü ⫹ In ⫹ rZ) auf die Makrostruktur der Kapitel, der Typus Sem ⫹ In ⫹ O signalisiert die Absatzstruktur und der Typus Sem ⫹ Maj die textsortenspezifische Makrostruktur des Abschnitts. Insgesamt sind in der lateinischen Überlieferung 24 Repräsentationstypen für Absätze und neun für Abschnitte (ohne solche mit direkter Rede) vorhanden. Sie zeigen, daß die innere Organisation von Texten nicht erst Mitte des 12. Jhs. (Raible 1991 b, 10) sichtbar wird, sondern wesentlich älter ist. In der kombinierten lat.-dt. Texttradition der Regula Benedicti kommen 21 Repräsentationstypen für Absätze vor. In der aus-
2474
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
schließlich deutschen Textüberlieferung, zu der 22 Handschriften von der 1. H. 13. Jh. bis a. 1560 berücksichtigt sind, werden die Absätze durch insgesamt 53 Typen repräsentiert; bei den Abschnitten zeigen sich 13 Repräsentationstypen. In der dt. Überlieferung spielen die lat. Interpungierungen P(o), PPS, PPPS, SP, Sem und K zur Kennzeichnung von Makrostrukturen in Verbindung mit orthographischen und hervorhebenden Mitteln keine Rolle mehr. In der dt. Überlieferung erfolgt eine Konzentration auf die Interpungierungen P(m) und P(u); die Interpungierung PPP ist nur im Admonter Cod. 538 von a. 1503 vorhanden; die Virgel (V), ein von rechts oben nach links unten verlaufender Strich, kann im Typus V ⫹ Maj zur Abschnittskennzeichnung erstmals im Codex Oxford MS. Laud. Misc. 237 aus dem Anfang des 14. Jhs. belegt werden. Eine besondere, durch fünf Repräsentationstypen und ihre Varianten gekennzeichnete makrostrukturelle Einteilung in Kapitel und eusebianische Abschnitte zeigt sich in der lat.-ahd. Tatianbilingue (Simmler 1998 a), deren Veränderungen in sechs deutschsprachigen Traditionen bis zum 15. Jh. auch zu einem Wechsel der Textfunktion führen (Simmler 2002). Vergleichbare umfangreichere Untersuchungen zu anderen Textsorten vor allem im Ahd. und Mhd. fehlen und werden den bisherigen Befund ergänzen. Bereits jetzt läßt sich erkennen, daß die Interpungierungen nicht allein eine spezifische Funktion übernehmen und auch nicht monofunktional sind, sondern funktionell in ein Merkmalbündel von Repräsentationstypen integriert sind, das auf Makrostrukturen wie Kapitel, Absatz und Abschnitt verweist.
2.3. Syntaxrelevante Repräsentationstypen Von den die Makrostrukturen kennzeichnenden Repräsentationstypen heben sich solche ab, die eine syntaxrelevante Funktionalität besitzen. Sie sind für das Ahd. und Mhd. im Zusammenhang mit dem Nachweis von Nominalsatztypen (Simmler 1992 a) bzw. der Darstellung der Geschichte der Imperativsätze (Simmler 1989) und der Frage- und Ausrufesätze (Simmler 1994) exemplarisch behandelt worden. Für die Lorscher Beichte und den Weißenburger Katechismus, der aus sechs Textexemplaren besteht, liegt eine Gesamtanalyse vor (Simmler 1997 b). Eine systematische epochenspezifische Zusammenstellung aller Interpungierungsmittel und ihrer Funktionen getrennt nach Satzarten und
Textsorten in Epik und Prosa und unter Beachtung von Frequenzangaben im Hinblick auf die Konsequenz ihrer Verwendung bleibt ein Desiderat der Forschung. Alle folgenden Beispiele beziehen sich auf Texte in Prosa und die angegebene Literatur, erweitern sie teilweise um zusätzliche Belege und berücksichtigen gelegentlich epische Überlieferungen. Dabei wird nach den einschlägigen Texteditionen zitiert, indem die dort vorgenommenen graphischen Vereinheitlichungen beibehalten werden (Verzicht auf Diakritika, Nachstellung überschriebener Buchstaben); alle Interpungierungen geben aber den Handschriftenbefund wieder, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Gegenwartssprache erkennen zu können. Im Weißenburger Katechismus des 9. Jhs., der makrostrukturell außer durch Initiatoren und Terminatoren nicht hierarchisch strukturiert ist, sind in komplexen Aussagesätzen die Interpungierungen P(u), P(m) und SP vorhanden (vgl. Abbildungen 1⫺4 in Simmler 1992 a): (1) So huuer. so uuilit gihaldan uuesan · fora allu thurft ist thaz er habe allicha gilauba · [ZR] (St. 31.56 f. = Steinmeyer 1963, Seite 31, Zeile 56 f.) ⫺ (2) So sama almahtigo fater. almahtigo sun [ZR ⫹ Blattende] almahtigo endi heilogo geist [ZR] (St. 31.69 f.) ⫺ (3) Gilauba allichu. thisu ist · thaz einan got in thrinisse · endi thrinissi in einnissi eremes · [Spa bis ZR] (St. 31.58 f.).
Konsequent wird der Beginn von Gesamtsätzen durch eine 1,5-zeilige Initiale bei So, Gilauba markiert, die zusätzlich nach links aus dem Seitenspiegel herausgestellt und meist noch durch eine Farbauszeichnung hervorgehoben ist. Durch die besondere Kennzeichnung des Gesamtsatzbeginns kann das Ende eines Gesamtsatzes variabler interpungiert werden. Neben den Typen In ⫹ P(m) ⫹ ZR(1), In ⫹ P(m) ⫹ Spa bis ZR (3), In ⫹ SP ⫹ ZR (2) kommen noch die Typen In ⫹ P(u) oder nur In ⫹ Spa bis ZR vor. Innerhalb der Gesamtsätze werden zunächst die Teilsätze mit den Typen P(m) ⫹ Min (fora in 1; thaz in 3; endi in 3), P(u) ⫹ Min (almahtigo in 2) und SP ⫹ Min (almahtigo in 2) markiert, wobei verbale und nominale Teilsätze in gleicher Weise behandelt sind. Nicht bei allen Teilsatz-Typen wird konsequent interpungiert; dies gilt für Interpungierungen vor der Konjunktion thaz (1, 3) und für einzelne relativische Anschlüsse (vgl. the in 8). Neben Interpungierungen bei Teilsätzen kommen solche bei Satzgliedern und Satzgliedteilen vor. Gelegentlich wird ⫺ anders als in der Gegen-
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
wartssprache ⫺ wie in (4) Endi thie guat datun · farent in euuig liib. (St. 33.107) das erste Satzglied vor dem Verbum finitum durch ein Interpunktionszeichen zusätzlich zur Serialisierungsregel hervorgehoben. Innerhalb der Satzglieder dient die Interpungierung vor so (1) und thisu (3) ⫺ wie gegenwartssprachlich ⫺ der Kennzeichnung einer pronominalen Wiederaufnahme eines Nomens. Anders als in der Gegenwartssprache werden in (5) Uzzar fateres. endi sunes. endi heilegen geistes [ZR] ein ist gotchundi · (St. 31.62) vor der Konjunktion endi auch substantivische Nuklei durch den Typus P(u) ⫹ Min gereiht. Nicht konsequent und nur zur Hervorhebung kommen ⫺ anders als gegenwartssprachlich ⫺ in der Würzburger Markbeschreibung (Bauer 1988, Tafeln 2⫺4) aus dem 11. Jh. auch Interpungierungen bei Attributen vor. In (6) In rabanesbrunnon · nidarun halba uuirziburg · ostarun halba moines · danan in anutseo · (St. 116.46 f.) wird der Nukleus rabanesbrunnon um zwei postnukleare Attribute erweitert. Sie sind hervorgehoben und fixieren genau den Ausgangspunkt der Markbeschreibung (vgl. ferner 18). Bei von vornherein zweisprachig konzipierten Texten wie der ahd. Tatianbilingue (Masser 1994; Sievers 1892; zitiert nach Kapitel und Vers) ist ⫺ ähnlich wie bei Interlinearversionen (Simmler 1992 a, 158 f.) ⫺ zu beachten, daß sich lat. und dt. Makrostrukturkennzeichnungen und Interpungierungen von der lat. Vorlage ausgehend ergänzen: (7) ? Non enim coutuntur iudei samaritanis; respondit ihesus [SpR] & dixit ei; si scires donum dei. & quis est qui dicit tibi [SpR] da mihi bibere. tu forsitan petisses ab eo. & dediss& tibi aquam uiuam; dicit ei mulier; ⫺ (8) [SpR] ni eban bruchent iudei samaritanis. tho antlingita ther heilant [SpR] inti quad iru. oba thu uuessis gotes geba [SpR] inti uuer ist the dir quidit [SpR] gib mir trinkan. thu odouuan batis fon imo. thaz her dir gabi lebenti uuazzar tho quad imo thaz uuib [SpR] (T. = Tatian 87.2 f.).
Insgesamt ist die Interpungierung im lat. Textteil konsequenter. Dabei verweist der Typus F (Fragezeichen) ⫹ Maj auf einen Gesamtsatzbeginn, während die Typen Sem ⫹ Min und P(u) ⫹ Min Gesamtsatz- und Teilsatzbegrenzungen in sich überschneidender Funktionalität angeben; Interpungierungen von Satzgliedern und Satzgliedteilen treten zurück. Im deutschen Textteil werden ebenfalls nur Teilsätze durch den Typus P(u) ⫹ Min markiert; an einzelnen Stellen mit lat. Interpungierung ersetzt im Dt. ein SpR eine Interpungierung (vor ni, inti); zum Teil fehlt eine Interpungierung (vor tho), doch si-
2475
chert der Pronominalwechsel bei Dialogen die Gesamtsatz- und Teilsatzbegrenzungen. Fragesätze werden teilweise wie Aussagesätze interpungiert (9,11); daneben kommt ein Fragezeichen als satzartcharakterisierendes Interpungierungsmittel vor. Im Fränkischen Taufgelöbnis (Fischer 1966, Tafel 8) sind fünf Repräsentationstypen erkennbar: (9) Forsahhistu unholdun · Ih fursahu · (St. 23.1) ⫺ (10) Forsahhistu allem them bluostrum [ZR] Indi dengelton · Indi dengotum thie im heideneman · zigeldom · entizigo [ZR] tum habent Ih fursahhu · (St. 23.3-5) ⫺ (11) Gilaubistu In gotfater almahtigan Ih gilaubu (St. 23.6) ⫺ (12) Gilaubistu Inchrist gotes sun nerienton : Ih gilaubu., (St. 23.7).
Spezifische Interpungierungen der Entscheidungsfragen sind die Verbindung von P/H (Punkt ⫹ Haken) ⫹ Maj in (10) und K/H (Kolon ⫹ Haken) ⫹ Maj in (12); spezifisch ist auch der Typus HP (Hakenpunkt) ⫹ Min (nach Inchrist in 12), der nach einem substantivischen Nukleus steht und den ersten Frageteil einer Frage signalisiert, die erst nach einer weiteren Apposition abgeschlossen ist. Während die beiden ersten Typen dem Fragezeichengebrauch in der Gegenwartssprache entsprechen, existiert der letzte Typus nicht mehr. In der Tatianbilingue werden im deutschen Textteil Entscheidungsfragen wie Aussagesätze, aber auch mit einem Fragezeichen, interpungiert; im lateinischen Textteil wird jeweils ein spezifisches Interpungierungsmittel verwendet: (13) ;dicit ergo ei mulier. illa samaritana; quomodo tu iudeus cum sis. bibere a me poscis. quae sum mulier samaritana? ⫺ (14) tho quad imo uuib [SpR] thaz samaritanisga [SpR] uueo thu mitthiu iudeisg bist [SpR] trinkan fon mir bitis [SpR] mitthiu bin uuib samaritanisg [SpR] (T. 87.2) ⫺ (15) ;reliquit ergo hydriam suam. mulier. & abiit in ciuitatem. & dicit illis hominibus; uenite & uidete hominem. qui dixit mihi omnia quaecumque feci; numquid ipse est christus; ⫺ (16) .uorliez tho ira uuazzarfaz [SpR] daz uuib. inti fuor in burg [SpR] inti sagata then mannon [SpR] quemet inti gisehet then man [SpR] ther mir quad alliu so uuelichu so ih teta [SpR] eno nist her christ . (T. 87.7).
In Otfrids Evangelienbuch (Kelle 1856; zitiert nach Buch, Kapitel und Vers) wird trotz Reim und metrischer Struktur die vergleichbare Textstelle mit einem spezifischen Fragezeichen » « versehen: (17) UVio ma´g thaz quad si uue´rdan. thu´ bist iu´dusger man · inti ih bin the´sses thı´otes. thaz thu´ mir so gibı´otes (O. = Otfrid II.14.17 f.; Befund aus Cod. Pal. Lat. 52 = Hs. P).
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
In der Freisinger Handschrift fehlen Interpungierungen: (18) Uuio mach daz quad si uu´erdan [Spatium = SpR] Thu bist ´ıudı´´ısger man [SpR] Inti ih bin thesses theotes [Spatium = SpR] Thaz thu mir so gibi&es [SpR] (Hs. F = Cgm. 14).
Dafür werden Langzeilenpaare markiert: Sie beginnen jeweils mit einer eine Buchstabenbreite nach links herausgerückten 1,5-zeiligen rubrizierten Initiale ( bei Uuio), die einzelnen Kurzzeilen mit einer Majuskel. Daraus schließt Gärtner (1990, 367), daß sich metrische und sprechsprachliche Einheiten decken; der Vergleich zur Hs. P zeigt aber, daß die Übereinstimmung auch syntaktische Einheiten und ihre Interpungierungen umfaßt (zur strophischen Satzgliederung Patzlaff 1975, 232). Imperativsätze und Ausrufesätze werden wie Aussagesätze interpungiert; anders als bei Fragesätzen existiert bei ihnen kein spezifisches, die Satzart markierendes Interpungierungsmittel. Im Weißenburger Katechismus wird der Typus P(u) ⫹ In vor Lobomes in (19) Guatlichi in hohostem gote. endi in erdhu [ZR] fridhu mannom. guates uuillen. Lobomes thih. (St. 34.110 f.) verwendet. Zusätzlich wird das postnukleare Genitiv-Attribut guates uuillen durch den P(u) in seiner kommunikativen Funktion herausgestellt (vgl. 6). In der Tatianbilingue zeigt sich im lat. Textteil regelmäßig der Typus Sem ⫹ Min wie in (20) ;Interea rogabant eum discipuli dicentes; rabbi. manduca; ille autem dixit eis; ⫺ (21) ;uenit mulier de samaria haurire aquam; dicit ei ihesus. da mihi bibere. ⫺ Im deutschen Textteil steht wie in (22) [SpR] untar diu batun inan sine iungoron sus quedente. meister [SpR] iz. her quad in tho [SpR] (T. 87.8) der Typus P(u) ⫹ Min, oder es wird am Spaltenrand bzw. unter Beachtung des lat. Textteiles wie in (23) · quam tho uuib fon samariu sceffen uuazzar [SpR] tho quad iru der heilant gib mir trinkan [SpR] (T. 87.2) auf eine Interpungierung verzichtet.
Das Ende der ahd. Sprachperiode bilden die Werke Notkers, von denen hier die Interpungierungen aus der Übersetzung des Martianus Capella aus dem 11. Jh. (Sehrt/Starck, II, 1935; King 1979; Cod. Sang. 872) berücksichtigt werden. Notker verwendet die Interpungierungen P(m), P(o), SP, Sem, F und PPS = »:⫺«, letzteren makrostrukturell gebunden am Ende einer lat. Überschrift (King 1979, XXVIII). Das Sem ist Teil des Typus Sem ⫹ Maj und signalisiert das Ende eines Gesamtsatzes: (24) An dirro redo ist ein geuuissot fone zuein · uuando fone dero propositione · unde dero assump-
tione · ube sie uuar sint · uuirt tiu conclusio geuuaret; Fone (King 1979, 113.3⫺5; zitiert nach Seite und Zeilen).
Auch der P(o) ist immer (Zürcher 1978, 97) mit einer Majuskel verbunden und markiert ein Gesamtsatzende: (25) · Aber dise fier namen ougent uns · taz er romanus uuas dignitate -ø doh er burtig uuare fone cartagine diu in africa ist · So (2.7-9) Eine nicht so häufige Funktionsüberschneidung besteht zum Typus P(m) ⫹ Maj (25, vor Aber), der ebenfalls Gesamtsätze begrenzen kann. Zu den Segmenten innerhalb der Gesamtsätze existieren klare Oppositionen zum Typus P(m) ⫹ Min. Dieser verweist auf Teilsatzbegrenzungen (24 vor ube, uuirt; 25 vor taz); lediglich Relativ-/ Attributsätze erhalten häufiger keine Interpungierung (25 vor diu). Eine Teilsatzbegrenzung liegt auch beim SP vor (25 vor doh), der hier in einer besonderen Form als gerader Strich über einem P(u) erscheint. Daneben wird der SP auch mit einem geneigten Strich über dem hohen Punkt realisiert: (26) · Tero sunnun lampas skein dar ana · in des lampadis uuis ! ten ze eleusina salmoneus rex an die scoz · tie er slahen uuolta · Uber (146.8⫺10). Hier wird durch den Typus SP ⫹ Min ein Satzglied begrenzt. Die gleiche Funktion erfüllt der Typus P(m) ⫹ Min (26 vor in); ferner werden mit Hilfe des Typus P(m) ⫹ Min auch Appositionen markiert (24 vor uuanda) bzw. substantivische Nuklei gereiht (24 vor unde). Schließlich verweist der Typus F ⫹ Maj auf das Ende einer Frage und der Typus F ⫹ Min auf einen ersten Frageteil in einer umfangreichen Frage: (27) ? Uuer zalta daz al sament selbero dero sternon manig so ih uuano · ane philologia · mit chleinnero analigungo? daz chit tiu dien allen chleino analag? Quotiens (46.14⫺17). Diesen Interpungierungen wird Zürcher (1978, 97; übernommen von Grubmüller 1984, 211) nicht gerecht, wenn er ohne eigene Untersuchungen den P(m) als Signal für „Sprecheinheiten und Pausen (Rhythmische Gliederung: Kolon)“ und den P(o) als Kennzeichnung einer „Schlusspause“ interpretiert. Die Bezeichnung des SP als „Ausrufungszeichen“ ist ebenso verfehlt wie seine Funktionsbestimmung „als Korrekturzeichen für zu hoch gesetzte Punkte der Tieflage“. Nach Sehrt/Starck (I, 1933, XVIII f.) wird sogar durch den SP (in 26) ein hoher Punkt in einen niedrigeren (mittleren) und durch das Sem ein niedriger in einen hohen korrigiert (dazu auch King 1979, XXVIII f.). Aus den im Ahd. erkennbaren Interpungierungen ergeben sich zwei Konsequenzen:
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
1. Die ahd. Interpungierungen beruhen auf einem syntaktischen Prinzip der Interpunktion und tradieren nicht mehr das antike rhetorische Interpunktionsprinzip der Pausengestaltung. 2. Das syntaktische Interpunktionsprinzip steht im Zusammenhang mit der Herausbildung der karolingischen Minuskelschrift und mit den Reformbemühungen am Hofe Karls des Großen (Bischoff 1965 a, b, 1968; Hunger 1961, 126⫺130; Jensen 1969, 524 f.; Parkes 1992, 30⫺34; Sturm 1961, 24⫺ 29; Wattenbach 1886, 34 f.). Die im Ahd. in lat., lat.-dt. und ausschließlich dt. Texttraditionen vorhandenen Interpungierungen werden im Mhd. teils aufgegeben, teils weiter verwendet; dabei sind neben Kontinuitäten Frequenzverlagerungen bei Interpungierungen und Funktionsverschiebungen zu erkennen. Dies soll an ausgewählten Benediktinerregeln des 12. bis Mitte des 14. Jhs. (Simmler 1985 a) gezeigt werden; zum Vergleich werden Willirams Hoheliedkommentar in Prosa aus dem 11. Jh. (Petzet/ Glauning 1910; Salzer 1926) und Predigten des 12. und 13. Jhs. (Petzet/Glauning 1911/ 1924) einbezogen und teilweise mit der gereimten Wiener Genesis aus dem letzten Viertel des 12. Jhs. (Wien 2721; Smits 1972; Papp 1980; Schneider 1987) konfrontiert. Bei komplexen Aussagesätzen finden sich folgende Interpungierungen:
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finitivsätze einbezogen sind; lediglich vor dem Relativum der (29) ist keine Interpungierung gesetzt. In (31) fehlen Teilsatzinterpungierungen; daher wird der Typus P(u) ⫹ Min (vor zu) zusätzlich zur Gesamtsatzmarkierung verwendet. Auch in (28) sind keine Teilsatzinterpungierungen vorhanden, was zum Teil mit der Überlieferungsform als Interlinearversion zusammenhängt. Selbst dort, wo Interpungierungen für Teilsätze nicht verwendet werden, sind in dieser Textsortentradition Gesamtsatzinterpungierungen üblich. In Willirams Hoheliedkommentar des 11. Jhs. sind vergleichbare Interpungierungen vorhanden: (32) .WANTA bezzer sint dine spunne demo uvine sie stinchente. mit den bezzesten salbon. Div ⫺ (33) Div suoze dinero gratie. ist bezzera. danne div scarfe dero legis. als iz quit; Lex per moysen data est gratia et veritas per iesum christum facta est. Div ⫺ (34). DIN namo. ist uzgegozzenaz ole: Din (alle Belege Petzet/Glauning 1910, Tafel XV).
(28) . Zvo dir davon nv mir dv rede wirt gelait svele wider sagende aigenen willen vnserm herren crist. dem warin kunc rittirschende der gehorsami alrstercstiv vnde vorsciniv gewafin zvonimis (Zwiefaltener Regel, 12. Jh., P(= Prolog) 3 = Abschnittszählung) ⫺ (29) · Von dv spricht er. so wirt nv min choerde zedir gerihtit. wer dv bist der da wilt absegen dinen eignen willen vnd wilt an dich nemen dv schoinin vnd dv starchin gewefin dir gehorsami. ze dienon dem gwerrin chvnige vnsirm herrin christo. (Engelberger Regel, 13. Jh., P3) ⫺ (30) . Hievon ze dir kert sih nv min rede. swer so widersagest eigen gelusten. vnd ze riterscheften vnserm herren christo dem waren kvnige. der gehorsam vil starkiv vnd liehtiv wafen anenimest. (Asbacher Regel, 13. Jh., P3) ⫺ (31) .zu dir wirt nu auf gericht mein red swer du pist und wild uerlaugen dem aygen willen und unserm herren ihesu christo dem waren chunge wilt dinen und nimest di starchen und di chlaren waffen der gehorsam. Des ersten (Oslavaner Regel, Mitte 14. Jh., P3).
Gesamtsatzgrenzen signalisiert der Typus P(u) ⫹ Maj (jeweils vor Div), der Typus P(u) ⫹ In verweist zusätzlich auf Makrostrukturen (32 vor WANTA; 34 vor DIN). Am Ende eines isolierten einfachen Satzes kann auch der Typus K ⫹ Maj stehen (34). Der Typus v.d. ⫹ Sem ⫹ Maj ⫹ dR (v.d. = verbum dicendi, dR = direkte Rede) markiert Redeeinleitungen (33); der Typus SP ⫹ Min (32 f.) begrenzt Teilsätze. Eine Polyfunktionalität ist beim Typus P(u) ⫹ Min gegeben; er verweist auf Teilsatzgrenzen (33 vor als) und auf Satzglieder in Anfangsposition (33) und in Endposition (32 vor mit), wobei der P(u) nach gratie = gr¯e. auch ein Abkürzungszeichen sein könnte. Schließlich werden durch P(u) ⫹ Min auch Satzgliedteile (33 vor danne) markiert. Wegen der textinternen Oppositionen genügt es nicht, den SP als Signal für eine „mittlere Pause“ zu interpretieren; auch liegt keine Reduktion und Vereinfachung des Gesamtinventars auf die drei Zeichen P(m), P(u) und F vor (Gärtner 1990, 367). Die Interpungierungsregeln setzen sich in den Predigten des Speculum ecclesiae aus der 2. Hälfte des 12. Jhs. fort:
Deutlich werden die Gesamtsatzgrenzen durch die Typen P(u) ⫹ Maj (28, 30; 31 vor Des) und P(m) ⫹ In (24; V in Von ist 1,5-zeilig) bezeichnet. Ebenso konsequent werden die Teilsätze innerhalb der Gesamtsätze durch die Typen P(u) ⫹ Min, SP ⫹ Min in (29) und (30) interpungiert, wobnei sogar In-
(35) . Wir birn gotes iungeren. swie suntec wir sin. er hat uns geboten [ZR] brinnentiv liehtuaz zehabenne. Waz ⫺ (36). Danach gebot uns der heilige christ. daz wir uns gelicheten den luten. die ire herren warten wenne er wider chome uon den brutloften. ⫺ (37). Er sprach also. Iwere lanchen sin zallercit vfgegurtet. und iweriv liehtuaz brinnen. Also (alles Petzet/Glauning 1911, Tafel 22).
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Konsequent werden die Gesamtsatzgrenzen durch den Typus P(u) ⫹ Maj gekennzeichnet (35⫺37). Der gleiche Typus erscheint bei direkten Reden, doch leistet das hinzutretende verbum dicendi die interne Differenzierung. Die Teilsätze innerhalb der Gesamtsätze sind deutlich und überwiegend durch den Typus P(u) ⫹ Min markiert, aber auch der Typus SP ⫹ Min ist vorhanden (36). Einmal steht vor einem Infinitivsatz ein ZR (35), auch vor einem Relativsatz wird interpungiert (vor die in 36). Klare interne interpungierende Oppositionen zeigen sich auch in den Oberaltaicher Predigten aus der Wende vom 13. zum 14. Jh.: (38) .Daz dritte ist div breit an des tivfels chrvetze · daz ist der breit weckch der den menschen hintz dem tode laitet · an dem gent alle di. die allen iren willen haben wellent · vnd gotes gar vergezzen habent · vnd alle ir girde erfuellent · vnd vichlichen lebent. Daz ⫺ (39) · Vnser herr der ewig vater der geschuf den menschen uil herlichen · vnd satzt in · in die micheln wunne des paradises in den genaden vnd in den eren gestund er nicht · er geuolget des tivfels rat · vnd chom in des tivfels gewalt. Do ⫺ (40) · Daz uierde ist div lenge · waz div vierteil an des tivfels chrvetze betueten · vnd mit wie getanen banten er den armen menschen gebunden habe · daz schuellen wir merchen · Daz teil (alles Petzet/Glauning 1924, Tafel 47).
Auf die Gesamtsatzgrenzen verweisen die Typen P(u) ⫹ Maj (38 f.) bzw. P(m) ⫹ Maj (39 f.), wobei die Majuskel zusätzlich durch einen Rubrumstrich hervorgehoben ist; die Teilsätze sind durch die Typen P(u) ⫹ Min bzw. P(m) ⫹ Min begrenzt. Die Funktionsunterschiede beruhen auf den Oppositionen der Typen und nicht auf der Verwendung des Punktes (u oder m), da dieser in isolierender Betrachtungsweise polyfunktional ist (zur Verbindung von Punkt und Majuskel bei Berthold von Regensburg Neuendorff 1990, 397). Bei Relativsätzen wird teils interpungiert (vor die in 38), teils nicht (vor der den menschen in 38); vor in den gnaden (39) fehlt eine Teilsatzinterpungierung. In (39) wird bei in · in ein P(m) gesetzt, um den Unterschied zwischen dem pronominalen Satzglied im Akkusativ (in) und der Präposition in im folgenden Satzglied zu kennzeichnen und das Verständnis zu erleichtern. Eine in der Gegenwartssprache unübliche Interpungierung zeigt sich in (41). Do in der tivfel in sein gewalt gewan. vnd do er sein schalkch ward. daz er den selben schalkch iht fluere. Do bant er in an sein chrvetz. an div vier oerter sines chrvezes. Nu (Beleg wie bei 38⫺40).
Nach drei präpositiven Nebensätzen wird der Hauptsatz zusätzlich durch den Typus P(u) ⫹ Maj (vor Do bant) hervorgehoben. Trotz Versstruktur treten in der Wiener Genesis aus dem letzten Viertel des 12. Jhs. gleiche Interpungierungen wie in der Prosa auf: (42) Ioseph sprach do. uil gezogenliche. Nv tuot is goume. wie mir chom in trovme. daz wir alle giengen. garbe an deme akchere zesamene truogen. do gestuont diu min. uil herisken. die iuweren si umbestuonten. zuo der minen sich naigten. ⫺ (43) Die bruoder sprachen in nide. er huobe sich ze chunige. er wolte gevvis sin. er scolte ire herre sin. (beide Papp 1980, Bl. 75 r; Schneider 1987, Abb. 11).
Die Gesamtsätze werden durch P(u) ⫹ In (in R) begrenzt; der gleiche Typus markiert in Verbindung mit einem v. d. den Beginn der dR (42). Die Teilsätze kennzeichnet der Typus P(u) ⫹ Min, der im Gegensatz zum Typus P(u) ⫹ In bei der indirekten Rede verwendet wird (43). Zusätzlich weist der Typus P(u) ⫹ Min auf Satzglieder hin (42 zweimal vor uil). Ob wegen der Versstruktur Satzglieder häufiger als in Prosa interpungiert werden, müssen weitere Untersuchungen zeigen. Aus den Beispielen (42 f.) ist jedoch ersichtlich, daß sich nicht nur „metrische und sprechsprachliche Einheiten“ decken (Gärtner 1990, 368), sondern auch syntaktische. Wie im Ahd. werden im Mhd. Fragesätze neben dem Gebrauch eines Fragezeichens wie Aussagesätze interpungiert: (44) vnde was sprich er. Wol ⫺ (45) sprechende sante Paule · nit waisdv daz div gedulti gotis ze Riwe dich laith · wan (beide Zwiefaltener Regel, P 12, 37) ⫺ (46) Vnt was spricht er? Lieben chint ⫺ (47) als der apostolus da spricht. Old inwest nut daz dv gedvltsami gottis dich manet zer rvowe; vnd (beide Engelberger Regel, P 12, 37) ⫺ (48) Waz spricht er? Chomt ⫺ (49) wan ez sprichet sanctus Paulus. Waistu daz gotes gvot dih zeder buozze laittet? Wan (beide Asbacher Regel, P 12, 37) ⫺ (50) waz sprichit er. kummet ⫺ (51) als der apostolus sprichet Nu wistu nit dz godes gedult dich leitht zuberufenisse wan (beide Eberbacher Regel, Anfang 14. Jh., P 12, 37) ⫺ (52) waz sprichet er. chumet ⫺ (53) als der apostel spricht. waistu nicht daz dich di gedult vnsers herren lait zu der rewe want (beide Oslavaner Regel, P 12, 37).
Am Ende der Fragen erscheinen die Typen P(u) ⫹ Maj (44), P(u) ⫹ Min (50, 52), P(m) ⫹ Min (45), Sem ⫹ Min (47), oder es fehlt ein Interpungierungsmittel (51, 53). Ganz konsequent ist das Fragezeichen im Typus F ⫹ Maj in der Asbacher Benediktinerregel in Entscheidungs- und Ergänzungsfragen gesetzt (48 f.); in der Engelberger Regel ist
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dieser Typus (46) neben dem Typus Sem ⫹ Min (47) vorhanden. Besonderheiten liegen in diesen Beispielen vor: (54) daz zeim sundehaften got etwenne niht spreche? Warvmbe sagstv min · rechticheit · vnd nimst min vrchvnde in dinen mvnt? Dv (Admonter Regel, Ende 13. Jh., 2.14 = zitiert nach Kapitel und Abschnitt) ⫺ (55) Vnd was spricht er [ZR] Chomet ⫺ (56) vnd spricht · Wer ist der mensch der daz leben wil · vnd gert zesehen di gvoten tage · Ist ⫺ (57) als der apostolus sprichet · Waist dv nith daz dich zerewen laitet div gotes gedvlte Wan (alle drei Raitenhaslacher Regel, Mitte bis Ende 13. Jh., P 12, 15, 37).
In (54) steht das Fragezeichen vor und hinter der Frage. In (56) und (57) wird interpungierend konsequent zwischen Ergänzungsfragen (P(m) ⫹ Maj) und Entscheidungsfragen (F ⫹ Maj) unterschieden; einmal fehlt eine Interpungierung am Zeilenrand (55). Die in der Benediktinerregel vorhandenen Fragesatz-Interpungierungen finden sich auch in anderen Textsorten: (58) UVER uueret mih des. daz ih dih bruoder min. sehe sugan sugan die spunne miner muoter unte ih dih da uzze uvndanan kussan muoze unte mih hinne uure nieman ne uermane? O sponse (Bl. 56v; Williram Hoheliedkommentar; Salzer 1926) ⫺ (59) Waz meinet er damite. Da wil er (Petzet/Glauning 1911, Tafel 22, Predigt, 12. Jh.) ⫺ (60) Wer ist der? Sich (Petzet/Glauning 1911, Tafel 27, Predigt, 1. Hälfte 13. Jh.) ⫺ (61) Si sprachen alle pist dv der gotes svn. Er (Petzet/Glauning 1911, Tafel 28, Evangelium, 13./14. Jh.).
Die Typen P(u) ⫹ Maj und F ⫹ Maj treten dabei je nach Textsorte in unterschiedlicher Frequenz auf. Auch im Mhd. werden Imperativsätze und Ausrufesätze wie Aussagesätze interpungiert: (62) dv merke · o woldv sun · div gebote des maisters · vnde naige daz ohre dez herzin din · (Zwiefaltener Regel, P 1) ⫺ (63) Liebs chint vernim dv gebot dins meistirz vnd geneige daz ore dins herzen · vnd ⫺ (64) dv brich dich fon dim vble. vnd tvoe daz gvote. dv voirsche nach dem fride vnd nachfolge ime. vnd (beide Engelberger Regel, P 1, 17) ⫺ (65) Hore sun maisters gebot. vnd naige dines hercen or. und (Asbacher Regel, P 1) ⫺ (66) abe kere dich von vbele / vnd du dz gude vordere den frieden vnd folge im na (Eberbacher Regel, P 17) ⫺ (67) in dem wir ruofen · Abba uater · vnd (Admonter Regel, 2.3) ⫺ (68) in dem wire da rvofin · abbit vater · Durch daz (Hohenfurter Regel, Beginn oder Mitte 13. Jh., 2.3).
Überwiegend erscheinen die Typen P(m) ⫹ Min (62 f., 67) und P(u) ⫹ Min (64 f.); etwas weniger häufig sind die Typen V ⫹ Min (66) und P(m) ⫹ Maj (68). In (63) ist nicht etwa ein A als Interpungierungsmittel eingesetzt,
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sondern es liegt nach meistirz der Typus SP ⫹ Min vor (vgl. 64 und Simmler 1985a, 48⫺54). Gelegentlich wird auf Interpungierungen verzichtet (66), wobei die Reihungen von Imperativsätzen mit der Konjunktion vnd nicht einfach und problemlos einzubeziehen sind (64, 66), da mit zwei Gebrauchsnormen bei Parataxen zu rechnen ist. Werden die frnhd. Überlieferungen bis zu den ersten Grammatikeraussagen einbezogen, dann zeigen sich zunächst erstaunlich viele Kontinuitäten von bereits nachgewiesenen Repräsentationstypen zu komplexen Aussagesätzen, Fragesätzen, Imperativ- und Ausrufesätzen. In keiner Überlieferung kommen die drei Punkte der antiken Interpungierung und damit ein rhetorisches Prinzip der Pausengestaltung noch einmal vor; daher ist von den Interpungierungen aus die Frage nach dem Primat von Hören oder Lesen neu zu durchdenken (Scholz 1980, 99, 231). Die Interpungierungen sind darauf ausgerichtet, primär die syntaktischen Strukturen der Gesamtsätze und Teilsätze zu kennzeichnen (dies gilt auch für das Mnl. des 13. Jhs. nach Gerritsen 1990); sekundär sind Interpungierungen von Satzgliedern und Satzgliedteilen vorhanden. Mit dem syntaktischen Prinzip der Interpungierung sind tertiär und nur mit Hilfe des Fragezeichens eingeschränkte Hinweise auf Satzarten verbunden; die Kennzeichnung der kommunikativen Funktion der Satzarten tritt hinter die der syntaktischen Struktur zurück und wird eher von lexikalischen und morphologischen Mitteln übernommen. Wegen der fehlenden Unterscheidung von Entscheidungs- und Ergänzungsfragen und der Nichtexistenz eines spezifischen Ausrufezeichens können die bisherigen Interpungierungsmittel und Repräsentationstypen daher nicht ausreichend unter Rückgriff auf suprasegmentale Merkmale der Gegenwart in ihrer Funktionalität beschrieben werden. Neben den im Überblick vorgestellten Interpungierungsmitteln und Repräsentationstypen fehlen für das Ahd. und Mhd. systematische Zusammenstellungen aller in verschiedenen Textsorten gebrauchter Typen und ihrer Funktionen, so daß Aussagen über die Mono- und Polyfunktionalität von Interpungierungen nur eingeschränkt möglich sind. Bei den Untersuchungen zu Fragen, Imperativen und Ausrufen kann Simmler (1989, 1994) eine textinterne und epochengebundene Polyfunktionalität nachweisen. Für Fragesätze sind vom 9. bis 15. Jh. 25 und für Impe-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
rativ- und Ausrufesätze 11 Repräsentationstypen vorhanden, von denen in unterschiedlichen Textexemplaren jeweils eine besondere Auswahl erscheint. Dennoch finden sich für einzelne Funktionen verschiedene Repräsentationstypen; es existiert eine Variabilität in den Gebrauchsnormen, die sich von den präskriptiven Normvorstellungen der Gegenwart unterscheidet, aber trotzdem die Funktionalität erfüllt, syntaktische Strukturen zu markieren. Eine Zusammenstellung aller Interpungierungen und ihrer Funktionen existiert zur Wilheringer Benediktinerregel (BoettcherLange 1942) aus dem Anfang des 15. Jhs. (Simmler 1982, 152⫺162). Vorhanden sind Punkt = P(m), Fragezeichen (F), Kolon (K), Virgel (V), Klammern (= Kl, rund, mit und ohne zusätzlichen Punkt innerhalb der Klammerbiegung) und Trennungszeichen (TZ), das nur zur Worttrennung verwendet wird. F, K und Kl können dabei auf eine einzige Grundfunktion mit verschiedenen Ausprägungen zurückgeführt werden. Das F kommt im Typus F ⫹ Maj vor, einmal auch im Typus F ⫹ Min, und bezeichnet sowohl Entscheidungs- (70) als auch Ergänzungsfragen (69, 71): (69) / Ey was sagt er Soene · khumbt her hoeret mich · ich wirde euch lernen dy vorcht des herren · (P 12) ⫺ (70) · Als spricht der zwelfpot · Ob dw nit wayst · das dich dye gedult gottes / zeucht zw der pueswartikhayt Wen (P 37) ⫺ (71) Welliche schrifft? Welliche red? goettlichs gwaldts oder maysterschafft · des alltten vnd newen gesatz · ist nit ein rechte regel vnd ordnumb menschlichs lebens? Oder (73.3).
In (71) stehen die Typen F ⫹ Maj und F ⫹ Min auch nach den durch ein Fragepronomen hervorgehobenen gereihten Nuklei des ersten Satzgliedes; der Typus F ⫹ Min kommt nur in dieser Funktion vor. Das K, der Doppelpunkt, trennt in den Typen K ⫹ Min (72) und K ⫹ Maj (73 f.) zunächst Teilsätze und Gesamtsätze voneinander: (72) also sprechend · Dy stundt ist yetz vns auffzwsteen von dem schlaff: vnd so wir auffgethan haben vnser augen (P 8⫺9) ⫺ (73) sprechend mit dem propheten: Nit vns herr nit vns / aber deynem namen gib glori · (P 30) ⫺ (74) Dy ordnung der nachtwachumb · sol man alle zeytt gleych des sumers als des wyntters an dem Sontag hallten: Nuer villeicht (· das doch nit sey ·) ob man langsamer auffstuend · (11.11-12 = Kapitel, Abschnitt).
Zusätzlich besitzen die auf das K folgenden Sätze jeweils eine schlußfolgernde Funktion,
die sich aus einem Gotteswort ergibt (72), aus einem bestätigenden Zitat besteht (73) oder eine Einschränkung enthält (74). In (73) ist das K in den Typus verbum dicendi (v. d.) ⫹ K ⫹ Maj ⫹ direkte Rede (dR) einbezogen, doch wird daneben die gleiche Funktion der Redeeinleitung auch vom Typus v. d. ⫹ P(m) ⫹ Maj ⫹ dR erfüllt (72). Die Grundfunktion der Kl ist es, kommentierende Parenthesen zu signalisieren: (75) Aber ab ydybus (· das ist von dem dreytzehendten tag ·) septembris des herbstmond (41.6) ⫺ (76) geb (· als dy schalgkhaefftigysten knecht ·) zw ewiger peen · (P 7).
Die Parenthesen unterbrechen die Serialisierung der jeweiligen Äußerung und sind prinzipiell weglaßbar. Sie bestehen entweder aus einfachen (75) oder komplexen Sätzen oder aus Satzgliedern (76), Satzgliedteilen wie Appositionen oder Relativsätzen, die ohne die Klammern in die Äußerungsabfolge integriert sind. Die Klammern fügen den letzteren Elementen eine hervorhebende Funktion hinzu und sind mit den Inhaltsseiten der ausgegrenzten Teile am Aufbau einer kommentierenden Funktion beteiligt, bei der sich sachlich erläuternde (75 f.), bekräftigende und Zitate anzeigende Gruppen unterscheiden lassen. Die Interpungierungen P(m) und V besitzen in isolierender Betrachtung eine Polyfunktionalität; innerhalb der Repräsentationstypen kommen jedoch neben Funktionsüberschneidungen auch spezifische Funktionen vor (vgl. Simmler 1985 a, 70⫺79). Der P(m) ist als erstes in den Typus P(m) ⫹ Maj integriert: (77) · Der herr erfullend dyse ding · wartet taeglich vns mit den werchen / denen seynen heyligen vermanungen zuentgegnen · Darumb werden vns vmb pesserumb der poesen werch / dy taeg zw fristumb des lebens erweyttet · Als (P 35⫺36) ⫺ (78) Ob dw das hoerend antwortest · Ich · Sagt dir gott · Wildw haben das war vnd ewig leben · bezwing dein zung von vbel · vnd dein lebsen · das sy nit reden betriegumb · kher ab von dem poesen · vnd thue das guet oder recht · suech den frid · vnd volg ymme nach · Vnd (P 16⫺17).
Durch diesen Typus werden in der Hauptfunktion Gesamtsätze als Aussagen (77) oder Imperative (78) begrenzt. Als Nebenfunktion wird der Beginn von Hauptsätzen signalisiert, wenn diesem ein umfangreicherer oder hervorzuhebender subordinierter Teilsatz vorausgeht (vor Sagt in 78). Zweitens kommt der P(m) im Typus v. d. ⫹ P(m) ⫹ Maj ⫹ dR
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
(78) zur Kennzeichnung einer direkten Rede vor. Drittens erscheint der P(m) im Typus P(m) ⫹ Min. Mit Hilfe dieses Typus werden einmal Teilsätze innerhalb von Gesamtsätzen relativ konsequent begrenzt (78), zum anderen werden in (79) ERuorsch vnd lern · o sun · dy gepot des mayster · (P 1) kontaktbezogene Parenthesen in der Form von Nominalsätzen markiert und interpungierend von den kommentierenden Parenthesen unterschieden. Ferner dient der Typus P(m) ⫹ Min dazu, Satzgliedteile zu reihen: (80) Anuahet dy vorred des heyligisten · vnd gott angenemmesten der muniche (Überschrift) ⫺ (81) In welicher saczung vyr vorhaben / vnd vns verhoffen / nychts scharffs · nichts schweres auffzuseczen (P 47) ⫺ (82) zw fechten · wyder dy laster des fleysch · oder der gedanck (1.5). In (80) sind Adjektive, in (82) Substantive und in (81) substantivierte Adjektive parataktisch verbunden. Gelegentlich und weniger konsequent werden durch den Typus P(m) ⫹ Min Satzglieder begrenzt. Bevorzugt stehen sie am Ende von Teilsätzen (82) bzw. an deren Beginn, vor allem bei umfangreicheren Satzgliedern wie in (83) Von aller dyserr ellendesten vnsaeligesten handlung vnd leben · ist pesser zw schweygen dan zw reden · (1.12). Neben der Position in einer Ausdrucksstellung wird durch die Interpungierung die Hervorhebungsfunktion unterstrichen. Eine Hervorhebung ist auch in anderen Satzpositionen möglich: (84) Das ·i· Blat ⫺ (85) da allain in der vierdten respons gesprochen werd von dem singenden · Gloria · (11.3). Dabei wird der P(m) sowohl vor als auch hinter das hervorzuhebende Element gesetzt. In (84) werden die römischen Ziffern des Kolumnentitels hervorgehoben; dies dient dem schnelleren Auffinden einer über das Register gesuchten Stelle. In (85) wird ein Gebetstitel markiert. Auf diese Weise werden ferner Namen (des Ordensgründers), die Bibel und ihre Teile (wie Psalmen) aus dem übrigen Kontext ausgegrenzt, weil sie für das Zusammenleben im Kloster eine große Bedeutung besitzen. Zusätzliche Hervorhebungsmittel sind Unterstreichungen und Majuskelverwendungen. Die Virgel wird nur selten im Typus V ⫹ Maj zur Gesamtsatzbegrenzung verwendet: (86) Vnd widervmb · Den gottuorchtigen enbricht nichts / Demnach (2.36) ⫺ (87) Vnd widerumb · Der hatt oren zw hoeren / der hoer / was der geyst sag den samblungen / Ey (P 11). Dabei begrenzt der Typus Aussagen (86) und Imperative (87). Auch im Typus v. d. ⫹ V ⫹ Maj ⫹ dR kommt die V selten
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vor: (88) was taeglich dy goettlich stym schreyend vns vermone sprechend / Hewtt ob yr hoerren werdt sein stym / nit wollet verherten ewre hercz · (P 9⫺10). Dennoch ist die gemeinsame Funktionalität im Vergleich zu den gleichen Typen mit P(m) offensichtlich, wobei in den Typen die Maj die größere Unterscheidungsfunktion trägt. Funktionsüberschneidungen zu P(m) ⫹ Min kommen auch beim Typus V ⫹ Min vor. Er begrenzt Teilsätze innerhalb von Gesamtsätzen (77, 81, 87 f.), wobei eine leichte Priorität für Relativsatzbegrenzungen zu erkennen ist. Gelegentlich werden durch den Typus auch kommentierende Parenthesen wie in (89) Entpfindet oder mergkt er das gemuet des elltern / er sey wer er sey / wyder sich ertzurnet oder bewegt · (71.7) signalisiert, doch treten die runden Klammern in dieser Funktion häufiger auf. Funktionsüberschneidungen zeigen sich auch bei der Hervorhebung von Satzgliedern wie in (90) das wir verdienen zesehen / in seinem reich · yne der vns erfordert hat (P 21) und bei der Reihung von Satzgliedteilen wie in (91) vnd sein dyenend aygnen wollusten / fleyschlicher begyer In essen vnd tringkhen · (1.11). Eine Hervorhebung von römischen Ziffern, nomina propria, Bezeichnungen der Heiligen Schrift und ihrer Teile und von Gebeten erfolgt mit dem Typus V ⫹ Min nicht. Lediglich der Name Gottes und einzelner nomina appellativa kann wie in (92) Das guet so er an ymme befindet / gott / vnd nytt yme selb zuemessen (4.42) mit dem Typus V ⫹ Min hervorgehoben werden, doch liegt dann keine doppelte Verwendung des Typus vor, da die V vor gott eher als Teilsatzbegrenzung zu interpretieren ist (zu ähnlichen Regelungen mit Hilfe der V in einer chronikalischen Erzählung, die zwischen 1470⫺1472 niedergeschrieben wurde, Studach 1993, 30). Die vorgestellten Interpungierungen vom Ahd. bis zum Frnhd. zeigen, daß sich „eine systematische Interpunktion mit der Kennzeichnung des Endes von Ganzsätzen durch Punkt (Fragezeichen, Ausrufezeichen) und nachfolgende Großschreibung und mit Abgrenzung von Teilsätzen durch Komma bzw. durch langen Schrägstrich („Virgel“ genannt), durch Doppelpunkt usw.“ nicht erst „in den gedruckten Büchern“ des 15. und 16. Jhs. entwickelte (so aber Glinz 1987, 13; ferner Painter 1989, 32). Die Leistung in den gedruckten Texten besteht in den folgenden Jahrhunderten vielmehr darin, eine Konzentration auf einzelne Typen und eine Variantenreduzierung herbeizuführen (Simmler 1995).
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3.
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Interpungierungen in Grammatikeraussagen vom 15. Jh. bis zum Buchdruckerei-Duden von 1903 und Gebrauchsnormen
Von der seit ca. 700 Jahren existierenden Interpunktionsgeschichte und von den unmittelbar vorausgehenden oder zeitgleichen Interpungierungen nehmen die Grammatiker in unterschiedlichem Maße Notiz. 3.1. Grammatiker des 15. bis zur Mitte des 18. Jhs. Die ersten Aussagen zu Interpungierungen stammen von Steinhöwel (1473) und von von Wyle (1462, 1478). Steinhöwel nennt sechs Interpungierungen, von Wyle fünf (J. Müller 1882, 7 f., 14⫺16; Garbe 1984, 21 f.). Von Wyles Interpungierungen sind in der Übersetzung des Eurolius und Lucretia (von Aeneas Sylvius, Druck Wien 1477; dazu Bieling 1880, 69 f. = Beilage II A) „die virgelen vnd punct pausen vnd vnderscheid […] / . ? ( )“; in der 17. Translatzen (Druck Eßlingen 1478; dazu Bieling 1880, 70 f. = Beilage II B) werden „die virgel puncten vnd vnderschaide […] / ! . ? ( )“ angegeben, d. h. die in den Gebrauchsnormen ermittelten V, SP, P(u), F und Kl. In den TeilEditionen des Drucks von 1478 schwanken die Angaben zum zweiten Interpungierungsmittel. Bei Bieling (1880, 70) wird der SP als Kolon ›:‹ realisiert, obwohl im Text von einer virgel gesprochen wird; J. Müller (1882, 14) und Garbe (1984, 21) bieten sogar die Interpungierungen ›:+‹ und ›:´‹ an, d. h. eine Verbindung von K und oben daneben gestellter oder übergesetzter Virgel, die bisher in keiner Gebrauchsnorm nachgewiesen werden konnte. Nach Höchli (1981, 12 mit Anm. 2) steht jedoch das Interpunktionszeichen › ‹, d. h. der in den Gebrauchsnormen ermittelte SP. Im Exemplar der SBPK Berlin (40 Inc 1138.5, früher Inc 1155.40) ist der SP › ‹ zu erkennen; die Virgel über dem Punkt hat eine leichte Hakenform, die der Grund für die Verlesungen sein dürfte. Steinhöwel gebraucht den Terminus punct als Oberbegriff und unterscheidet zwei Gruppen. Die erste Gruppe besteht aus V, SP und P(u) und gibt „vnderschidiliche verstentnuß“; mit F, Kl bildet das Trennungszeichen (TZ) › ‹ die zweite Gruppe, d. h. „dryerlay puncten / die gemainglich von allen alten gehalten werden“. Neben der Aufzählung werden die Interpungierungsmittel benannt und in ihrer Form beschrieben. Da in zeitgleichen Drucken auch eine andere Gesamtanzahl von Interpungie-
rungen mit teilweise gleicher Funktionalität vorkommt (Simmler 1983 a: P(u) und K), dürfte es die Absicht von Wyles gewesen sein, „die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese noch nicht geläufigen Zeichen zu richten und ihre Bedeutung für den Text zu erklären“ (Höchli 1981, 14 f.), wobei diese Erklärungen heutigen grammatischen Einsichten nicht genügen und selbst wieder erklärungsbedürftig sind (zum Verhältnis von Wyles zum Schryfftspiegel Götz 1992, 255⫺258). Bei von Wyle erscheinen die Termini strichlin = V, virgel = SP, punckt = P(u), punckt bei einer frag = F und zwei krumme strichlin bzw. parentesis interposicio = Kl; Steinhöwel verwendet die Termini virgel bzw. virgula = V, pünctlin oder tüpflin mit ainem besicz gezognen strychlin bzw. coma = SP, pünctlin oder tüpflin bzw. periodus oder finitiuus oder infimus = P(u), pünctlin mit ainem krumen strichlin v¨ber sich = F, zwey mönlun gegen ainander bzw. perentisis = Kl und zwe strichlin fv˝r sich vnd ain wenig über sich gezogen = TZ.
Von Wyle verweist noch darauf, daß seinem P(u) bei anderen Autoren ein Sem entspricht. Auch bei Steinhöwel wird auf andere, von ihm aber nicht verwendete Interpungierungen eingegangen und eine Relation zu seinen Interpunktionszeichen hergestellt. Nach ihm entspricht seine V = P(m), sein SP = K, sein P(u) ebenfalls einem punctlin vnder sich hinabgezogen = P(u) bzw. Sem. Schließlich werden den Interpungierungen Funktionen zugewiesen. Bei Steinhöwel signalisiert der P(u), daß „der sin von der red vß vnd gancz ist / vnd zuo merer verstentnuß nichez mer dar an hanget“. Der SP „bedütet dz ain verstentlicher sin beschlossen ist aber es hanget mer dar an / das ovch den sin merret / vnd fuorbas etwas zeuerstan gibt“, und die V signalisiert, „dz etliche wort recht vnd ordentlich zesamen geton synd aber sie beschliessen kainen verstentlichen sin“. Das F „bedütet dz die vorgend red ain frag ist“, und die Kl zeigen an, „dz die red zwischen inen beschlossen / ain yngeworfne red ist / on die / der sin der andern red dar in sie beschlossen ist / nit verendert würt“. Das TZ gibt Worttrennungen an. Bei von Wyle ist der P(u) ein Hinweis darauf, daß „ain volkomner sine beschlossen wirt“. Der SP signalisiert „nit ainchen volkomen sine“, weil zur „volkomenhait etwas mer hernach folgen muos“. Die V „betuett ain schlechte suondrung ains wortes oder ainer oratz von der andern ane volkomenhait ainches gantzen sines“. Das F ist ein Hinweis darauf, „daz die geschrift dar vor stende In frag wyse ze merck-
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
en ist“; bei der Kl wird die Weglaßbarkeit hervorgehoben. Diese Ausführungen werden seit Bieling in unterschiedlicher Weise interpretiert. Nach ihm (1880, 16 f.) bildet die bloße Aufzählung und die Abfolge der Interpungierungen V, SP und P(u) bei von Wyle bereits ein Interpunktionssystem (so auch Höchli 1981, 10, 15). Es ist ein „dreistufiges“ System, in dem die „vorhandenen aber bisher gleichwerthig verwendeten Zeichen“ in „aufsteigender Reihenfolge“ behandelt sein sollen. Aus dem Terminus punct pausen leitet Bieling (1880, 43, 59 f.) her, daß die Interpungierungen „Hülfsmittel des richtigen Lesens und des sinngemäßen Vortrages“ in Beziehung zu den drei Pausenlängen der Antike zu stellen seien und das „phonetische Prinzip der Pausenbezeichnung“ begründeten. Dabei stört ihn nicht, daß bei von Wyle zu V und SP keinerlei Hinweise zu einer Pausengestaltung existieren, daß V = P(u), SP = P(m) und P(u) = P(o) keine Entsprechungen in den Gebrauchsnormen besitzen, daß zwischen V und SP und zwischen den nebeneinander vorkommenden P(u) und P(m) bei isolierter Betrachtung keine Unterschiede zu erkennen sind und daß der P(u) der Antike, der früher die kürzeste Pause markierte, jetzt ⫺ trotz ungebrochener Interpungierungstradition ⫺ die längste Pause signalisieren soll. Abwegig ist seine Feststellung, daß „das Semicolon unter anderem Titel [= peryodus] in dieser Zeit zuerst aufkam“ (Bieling 1880, 17). Unhaltbar ist auch die Feststellung Höchlis (1981, 12), daß der SP „in der Gegend des heutigen Semikolons anzusiedeln“ sei. Bieling (1880, 59 f.) geht in seinen einseitigen Interpretationen sogar noch weiter. Nach dem Abschluß der Interpunktionsgeschichte in der Gegenwart stellt sich für ihn „das System dieser Zeichen, nach der Länge der von ihnen dargestellten Pausen, aufsteigend folgendermaßen dar: Komma (¼), Semikolon (½), Kolon (¾), Punkt (eine ganze Pause), Gedankenstrich (zwei ganze Pausen). Ausser diesen eigentlichen Interpunktionen giebt es nun noch uneigentliche oder secundäre, welche stellvertretend für die vorigen stehen und den Zweck haben, zugleich die richtige Darstellung des Tonfalls im vorherigen Satze zu erleichtern. Diese sind das Fragezeichen (steigende Hebung des Tons), das Ausrufezeichen (steigende Senkung des Tons), die Anführungszeichen (gleichmäßige Hebung) und die Parenthese (gleichmäßige Senkung). Dazu kommen noch ein paar Hülfszeichen, welche
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sich leicht diesen beiden Hauptkategorien unterordnen lassen.“ J. Müller (1882, 288 f.) schließt sich Bieling an und sieht bei von Wyle „eine einfache, klare Trias von Satz- und Pausezeichen, zu denen noch das Parenthesezeichen und das Fragezeichen (?) treten“ verwirklicht. Zusätzlich werden bei ihm auch die Interpungierungen außerhalb der Trias (F, Kl, TZ) rhetorisch interpretiert, indem sie zu den „Tonzeichen“ gerechnet werden (J. Müller 1882, 290⫺292). Durch Bieling und J. Müller hält das rhetorische Prinzip Einzug in die Forschung, soweit sie sich mit der Interpretation historischer Grammatikeraussagen beschäftigt. Seit J. Müller ist die Unterscheidung von Sinn- und Pausenzeichen auf der einen und Schrift- und Tonzeichen auf der anderen Seite üblich; sie wird bei Höchli (1981, 5 f.) zur Grundlage der Gesamtdarstellung gemacht. Die bei von Wyle und Steinhöwel vorhandenen Hinweise auf Unterschiede in der Selbständigkeit des Sinns, die mit syntaktischen Kategorien in Verbindung gebracht werden können (Simmler 1994, 74), werden zunächst vernachlässigt (einzelne allgemeine Hinweise mit ungenauen syntaktischen Kategorien bei Höchli 1981, 15, 21, 257). Bei Ickelsamer (1527, 1531) werden die Interpungierungen V, P(u), K, F und Kl mit der griech.-lat. Praxis der Gliederung der Rede per cola et commata in Verbindung gebracht (Texte in J. Müller 1882, 52⫺64, 120⫺159; Faksimilia in Pohl 1971, nach dem zitiert wird) und überwiegend mit Hilfe syntaktischer Kategorien interpretiert. Er geht vom Beispielsatz (93) Was soll man ain Grammatic (solches Exempel zuogeben / verursacht mich dises Buechlins materi) den Teütschen / die jr nichts achten / kain lust / lieb oder freüde darzuo haben / kainen vleis / die zuo lernen / daran wenden / schreiben oder machen? aus und erläutert mit seiner Hilfe die Interpungierungen. In (93) liegt ein „Periodus“ vor, d. h. ein Gesamtsatz, der durch F oder P(u) begrenzt wird; die Verbindung mit einer Maj ist vorhanden, wird aber von Ickelsamer nicht hervorgehoben. Die Periode besteht aus „zway Cola / das sein zwai glider“, die „vnterschidliche verstentliche synn“ signalisieren. Nach Ickelsamer sind die Cola „was soll man ain Grammatic den Teütschen machen?“ bzw. „Die jr nichts achten etc.“. Das erste Colon entspricht einem Teilsatz, einem Trägersatz, wenn schreiben oder machen als Doppelform mit einheitlicher Prädikatsfunktion aufgegfaßt wird. Das zweite Colon bezeichnet alle abhängigen Elemente, entspricht
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
aber hier nicht einem Teilsatz, sondern vier Teilsätzen. Ickelsamer nennt die Teile des zweiten Colons „Commata“. Die Commata sind einmal „sonderliche vnd entzele wort / als sein lust / lieb / freüd etc.“, zum anderen „vil gantze versamelte rede vnd aygne synn des gantzen Periodi / als sein die kain lust darzuo haben / kainen vleis daran wenden etc.“. D. h. die Commata bezeichnen Teilsätze und Wortreihungen innerhalb eines Satzgliedes. Lediglich der Infinitivsatz die zuo lernen ist nicht eigens aufgeführt, jedoch eindeutig interpungiert. Insgesamt verweisen Cola und Commata auf „glider vnd tail“ der Periode. In den Gesamtsatz ist eine Parenthese mit eigener Satzhaftigkeit eingeschlossen, sie zeigt „ain ander vnd frembder synn“. Die Redeteile können nach Ikkelsamer mit verschiedenen Mitteln, „mit ainem punct oder gemerck“ bzw. „im Teütschen durch punct vnd virgulen“ oder durch „zwen punct“ (= K) voneinander abgehoben werden. Die Interpungierungen sollen dazu dienen, daß man Texte „feyn verstentlich vnd ordenlich / setzen / reden / oder lesen vnnd verstehn könn“. Ickelsamers Beispiel ist (wie weitgehend seine beiden Werke) konsequent interpungiert; er erfaßt vorhandene, jedoch nicht alle Gebrauchsnormen (Simmler 1983 b), wählt aus ihnen aus, beschreibt sie in ihrer syntaktischen Funktionalität, wenn auch nicht in der Klarheit heutiger terminologischer Begriffsbildung, und versucht, präskriptiv normsetzend zu wirken. Dabei steht die Eindeutigkeit seiner Forderungen der Variabilität der Gebrauchsnormen gegenüber. Höchlis (1981, 61) Urteil, daß Ickelsamer „auf den direkten Zusammenhang von rhetorischen und inhaltlichen mit grammatischen Elementen aufmerksam machte, auch wenn er die Zusammenhänge nicht immer richtig beurteilte“, wird seiner Leistung im Vergleich zu der der Vorgänger nicht gerecht. Die syntaktische Interpretation der Interpungierung per cola et commata entspricht neueren Erkenntnissen (Lausberg 1973, § 929; Simmler 1988, 258 f.; anders Stolt 1988, 1990 a⫺b, 1991). Durch Ikkelsamer wird das syntaktische Prinzip in der Grammatikforschung begründet. Durch von Wyle und Steinhöwel bzw. durch Ickelsamer sind die beiden Grundpositionen zur Beurteilung der Leistung von Interpungierungen abgesteckt, die die ganze weitere Grammatikdiskussion bestimmen (Baudusch 1979). Bis zur Mitte des 18. Jhs. ist dabei der Einfluß der Grammatiker auf die tatsächlich vorhandenen Gebrauchsnormen erstaunlich gering (Simmler 1994, 105 f.; skeptisch bereits
Bergmann 1982, 278). Dies liegt daran, daß sie sich mit einfachen Inventarisierungen vorhandener Interpunktionszeichen, mit einzelnen Funktionszuweisungen und wenigen präskriptiven Forderungen ohne ausreichende Rückbindung an zeitgenössische Interpungierungsnormen begnügen. Daher reicht es nicht aus, für die Beschreibung der Geschichte der Interpunktion nur Grammatikeraussagen zu reflektieren und auf eigene empirische Analysen zu verzichten. Dennoch sollen ⫺ Grammatikeraussagen folgend ⫺ einzelne Entwicklungsetappen in der Verwendung von Interpungierungsmitteln und ihnen zugeschriebene neue Funktionen aufgezeigt werden, ehe ein Vergleich zu Gebrauchsnormen durchgeführt wird, soweit dies beim gegenwärtigen Forschungsstand möglich ist. Bei der Inventarisierung von Interpungierungen verweist Riederer (1502, 1535) auf zehn Interpungierungen, auf die fünf Sinnund Pausenzeichen V, Gemipunctus erectus = K, Coma = P(o), SP, Colon = P(u), Periodus = Sem bzw. die fünf Ton- und Schriftzeichen Semipunctus = TZ, Interrogativus = F bzw. ˜: = K ⫹ Tilde »⬃« übereinander, Exclamativus, admirativus = Ausrufezeichen = A, Parenthesis = Kl und Gemipunctus iacens = zwei Punkte hintereinander »··«, die jedoch teilweise in angegebener Form und verbaler Beschreibung voneinander abweichen und „in der Praxis keine Verbreitung fanden und auch keine große Wirkung erzielten“ (Höchli 1981, 36). Erstmals wird das A erwähnt; danach verschwindet es bis Helber (1593) aus den Grammatiken; seit Ratke (1629) gehört es zum Bestand der Interpungierungsmittel (Höchli 1981, 287⫺290). Die Funktion des A ist zunächst auf die Kennzeichnung einer Verwunderung beschränkt; Riederers Beispiel (94) Ist der eyn soelcher man! (Garbe 1984, 23) ist eine Entscheidungsfrage, die auch ein Verwundern ausdrücken kann; ein sicherer Beleg für die angegebene Funktion des A ist das Beispiel jedoch nicht. Ratke erwähnt den Gebrauch des A in „außruffenden vnd wünschenden oder verwunderungs sprüchen“, führt aber nur zwei Beispiele aus den Psalmen an, jeweils in Verbindung mit der Interjektion ach wie in (95) Meine Seele ist sehr erschrocken, ach du herr wie lange! (Garbe 1984, 33); Bellin (1657, 95 f.) fügt noch einen Nachdruck in der Rede hinzu, gibt aber nur Beispiele aus Opitz, die wie (96) O große zeit on alle zeit! alle von einer Interjektion O eingeleitet werden und aus Nominalsätzen bestehen. Harsdörffer (I, 1650, 137) und Stieler (1691, 34) geben ebenfalls nur Beispiele
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
mit Interjektionen. Die Verbindung mit der Interjektion O wird von Bödiker (1690) als variable Möglichkeit betrachtet; neben Verwunderung und Wunsch soll das A noch auf eine klagende Bestürzung verweisen (Höchli 1981, 152; Bödiker/Wippel 1746, 96). Freyer (1735) nennt als Verwendungsgrund Affekte. Bis zur Mitte des 18. Jhs. wird bei keinem Grammatiker das A mit der Kennzeichnung von Imperativsätzen in Verbindung gebracht, und selbst bei Affektäußerungen ist die Verwendung eingeschränkt. Das von Steinhöwel erstmals erwähnte K, der Doppelpunkt, wird ⫺ von unterschiedlichen terminologischen Fassungen abgesehen ⫺ in seinen Funktionen von den Grammatikern nur grob umschrieben, weil es nach Höchli (1981, 262) eine Entwicklung von einer sinntrennenden zu einer ankündigenden Funktion durchmachte. Die erste läßt sich bei Steinhöwel in etwa, jedoch nicht sicher, mit der Funktion der Teilsatzmarkierung verbinden; bei Ickelsamer ist der Bezug zu Redeteilen = Teilsätzen eher gegeben, jedoch nicht eindeutig. Nach Helber halbiert das K die Rede, zugleich hält man bei ihm den Atem länger an als beim P(u). Gueintz (1641, 119) erläutert seine Funktionen an den Beispielen (97) JEsus bedorfte nicht / das iemand zeugnues gebe von einem Menschen: Den er wuste wol was im Menschen war. und (98) Vergeltet nicht boeses mit boesem / oder scheltwort / mit scheltwort: sondern dagegen segenet / Die erste Funktion ist es, nach „einer volkommenen meinung die nachfolgende anzuzeigen“, womit zugleich „ein laengeres stillehalten angedeutet wird“. Aus den Beispielen geht deutlich hervor, daß das K inhaltsseitig vor einer Schlußfolgerung steht und syntaktisch ein oder mehrere Teilsätze folgen können. Die Schlußfolgerungsfunktion ist auch gegeben „in gleichnuessen / wen man eines dinges ursachen anzeigen wil / oder wen man auf eine Regel exempel setzet“. Der von Höchli (1981, 264) aus dieser Stelle hergeleitete „Ankündigungscharakter“ ist nicht zu erkennen und entspricht nicht der Schlußfolgerungsfunktion. Schottel (1663, 671) folgt Gueintz und erwähnt zusätzlich die Verwendung des K bei „Gegensetzen und derogleichen“ wie in (99) Unter dem Schein der Religion werden die Gemuehter der Leute / im Friede und Gehorsam erhalten werden: jedoch wird durch Zwiespalt deroselben / das Geistliche und Weltliche Wesen zertrennet. Nach Harsdörffer (1647) drückt das K ferner neben Ursache und Bedingung „eine hefftige Gemuetsbewegung“ aus (Garbe 1984, 37 f.). Im Bei-
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spiel für ein Gleichnis (100) Wie das faule Holtz / in der Finsterniß / helle Stralen von sich wirfft / daß man es fuer eine Glut ansihet: Also ist der Heuchler ein falsches / vnd gleichsam erdichtetes Flammenlicht / das die Einfaeltigen leichtlich betrueget / bildet der erste Teil vor dem K keine relativ selbständige Sinneinheit wie in den anderen Verwendungsweisen; die Gegenüberstellung ist jedoch in die Teilsatzstrukturen integriert. Eine ankündigende Funktion wird erstmals von Bellin (1657, 94) erwähnt; in (101) Jesus sprach zu seinen juengern: Was bei den mänschen unmueglich ist / das ist bei Gotte mueglich. ist sie in den Typus v. d. ⫹ K ⫹ Maj ⫹ dR integriert. Prasch (1687) schränkt das K auf die Einleitungsfunktion bei direkten Reden und Exempeln ein (Höchli 1981, 146). Stieler (1691, 33) will das K „bey Gleichnueßen / bey Anfuerungen der Exempel / in Gegensaetzen / Einteilungen und Folgerungen“ verwendet sehen; ein Bezug zur direkten Rede fehlt. Bei der Folgerungsfunktion bestehen Funktionsüberschneidungen zum Sem; nach Stieler soll das K stehen, wenn „die Rede mehr vollkommen“ ist, doch werden die Gradunterschiede weder erläutert noch in den Beispielen deutlich. Freyer (1722) unterscheidet direkte und indirekte Rede; erstere wird durch das K eingeleitet, bei letzterer „faellt das colon gemeiniglich weg“ und wird wie in (102) Da sprachen die Jueden zu ihm, daß sie nun erkenneten, daß er den Teufel habe. durch ein Komma ersetzt (Garbe 1984, 55 f.). Insgesamt ist das K an Gesamtsätze und an Teilsatzstrukturen gebunden und übernimmt zusätzlich eine inhaltsseitige und eine redeankündigende Funktion. Nur bei Salat (1534) wird die Verwendung des K als Abkürzungszeichen bei vn: = vnd, u: = und aufgeführt (Höchli 1981, 63 f.). Wie beim K, so haben auch beim Sem die Grammatiker Schwierigkeiten, eine klare Funktionsbeschreibung zu geben. Bei von Wyle und Steinhöwel besitzt der P(u) die gleiche Funktion wie bei anderen Autoren das Sem, d. h. er begrenzt u. a. Gesamtsätze. Riederer erwähnt das Sem in gleicher Funktion, setzt es „zuo end einer gantzen red / zuo deren die nachuolgend red nit auffsehen hat“, gibt ihm die Form »(.« [=Kl ⫹ P] und verweist auf die Verwendung von P(u) und Sem in gleicher Funktion bei anderen Autoren. Ob über die Begrenzung des Gesamtsatzes hinaus mit »(.« auch die Makrostruktur des Abschnitts, d. h. eine größere Sinneinheit als der Gesamtsatz (so Höchli 1981, 31), markiert wird, läßt sich aus der Funktionsumschreibung und wegen
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
der nicht vorhandenen empirischen Realisation nicht bestimmen. Pleningen (1515) führt das Sem als einziges Interpungierungsmittel zur Begrenzung „ains gantzen sententzien“ auf (Höchli 1981, 42), d. h. zur Gesamtsatzmarkierung. Als Interpungierungsmittel innerhalb eines Gesamtsatzes taucht das Sem erstmals bei Ratke (1629) auf; es heißt Mittelzeichen, mit ihm werden „wiederwerdige sachen, oder sonsten denen gleiche vnterschieden“ (Höchli 1981, 87), d. h. es wird in gleicher Funktion wie das Kolon verwendet. Eine funktionelle Gleichsetzung von Sem und K zeigt sich ferner bei Walter (1628) und bei Gueintz (1641); letzterer verweist darauf, daß das Sem eher in lateinischen, das K eher in deutschen Drucken verwendet werde (Höchli 1981, 94, 101). Eine erste und ansatzweise Funktionstrennung erfolgt bei Schottel (1663, 670 f.). Das Sem „hat seine Stelle in der Rede / wenn der Sinn zwar noch nicht unvollkommen ist / aber dennoch einen kleinen Inhalt / und mehrere Ruh / als durch den Beystrich geschehen mag / erfordert“. In den Beispielen (103) Wer nicht bezahlen wil / was er nit recht schuldig ist; der muß hernach mit Recht bezahlen, was er nicht schuldig ist / und (104) Und dennoch sind wir Teutschen so alber / daß wir solche Völker / als ein Wunder / in Kleidung und Wesen nachahmen und nachäffen; Auch wann sie schon einen Rokk mit Schellen truegen / so bilden wir uns doch ein / es kuenne nichts zierlichers erdacht / oder erfunden werden/
befindet sich das Sem an unterschiedlichen Stellen. In (103) ist vor dem Sem überhaupt kein irgendwie vollständiger Sinn vorhanden; in (104) trifft die Beschreibung zu. Ob die Typen Sem ⫹ Min bzw. Sem ⫹ Maj solche inhaltsseitigen Differenzierungen signalisieren, läßt sich an isolierten Belegen nicht erkennen. Harsdörffer (1647) erwähnt eine weitere Funktion, den „Gegenstand unterschiedlicher Sachen“, d. h. die Begrenzung „gleichartiger Begriffe bei Aufzählungen“ (Höchli 1981, 118, 272), wie in (105) Du hast an mich geschrieben Gutes und Boeses; Neues und Altes; die Lügen und die Warheit: wer es glaubt / muß sich betrogen fühlen. Ferner versucht er, Funktionsunterschiede zwischen Sem und K aufzuzeigen, indem er das Sem bei kurzen Gleichnissen, das K bei langen verwendet sehen will; zusätzlich soll das Sem innerhalb der Elemente gebraucht werden, die schon durch ein K segmentiert sind, wie in (106) Man soll in Unglueck nicht zusehr trauren; wie die Heyden / so keinen Trost haben: In Glueck sich nicht zusehr
freuen; wie die Weltkinder / die ihres Gottes vergessen; ja vermeinen / es muesse ihnen alles / nach Wunsch / hinausgehen (Garbe 1984, 37). Die Funktionstrennung ist eindeutig bei Overheiden (1668) und Prasch (1687) vollzogen, das K hat eine Ankündigungsfunktion, das Sem eine inhaltsseitig zusammenschließende, es „begreiffet einen Theil des gantzen Verstandes“ bzw. es wird gesetzt, „wann der Sinn vollkommen ist / aber die Rede nicht“ (Höchli 1981, 140, 146). Bei Bödiker (1690) wird das Sem erstmals in Relation zur V gesehen; es ist „mehr als das Comma“ (=V), wird vor der Konjunktion aber und generell bei Antithesen gebraucht (Höchli 1981, 150). Dieser Bezug ist ebenfalls bei Stieler, Freyer, Frisch und Wippels Bearbeitung von Bödikers Grundsätzen vorhanden. In der Bearbeitung (1746, 97, 97⫺105) zitiert Wippel zunächst Frisch, der vorschlägt, daß „die Einfaeltigen“ das Sem „wol auslaßen und ein Comma oder Colon dafür sezen“ können, da sich die Gelehrten „selbst nicht recht eins“ seien, „wo es eigentlich stehen soll“. Dann entwickelt er seine eigene Konzeption, indem er vom komplexen Satz, dem Gesamtsatz, ausgeht, der aus mehreren Teilsätzen besteht, die jeweils Verbalsätze sind. Das Sem wird gesetzt, „wenn in einer Proposition des Periodi etwas vorkommt, welches nicht so genau zu dem Subiecto oder Praedicato der Proposition gehöret, und gleichsam in der Proposition eine neue Proposition macht“, d. h. wenn ein neues Subjekt und neues Prädikat eingeführt werden. In seinem Beispiel (107) Hasser, Laesterer, Wiedersacher und erbitterte Feinde haben, das ist; so wenig man es auch glauben will, darum, unter andern, ein uns nuezliches Schikksal: Weil uns dieselben durch ihre Anfaelle reizen unsere Tugenden unbeflekkt zu bewaren. ist der unterstrichene Teilsatz die durch das Sem eingeleitete und nicht abgeschlossene Proposition. In (108) So kann man auch die Ehre: Indem sie nur eine Einbildung von unseren Vorzügen zum Grunde hat; bei genauer Erwegung der Sache, fuer nicht viel mehreres, als fuer etwas eiteles gelten laßen. befindet sich das Sem hinter dem Teilsatz. Die durch ein Sem begrenzten Teilsätze können zwar „ohne Schaden für die Konstruktion wegbleiben“, sind damit aber noch keine „freie[n] Ergänzungen“ (Jellinek 1914, II, 474). Mit seiner Aussage, daß das Sem vom 16.⫺18. Jh. die Aufgabe hatte, „nicht vollständige Sätze, sondern einzelne Satzglieder voneinander abzutrennen“, wird Höchli (1981, 274) den Grammatikeraussagen nicht gerecht.
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
Anders als beim K und Sem sind die Grammatikeraussagen zum P(u) relativ einheitlich und konsequent. Er beschließt seit von Wyle Sätze mit einem vollkommenen Sinn, d. h. isoliert gebrauchte einfache Sätze und Gesamtsätze; die von Höchli (1981, 257⫺259) postulierte Fixierung auf den Aussagesatz ist damit jedoch nicht verbunden, da mit dem P(u) auch Fragen, Befehle, Ausrufe begrenzt werden (Simmler 1994, 77, 92; vgl. Beispiel 111). Bis Schottel besitzen P(u) und Sem zum Teil die gleiche Funktion. Harsdörffer (1647) unterscheidet einen kleinen und einen großen Punkt, die mit folgender Min oder Maj und unterschiedlichen Satzlängen verbunden sein sollen und auf einen isolierten einfachen Satz und einen Gesamtsatz verweisen könnten, doch wird sein Beispiel (109) Deß Menschen Leben ist kurtz. Der Tod ist allen gewiß. (Garbe 1984, 38) mit dem Typus P(u) ⫹ Maj realisiert. Bellin (1657, 94) gebraucht die gleiche Differenzierung mit einleuchtenden Beispielen: (110) Des maenschen leben ist kurz. der tod ist allen maenschen ungewis. ⫺ (111) HEr / schaffe meiner sälen rat / der einsamen / stäh ir doch bei / laß sie von jungen loewen frei. In (111) liegt ein Gesamtsatz in der Funktion eines Imperativs vor; in (110) folgen zwei einfache Sätze aufeinander. Freyer (1735) erwähnt erstmals eine Polyfunktionalität des P(u); dieser begrenzt Sätze, einfache und komplexe, und fungiert ⫺ davon getrennt (Garbe 1984, 53 f.) ⫺ als Abkürzungszeichen von Wörtern (v.=vers) und nach Ziffern (Ordinal- und Kardinalzahlen, z. B. = I Cor. 13, 4.5). Beide nicht syntaxrelevante Funktionen sind bereits seit dem Anfang des 15. bzw. dem Ende des 15. Jhs. in Gebrauchsnormen nachweisbar. Die seit der gleichen Zeit belegbaren Funktionen der Hervorhebung einzelner Segmente und der Reihung gleichrangiger Segmente (Simmler 1982, 157 f.; 1983 a, 129; 1983 b, 165) werden von Freyer nicht erwähnt. Von ihm werden allerdings erstmals explizit Überschneidungen im Gebrauch von P(u), F und A festgestellt und präskriptiv einer Regelung zugeführt. Auf das A kann in Beispielen wie (112) Friede sei mit euch. verzichtet werden, d. h. in solchen Ausrufen bzw. Wünschen, in denen keine particula exclamandi = Interjektionen vorkommen. In den Beispielen (113) Wo sind die klugen ?ß wo sind die Schriftgelehrten ?ß wo sind die weisen ? ⫺ (114) Pilatus sprach zu ihm: Redest du nicht mit mir ?ß Weissest du nicht, daß ich Macht habe dich zu creutzigen, und Macht habe dich los zu geben ? ⫺ (115) Wer ist der allmaechtige, daß
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wir ihm dienen sollen ?ß Oder was sind wirs gebessert, so wir ihn anruffen ? tritt das F an den unterstrichenen Stelle auf, an denen auch ein Komma (Ko; 113), ein Sem (114) bzw. ein K gesetzt werden kann (Garbe 1984, 59 f.). Das F wird seit von Wyle als Kennzeichnung einer Frage erfaßt, wobei keine Unterscheidung von Entscheidungs- und Ergänzungsfrage bzw. von direkter und indirekter Frage erfolgt. Dies bleibt bis Bödiker (1690) so, der als erster die Unterscheidung von direkter Frage (mit F) und indirekter Frage hervorhebt; bei letzterer setzen viele (wie in Luthers Bibelübersetzung; Bieling 1880, 22) das F, „man kann es aber allda auslaßen“ wie in (116) Es ist zu bewundern, wie die meisten Menschen gegen sich selbst so unsinnig wueten koennen. (Bödiker/Wippel 1746, 99). Freyer (1735) versucht, den Gebrauch des F innerhalb und am Ende eines Gesamtsatzes zu regeln. Am Ende hat es konsequent zu stehen; werden mehrere Fragen zu einem Gesamtsatz verbunden, kann es gesetzt werden (s. Beispiele 113⫺ 115) oder nur am Schluß erscheinen wie in (117) Ists denn gar aus mit seiner Guete, und hat die Verheissung ein Ende? ⫺ (118) Wer ist so blind, als mein Knecht: und wer ist so taub, als mein Bote, den ich sende? Das F soll auch bei umfangreichen Fragen wie (119) Ists dem Hause Juda zu wenig, daß sie alle solche Greuel hie thun: so sie doch sonst im gantzen Lande eitel Gewalt und Unrecht treiben, und fahren zu, und reitzen mich auch? gesetzt werden, obwohl andere „weil bey dergleichen weitlaeufftigem Zusatz die Frage gleichsam nach und nach verschwindet“ stattdessen einen P(u) verwenden (Garbe 1984, 59 f.). Wenig differenziert werden von den Grammatikern V, SP und Komma (Ko, in jetziger Form unten auf der Zeile) behandelt. Das Ko wird erstmals von Sattler (1610, 1617) erwähnt, der eine lat. Form (= Ko) und eine dt. (= V) in gleicher Funktionalität unterscheidet; das von Höchli (1981, 276) bereits für Riederer (1535) postulierte Nebeneinander von V und Ko beruht auf einer Fehlinterpretation. Eine solche liegt auch zu Harsdörffer vor, wenn für Höchli (1981, 116) das Beistrichlein „das lateinische Zeichen, das Zwergstrichlein das deutsche für die gleiche Funktion“ ist. Harsdörffer (I, 1650, § 14, S. 132; vgl. auch den Abdruck in Garbe 1984, 37) aber unterscheidet zwischen dem „Zwergstrichlein / comma genannt / (/)“ und dem „Beystrichlein / semicomma (;) genannt /“; Höchli gibt statt des ›;‹ ein Ko an. Ein Ko wird zwar von Harsdörffer bei der Aufzählung gebräuchlicher Zeichen genannt, aber
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dann nicht weiter erläutert; auch das semicomma verschwindet aus der folgenden Darlegung; nur zum „Strichpuenctlein (;) semicolon“, das ebenso wie das semicomma aussieht, folgen im § 16 weitere Ausführungen. Die V (= Zwergstrichlein) wird nach Harsdörffer (I, 1650, § 15, S. 133) in vierfacher Weise verwendet. Sie dient 1. zur „Unterscheidung der Woerter / welche mit einem Zeitwort verbunden sind /“ wie in (120) Eitler Wahn / unbestaendiger Reichthum / vnd grosser Herren Gnade pfleget ihrer viel / mit lehrer Hoffnung zu begaben., d. h. bei Reihungen von substantivischen Nuklei, die verschiedene Attribuierungen zu sich nehmen können; die V steht dabei auch vor der Konjunktion und. 2. zeigt sich die V, „wann wir einem Wort lange Beywoerter zusetzen“ wie in (121) der allerweiste Koenig Salomo / ein Herr über Israel / hat […], d. h. bei Appositionen und bei umfangreichen Satzgliedern vor dem verbum finitum. 3. steht die V, „wann die Erklaerung eines Dings folget“ wie in (122) die zukuenfftige Zeit ist eine Raehtsel / ich will sagen / eine Geheimniß / welche wir mit Nachsinnen aufloesen wollen., d. h. bei Parenthesen. Schließlich erscheint die V 4. „wann etwas darzwischen gesetzet wird / daß zwar zu der gantzen Meinung gehoert / aber dieselbe zweiflig / oder zu verstehen schwer machet /“ wie in (123) Er hat solche Thaetlichkeit / freventlich / veruebet., d. h. bei Modaladverbien. Die vierte Funktion wird bei Höchli (1981, 117) dem Beistrichlein (= Ko) zugeschrieben. Ohne Nachwirkung bleibt Bödikers (1690; Bödiker/Wippel 1746, 98) Forderung, das Ko in der dt. Schrift „schief unter sich hangend (,), in der Lateinischen aber gekruemmt (•)“ zu verwenden. Das Ko taucht in konsequentem Gebrauch und unter gleichzeitigem Verzicht auf die V erst bei Freyer (1721, 1735; dazu Heinle 1982, 197 f.) auf und wird nach Höchli (1981, 279) „von diesem Zeitpunkt an ausschließlich benutzt“. Die V dient bei von Wyle und Steinhöwel dazu, Wörter und oratz zu sondern, die keinen vollkommenen, ganzen Sinn vermitteln. In diesen Formulierungen ist weder die syntaktische noch die inhaltsseitige Funktion deutlich erkennbar. Dies bleibt so bis zu Stieler (1691, 32), der durch die V „die Woerter / die eine Sonderung erfordern / als auch die noch gar unvollkommene Rede / insonderheit die Zwischenwoerter“ unterscheiden möchte. In (124) Gold / Silber und Perlen / welche bei Geizigen in großem Wehrte seyn. liegen Reihungen substantivischer Nuklei vor; vor dem durch und angeschlossenen Element braucht nach Stieler
keine V zu stehen. In (125) Gold / das aus der Erde gegraben wird / und Silber / so einen blinkenden Glanz hat. wird deutlich, daß die Termini Zwischenwoerter und Zwischenrede einen Relativ-/Attributsatz bezeichnen. Etwas präziser wird erst Freyer (1735), weniger terminologisch als in den Beispielen. Das Ko wird gebraucht, „wenn entweder blosse Woerter oder schlechte constructiones von einander zu unterscheiden sind“. Zu den blossen Wörtern gehören nach Freyer der Vokativ, d. h. ein eingliedriger Nominalsatz, wie in (126) Herr Gott, du bist unsere Zuflucht fuer und fuer.; weiter die Apposition, d. h. ein Satzgliedteil, wie in (127) Dis sind die Reden des Predigers, des Sohns Davids, des Königs zu Jerusalem.; ferner „Woerter, welche unterschieden sind und nacheinander ohne Conjunction gesetzet werden“ wie in (128) Von innen, aus dem Hertzen der Menschen gehen heraus boese Gedancken, Ehebruch, Hurerey […] und (129) Ein Herr, ein Glaube, eine Tauffe, ein Gott und Vater aller. Lediglich in (128) werden einzelne Wörter als Satzgliedteile gereiht; daneben treten gereihte Nuklei auf, die um Artikel, Präposition und Präposition und Artikel erweitert sind. Hinter den schlechten constructiones verbergen sich Teilsätze von Gesamtsätzen: (130) Seid niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter einander liebet. ⫺ (131) Siehe, euer Haus soll euch wuest gelassen werden. ⫺ (132) Wisset ihr nicht, daß alle, die wir in Jesum Christum getauffet sind, die sind in seinen Tod getauffet. (Garbe 1984, 58). In (130) folgen die Teilsätze aufeinander, in (132) sind sie ineinander verschränkt, in (131) gilt der Imperativ Siehe als Teilsatz. In die Teilsatzbegrenzungen sind auch Relativsätze einbezogen. Das Urteil von Höchli (1981, 279), daß Freyer das Ko „nach heutigen Verhältnissen allerdings viel zu häufig“ verwende, wird ihm nicht gerecht. Wippel erweitert die Teilsatzbegrenzungen noch, indem er auch bei mit der Konjunktion und gereihten Teilsätzen ein Ko fordert, wenn „das Und eine neue Proposition. anfaenget“ (Bödiker/Wippel 1746, 104), d. h. der Teilsatz ein neues Subjekt und Prädikat zeigt. Die Kl werden von allen Grammatikern behandelt; die Funktionsbeschreibung, die Weglaßbarkeit des Eingeschlossenen, bleibt dabei kontinuierlich bestehen. Kolroß (1564) erwähnt zwei Formen, die runden Klammern mit und ohne zusätzlichen Punkt; beide Formen zeigen sich in Gebrauchsnormen seit dem Anfang des 15. Jhs. (Simmler 1982, 154 f.). Ratke (1619) stellt die drei Formen /: :/ ⫺ ( ) ⫺ [ ] vor; Walter (1628) kennt die fünf Formen [:
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
:] ⫺ (: :) ⫺ ( ) ⫺ :/: :/: ⫺ /: :/. Freyer (1735) nimmt eine Funktionsdifferenzierung vor, indem er die eckigen Klammern dazu verwendet, „nicht vom Autor selbst angebrachte Zusätze und Erklärungen zu kennzeichnen“. Nach Wippel (1746) sind Kl überflüssig und können durch Ko und Sem ersetzt werden (dazu Höchli 1981, 290⫺293). Die übrigen Interpungierungen gehören nicht zu den syntaxrelevanten Mitteln. Das TZ wird erstmals von Steinhöwel erwähnt und dient der Worttrennung am Zeilenende. Schottel (1641, 1663) führt den Bindestrich ein; er dient der Wortergänzung (Reichs= Wahl= und HandelStat; ab= und eintreten), der Morphemergänzung (Wuet= und Toben) und der Morphemzusammensetzung (Heilig =glentzend; Jammer=Seuftzen). Auch der Apostroph erscheint unter Hinweis auf die Verslehre erstmals bei Schottel als Zeichen für ein ausgelassenes e (seinem Tod’ für Tode). Auslassungszeichen (Gemipunctus iacens) sind erstmals bei Riederer (1535) erwähnt und ersetzen unbekannte nomina propria. Bei Braun (1765) erscheinen drei Wortergänzungszeichen bzw. Auslassungsstriche hintereinander (===) als Signale für den Abbruch einer Rede. Die Anführungszeichen zur Kennzeichnung der direkten Rede jeweils am Beginn der Zeile mit dem Zitat werden erstmals von Freyer (1735) aufgenommen und in ihrer Funktion beschrieben (Höchli 1981, 295⫺ 304). Die vorgeführten präskriptiven Regelungen der Grammatiker erfassen bis zur Mitte des 18. Jhs. die Gebrauchsnormen in ihrer Systematik weder vollständig noch ausreichend. Folgende Gebrauchsnormen werden überhaupt nicht erwähnt: 1. die Rolle von Interpungierungen zur Kennzeichnung von Makrostrukturen (2.2; ferner Simmler 1983 a, 127 f.; 1983 b, 149⫺159; 1998 a, 2002) bzw. von spezifischen Aufbauprinzipien von Makrostrukturen durch Gesamtsatzstrukturen (Simmler 2001); 2. die Kennzeichnung von Gesamtsatzgrenzen ausschließlich durch Majuskeln (mit und ohne Rubrumauszeichnung) vom 14.⫺16. Jh. (Kaempfert 1980, 74; Moulin 1990, 103⫺107; Simmler 1992 b, 68; 1994, 63⫺107). Erst als sich über die Hervorhebungsfunktion bei textwichtigen Wörtern verschiedener Wortarten (Mentrup 1979, 23 f.; Meisenburg 1990, 293 f.) die Substantivgroßschreibung durchsetzte, wird auf diese Möglichkeit verzichtet (Jahreiss 1990, 150⫺152); 3. die Möglichkeit, am Zeilen- oder Spaltenende auf eine Interpungierung zu verzichten (Simmler 1983 b, 164);
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4. das textinterne Oppositionen aufbauende Zusammenwirken von interpungierenden und orthographischen Mitteln. So weist der Typus V ⫹ Maj neben P(u) ⫹ Maj ebenfalls auf Gesamtsatzgrenzen hin (Simmler 1983 b, 162; 1992 b, 59); der Typus P(u) ⫹ Min markiert Teilsatzbegrenzungen, während der Typus P(u) ⫹ Maj auf das Gesamtsatzende verweist; statt des P(u) kann auch der P(m) stehen (2.2); 5. die zentrale Rolle der verba dicendi bei Einleitungen direkter Rede innerhalb der Repräsentationstypen v. d. ⫹ P(u)/P(m)/V/K ⫹ Maj/Min ⫹ dR (2.2; Simmler 1983 a, 129; 1983 b, 163; 1995; 1998 b, 2000); 6. die Kennzeichnungsfunktion der Hauptsätze durch die Typen P(u) ⫹ Maj bzw. V ⫹ Maj bei präpositiven und besonders hervorgehobenen Nebensätzen (2.2; Simmler 1983 b, 164); 7. die Begrenzung von Satzgliedern innerhalb von Teilsätzen, die die erste oder letzte Satzgliedposition einnehmen bzw. aus dem verbalen Satzrahmen aus verbum finitum und infinitum ausgeklammert sind (2.2; Simmler 1992 b, 56 f.).
Nur eingeschränkt verweisen die Grammatiker auf die Polyfunktionalität von Interpungierungen in Kombination mit orthographischen Mitteln, auf das Zusammenwirken verschiedener Interpungierungen innerhalb von Texten, auf Haupt- und Nebenfunktionen bzw. primäre und sekundäre Funktionen einzelner Interpungierungen und Repräsentationstypen. So werden Gesamtsätze nicht nur durch P(u) ⫹ Maj, sondern ebenso durch V ⫹ Maj, F ⫹ Maj, A ⫹ Maj und Sem ⫹ Maj begrenzt (Simmler 1992 b, 59⫺61; 1994, 66). Fragesätze bzw. Ausrufe- und Imperativsätze werden nicht nur durch die Typen F ⫹ Maj oder F ⫹ Min bzw. A ⫹ Maj oder A ⫹ Min abgeschlossen, sondern viel häufiger durch die Typen P(u) ⫹ Maj oder P(u) ⫹ Min, woraus sich eine primäre Funktion der Begrenzung von isoliert gebrauchten einfachen Sätzen oder Gesamtsätzen und erst eine sekundäre der Satzartenkennzeichnung ergibt. Insgesamt werden die Fragen wesentlich früher und konsequenter mit einem eigenen Interpungierungsmittel (F) markiert als die Ausrufe und Imperative (Simmler 1994, 79, 88). Der Typus K ⫹ Maj hat zunächst die primäre Funktion der Gesamtsatzbegrenzung, aus der sich die sekundäre Funktion des Hinweisens auf Folgerungen und Begründungen entwikkelt (Simmler 1983 a, 130; 1983 b, 161; 1992 b, 61). Im Hinblick auf die Polyfunktionalität einzelner Typen führt die Druckgeschichte gegenüber der Handschriftentradition zu einer Variantenreduzierung und zu einer Konzentration auf einzelne Typen, jedoch
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nicht zur völligen Beseitigung von Polyfunktionen (Simmler 1995). Durch die fehlende bzw. unvollständige Erfassung von Gebrauchsnormen ergeben sich bei einer ausschließlichen Konzentration auf Grammatikeraussagen einzelne Verzeichnungen bei der Geschichte der Interpungierungen und ihrer Funktionen (Bergmann, Rolf/Dieter Nerius 1998, I, 36 f.). So erfassen zwar die Grammatiker seit dem 15. Jh. die bereits seit dem 9. Jh. nachweisbare Funktion des Typus Sem ⫹ Maj, das Ende von Gesamtsätzen zu markieren, nicht aber diejenige des Typus Sem ⫹ Min, größere Sinnabschnitte aus Teilsätzen innerhalb eines komplexen Satzes zu begrenzen, obwohl die Opposition beider Typen seit dem 15. Jh. nachgewiesen werden kann (Simmler 1992 b, 65, 71). Diese Funktion des Typus Sem ⫹ Min wird erstmals von Schottel (1663), Overheiden (1668) und Prasch (1687) hervorgehoben. Die ebenfalls seitdem 15. Jh. erkennbare Funktion der Abgrenzung eines präpositiven Nebensatzes wird nicht erwähnt. In dieser Funktion wird der Typus Sem ⫹ Min im Laufe des 18. Jhs. aufgegeben und durch den Typus Ko ⫹ Min ersetzt. Während der Typus Sem ⫹ Min vom 14. Jh. bis zur Mitte des 18. Jhs. die primäre Funktion der Teilsatzbegrenzung hatte und in einigen Fällen zusätzlich sekundär größere Sinnabschnitte markierte, erfolgt in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. eine Konzentration auf die zweite Funktion. Sie wird jetzt zur primären Funktion, mit der sekundär eine Teilsatzmarkierung verbunden ist. Eine andere von den Grammatikern zunächst nicht erfaßte textinterne Opposition existiert seit dem 15. Jh. auch bei den Typen K ⫹ Maj und K ⫹ Min (Simmler 1983 a, 130). Der Typus K ⫹ Maj markiert in 10% aller Fälle neben dem Typus P(u) ⫹ Maj (75%) den Schluß eines Gesamtsatzes. Auch der Typus K ⫹ Min könnte als Gesamtsatzbegrenzung interpretiert werden; eher scheint er jedoch die Funktion zu besitzen, einzelne Teilsätze innerhalb eines Gesamtsatzes zusammenzufassen, denn die folgenden Teilsätze signalisieren zusätzlich eine Steigerung, einen Gegensatz und eine Schlußfolgerung. Werden die Typen K ⫹ Maj bzw. K ⫹ Min um ein verbum dicendi und eine direkte Rede erweitert, entsteht der Typus v. d. ⫹ K ⫹ Maj/Min ⫹ dR, wobei in der dR zusätzlich ein Pronominalisierungswechsel auftritt. In diesem Typus ist eine Ankündigungsfunktion im Hinblick auf die direkte Rede gegeben, die jedoch an die Existenz eines v. d. gebunden ist. Daher kann
das K in diesem Typus auch durch einen P(u) oder eine V ersetzt werden (Simmler 1983b, 161; zur Geschichte der Repräsentationstypen im frnhd. Prosaroman vom 16.⫺20. Jh. Simmler 1998 b; zur Rolle der Repräsentationstypen für die Ermittlung sprachinterner Entwicklungsetappen Simmler 2000, 62⫺66). Im 16. Jh. können nach dem Typus K ⫹ Maj auch Begründungen folgen. Auf die Schlußfolgerungsfunktion verweist erstmals Gueintz (1641); die Ankündigungsfunktion einer dR findet sich bei Bellin (1657) und Prasch (1687). Im 17. Jh. treten beim Typus K ⫹ Min die Funktionen, auf Teilsatzbegrenzungen oder Schlußfolgerungen zu verweisen, nebeneinander auf; im 18. Jh. wird die Funktion der ausschließlichen Teilsatzmarkierung aufgegeben, und die Funktion der gleichzeitigen Kennzeichnung von Teilsätzen und Schlußfolgerungen tritt in den Vordergrund (Simmler 1992 b, 71). Beim F wird der Gebrauch innerhalb und am Ende eines Gesamtsatzes erstmals von Freyer (1735) erwähnt, obwohl diese Verwendungsweisen bereits seit dem 15. Jh. relativ kontinuierlich vorkommen und auf noch älteren Traditionen beruhen (2.3). Bei den bisher behandelten Interpungierungen liegen zwischen dem Nachweis einer systematischen und konsequenten Verwendung und ersten Regelungsversuchen von Grammatikern mindestens 100⫺150 Jahre. Das ist nur beim A anders, das bereits von Riederer (1502, 1535) erwähnt wird, aber erst in Johann Fischarts Flöhhatz (1573) nach bisherigen Erkenntnissen (Bieling 1880, 24) erstmals verwendet wird. In der Edition von Wendeler (1877) erscheint es an fünf Stellen (Verse 73, 136, 459, 878, 892) , u. a. im Beispiel (133) Sie geben auch ein groß summ gelts Das wir jhn nicht kaemen in d Beltz (Vers 877 f.). Das A ist im Druck der SBPK Berlin (Yh 4059R) in (133) eine gekrümmte Virgel über einem Punkt. In (134) ja ich wolt Das ich ein schenckel an der Stett Abgfallen wer ohn als gespoett Wie ich die Kammer erstmals sach! (V 70⫺73) und (135) Wer weißt, wo noch steckt vnser heil! (V 892) sind im Vergleich zur typographischen Gestaltung der übrigen Interpungierungen des Drucks nur Reste der Virgel über dem Punkt vorhanden. In (136) Pfey dich Kuchin vnd Huenerhauß Ich hab ein Bett / Strosack wol auß. (V 135 f.) und (137) Ob jhr moecht haben besser gmach / Es ist viel sicherer zuo tach Dann auff der weite. (V 457⫺459) befindet sich im Druck ⫺ anders als in der Edition ⫺ nur ein Punkt. In
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
dem sicheren Beispiel (133) und den mit Einschränkungen zu berücksichtigenden (134 f.) ist mit dem A die kommunikative Funktion eines Ausrufs verbunden; die Beispiele (136 f.) zeigen aber, daß Ausrufe auch mit dem Typus P(u) ⫹ Maj abgeschlossen werden können. In anderen Texttraditionen wird das A überhaupt nicht oder deutlich später verwendet. So fehlt es in allen Rostocker Drucken aus der 1. Hälfte des 16. Jhs. (Prowatke 1991, 27), und in Benediktinerregel-Drucken erscheint es vereinzelt seit dem Anfang des 18. Jhs. und in größerer Konsequenz bei Ausrufen und Imperativen seit der Mitte des 18. Jhs. (Simmler 1994, 88⫺91). 3.2. Mitte des 18. Jhs. bis 1903 und 1915 Mit Gottsched beginnt eine neue Etappe im Hinblick auf eine Einsicht in Gebrauchsnormen und auf eine nachweisbare Wirkung präskriptiver Regelungen (Nerius 1984, 167 f.). Gottsched (1757, 10) versucht, bewußt einheitsbildend zu wirken, verwendet weitgehend syntaktische Kategorien bei der Regelformulierung, kombiniert dabei interpungierende und orthographische Mittel und stützt sich empirisch „auf den heutigen Gebrauch der besten Mundart in Deutschland, und der beliebtesten Schriftsteller“ (zu früheren vergleichbaren Formeln Josten 1976, 131⫺142). Die von ihm behandelten Interpungierungen sind P(u), K, Sem, Ko, F, A, Kl, Apostroph, Anführungszeichen (= AZ; zu seiner Geschichte Weyers 1992). Am Ende von Gesamtsätzen (Perioden) und isoliert gebrauchten einfachen Sätzen (kurze Rede, Ausspruch, Satz) fordert Gottsched (1757, 105) den P(u) und folgende Großschreibung beim ersten Wort, d. h. er erkennt ihr Zusammenwirken im Typus P(u) ⫹ Maj. Innerhalb der Gesamtsätze, „die aus kleineren Saetzen zusammengesetzt sind“, soll man das K verwenden, wenn in ihnen „zwo besondere Aussprueche, von ganz verschiedenen Dingen, verbunden werden“ und „wenn das folgende Glied ein neu Subjekt und ein neu Praedicat hat“ wie in Beispiel (138) Und die Erde war wueste und leer; und es war finster auf der Tiefe: und der Geist Gottes schwebete auf dem Wasser. Das K soll dann mit einer Min verbunden werden (S. 105⫺107). Zusätzlich soll das K zur Einleitung einer dR dienen und mit einer Maj kombiniert sein. Als generelle Regel fordert er das K auch am Ende der dR; nur bei umfangreicheren dR, auf die ein neuer Gesamtsatz folgt, gestattet er als „Ausnahme“ auch den P(u): (139) Und Gott
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sprach: Es werde licht: und es ward licht. ⫺ (140) Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern; und sie sey ein Unterschied zwischen den Wassern. Da machte Gott […]. Das K nach der dR hat sich nicht durchgesetzt, wohl aber die „Ausnahme“ bei einfachen und komplexen dR, weil die erste Regel keine Stütze in den Gebrauchsnormen besaß. Auch das Sem wird innerhalb des Gesamtsatzes verwendet; es dient dazu, „geringere Abtheilungen der Rede, oder der Sätze zu bemerken, als wobey der Doppelpunct gesetzet wird“, d. h. es soll dort gebraucht werden, „wo entweder ein neu Praedicat zu demselben Subjecte; oder ein neu Subject zu demselben Praedicate gesetzet wird“ wie in Beispiel (141) Und Gott nennete das Trockene Erde; und die Sammlung der Wasser nennete er Meer. (S. 108). Für den Kommagebrauch kann Gottsched (S. 108 f.) keine syntaktische Regel formulieren und begnügt sich daher mit der Forderung, „weder gar zu wenige, noch gar zu viele“ zu machen. Beim F fordert Gottsched wie Bödiker seinen Verzicht bei indirekten Reden. Das A „muß“ nach ihm bei Ausrufen, Verwunderungen, Verspottungen, heftigen Anreden gesetzt werden. Anders als bei Gesamtsätzen fehlen beim F und beim A Angaben zur folgenden Maj oder Min. Aus den Beispielen (142) Hoeret, ihr Himmel! und du, Erde, nimm zu Ohren! denn der Herr redet. ⫺ (143) O ihr Berge! fallet ueber uns! o ihr Huegel! bedecket uns! geht hervor, daß das A eher innerhalb eines Gesamtsatzes Teilsätze begrenzt und kommunikativ kennzeichnet als die gesamte Äußerung zu markieren. Daß die Beispiele der „heftigen Gemuethsregungen“ zu einem großen Teil Imperative sind, spielt bei der Regelformulierung keine Rolle (S. 109 f.). Anders als Gottsched, mit dem er sich auseinandersetzt, gibt Aichinger (1754, 101) verschiedene Regeln zur Kommasetzung an, ohne aber alle Gebrauchsnormen zu erfassen. Geregelt wird vor allem der Gebrauch, „wo der Zusammenhang des Subjects und Praedicats durch etwas unterbrochen wird“. Daher soll das Ko vor und nach Vokativen, „vor und nach den Woertlein: sage ich, sprach er“ verwendet werden, d. h., es soll in einen übergeordneten Teilsatz eingeschobene Nominalsätze in Anredefunktion bzw. in direkte Reden eingeschobene verba dicendi und Sprecherkennzeichnungen begrenzen, wobei die dR eine Leerstelle des v. d. besetzt. Beim Vokativ differenziert Aichinger (1754, 102) zwi-
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schen einem solchen mit und ohne Affekt; nur bei ersterem erlaubt er das A, bei letzterem lehnt er den Gebrauch des A wie bei Anreden in Briefen, wo auch ein Affekt fehlt, ab. Ferner soll das Ko vor Relativpronomina, d. h. vor Attributsätzen, stehen. Schließlich soll es vor Adverbial- und Konjunktionalsätzen und bei Asyndeta und Polysyndeta, d. h. bei Reihungen gleichrangiger Teilsätze, gebraucht werden. Aichinger regelt also Kombinationen von Teilsätzen, geht aber auf Kommaregelungen bei Satzgliedern und Satzgliedteilen nicht ein. Wie Gottsched verbindet Heynaß (1773; es steht in diesem Druck , nicht ) präskriptive Regelungen mit Ausführungen zu Gebrauchsnormen, wobei ihn letztere wegen der zusätzlich eingeschobenen historischen Exkurse zu einer variableren Regelformulierung führen. So fordert er ⫺ anders als Gottsched ⫺ bei der dR auch die Verwendung der Anführungszeichen wie in (144) Jerusalem, voll Mordlust, ruft mit wildem Ton: „Sein Blut komm’ ueber uns und ueber unsre Soehn’ und Toechter!“ Dabei steht das AZ vor und nach der dR und am Beginn jeder neuen Zeile, solange das Zitat weitergeht. Daneben läßt Heynaß (1773, 32 f.) zur Hervorhebung der dR im Druck auch eine andere Schrifttype bzw. in Handschriften eine Unterstreichung gelten. Im Typus v. d. ⫹ K ⫹ Maj ⫹ dR (mit AZ) kann auch statt des K ein P(u) oder ein Ko stehen. Am Ende der dR bevorzugt Heynaß P(u), F oder A, läßt aber bei weiteren Ausführungen des Sprechers oder Erzählers in der dritten Person auch ein Sem oder K zu. Neben syntaktischen Kategorien sind bei Heynaß zur Verwendung des Sem inhaltsseitige Merkmale notwendig. Das Sem steht bei Gegensätzen; bei Kombinationen „mehrere[r] Saetze gleichsam eintheilungsweise“, d. h. nach verbindenden semantischen Merkmalen, wie in (145) Der Kopf ist geschwollen; die Arme schwinden; in den Füßen töbt die Gicht; der Magen, den die Überladung geschwaecht hat, will keine Speise annehmen; ferner bei einem folgenden kurzen Beweis oder einer kurzen Erläuterung, Ausnahme und Folge und schließlich bei sinngemäßer Wiederholung eines Satzes zum Zwecke der Steigerung wie in Psalmenübersetzungen (146) Die Stimme des HERRN zerschlaegt die Cedern; es zerschlaegt der HERR die Cedern des Libanon. (S. 34⫺37). Wie Aichinger regelt Heynaß den Kommagebrauch bei Einschließungen. Das „ein-
schließende Komma“ steht „vor und nach allen eingeschobenen Saetzen“. Zu diesen zählt er mit Aichinger den Vokativ, Attributsätze, durch Konjunktionen eingeleitete und eingeschobene Teilsätze, in direkte Rede eingeschobene Sprecherkennzeichnungen und v. d.; über Aichinger hinaus bezieht er Appositionen wie in (147) Er hat seinem Vater, dem redlichen Manne, viel Verdruß gemacht., mit als und wie eingeleitete Vergleiche wie in (148) Ich würde glücklicher, als ein Koenig, sein. und „naehere Bestimmung[en] von besonderem Nachdrucke, die allenfalls auch wegbleiben könnte[n]“ wie in (149) In einem Dorfe, vier Meilen von hier, ist, wahrscheinlicherweise durch Verwahrlosung, Feuer ausgekommen. ein. Durch die drei letzten Regelungen sind erstmals ausführlich Interpungierungen von Satzgliedern und Satzgliedteilen systematisiert. Dies gilt weiterhin für das „unterscheidende Komma“, das bei Reihungen von Satzgliedteilen wie Substantiven, Adjektiven, Adverbien und Pronomina und Prädikaten wie in (150) Ein Koenig, der Verdienste liebt, schaetzt, belohnt. auftritt. Wird das letzte Element der Reihung mit und bzw. oder angeschlossen „so pflegt das Komma wegzufallen“; es steht jedoch, wenn das letzte Element „von Wichtigkeit“ wie in (151) Er lebte, nahm ein Weib, und starb. und (152) Die Ehre, der Ruhm, und die Liebe zu seinem Vaterlande ließen ihm dies nicht zu. ist (S. 43⫺47). Zusätzlich lehnt Heynaß den Gebrauch eines Ko vor dem mit zu angeschlossenen Infinitiv wie in (153) Er hat die Macht zu schaden. ab; dies gilt auch, wenn „ein nur kleines Adverbium zu dem Infinitiv gesetzt“ ist, wie in (154) Er hat die Gabe recht dreist zu luegen. Auch die alte Gebrauchsnorm, „nach einem langen Subjekte oder Objekte“ ein Komma zu setzen, wie in (155) Langeweile und ein gewisser militärischer Ekel vor politischen Neuigkeiten, trieben ihn, wird von ihm verworfen (S. 43⫺48). Beim A lehnt Heynaß (S. 59 f.) explizit den generellen Gebrauch nach Imperativen ab. Das A ist immer am Ende der Äußerung zu setzen; das gilt auch, wenn nach einer Interjektion wie O oder Ach „noch ein ganzer Satz“ folgt; nach der Interjektion sollte es dann entweder fehlen oder wie in (156) O, wie elend sind wir! durch ein Ko ersetzt werden. Vor allem den Kommaregelungen wird Höchli (1981, 235) nicht gerecht, wenn er ihm eine Mischung rhetorischer, semantischer und grammatischer Begründungen vorwirft; die Kritik, daß Heynaß „weniger Regeln set-
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zen, als vielmehr den herrschenden Gebrauch auf einen Nenner bringen“ wollte, sollte eher in eine positive Würdigung umgewandelt werden. Adelung (1782, 1790) greift aufgrund einer Kabinettsorder König Friedrich II. vom 5. September 1779 zur Neuregelung des Deutschunterrichts an den Gymnasien Preußens in kultusministeriellem Auftrag (Naumann 1986, 97⫺102) auf die Vorarbeiten von Gottsched und Heynaß zurück und faßt dort angelegte Unterscheidungen terminologisch präziser. Er unterscheidet drei Arten von Interpungierungsmitteln, 1. solche, „welche den Ton der lebendigen Stimme ersetzen“ (F, A), 2. solche, „welche die Glieder eines Satzes oder einer Periode absondern“ (P(u), K, Sem, Ko) und 3. solche, die an einer „leichten Verständlichkeit […] nur in einigen Nebendingen mitwirken“ (AZ, TZ, Bindestrich, Kl, drei Punkte als Zeichen des Redeabbruchs einschließlich des Gedankenstrichs, Apostroph) (1782, 793⫺796). F und A sollen „den Ton der lebendigen Stimme ersetzen, oder zur Bezeichnung des Affectes dienen“. Erst mit diesem expliziten Bezug auf suprasegmentale Merkmale ist es gerechtfertigt, A und F als „Tonzeichen“ zu behandeln, da sich bei ihnen ⫺ wohl im Vergleich zum Aussagesatz ⫺ „in der lebendigen Stimme der Ton merklich verändert“. Daher hat das F nach direkten Fragen (Entscheidungs- und Ergänzungsfragen) zu stehen, nicht aber „nach mittelbaren oder erzählten Fragen, weil hier keine merkliche Veränderung des Tones der lebendigen Stimme vorgehet“, also nicht nach (157) er fragte mich, wie er hieße bzw. (158) man wollte wissen, ob er kommen wuerde (alle Zitate 1782, 792). Das A steht „nach denjenigen Worten, welche durch den Ton vorzüglich vor den andern herausgehoben werden“. Dies ist bei allein stehenden Interjektionen der Fall; dienen sie als Einleitungen eines Satzes, steht das A am Ende desselben und nach der Interjektion ein Ko. Wenn der Vokativ „nicht mit einer merklichen Leidenschaft ausgesprochen wird“, steht kein A. Wenn ein Ausruf „die Gestalt einer Frage hat“, steht das A, „weil der Ton des Ausrufes in der lebendigen Stimme der herrschende ist“ wie in (159) wie gluecklich bist du nicht! (1782, 792). Mit der letzten Regel nimmt Adelung Gebrauchsnormen auf, die seit der Mitte des 18. Jhs. nachgewiesen werden können: (160) Wie vile Heyden haben sich nicht eben sowohl als hernach die Christ=Glaubige, durch die Keuschheit, Maeßigkeit, Verachtung der Reich-
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thum und freywillige Armuth einen Ruhm erworben! (Broekaert, Nr. 606; Benediktinerregel-Auslegung Augspurg 1753, 9). Eine Tendenz zum Satzartenwechsel zwischen Frage und Ausruf ist seit dem Beginn des 18. Jhs. belegbar: (161) Freund warumb bistu kommen! (1701)⫺(162) Was suessers koennte fuer uns seyn / liebste Brueder! als dise Stimm / mit welcher der HErr uns einladet! (1753; Simmler 1994, 72 f.) Der Gebrauch eines A bei Imperativen und ihren Ersatzformen wird nicht erwähnt, obwohl er seit der Mitte des 18. Jhs. in Gebrauchsnormen wie (163) Sehet! hier bin ich (1770). ⫺ (164) Lasset uns die Augen gegen jenem Liecht / welches die / so es annehmen / in GOtt verwandlet / eroeffnen / und jener Stimm / die uns taeglich vom Himmel zurufft / Gehoer geben! (1753) ⫺ (165) Kommet, spricht er, kommet meine Kinder, und höret mich! (1791; Simmler 1994, 90) nachzuweisen ist. Die zweite Gruppe der Interpungierungen wird anders als die erste Gruppe, bei der jedoch Hinweise auf Teilsatzstrukturen ebenfalls nicht fehlen, überwiegend mit syntaktischen Kategorien beschrieben. Der P(u) begrenzt „völlige Sätze und Perioden“, d. h. isolierte einfache Sätze und Gesamtsätze. Nach Adelung (1790, 375) stehen oft „einzelne Wörter anstatt ganzer Sätze“ wie in Überschriften (Vorrede.) und Antworten auf Fragen (ja, nein, niemand). Da sie allein stehen, „versteht es sich von selbst, daß auch jene den Schluß=Punct bekommen koennen und muessen.“ Adelung argumentiert hier kommunikativ, weil für ihn der Satzbegriff an die Existenz von Subjekt und Prädikat gebunden ist (S. 373); bei einem anderen Satzbegriff sind diese einzelnen Wörter als Nominalsätze aufzufassen (Simmler 1985 b, 1992 a), und die Interpungierungen erhalten eine noch größere Konsequenz. Das K steht, um den „Vordersatz von dem Nachsatze in concessiven, conditionalen, causalen, und zuweilen auch in comparativen Sätzen zu scheiden, besonders wenn sich der Nachsatz mit so anfänget“ und die Vordersätze „von beträchtlicher Länge sind“; bei sehr kurzen Sätzen steht ein Ko (1782, 793 f.). Ganz explizit wird die Ankündigungsfunktion hervorgehoben; das K leitet Beispiele oder Aufzählungen ein wie in (166) was ich davon weiß ist dieses: es war […] bzw. steht, wenn man „seine oder eines anderen Worte unmittelbar anführet, und seine Ankündigung ausdrücklich vorher gehet“ wie in (167) Er sprach: nein das hätte ich nicht gedacht. (1782, 794); d. h. das K ist in den
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Typus v. d. ⫹ K ⫹ Min ⫹ dR einbezogen. Das Sem unterscheidet längere und „mehrere Glieder eines Satzes“ und trennt „den Nachsatz von dem Vordersatze in continuativen, adversativen, explicativen, illativen, exclusiven, exceptiven und proportionalen Sätzen“, wenn sie „von einiger Länge sind“ (1782, 794). K und Sem werden auf Teilsätze bezogen und inhaltsseitig differenziert; das Kriterium der Länge bleibt jedoch ungenau. Zusätzlich sollen durch das Sem Beispiele aus mehr als einem Wort voneinander abgehoben werden wie in (168) In der Wortfolge gehet die Praeposition, als die Bestimmung des bloßen Verhaeltnisses, allen uebrigen Bestimmungswoertern des Substantivs vor: in allen diesen deinen Angelegenheiten; von jeder deiner Handlungen; mit dem besten und edelsten Anstande. Ausführlich wird der Gebrauch des Ko geregelt. Es steht 1. „Vor oder nach einem eingeschobenen Worte oder Satze“ (präziser 1790, 384: „vor und nach […]“), d. h. bei Anredenominativen (169) Hier spannt, o Sterbliche, der Seele Kraefte an! und eingeschobenen Kennzeichnungen von Sprechern und Denkern (170) Nein, dachte ich, das ist zu viel.; 2. bei Appositionen, deren Nukleus um wenigstens ein Element erweitert ist (die Nacht, des Todes Freund); bei engen Appositionen (die Stadt Berlin) fehlt ein Ko; 3. bei Teilsätzen; 4. „Vor allen Relativen“ (der Mann, welchen ich sahe), 5. bei Reihungen verschiedener Wortarten einschließlich von Verben; vor und/oder steht bei Wortartreihungen kein Ko, bei Reihungen von Teilsätzen soll es jedoch gesetzt werden (1782, 794 f.). Die Regeln 1⫺5 finden sich auch bei Heynaß; die Regeln 3 (enge Apposition) und 5 (und/oder bei Teilsatzreihungen) sind gegenüber Heynaß erweitert; auf eine Kommasetzung bei Satzgliedern in der Funktion einer näheren Bestimmung wird verzichtet. Der Regelkanon wird von Adelung 1790 (385 f.) noch erweitert; das Ko erscheint 6. „Nach manchen Conjunctionen, wenn die muendliche Rede eine kleine Pause nach ihnen macht“ wie in (171) Allein, die Sache verhaelt sich ganz anders bzw. in (172) zwar, es ist eine sehr wichtige Sache; 7. vor einem um Casum oder mehrere Bestimmungen“ erweiterten Infinitiv mit zu wie in (173) Es kraenkt ihn, sich von andern uebertroffen zu sehen; beim bloßen Infinitiv mit zu fehlt das Ko. In der dritten Gruppe zeigen sich syntaxrelevante Aussagen nur bei der Kl, die in den Formen ( ) oder [ ] die Funktion hat, „einen
eingeschobenen Satz oder Begriff zu unterscheiden“ (1782, 796). Vor allem die ausführlichen und expliziten Regelformulierungen bei den Tonzeichen F und A bzw. beim Ko und der seit Gottsched übliche Rückgriff auf die besten Schriftsteller (Adelung 1790, 372 f.; dazu Haas 1980, 192 f.) und auf tatsächliche Gebrauchsnormen schaffen mit teilweiser politischer Unterstützung in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. eine Grundlage (Nerius 1967, 36), von der aus auch Rückwirkungen präskriptiver Normen auf die Gebrauchsnormen zu erkennen sind (zum Einfluß Adelungs auf Goethe vgl. Garbe 1984, 104). Im 19. Jh. setzt sich eine primär syntaktisch interpretierte und orientierte Interpungierung in den Grammatiken immer mehr durch, obwohl Hinweise auf Pausenlängen nicht fehlen und sekundär mit den syntaktischen Kategorien verbunden bleiben. Schmitthenner (1824, 37 f.) definiert daher die Interpungierungen so: „Satzzeichen nennen wir diejenigen schriftlichen Zeichen, welche im Allgemeinen dazu dienen, die Sätze und Satzgefüge in einem Ganzen der Rede von einander zu scheiden, im Besonderen aber, die Modalität der Sätze oder ihr Verhältniß zu einander anzuzeigen.“ 1828 (299) fügt er „die Gesätze und Satzreihen innerhalb des Ganzen der Rede“ hinzu. Entsprechend unterscheidet er „Satzton=Zeichen“ (F, A) und „Satztheil=Zeichen“ oder „SatzverhältnißZeichen“ (P(u), K, Sem, Ko, Trennstrich = ›⫺‹). Neu gegenüber Adelung ist beim A, daß es „bei jeder Aeußerung einer Begehrung, also auch beim Imperativ“ zu setzen sei und allein oder in mehrmaliger Verwendung dazu dienen könne, „auf einen Gedanken oder die sprachliche Form eines Gedankens aufmerksam zu machen“ (56 f.); anders als bei Adelung soll das A nach allen Interjektionen, auch bei satzeinleitenden, stehen. Beim F regelt Schmitthenner (1824, 52⫺55) die folgende Groß- oder Kleinschreibung: Nach jeder „unabhängigen Frage“ soll der Typus F ⫹ Maj, nach einem „Fragewort, das dem Zusammenhang eines anderen Satzes oder Satzgefüges eingefügt ist“, der Typus F ⫹ Min wie in (174) Nichts ist gewisser, als daß uns der Tod erwartet; wo? und wann? aber ⫺ das steht bei Gott. verwendet werden. Über Adelung hinaus kann das F auch „Vermuthungen und Zweifel an etwas“ signalisieren, ist aber dann in Kl zu setzen wie in (175) Turpin sagt, Karl der Große sei sieben bis acht Fuß (?) hoch gewesen. Der Zweifel kann auch durch Verdoppelung des
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F angezeigt werden. Wenn die Frage „mit besonderer Erhebung der Stimme zu sprechen“ ist, können F ⫹ A kombiniert auftreten wie in (176) Was soll ich hier? Leiden, wainen und sterben sehn, und mitleiden und mitweinen, bis auch mir die Vernichtung kalt auf die Stirn tritt?! Die Regeln zum Gebrauch von P(u) und K stehen in der Tradition Adelungs. Dies gilt auch für das Sem, wobei sich Schmitthenner (1824, 40⫺45) jedoch bemüht, Adelungs Satzlänge durch Angaben zu Teilsatzstrukturen und ihren inhaltsseitigen Beziehungen über die generelle Regel, daß das Sem dazu diene, „die Sphäre eines Satzgefüges, das mit einem anderen Satzgefüge oder auch nur mit einem Satze zu einem größeren Satzgefüge verbunden ist, abzugränzen“, hinaus zu präzisieren. Über Adelung (1790, 388⫺392) hinaus dient der Pausenstrich (= Gedankenstrich) bei Schmitthenner (1824, 50) dazu, „ganze Satzreihen, welche Gedanken, die auf den Hauptgedanken in gleicher Beziehung und mit demselben in engerer logischer Verbindung stehen, von einander zu sondern“; bei Aufzählungen, „wo die einzelnen Glieder noch durch Bestimmungssätze ausgebildet sind“ und wo „vor diesen einzelnen Gliedern der Hauptsatz in Gedanken zu wiederholen ist“ (43), sollen Sem und Gedankenstrich kombiniert verwendet werden. Beim Ko fehlen Adelungs Regelungen 6 und 7; über ihn hinaus fordert Schmitthenner (1824, 39, 61) in Fällen wie (177) Beiträge zu der teutschen Sprachlehre(,) von Heynatz. das Ko „zur Verhütung von Zweideutigkeit“. Ferner soll das Ko bei „correlativen Bindewörtern“ wie theils, theils; entweder, oder, die „eine Theilung und gegenseitige Ausschließung“ bezeichnen, wie in (178) Die Freiheit ist nicht nur die Blüthe, sondern auch die Wurzel der Tugend. gesetzt werden, bei solchen wie sowol als auch, die eine „Gleichheit und Einheit“ ausdrücken, aber fehlen (63). Weiske (1838, 146 f.) kennt diese Regelung ebenfalls, möchte aber generell bei allen „Doppelconjunctionen“ ein Ko setzen. Auch nach Becker (1829, 416) hängt der Gebrauch der Interpunktionszeichen „zwar im Allgemeinen von dem logischen und grammatischen Verhältnisse der Sätze“ ab, dennoch können Teilsätze mit identischen logisch-grammatischen Strukturen „in der Rede nicht gleiche Ruhepunkte, und daher in der Schrift verschiedene Interpunktionszeichen haben“. Die Kombination von syntaktischen Kriterien und postulierten Pausenlän-
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gen, die vom P(u) über K, Sem bis zum Ko abnehmen sollen, führt ihn vor allem beim Sem zu Regelungen, die von denen Adelungs abweichen. So fordert er das Sem bei Satzreihen wie (179) Er ist zwar mein Verwandter; aber ich werde ihn nicht empfehlen. und bei präpositiven Adverbialsätzen wie (180) Wenn du mich um Rath gefragt hättest; so würde ich dir einen bessern Rath gegeben haben. Sie sollen einen größeren Ruhepunkt signalisieren, als wenn die gleiche Aussage hypotaktisch oder mit postpositivem Adverbialsatz formuliert würde. Sonst steht Becker in der von Adelung geschaffenen Tradition; beim A fordert er seinen Gebrauch auch bei Imperativsätzen (420). Weiske (1838, 18⫺22) lehnt die Verknüpfung von syntaktischen Kategorien mit Pausierungsangaben ausdrücklich ab und hebt hervor, daß die Interpungierungen „aus dem Beduerfnisse groeßerer Deutlichkeit der Schrift“ hervorgegangen seien, und diese Deutlichkeit führt er über syntaktische Strukturen auf Denkkategorien zurück. Mit den Grammatikern der 1. Hälfte des 19. Jhs. ist die Grundlage gegeben, von der aus in der 2. Hälfte des 19. Jhs. ⫺ beginnend mit dem Regelbuch von 1855 für das Königreich Hannover und verstärkt nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 ⫺ die Bemühungen um eine Einheit in der Orthographie, in die die Interpunktion einbezogen ist, fortgesetzt und in der 2. Orthographischen Konferenz 1901 zum Abschluß gebracht werden (Schlaefer 1984). Eine besondere Rolle spielt dabei Duden (zu seinen Werken und Regelbüchern für Schulen Mentrup 1983, 235⫺237). Nach seinem Regelbuch (Duden 1872) legte er seine Interpunktionslehre (Duden 1876) im gleichen Jahre vor, in dem die 1. Orthographische Konferenz stattfand und scheiterte. Es folgte ein Orthographisches Wörterbuch (Duden 1880), die erfolgreiche 2. Orthographische Konferenz vom 17.⫺19. 6. 1901, deren Regeln (1902; Original-Abdruck in Nerius/Scharnhorst 1980, 351⫺371) am 18. 12. 1902 durch einen Bundesratsbeschluß für alle deutschen Bundesländer verbindlich wurden und denen sich Österreich und die Schweiz anschlossen. Duden verwirklichte die Beschlüsse in der 7. Aufl. 1902 des Orthographischen Wörterbuchs (Duden 1903 a) und im BuchdruckereiDuden von 1903 (Duden 1903 b). Nach jahrhundertelangen Bemühungen besaß das zusammenhängende deutschsprechende Gebiet eine orthographisch einheitliche Schriftsprache.
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Die Regeln von 1902 sind ausschließlich auf die Schreibung von Wörtern konzentriert; bis auf Ausführungen zum TZ, Bindestrich und Apostroph (§§ 23⫺25) fehlen Anweisungen zur Interpunktion. Da Duden (1903 a, VII) für sich ein Aufnahmerecht für neue Wörter und ein Normierungsrecht für alle im amtlichen Regelbuch nicht aufgeführten Fälle in Anspruch nimmt, kommt den von ihm im Buchdruckerei-Duden (1903 b) erstmals aufgenommenen Interpungierungen eine quasiautorisierte Bedeutung zu, obwohl nur die Schreibungsnormierungen 1902 eine politische Autorisierung besitzen. Ein Anspruch auf gleiche Verbindlichkeit wurde erst in der 9. Aufl. der Duden-Rechtschreibung (Duden 1915, III) erhoben, die eine Verschmelzung mit dem Buchdruckerei-Duden darstellte; die Interpungierungsregeln von 1903 wurden fast wörtlich übernommen. Da Duden 1911 starb, stellt die Publikation von 1915 nicht nur die Verbindung zweier Werke her, sondern dokumentiert zugleich die Fortsetzung der Autorität Dudens durch eine Dudenredaktion. Dudens Interpungierungen von 1903 beruhen auf seinen Ausführungen von 1876, bei denen er sich wiederum explizit auf Becker und Wilmanns (1870) bezieht. Daher finden sich bei ihm Interpungierungsregeln, bei denen wie bei diesen primär syntaktische mit sekundär rhetorischen Kategorien kombiniert sind (Simmler 1994, 103 f.). Wegen dieser Verbindung sind Dudens syntaktische Kategorien teilweise nicht so genau wie die Schmitthenners. Wie bei Weiske (1838, 42) stehen P(u), F und A „am Schluß des Satzganzen“ (Duden 1876, 23), d. h. am Ende eines isolierten einfachen Satzes oder eines komplexen Satzes; der nächste Satz beginnt dann mit einer Maj; mit einem A sollen auch Imperative versehen werden (24). Der P(u) begrenzt einfache isolierte und komplexe Aussagen; er steht nach Duden (1876, 24) daher auch nach Überschriften, nicht jedoch weil diese „wie Sätze“ behandelt werden, sondern weil sie Sätze (Verbal- und Nominalsätze) sind. F und A kommen ferner innerhalb eines einfachen Satzes vor; auf sie folgt dann eine Min. Das F steht jeweils, „wenn ein einzelnes Wort oder ein aus mehreren Wörtern bestehendes Satzglied in der Bedeutung eines direkten Fragesatzes steht“ wie in (181) Was? du wagsts, mich zu belügen? hörte ich ihn zornig fragen. und (182) Ein Schuß, das weiß ich, ist gefallen. Von wem? das weiß ich nicht. Hier wird Was? als „einzelnes Wort“ aufgefaßt, obwohl Sätze nicht aus
Wörtern, sondern aus Satzgliedern bestehen; Von wem? ist „der Stellvertreter eines direkten Fragesatzes“, der „von wem ist er gefallen?“ lauten müßte, obwohl diese Konstruktion in (182) als eine Art Selbstbefragung keinen Sinn ergibt. Spitzfindig wird ein Unterschied zu (183) von wem, weiß ich nicht. mit Ko konstruiert, indem von wem auf einen indirekten Fragesatz (184) ich weiß nicht, von wem er gefallen ist. zurückgeführt wird, wobei die pronominale Wiederaufnahme durch das und die anderen Satzgliedserialisierungen in (182) vernachlässigt werden, d. h. der auf die Verbindung von Subjekt und Prädikat beschränkte Satzbegriff beeinflußt die verwendete Terminologie und die Begründung von Interpungierungen. Noch deutlicher wird dies beim A. Es steht „innerhalb des einfachen Satzes nach der Anrede und nach dem Ausruf, wenn beide mit Affekt gesprochen werden“, d. h. daß beide Äußerungen als Teile des einfachen Satzes in (185) Mich, ruft er, mich, Henker! erwürge! und (186) Ach! es war nur eine täuschende Erscheinung. verstanden werden (30) und nicht als Nominalsätze. Bei den Beispielen (187) Doch wir, der alten Schweizer echter Stamm, wir haben stets die Freiheit uns gewahrt. und (188) Zurück! laß nicht die schimmernde Bahn dich verführen, weg vom Ufer zu gehen! setzt Duden (1876, 27) einen ‘abgekürzten’ (187) bzw. einen ‘elliptischen’ Satz (188) an. Beim ‘abgekürzten’ Satz „werden Pausen, bzw. Tonsenkungen und =Hebungen in der Regel nur dann bezeichnet, wenn Teile derselben, obwol grammatisch nur als Satzglieder fungierend, doch logisch als Sätze aufgefaßt werden sollen“, d. h. die Apposition der alten Schweizer echter Stamm wird als Satzglied und nicht als Satzgliedteil interpretiert und zusätzlich als Satzglied „zu dem logischen Wert von Sätzen erhoben“ und auf „die wir der alten Schweizer echter Stamm sind“ zurückgeführt. In (188) soll Zurück! zu den Ellipsen gehören, „in denen einzelne Wörter in dem Sinne von Sätzen aufgefaßt werden sollen“; vorsichtshalber vervollständigt Duden die Ellipse nicht. Werden andere syntaktische Kategorien zur Beschreibung verwendet, kann auf die Annahme von Übergangsphänomenen (in der Bedeutung, in dem Sinne von) verzichtet und die Interpungierung leichter begründet werden. Anders als die Grammatiker vor ihm regelt Duden (1876, 25) den Gebrauch des Sem. Es verbindet „grammatisch völlig selbständige Sätze“, die logisch aufeinander bezogen sein
171. Geschichte der Interpunktionssysteme im Deutschen
können, was „von der Auffassung des Schreibenden“ abhängt. Beim K steht Duden (1876, 26) ganz in der Tradition seit Adelung. Dies ist auch beim Ko weitgehend der Fall (27⫺29). In einigen Beispielen erfolgen jedoch Überregulierungen durch Ausnahmeregelungen. So steht bei Reihungen gleicher Wortarten vor und generell kein Ko; „nur bei größerem Umfang der durch und verbundenen Satzglieder, und wenn das zweite des Gegensatzes oder des Nachdruckes wegen hervorgehoben werden soll, macht man beim Sprechen vor und eine Pause, und daher beim Schreiben ein Komma“; ein Beispiel dazu fehlt bei Duden. Auch vor oder soll wie in (189) Du mußt Amboß, oder Hammer sein. ein Ko stehen, wenn „nachdrücklich ein Gegensatz“ hervorgehoben werden soll. Werden Teilsätze durch und verbunden, steht ein Ko, es sei denn, daß bei „kurzen Sätzen“ eine so enge Verbindung vorliegt, „daß man sie ohne Pause ausspricht“ wie bei (190) Mars erscheint und die Musen gehn. (25). Appositionen stehen generell zwischen Ko. Die syntaktische Kategorie der Apposition ist klar formuliert; syntaktisch problematisch und für die Interpungierungsregel unnötig ist es, die Apposition als einen „verkürzte[n] Relativsatz“ aufzufassen. Noch problematischer wird es, wenn in (191) Und in langen Reihen, klagend, saß der Trojerinnen Schar, schmerzvoll an die Brüste schlagend, bleich, mit aufgelöstem Haar. „Adjektiva und Partizipia, welche des größeren Nachdruckes wegen aus der gewöhnlichen attributiven Stellung heraustreten, […] als Apposition aufgefaßt und daher auch durch Kommata von ihrer Umgebung getrennt“ werden. Bei den Partizipien ist zwar die syntaktische Wertung problematisch, jedoch über den Ansatz einer Apposition nicht lösbar, wenn der Appositionsbegriff nicht entwertet werden soll. Von dieser Partizipinterpretation hängen die weiteren Interpungierungen mit Ko bei Ausdrücken ab, „bei denen ein Partizip zu ergänzen ist“ wie in (192) Den Hut in der Hand [haltend], kommt man durchs ganze Land. bzw. bei „adverbialen Ausdrücken aller Art, wenn dieselben des größeren Nachdruckes wegen durch Pausen von ihrer Umgebung gesondert werden“ und „den logischen Wert eines Satzes“ erhalten wie in (193) Die Dame hat, nach meinem Sinn [= wie ich denke], den besten Diener der Welt. Schließlich wird beim bloßen Infinitiv mit zu, bei dem kein Ko steht, eine Ausnahme zugelassen, wenn wie in (194) Es
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lebt ein Gott, zu strafen und zu rächen. das zu durch um zu ersetzt werden kann. Neben klaren syntaktischen Kategorien zeigen sich bei Duden ungenaue Formulierungen, deren fehlende Prägnanz auch nicht durch die dann meist herangezogenen suprasegmentalen Merkmale des Nachdrucks bzw. der Pausensetzung ersetzt oder aufgehoben werden kann. Die fehlende terminologische Exaktheit führt zum Ansatz von Übergangsphänomenen und zu relativ zahlreichen Ausnahmeregelungen. Die Regelungen von 1876 werden von Duden (1903 b, XXIII⫺XXVII) in den Buchdruckerei-Duden weitgehend unverändert übernommen. Beim P(u), F, A, K und Sem finden sich keine Veränderungen, teilweise kommen identische Beispiele vor. Auch die acht Komma-Regelungen (Duden 1903 b, XXIV f.) sind bereits 1876 formuliert und erfahren nur einzelne Ergänzungen und Erweiterungen: Werden zwei Teilsätze, zwei „selbständige Hauptsätze“ durch und verbunden und hat „der letzte Satz ein eigenes Subjekt“, steht ein Ko. Die Regel „empfiehlt sich auch für Nebensätze, denn auch bei diesen macht man vor dem und eine Pause“ wie in (195) Er will die alten Zeiten wiederbringen, wo zarte Minne herrschte, wo die Liebe der Ritter große Heldentaten hob, und edle Frauen zu Gerichte saßen. Ferner fordert Duden vor und zwar wie in (196) Das Schiff kommt einmal wöchentlich, und zwar in der Regel des Sonntags. ein Ko. Auch die Adjektiv- und Partizipregelungen bleiben bestehen, jedoch fehlen die grammatischen Erläuterungen von 1876. Zusätzlich wird das Ko bei zwei oder mehr postnuklearen Adjektiv-Attributen wie in (197) Es erschien in jedem neuen Jahr ein Mädchen, schön und wunderbar. (I.4) verlangt. Neu ist auch die Kommaforderung bei pronominalen Wiederaufnahmen oder solchen mit Pronominaladverb wie in (198) Der Tag, er ist nicht mehr fern. (I.5). Erweitert ist die Regelung vor den Konjunktionen oder, wie, sowie, sowohl ⫺ als auch, entweder ⫺ oder, weder ⫺ noch. Wenn sie „nur Satzteile, nicht ganze Sätze“ verbinden, fehlt das Ko wie in (199) Weder daheim noch in der Fremde fand ich Ruhe. Erhalten bleiben die Regelungen bei Infinitiven mit und ohne zu, mit und ohne Erweiterungen. Ergänzt wird, daß bei (200) Er scheint erquickt die Luft zu trinken. kein Ko steht, ohne daß eine Begründung formuliert wird (I.8). Abschließend wird das Ko „bei Angabe des Datums hinter dem Ortsnamen“ (Leipzig, den 25. April 1903) gefordert.
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Die bis zum Jahre 1903 bzw. 1915 dargestellten Interpungierungsregeln bilden die Grundlage für zwei weitere Forschungsinteressen. Das erste betrifft das Verhältnis von Schriftstellern zur Interpunktion. Dabei können besondere Interpungierungen in vor 1902 entstandenen Werken von Autoren wie Wieland, Goethe (Stenzel 1966), Kleist (Sembdner 1962), Heine (Bockelkamp 1981, Böhm 1981, Zinke 1974), Brentano, Stifter, Raabe (Stenzel 1966) nur vollständig erfaßt und sinnvoll auf spezifische Textfunktionen hin untersucht werden, wenn neben dem Aufweis textinterner Normen ein Kontrast zu den zeitgleichen Grammatikeraussagen und zu den tatsächlichen Gebrauchsnormen in anderen literarischen und nicht-literarischen Texten in einem synchronen sprachlichen Zustand hergestellt werden. In der Zeit nach einer stärker wirkenden präskriptiven Norm stehen vor allem Abweichungen von dieser Norm im Vordergrund (Stenzel 1966 zu Thomas Mann, Döblin; Pasley 1981 zu Kafka; Simon 1991 zu Arno Schmidt; Simmler 1992 c zur Lyrik). Das zweite Forschungsinteresse betrifft das Ziel, exaktere und leichter erlernbare und vermittelbare Interpungierungsregelungen zu formulieren (Baudusch 1975, 1980, 1981 a, b, 1991; Behrens 1989; Der große Duden 1980, 679⫺692; Duden 1986, Mentrup 1983, Deutsche Rechtschreibung 1992, Zimmermann 1969). Wie schon bei Duden sind die Ergebnisse vom Stand der grammatischen, speziell syntaktischen Kenntnis abhängig und vom politischen Willen zu einer die Interpungierungen einschließenden Orthographiereform.
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171a. Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus im Deutschen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
1.
Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus als universale Kategorien Das idg. Verbalsystem als Ausgangspunkt Vom Indogermanischen zum Gemeingermanischen Grundzüge der Diachronie des Modus im Deutschen Grundzüge der Entwicklung von Tempus und Aspekt im Deutschen Literatur (in Auswahl)
Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus als universale Kategorien
1.1. Methodisches: Sprachliche Universalien und einzelsprachliche Kategorien Verbale Kategorien kann man grundsätzlich unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten untersuchen: 1. Man fasst sie als universale
Kategorien und betrachtet die einzelsprachlichen Realisierungen als typologische oder unikale Realisationen der universellen Kategorien, oder 2. man geht von einer einzelsprachlichen oder typologischen Kategorie aus (z. B. dem deutschen Tempus oder dem für das Idg. rekonstruierbaren Tempus), beschreibt die grundlegenden semantischen Funktionen dieser Kategorie und identifiziert sie als Gesamtes mit der spezifischen kategoriellen Funktion. Dieser Unterschied hat entscheidende Folgen für die Theorie der grammatischen Beschreibung einer Einzelsprache: 1. liefert nur sehr abstrakte Kategorien und wenig Anhaltspunkte für ihre formale Repräsentation, kann sich aber auf allgemein akzeptierte Definitionselemente stützen und ermöglicht den Bezug auf diachronische Kon-
171a. Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus im Deutschen
stanten; 2. ermöglicht eine sehr genaue Fassung der Formen und Funktionen von Kategorien, erschwert aber die Beschreibung sprachübergreifender und sprachvergleichender Phänomene. In dieser Sicht ist es etwa nicht möglich, generell von einer Kategorie des Aspekts im Germanischen, der Aktionsarten im Deutschen oder des Tempus in den Sprachen der Welt auszugehen, sondern man beschränkt diese Begriffe auf z. B. die slawischen Sprachen oder auf Sprachen idg. Typs. Das eher philologisch orientierte, zuletzt erwähnte Verfahren beherrscht die traditionelle sprachvergleichende Forschung nach der junggrammatischen Methode. Im Zentrum steht hier die Rekonstruktion der morphologischen Übereinstimmungen und Veränderungen, also des Formensystems der einzelnen Sprachstufen. Aussagen über die Diachronie bestimmter Formen erschöpfen sich oft im Verweis auf analogische Umbildungen und im Bezug auf sehr globale diachronische Tendenzen. Demgegenüber kann sich das universalistische Verfahren auf ein breiteres Spektrum von Prinzipien und Verfahrensweisen berufen, das sich als empirische Verallgemeinerungen aus den einzelsprachlichen Beobachtungen ergibt und damit den Bezug auf einen festen Bestand diachroner Phänomene ermöglicht. Jede historische Darstellung grammatischer Kategorien, die zugleich auch ein Ansatzpunkt für die Erklärung von Veränderungen sein soll, muss die verbalen Kategorien als übereinzelsprachliche (auch typologische) Erscheinungen verstehen ⫺ sie wird sich aber auch genau auf das belegte und nach sicheren Methoden rekonstruierbare Formeninventar der einzelnen Sprachstufen stützen müssen, wenn konkrete Änderungsimpulse nachvollzogen werden sollen. Deshalb wird im Folgenden von den Kategorien Tempus, Aspekt, Aktionsart und Modus als universellen verbalen Kategorien ausgegangen, die in jeder Sprachstufe des Deutschen beschrieben werden können. 1.2. Tempus Das Tempus als Basiskategorie des Verbs bezeichnet die zeitliche Beziehung zwischen dem Sprechakt (S) und den Zeitpunkt oder das Zeitintervall des von der Aussage bezeichneten Sachverhalts oder Ereignisses (E). Aus diesen absoluten zeitlichen Relationen ergeben sich die Kategorien Präsens (E gleichzeitig S), Präterium (E vor S) und Futur (E nach S). Einfachere Tempussysteme wie
2505
Nicht-Präteritum können mit E gleichzeitig S oder E nach S bzw. E vor S oder E gleichzeitig S formuliert werden. Das relative Tempus bezieht sich auf einen Referenzpunkt (R), welcher selbst nicht in einem Zeitverhältnis zum deiktischen Zentrum der Rede steht, sondern sich aus dem Kontext ergibt. Die Formulierungen entsprechen den absoluten Relationen mit dem Ersatz von S durch R. Das Plusquamperfekt ist demnach durch E vor R vor S wiederzugeben (Comrie 1985, 122 ff.). Diese auf Reichenbachs (1966 [1947]) Formulierung der universellen Zeitrelationen zurückgehende Beschreibung ist neuerdings in verschiedene Richtungen modifiziert worden (Überblick für das Deutsche bei Thieroff 1992 und d’Alquen 1997; intervallsemantische Fassung bei Klein 1994; die dort S. xii gegebene Charakteristik der Forschungsliteratur „It is simply impossible to read, let alone to discuss, all possibly relevant literature. This has often been said before [even this has been said before].“ wird jede Tempustheorie überdauern). Im Einzelfall besteht die Aufgabe, die verschiedenen Kontextbedeutungen in Übereinstimmung mit der Grundbedeutung zu beschreiben. So muss z. B. das historische Präsens mit einem Begriff der Gleichzeitigkeit beschrieben werden, der sich nicht auf das Geschehen selbst, sondern auf die Aktualität des Geschehens in Bezug zu S bezieht. Letztlich handelt es sich um verschiedene Konzeptualisierungen von temporalen Relationen, die auf der Ebene der sprachlichen Inhalte wirken. Dazu gibt es sehr verschiedene Beschreibungsversuche, v. a. zum Unterschied zwischen Präteritum (Imperfekt) und Perfekt (Distanz ⫺ Nähe / Bilanz / Rückschau, neutral ⫺ affektiv, Rückblick ⫺ Abgeschlossenheit zum Sprechzeitpunkt / gegenwärtig, Weltmodell aus dem Kontext übernommen ⫺ Modell einer direkt zugänglichen Welt; s. die Beiträge in Quintin/ Najar/Genz 1997). 1.3. Aspekt und Aktionsart: Grundsätzliches und Terminologie Während das Tempus eine deiktische Kategorie ist, d. h. auf die außersprachlichen Zeitverhältnisse des Verbalgeschehens referiert, müssen Aspekt und Aktionsart als innerverbale Kategorien verstanden werden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Kategorien besteht darin, dass der Aspekt, wie schon in der Bezeichnung ausgedrückt ist (lat. aspectus „Anblick“, russ. vid’ „Betrachtungsweise“), den Gegensatz zwischen verschiede-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
nen Sichtweisen bezeichnet, während die Aktionsarten im wesentlichen lexikalische Kategorien sind, also mit dem Lexem bzw. einer bestimmten morphologischen Weiterbildung festgelegt sind. Der Sprecher oder die Sprecherin kann mit der Wahl eines bestimmten Aspekts entscheiden, ob er oder sie die Verbalhandlung als Totalität, also als unteilbares Ganzes, oder im Verlauf darstellen will. Im ersten Fall befindet sich der/die SprecherIn gewissermaßen in der Außenperspektive und betrachtet das Geschehen als Ganzheit, während er oder sie sich im zweiten Fall sozusagen als Teil im Verbalgeschehen repräsentiert ist. Es handelt sich also um eine grundsätzlich binäre Kategorie. Für die Bezeichnung dieses Gegensatzes haben sich verschiedene Termini eingebürgert, die oft auch unterschiedlich verwendet werden. Am gebräuchlichsten sind die Bezeichnungen perfektiv und imperfektiv, doch sollte man wegen immer noch möglicher Verwechslungen mit Bezeichnungen im Bereich der Aktionsarten besser die Ausdrücke komplexiv und kursiv gebrauchen. Im Gegensatz zum binären Aspekt gibt es eine im Wesentlichen offene Klasse von Aktionsarten, die die besondere Art und Weise des Verlaufs einer Verbalhandlung zum Ausdruck bringen. Am geläufigsten sind folgende Bezeichnungen: terminativ ⫺ ein Anfangs- oder Endpunkt der Handlung wird ins Auge gefasst; als Unterarten: punktuell ⫺ die Handlung ist mit ihrem Eintritt zugleich vollendet (bringen, holen, geben, finden); telisch ⫺ es wird ein Ziel beschrieben, das erreicht werden kann (heilen, aufessen, hinüberspringen); durativ ⫺ die Handlung ist hinsichtlich ihres Zeitablaufs unspezifiziert, als Unterarten: statisch ⫺ ein Zustand bleibt bestehen (wohnen, besitzen), dynamisch ⫺ das Subjekt ist tätig oder erfährt eine Tätigkeit an sich, wobei dynamische Prozesse aufhören, wenn ihnen keine Energie mehr zugeführt wird (regnen, fallen, wachsen, arbeiten, spielen). Die telische Aktionsart kann wieder in ingressiv (der Anfang der Verbalhandlung wird hervorgehoben) und in egressiv (das Ende wird betont) spezifiziert werden. In der Literatur sind noch weitere Bezeichnungen gebräuchlich, die zum Teil synonym verwendet werden und Theorie der Aktionsarten unübersichtlich machen. So werden als Synonyme von egressiv gelegentlich effektiv, finitiv, konklusiv und resultativ gebraucht. Zu den Aktionsarten werden manchmal auch die Iterativa (stetige Wiederholung gleichartiger Vorgänge, also flattern, sticheln, streicheln) und Inten-
siva (Abstufung der Intensität der Verbalhandlung: schnitzen, lächeln, liebeln) gezählt. Als problematisch erweist sich eine konsequente Gliederung der Aktionsarten: Es sind verschiedene Einteilungsprinzipien vorgeschlagen worden, die das Feld der Aktionsarten auch verschieden aufteilen. Auch die Hierarchie der Bezeichnungsebenen ist noch nicht geklärt (vgl. dazu zusammenfassend Tschirner 1991, zuletzt Bache 1995; einen Überblick zur gegenwärtigen Diskussion gibt Riecke 1997). Das größte Problem besteht aber in der Frage, wie sich die Aktionsarten auf die grammatische Organisation einer Sprache auswirken und inwieweit universelle, typologische und einzelsprachliche Kategorien und Regeln anzunehmen sind. So ist es fraglich, ob man für das Nhd. Iterativa und Intensiva als grammatische Kategorien ansetzen soll, da die entsprechenden Wortbildungsregeln nicht mehr produktiv sind und damit der Zusammenhang zu den Grundverben fliegen, stechen, streichen; schneiden, lachen, lieben aus synchronischer Sicht nicht mehr deutlich ist. Weiters gibt es Verbklassen, die eine verschiedene Sehweise ermöglichen, wie etwa im Nhd. die intransitiven Bewegungsverben segeln, schwimmen, rudern, tanzen, wo der Verlauf oder die Ortsveränderung gemeint sein kann und daher Perfektbildung mit haben oder sein möglich ist. Weiters kann bei transitiven Verben auch die Art des Objekts die Verbalphrase auf eine spezifische Aktionsart festlegen (z. B. das Resultativobjekt mit terminativem Verb: ein Haus bauen im Gegensatz zur durativen Verbalphrase an einem Haus bauen). Schließlich gibt es auch Affinitäten zum Aspekt, denn terminative Verben finden sich häufiger in syntaktischen Konstruktionen, in denen der komplexive Aspekt beteiligt ist. Für die grammatische Beschreibung ist es wichtig zu klären, welche morphologischen und syntaktischen Erscheinungen man für die Klassifikation der Aktionsarten definitorisch heranzieht. So kann es durchaus sinnvoll sein, Aktionsarten nur dort anzusetzen, wo ein morphologisches Merkmal sichtbar ist, das den Gegensatz von Grundverb und verbaler Weiterbildung verdeutlicht. Dann müsste man zwischen morphologisch deutlichen Aktionsarten und verschiedenen Verbalcharakteren (Dressler) unterscheiden (vgl. dazu mit weiterer Diskussion und Literaturangaben Leiss 1992). Auf diese Weise kann man das Inventar von einzelsprachlichen Aktionsarten deutlich reduzieren. Andererseits
171a. Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus im Deutschen
kann es auch sinnvoll sein, gerade die syntaktischen Folgen der Aktionsarten zu beschreiben ⫺ dann ist es auch sinnvoll, jedes Verb und jede verbale Konstruktion einer Aktionsart zuzuordnen, womit sich die Zahl von Aktionsarten erhöhen kann. Weiters ist es wichtig, grammatische Kategorien, die immer auch einen formalen Ausdruck haben müssen, von grammatischen Funktionen zu unterscheiden: Grammatische Funktionen sind als übereinzelsprachliche Erscheinungen auch dort vorhanden, wo es keine zeichentheoretisch fassbare Zuordnung von Ausdruck und Inhalt gibt. Solche Funktionen werden oft mit eigenen Terminus wie etwa „Aspektualität“, „Modalität“ usw. benannt. Man kann also durchaus auch vom Aspekt im Nhd. sprechen, selbst wenn es kein festes Formeninventar dafür gibt ⫺ unter der Voraussetzung, dass man eben die Funktion meint oder sie prinzipiell als Kategorie definitorisch einsetzt. Ein solches Verfahren führt etwa in der neueren Generativistik zum Ansatz verschiedener tiefenstruktureller Kategorien, die nicht immer morphologisch auf der Oberfläche realisiert werden müssen. Da in Korpussprachen die operationalen Verfahren, wie man sie in lebenden Sprachen anwenden kann, nicht oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen, ist es methodisch geboten für eine bestimmte Sprachstufe nur solche Aktionsarten anzusetzen, die morphologisch klar erkennbar sind und/oder im Idg. nach erkennbaren Kompositionsprinzipien aufgebaut sind. Die binäre Kategorie des Aspekts kann hingegen als universelles Funktionsprinzip vorausgesetzt werden. Die folgende Darstellung beruht auf diesem Verfahren. 1.4. Modus Temporalität und Aspektualität sind nicht auf das Verb beschränkt, sondern z. B. Adverbien und Partikeln können ähnliche Funktionen haben und oft auch als Ersatzformen für die verbalen Kategorien verwendet werden. Dennoch kann man jedenfalls für die Sprachen idg. Typs mit Recht behaupten, dass diese Funktionen prototypisch verbalmorphologisch bezeichnet werden. Das ist beim Modus im geringeren Maß der Fall: Hier wird das Feld der Modalität zwischen Verben, Modalverben, Satzadverbien, Partikeln, Klitika usw. aufgeteilt, die im Einzelfall ein komplexes Suppletivsystem bilden können. Deshalb ist es notwendig, auch die Leistung der anderen Ausdrucksformen in die-
2507
sem Feld zu berücksichtigen und sie zusammen mit dem verbalen Modus in ihren spezifischen Beitrag zur Satzbedeutung zu beschreiben. Hier können nur die verbalen Modalitäten und ihre nächstliegenden analytischen Umschreibungsformen dargestellt werden. Zu den typologischen und universalen Moduskonzeptionen vgl. Palmer 1986, Bybee/Fleischmann 1995 und zuletzt Quer 1998; für das Deutsche: Dietrich 1992; Übersicht über die aktuelle Diskussion zu Aspekt, Tempus und Modus: Confais 1995. Wegen der Vielzahl von Ausdrucksformen und Funktionen ist es notwendig, als Grundfunktion des Modus in strukturalistischer Sicht (d. h. auf der Ebene der langue) ein möglichst abstraktes Konzept anzuwenden, das alle weiteren Modalitätsarten wie etwa epistemische und deontische Modalitäten überdeckt. Ein solches Konzept kann an den Begriff der logischen Satzfunktion anknüpfen: Sätze, zumindest Aussagesätze, enthalten einen Wahrheitsanspruch und sind insofern einem logischen Urteil vergleichbar: Sie sind wahr oder falsch. Nun gibt es aber auch Sätze, die einen solchen Wahrheitsanspruch nicht tragen, z. B. Fragesätze, Sätze im Imperativ oder eben Sätze mit modalen Ausdrükken. Für alle diese Sätze gilt, dass sie nicht als logische Urteile aufzufassen sind. Man kann daher als Grundwert der nicht-indikativischen Modi festhalten, dass die entsprechenden Sätze keinen bestimmten Wahrheitswert haben (bzw. in einer dreiwertigen Logik den Wahrheitswert „unbestimmt“). Demgegenüber sind alle anderen modalen Abstufungen, wie potential, irreal, jussiv usw. Nutzwerte, die sich teils aus einzelsprachlichen oder typologischen Normen herleiten, teils aber auch kontext- und konsituationsgebunden sind. Der Ansatz eines abstrakten Grundwertes im Sinn eines Nicht-Urteils erlaubt es auch, unangemessene Vereinfachungen und Zirkelschlüsse zu vermeiden, die sich daraus ergeben, dass man den Indikativ mit den Merkmalen „Behauptung“ oder „Aussage“, NichtIndikative wie etwa den Konjunktiv als „Nicht-Behauptung“ oder „Nicht-Aussage“ versteht (s. Palmer 1986, 4, 140 ff). Behauptet und ausgesagt wird eine Verbalhandlung in jedem Fall, doch nur im Indikativ wird der Wahrheitsanspruch der Aussage ausdrücklich festgestellt, impliziert oder vorausgesetzt. Als Zeichen des Wahrheitsanspruchs gilt in vielen Sprachen, jedenfalls in den meisten des idg. Typs, die Teilnahme an der Tempusopposition, d. h. an der Bezugnahme zum Hier und
2508
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Jetzt des Sprechers (zur Sprecherorigo nach Bühler). Demzufolge haben auch die nichtindikativischen Modi oft eine defiziente oder mangelnde Tempusgliederung. Auch die Affinität der nicht-indikativischen Modi zum Futur wird verständlich: Zukünftige Handlungen oder Ereignisse können als bloße Annahmen oder Erwartungen gelten, haben damit auch keinen bestimmten Wahrheitswert und können daher mit konjunktivischen oder optativischen Ausdrücken wiedergegeben werden; sie können aber auch als Einstellungen des Sprechers gegenüber diesen Verbalhandlungen verstanden werden und sind insofern „normale“ Aussagen mit einem bestimmten Wahrheitswert. Der Übergang von modalen zu temporalen Kategorien kann in diesem Sinn als Übergang vom Bezug auf außersprachliche Sachverhalte zum Bezug auf die kognitive Repräsentation dieser Sachverhalte gedeutet werden, ein Übergang, der sich auf verschiedenen Sprachebenen einstellt. Der Imperativ nimmt im Feld der deontischen Modalitäten eine Sonderstellung ein: Er hat eine defiziente Personengliederung (im Wesentlichen nur 2. Person) und ist oft gegenüber den anderen Modusformen formal unmarkiert (Palmer 1986, 29). Insofern kann man ihn als semi-finite Verbalform bezeichnen (Donhauser 1986). 1.5. Zusammenhänge zwischen Tempus, Aspekt, Aktionsart und Modus Zwischen diesen verbalen Kategorien zeigen sich verschiedene Zusammenhänge. Hier können nur die wichtigsten und allgemeinsten davon beschrieben werden, wobei der Schwerpunkt im Bereich der in den idg. und germ. Sprachen besonders ausgeprägten Erscheinungen gesetzt wird. Ein Geschehen, das als Ganzheit dargestellt wird, kann eigentlich nicht im engeren Sinn präsentisch verstanden werden. Verbalhandlungen mit punktuellen Verben wie finden können im grammatischen Präsens normalerweise nur ein zukünftiges Ereignis bezeichnen. Der komplexive Aspekt (oder die komplexive Verbalhandlung) verträgt sich daher nicht mit der Darstellung gegenwärtiger Vorgänge und Zustände. Daraus sind verschiedene Erscheinungen abzuleiten: Bei grammatikalisiertem Aspekt gibt es kein Präsens im vollendeten Aspekt wie im Russ.; bei weniger grammatikalisiertem Aspekt kann das Präsens komplexiver Verben oder verbaler Konstruktionen futurische Geltung haben oder kursive Bedeutung erhalten. Eine
komplexive Verbalphrase mit einem Verbaladjektiv kann als Ausdruck sowohl des erreichten Zustands als auch der Handlungen und Ereignisse, die zu diesem Zustand geführt haben, verstanden werden. Solche Konstruktionen können im Lauf der Sprachgeschichte als Bezeichnung vergangener Handlungen oder Zustände ins Tempussystem integriert werden, wobei sie ihren Aspektcharakter zunächst nicht verlieren. Als formales Zeichen dieses Funktionswechsels kann der Verlust der adjektivischen Deklination der Verbaladjektive (und damit die Entstehung von Perfektpartizipien) verstanden werden. Die zunehmende Verwendung der komplexiven Konstruktion entspricht einerseits der Tendenz zum analytischen Sprachbau, die als Mittel der Wiederherstellung ikonischer Gestaltqualitäten verstanden werden kann, andrerseits wird sie zweifellos durch ihre stärkere Expressivität gefördert. Dadurch kann ein bereits vorhandenes Präteritum zum Narrativum abgedrängt werden. Wenn das synthetische Narrativum ausstirbt, kann das Perfekt nun zum eigentlichen Präteritum werden und damit seine aspektuelle Geltung auf dieser Entwicklungsstufe endgültig verlieren, wodurch ein neues „doppeltes“ Perfekt an die Stelle des einfachen Perfekts treten kann. Dieser Formenersatz ist besonders gut in den germanischen und romanischen Sprachen zu beobachten und liegt möglicherweise überhaupt der Entstehung von Perfektformen in den Sprachen des idg. Typs zugrunde. Zukünftige Handlungen oder Ereignisse werden normalerweise nicht neutral gesehen, sondern sie sind meist erwünscht, erwartet, erhofft, vorausgesagt oder auch befürchtet (Palmer 1986, 216 ff). Deshalb stellen sich von selbst modale Werte des grammatischen Futurs ein, so dass man oft im Zweifel sein kann, ob man eine konkrete Form als Tempus oder Modus beschreiben soll. Auf der Ebene der Ausdrucksformen entspricht diesen modalen Werten des Futurs die Bildung des grammatischen Futurs mit modalen Ausdrücken (Modalverben, Konjunktiv), das Fehlen eines reinen Futurs, wie es für das Idg. angenommen wird, und der Ansatz einer eigenen Kategorie eines Desiderativs (für das Deutsche vgl. Saltveit 1963, 16 ff). Weiters würde man nach der oben dargestellten Definition des nichtindikativischen Grundwerts erwarten, dass modale Kategorien wie der Konjunktiv keine Tempusparadigma haben. Das ist oft der Fall, doch können „perfektische“ Konjunk-
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171a. Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus im Deutschen
tive durch den Übertritt von Aspektformen ins Tempussystem immer wieder entstehen. Solche „perfektische“ Konjunktive enthalten dann ein zusätzliches Merkmal, das sie, wenn eine „Zeitenfolgeregel“ besteht (die eigentlich als Aspektkongruenzregel bezeichnet werden müsste), als obligatorische Ausdrucksform bestimmter Nebensatztypen kennzeichnet (temporaldeiktische Inzidenz nach Wunderli). Durch dieses zusätzliche Merkmal, das sich ja immer auf eine abgeschlossene und somit auch vergangene Verbalhandlung bezieht, kann in der Kombination mit dem Wert „Nicht-Urteil“ ein neues Merkmal mit Irrealis-Bedeutung als „Tempus“metapher entstehen, das wiederum ins Konjunktivsystem integriert werden kann und damit seine spezifische Irrealis-Bedeutung verliert. Schließlich kommen in der Diachronie immer wieder stilistische und textsortenspezifische Erscheinungen auf, die sich daraus ergeben, dass narrative Tempora entstehen, dass sich Unterschiede im Ausdrucksbedürfnis zwischen geschriebener und gesprochener Sprache einstellen und dass selten werdende Formen stilistische Funktionen erhalten. 1.6. Modus und Tempus als semantischmorphologische Gestalten Die morphologische Gestalt der verbalen Formen kann jedenfalls bei Sprachen des idg. Typs mit semantischen Funktionen korreliert werden. Peter Wunderli (1970, 1976) unterscheidet vier Stufen der verbalen Aktualisierung, wobei zu jeder Stufe ein Merkmal hinzukommt: 1. Infinitiv ⫺ Semantem ⫹ Angabe ›Verb‹ = Nullaktualisierung, 2. Partizip ⫺ zusätzlich: Scheidung accompli/accomplissement = Minimalaktualisierung, 3. Konjunktiv ⫺ zusätzlich: Personalgliederung = Teilaktualisierung, 4. Indikativ ⫺ zusätzlich: Tempusgliederung = Vollaktualisierung. Strukturelles Kennzeichen des Konjunktivs ist also die fehlende Tempusgliederung, sie wird als Verzicht auf die auf den sprachlichen Ausdruck der temporaldeiktischen Beziehung zur Sprecherorigo verstanden. Diese Auffassung stimmt sehr gut zur logisch-semantischen Grundfunktion des verbalen Modus: Die fehlende Festlegung auf den Wahrheitsanspruch einer Aussage wird durch die Teilaktualisierung als fehlende temporale Fixierung auf die Sprecherorigo symbolisiert. Mit diesem Ansatz ist erstmals eine allgemeine Theorie des Modus in unabhängigen und abhängigen syntaktischen Strukturen möglich: In jedem Fall
muss der Konjunktiv als teilaktualisierte verbale Gestalt eine Verbindung zur Sprecherorigo erhalten ⫺ in Hauptsätzen direkt zur Sprecherorigo (daher die modalen Nutzwerte des Wünschens und Wollens), in Nebensätzen zum übergeordneten vollaktualisierten Prädikatsverb. Daneben kann der Bezug auf die Sprecherorigo auch durch Kontext und Konsituation gegeben sein (z. B. in der Unterscheidung des Geschehens in Vordergrund und Hintergrund). Ähnlich lassen sich Infinitiv und Partizip beschreiben, deren verbale Geltung als Ergänzung der fehlenden Aktualisierungsstufen durch das übergeordnete Prädikatsverb gesehen werden kann. Aus diesem Ansatz wird auch verständlich, warum der Konjunktiv keine temporalen Werte haben kann, selbst wenn er formal auf dem grammatischen Tempus aufbaut: Entweder handelt es sich um eine rein formale Kongruenzerscheinung ohne eigenständige semantische Funktion, oder das formale Tempusmerkmal nimmt einen spezifischen nichttemporalen (modalen) Wert an. Auf diese Weise können die diachronischen Verschiebungen zwischen Modus und Tempus angemessen in einem Modell beschrieben werden.
2.
Das idg. Verbalsystem als Ausgangspunkt
Das idg. Verbalsystem, wie es sich aus den idg. Einzelsprachen rekonstruieren lässt, weist selbst schon Spuren von Veränderungen auf, so dass es sinnvoll ist, ein frühidg. System von einem spätidg. System zu unterscheiden. Nach Rix (1986) hatte das frühidg. System in der Dimension Tempus-Modus drei Kategorien, den unmarkierten Injunktiv (eine augmentlose Form mit Sekundärendungen, also ohne das in den Primärendungen vorhandene auslautende i als Aktualitätsmerkmal, den Imperativ und ein Tempus, das Rix „Parontiv“ nennt, aber funktional ein Präsens ist (mit Primärendungen, also mit aktualisierendem i). Diese drei Kategorien konnten nach Aktionsarten und anderen verbalsemantischen Inhalten abgestuft werden, wobei eine neutrale Aktionsart als Wurzelbildung durativ oder punktuell sein konnte, während die anderen Bildungen eine bestimmte morphologische Gestalt aufweisen: Intensivum (Reduplikation), Kausativum (Nasalaffix), Faktitivum (Suffix -h2-), Optativ (Suffix -yeh1-/-ih1-, möglicherweise nach Eichner 1994 zu aind. yaˆ-, idg. *yeh1- als
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Hilfsverb ‘bitten, fordern, verlangen’), Iterativum (Suffix -sk’e/o-), Desiderativum (Suffix -se/o), Fazientivum (nomina agentis oder actionis, Suffix -ye/o-), Konjunktiv (Suffix als „Themavokal“ -e/o-). Dieser Ansatz macht verständlich, dass der Konjunktiv sowohl Primär- als auch Sekundärendungen haben konnte: Mit den Primärendungen (aktualisierendes i) ergibt sich die Bedeutung „Verwirklichungserwartung“ (Prospektiv), mit den Normalendungen als Injunktiv der Voluntativ. Ausgangspunkt des thematischen Präsens war der prospektive Konjunktiv von punktuellen Wurzeln, der zum Parontiv (in herkömmlicher Terminologie: Präsens) von thematischen Sekundärwurzeln durativ uminterpretiert wurde. Daraus erklärt sich der die Homonymität von Konjunktiv und thematischem Präsens im Spätidg. Der Übergang von Frühidg. zum Spätidg. ist durch das Aufkommen (die Grammatikalisierung) einer Aspektopposition und durch die Umordnung vom Konjunktiv und Optativ aus der Dimension „Aktionsart“ in die Dimension „Tempus-Modus“ gekennzeichnet. Für den komplexiven Aspekt entstand die Form des sigmatischen Aorists (mit einem -s-, dessen Herkunft nicht geklärt ist), und in der Folge davon durch semantische Entleerung eines Teils der Aktionsartbildungen eine aktionsartneutrale kursive Aspektkategorie des Präsens. Konjunktiv und Optativ bauen im Spätidg. auf dem Primärstamm auf, werden mit allen Primäraffixen kombinierbar und treten dadurch in die Dimension Tempus⫺Modus über: Durch das Aufkommen der Aspektopposition standen nun je zwei Kategorien für den Imperativ und den Injunktiv zur Verfügung (Imp. Aorist = Verwirklichung eines neuen Sachverhalts, Imp. Präs. = Fortsetzung eines bestehenden Sachverhalts, ähnlich die Unterscheidung Prohibitiv/Inhibitiv beim Injunktiv). Diese Aspektopposition wurde nun auch beim Optativ und Konjunktiv genutzt, indem sie vom Aorist- und Präsensstamm aus gebildet wurden und damit Sekundärbildungen wurden. Jedenfalls sind für das Idg. zwei Formen der Teilaktualisierungsstufe zu rekonstruieren, wobei der Optativ zweifellos das markierte Glied darstellt. Man kann das am besten im Sinn einer inklusiven Opposition verstehen: Der Optativ enthält alle semantischen Funktionen des Konjunktivs und kann daher auch wie der Konjunktiv gebraucht werden. Als zusätzliches Merkmal kann man am besten die ausdrückliche Verneinung der Geltung des Verbalinhalts anset-
zen, woraus sich alle Nutzwerte der Irrealität ableiten lassen. Demgemäss kommt der Optativ vor allem auch in konzessiven und konditionalen Satzgefügen vor. Den Injunktiv kann man gegenüber den beiden Modi als neutrale Verbalform verstehen (dazu zusammenfassend Szemere´nyi 1989: 282 ff). Da die gemeinsame strukturelle Grundfunktion eine Formenreduktion immer wieder möglich macht, ist es verständlich, dass das jeweils neutrale Oppositionsglied zuerst abgebaut wird, wodurch die markierten Formen durch Desemantisierung um eine Stufe „nachrükken“ können. Am anderen Ende können sich dann die am stärksten markierten Formen mit Irrealisnutzwert immer wieder erneuern, indem präteritale Merkmale modal umgedeutet werden. Für die Frage einer möglichen frühen Ausgliederung des Uranatolischen ist mit dieser Rekonstruktion nichts vorausgesetzt. Im Hethit. gibt es bekanntlich weder Optativ noch Konjunktiv, und es bleibt die Frage, ob diese beiden Kategorien dort verloren gingen oder von vornherein (noch) nicht vorhanden waren, wie es Euler (1993) annimmt. Rix (1986, 20) entscheidet sich wegen des Ablauts im Optativsuffix für den Verlust des Optativs im Hethit. (ähnlich auch Strunk 1984), wobei das Fehlen eines Konjunktivsuffixes auf eine sekundäre Entstehung schließen kann. Diese Auffassung ist auch mit anderen Rekonstruktionen verträglich (z. B. Kuryłowicz 1964, Erhart 1985, Barschel 1986). Andrerseits ist es aber auch durchaus möglich, dass das Germ. bzw. seine Vorstufe den Kern der idg. Gemeinschaft früher verlassen hat und daher eine Sprachstufe repräsentiert, auf der Aorist, Imperfekt und Futur noch nicht vorhanden waren. Eine solche Ansicht würde auch mit dem soziologisch begründeten Raum-Zeit-Modell von Wolfgang Meid (1975) vereinbar sein, der mit verschiedenen Stufen der Ausdifferenzierung der idg. Sprachen rechnet und nach dem das komplexe Verbalsystem, wie wir es nach dem Griech. und Indo-Iran. rekonstruieren, auch eine Sonderentwicklung sein kann (dazu Polome´ 1985). Von den verschiedenen Futurbildungen, die zum Teil auf eine idg. Grundform zurückgehen können, ist im Germ. keine vertreten. Das germ. Präteritum geht formal auf ein idg. Perfekt (s. unten) zurück; das schwache Präteritum ist eine germ. Neuerung. Die Entwicklung vom Perfekt zum Narrativum ist in mehreren idg. Sprachen zu verschiedenen Zeiten eingetreten und entspricht einem allgemeinen Entwicklungsgesetz.
171a. Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus im Deutschen
3.
Vom Indogermanischen zum Gemeingermanischen
An formalen Kategorien sind aus dem Idg. als Tempora Präsens und Präteritum (= das idg. Perfekt), als Modi Indikativ und Konjunktiv (= der idg. Optativ), als Diathesen neben dem Aktiv nach dem Zeugnis des Got. noch ein Medium mit passivischer Funktion weitergeführt worden. Das Präsens gibt auch zukünftige Ereignisse wieder; ein grammatisches Futur entsteht erst in den germ. Einzelsprachen (mit verschiedenen Hilfsverben). Das idg. Perfekt war durch besondere Endungen, Reduplikation und wenn möglich Abtönung und Abstufung gekennzeichnet. Davon ist im Gemeingerm. die Reduplikation nur noch in Resten rekonstruierbar, während die schwachen (nicht-ablautenden) Verben ein neues „schwaches“ Präteritum bilden, dessen Herkunft allen Bemühungen zum Trotz noch nicht restlos geklärt ist. Die Aktionsarten sind mit verschiedenen Bildungen z. T. resthaft erhalten, z. T. werden sie einzelsprachlich mit Hilfe periphrastischer Umschreibungen formal neu gebildet. Die für das Spätidg. anzunehmende Kategorie des Aspekts (Aorist als Zeichen der Perfektivität/ Komplexivität gegenüber nicht-aoristischen, imperfektivischen Stammbildungen) ist im Germ. formal nicht vorhanden, obwohl es Reste von idg. Aoristformen im Germ. gibt (s. dazu Meid 1971, 12 ff). Die Antwort auf die Frage, ob es im Germ. auch die grammatische Kategorie des Aspekts gegeben hat, hängt davon ab, welche formalen und inhaltlichen Merkmale man für den Ausdruck der Perfektivität gelten lässt (als universale Kategorie gab und gibt es den Aspekt natürlich in jeder Sprachstufe, formal auf ganz unterschiedliche Weise ausgedrückt). Seit Streitberg (1891) ist es üblich, das Präfix ga- beim got. Verb als Perfektivierungszeichen zu verstehen und damit eine Aspektopposition auch für das Got. anzunehmen. Demnach wäre die Kategorie des Aspekts auch im Gemeingerm. vorhanden und ebenso in den Sprachstufen, in denen dieses Präfix noch systematisch verwendet wird, und das wäre im Deutschen bis ins 16. Jh. der Fall (Leiss 1992, 69 f.). Tatsächlich ergeben sich aber gegen eine solche Auffassung schwerwiegende Einwände. Im Got. ist mit dem Präfix ga- eine Bedeutungsänderung des Grundverbs verbunden: sitan ‘sitzen’ > gasitan ‘sich hinsetzen’, bairan ‘tragen’ > gabairan ‘bis zum
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Ende tragen, (ein Kind) austragen, gebären, standan ‘stehen’ > gastandan ‘stehen bleiben’ (zusammenfassend Szemere´nyi 1989, 332 ff). Ebenso könnte man fürs Nhd. behaupten, weil es einen morphologischen Ausdruck für den Unterschied suchen oder schreiben (durativ/kursiv) ⫺ zusammensuchen bzw. aufschreiben (perfektiv/komplexiv) gibt, läge auch hier eine grammatische Aspektopposition vor. Tatsächlich aber kann man von einer grammatischen Kategorie nur dann sinnvoll sprechen, wenn man ein endliches Formeninventar mit festen Beziehungen von Inhalt und Ausdruck feststellen kann und wenn sich die semantische Grundkategorie des Verbs in der Ableitung nicht ändert. Das ändert natürlich nichts daran, dass die meisten mit ga- präfigierten Verben tatsächlich perfektisch bzw. komplexiv sind: Solange es auch andere Präfixkomposita und nicht erweiterte Verben mit komplexivem Charakter gibt, gibt es auch keinen festen Form-Funktions-Zusammenhang und damit auch keine entsprechende formalgrammatische Kategorie. Der germ. Konjunktiv setzt formal den idg. Optativ fort: Ablautendes idg. i&e_/i_ wurde im Germ. zum Zeichen des athematischen Opt. Praet.; die Schwundstufe i_ wurde in allen Numeri analogisch durchgeführt (z. B. got. 3. Sg. beri ‘er trüge’). In den thematischen Tempora verschmolz die Schwundstufe i_ mit dem vorangehenden Themavokal zum Diphthong oi > germ. ai (z. B. got. bairai ‘er trage’). Im germ. Konjunktiv schließlich vereinigen sich die Funktionen des idg. Optativs und des Konjunktivs. Im Got. wird der Konjunktiv im Hauptsatz in Verboten, Befehlen und Wünschen und selten auch als Ausdruck der Möglichkeit verwendet, wobei der vom Präteritalstamm abgeleitete Konjunktiv in Hauptsätzen die Irrealität bezeichnet (z. B. unerfüllbarer Wunsch). Bei Geboten überwiegt in der 1. Ps. Pl. der Imperativ; der seltene Konjunktiv steht hier ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied. In Fragesätzen drückt der Konjunktiv den Zweifel aus. Diese Funktionen stimmen im Wesentlichen mit den älteren germ. Sprachen überein, so dass man annehmen kann, dass sie gemeingerm. sind. Da der Konjunktiv im Lauf der Sprachgeschichte zunehmend seine Temporalität verliert, ist es üblich, den Konjunktiv Präsens mit K1, den Konjunktiv Präteriti mit K2 abzukürzen. Weiteres zum Entstehen von Tempusformen aus Aspektkategorien s. bei Hewson 1997.
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4.
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Grundzüge der Diachronie des Modus im Deutschen
4.1. Der Konjunktiv in Hauptsätzen In Hauptsätzen sind die wichtigsten Gruppen von Nutzwerten des K nach Wunderlis Terminologie zielgerichtete Modalität (Befehl, Wunsch) und nicht-zielgerichtete Modalität (Annahme, Eventualität). Für die germ. Sprachen ist es sinnvoll, eine weitere Gruppe von Nutzwerten anzusetzen, die morphologisch besonders durch den K2 gekennzeichnet ist. Das präteritale Merkmal (ausgedrückt durch den Präteritalstamm) kann hier zwei verschiedene Funktionen haben: 1. bezeichnet es eine auf einen vergangenen Moment bezogene Vorstellung und hat damit seine gewöhnliche Tempusfunktion, 2. kann diese präteritale Situierung des Geschehens im Sinn einer Tempusmetapher als ausdrückliche Negation der Gültigkeit des Geschehens zum Sprecherzeitpunkt uminterpretiert werden und demnach zu einer eigenständigen Nutzwertgruppe der bedingten Eventualität und Irrealität führen. Im Ahd. sind beide Funktionen vorhanden: Vor allem in Ausrufesätzen steht der K2 mit Vergangenheitsbedeutung, die wir im Nhd. mit einer Umschreibung ausdrücken müssen, z. B. 2.4, 42 waz kriste scolti thaz brot! ‘Wozu wäre Christus das Brot nötig gewesen!’ Man kann annehmen, dass sich die spezifische Funktion des K2 als Zeichen der Irrealität aus der präteritalen Funktion abgeleitet hat, doch wäre das ein Vorgang, der schon vor dem Ahd. eingetreten ist. In synchronischer Sicht kann man für den K2 ein tiefensemantisches Prädikat der Negation annehmen (Wichter). Der K2 findet sich demnach besonders sowohl in Bedingungsgefügen mit Vergangenheitsbezug als auch mit Gegenwartsbezug als ausdrückliche Hervorhebung der Eventualität (NichtGültigkeit) des Geschehens, was diese Modusform in den Gebrauchsbereich des K1 rückt. Daraus resultiert die Möglichkeit, den K2 als formal deutlicheres Zeichen als Ersatzform für den K1 einzusetzen, ein Vorgang, der schon bei Otfrid zu belegen ist. Im Mhd. setzen sich diese Gebrauchsarten fort, während im Frnhd. die nicht-zielgerichtete Modalität des K1 nicht mehr vertreten ist. Demgegenüber hat der K2 im Frnhd. seine nicht-zielgerichteten Funktionen deutlich ausgebaut. Damit ist auch der nhd. Zustand im Wesentlichen erreicht.
4.2. Der Konjunktiv in Nebensätzen Die Modussetzung in Nebensätzen ist dadurch gekennzeichnet, dass zwei Faktoren unterschieden werden müssen: 1. die autonome Modussetzung wie in Hauptsätzen (auf sie wird nicht weiters eingegangen), und 2. die dependente Modussetzung in Abhängigkeit von einem übergeordneten Element, entweder vom Hauptsatzprädikat oder von einem anderen Bezugselement. Dadurch ergibt sich eine allgemeine Entwicklungsmöglichkeit: Bei dependenter Modussetzung ist der K in strukturalistischer Sicht redundant und kann daher durch den semantisch unmarkierten Indikativ ersetzt werden. Auf diese Weise wird aus dem K ein „Subjunktiv“, der auf seine Funktion als Dependenzzeichen reduziert ist. Wird der Subjunktiv dadurch redundant, dass die Dependenz durch andere syntaktisch-semantische Zeichen bereits eindeutig bezeichnet ist (Valenz des Prädikatsverbs, unterordnende Konjunktion [Subjunktion], Verbendstellung), ist mit dem Ersatz durch den Ind. die autonome Modussetzung auch in den Nebensätzen wieder hergestellt. Durch eine genaue logisch-semantische Analyse des übergeordneten Elements ist eine Voraussagemöglichkeit der Modussetzungen und ihrer Entwicklungsmöglichkeiten gegeben, die bisher freilich erst im Bereich der ahd. und mhd. Inhaltssatzgefüge (Objekt- und Subjektsätze) ausgearbeitet wurde (Schrodt 1983). 4.2.1. Der Konjunktiv in Inhaltssätzen Dependente Modussetzung ist überall dort möglich, wo das Semantem des Hauptsatzprädikats das Inhaltssatzgeschehen nicht als tatsächlich präsupponiert oder impliziert. Die wichtigste Gruppe dieser Prädikate besteht aus Verben, die dieselben semantischen Merkmale wie die Nutzwerte des K haben, also Verben der Bedeutungsgruppen Streben, Wille, Befehl, Verbot, Bitte, Rat, Erlaubnis, Geziemen (zielgerichtet) und Denken, Vermutung, Erwartung (nicht-zielgerichtet). Dazu kommen noch als eigene Gruppe die verba dicendi et sentiendi (Sagen und Denken) und nahe stehende Verben des Fragens und Schwörens. In dieser Gruppe gibt es im mhd. Sonderentwicklungen, weil sich manche verba dicendi aus anderen Verbgruppen herausbilden, so dass diese Verben in zwei Bedeutungsgruppen erscheinen. Hier ist der K im Inhaltssatz das Zeichen der verbum-dicendi-Lesart. Zu dieser Gruppe kommen noch Verben, die je nach Affirmation oder
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Negation Faktizität des Inhaltssatzgeschehens nicht festlegen: affirmiert Verben Könnens, der Fähigkeit und des Zögerns, negiert Verben des Verursachens, Zwingens und Verhinderns. Auch hier steht normalerweise im Ahd. und Mhd. der K. Der Ersatz des K durch den Ind. kommt im Mhd. vor allem dort vor, wo die dependente Modussetzung von der Modalisierung des Trägersatzverbs ausgelöst wird. Wenn also das ganze Satzgefüge modalisiert erscheint, wird im mhd. Inhaltssatz zunehmend der Ind. gebraucht. Das zeigt sich besonders deutlich bei den Verben des Verursachens und Zwingens: Bei zielgerichteter Modalität im Trägersatz steht im mhd. Inhaltssatz der Ind., wenn das Subjekt nicht personal ist. Problematisch ist die Einschätzung der konjunktivischen Inhaltssätze zu den Verben des Bewirkens; hier besteht die Möglichkeit, den K als Ausläufer eines parataktischen Stadiums zu verstehen (Schrodt 1983, 144 f.). Alle anderen Verschiebungen im Inhaltssatzmodus zwischen Ahd. und Mhd. lassen sich mit Bedeutungsänderungen der Trägersatzverben in Verbindung bringen und sind somit keine Anzeichen für Veränderungen in der Modussetzung selbst. Für die weitere Entwicklung der Modussetzung in Inhaltssätzen gibt es derzeit keine genauen Untersuchungen. Aus den vorliegenden Arbeiten kann entnommen werden, dass sich der Ind. bei den verba dicendi allmählich verbreitet, wogegen sich der K bei den Wahrnehmungsverben auch dort festsetzt, wo das Inhaltssatzgeschehen real ist (zusammenfassend Ebert 1993, 453 f.). 4.2.2. Der Konjunktiv in Verhältnissätzen (Adverbialsätzen) Der Verhältnissatztyp kann ebenso wie bestimmte Trägersatzverben strukturelle Leerstellen für den K des Nebensatzes festlegen, wobei das syntaktisch-semantische Verhältnis zum Bezugssatz von der Konjunktion zusammen mit der Valenz des Bezugssatzverbs und anderer Einbettungszeichen bestimmt ist. Auch hier sind die gleichen Entwicklungslinien wie bei den Inhaltssätzen vorhanden: Ist die Funktion des Verhältnissatzes bereits von der Konjunktion festgelegt, wird der K als Dependenzzeichen redundant und kann durch den Ind. ersetzt werden, wodurch sich die autonome Modussetzung wiederherstellt. Da es im Ahd. bei manchen Adverbialausdrücken nicht möglich ist, von der Wortart her zwischen Adverb und Subjunktion zu unterscheiden (in satzverknüpfender Funktion
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sind beide Konnektoren, erst die syntaktische Funktion erlaubt eine Differenzierung), kann der K, wie es die ältere Forschung annimmt, durchaus als Rest eines parataktischen Stadiums gelten. In diesem Fall würde die Redundanz des dependenziellen K durch das Entstehen einer eigenen Klasse von Subjunktionen bewirkt werden. Weiters leitet sich auch eine redundante Teilaktualisierung vom Entstehen spezifischer Subjunktionen ab: Wo vorher der K die adverbiale Funktion des Nebensatzes bezeichnete, hat diese Funktion die Subjunktion übernommen. Der empirische Nachweis dieser Entwicklungen ist allerdings durch den Mangel an grundlegenden Arbeiten behindert: Es fehlt sowohl eine genaue Untersuchung der logisch-semantischen Klassen von Konjunktionen als auch eine genaue Untersuchung der Diachronie aller Konjunktionen. Zudem ist ⫺ besonders im Frnhd. ⫺ auch die Materialbasis für manche Nebensatztypen unzulänglich aufbereitet. Angesichts dieser Problematik kann hier nur eine kurze Übersicht über die auffälligsten Entwicklungen, dargestellt in der traditionellen Adverbialklassifizierung, gegeben werden. Die Verteilung von K1 und K2 ist mit Ausnahme der Konditionalsätze in allen Verhältnissätzen von der Zeitenfolge bestimmt. In Temporalsätzen weisen die Subjunktionen der Vor- und Gleichzeitigkeit (Typ nachdem, bis; während) ebenfalls autonome Modussetzung auf (beim Typ bis stellt sich im Mhd. oft futurisch-prospektive Modalität ein), während die Subjunktionen der Vorzeitigkeit im Ahd. durchwegs, im Mhd. meistens teilaktualisiert sind. Erst im Frnhd. ist der K hier die seltenere Variante. Nur bei negiertem Bezugssatz steht schon im Ahd. durchwegs der Ind. (Otfrid). Mit dass eingeleitete Konsekutivsätze haben schon ab dem Ahd. autonome Modalität, doch ist der K nach negiertem Bezugssatz bis ins Mhd. fest. Exzeptivsätze (Typ: außer dass, es sei denn, dass) sind bis ins Frnhd. teilaktualisiert, nur ahd suntar hat gelegentlich den Ind. Uneingeleitete Konsekutivsätze haben im Ahd. immer den K, im Frnhd. steht auch schon der Ind. Konzessivsätze haben ebenfalls autonome Modalität (meist paralleler Modus im Haupt- und Nebensatz), nur der Typ doch hat im Ahd. auch bei realem Verhältnissatzinhalt K, im Mhd. ebenfalls, doch nimmt hier der Ind. zu (zur Diachronie vgl. Lühr 1994). Bei den konzessiven und kausalen Konnektoren ist ein Zusammenhang mit der Stellung des Adverbialsatzes für die K-Setzung ersichtlich: Bei vor-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
angestelltem Verhältnissatz muss die kataphorische, satzgrenzenübergreifende Deixis des Konnektors durch ein eindeutiges Zeichen neutralisiert werden. Bei nachgestellten Verhältnissätzen ist das nicht notwendig, daher kann dort (wie im Gotischen) der Indikativ stehen. Ähnliche Fälle gibt es beim kausalen Konnektor hwanda. Uneingeleitete Konzessivsätze haben im Frnhd. meist den K (im Ahd. auch häufig den Ind.). Konditionalsätze haben autonome (meist im Haupt- und Nebensatz parallele) Modalität. Im Mhd. bezeichnet der K2 auch schon die Potentialität (ebenso im Frnhd.), im Frnhd. wird der K1 zunehmend seltener. Finalsätze haben bis zum Frnhd. stets den K; der Ind. kommt erst sehr selten ab dem 16. Jh. vor. In den anderen Verhältnissätzen zeigt sich im Lauf der Sprachgeschichte durchwegs autonome Modussetzung. 4.2.3. Der Konjunktiv in Relativsätzen Die Prinzipien der Modussetzung in Relativsätzen (die hier in Anlehnung an die herkömmliche Terminologie als Aussage über eine nominale oder pronominale Größe des Hauptsatzes enger definiert werden als in der Duden-Grammatik 1995) sind derzeit weder diachronisch noch synchronisch ausreichend untersucht. Im Grunde kann man annehmen, dass die Modussetzung in Relativsätzen autonom ist und sich daher nicht von der in selbständigen Sätzen unterscheidet. Das trifft auch für die größte Zahl der Relativsätze im Deutschen in allen Sprachstufen zu. Dennoch ist es denkbar, dass die syntaktisch-semantische Nähe zum Bezugswort des Hauptsatzes unterschiedlich ist, so dass man selbständige (freie) von unselbständigen Relativsätzen unterscheiden kann. Zu einer solchen Unterscheidung wurden verschiedene Vorschläge gemacht, die sich in unterschiedlicher Weise an formalen Gegebenheiten orientieren (zum Ahd. vgl. besonders Wunder 1965, 323 ff.). Wunderli (1970, 420 ff.) unterscheidet determinative (attributive) und explikative (prädikative) Relativsätze, die sich im Nfrz. auch in der Satzmelodie unterscheiden: Nur der determinative Relativsatz ist in der übergeordneten Satz integriert, und nur hier kann man erwarten, dass sich der modale Stand des Hauptsatzes systematisch auf den Relativsatzmodus auswirkt. Der explikative Relativsatz ist demgegenüber eine nur syntaktisch an ein Bezugsnomen des Hauptsatzes angeschlossene eigenständige Prädikation. Da dieser Unterschied aber auch im Deutschen
formal nicht eindeutig ausgedrückt ist und die Satzmelodie als Unterscheidungsgrundlage für Korpussprachen nicht angewendet werden kann, müsste er durch Interpretation bestimmt werden, und dafür fehlen entsprechende Untersuchungen. Weiters ist es möglich, dass sich Quantoren und Determinatoren des Bezugsnomens auf die Modussetzung des (determinativen) Relativsatzes auswirken. Darauf weist Erdmanns (1874, 153 ff.) Bemerkung hin, dass bei Otfrid nach negiertem, erfragten und hypothetischen Bezugsbegriff sowie nach al regelmäßig der K gebraucht wird. Ähnlich kann man auch die durchwegs teilaktualisierten „hervorhebenden“ Relativsätze nach Wunder 1965, 381 ff. verstehen, wo eine negierte Größe des Hauptsatzes hervorgehoben wird (nhd. etwa: Es gibt niemanden, der das verstehen könnte). Dieser Satztyp scheint vom Ahd. an vorhanden zu sein (zum Frnh. vgl. Ebert 1993, 451). Mehr kann man zur Diachronie des Modus im Relativsatz derzeit nicht sagen. 4.2.4. Analytische Modalformen, Konditional, Normprobleme Schon im Ahd. treten Umschreibungen des K durch die Modalverben können, wollen, müssen, sollen, mögen und dürfen mit dem Inf. auf (im Ahd. dazu noch gitar ‘wagen’), besonders der K1 von müssen mit volitivem Nutzwert. Man kann das Fehlen der Infinitivpräposition zu (ahd. zi, mhd. ze) als Zeichen für die phraseologische Einheit dieser Fügungen verstehen. Auch anderen Verben wie sein, werden und haben (ahd. auch eigan) können modale Werte annehmen. Diese Umschreibungen werden im Lauf der Sprachgeschichte immer häufiger und können auch in Nebensätzen vorkommen (besonders in irrealen Konditionalgefügen). Aus einer Fügung werden ⫹ Infinitiv (zunächst ein Part. Präs.), die ursprünglich den Eintritt in eine Verbalaktion bezeichnet, entsteht mit dem K2 von werden eine eigene Modusform, der Konditional, die sich zunehmend durchsetzt (im Frnhd. auch als Konditional 2) und heute besonders in der gesprochenen Sprache weitgehend als Ersatzform für den synthetischen K die Regel ist (mit Ausnahme der Hilfsverben und der Modalverben). Daraus resultiert die bekannte Normproblematik im Nhd., wobei sich die Grammatiken als Instrumente der Sprachpflege ausweisen (dazu besonders Bausch 1979, dort auch die weitere Literatur zu diesem Problem). Ähnliche Normprobleme gibt es auch bei der Zeitenfolgeregel:
171a. Tempus, Aktionsart/Aspekt und Modus im Deutschen
Schon ab dem 15. Jh. gibt es Belege dafür, dass in der indirekten Rede die Zeitenfolge nicht mehr gilt (Guchmann 1981, 221), wobei es sich zeigt, dass die Befolgung dieser Regel je nach den Autoren verschieden ist ⫺ obwohl Grammatiker wie Gottsched noch bis ins 18. Jh. an Zeitenfolgeregel generell festhalten.
5.
Grundzüge der Entwicklung von Tempus und Aspekt im Deutschen
5.1. Grundlegende Beobachtungen Im Unterschied zum Modussystem, dessen kategoriale Rahmenstruktur (Indikativ, Konjunktiv, Imperativ) vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen in ihren Grundzügen erhalten bleibt, unterliegt das Tempus/ Aspekt-System des Deutschen weitreichenden formalen und kategorialen Umstrukturierungen, die in einer ersten Annäherung in folgtender Weise zu charakterisieren sind: 1) als Ausbau und Profilierung der Tempuskategorie, verbunden mit dem Übergang von einer synthetischen zu einer (dominant) analytischen Kodierung und 2) als Abbau der Aspektkategorie und Übergang zu einem Aktionsartensystem im Deutschen. Diese beiden Prozesse sind eng miteinander verwoben, sie zeigen jedoch kategorienabhängig eine jeweils eigene grammatische Charakteristik und werden deshalb im folgenden aus analytischen Gründen getrennt voneinander behandelt. Die Darstellung folgt dabei in den Abschnitten 5.2. und 5.3. zunächst weitgehend der traditionellen Problemperspektivierung, die dann in Abschnitt 5.4. unter Bezug auf aktuelle Forschungskontroversen relativiert und modifiziert wird. 5.2.
Ausbau und Profilierung der Tempuskategorie 5.2.1. Die Entwicklung im Überblick Ebenso wie die anderen älteren germanischen Sprachen verfügt auch das Althochdeutsche lediglich über zwei Tempora, ein synthetisch gebildetes Präsens und ein ebenfalls synthetisch gebildetes Präteritum, die funktional über das Merkmal [⫹/⫺ vergangen] differenziert werden. Diese beiden Formparadigmen sind unter Beibehaltung ihrer funktionalen Grundcharakteristik als absolute Tempora ⫺ zumindest in der Standardsprache ⫺ bis in die Gegenwart erhalten geblieben; neben ihnen entwickeln sich in der Folge jedoch ver-
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schiedene analytische Bildungen, die ebenfalls temporale Bezüge aufweisen und die sich ⫺ so jedenfalls die Standardannahme ⫺ bis zum Ende des 16. Jahrhunderts in das Tempussystem integrieren: 1) die Periphrasen mit haben bzw. sein ⫹ Partizip II: sie entstehen bereits im Althochdeutschen und übernehmen zum Frühneuhochdeutschen hin spezifische, ursprünglich überwiegend zum Geltungsbereich des Präteritums gehörige Funktionen, die in der traditionellen Grammatik als Perfekt bzw. als Plusquamperfekt bezeichnet werden. Dabei handelt es sich nicht um absolute (sprich auf den Sprechzeitpunkt bezogene), sondern um relative zeitliche Lokalisierungen von Sachverhalten, die in bezug auf durch den Konoder Kotext vorgegebene Betrachtzeitpunkte als vorzeitig gekennzeichnet werden. Im Fall des Plusquamperfekts liegt dieser Betrachtzeitpunkt selbst in der Vergangenheit, also vor dem Sprechzeitpunkt, während die Relationierungsleistung des Perfekts auf Betrachtzeitpunkte sowohl in der Gegenwart wie in der Zukunft bezogen sein kann. Fallen Betrachtzeit und Aktzeit zusammen, dann nähert sich die temporale Bedeutung des „relativen“ Perfekts der des „absoluten“ Präteritums. 2) die Periphrase mit werden ⫹ Infinitiv: diese Konstruktion ist wesentlich jünger als die Periphrase mit haben/sein ⫹ Partizip II. Sie entsteht im Spätmittelhochdeutschen und konkurriert dort wie auch in späteren Sprachstufen mit dem Präsens bei der Wiedergabe zukünftiger Ereignisse. Sie wird deshalb in den Standardgrammatiken des Deutschen meist als Realisierung der temporalen Kategorie des Futurs gewertet. Neuhochdeutsche Grammatiken verzeichnen darüber hinaus neben diesem absoluten Futur (Futur I) mit dem Futur II auch noch ein weiteres relatives Tempus, das durch Kombination der werden- und der haben/sein-Periphrase gebildet wird. Der Funktionswert dieser Konstruktion wird analog zu Perfekt und Plusquamperfekt gesehen: sie lokalisiert einen Sachverhalt als vorzeitig in Bezug auf einen Betrachtzeitpunkt, der seinerseits vom Sprechzeitpunkt her gesehen in der Zukunft liegt. Das in dieser Weise erweiterte Tempussystem umfaßt sechs Tempora (Präsens, Präteritum, Futur I, Perfekt, Plusquamperfekt und Futur II) mit einer funktionalen Auslegung, die in zweifacher Hinsicht über das formal ärmere Zwei-Tempus-System des Althochdeutschen hinausweist: Erstens, es ermöglicht ⫺ zumin-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
dest optional ⫺ die explizite Kennzeichnung des Funktionsbereich Zukunft, und ⫺ zweitens ⫺ es beinhaltet Möglichkeiten zur zeitlichen Staffelung von Sachverhalten auch innerhalb der Zeitbereiche, die über die deiktische Bezugnahme auf den Sprechzeitpunkt fixierbar sind. Die formale Struktur der vier neuen Tempora, die nicht via Flexion, sondern mit Hilfe von Auxiliarverben gebildet werden, verweist auf eine weitergehende sprachtypologische Umpolung im Deutschen, den Übergang von einem synthetischen zu einem analytischen Sprachbau, der in einigen nicht-schriftsprachlichen Varietäten des Deutschen im Tempussystem sogar noch weiter fortgeschritten ist. Dort sind die synthetischen Präteritalformen (des Indikativs) zum Teil bereits vollständig verloren. Das Perfekt übernimmt die Funktion des Präteritums, und es entstehen neue sogenannte „doppelte Perfektformen“ (er hat sie gesehen gehabt), die ihrerseits in der Literatur überwiegend als Ersatzformen der vom Präteritumschwund mitbetroffenen Plusquamperfektformen gedeutet werden. Die hier im Überblick beschriebenen Erweiterungen des Tempussystems vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen beruhen demnach auf drei Teilentwicklungen, der Entwicklung der Perfektperiphrase, der Entwicklung des werden-Futurs und dem Präteritumschwund, die auf der Basis der vorliegenden Literatur in folgender Weise näher zu charakterisieren sind: 5.2.2. Die Entstehung der Perfektperiphrasen Ausgangspunkt für die Entwicklung der haben/sein-Periphrase, die nicht auf das Deutsche beschränkt ist und deshalb in der Literatur z. T. auch als Lehnkonstruktion aus dem Lateinischen bewertet wurde, sind attributive bzw. prädikative Konstruktionen mit adjektivisch gebrauchten Partizip II, das ursprünglich in diesen Konstruktionen eine flexivische Kennzeichnung nach Numerus und Kasus aufweist: *er hat die Blume (als) gepflückte bzw. *er ist (ein) gekommener. Die prädikative Konstruktion mit dem Verbum substantivum ⫺ zunächst wesan, dann sein ⫺ ist allem Anschein nach die ältere. Sie findet sich bereits im Gotischen, in dem das Partizip gewöhnlich noch flektiert ist, während die Flexion des Partizips im Althochdeutschen die Ausnahme bildet. Da Adjektive im Althochdeutschen in prädikativen Konstruktionen jedoch ebenfalls häufiger un-
flektiert bleiben, ist der Verlust der Flexionskennzeichnung letztlich kein sicheres Indiz für die beginnende Grammatikalisierung dieser Verbindung, die am frühesten bei den Verben werdan und queman belegt ist und bis heute auf intransitive Verben beschränkt bleibt. Dies lässt sich zunächst damit erklären, daß die transitiven Verben noch in althochdeutscher Zeit aus attributiven Strukturen des oben aufgeführten Typus mit den Verben eigan bzw. haben eine eigene Periphrase entwickeln, die sich rasch etabliert und bereits im 11. Jahrhundert ihrerseits auf intransitive Verben übergreift. Dieser Prozess ist im Rahmen der vorhandenen Überlieferung sehr gut zu dokumentieren: Danach zeigen die ältesten althochdeutschen Belege, die Anfang des 9. Jahrhunderts zu datieren sind, wie z. B. die vielzitierte Stelle aus dem ahd. Tatian phigboum habeta sum giflanzotan in sinemo uuingarten (T 102, 2) zunächst noch wesentliche Merkmale einer attributiven Fügung. Das heißt, die Belege beschränken sich auf solche Konstellationen, bei denen nominale Akkusativobjekte vorhanden sind, mit denen die Partizipien in bezug auf Kasus und Numerus kongruieren. Die Akkusativobjekte sind dabei semantisch so beschaffen, daß sie die Rektions- und Selektionsforderungen sowohl des Verbs haben wie auch des im Partizip stehenden Verbs erfüllen. Konstruktionen wie diese ermöglichen eine syntaktische Reanalyse, bei der das Akkusativobjekt auf das Partizip bezogen wird. Gleichzeitig wird das Verb haben als Auxiliar interpretiert. Ist diese Reanalyse erst einmal vollzogen, dann löst sich die Konstruktion haben ⫹ Partizip II nach und nach von der von der attributiven Konstruktion übernommenen Strukturvorgabe, die die Existenz eines nominalen Akkusativobjekts vorsieht. Sie erscheint zunächst bei Otfrid (um 830 n. Chr.) auch bei solchen transitiven Verben, die nicht durch ein nominales Akkusativobjekt, sondern durch eine satzförmige Konstruktion komplementiert werden, und dann bei Notker (um 1050) auch bereits bei intransitiven Verben ⫺ Vorkommen, die nicht mehr auf der Basis einer attributen Deutung der Konstruktion zu erklären sind. Belege wie diese setzen Verb haben bereits auxiliarisiert ist (Zur Darstellung dieses Grammatikalisierungsprozesses im Einzelnen vgl. Grø´nvik 1986). Wie die ausführlichen Untersuchungen von Oubouzar (1974) zeigen, unterliegt die Periphrase in den folgenden Jahrhunderten jedoch noch einigen Re-
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striktionen z. B. im Bereich der Modalverben, so dass mit einer vollen Grammatikalisierung der Konstruktion nicht vor dem 16. Jahrhundert zu rechnen ist. Die Grenzlinie zwischen diesen beiden unabhängig voneinander entstandenen Periphrasen, die in der traditionellen Grammatik als Realisierungen einer temporalen Kategorie, nämlich der des Perfekts gewertet werden, verläuft seitdem relativ stabil quer durch den Bereich der intransitiven Verben. Diese Verteilung, die auch in anderen Sprachen analog zu beobachten ist, hat bis heute noch keine allgemein akzeptierte grammatische Deutung gefunden hat. Klassische Beschreibungen der haben/sein-Verteilung bei den intransitiven Verben fokussieren vorrangig auf die Abhängigkeit von der aktionalen Charakteristik des Verbalgeschehens: die haben-Periphrase findet sich vorrangig bei Intransitiva mit durativer Bedeutung (er hat geschlafen), während die sein-Periphrase auf transformative (mutative) Verben konzentriert ist, die einen Zustandswechsel (er ist eingeschlafen) zum Ausdruck bringen. Neuere Darstellungen verweisen darüber hinaus auf Zusammenhänge mit syntaktischen Eigenschaften von Verben (der Selektion des Subjektaktanten, die Passivbildung, die attributive Verwendbarkeit des Partizips Perfekt u. a.), die mit dem sogenannten Ergativparameter (Eisenberg 1989) erfasst werden. Danach markiert die sein-Periphrase eine syntaktisch definierbare Gruppe von intransitiven Verben, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sich ihr Subjekt so verhält wie das Objekt von transitiven Verben. 5.2.3. Die Entstehung des werden-Futurs Für die Entstehung der Futurperiphrase mit werden ⫹ Infinitiv, die gesichert erst in spätmittelhochdeutscher Zeit zu belegen ist, gibt es in der Literatur verschiedene Erklärungshypothesen. Diese orientieren sich größtenteils primär an der formalen und funktionalen Nähe der werden-Periphrase zu der wesentlich älteren Konstruktion werden ⫹ Partizip Präsens, die schon im Althochdeutschen zu belegen ist und die im allgemeinen ingressiv oder inchoativ (Eintritt eines Zustandes oder Beginn einer Handlung) gelesen wird. Da die aktionale Charakteristik des Verbums werden einen reinen Gegenwartsbezug ausschließt, erscheinen die Präsensformen dieser Konstruktion schon früh auch in der temporalen Funktion eines Futurs. Sie zeigen damit über einen Zeitraum von ca. zwei Jahrhun-
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derten das gleiche funktionale Profil wie die Konstruktion werden ⫹ Infinitiv, die ihrerseits bis ins 16. Jahrhundert hinein auch inchoative Bedeutung hat und in dieser Funktion häufig auch im Präteritum verwendet wird. Dabei verlagert sich der Schwerpunkt der Belege vom 14. zum 16. Jahrhundert von der Konstruktion werden ⫹ Partizip Präsens auf die Konstruktion werden ⫹ Infinitiv. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts wird die werden-Periphrase dann als Futur grammatikalisiert; damit entfallen auch die inchoativen Präteritalformen des Indikativs ⫺ die Präteritalformen des Konjunktivs dagegen bleiben erhalten: sie übernehmen in der Folge eine eigenständige Funktion im Verbalparadigma des Deutschen, die in der Mehrzahl der Grammatiken als die einer Konjunktivperiphrase beschrieben wird. Da die Formen des Partizips Präsens im Mittelhochdeutschen auch außerhalb der Verbindung mit Verbum werden einer Formreduktion unterliegen, die die morphologische Differenzierung zum Infinitiv zumindest partiell außer Kraft setzt, gehen die meisten Arbeiten zur Futurperiphrase davon aus, dass die Konstruktion werden ⫹ Infinitiv aus der Konstruktion werden ⫹ Partizip Präsens entstanden ist. Sie sehen die Periphrase werden ⫹ Infinitiv als Ergebnis einer rein lautlichen Entwicklung, in deren Verlauf die Partizipialendung -ende über die Zwischenstadien -enne und -ene zu -en reduziert wird und dadurch mit der endungslosen Form des Infinitivs zusammenfällt. Dieser Erklärungsansatz, der auf Bech (1901) zurückgeht und u. a. von Behaghel (1924) aufgegriffen wurde, wird in der Literatur als „Abschleifungstheorie“ apostrophiert. Er ist intuitiv zunächst einleuchtend, hat allerdings mindestens eine „entscheidende Schwachstelle“, auf die Leiss (1985, 250) aufmerksam macht: Die zeitliche und räumliche Distribution der werden ⫹ Infinitiv-Belege deckt sich nicht mit der räumlich-zeitlichen Ausbreitung der lautlichen Abschleifung des Partizips. Diese ist offenkundig vom Niederdeutschen ausgegangen, während werden ⫹ Infinitiv gerade dort im Vergleich zu anderen Dialektgebieten des Deutschen eher selten und auch erst relativ spät belegt ist. Gegen die Abschleifungstheorie sprechen auch die Ergebnisse von Kleiner (1925), die die Verteilung der beiden Konstruktionen, werden ⫹ Partizip Präsens und werden ⫹ Infinitiv im alemannischen Raum gründlicher untersucht hat. Kleiner kommt dabei zu ei-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
nem etwas veränderten Erklärungsansatz, der von Leiss als „Vermischungstheorie“ etikettiert wird. Danach ergibt sich die kategoriale Umdeutung des Partizips zum Infinitiv nicht erst aus der lautlichen Abschleifungen der ursprünglichen Partizipialformen, sondern sie resultiert aus formalen Äquivalenzen zwischen Partizipialform und flektiertem Infinitiv, die daher auch kategorial miteinander vermischt bzw. verwechselt werden. Der Verlust der Endung -de ist nach Kleiner nicht Auslöser, sondern Konsequenz dieser kategorialen Vermischung. Sie folgt der generellen Entwicklung des Flexionsparadigmas des Infinitivs, das in dieser Zeit nicht nur im Alemannischen im Abbau begriffen ist. Andere Grammatiker wiederum erklären die Reduktion der Partizipialendung und die Entstehung der Konstruktion werden ⫹ Infinitiv aus einer analogischen Angleichung an die semantisch verwandten Konstruktionen wollen/sollen ⫹ Infinitiv, die im Alt- und Mittelhochdeutschen ebenfalls in primär futurischen Funktionen zu belegen sind und erst nach der Etablierung der werden-Periphrase auf rein modale Funktionen beschränkt werden. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit einer autonomen Entstehung der Periphrase mit werden ⫹ Infinitiv, die von Saltveit (1962) vertreten wird. Noch einen Schritt weiter gehen die Überlegungen von Leiss (1985), die die Konstruktion werden ⫹ Infinitiv ebenfalls als eine von der älteren partizipialen Verbindung unabhängige Analogiebildung zu erklären versucht. Anders als Saltveit bezieht sich Leiss dabei jedoch nicht auf formal äquivalente und funktional verwandte Konstruktionen im Deutschen, sondern sie betrachtet die Entstehung der Futurperiphrase mit werden ⫹ Infinitiv als Produkt eines deutsch-tschechischen Sprachkontakts, d. h. als Nachbildung der slawischen Konstruktion budu ⫹ Infinitiv ⫺ eine These, die von ihr im wesentlichen mit folgenden zwei Argumenten begründet wird: 1) die tschechische Bildung ist aller Wahrscheinlichkeit nach älter als die deutsche Futurperiphrase, und 2) Untersuchungen zur dialektalen Distribution des werden-Futurs im Deutschen zeigen für die Zeit von 1450 bis 1650 eine auffällige Konzentration der werden ⫹ Infinitiv-Belege gerade in den Mundarten (Ofr., Omd., Oobd.), die an den tschechischen Sprachraum angrenzen. Diese Position hat in der Folge jedoch wenig Unterstützung gefunden.
5.2.4. Der (oberdeutsche) Präteritumschwund Wie die in der Überschrift in Klammern gesetzte Spezifikation bereits deutlich macht, handelt es sich bei dem im folgenden näher zu betrachtenden Prozeß des Präteritumschwundes ⫺ zumindest auf den ersten Blick ⫺ um eine eher lokale Erscheinung mit einem sehr deutlichen regionalen Fokus im Bereich der oberdeutschen Dialekte, die die synthetischen Präteritalformen des Indikativs bis heute nahezu vollständig verloren und funktional durch die analytischen Formen des Perfekts ersetzt haben. Erste Hinweise auf diesen Vorgang finden sich in oberdeutschen Texten des 15. Jahrhunderts, sodann deutlich verstärkt vor allem im oberdeutschen Schrifttum des 16. Jahrhunderts, wobei die Verteilung der Belege vermuten lässt, dass der Ersatz des Präteritums durch das Perfekt im mündlichen Sprachgebrauch seinen Ausgang nimmt. Folgt man den Überlegungen von Jörg (1976), so ist dabei damit zu rechnen, dass der Abbau der Präteritalformen im Mündlichen einen deutlichen Vorlauf gegenüber der Schriftlichkeit hat. Jörg legt daher den Beginn des Präteritumschwundes bereits in das 14. Jahrhundert, während ältere Arbeiten wie die von Lindgren (1957) die Erscheinung quasi parallel zu ihrem schriftlichen Auftreten in das 16. Jahrhundert datieren. Ab dem 17. Jahrhundert gehen die schriftlichen Belege in einigen Textsorten bereits wieder zurück, es entwickelt sich die noch heute für das Oberdeutsche charakteristische Opposition zwischen dialektal geprägter Mündlichkeit bzw. Perfektsetzung und standardsprachorientierter Schriftlichkeit, in der das Präteritum als Teil einer überregionalen schriftsprachlichen Norm seine Position gegenüber dem Perfekt auch im süddeutschen Raum behauptet hat. Vor dem Hintergrund dieser regionalen, zeitlichen und medialen Lokalisierung des Präteritumschwundes konzentriert sich die Suche nach möglichen Erklärungen für diese Erscheinung zunächst auf charakteristische Merkmale der Lautentwicklung in den oberdeutschen Dialekten, insbesondere auf das Phänomen der Apokopierung, das in den oberdeutschen Dialekten stärker als in anderen Mundarten des Deutschen zum Tragen kommt. Schon Reis (1891) betrachtet den eAbfall im Auslaut als den eigentlichen Auslöser des Präteritumschwundes und verweist dabei auf die Situation bei den schwachen
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Verben, deren Präteritalformen nach erfolgter Apokope in der 3. Person Sg. mit den Präsensformen zusammenfallen. Sie werden deshalb ⫺ so Reis ⫺ durch die Formen des Perfekts ersetzt. Der Ausgangspunkt des Präteritalschwundes läge demnach im Bereich der schwachen Verben; die starken Verben folgen dem Systemdruck, der durch die Veränderungen im Bereich der schwachen Verben ausgelöst wird. Diese bis heute weit verbreitete Entstehungstheorie zum Präteritumschwund, der „vor allen Dingen die Autorität Behaghels zu ihrer allgemeinen Annahme verholfen“ (Dal 1960, 2) hat, ist in der Folge insbesondere von zwei Seiten her kritisiert worden: 1) Der oberdeutsche Präteritumschwund betrifft nur die Formen des Indikativs. Die mit dem Präteritalstamm gebildeten Formen das Konjunktivs dagegen bleiben erhalten, obwohl auch sie ⫺ im Bereich der schwachen Verben seit der Endsilbenabschwächung homonym mit den Formen des Indikativ Präteritum ⫺ in gleichem Umfang mit den Indikativformen des Präsens zusammenfallen. Man kann daher mit Dal davon ausgehen, dass die distinktive Kraft des für die Präteritalbildung der schwachen Verben charakteristischen Dentalsuffixes -t auch unter den Apokopierungsbedingungen gegenüber dem Indikativ Präsens unangetastet bleibt. Es wird in den oberdeutschen Mundarten allerdings neu funktionalisiert, d. h. es mutiert vom Tempus- zum Modusmorphem ⫺ eine Funktion, in der es seinen Geltungsbereich z. B. im Bairischen mittlerweile sogar auf die starken Verben ausgedehnt hat. Folgt man Dal, dann resultiert der sogenannte Präteritumschwund nicht aus dem Formenzusammenfall innerhalb des Tempusparadigmas, sondern er steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der Formenneutralisierung zwischen Indikativ und Konjunktiv, wobei allerdings offen bleibt, warum die oberdeutschen Mundarten diesen „morphologischen Defekt“ innerhalb des synthetischen Systems gerade in dieser Weise (Umfunktionalisierung des Dentalsuffixes vom Tempus- zum Modusmorphem und Ersatz des Präteritums durch die analytische Bildung haben/sein ⫹ Partizip II) kompensieren, während andere Varietäten des Deutschen das Dentalsuffix als Präteritalmorphem erhalten und für die Konjunktivkennzeichnung auf die analytische Bildung würde ⫹ Infinitiv ausweichen. 2) Es ist ⫺ zumindest auf der Basis der bislang vorliegenden Untersuchungen ⫺ nicht
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zu belegen, dass der Präteritalschwund bei den schwachen Verben seinen Ausgang nimmt. Dieser Einwand trifft nicht nur die Apokopierungstheorie, er gilt auch für den von Dal entwickelten Deutung, da auch der dort angesprochene Formenzusammenfall innerhalb des Modussystems auf die schwachen Verben beschränkt ist. Die neuere Forschung betont daher zu Recht die Notwendigkeit eines umfassenderen Erklärungsansatzes, der die Gesamtheit der formalen und funktionalen Umstrukturierungen im Verbalkomplex vom Althochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen in Rechnung stellt. Dieser Erklärungsansatz ist bislang aber nur schwach konturiert ⫺ am deutlichsten noch bei Frei (1970), auf die andere Arbeiten Bezug nehmen. Nach Frei sind es vor allem folgende „vorerst zusammenhangslos“ erscheinenden formalen Veränderungen im Verbsystem vom Althochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen, die „dem Präteritum den Boden entzogen haben“: der Zusammenfall von Verbklassen durch Abschleifen der Endsilbenvokale, der Verlust des Gefühls für die Abhängigkeit von starkem Grundverb und faktitiven jan-Verb, die Erstarrung des prädikativen Partizips in der flexionslosen Form, die analogische Ausbreitung der perfektiven Vorsilbe gi/ga- auf alle Formen des Partizips II sowie der Verlust des Rückumlauts in der ersten Klasse der starken Verben. Diese Veränderungen sind für Frei ⫺ sie vermeidet hier bewußt eine Festlegung ⫺ „Ursache oder Ausdruck eines dauernden Aspektverlusts im Verbbereich zugunsten einer wachsenden zeitlichen Systematik“ (Frei 1970, 364), sie führen zum funktionalen Zusammenfall zwischen dem ursprünglich aspektual geprägten Perfekt und dem Präteritum, der von ihr dann als die innersprachliche Grundlage des Präteritalschwundes betrachtet wird. Frei u. a. kombinieren diese sprachinterne Analyse mit einer sprachexternen Erklärung, die den Ersatz des Präteritums durch das funktional äquivalente Perfekt mit der wachsenden Bedeutung des Bürgertums in den Städten des oberdeutschen Sprachgebietes in Verbindung bringt. Danach markiert das „von Haus aus subjektive, gegenwartsbezogene Perfekt“ eine „neue bürgerliche Erzählhaltung“, die im familiären Kreis ihren Ausgang nimmt und als Teil der bürgerlichen Kultur mit dem wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg des Bürgertums auch in die Schriftlichkeit Eingang findet.
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Nach diesem Verständnis handelt es sich bei hier betrachteten Entwicklung nicht vorrangig um einen Präteritalschwund, sondern primär um eine Funktionserweiterung der haben/sein-Periphrase, die von Dentler (1997) im einzelnen beschrieben wird. Diese Funktionserweiterung des Perfekts bleibt in der Folge nicht auf die oberdeutschen Dialekte beschränkt. Perfekt und Präteritum konkurrieren heute zumindest partiell auch im schriftsprachlichen Standard, im gesprochenen Standard ist das Perfekt als Erzähltempus auch über den süddeutschen Bereich hinaus (neben dem Präteritum) akzeptiert und verbreitet. 5.3.
Der Übergang von einem Aspekt- zu einem Aktionsartensystem 5.3.1. Gibt es ein Aspektsystem im Alt- und Mittelhochdeutschen? Die vielfach vertretene, gleichwohl strittige Annahme, das Deutsche verfüge ursprünglich neben der verbalen Kategorie des Tempus auch die verbale Kategorie des Aspekts, stützt sich vorrangig auf Vorkommen und Distribution des Präfixes ga-/gi- im Alt- und Mittelhochdeutschen, das im Anschluss an die Überlegungen von Streitberg (1891) vielfach als Perfektivierungsmarker gedeutet wird. Ausschlaggebend für diese Einordnung sind vor allem folgende zwei Beobachtungen: 1) Das Präfix ga-/gi- kann im Althochdeutschen ⫺ z. T. auch noch im Mittelhochdeutschen ⫺ allem Anschein nach relativ frei mit Verben kombiniert werden, d. h. es besteht eine systematische Opposition zwischen präfigierten und nicht-präfigierten Verbalformen, die an die Situation in den slawischen Sprachen erinnert und in dieser Form auf eine grammatische und nicht auf eine lexikalische Initiierung des ga-/gi-Präfixes hindeutet. Die einzigen erkennbaren Einschränkungen für die Setzung des Präfixes ga-/gi- betreffen einzelne Verben wie queman, treffan und findan, die bereits von der Verbbedeutung her auf eine perfektive Lesung fixiert sind. 2) Die mit ga-/gi- präfigierten Verbformen erscheinen ⫺ so jedenfalls der Tenor der Befürworter der Aspektthese ⫺ in der Regel in ganz speziellen funktionalen Kontexten, so z. B. in der Übersetzungsliteratur häufig bei der Wiedergabe lateinischer Futur-, Perfektund Plusquamperfektformen, die eine perfektive Lesung des Verbalgeschehen nahelegen. Diese zweite Beobachtung ist von der neueren Literatur verschiedentlich relativiert
bzw. in Frage gestellt worden. Zweifel bestehen zum einen an der Signifikanz der angeführten Korrelationen, zum anderen verweist die neuere Literatur auf andere gut verifizierbare Vorkommenskontexte wie negativ-generalisierende und modalisierte Sätze, die als eigenständige Anwendungsbereiche interpretiert werden. Nach diesem Verständnis ist das ga-/gi-Präfix im Althochdeutschen „nur noch am Rande ein Aktionsarten- und Aspektphänomen“ (Eroms 1989), sondern ein mehrfach funktionalisierter grammatischer Marker, dessen Einsatzsystematik bislang aber nur z. T. entschlüsselt ist. Die Diskussion über den Ansatz einer Aspektkategorie im Alt- und Mittelhochdeutschen ist in den letzten Jahren jedoch unabhängig durch Forschungsergebnisse in anderen grammatischen Teilbereichen neu stimuliert worden, und zwar zunächst durch Analysen zu der vom Neuhochdeutschen abweichenden Verteilung des werden- und sein-Passivs in den frühen Sprachstufen des Deutschen, die heute mit Blick auf die dabei sichtbare funktionale Charakteristik ebenso wie Verteilung des haben- und sein-Perfekt als ursprünglich aspektual gesteuert gedeutet wird. Neuere Arbeiten zur Grammatik des Alt- und Mittelhochdeutschen legen darüber hinaus die Vermutung nahe, dass die Kategorie des Aspekts in diesen Sprachstufen auch im Bereich der Kasussyntax zum Tragen kommt. Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist die Alternanz von Akkusativ und Genitiv bei der Kennzeichnung der Objektposition zweiwertiger Verben. Für diese Erscheinung sind in jüngerer Zeit u. a. zwei Interpretationen vorlegt worden, die beide ⫺ wenn auch in unterschiedlicher Weise ⫺ auf die verbale Kategorie des Aspekts Bezug nehmen. Nach Leiss (1991) zeigt dieser Kasuswechsel die gleiche Vorkommenscharakteristik wie in den slawischen Sprachen: Er ist beschränkt auf den Bereich der perfektiven Verben und kodiert dort die Differenz zwischen definiten (Akkusativ) und indefiniten (Genitiv) Objekten. Nach Donhauser (1989, 1998) dagegen besteht eine direkte Korrelation zwischen Kasussetzung und perfektiver (Akkusativ) bzw. imperfektiver (Genitiv) Interpretation des Verbalgeschehens. Für sie ist das Kasussystem an dieser Stelle selbst Teil des Ausdruckssystems der Kategorie Aspekt, an der sie im Alt- und im Mittelhochdeutschen mehrere morphosyntaktische Subsysteme beteiligt sieht.
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Folgt man diesen Überlegungen, dann verfügen das Alt- und das Mittelhochdeutsche zwar vielleicht nicht über ein morphologisch konsistentes Aspektsystem im Sinne der slawischen Sprachen; es finden sich aber im engeren und weiteren grammatischen Umfeld der lexikalischen Kategorie Verb insgesamt doch so viele Evidenzen für das Vorhandensein einer solchen Kategorie, dass der Ansatz einer Kategorie des Aspekt neben den Kategorien Tempus und Modus für die frühen Sprachstufen des Deutschen trotz der noch offenen Fragen nicht nur bei der Interpretation der Funktion der gi-Präfigierung derzeit insgesamt gerechtfertigt erscheint. 5.3.2. Der Aspektverlust und seine Folgen Die in 5.3.1. skizzierten Vorstellungen über Art und Umfang der grammatischen Verankerung der Aspektkategorie im Althochdeutschen haben auch Rückwirkungen auf die Rekonstruktion der historischen Entwicklung im Deutschen, die in der Literatur aber übereinstimmend dahingehend interpretiert wird, dass die Kategorie des Aspekts zum Neuhochdeutschen hin verloren geht. Die ältere Literatur fokussiert dabei auch hier vorrangig auf die Entwicklung des ga-/ gi-Präfixes, dessen grammatischer Aktionsradius zum Frühneuhochdeutschen hin massiv eingeschränkt wird. Er reduziert sich auf die Kombination mit den Partizipialformen von Verben, d. h. das ga-/gi-Präfix verliert seine eigenständigen grammatischen Funktionen und wird Teil der morphologischen Kennzeichnung des Partizips II im Deutschen ⫺ eine Funktion, in Verbindung mit der ursprüngliche Verwendungsrestriktionen in Bezug auf perfektive Verben (finden, kommen, treffen, usw.) aufgehoben werden. Darüber hinaus findet sich das ge-Präfix im Neuhochdeutschen noch als formal identifizierbarer, aber bereits lexikalisch integrierter Wortbildungsbestandteil in einzelnen Verben, der in diesen Verbindungen nicht mehr funktional interpretierbar ist. Folgt man den Überlegungen von Oubouzar (1974), die für das Alt- und Mittelhochdeutsche vom Vorhandensein einer aspektualen Opposition zwischen mit ga-/gi- präfigierten und unpräfigierten Verbalformen ausgeht, dann steht die Funktionseinschränkung des Präfixes ga-/gi- in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Ausbau des Tempussystem im Deutschen, insbesondere mit Aufbau und Grammatikalisierung der Perfektperiphrase (haben/sein ⫹ Partizip II), die von Oubouzar
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in folgender Weise gedeutet wird. Nach Oubouzar kennzeichnet die haben/sein-Periphrase den Vollzug einer Handlung bzw. eines Geschehens, sie führt zum Aufbau einer „Phasen“-Opposition (vollzogen/unvollzogen) im Deutschen, die die aus dem Germanischen überkommene Aspektopposition (perfektiv/imperfektiv) überlagert und schließlich verzichtbar macht. Dieser Umstrukturierungsprozess weg von der Kategorie Aspekt hin zu der Kategorie ‘Phase’ bzw. hin zu einem erweiterten Tempussystem betrifft zunächst das System der aktiven Verbalformen ⫺ auch der Aufbau eines (analytischen) Futurs ist aus typologischer Perspektive ein deutliches Indiz für Übergang von einem aspektualen zu einer dominant temporalen Orientierung im Verbalsystem des Deutschen ⫺ und erfasst dann auch die mit werden ⫹ Partizip II bzw. mit sein ⫹ Partizip II gebildeten Passivformen, die im Laufe des 16. Jahrhunderts ebenfalls ihre aspektuelle Charakteristik (Eintritt in einen Zustand vs. Zustand) verlieren und zum 17. Jahrhundert hin auf die anders gelagerte funktionale Opposition ‘Vorgang’ (werden ⫹ Partizip II) vs. ‘Zustand’ (sein ⫹ Partizip II) festgelegt werden. Berücksichtigt man die weitergehenden Annahmen über die grammatische Verankerung der Aspektkategorie im Althochdeutschen, dann äußert sich der Aspektverlust im Deutschen nicht nur in den genannten Umstrukturierungen im System der synthetischen und analytischen Verbalformen, sondern er bildet möglicherweise auch den Hintergrund für Veränderungen in anderen grammatischen Teilsystemen des Deutschen, so z. B. für den weitgehenden Schwund des ad-verbalen Genitivs (Donhauser 1998) und/ oder für den Ausbau des Artikelsystems im Deutschen, deren zeitliches Auftreten (14. bis 16. Jahrhundert) mit dem besprochenen Veränderungen im Bereich der Verbalkategorien einhergeht (Leiss 1994, 2000). Zeitliche Parallelen bestehen zudem zum Ausbau der Verbalpräfigierung im Deutschen, die als Kernstück des Aktionsartensystems des deutschen Gegenwartssprache zu betrachten ist. In diesem Sinne korreliert der Verlust der Aspektkategorie im Deutschen nicht nur mit dem Ausbau des Tempussystems, sondern auch mit dem Aufbau und der Ausdifferenzierung des Aktionsartensystems im Deutschen, das im Althochdeutschen erst rudimentär entwickelt ist.
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Den bislang am weitesten ausgearbeiteten Versuch zu einer Interpretation des Zusammenhangs von Tempus und Aspekt bei der Entwicklung des deutschen Verbalsystems bietet die Arbeit von Leiss (1992). Sie betrachtet Tempus und Aspekt nicht als zwei voneinander unabhängige Kategorien, sondern im Anschluss an Guillaume (1965) als verschiedene Stufen eines übergreifenden grammatisch-kategorialen Entfaltungsprozesses, bei dem der Komplexitätsgrad mit jeder neu gebildeten Kategorie zunimmt. Am Anfang dieser Stufenleiter steht die Kategorie des Aspekts, dann folgen die Kategorien Genus, Tempus und schließlich Modus, die alle Reflexe der grundständigen Aspektkategorie aufweisen. Nach Leiss dann führt der Zusammenbruch des Aspektssystems im Deutschen zunächst zu einer Isolierung von zwei aktional differenzierten Gruppen von Verben, die nach dem Verlust ihrer Aspektpartner jeweils charakteristische Ausdrucksdefizite aufweisen, die durch Herausbildung eines periphrastischen Futurs bzw. durch die Entwicklung der haben- und sein-Periphrasen in bestimmter Weise kompensiert werden. Bei den additiven Verben, die im Präsens bedingt durch ihre aktionale Charakteristik einen Gegenwartsbezug aufweisen, entfällt so die Ausdrucksmöglichkeit für den Funktionsbereich des Futurs. Entsprechend liegt hier ⫺ so Leiss ⫺ der Ausgangspunkt für die Entstehung eines periphrastischen Futurs, das dann bei der Ausweitung auf den Bereich der nonadditiven Verben sekundär auch eine modale Bedeutung entwickelt. Im Bereich der nonadditiven Verben wiederum werden aktional bedingt Präsensformen primär futurisch interpretiert. Hier entsteht durch den Zusammenbruch des Aspektsystems ein Ausdrucksdefizit im Bereich des Gegenwartsbezugs, das durch die Ausbildung analytischer Präsensformen kompensiert wird/das ebenfalls nach Kompensation verlangt. Leiss interpretiert in diesem Zusammenhang die haben- und seinPeriphrasen, deren Entwicklung bei diesen Verben einsetzt, als ein Resultativum, das durch die Fokussierung auf den Nachzustand eine gegenwartsbezogene Interpretation des Verbalgeschehens möglich macht. Bei der Ausweitung der haben-Periphrase auf additive Verben nähert sich die Bedeutung dieser Fügung der Bedeutung des Präteritums nonadditiver Verben: die haben/sein-Periphrase übernimmt temporale Funktionen und ersetzt in der Folge das Präteritum. Auch der Präteritalschwund steht somit nach dem Ver-
ständnis von Leiss in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Aspektverlust im Deutschen. 5.4. Einschränkung und Ausblick Die in den Abschnitten 5.2. und 5.3. verfolgte traditionelle Problemperspektivierung ist von der Tempusforschung in den letzten Jahren in mehrfacher Hinsicht in Frage gestellt worden. Strittig ist demnach zum einen die Zahl der im Neuhochdeutschen zur Verfügung stehenden Tempusformen. Dabei wird einerseits geltend gemacht, dass die Mehrzahl der traditionell zum Tempussystem gerechneten Formen wie z. B. das Futur, aber auch Perfekt und Plusquamperfekt mehr oder weniger deutliche nicht-temporale (modale bzw. aspektuale) Bedeutungskomponenten aufweisen, die von verschiedenen Grammatikern (z. B. Heidolph/Flämig/Motsch 1981, Engel 1988) gegenüber der temporalen Bedeutung als primär betrachtet werden. Da zudem das Präsens mit Blick u. a. auf seine Verwendung als historisches und als allgemein-gültiges Präsens verschiedentlich als eine temporal nicht-spezifizierte Verbalform gedeutet wird, bleibt für das Neuhochdeutsche in dieser reduktionistischen Sicht letztlich nur das Präteritum als einzige eindeutige Tempusform. Das Tempussystem selbst bliebe demnach vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen weitgehend konstant, die durch Grammatikalisierung der werden-, sein- und habenPeriphrasen eingetretene Erweiterung des Verbalsystems beträfe nicht primär die Kategorie des Tempus, sondern wäre den Ausdrucksbereichen der Modalität und der Aspektualität zuzurechnen. Diese reduktionistische Position ist jedoch nicht allgemein akzeptiert. Es gibt vielmehr auch gegengerichtete Vorschläge wie der von Thieroff (1992), der für das Neuhochdeutsche ein noch sehr viel reicheres Tempussystem ansetzt. Thieroff verweist dabei neben den schon traditionell als Tempora ausgewiesenen Formen auf das sogenannte doppelte Perfekt (er hat sie gesehen gehabt) und Plusquamperfekt (er hatte sie gesehen gehabt) sowie auf die würde-Umschreibung, die von ihm mit Blick auf Verwendungen wie Man spürte es in den Gliedern, dass das Wetter umschlagen würde. (Thieroff 1992, 151) als Indikativform bzw. genauer als Futur Präteritum gedeutet wird. Nach diesem Verständnis wäre der Ausbau des Tempussystems vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen noch sehr viel weitergegangen. Wir verfügen derzeit aber noch nicht über Stu-
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dien, die die Entwicklung dieser drei Formen an Texten historisch präzise nachvollziehen. Zum anderen ist ergänzend zu dem in dem ersten Abschnitt entwickelten Bild festzuhalten, dass auch das Althochdeutsche neben den synthetischen Verbalformen des Präsens und des Präteritums über zahlreiche periphrastischen Konstruktionen (sin ⫹ Partizip I, werdan ⫹ Partizip I, habeˆn ⫹ Partizip II, sin ⫹ Partizip II, werdan ⫹ Partizip II) verfügt, die ⫺ wie Eroms (1977) deutlich macht ⫺ funktional ineinander greifen und sich als Teile eines paarig organisierten, primär aspektual orientierten Verbalsystems verstehen lassen. Erweist sich diese Analyse als richtig, muss auch die Vorstellung von einer mit dem Ausbau des Tempussystems verbundenen typologischen Umpolung von einem eher synthetischen zu einem eher analytischen Sprachbau für das Verbalsystem des Deutschen deutlich relativiert bzw. zurückgewiesen werden. Hinzuweisen ist ferner auf die in den letzten Jahren u. a. im Anschluss an die tempustheoretischen Überlegungen von Klein (1994) sehr intensiv geführte Diskussion über die Kompositionalität der analytischen Tempusformen des Neuhochdeutschen. Auch hieraus ergeben sich grundlegende Fragen, die von der historischen Forschung aufgegriffen werden können: Wieweit sind die Grammatikalisierungsprozesse bei den periphrastischen Tempusformen des Deutschen tatsächlich bereits fortgeschritten? Sind synthetische und analytische Verbalformen in gleicher Weise Teile eines Systems oder haben wir es mit zwei prinzipiell voneinander zu unterscheidenden Systemen zu tun, die lediglich in einer spezifischen Weise miteinander interagieren? Das hier gezeichnete Bild der Entwicklung des Tempus- und Modussystems im Deutschen könnte sich so u. U. auch noch in einem viel grundsätzlicheren Sinne als revisionsbedürftig erweisen.
6.
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Richard Schrodt, Wien, Karin Donhauser, Berlin
172. Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der deutschen Sprache 1. 2. 3.
Sprachgeschichte und Wortbildung Die Entwicklung der Wortbildungsmöglichkeiten bei den „offenen“ Klassen der lexematischen Wörter Literatur (in Auswahl)
1.
Sprachgeschichte und Wortbildung
Nach Wilhelm von Humboldt ist die Sprache eigentlich „kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)“, die „Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen“ (1836 Humboldt 1973, 36). Daher könne man auch „den
Wortvorrat einer Sprache auf keine Weise als eine fertig daliegende Masse ansehen. Er ist […], so lange die Sprache im Munde des Volkes lebt, ein fortgehendes Erzeugnis und Wiedererzeugnis des wortbildenden Vermögens“ (ders. 99), wobei „eine mäßige Anzahl dem ganzen Wortvorrate zum Grunde liegender Wurzellaute durch Zusätze und Veränderungen auf immer bestimmtere und mehr zusammengesetzte Begriffe angewendet“ (ders. 101) werde, d. h. diese Tätigkeit ist „immer zugleich auf etwas schon Gegebenes gerichtet, nicht rein erzeugend, sondern umgestaltend“ (ders. 38), Umgestaltung „durch in-
2526
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
nere Veränderung oder äußeren Zuwachs“ (ders. 111), also Zusammensetzung oder Suffigierung ⫺ mit dem Ziel einer ökonomischen Begriffsrepräsentation. Auch im Verlaufe der dt. Sprachgeschichte lassen sich die fortdauernde Wirksamkeit und die Auswirkungen dieses ⫺ zu den grammatischen Universalien gehörenden ⫺ wortbildenden Vermögens wahrnehmen, soweit uns die überlieferten Texte mittelalterlicher oder neuzeitlicher Verfasser in den kreativen Prozeß Einblick geben, wie textrelevant gewordene Gegenstände (Erfahrenes, Empfundenes, Gedachtes) nach bestimmten Prinzipien und festliegenden oder veränderlichen Mustern benennbar und kommunizierbar gemacht worden sind. Dieser Prozeß war natürlich längst im Gange, bevor die kontinuierliche schriftliche Überlieferung des Deutschen im 8. Jahrhundert einsetzte und auch schon in den Jahrhunderten vorher, als sich das Dt. zunehmend als eigene Tradition des Sprechens vom Kreis der germ. und idg. Sprachen abzuheben begann. Es verwundert daher nicht, daß wir bereits in ahd. Texten weithin auf deutliche Ergebnisse oder zumindest Spuren von Wortbildungsprozessen stoßen, daß wir selbst unter den Einsilbern weniger Primärwörter finden als scheinbare „Primitiva“. So gibt es Ableitungen, deren ableitendes stammbildendes Element auslautgesetzlich geschwunden oder mit der Wurzel zur Silbeneinheit verschmolzen ist, ferner „verdunkelte“ Zusammensetzungen älterer Sprachperioden. Zwar zeigen die etymologischen Wörterbücher des Dt. die „Verwurzelung“ vieler Wörter im lexikalischen Bestand der sprachvergleichend rekonstruierten idg. Grundsprache, aber nur wenige Lexeme, die zum sog. Erbwortschatz des Dt. gerechnet werden, sind wirklich noch im eigentlichen Sinne als „Wurzelwörter“ (Meid 1967, 47) zu bezeichnen, d. h. als „Wurzelnomina“ oder „Wurzelverba“ ohne stammbildendes Suffix (ders. 56 ff. und 234 f.), wie z. B. ahd. fuoz oder sta¯-t (Präs. 3. Sg.). Im übrigen haben wir es weithin mit analysierbaren Ergebnissen von Wortbildungsprozessen zu tun, d. h. gemeinhin mit lexikalischen Morphemgefügen, wenn wir Wortbildung als geregelten Aufbau lexikalischer Einheiten aus Vertretern der Klasse Morphem verstehen. Zu unterscheiden sind dabei Grundmorpheme, die wort-, kompositions- oder (ableitungs)basisfähig sind, und Formationsmorpheme (Formantien), die mit Ableitungsbasen (Basis-lexemen) als Affixe (Prä- oder Suffixe) verbunden werden können. Von ent-
scheidender Wichtigkeit sind dabei zwei Fragen: ob es sich jeweils um reguläre reihenhaft oder analog vorkommende Bildungen handelt, die sich ⫺ anders als „isolierte“ Bildungen ⫺ aus der Wirksamkeit von Analogie, Wortbildungsregeln und Lautgesetzen erklären lassen, und ob es sich um Regeln handelt, die mehr oder weniger noch im Dt. aktiv und produktiv sind. Wenngleich die Hauptverfahrensweisen der Benennungsbildung aus vordeutscher Zeit überkommen sind, ist nicht anzunehmen, daß im Verlauf der dt. Sprachgeschichte die Mittel und Baumuster der Komposition und Derivation völlig gleich blieben und die Regeln in ihrer Geltung und Reichweite (Gebrauchsradius) ⫺ trotz unterschiedlicher kommunikativer Bedürfnisse heterogener Sprechergruppen ⫺ unveränderlich waren. Das Gegenteil ist wahrscheinlich und wahrzunehmen. Dies zeigt schon das Vorkommen isolierter, relikthafter Bildungen im dt. Wort- und Namenschatz. So weit sie überhaupt noch analysierbar und einem Grund- oder Formationsmorphem des Dt. zuzuordnen sind, können sie „nach Mustern und Regeln geformt sein, die zur Zeit ihrer Bildung gültig waren, welche die Zeit eines weitaus früheren Systems sein kann“ (Seebold 1975, 157). Ganz besonders gilt dies für die „bildung des pronomens und der partikeln; es ist rathsam, diese zum theil verdunkelten und einer früheren sprachniedersetzung gehörigen wörter abzusondern“ (Grimm 1878, 4; vgl. Erben 1976, 227 f.). Wer Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der dt. Sprache betrachten will, darf zwar auch den ⫺ innerhalb gewisser Grenzen fortgesetzten ⫺ Aufbau sprachökonomisch strukturierter Reihen der Funktionswörter (Pronomina bes. Indefinita, Präpositionen, Konjunktionen, Partikeln) nicht übersehen, doch wird die Wirksamkeit des „wortbildenden Vermögens“ weitaus mehr und vor allem an den Innovationen deutlich, die sich im Bestand der eigentlich „offenen“ Klassen zeigen: der „lexematischen“ Wörter. Hier kann man eher von einer regel- und mustergebundenen Kreativität sprechen und deren Veränderlichkeit beobachten, nämlich Veränderungen bei dem, was in den einzelnen Perioden der dt. Sprachgeschichte jeweils systematisch möglich zu sein scheint und als „normal“, „wohlgeformt“ gelten kann. Da uns für die zurückliegende Zeit die jeweils erforderliche „synchrone etymologische Kompetenz“ (Augst 1975, 156 ff.) des zeitgenössischen Sprachteil-
172. Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der deutschen Sprache
habers fehlt, ist die Anlage und kritische Nutzung repräsentativer Textkorpora unumgänglich (vgl. Bergmann 1990, 85 f. und Müller 1993 b, 408 ff.). Sie können eine Grundlage für das Erkennen periodenspezifischer Regularitäten und Restriktionen bilden sowie für statistische Aussagen darüber. An der Anzahl der jeweils usuell gewordenen durchsichtigen Wortbildungskonstruktionen, die einem bestimmten Muster entsprechen, sowie an der Häufigkeit oder Seltenheit anschließender okkasioneller Bildungen zu einfachen oder schon komplexen Basislexemen läßt sich dann ermessen, welche Reichweite bestimmte Wortbildungsregeln jeweils haben und welche Bildungsmöglichkeiten zu einer bestimmten Zeit als produktiv anzusehen sind. Auch ließe sich das jeweilige Ausmaß schon bestehender Konvergenzen oder Konkurrenzen zwischen funktionsähnlichen Morphemen erkennen, die wie z. B. -chen und -lein im gleichen Wortbildungsparadigma (Funktionsstand) zusammenwirken. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß die mögliche Textgrundlage jeweils nicht nur die genaue semantisch-syntaktische Analyse der Wortbildungskonstruktionen erlaubt, sondern auch die reguläre Zuordnung der Derivate zu ihren Basislexemen; diese sollten, wenn schon nicht im gleichen Text, so in der Regel doch in einem Text von räumlich-zeitlicher Nähe nachweisbar sein, und zwar „in der für den angenommenen Motivationsbezug erforderlichen Bedeutung“ (Erben 1985, 2). „Die Erarbeitung einer Gesamtdarstellung der Wortbildung des Deutschen auf historisch-synchroner Basis, die die traditionellen Handbücher ergänzen kann, bleibt wohl noch länger ein Fernziel“ (Müller 1993 b, 419), doch lassen sich die Grundzüge der Entwicklung, epochenübergreifende Entwicklungstendenzen annähernd charakterisieren (vgl. Erben 2000, 125 ff.). Allgemein kann mit Jacob Grimm festgestellt werden: „Die wurzelreicheste älteste sprache erfreut sich lebendiger namen und wörter, für deren nothwendige und geheime beziehungen ihr eine fülle von ablauten und flexionen zu gebote stehen. Die spätere, indem sie wurzeln aufgibt, ablaute fahren läßt, strebt durch förderung der ableitungen und zusammensetzungen beweglichkeit und deutlichkeit des ganzen zu vervollkommnen“ (Grimm 1878, 3).
Der Ausbau des Wortbildungssystems erweitert die Möglichkeiten des Wortklassenwechsels und damit die syntaktischen Einsatzmöglichkeiten der Grundmorpheme, welche die
2527
kommunikationswichtigen Sachbereiche in allen semantisch-syntaktischen Aufgliederungen sprachlich erschließen helfen. Um derivations- und kompositionsaktive Grundmorpheme („Kernwörter“) werden mehr oder weniger große Wortfamilien aufgebaut, deren wortklassenverschiedene Glieder klar motivierte Bildungen sind. An die Stelle des Wurzelreichtums, der Heteronymie einer Vielzahl etymologisch verschiedener Wörter, deren Herkunft und Benennungsstruktur vom Sprecher nicht mehr durchschaut wird, treten durch das ökonomische Verfahren der regulären Ausfächerung von Grundmorphemen zunehmend Reihen durchsichtiger Bildungen, die motiviert, d. h. durch Motivationsbeziehungen mit anderen lexikalischen Einheiten verbunden sind. Unbestritten ist natürlich, daß der Wortschatzausbau nicht nur durch Wortbildung erfolgt, sondern auch durch Wortentlehnung, durch Übernahme von Lehnwörtern. Doch darf nicht übersehen werden, daß diese Integration von Lexemen und von Lehnwortstämmen mit oft deutlich ausgeprägten Lehnpräfixen und Lehnsuffixen, die auch produktive Wortbildungsmittel des Dt. werden konnten, sehr bald, vor allem in der neueren dt. Sprachgeschichte zur Entstehung der „Lehn- Wortbildung“ geführt hat (vgl. Kirkness 1987, 9; von Polenz 1991, 47, 97, 222 und Erben 2000, 52, 131 sowie 141 f.). Im (west)europ. Sprachverbund erfährt die dt. Sprache ⫺ besonders als Bildungs- und Wissenschaftssprache eine gewisse Internationalisierung des Wortschatzes, den Aufbau eines Bestands an lexikalischen Internationalismen, der genauere Untersuchung verdient. Es gibt also bedeutende Veränderungen in der Strukturierung des dt. Wortschatzes, die mehr oder weniger auch die Wortbildung betreffen. Im folgenden sollen die wichtigsten Veränderungen in den Mitteln und Mustern der dt. Wortbildung, d. h. Änderungen im Affixbestand und in den derivationellen sowie kompositionellen Gestaltungsmöglichkeiten der wortklassenspezifischen Wortbildungsmuster umrissen werden. Im Blick sind vor allem langfristige, über die einzelnen Perioden der dt. Sprachgeschichte hinaus wirksame Entwicklungstendenzen. Bemerkenswert ist, daß sich die Haupttendenz, zunehmend komplexe Wörter als motivierte Wortbildungskonstruktionen aufzubauen, mit anderen Tendenzen verbindet, die sich besonders in der schriftund standardsprachlichen Entwicklung zeigen: Die Tendenz zur sprachökonomischen
2528
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Univerbierung von Benennungen, zur deutlichen morphologischen Ausprägung und Differenzierung der Wortklassen (vgl. Erben 1965, 146 ff.), zur formalen Profilierung der kommunikationsrelevanten Derivationskategorien durch entsprechenden Ausbau eines standardisierten Affixbestandes und Abbau der im älteren Dt. häufigen Affixvarianten. Man darf wohl annehmen, daß die „Grundzüge des Wortbildungssystems der neuhochdeutschen Literatursprache“ mehr oder weniger schon in frnhd. Zeit ausgeprägt worden sind (vgl. Fleischer 1986, 29), mit einer größeren Bandbreite an Bildungsweisen als in der gesprochenen Sprache.
2.
Die Entwicklung der Wortbildungsmöglichkeiten bei den „offenen“ Klassen der lexematischen Wörter
2.1. Beim Substantiv Zu dieser am meisten ausgebauten Wortklasse gehört die Hauptmasse unseres Wortschatzes. Hier vor allem erreichen die überkommenen Hauptverfahrensweisen der Benennungsbildung, Komposition und Derivation, die größte Vielfalt der Baumuster und wortbildenden Morpheme. Sie ist das sprachgeschichtliche Ergebnis des Strebens nach zureichenden lexikalischen Benennungseinheiten, das sich auch in der Strukturierung des dt. Namenschatzes auswirkt, der Personen-, Orts-, Hof-, Flur- und Gewässernamen ⫺ trotz einer gewissen „Sonderstellung der Namen innerhalb der Lexik und im historischgrammatischen System“ (Sonderegger 1985, 2047). 2.1.1. Komposition Während frühe Komposita oft sprechsprachlich verschliffen und in ihrer Motivationsstruktur verdunkelt werden, kommt es andererseits schon im Ahd. zu einer beachtlichen Ausweitung des Bestands an zusammengesetzten Substantiven. Manches, das zunächst syntaktisch umschrieben wurde, wird dann kompositionell benennbar: Thaz spil, thaz se´iton fuarent (‘Saiten hervorbringen’; Otfrid V, 23, 201); so also se´itspil ist (Notker-Glossator 2, 388, 2). Sogar mehrgliedrige Zusammensetzungen, deren Konstituenten selbst wieder Komposita oder Derivata sind, finden sich (z. B. werolt-reht-wı¯son ‘Weltrechtskundige’ oder wı¯h-rouh-brunst ‘Weihrauchopfer’), wenngleich sie im Ahd. und Mhd. noch vergleichsweise selten sind, und erst im Nhd. ⫺
besonders in fach- und verwaltungssprachlichen Texten ⫺ einen größeren Anteil gewinnen (vgl. Grimm 1978, 902 ff. und Ortner u. a. 1991, 9 ff.), etwas eingeschränkt durch Abkürzungs- und Klammerformen: Last(kraft)-wagen, Lkw. Beim zweigliedrigen Haupttypus zeigen sich Veränderungen in zweifacher Hinsicht. Sie betreffen vor allem die Form des Erst-Gliedes. Es erscheint zunächst in der reinen Stamm form („eigentliche/echte“ Komposition), wenngleich oft durch Analogie oder lautgesetzlich verändert, dann ⫺ vor allem im Mhd. und Nhd. ⫺ zunehmend in einer Kompositionsform, die zu einer Kasusform stimmt, besonders zum Genitiv Singular oder Plural. Das Muster dieser „uneigentlichen/unechten“ Komposition wurde aus Univerbierung syntaktischer Wortgruppen wie gotes hu¯s (nach lat. domus dei) gewonnen, wobei die auftretenden Flexive e, (e)n, (e)s, ens, er in analoger Ausweitung ihres Gebrauchs bei Umbildungen alter Komposita (giburti-tag > Geburt-s-tag) oder bei Neubildungen (Wohnungstür) schließlich den Status von flexionskongruenten oder flexionsfremden Fugenelementen, d. h. von „Interfixen“ (Dressler 1984, 36 f.) zur Markierung der Kompositionsfuge, erlangt haben (vgl. Erben 2000, 63 f. und 134; Pavlov 1983, 79 ff. sowie Ortner u. a. 1991, 68⫺111). Erweiterte Möglichkeiten der Zusammensetzung ergaben sich daraus, daß nicht nur Substantive oder Substantivierungen das Erstglied eines Determinativkompositums bilden konnten, sondern auch Grundmorpheme anderer Wortklassen kompositionsfähig wurden. Dies gilt am ehesten für suffixlose Adjektive, die nicht selten ein lautgleiches Substantiv neben sich hatten. Doch wurde z. T. schon im frühmittelalterlichen Deutsch auch die Stammform der Verben für nominale Funktionen verfügbar (ahd. scenki-faz ‘Gefäß zum Einschenken’, melc-faz ‘Melkfaß’). Erleichtert wurde diese Kombinationserweiterung durch das vermeintliche Muster solcher Komposita, deren Erstglied nominal, aber auch verbal aufgefaßt werden konnte (z. B. sla¯f-kamara, scelt-wort). Auch die Möglichkeit, adverbiale oder präpositionale Partikeln als determinierendes Erstglied vor ein Substantiv zu setzen, das nicht von einem schon partikelhaltigen Verb oder Verbaladjektiv abgeleitet ist, wird ⫺ z. T. unter fremdsprachlichem Einfluß ⫺ früh genutzt (vgl. z. B. u¯f-himil, ab-grunt, fore-zeihhen), doch wird sie im neueren Dt. erheblich ausgeweitet (vgl. Auf-wind, Außen-welt, Links-Partei, Jetzt-
172. Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der deutschen Sprache
zeit). Die Ausweitung betrifft vor allem auch das Üblichwerden von „Klassifizierungsmodifikatoren“ (vgl. Beinahe-Katastrophe, Ortner u. a. 1991, 693 ff.), in geringerem Ausmaß die ⫺ von fremdsprachlichen Mustern angeregte ⫺ Entwicklung von „präpositionalen Rektionskomposita“ (Lühr 1989, 414), besonders des temporalen Typs: Zwischen-eiszeit ‘die Zeit zwischen den Eiszeiten’, Vor-mittag ‘die Zeit vor dem Mittag’. Im Unterschied zu ähnlichen Bildungen des Typus Nach-sommer ‘der Sommer nach dem Sommer’, Vor-stadt ‘die Stadt vor der Stadt’, bei denen „die Denotate des externen und internen Arguments gleichartig sind und unter einer gemeinsamen Extension … vereint werden können“ (Lühr 1989, 415), ist das bei dieser Variante nicht möglich, d. h. das kompositionell Bezeichnete ist nicht in dem Begriff des Grundworts enthalten. Es vollziehen sich also auch Änderungen semantischer Art, welche die syntagma-internen oder -externen Beziehungen betreffen können. Letzteres spielt eine Rolle bei den „exozentrischen“ Komposita verschiedener Bauformen (vgl. Meid 1967, 30), die hochsprachlich kaum produktiv, aber sozio-linguistisch interessant sind, ebenso wie der abweichende ⫺ vielleicht schon zur Derivation zu rechnende Typus der besonders im nachklassischen Mhd. und im Frnhd. aufkommenden „Satznamen“, die auch namengeschichtlich, für die Geschichte entsprechender Bei- und Familiennamen interessant sind (vgl. Schützeichel 1993, 379 ff.): Vegesac (zu fegen ‘leeren’), Preisendanz (zu preisen), Huschinbett, Kehrein (abkürzend zu ins Wirtshaus einkehren). Elliptizität ist freilich ein Merkmal, das mehr oder weniger stets mit den abkürzend nennenden Wortbildungskonstruktionen verbunden ist. So kommt in ahd., mhd. gast-hu¯s nicht zum Ausdruck, daß es ein Beherbergungsbetrieb ist, und daß der Wirt eines solchen Hauses in der Regel bereit steht, auch mehrere Gäste zu bewirten, beherbergen, also über Nacht aufzunehmen. Ahd. melc-faz nennt weder den handelnden Menschen, noch das vom Melken betroffene Tier und auch nicht die dadurch produzierte Milch, die in das Gefäß gemolken werden kann. Es geht bei solchen Wortbildungen mehr oder weniger um abkürzendes Nennen durch Sprachformen von einer zweckmäßigen Ungenauigkeit, wobei Sprach- und Sachwissen ebenso wie ko(n)-textuelle Hilfen es gemeinhin nicht zu Mißverständnissen kommen lassen. Konventionell bevorzugten Benennungsweisen entspricht eine Reihe spezi-
2529
eller Relations- oder Konstruktionsbedeutungen, die sich bei der nennenden Erfassung von Größen besonders bewährt haben und das Bilden sowie Verstehen weiterer Bildungen erleichtern (vgl. Erben 2000, 67 f.). Dies für jede Periode der dt. Sprachgeschichte mitsamt den quantitativen und qualitativen Veränderungen genauer herauszuarbeiten ist Aufgabe weiterer Forschung. Beim Typus [Verbstamm ⫹ Substantiv] Sb dominiert anscheinend zunächst die Kennzeichnung einer Größe nach der Verwendung (instrumentaler Typus). Weitere Subkategorisierungen werden nach ahd., mhd. Ansätzen erst im Nhd. reihenhaft faßbar (vgl. Kienpointner 1985, 323⫺329). Beim Typus [Adjektiv ⫹ Substantiv] Sb werden im neueren Dt. als Erstglied weniger wertende als artkennzeichnende Adjektive bevorzugt und als Zweitglied eher Sach- als Personenbezeichnungen, um benannte Dinge als Vertreter von Subklassen kategorisierend abzuheben (vgl. Erben 1987, 368 f. und 2000, 43 f.). Allerdings können fachsprachlich dann auch Superlative als Erstglied eingesetzt werden (neben Kleinwagen auch Kleinst-wagen, aber neben Bestzeit nicht *Gut-zeit, sondern gute Zeit). So ist das seit alters beliebte Verfahren, Benennungsstrukturen durch Komposition zu bilden, in einer ganzen Reihe von Baumustern produktiv geworden. Dabei werden im Nhd. zunehmend auch Fremdmorpheme eingesetzt, die nicht alle wortfähig, aber basisoder kompositionsgliedfähige Einheiten (Konfixe) sind: Transport-problem, Rangierbahnhof, Elektr-o-motor (elektr-isch/durch Elektr-izität angetriebener Motor), Quasisouveränität. Eine umfassende geschichtliche Untersuchung solcher Lehnwortbildungen, die am Auf- und Ausbau der nhd. Standardsprache sowie der neuzeitlichen Fachwortschätze einen wichtigen Anteil gewonnen haben, liegt noch nicht vor. Ebenso fehlt z. B. eine Studie, die klärt, seit wann in bestimmten Sprechstilen und Textarten Wortgruppen oder Sätze als Erstglied einer Komposition eingesetzt werden (vgl. Ortner u. a. 1991, 43⫺ 49). Ein Ansatz dazu findet sich schon in spätahd. Bildungen wie zwei-elne-mez ‘Maß/ Länge von zwei Ellen’ (nach lat. bicubitum, vgl. Notker 1, 417, 18 f.). 2.1.2. Derivation Während die Zusammensetzung im wesentlichen zur semantischen Modifikation substantivischer „Primärwörter“ dient, ermöglicht die Ableitung außer der semantisch-syntakti-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
schen Modifikation von Basissubstantiven auch und vor allem die Transposition in die Wortklasse des Substantivs, d. h. eine Umkategorisierung. Substantivierung bedeutet nicht nur einen grammatischen Unterschied, sondern in der Regel auch eine typisierende Erfassung der Wirklichkeit (des Denotats) auf einer anderen Abstraktionsstufe, wobei im einzelnen eine Reihe onomasiologischer Kategorien ins Spiel kommen und in Nomina agentis, actionis, qualitatis etc. ausgeprägt werden. „Das Derivat fixiert einen kategorialen Begriff von großer Allgemeinheit, während durch die lexikalische Bedeutung des Grundwortes im Kompositum ein Begriff mit einer größeren Anzahl spezifischer Merkmale erfaßt wird“ (Barz, 1988, 22). Zur Derivation stehen schon im frühmittelalterlichen Dt. eine stattliche Reihe von Bildungsmitteln und -mustern zur Verfügung. Manche, z. B. die Deminutivbildungen, spielen in den Texten zunächst nur eine geringe Rolle und sind erst später reich vertreten ⫺ in mehreren Erweiterungsformen (vgl. Henzen, 1965, 144 ff.). Andere, besonders die Bildungen von Abstrakta, werden vielfältig genutzt und machen einen erheblichen Teil der ahd. Neubildungen aus, die oft Lehnprägungen nach lat. Vorbildern sind. Diese lassen erkennen, welche Bildungsmittel am ehesten zu dieser Zeit als produktiv angesehen werden können. So scheinen unter den Lehnbildungen der ahd. Tatianübersetzung, die Nomina actionis sind, „keine Ableitungen mit -t auf, wohl aber fünfzehn mit -unga“ (Wolf 1987, 318), z. B. lo¯sunga (lat. redemptio), erth-bib-unga (lat. terrae motus), neben althergebrachten Bildungen wie far-t (zu faran), fluh-t (zu fliohan) oder Ableitungen, die ohne erkennbares Suffix an eine Ablautstufe starker Verben anschließen, wie sla¯f oder sang. Die Thematisierung des Prädikats, die Nominalisierung einer verbalen Aussage durch ein Verbalabstraktum, ist also keine Neuerung des Dt., wohl aber die Entwicklung von -ung zum produktivsten Suffix, das Verbalabstrakta auch zu schwachen (nicht primären) Verben bilden hilft, zeitweilig in Konkurrenz mit anderen Ableitungsmitteln (vgl. ahd. salb-unga neben salb-ida, zu salb-o¯n ‘mit Salbe bestreichen’), die schon im Mhd. nicht mehr produktiv sind (vgl. Dittmer 1987, 304 und 1989, 55 f.). Es gibt also erhebliche Veränderungen in der Besetzung und Produktivität der einzelnen Wortbildungsparadigmen (Funktionsstände), deren Aus- und Aufbau nur z. T. in zureichenden Untersuchungen dargestellt worden ist. Zwischen Kluges Ver-
such einer semantisch orientierten „nominalen Stammbildungslehre der altgermanischen Dialekte“ (1926) und Wellmanns Beschreibung der nhd. Funktionsstände des Substantivs (1975) fehlen nicht wenige Zwischenglieder; zu den Funktionsklassen der SubstantivDerivation in den Schriften Albrecht Dürers vgl. jetzt Müller 1993 a. Bei den Nomina actionis ⫺ und zum Teil auch bei anderen Funktionsständen ⫺ ist z. B. die Geschichte der deverbalen Rückbildungen (Nomina postverbalia) im Deutschen noch nicht zureichend beschrieben (vgl. Wissmann 1975; Tiefenbach 1984). Nicht wenige substantivische Vorgangsbezeichnungen, die als vermeintliche Ableitungsbasen nebenstehender Verben erscheinen, erweisen sich bei genauerer Analyse als deverbale Rückbildungen von diesen Verben. So ist ahd. kouf von koufen abgeleitet, das seinerseits wohl auf lat. caupo(nari) zurückzuführen ist, d. h. es werden Verbalabstrakta ohne zusätzliches Suffix nicht nur zu starken Verben gebildet, z. B. ahd. louf(an), sondern gegebenenfalls treten sie „analogisch auch zu den schwachen Verben“ (Meid 1967, 59), früh auch zu partikel- oder präfixhaltigen Verben (ahd. urteil zu ir-teilen, mhd. underriht zu under-rihten, beriht zu be-rihten u. ä.), wobei z. T. eine -ung-Bildung konkurriert (vgl. Erben 2000, 95 f.) oder semantisch abweichend üblich wird (vgl. Versuch/ Versuch-ung, Betracht/Betrachtung). Jedenfalls besteht im Verlauf der dt. Sprachgeschichte eine Tendenz, verbale Basen paradigmatisch umzusetzen und auch nominal verfügbar zu machen. Außerdem erhält bei den Nomina actionis seit ahd. Zeit auch der substantivierte Infinitiv, die „neutrale (e)n-Ableitung“ (Sandberg 1976, 8), einen gewissen Anteil an diesem Wortbildungsparadigma; vgl. z. B. bei Otfrid thaz salbo¯n, drinkan, ezzan, sla¯fan, sceltan, weino¯n, lesan und Nominalisierungen wie sı¯nes bluetes rinnan (III, 25, 36). Dies weitet sich im Mhd. und Nhd. noch aus, so daß nicht nur von den imperfektiven Simplizia, sondern von allen, auch reflexiven Verben substantivische Vorgangsbezeichnungen gebildet werden können. Eine Verstärkung dieses Funktionsstandes ergibt sich im Nhd. dann weiterhin durch die nur in großen Zügen bekannte Integration von Lehnsuffixen aus dem Lateinischen bzw. Französischen (-ation/-ion, -atur/ -ur, -age, -ement), die Verbalabstrakta zu Verben auf -ieren ermöglichen. Eine echte Bereicherung ist ferner die relativ frühe Einbürgerung von frz. -(er)ie in der mhd./frnhd. Lautform -(er)ı¯e/-(er)ei (vgl. Öhmann 1973, 412 ff.), das ⫺ in Ergänzung des Typus Ge-lauf-e, Ge-bell-(e) (vgl. Erben 2000, 47 f.) ⫺ die Möglichkeit bietet, vor allem zu intransitiven Verben, die menschliche Verhaltensweisen kennzeichnen, frequentativ-pejorative Vorgangsbezeichnungen zu bilden (z. B. Lauf-erei, Schön-rederei, Blödel-ei).
Im Funktionsstand der Nomina agentis ist der Ausbau mit Hilfe von Lehnsuffixen noch
172. Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der deutschen Sprache
beachtlicher. Hier ist sogar das früh aus dem Lat. übernommene denominative und dann vor allem deverbative „Täterbezeichnungen“ bildende Morphem -ari(us) zum systemwichtigsten und produktivsten Suffix geworden: ahd. a¯ri/-ari, mhd. -aere, nhd. -er, woneben ⫺ in Anschluß an Basen auf -en/-l (z. B. wagn-er, sattl-er) ⫺ die Erweiterungsformen -ner/-ler besonders zur Bildung denominativer Personenbezeichnungen aufkommen. Das Suffix -er, das seit dem späten Ahd. auch zur suffixalen Ableitung syntagmatischer Basen dient (vgl. spätahd. troum-sceid-ere ‘Traumdeuter’, mhd. liep-hab-er, nhd. Besser-wisser), löst alte undeutlich gewordene Bildungsmittel ab, die nur resthaft erhalten sind (z. B. Fürsprech neben Fürsprech-er, vgl. Erben 2000, 142⫺146 und Bauer 1992, 195⫺199). Es gibt also das Phänomen der Suffixerneuerung bei annähernd gleichbleibender Funktion, wenngleich bei Lehnsuffixen die Geltung im System der Ausgangssprache verändert werden kann. Wie ältere Derivationsmittel der Nomina agentis kann -er dann auch zur Bildung von Nomina instrumenti dienen: (Wagen-)Heb-er (neben dem älteren Typus Heb-el). Anders als das Nomina agentis bildende -er1 kann -er2, das ältere Bildungsweisen für Instrumentalia zunehmend ersetzt, natürlich nicht mit dem Movierungsmorphem -in(na) verbunden werden. Diese Affixkoppelung tritt anstelle der wenig deutlichen Femininvariante des Lehnsuffixes -a¯rra/-ara) und gewinnt mit der zunehmenden Bedeutung der Frau in Beruf und Gesellschaft der Neuzeit besondere Bedeutung. Im übrigen werden im (Früh)Nhd. weitere Lehnsuffixe integriert, die neben der im frühen Nhd. anwachsenden Reihe der Verben auf -ieren die zugehörigen Nomina agentis ausprägen helfen: -(at)or, -ent/-ant, -eur, -ist (vgl. Wellmann 1975, 350⫺356). Außer der auch sonst bemerkenswerten Morphematisierung fremdsprachiger Elemente (vgl. das nhd. Lehnsuffix -ismus und Lehnpräfixe wie Anti-, Ex-, Ko(n)-, Super-, Vize-) ist ein anderer sprachgeschichtlicher Vorgang von Bedeutung: die Grammatikalisierung bevorzugter Kompositionsglieder zu Affixen. Er ist gerade im Bereich der Substantivderivation in älterer wie neuerer Zeit vielfältig zu beobachten. Hervorzuheben ist vor allem der im frühen Mittelalter beginnende Entstehungsprozeß von drei „Kompositionssuffixen“ (Meid 1967, 218 ff.) aus den Substantiven heit, scaf(t) und tuom, die zu-
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nehmend als Zweitglieder von Zusammensetzungen gebraucht werden und schon im Mhd. nur noch selten als selbständige Substantive belegt sind (vgl. Erben 2000, 137 ff.; B. Meineke 1991, 33 und 117 f. sowie E. Meineke 1994, 501 ff.). Im nhd. Wortbildungssystem haben -heit (Erweiterungsvarianten: -keit/-igkeit < mhd. -ec-heit), schaft und -tum dann endgültig den Status von Affixen erlangt, die in unterschiedlicher Funktion und Produktivität desubstantivische oder deadjektivische/departizipiale Ableitungen bilden helfen (vgl. Wellmann 1975, 72 f., 90 f. und 92 f.). Von grundsätzlicher Bedeutung ist, daß auch hier ältere, weniger deutliche Bildungsweisen verdrängt worden sind (vgl. Öhmann 1921, 54 und 1976, 323 ff.), und daß die Verwendung der Ableitungen mit -heit, -schaft und -tum z. T. weit über den Gebrauchsradius älterer Nominalabstrakta hinausreicht. Bemerkenswert ist u. a., daß alle drei Suffixe auch zur Ausprägung von personalen Kollektivbegriffen herangezogen werden (vgl. Christen-heit, Geistlich-keit; Arbeiter-schaft, Bürger-tum), was für -schaft geradezu zur Hauptfunktion geworden ist (schaft1, vgl. Wellmann 1975, 90 f. und 161 ff.). Sie ist heute stärker vertreten als der Typus Kanzler-schaft (‘das Kanzler-Sein’, -schaft2). Auch Funktionserweiterungen, systematisch entwickelte Sekundärverwendungen von Wortbildungsstrukturen anderer Primärfunktionen (Wortbildungsbedeutungen) verdienen Beachtung und genauere Untersuchung. Daß auch in der neueren Sprachgeschichte noch „Kompositionssuffixe“ gewonnen werden können, zeigt z. B. die Entwicklung von -werk, z. T. auch von anderen Substantiven wie -zeug, -gut und -wesen, die mehr oder weniger zur Bildung kollektiver Sachbegriffe herangezogen werden (vgl. Erben 1959, 224 ff.; Wellmann 1969 und 1975, 165 ff., 182 f.). Eine Tendenz zur Herausbildung von „Kompositionspräfixen“ zeigt sich im Bereich der nhd. Augmentativbildungen (Riesenerfolg, Spitzen-/Super-Leistung u. ä., vgl. Wellmann 1975, 135⫺160). 2.2. Beim Adjektiv In der Entwicklung der Flexion wie der Wortbildung besteht seit germ. und frühdt. Zeit die Tendenz, die Wortklasse der Adjektive von den substantivischen Nomina abzuheben (vgl. Wilmanns 1930, 409 und Erben 1965, 148 ff.). Neben weitgehenden Ähnlichkeiten treten also Spezifika in Erscheinung.
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
2.2.1. Komposition Die Häufigkeit sowie die formale und semantische Vielfalt der Kompositionsmuster ist geringer als beim Substantiv (vgl. 2.2.1.), wenngleich die kompositionellen Haupttypen, die als Erstglied (Bestimmungsglied) ein Substantiv, Adjektiv, einen Verbalstamm oder eine adverbiale bzw. präpositionale Partikel haben, seit ahd. Zeit nachweisbar sind: ahd. fart-muodi, kraft(e)-lo¯s; bru¯n-ro¯t, wı¯t-ma¯ri (‘weitbekannt’); rehhe-gern (‘begierig zu rächen’, Kienpointner 1985, 319); ur-alt, unreini. Die genauere semantische Durchleuchtung dieser in älterer Zeit z. T. sehr schwach repräsentierten Typen und die Klärung der Frage, welche Muster in bestimmten Texten der einzelnen Sprachperioden dann reicher vertreten sind, stehen noch aus. Die Auffälligkeit, „daß Vergleichsadjektive des Typs goldro¯t ‘rot wie Gold’ nur vereinzelt und erst im Spahd. überliefert sind“ (Splett 2000, 1215), erklärt sich wohl auch aus der Einseitigkeit der ahd. Überlieferung. Die mhd. Epik und Lyrik zeigt schon ein anderes Bild und im Nhd. spielen Vergleichsadjektive eine große Rolle; sie weisen nicht selten komplexe Lexeme als Erstoder Zweitglieder auf (vgl. Pümpel-Mader u. a. 1992, 13 f. und 97). Seit dem Mhd. nachweisbare Bildungen wie bech-swarz, kol-swarz, raben-swarz, die durch Nennung solcher Vergleichsgrößen zugleich eine besondere Intensität der grundwörtlich genannten Qualität ausdrücken (‘sehr schwarz’), münden sogar in volkstümliche Kumulationsformen der Verstärkung wie kohl-pech-raben-schwarz. Daneben finden sich gerade bei Farbbezeichnungen im neueren Dt. oft zwei- oder mehrgliedrige Anreih-Kompositionen (schwarz-weiß, weißrot-blau); früh auch Additionsbildungen eher antonymischer Glieder: mhd. edel-arm (‘edel und zugleich arm’); nhd. sauer-süß/süßsauer, schaurig-schön u. ä. (vgl. Pümpel-Mader u. a. 1992, 39 f.). Hier, und noch mehr bei lockeren Bindestrichverbindungen (technischwissenschaftlich), geht es oft um eine Bündelung verschiedener Aspekte durch Gleichordnung der Begriffe im Kompositum. 2.2.2. Derivation Von den altererbten Formantien werden im Dt. vor allem drei Suffixe mit hellem Vokal und konsonantischem Auslaut produktiv, die unter bestimmten Bedingungen Umlaut der Basisvokale bewirken und in Anschluß an bestimmte Basisauslaute Erweiterungsformen gewinnen können: -en (ahd., mhd. -ı¯n; Erwei-
terungsvariante -erı¯n, in Anschluß an r-haltige Basen wie ahd. silber-ı¯n), -ig (ahd. -ag/ -ı¯g, mhd. -ec/-ic) und -isch (ahd. -isc/-isch, mhd. -esch/-isch, nhd. Erweiterungsformen -erisch sowie -alisch, -arisch, -orisch, -istisch, -anisch, -inisch, -atisch, vgl. Kühnhold u. a. 1978, 28 ff.). Alle drei werden seit frühdt. Zeit vorwiegend für denominative Bildungen gebraucht. Dabei signalisiert -e(r)n vor allem eine „Bestehen aus"-Relation zwischen Bezugs- und Basissubstantiv (z. B. dıˆe gu´ldıˆnen e´pfele, Notker 1, 299, 11 f. ‘die goldenen Äpfel, Äpfel aus Gold’); -ig eine Art possessive Relation des „Versehenseins mit“ (e´r uua´s … zo´rneg, Notker 1, 458, 3 ‘er war zornig, hatte Zorn’); -isch vor allem ein Verhältnis der „Abstammung, Herkunft und Zugehörigkeit“ (ruˆmiskes ma´nnes romani hominis, Notker 1, 114, 3 f.). Doch gewinnt der Gebrauch früh eine gewisse Vielfalt (vgl. Kluge 1926, 107; Wilmanns 1930, 437 ff., 455 ff. und 471 ff. sowie Bürgisser 1983, 54 ff., 75 ff., 81 ff.; Bergmann 1990, 89 f.). Wann, in welchen Textarten und von welchen Sprechergruppen die Mannigfaltigkeit der gegenwartssprachlichen Verwendungsmöglichkeiten (vgl. Kühnhold u. a. 1978, 106⫺111; Schlaefer 1977, 112⫺123) entwickelt worden ist, bedarf weiterer Untersuchung. Bemerkenswert bei aller Vielfalt ist z. B. das Entstehen einer partiellen Konvergenz in der Vergleichsfunktion: gold-ene Worte (‘Worte, die wie Gold sind’), wurst-ige Finger, satan-ischer Mafiaboß. Im übrigen dient vor allem das überaus produktive Suffix -ig dazu, in Zusammenhang mit einer Tendenz zur eindeutigen Prägung als Adjektiv, suffixlose Adjektive zusätzlich zu kennzeichnen (vgl. z. B. elend-ig oder die Ablösung der Typen ge-haz ‘voll Haß’ durch spät-mhd., frühnhd. gehäss-ig und ein-ougi durch einäug-ig), gerät also beinahe in die Funktion eines allgemeinen „Klassenanzeigers“ der Klasse Adjektiv (vgl. Erben 1979, 162 und 2000, 101 f.). Dabei ist auch zu verweisen auf Erweiterungsbildungen wie -haft-ig und -mäß-ig (vgl. Inghult 1975, 134 f.). Bedeutsam werden darüber hinaus auch einige adjektivbildende „Kompositionssuffixe“ (Meid 1967, 226 ff.): -bar, -haft, -lich, -sam und -mäßig. Hiervon gewinnt besonders früh -lich eine relativ hohe Produktivität und suffixartige Geltung. Förderlich war dafür u. a. die lautstrukturelle Eignung sowie die Verwendungsmöglichkeit des ursprünglichen Substantivs (ahd. lı¯h) in der relativ allgemeinen Bedeutung ‘Gestalt’, woneben nach Wilmanns (1930, 477) ein
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gleichlautendes Adjektiv der Bedeutung ‘gleich, glatt, passend’ wahrscheinlich ist ⫺ Basis des nichtprimären Verbs ahd. lı¯hh-e¯n ‘gefallen’. Diese Annahme würde die verwunderliche Erscheinung erklären helfen, daß ein Substantiv zum adjektivbildenden Suffix wird. Sonst denkt man im allgemeinen an einen alten Kompositionstyp, der im Deutschen nur resthaft bewahrt ist, den Typ des „Possessivkompositums“ („Bahuvrı¯hi-Kompositums“). Die ursprüngliche Wortbildungsbedeutung einer Bildung wie ahd. wı¯b-lı¯h könnte also sowohl als ‘zur Gestalt/Art eines Weibes passend’ als auch ‘die Gestalt/Art eines Weibes habend’ angenommen werden. Ein Indiz dafür, daß ein wortbildendes Morphem die Geltung eines Suffixes erlangt hat, ist das Vorkommen in Positionen und Funktionen, die auch von ursprünglichen Suffixen wahrgenommen werden. So findet sich z. B. in Otfrids Evangelienbuch das Basissubstantiv forahta ‘Furcht’ verbunden mit dem alten, Neigungsadjektive bildenden Suffix -al oder mit -lı¯h: foraht-al/-lı¯h ‘furchtsam’. Das sowohl als Substantiv wie als Adjektiv verwendbare Basisnomen ja¯mar kommt im gleichen Text in Verbindung mit -ag und mit -lı¯h/-lı¯cho vor, und wird dadurch eindeutig als Adjektiv bzw. Adverb strukturiert. Die Doppeldeutigkeit vieler Bildungen, die nicht nur auf einen Nominal-, sondern auch auf einen Verbalstamm beziehbar waren (vgl. ahd. klage-lı¯h neben klaga und klag-e¯n/ -o¯n) führte letztlich zur Erweiterung der Kombinierbarkeit des Suffixes und zu einem neuen produktiven Muster deverbaler Adjektivbildung (vgl. intfind-lı¯h zu intfindan ‘empfinden’). Auch hier kommt es teilweise zu Konvergenzen und Konkurrenzen mit anderen Suffixen (vgl. ahd. zim-i-lı¯h und zim-ı¯g ‘geziemend, schicklich’, zu zeman), seit dem späten Mhd. und älteren Nhd. vor allem mit -bar (vgl. Flury 1964, 32 ff.; Kühnhold 1968, 153), welches das sonst überaus produktive Suffix -lich bei deverbalen Bildungen noch übertrifft und teilweise ablöst (vgl. Kühnhold u. a. 1978, 398 ff.). Bislang fehlt eine ausführliche Monographie über die sich verschiebenden Gebrauchsmöglichkeiten von -lich im Zusammenhang der jeweils gegebenen und genutzten Möglichkeiten des deutschen Wortbildungssystems, unter Berücksichtigung eventueller Gebrauchserweiterungen durch fremdsprachlichen Einfluß, etwa bei der Wiedergabe bislang unüblicher Konstruktionen (vgl. z. B. die Attribuierung einer Agenskonstituente durch eine ahd. -lı¯h-Bildung: daz truhtı¯nlı¯hha
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pibot „gemäß dominicum praeceptum“ Lauffer 1977, 444 und 454). Bei -bar, ursprünglich Verbaladjektiv zu beran ‘tragen’ (vgl. spätahd./frühmhd. un-ba¯ri/-ba¯rig ‘unfruchtbar’), sind die ursprünglich allein gebräuchlichen Bildungsweisen zu Basissubstantiven im neueren Dt. durch den besonders produktiven Typus heil-bar(e Krankheit), der eine passivische Umformung zuläßt (K., die geheilt werden kann, -bar1) und brenn-bar(es Material), der eine aktivische Umformung erlaubt (M., das brennen kann, -bar2, vgl. Kühnhold u. a. 1978, 106), zurückgedrängt worden. Der Typ frucht-bar(er Acker A., der Frucht bringt, -bar5) ist im neueren Dt. nicht mehr produktiv. In seiner heutigen passivisch-modalen Primärfunktion ist -bar nun ohne ernsthafte Konkurrenz. Nach Formvarianz im Mhd. und Frnhd. hat sich im Nhd. die klangvollere, nicht umgelautete Form -ba¯r durchgesetzt, -nicht -ber < baere. Das Aufkommen und Produktivwerden anderer Kompositionssuffixe ist bisher noch nicht so weit geklärt, daß die Entwicklung voll zu übersehen wäre. So ist mäßig, das erst im Spätmhd. und Nhd. in mehreren Wortbildungsbedeutungen zur desubstantivischen Ableitung produktiv geworden ist, vor 1200 nur in wenigen Belegen nachweisbar und seine Frühgeschichte nur annähernd zu rekonstruieren, mit der Erschließung einer „ursprünglichen Bahuvrı¯hi-Struktur“ (Inghult 1975, 133): „x-ma¯zi ‘das Maß, die Größe von x habend’“ (Kluge/Seebold 1999, 544). Für -haft und -sam liegen bisher nur historische Teilstudien vor (vgl. Erben 1972, 188 ff.; Bergmann 1984, 47 f. und Möllmann 1994). Die Vielfalt konkurrierender Ansätze wird schon im Ahd. deutlich. Neben dem nicht mehr produktiven Typ ge-lob ‘berühmt’, eigtl. ‘mit Lob versehen’, finden sich lobe-lı¯h, lob-o/e-sam, lob-haft sowie das sinnverwandte Kompositum lob-e-wirdı¯g ‘des Lobes würdig’. Auch das Adjektiv voll zeigt als Zweitglied schon im Ahd. eine „Bedeutungsabschwächung“, eine Annäherung an „mit“, um im Unterschied zu -los das „bloße Vorhandensein“ des durch das Erstglied Bezeichneten, meist einer abstrakten Größe, auszudrücken. So erscheint ahd. ungiloub-fol fast als „synonym mit der Ableitung ungiloubig“ (Urbaniak 1983, 127 ff. und 139 f., einschränkend Fandrych, 1993, 99 ff).
Gerade im Bereich der adjektivischen Possessiv- und Privativ-Bildungen, die das Vorhandensein oder Fehlen des im Basissubstantiv Genannten anzeigen oder Bildungen, die eine (Un)Fähigkeit, etwas zu bewirken bzw. eine Eignung, bestimmten Prozessen unterworfen werden zu können, signalisieren, kommt es im neueren Dt. zu einer Vielfalt von Bil-
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dungsweisen (vgl. Kühnhold u. a. 1978, 428 ff.), wobei „eine scharfe Grenzziehung zwischen Derivation und Komposition kaum möglich“ (ebda. 427) ist. Offenbar ist die große Vielfalt und Produktivität durch den wachsenden Bedarf an adjektivischen Qualitäts- und Relationsbezeichnungen vor allem in Technik, Wissenschaft, Politik und Werbung erforderlich geworden. Wann und durch welche gesellschaftlichen Gruppen und Textarten solche Muster entwickelt worden sind, könnte nur eine eingehende diachronische Studie klären. Diese hätte auch die Übernahme und Einbürgerung adjektivischer Fremdwörter und zur Adjektivbildung dienlicher Fremdaffixe in die Betrachtung einzubeziehen. Adjektive wurden in der Regel weniger häufig und später als Substantive entlehnt; auch adjektivbildende Fremdaffixe wurden gemeinhin erst im frühen Nhd., vor allem seit dem 16./17. Jahrhundert üblich. Sie erhielten eine besondere Produktivität im 18./ 19. Jh., mit zunehmendem Ausbau der wissenschaftlich-technischen Fachsprachen und des Bestands an bildungssprachlichen Internationalismen. Das gilt für Fremdsuffixe wie abel/-ibel, -al/-ell, -ant/-ent, -är/ar, -iv, -ös/-os (vgl. Russ 1984, 33 ff.) sowie für Fremdpräfixe wie erz-, extra- und super-, die zum Ausdruck der Gradation dienen und auch mit heimischen Adjektiven verbunden werden können. Während das neuere Dt. sonst „keine gemeinsamen Substantiv- und Adjektivsuffixe besitzt“ (Dittmer 1983, 391), kommt es durch Entlehnungen vereinzelt wieder zu Übereinstimmungen. So wird z. B. frz. re´volutionnaire (adj. und sb.) „Ende 18. Jh.“ (Schulz/Basler/Kirkness 1977, 418 f.) eingebürgert als revolution-är und Revolution-är, frz. re´actionnaire (adj. und sb.) findet „Mitte 19. Jh.“ (ebda. 177 f.) seine doppelte Entsprechung in reaktion-är und Reaktion-är, wobei die schon im 18. Jh. entlehnten Substantiva Reaktion und Revolution als Motivationsbasen wirken.
2.3. Beim Adverb Frühe Ansätze zur Kennzeichnung adverbial gebrauchter Beiwörter durch -o oder -lı¯hh-o werden nicht systematisch ausgebaut. Dies gilt auch für den Versuch, die Genitivendung -s zum Adverbsuffix umzufunktionieren (vgl. Erben 2000, 147 f.). So gibt es „heute im Deutschen kein grammatisches Adverbialsuffix (wie z. B. im Englischen, Französischen, Russischen) für Adjektive in adverbialer Funktion, aber es gibt Modelle, nach denen Adjektive (bzw. Partizipien) wortbildungs-
morphologisch adverbialisiert werden (Komposita mit -hin, -hinaus, -auf, -um u. a.; Derivation durch -ens, -maßen, -weg, -weise)“ (Fleischer/Barz 1992, 279). Genauerer Klärung bedarf jedoch, wann, mit welcher Reichweite und von welchen Sprechergruppen solche Kompositions- und derivationsartigen Muster zur Charakterisierung oder Situierung von Aussagen entwickelt und genutzt worden sind (vgl. Heinle 1989, 9 ff., bes. 11 f.). 2.4. Beim Verb Die altererbten Typen der starken Verben (Primärverben) bilden zwar noch die Grundlage für mannigfache präfigierende Ausgestaltung und nominalisierende Umgestaltung, doch liegt „die eigentliche Produktivität der Verbalbildung … im Bereich des schwachen Verbums“ (Meid 1967, 231), der Sekundärverben, die durch deverbale und vor allem denominale Ableitungen mit Hilfe der Formantien -jan, -o¯n oder -e¯n gebildet werden. 2.4.1. Derivation Deverbativa, deren Produktivität noch im älteren Dt. und in den Mundarten spürbar, doch hinsichtlich Umfang und zeiträumlicher Erstreckung nicht sicher einzuschätzen ist, sind im wesentlichen Kausativa wie legen (ahd. leg(g)en < lag-jan, mit Hilfe des früh von der Endsilbenschwächung reduzierten Formans -jan aus dem Präteritalstamm von lig(g)an abgeleitet, in der ursprünglichen Wortbedeutung ‘liegen machen’) oder Intensiv-Iterativa wie ritzen (ahd. rizz-o¯n ‘einritzen’, zu ahd. rı¯zan, nhd. reißen). Zwischen den in der heutigen Standardsprache „noch vorhandenen Wortbildungspaaren wie trinken und tränken […] bestehen inhaltliche, aber kaum noch grammatisch-systematische Wortbildungsbeziehungen“ (Wellmann 1973, 113). Ähnliches gilt für nun reliktartig wirkende Parallelformen wie ritzen und reißen (vgl. ebda. 140). Denominativa, durch Verbalisierung nominaler Basislexeme gebildete Ableitungen, bilden zunehmend den Hauptbestand der Verbneubildungen. Es sind vorwiegend Derivationen von Basissubstantiven (ahd. klag-o¯n/-e¯n ‘eine Klage tun, beklagen’) oder Basisadjektiven (niuw-o¯n ‘neu machen, erneuern’), selten von Basisadverbien oder Partikeln (ahd. u¯f-o¯n ‘hinauf, emporbringen, verherrlichen’), doch führt die Notwendigkeit einer semantisch differenzierten Verbalisierung nominaler Basen früh zur
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Mannigfaltigkeit einer Reihe semantisch-syntaktischer Muster desubstantivischer und deadjektivischer Ableitung. Dieses Inventar, das erheblich mehr Wortbildungsbedeutungen als die einfache inhaltliche Struktur der „Faktitiva“ oder „Facientiva“ umfaßt, ist weithin schon im Ahd. und besonders im Mhd. ausgeprägt (vgl. Schaefer 1984, 362 ff.; Kaliusˇcˇenko 1988, 118 f.), doch zeigen sich Entwicklungen „hinsichtlich des Lexembestandes und der anteilsmäßigen Nutzung der semantischen Muster“ (Prell 1991, 231), und auch im heutigen Dt. „differieren gesprochene und geschriebene Sprache“ in den „prozentualen Anteilen am Gesamt der Bezeichnungsfunktionen“ (Gersbach/Graf 1985, 381). In formaler Hinsicht ist festzustellen, daß die Endsilbenabschwächung die Dreiheit der schwachen Verbklassen zum Ausgang der ahd. Zeit weithin eingeebnet hat, sodaß im Nhd. abgesehen von landschaftlichen Restformen die infinitivische Grundform gemeinhin auf -en/-n endet. Es gibt allerdings ein Bestreben, dieses lautlich reduzierte „reine Verbalisierungsmorphem“ (Wellmann 1973, 20 und 135), das nicht eigentlich ein flexionstammbildendes Suffix ist, durch Formantien zu verstärken, die in Anschluß an Basisauslaute auf -l, -r oder -ig gewonnen sind. So erfolgen anschließend an den Typ der deadjektivischen Verben vom Muster heilig-en, das auch als heil-igen aufgefaßt werden konnte, im Mhd. und Frnhd. nicht selten Ableitungen von Basisadjektiven und Basissubstantiven mit Hilfe von -igen: set(t)-igen (‘satt machen’), pı¯n-igen (‘Pein verursachen’). Oft ersetzen solch deutlichere Prägungen ältere Einfachbildungen (z. B. ahd. pı¯n-o¯n ‘peinigen’ oder rein-o¯n ‘reinigen’); „in der 2. Hälfte des 16. Jhs. überwiegen im md.-ofr.-schwäb. Raum bereits die Ableitungen auf -igen, während in den bair.alem. Texten noch die -en-Konkurrenten stärker vertreten sind“ (Prell 1989, 41). Insgesamt machen die -igen-Verben im heutigen Deutsch jedoch nicht einmal 1% des Bestandes aus (vgl. Wellmann 1973, 27; Gersbach/ Graf 1985, 336). Produktiver wird die seit dem 12., besonders dem 13./14. Jh. (vgl. Öhmann 1970, 338 f.; Frisch 1979, 194 ff., Schebben-Schmidt 1989, 34 ff.) zunehmende Verbbildung mit -ier-en auch in den Erweiterungsvarianten -ifiz-ieren und is-ieren). Es sind Ableitungen vor allem von fremdwörtlichen Basen, Basissubstantiven oder -adjektiven (vgl. brüsk-ieren, spion-ieren, pulver-isieren, legal-isieren, elektri-fizieren mit Tilgung von -sch). Auch entlehnte Verben werden ge-
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legentlich mit diesem Lehnsuffix eingebürgert, selbst wenn die Ausgangssprache ⫺ anders als z. B. bei dem im 12. Jh. entlehnten Verb turnieren < afrz. torn(e)ier/tourn(o)ier ⫺ hierzu kein entsprechendes Muster bietet (vgl. galop-ieren < afrz. galop-er oder informieren aus lat. inform-are). Nach Integration eines umfangreichen Lehnwortschatzes, der zur Weiterentwicklung der Schriftsprache und besonders der Fachsprachen eine Fülle basisfähiger Grundmorpheme aufweist, kommt es zu einer systematischen Nutzung dieser verbalen Bildungsmöglichkeit, deren Anwendung z. T. auch auf heimische Basen ausgedehnt worden ist (vgl. Öhmann 1970, 339 ff.; Koskensalo 1987, 194 f.). Bei den -ieren-Verben zeigt sich, daß die geschriebene Gegenwartssprache, die schon „bei Dürer genutzten semantischen Klassen ebenfalls am häufigsten aufweist“ (Habermann 1994, 416). Dennoch macht in der geschriebenen Standardsprache der Anteil der -ieren-Bildungen kaum mehr als ein Viertel aller Verbableitungen aus, in bestimmten Textarten und der gesprochenen Standardsprache noch weniger (vgl. Wellmann 1973, 27 und 125; Gersbach/ Graf 1985, 333 f.). Auch das produktive Lehnsuffix -ieren ändert also nicht den Gesamteindruck, daß im Nhd. zur Ableitung von Verben nur vergleichsweise wenige Suffixe zur Verfügung stehen. Kompensiert wird dies offenbar durch die relative Vielfalt eingebürgerter semantischer Muster (vgl. Erben 2000, 75 ff.) und die reiche flexionsparadigmatische Ausstattung, die ein paradigmatisches Umsetzen und Einsetzen von Grundmorphemen aus den Paradigmen der Substantive oder Adjektive und die eindeutige Kennzeichnung als Verb ermöglicht (z. B. Lärm, lahm > lärm-en ‘Lärm machen’, lahmen ‘lahm sein’. Nicht zu übersehen ist darüber hinaus die zunehmende Mithilfe von Präfixen (vgl. 2.4.3.). So kommt es zu einer Art von „kombinatorischer Ableitung durch Präfix ⫹ Derivationsmorphem aus nominalen Basen“ (Wellmann 1973, 126): er-gänz-en ‘ganz machen’, be-bilder-n ‘mit Bildern versehen’; beaufsicht-igen, ver-proviant-ieren. In solchen Fällen ist das Präfix nicht weglaßbar, das präfixlose Verb unüblich. 2.4.2. Kompositionsähnliche Bildungen mit verbalem Zweitglied Im Unterschied zu den Substantiven und Adjektiven, deren Doppelung zum Typus [Sb ⫹ Sb]Sb oder [Adj ⫹ Adj]Adj ein oft genutztes Verfahren ist, sind Zusammensetzungen
2536
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
zweier Verben wie fluch-bet(-en) bis heute ungewöhnlich, eine höchstens stilistisch oder fachsprachlich genutzte Möglichkeit (vgl. Erben 2000, 62). Auch Infinitivergänzungen wie spazieren-gehen oder kennen-lernen sind nicht eigentlich Komposita geworden. Was die nominalen Ergänzungen des Verbs angeht, so ist die Neigung, sie in feste Zusammensetzungen mit ihrem Bezugsverb zu bringen, im Dt. ebenfalls gering, zumal sie nicht immer in gleichbleibender Position vor dem Verb stehen. Zur graphisch-lautlichen Verschmelzung kommt es am ehesten bei infiniten Verbformen, vor allem, wenn das nominale Bestimmungsglied außerhalb solcher Verbindungen allmählich unüblich wird, wie z. B. bei etwas wahr-nehmen (ahd. wara nemen eigentlich: ‘in Augenschein nehmen’). Da solche Verbindungen Trägerstruktur besonderer Inhalte werden konnten, wurden sie oft zur Basis von Ableitungen (vgl. ahd. wara-nemo). Dennoch entspricht im Nhd. dem Infinitiv wahrnehmen und dem Verbalabstraktum Wahrnehmung die Trennbarkeit der finiten Verbformen: ich nehme (etw.) wahr. Die wenigen festen Zusammensetzungen des Verbs mit subst. Erstglied erweisen sich in der Regel als „Pseudo˚ sdahl Holmberg 1976, 3), d. h. komposita“ (A als Ableitungen von komplexen Substantiven. Ebenso wenig scheint es wirkliche Komposita mit Adjektiven als Erstglied von Verben zu geben. Die alten Bildungen mit untrennbarem miß- und voll- lassen sich kaum auf Syntagmen mit prädikativem Adjektiv zurückführen. Semantisch-funktional sind sie eher als adverbial einzuschätzen (vgl. ahd. missi-bru¯hhen ‘falsch gebrauchen’ folla-ziohan ‘ganz ausführen’). 2.4.3. Partikelkomposition und Präfigierung Die eigentlich produktive, verbspezifische Möglichkeit ist die syntaktisch-semantische Modifikation von Verben durch präfixartige Bestimmungsglieder, die mehr oder weniger auch eine aktionale Differenzierung des Verbprozesses ausdrücken können. Schon im ältesten Dt. finden sich zahlreiche Bildungen mit bi-, fir-, gi-, int-, ir-, zi-. Daß diese überaus produktive Reihe der Präfixe be-, ver-, ge-, ent-, er-, zer- aus ehemals selbständigen Wörtern hervorgegangen ist, die einst zur räumlichen Orientierung dienten, ist im Ahd. noch teilweise erkennbar. So heißt in Otfrids Evangelienbuch Jesus einen Toten ‘auf(er)stehen aus/von dem Lager’: irstu´anti ir themo le´gare (III, 24, 98). Daneben wird aber schon eine sprachgeschichtlich jüngere Schicht greifbar,
die in ähnlicher Funktion auftritt, aber die Raumbezüge deutlicher ausprägt als die zunehmend zu abstrakteren Differenzierungen verwandten tonschwachen Präfixe: Der Typ u¯f-stantan und die Kombination des alten und neuen Typs u¯f-ir-stantan (Otfrid III, 4, 27 u. 31). Von sonstigen Konvergenzen vgl. z. B. biscouwo¯n und ana-scouwo¯n ‘ansehen’. Die Annahme, daß diese auch als Adverbialpräpositionen oder Präpositionalpartikeln bezeichneten Verbzusätze allmählich alle zu festen Bestimmungsgliedern werden, ist unzutreffend, obwohl einige wie z. B. die Bildungen mit thuruh- und untar- diese Tendenz zum Aufbau fester Wortkomplexe zu erweisen scheinen, vielleicht durch das Muster lat. Verben mit peroder sub- gestärkt. Offenbar kreuzt sich diese mit der Tendenz zur Bildung einer lexikalischsyntaktischen Klammer, wobei Grundverb und Verbzusatz andere, nichtverbale Glieder umrahmen: Ich schaue (ein Bild) an. So erscheinen im neueren Deutsch nur durch-, über-, um-, unter- und wider- sowohl schwachtonig, in fester Bindung mit einem transitiven oder transitivierten Verb als auch starktonig, trennbar und stärker raum- und handlungsbezogen (vgl. Erben 1980, 71 f.; Fleischer/ Barz 1992, 342 ff.). Im übrigen dominiert der Typ der „Distanzkomposition“. Dabei haben auch diese trennbaren Partikeln mannigfachen Anteil am modifizierenden Ausbau des Verbbestandes (vgl. auf-blühen neben er-blühen und blühen) wie an der Gewinnung neuer Verben aus nominalen Basen (auf-frischen neben er-frischen; vgl. Kühnhold 1973, 142 ff.). Dabei bildet sich eine Reihe semantischer Muster heraus, die Partikeln und Basisverben in und zu bestimmten Bedeutungen verbunden zeigen und für weitere Prägungen von Einfluß sind. Im Frnhd. wird die Neigung stärker, Simplexverben in bestimmten Verwendungen durch Präfix- und Partikelverben zu ersetzen und dadurch zu monosemieren (vgl. Solms 1989, 29) oder Präpositionalphrasen bestimmter Bedeutung zu ersparen: auf (den Berg)-steigen. Infolge mannigfacher Idiomatisierungen nimmt die Tendenz zu, Raum- und Richtungsbezüge durch Zusatz von Doppelpartikeln auszuprägen, sodaß z. B. neben er-steigen und auf-steigen auch hinaufsteigen üblich wird (vgl. Hinderling 1982, 91 u. ö.; de Grauwe 1987, 362 f.). 2.4.4. Ein vorläufiger Schluß Der Einschränkung des Suffixinventars entsprechen beim Verb immer wieder Versuche des systematischen Ausbaus einer Vielzahl
172. Hauptaspekte der Entwicklung der Wortbildung in der Geschichte der deutschen Sprache
präfixartiger Zusätze, die mit Veränderungen in Aufbau, Geltung und syntaktischer Konstruktion der lexikalischen Morphemgefüge verbunden sind, mit Auswirkungen im Affixpotential und in der Strukturierung des Wortschatzes. Hier wird besonders deutlich, daß man sich bei einer diachronischen Untersuchung der Wortbildung auf eine „mehrdimensionale Betrachtung“ (Fleischer 1986, 36) einstellen muß. Man hat mit dem „Zusammenspiel verschiedener Ebenen und Prozesse in der Wortbildung“ (Dressler 1976) zu rechnen, das nicht immer im Durchsetzen der „natürlichsten“ Technik endet, und darf auch der Frage nicht ausweichen, ob und wie sich neue Wortbildungsmuster ⫺ im Dienste bestimmter Sprecherstrategien ⫺ auf die Erfassung und Darstellung sprachlich vermittelter Wirklichkeit auswirken.
3.
Literatur (in Auswahl)
[Weitere Nachweise in den Artikeln 76; 84; 94; 104; 115; 133 und in meiner „Einführung in die deutsche Wortbildungslehre“. 4. Aufl. Berlin 2000, 160⫺178].
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Johannes Erben, Bonn
173. Hauptaspekte des Ausbaus und Umbaus des Wortschatzes in der Geschichte des Deutschen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Eingrenzung des Themas Der Wortschatzumfang Der Ort des Lexikons zwischen Morphologie und Syntax Die Ausdrucksseite Die Inhaltsseite Die Durchsichtigkeit des Lexikons Fazit Literatur (in Auswahl)
1.
Eingrenzung des Themas
1.1. Die sprachstufenbezogenen Artikel des vorliegenden Handbuches (Art. 74: Ahd.; 82: And./Asächs.; 92: Mhd.; 102: Mnd.; 113: Frnhd.; 129: Nhd.) haben bei allen Verschiedenheiten eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Sie behandeln den Wortschatz der jeweiligen Sprachstufe nämlich erstens unter etymologischen Aspekten und zweitens unter Gesichtspunkten, die letztlich vom Funktionszusammenhang zwischen dem Wortschatz einerseits und seinen Gebrauchsweisen innerhalb der
gerade betrachteten Kulturstufe andererseits bestimmt sind. Die wichtigsten dieser Gesichtspunkte sind: ⫺ die geschichtliche Herkunft des Wortschatzes, speziell die Etymologie und innerhalb dieser die Wortfamilien, ⫺ der Wortschatzumfang, darunter Wortschatzgewinne und -verluste, ⫺ die Gültigkeit lexikalischer Einheiten im Raum (Wortgeographie), ⫺ ihre Gültigkeit in sozialen Formationen, vor allem in Schicht und Gruppe (Wortsoziologie), ⫺ sprachinterne lexikalische Inter- und Transferenzen, ⫺ der Sprachenkontakt, ⫺ der Kommunikations- und insbesondere der literarische Stilwert lexikalischer Einheiten, ⫺ die Bezüge zwischen dem Wortschatz und den kulturellen Verhältnissen einer Epoche, vielfach der Sachkultur.
Dies ist gleichzeitig der Gesichtspunktekatalog der Wortgeschichtsschreibung generell (vgl. z. B. Mitzka 1968; Dt. Wortgesch. 1974; Schwarz 1982; Dt. Wortsch. 1988; s. auch die
2540
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Literaturangaben in den oben angegebenen Artikeln sowie in Art. 37). Typische Aussagen und dahinter stehende sprach- und geschichtstheoretische Konzepte führen zu folgendem Gesamtbild von Wortgeschichte: (1) Der dt. Wortschatz zeigt in ahd. und and./asächs. Zeit einen überlieferten Bestand von rund 29 000 (Ahd.) bzw. 4 000 (And./ Asächs.) Einheiten; für das Mhd. und Mnd. sind rund 80 000, für das Frnhd. rund 150 000 Einheiten überliefert bzw. aus dem in Editionen zugänglichen Teil der Überlieferung erschließbar; dem Nhd. werden nach den großen Wörterbüchern der Gegenwartssprache zwischen 100 000 und 200 000 Einheiten, nach dem DWB mehr als 400 000 Einheiten zugeschrieben. Die Differenzen zwischen diesen Zahlen ergeben sich aus der Unterschiedlichkeit der Überlieferungsverhältnisse des Spätgerm. (Ahd. und Asächs.) bzw. des Dt.; sie werden mittels gegenläufiger Konzepte wie ‘Wortschatzgewinn, -ausweitung, -bereicherung’ (vgl. Art. 1, Abs. 12) bzw. ‘Wortschatzverlust, Wortschwund’ beschrieben. Dabei halten sich das Bereicherungskonzept und der Schwundgedanke teilweise die Waage; vielfach führt aber die bloße Nennung der Zahlen zum Bild einer dem herrschenden kulturgeschichtlichen Entwicklungsideologem entsprechenden quantitativen Zunahme des Wortschatzes im Laufe der Geschichte; auch die Formulierung Ausbau und Umbau im Titel des vorliegenden Artikels suggeriert dies. (2) Der Wortschatz der jeweils behandelten Sprachstufe steht in der Zeitlinie: Er setzt einerseits ältere Verhältnisse fort und mündet in jüngere; er weist andererseits Traditionsbrüche auf. Kontinuitäten und Brüche werden realistisch aus Veränderungen der Kulturverhältnisse (im weitesten Sinne), darunter der Sachgeschichte, hergeleitet (vgl. Kap. I dieses Handbuches). In Verbindung mit der Darlegung der Zeitlinie stehen etymologische Erläuterungen und (insbesondere im Falle von Art. 74) wortfamiliengeschichtliche Zuordnungen. Das Konzept epochenübergreifender, letztlich bis ins Germ. oder gar Ieur. ausgedehnter historischer Kontinuität überwiegt dabei die Wahrnehmung und Gewichtung von Brüchen. Kontinuitäten erscheinen als das Normale, Brüche auf dem Hintergrund von Kontinuitäten als das Erstaunliche; umgekehrt formuliert: Die Auffassung von Brüchen als des Normalen, auf dessen Hintergrund sich dennoch Kontinuitäten als das Erstaunliche herleiten lassen, fehlt weit-
gehend. Dies ist die lexikologische Variante eines generell auf die Betonung historischer Kontinuitäten oder gar Konstanten ausgerichteten geschichtlichen Denkens. Die Textsorten, die dieses Denken reflektieren, sind die zweifellos besonders gepflegten und wissenschaftlich elaborierten etymologischen und bedeutungsgeschichtlichen Wörterbücher des Dt. Bezeichnend ist, daß auch die dt. Dialektwörterbücher in der Phase ihrer Begründung durchgehend eine historische Ausrichtung hatten und diese ⫺ wenn überhaupt ⫺ erst dann aufgaben, als sich massive Machbarkeitsprobleme stellten. (3) Der Wortschatz der jeweils behandelten Sprachstufe hat eine räumliche (wortgeographische), eine schichten- und gruppentypische (wortsoziologische) und eine pragmatische (kommunikative, stilistische, literarische) Dimension. Demnach gilt ein Wort dann als beschrieben, wenn es als Gesamteinheit wie in all seinen Ausdrucksvarianten und all seinen Bedeutungen an sog. Worträume, an Sozialschichten und -gruppen, an Textsorten, Situationstypen (usw.) gebunden worden ist und wenn der Gesamtkomplex solcher räumlicher, sozialer, pragmatischer Bindungen in Korrelation mit entsprechenden Gliederungen der Gesellschaft gebracht worden ist. Die räumliche, soziale, pragmatische Verteilung des Wortschatzes steht dabei stärker unter diachronen als unter synchronen Aspekten; die in (2) behauptete Gewichtung der zeitlichen Kontinuität erfährt durch synchrone Betrachtungsaspekte also keine prinzipielle Infragestellung, höchstens eine Relativierung. (4) Der Wortschatz der jeweils behandelten Zeitstufe hat in Teilen eine Herkunft, die quer zu der in (2) herausgestellten Zeitlinie steht, also nur aus dem Kontakt mit Bildungs- oder Nachbarsprachen beschreibbar wird. Bei aller Aufmerksamkeit, die den sog. „fremden“ Wörtern gewidmet werden kann, erscheint die Entlehnung in den Darstellungen quantitativ eher als Ausnahme wie als Regel, qualitativ eher als randständig wie als zentral, unter sprachkritischen Aspekten eher mit negativer als mit positiver Wertung. Mit lingualen Realitäten brauchen diese Sichten nichts zu tun zu haben (Reichmann 2001; zum Erbwortbezug in der Lexikographie des Dt.: Reichmann 1990, s. auch Kirkness 1990). 1.2. Vorliegender Artikel steht im Rahmen eines Kapitels, das laut Überschrift den
173. Hauptaspekte des Ausbaus und Umbaus des Wortschatzes in der Geschichte des Deutschen
sprachsystematischen (in ausdrücklicher Unterscheidung von pragmatischen und soziologischen) Aspekten der Sprachgeschichtsschreibung gewidmet ist. Die Ergebnisse der sprachstufenbezogenen Artikel können deshalb nicht unter zusammenfassenden Gesichtspunkten wiederholt, ausgeführt oder abstraktiv zu einem systematisch orientierten Bild uminterpretiert werden. Es geht der Systematik des Handbuches nach vielmehr strikt um Grundlinien einer Systemgeschichte des dt. Wortschatzes. Dieser Aufgabe stellen sich mindestens folgende Probleme: (1) Der Wortschatz einer Sprache vom Typ der deutschen hat selbstverständlich System, aber er ist quantitativ nach oben (also zu den Wortbildungen und Phrasemen hin) und nach unten (zu den Morphemen hin) offen, und er hat weniger System als die phonologischen, morphologischen und syntaktischen Sprachränge. Dies gilt erstens für die Ausdrucksseite lexikalischer Zeichen. So stellt etwa J. Splett (Art. 74) fest, daß die Überlieferung des Ahd. 2845 Wortfamilien enthalte, Inventargegebenheiten also, die an ein jeweils eigenes Etymon gebunden sind und insofern beziehungslos nebeneinander stehen (vgl. auch Splett 1993). Augst (2000, 1) weist ⫺ ausgehend von der Lemmaliste des HdG ⫺ für die heutige Standardsprache 8415 Wortfamilien nach; dabei seien 48 % Singles (Einheiten ohne Ableitungen und Zusammensetzungen). Beim Fremdwortschatz sei der Prozentsatz um 15 % höher; er habe außerdem, falls er in Ableitungen eingehe, eine deutlich geringere Ableitungsquantität, nämlich nur ein Viertel derjenigen, die indigene Wörter erreichten. Sowohl die angegebenen Zahlen wie die strukturellen Ungleichgewichte zwischen indigenem und fremdem Wortschatz belegen das Ausmaß der Einschränkungen, den ein strikter Systemgedanke bei seiner Anwendung auf das Lexikon erfährt. Für die Inhaltsseite gilt, daß die Gesamtbedeutung jeder einzelnen Einheit des ein bis mehrere Hunderttausend Zeichen aufweisenden Lexikons des Dt. und bei strenger Betrachtung sogar jede ihrer Einzelbedeutungen von allen Gesamt- und Einzelbedeutungen jedes anderen Zeichens zumindest in Nuancen individuell, also nicht systematisch, unterschieden ist. Terminologisch wird man diesen Verhältnissen dadurch gerecht, daß man statt des Terminus System immer wieder schwächere terminologische Fassungen für die relativ geringe Systemhaftigkeit des Lexikons, darun-
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ter vor allem Systemoid, vorgeschlagen hat und gebraucht. (2) Mit (1) ist gleichzeitig gesagt, daß keine klare Grenze zwischen dem Konzept eines Systems ‘Lexikon’ und dem Konzept ‘Gebrauchsregeln des Systems in Funktion’ gezogen werden kann. Die Grenze des Gegenstandes des vorliegenden Artikels ist damit zu dem Gegenstand der sprachstufenbezogenen Artikel hin offen. Sie soll hier aus Gründen der scharfen Trennung beider theoretischer Zugriffe möglichst eng gezogen werden. (3) Es gibt in der historischen Lexikologie des Dt. keine auf die Gesamtheit des Lexikons zielenden systemorientierten Forschungsrichtungen, so wie es im Bereich der (im weitesten Sinne) soziopragmatischen Forschung z. B. die historische Wortgeographie, die kulturhistorisch motivierte Wortgeschichte oder die Etymologie gibt. Selbstverständlich lassen sich in vielen Darstellungen immer auch systembezogene Aussagen finden. In den sprachstufenbezogenen Artikeln ist z. B. die Aussage J. Spletts, daß der Vergleich von Wortfamilienstrukturen Voraussetzung einer „zukünftigen Wortstrukturgeschichte“ sei (Art. 74, 1204; ähnlich der Untertitel von Splett 1993), als Forderung nach diesem Aussagetyp zu werten; D. Wolf (Art. 113, dort S. 1555) erhebt mit Ausdrücken wie systemare Wortvernetzungen, strukturelle Analogien und/oder Unterschiede vergleichbare Forderungen und führt diese zu einem großen Teil aus; O. Reichmann setzt einen eigenen Abschnitt mit der Überschrift „Paradigmatische und syntagmatische Strukturvarianzen“ (Art. 129, S. 1838) an. All dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine Systemgeschichte des dt. Wortschatzes viel mehr Forderung an die Wissenschaft als Gegenstand lexiktheoretischer Überlegungen oder gar linguistische Praxis ist. (4) Auch die historische Lexikographie des Dt. ist weniger auf die Möglichkeiten und Fragestellungen einer Systemgeschichte als auf die Geschichte jedes Einzelwortes des Dt. hin angelegt. Dominanter Wörterbuchtyp ist bezeichnenderweise das semasiologische Bedeutungswörterbuch mit alphabetischer Anordnung der Lemmazeichen einer Sprachstufe. Diese Aussage ist in Details geringfügig zu modifizieren: Es gibt einzelne Wörterbücher, die in die semasiologische Anlage eine onomasiologische Komponente einbauen (RWB; FWB; Schweiz. Id.); und es gibt Wörterbücher, die die Wortfamilienstruktur oder Ähnliches zum Gegenstand haben (BMZ;
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Splett 1993; für das Nhd. zuletzt: WFW) oder diese ⫺ z. B. durch Hinweise auf Wortbildungsvernetzungen (wiederum RWB; FWB; Schweiz. Id.) ⫺ berücksichtigen. All dies erfolgt aber selbst im FWB eher beiläufig als systematisch; wo (wie im Falle der Wortfamilienlexikographie) strukturelle Gegenstände vorliegen, stehen diese vereinzelt und dann wieder in alphabetischer Folge nebeneinander. Die Herausarbeitung wortfamilienübergreifender geschichtlicher Linien z. B. über typische Formen des Ab-, Aus- oder Umbaus von Wortfamilien, Aussagen über die Auswirkung phonologischer Veränderungen auf das Wortbildungssystem, Angaben über die Tiefe des Stufungsprofils von Wortfamilien usw. erscheint als lexikologische, mithin als primär einzelwortbezogene oder auf kleinere Anzahlen von Wörtern gerichtete, nicht als lexikographische Aufgabe, deren Ausmaß im übrigen heute viel weniger erkannt ist als im 19. Jh. (vgl. Reichmann 1990 b; 1234; Splett 2000, 118). Onomasiologische Wörterbücher über historische Sprachstufen des Deutschen fehlen ohnehin (Reichmann 1990 a, 1063 f.). 1.3. Vorliegender Artikel wird in jedem seiner Arbeitsschritte mehr Fragen stellen als Ergebnisse mitteilen; er ist also eher Aufweis von Forschungslücken als Forschungsbericht. Die Stoßrichtung des Artikels lautet: Haben sich das lexikalische Inventar und das Systemoid ‘Lexikon des Dt.’ im Laufe ihrer Geschichte von den spätgerm. Stammessprachen (Abair., Aalem., Afrk., zusammengefaßt unter dem Terminus Althochdeutsch, sowie Asächs./And.) bis zur Gegenwart so geändert, daß das System betroffen ist? Diese Frage ist hinsichtlich des Wortschatzumfangs, des Verhältnisses des Lexikons zu den niederen (morphologischen) und den höheren (syntaktischen) Rängen der Sprache, der Struktur der Ausdrucksseite, der Struktur der Inhaltsseite sowie der Durchsichtigkeit des Lexikons zu prüfen.
2.
Der Wortschatzumfang
2.1. Zum Wortschatzumfang insgesamt 2.1.1. Die in 1.1. unter Punkt (1) angegebenen Zahlen sind Orientierungswerte. Sie können deshalb nicht genauer bestimmt werden, weil sie mindestens bis zum älteren Nhd. hin weniger über tatsächliche Wortschatzquantitäten als über Überlieferungsverhältnisse sagen, und weil sie zweitens die Offenheit der
lexikalischen Ränge im Gesamtsystem der Sprache nicht hinreichend beachten. Zwar mag die Grenze zwischen Einheiten mit zweifelsfreiem Wortstatus zu Einheiten des Typs ahd. heit ‘Gestalt’, tuom ‘Urteil’, die sich auf dem Wege der Entlexikalisierung (also zur ausschließlichen Verwendung als Wortbildungsmittel) befinden, quantitativ nicht besonders ins Gewicht fallen; im strengen Sinne des Wortes infinit und von Einheiten mit Wortstatus nicht sicher abgrenzbar aber sind die Wortbildungen (durch Ableitung, Komposition, Zusammenrückung usw.); vgl. zu den Grenzverwischungen Abs. 3. Sie sind dies deshalb nicht, weil der rein syntaktische Status von Wortbildungen durch die Feststellung ihrer vollständigen syntaktischen Regelgemäßheit und ihrer vollständigen semantischen Motiviertheit nachgewiesen werden müßte bzw. umgekehrt, weil der lexikalische Status wortgebildeter Einheiten durch die Feststellung von Regelrestriktionen, Regelbesonderheiten, semantischer Demotivation, von Gebrauchsfestigkeit u. a. bewiesen werden müßte. Beides ist sowohl theoretisch wie praktisch nicht möglich, theoretisch deshalb nicht, weil jedes der genannten Kriterien beliebig fein gehandhabt werden kann und weil (im Falle von Befragungen) unterschiedliche Beurteilungen zustandekommen, praktisch deshalb nicht, weil das Belegmaterial historischer Lexikologie und Lexikographie immer defizitär ist. Die Wörterbücher spiegeln dieses Faktum gleichsam auf jeder Seite: Wenn z. B. J. H. Campe sein Wörterbuch vor allem durch die Aufnahme von Wortbildungen auf 141 277 Lemmata bringt und sich dadurch von Adelung mit seinen (in 2. Aufl.) 55 181 Artikeln positiv zu unterscheiden sucht, wenn aber auch J. Grimm (im DWB) seine lemmatische Vollständigkeit durch die Auflistung langer Kompositenreihen (bei Forst z. B. über eine volle Seite) erhöhen zu müssen meint und wenn sich Vergleichbares bei Brockhaus Wahrig (gegenüber Duden, GWb.) wiederholt, dann wird man dies nicht mit dem Urteil ‘lexikographischer Wettbewerb’ abtun können, sondern darin die grundsätzliche Unabgrenzbarkeit frei wortgebildeter von lexikalisiert wortgebildeten Einheiten gespiegelt sehen müssen. An einem Einzelfall aus dem FWB dargelegt: Es gibt gute Gründe dafür, armband, armbein, armblech, armboge, armboje, armbreise, armbruch, armeisen und weitere Bildungen mit dem Bestimmungswort frnhd. arm in eigenen Artikeln zu behandeln oder in Form von Verweisartikeln zu regi-
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strieren, und es gäbe ebenso gute Gründe, dies nicht zu tun. Die Anzahl der Fälle, bei denen selbst bei Vorliegen klarer Lemmatisierungsregeln in unterschiedlicher Weise verfahren werden kann, variiert mit der Qualität des Corpus, mit dem Differenzierungsgrad der Beschreibung, mit solchen Gegebenheiten wie der Wortverliebtheit des Lexikographen bzw. der distanzierten Rationalität seines Zugriffs und mit seinem pragmatischen Auftrag. Zahlenangaben über den Umfang des Wortschatzes erweisen sich damit schon angesichts des Wortbildungsproblems als selbst in Bezug auf die Größenordnung kaum sinnvoll. Auch die Angabe von Vergleichswerten über Wortschatzumfänge anderer Sprachen (etwa des Nl., Engl., Tschech., Frz.) ist damit problematisch; der Stellenwert jedes Wortschatzes ist nur in Verbindung mit dem jeweils einzelsprachspezifischen Stellenwert des Wortbildungssystems der betreffenden Sprache zu beurteilen (dazu z. B. Kastovsky 1994; 1999). Eine wortbildungstypische Sprache wie das Dt. kann nicht ohne weiteres mit einer Sprache verglichen werden, die weniger oder in anderer Weise wortbildungstypisch ist. 2.1.2. Die für die Grenze zwischen Lexikon und Wortbildungssystem gemachten Aussagen gelten in vergleichbarer Weise für das Verhältnis von einfachem Lexem und der sog. Mehrworteinheit (Phrasem). Selbst wenn das Phrasem schlüssig definiert sein und das Corpus qualitativ hohen Ansprüchen genügen sollte, ergeben sich Abgrenzungsprobleme (vgl. Lexikologie, Kap. XI). Die typische Erfahrung des Lexikographen geht in folgende Richtung: Sehr viele Ausdrücke, die beim ersten Hinsehen als regelhaft gebildete, voll motivierte Syntagmen erscheinen, erweisen sich bei näherer Betrachtung als ansatzweise phrasematisiert. In diesem Falle müßten sie streng genommen als eigene Lemmata aufgeführt werden. Daß die lexikographischen Konventionen des Dt. und anderer europ. Sprachen dem nicht entsprechen, hat praktische, nicht aber sachliche Gründe. 2.1.3. Ein weiteres Problem bei der Bemessung von Wortschatzumfängen bildet die Frage, von welchem pragmatischen und strukturellen Integrationsgrad an man eine ursprünglich fremdsprachige Einheit als Einheit des dt. Wortschatzes betrachten kann. Allein die Tatsache, daß die Zahl der einfachen sog. Fremd- und Lehnwörter im Dt. nur unwesentlich niedriger ist als diejenige der
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einfachen sog. Erbwörter, läßt für alle historischen Sprachstufen des Dt. bereits mit dem Blick auf die Ausdrucksseite des Wortschatzes (Fremdwort, assimiliertes Lehnwort, Lehnformung in der Terminologie von Betz 1974) ein breites Entscheidungsfeld erkennen. Dies gilt erst recht, wenn man die Inhaltsseite des Wortschatzes in Betracht zieht (Reichmann 2001). 2.1.4. Das Vorgetragene läuft darauf hinaus, daß man unter strikt quantitativen Aspekten auf Zahlenangaben zum Umfang des dt. Wortschatzes und damit zu Umfangsveränderungen verzichtet. Die Unterschiedlichkeit der Überlieferung, die Grenzzonen zwischen den morphologischen, lexikalischen und den einzelwortübergreifenden Rängen der Sprache und zwischen sog. Erb- und Lehnwort machen vor allem in ihrer Kombination Zahlenangaben ohne zugefügte Erläuterungen schon in der Größenordnung problematisch. Um nicht gänzlich im Unverbindlichen zu bleiben, soll aber behauptet werden, daß die übliche Auffassung einer fortlaufenden Inventarvermehrung nach meinem Urteil der Begründung entbehrt; sie scheint mir Ausdruck eines verbreiteten Fortschrittsideologems zu sein. ⫺ Auf Zahlenangaben zum Umfang von idiolektalen Wortschätzen (der Art: Goethe etwa 30 000; Storm etwa 20 000) und auf Schätzungen zum Umfang des passiven Wortschatzes einzelner historischer Personen soll ebenfalls verzichtet werden, da sich die gleichen Unsicherheiten wie bei Zählungen des Gesamtwortschatzes ergeben würden (dazu demnächst: Lexikologie, 2. Teilbd., Kap. XXXII); hinsichtlich des Verhältnisses von passivem und aktivem idiolektalem Wortschatz kann ohnehin keine Aussage gemacht werden. 2.2. Zum Umfang von Wortschatzteilen 2.2.1. Schaut man statt auf den Gesamtwortschatz auf dessen Teile, so stellt sich zunächst die Frage nach deren Bestimmung. In Betracht kommen Gliederungen nach: ⫺ den morphosyntaktisch bestimmten sog. Wortarten Verb, Substantiv, Pronomen, Zahlwort, Artikel, Adjektiv, Adverb, Konjunktion, Präposition, Interjektion (so die gängige Einteilung der Schulgrammatik; ähnlich z. B. Duden, Gr. 1995, 85 f.; Lexikologie, Kap. XVII), ⫺ nach funktionalen Wortklassen der Art ‘Prädikator’, ‘Nominator’, ‘Junktor’ (vgl. Strauß 1989, 792), ⫺ nach semantisch-ontologischen Kriterien der Art Substantiv für ‘Entität’, Adjektiv für ‘Ei-
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⫺
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genschaft’, Verb für ‘Vorgang’ (relativ verbreitet, wenn auch eher versteckt als explizit; Duden, Gr. 1995, 85 f.), nach dem angenommenen Referenzgefälle zwischen so etwas wie dem typischen Substantiv mit enger Extension und so etwas wie dem typischen Verb mit weiter Extension (Leiss 1992, 127 f.), nach Gesichtspunkten wie ‘relativ offen’ (systematisch und historisch fortwährender Vermehrung oder Verminderung fähig) und ‘geschlossen’ (Eisenberg 1998, 35), nach der morphologischen Komplexität (von ‘morphologisch einfach’ wie bei den Simplizia zu ‘morphologisch komplex’ wie bei Wortbildungen und Phrasemen), nach Gesichtspunkten wie ‘fremd/entlehnt’ versus ‘einheimisch o. ä.’ (unter historischer Perspektive) oder ‘indigen’ versus ‘exogen’ (unter angeblich synchroner Perspektive), nach Differenzierungen jedes dieser Gesichtspunkte (z. B. der sog. Wortarten nach ‘flektierbar’ und ‘unflektierbar’) und nach Kombinationen von ihnen.
2.2.2. Jeder der auf diese Weise entstandenen Wortschatzteile wäre auf seine quantitative Entwicklung seit der spätgerm. Stammeszeit zu befragen. Die Schwierigkeiten, die dem entgegenstehen, sind offensichtlich: (1) Es gibt keine diesbezüglichen, die gesamte Sprachgeschichte umfassenden Zählungen; und es kann sie unter sprachontischem Aspekt angesichts der in 2.1. erläuterten Problematik der Wortschatzquantifizierung für eine Reihe der erwähnten Wortschatzteile auch gar nicht geben. Für die in den Wörterbüchern erfaßten Einheiten wären sie allerdings möglich, würden sich dann aber auf ein historiolinguistisches Konstrukt beziehen und etwas über die Überlieferungssituation und über wissenschaftshistorische Stände der Wortgeschichtsforschung, also nicht über tatsächliche Quantitäten von Wortschatzteilen, aussagen; das ist eine motivationshemmende Perspektive. (2) Ein Großteil der genannten Gliederungsgesichtspunkte des Wortschatzes ist relativ jung und kann schon aus diesem Grunde nicht in die Praxis umgesetzt sein. (3) Es würden sich immer Kreuzklassifikationen, z. B. von funktionalen und morphosyntaktischen Wortklassen (dazu mit Schema: Strauß 1989, 792), ergeben; der Gegenstand ‘einzelne lexikalische Einheit’ würde sich dabei in den Gegenstand ‘einzelne Bedeutung der einzelnen lexikalischen Einheit’ auflösen und damit eine arbeitstechnisch kaum bewältigbare Komplexität erreichen.
3.
Der Ort des Lexikons zwischen Morphologie und Syntax
Der systematische Ort des Lexikons zwischen Morphologie und Syntax ist durch eine um so höhere und damit durch um so größere historische Konstanz gekennzeichnet, je höher man den Abstraktionsgrad für ‘systematisch’ ansetzt. 3.1. Im Detail begegnen im unteren Grenzbereich von Morphologie und Lexik Varianten bzw. (im Laufe der Zeit) Veränderungen folgenden Typs: (1) Einige Simplizia der spätgerm. Sprachstufen (ahd. heit, lıˆch, samo, scaf, tuom) und einige Morpheme (bi, ir) verlieren ihren Status als selbständige Einheiten und begegnen später nur noch als Wortbildungsmorpheme. Der Abschluß dieses Prozesses ist aus Überlieferungsgründen, aber auch aus Gründen der fehlenden Kompetenz des Sprachgeschichtsforschers nur sehr vage angebbar; er liegt auf der Zeitstufe des Mhd. (2) Einige Flexions- und/oder Numerusformen von Substantiven sind zu eigenen lexikalischen Einheiten geworden: Typ Stätte aus dem Gen./Dat. von mhd. stat; Fährte ebenso bzw. volksmorphologisch aus dem Pl. von mhd. fart. (3) Einige Formen von Verben, insbesondere der Infinitiv, die Brechungsformen im Präs. und das Part. Prät. führen zur Entwicklung selbständiger lexikalischer Einheiten: wägen, wiegen aus den e- bzw. i-haltigen Formen von mhd. we¨gen, ahd. we¨gan (s. auch nhd. bewegen); Ansehen, Ansinnen als subst. Inf. von ansehen, ansinnen; frnhd. bedacht zu bedenken; beherzt zu beherzen, beholfen zu behelfen, behütet 1 und 11 zu behüten 1 und 11; beschissen zu bescheissen 1; betreten (part. Adj.) zu betreten 1; betrogen zu betriegen; betört zu betören 3 (Beispiele aus dem FWB, s. v.). (4) Eine auf ein Wortbildungsdetail beschränkte Verschiebung der Grenze zwischen Morphologie und Lexikon vollzieht sich infolge der Aufgabe der morphologischen Unterscheidung von ja-stämmigem Adj. und zugehörigem Adverb; z. B. mhd. feste/faste und schoene/schone werden zu nhd. fest/fast und schön/schon. Die Anzahl der Veränderungen des Typs (1), (2) und (4) ist relativ zuverlässig angebbar, sie liegt für (1) und (4) bei einigen wenigen, für (2) bei einigen Dutzend und für (3) bei einer nicht bestimmbaren, da vom Fein-
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heitsgrad der Bedeutungsansätze abhängigen, auf jeden Fall aber die Typen (1) und (2) quantitativ übertreffenden Menge von Beispielen. Eine Systemveränderung ist von den Veränderungstypen (1) und (2) her kaum begründbar; (3) ließe sich möglicherweise unter dem Aspekt der klaren strukturellen Trennung der Wortarten diskutieren. Je nach dem, ob man die Anzahl der Fälle als relativ hoch oder als relativ niedrig ansetzt, ergäbe sich überdies eine (zahlenmäßig allerdings kaum zu Buche schlagende) Veränderung der Quantitätsverhältnisse von Wortschatzteilen. 3.2. Im Grenzbereich von Lexik und Syntax (Teilbereich Wortbildung) ergeben sich folgende, unter quantitativen Gesichtspunkten bereits in Abschn. 2. angesprochene Typen von Veränderungen: (1) Das Verhältnis von eigentlichen (echten) und uneigentlichen (unechten) Zusammensetzungen, wenn man diese Begriffe für eine Zeit akzeptiert, in der man Stämme nicht mehr oder allenfalls in nur dem Linguisten zugänglichen Reflexen kennt (also seit dem Beginn des eigentlichen Deutschen), verschiebt sich zuungunsten der ersteren. (2) Für jede wortgebildete Einheit besteht die Möglichkeit der Lexikalisierung: es gehört geradezu zur Normalität der kommunikativen Praxis, diese Möglichkeit zu nutzen. Die Wahrscheinlichkeit, mit der dies geschieht, hängt von Gegebenheiten unterschiedlichster Art, darunter auch teilsystematischen wie der sog. Lexikalisierungsaffinität (Fleischer 1997), ab. Die Fälle, in denen eine Lexikalisierung erfolgte, können trotz aller Probleme bei deren Bestimmung als außerordentlich zahlreich angesetzt werden; mit Sicherheit sind lexikalisierte Wortbildungen zahlreicher als die Simplizia. Dies gilt bereits für die spätgerm. Vorstufen des Dt. (3) Der Lexikalisierung (hier = Demotivierung und dadurch bedingte Aufnahme in den Wortbestand einer Sprache) entgegengesetzt ist die Tendenz, die jeweilige Bildung durch synchronische Etymologisierung/Motivation entweder an das ihr zugrundeliegende oder an ein anderes, ausdruckssubstantiell ähnliches Muster und dessen Einheiten zurückzubinden. Ersteres kann unter linguistisch normativen Aspekten „richtig“ und es kann „falsch“ erfolgen, so bei mundtot (zu mhd. munt ‘Schutz’, aber motivationell auf Mund bezogen), betucht (zu einer hebr.-westjidd. Basis, aber auf Tuch bezogen; Beispiele bei Seebold 1999). Die Anzahl der hierher gehö-
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renden Fälle und ihre Relation zur Anzahl der zu (2) gehörigen Fälle ist nicht angebbar, sie ist aber auf jeden Fall höher, als die etablierte wortgeschichtliche und etymologische Forschung annimmt bzw. schon aufgrund ihrer Schriftorientierung und ihres notwendigerweise schriftlichen Quellenmaterials annehmen kann (vgl. Olschansky 1996). Das Zweite ist noch überhaupt nicht systematisch ins linguistische Bewußtsein gelangt. Gemeint sind Zufallsaussagen wie diejenige in Paul 2002, 56, daß bei allmählich eine Anlehnung an Mal vorliegt. (4) Innerhalb der Kompositionsbildung gibt es bei dominant konstanter Zweigliedrigkeit für eine Reihe konzeptionell medialer Texte (vor allem von Fachtexten) Schübe zum Mehrfachkompositum, so zu Beginn der Neuzeit und in gewissem Umfang auch im 20. Jh. (Augst 2001); Mehrfachkomposita haben eine geringe Lexikalisierungsaffinität. (5) Sog. Kurzwörter, unter ihnen vor allem die Abkürzungen (dergl.; m für Meter), die Kopf- (Ober, Auto) und Schwanzwörter (Bus, Bahn), Initialwörter (LKW, Nato), Stutzwörter (Krad), erfahren im 20. Jh. in bestimmten Textsorten einen quantitativen Schub, der nach den Zählungen von Augst 2001 den Schub zum Mehrfachkompositum sogar noch übertrifft. Kurzwörter sind morphologisch unter Aspekten ihrer Bildung motiviert; ihre Durchsichtigkeit kann insofern durch die Nennung ihrer Vollformen ohne Aufwand hergestellt werden. Demjenigen allerdings, der in dem jeweiligen Kommunikationsbereich nicht bewandert ist, sind vor allem Initial- und Stutzwörter einschließlich der mit ihnen gebildeten komplexeren Ausdrücke ebenso unmotiviert wie die Simplizia Baum oder Strauch. Dies schließt keineswegs aus, daß er sie in ihrer Darstellungsleistung versteht und selbst benutzen kann (etwa Nato, Natomanöver). (6) Affixoide des Typs Haupt-, hoch-, Grund-, -mäßig, -frei aus lexikalischen Einheiten, Präpositionen wie angesichts, dank, infolge ebenfalls aus lexikalischen Einheiten oder aus präpositionalen Fügungen, Fremdaffixe im Zusammenhang mit der Lehnwortbildung (vgl. Hoppe u. a. 1987) erfahren im Verlauf des jüngeren Nhd. eine im einzelnen differenziert zu beurteilende Zunahme. Überschaut man die Punkte (1) bis (6), so scheint mir (1) unter dem Aspekt seiner strukturellen Relevanz kaum beschreibbar zu sein. (2) bis (6) führen zu dem Ergebnis, daß es zwischen dem Lexikon und der zur Syntax
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gehörigen Wortbildung keine scharfe Grenze gibt. Die aufgeführten Grenzverwischungen heben das seit spätgerm. Zeit bestehende Rangsystem von Morphologie, Lexik und Syntax (mit der Wortbildung) nicht auf, auch nicht das System der Wortbildung durch Komposition, Ableitung, Präfixbildung, Zusammenrückung, Besonderheiten. Im Hinblick auf den Titel dieses Artikels heißt das: Einen das System verändernden Aus- und Umbau des dt. Wortschatzes als eines hierarchischen Ranges der Sprache hat es nicht gegeben. Alles, was etwa im Mhd. systematisch möglich war, ist auch in der Gegenwartssprache noch möglich; mit umgekehrter Blickrichtung würde man sicher etwas vorsichtiger, aber letztlich in entsprechender Weise formulieren: Die wortbildungsmorphologischen Möglichkeiten des heutigen Dt. sind in ihrem Grundstock schon im Mhd. vorhanden. Es heißt aber nicht, daß es keine oder nur isolierte Einzelentwicklungen gegeben habe. Deren Verteilung unterliegt in starkem Maße der Soziologie, der Pragmatik und vor allem der Medialität, in denen sich sprachliches Handeln vollzieht. Lexikalisierungen (möglicherweise auch Remotivierungen) dürften eine starke Bindung an konzeptionell mündliche Texte aufweisen, da sie gegen die in der Schriftlichkeit strenger geltenden Regeln der Wortbildung verstoßen und sanktioniert werden könnten; die Tendenzen zum Mehrfachkompositum und zum Kurzwort sind mit Sicherheit eher an konzeptionelle Schriftlichkeit gebunden, zum Teil haben sie in der Mündlichkeit überhaupt keine Basis; Abkürzungen, Initial- und Stutzwörter sind ohne Schriftlichkeit gar nicht denkbar. Mit den angesprochenen Verteilungen bewegt man sich, sofern man jedenfalls in Kategorien wie System und Norm denkt, außerhalb des Bereiches der Systemlinguistik, eher im Bereich der Norm (Coseriu 1974, 47) als den verbindlichen Realisierungen des Systems. Bezeichnenderweise tendieren neuere Untersuchungen denn auch dazu, keine Aussage mehr über das Verhältnis von Wortbildungssystem und lexikalischen Sprachrängen schlechthin zu machen, sondern sich auf die Feststellung von Entwicklungen innerhalb z. B. eines Mediums zu beschränken. So ist für die Substantiv-Derivation in den Texten Dürers (die sich damit als zwar medial schriftlich, aber konzeptionell mündlich erweisen) zu konstatieren, daß sie zu einem mündlichen Vergleichscorpus des heutigen Dt. eine größere Ähnlichkeit aufweist als dieses Corpus zu einem
geschriebenen Corpus der Gegenwartssprache (Müller 1993, 484). Daß die neue Rolle der Schriftlichkeit, verbunden mit der Ideologie des Skriptizismus, und insbesondere die Dissoziation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auch in Bezug auf den Ort des Lexikons im Sprachsystem zu systematischen Veränderungen führen kann, ist offensichtlich.
4.
Die Ausdrucksseite
Die Ausdrucksseite der Lexikonzeichen des Dt. ist bestimmt durch die Silbenstruktur, die Prosodie, die Phonologie. Zwischen sog. Erbwort (indigenem, nativem Wort) und Fremdwort (exogenem Wort) ist unter allen drei Aspekten zu unterscheiden. ⫺ Silbenstruktur und Phonologie der dt. Lexik sind zuletzt von Eisenberg (1998) zugleich innovativ und ausführlich, deshalb hier nicht referierbar, beschrieben worden. Befragt man seine Muster und die zugehörigen Aussagen auf ihre Geschichtlichkeit hin, so ergibt sich eine relativ hohe historische Konstanz. Einige Besonderheiten und einige Varianzen sind dennoch zu nennen: (1) Bei der Silbenstruktur gibt es insofern Veränderungen, als erstens in den Fällen, die von der Aufhebung der ahd. und mhd. Opposition von einfachen und geminierten Konsonanten gegen Ende des Mhd. betroffen sind (dazu Art. 72 und 90), eine Verschiebung des Verhältnisses von offener und geschlossener Silbe in Richtung auf mehr offene Silben stattgefunden hat. Ferner haben sich aus den ahd. und mhd. Diphthongierungen und Monophthongierungen, insofern sie in offener Silbe stattfanden und sofern man Diphthonge biphonematisch wertet, mehr (bei Diphthongierung) bzw. weniger (bei Monophthongierung) durch einen Gleitlaut gedeckte Silben entwickelt. Drittens kann die sog. Dehnung in offener Silbe als strukturelle Veränderung des Silbenschnittes interpretiert werden: Eine „akzentbasierte Quantitätssprache“ wird zu einer „nichtquantitierenden gewichtssensitiven Akzentsprache“; offene Silben tendieren zum sanften, geschlossene zum scharfen Schnitt (vgl. zum Gesamtbild Vennemann 1995, speziell 190 und 221). (2) Die Anzahl der Fälle des aus 3 Konsonanten bestehenden Anfangsrandes der Silbe reduziert sich im Verlauf des Frnhd. um einige wenige Kombinationen: pfn- findet sich nhd. nur noch in dialektalen Zeichengestalten (vgl. Schweiz. Id., Alphabet. Wörterver-
173. Hauptaspekte des Ausbaus und Umbaus des Wortschatzes in der Geschichte des Deutschen
zeichnis; Lexer 2, 249; FWB 4, 244 f.; Duden, GWb. 7 ohne Beispiel). Die Anzahl einkonsonantiger Anfangsränder verringert sich durch Synkopen des e in be-, ge- zugunsten zweisilbiger: bleiben, Glaube, Gnade; s. auch die Fülle obd. dialektaler Fälle, wie sie z. B. im Register des Schweiz. Id. durch die Schreibungen b(e), g(e) dokumentiert sind. (3) Die Anzahl zweisilbiger oder mehrsilbiger Einheiten des Erbwortschatzes und von Flexionsformen dieser Einheiten wird vor allem in gesprochener Sprache durch eine zunehmende Abschwächung der vollen Endsilbenvokale (vor allem gegen Ende des Ahd.), durch die sog. e-Apokope (in frnhd. Zeit), durch Synkopen in Reduktionssilben, durch Kontraktionen aller Art reduziert (vgl. Sonderegger 1979, 237 f.). Diese Entwicklungen haben Auswirkungen bis in die Literatursprache (Metrik) hinein. (4) Für die Erbwörter ist der Wortakzent „durch das Prinzip der Stammsilbenbetonung, die Notwendigkeit der Fußbildung sowie die Verteilung von Voll- und Reduktionssilben vollständig bestimmt“ (Eisenberg 1998, 1399). In der Schreibung entspricht dem das morphologische Schreibprinzip (ä vs. e, äu vs. eu; finale b, d, g). Bei Fremdwörtern herrschen bereits seit ahd. Zeit andere Verhältnisse: im Vergleich zum Erbwort häufiger Mehrsilbigkeit; keine Reduktionssilben; Betonungsrelevanz der meisten Fremdsuffixe; schwierigere Unterscheidbarkeit morphologisch einfacher und komplexer Fremdwörter (Eisenberg 1998, 139). Je nachdem, welches strukturelle Gewicht man dem Fremdwort (einschließlich einiger unter Herkunftsaspekten indigener, aber unter Einzelgesichtspunkten als irgendwie besonders auffallender Wörter: Efeu, Bovist) zuzugestehen bereit ist, kann man von einem Kernsystem sprechen, in dem Fremdwörter irgendwann aufgehen oder in das sie, wie man sagt, im Laufe der Zeit integriert werden (das wäre der alte, einzelsprachbezogene Standpunkt); oder man müßte von zwei als gleichwertig zu betrachtenden Systemen ausgehen, deren erstes man etwa als indigen auffassen könnte und deren zweites man als Sammelsurium aller möglicher Herkünfte und struktureller Eigenschaften mit Ansätzen innerer Strukturbildung konzipieren könnte (das wäre in dieser extremen Fassung ein neuer Standpunkt); oder man müßte beide Standpunkte irgendwie miteinander verbinden (etwa im Sinne von Eisenberg 2001, 184: ein Kern, verschiedene Epizentren); auf jeden Fall sollte man das wie
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auch immer zu fassende indigene System prinzipiell historisieren, d. h. in die Abhängigkeit von Sprachkontakten stellen (Reichmann 2001). (5) Zu den strukturellen Kennzeichen des dt. Erbwortschatzes gehört seine phonologische Varianz in der Zeit und im Raum. Zu erwähnen sind neben vielen, meist dialektal randständigen Erscheinungen die folgenden, im Vokalsystem: Diphthongierungen von Monophthongen und Monophthongierungen von Diphthongen; Brechungen/Senkungen und Hebungen; Palatalisierungen; Ablaute; Rundungen und Entrundungen; Dehnungen und Kürzungen; Verdumpfungen; im Konsonantensystem: Spirantisierungen; Lenisierungen; Fortisierungen; Phonemspaltungen und -zusammenfälle; Phonemschwünde; Rhotazismen; Lateralisierungen; Velarisierungen; Entgeminationen (s. auch Frnhd. Gr. 1993, 160). Diese Erscheinungen sind zum Teil eng zeitund raumgebunden, zum Teil vollziehen sie sich in jahrhundertelanger, rückwärts über die Grenzen des Dt. hinausgehender Staffelung und raumübergreifend selbst den dt. Sprachraum transgredierend. Teilweise sind sie grammatisch funktionalisiert (wie z. B. die Ab- und Umlaute sowie die Vokalbrechungen), teilweise existieren sie als zeitliche, räumliche oder soziale Relikterscheinungen ohne systematische Auswirkung auf die Gesamtsprache (vgl. auch Art. 129, Abs. 3, 2). Insgesamt unterliegen die Varianzen einer im Zeitverlauf zunehmenden Reduktion und damit einer Festlegung in dem Sinne, daß lautgesetzliche Endstände erreicht werden und daß im Falle von fakultativen Entwicklungen einzelwortgebundene Entscheidungen erfolgen (z. B. im Bereich o/u bzw. von deren Umlauten: Sonne, König gegen Gunst, fürchten). Unter speziell räumlichen (dialektalen) Aspekten erfolgt eine zunehmende Reduktion sog. grober Dialektkennzeichen (was einzelne Gegenentwicklungen selbstverständlich nicht ausschließt). Die Gründe für diese Tendenzen sind die seit der beginnenden Neuzeit steigende Rolle der Schriftlichkeit in Verbindung mit der Herausbildung einer hochsprachlichen Leitvariante, so daß auch hier (wie am Schluß von Abs. 3.2.) die Entwicklung wieder angesprochen ist, die stärker als alle anderen eine systemverändernde Potenz haben dürfte. ⫺ Bei den Fremdwörtern herrschen wieder andere Verhältnisse; sie können einer so weitgehenden Eindeutschung unterliegen, daß sie alle oben genannten Entwicklungen wie native Wörter durchlaufen; aber sie können
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
auch dauernde Rückentlehnungen erfahren und sich der Variation des nativen Teils des dt. Wortschatzes dann entziehen.
5.
Die Inhaltsseite
5.1. Für die Erforschung der Inhaltsseite des Lexikons gelten die in Art. 129 (dort Abs. 2.4.) aufgelisteten Orientierungen: isolationistisch, paradigmatisch, nennwortbezogen, ausdrucksseitig, erbwortbezogen, simplexbezogen u. a. Dies heißt mit anderen Worten: Es gibt trotz einer hohen Anzahl isolierter Einzeluntersuchungen, deren Beispielwert keineswegs gesichert ist und wegen der geringen Systemhaftigkeit des Lexikons auch nur schwer gesichert werden kann, keine umfassende Systemgeschichte der Inhaltsseite des Lexikons. Eine solche Inhaltsgeschichte hätte sich einer Reihe von Fragen zu stellen, insbesondere den folgenden beiden: (1) Haben die lexikalischen Einheiten des Dt. im Laufe des kontinuierlichen Wechselspiels von Polysemierungen (= Erhöhung der Anzahl von Bedeutungen oder korrekter: von Bedeutungsansätzen durch den Lexikographen) und Depolysemierungen (Verringerung der Anzahl von Bedeutungen oder korrekter: von Bedeutungsansätzen) in ihrer Gesamtheit einer so starken Polysemierungstendenz unterlegen, daß man für die Mehrzahl lexikalischer Einheiten von einer strukturell relevanten Veränderung ihrer Inhaltsseite sprechen kann? Etwa in dem Sinne: Die Lexikoneinheiten des Deutschen sind im Laufe ihrer Geschichte immer polysemer geworden. Oder in dem Sinne: Sie tendieren geschichtlich zunehmend zu Eindeutigkeit als Idealfall, auch wenn dieser nie restfrei erreicht wird. Einzelfälle, die etwa für eine zunehmende Polysemierung sprechen würden, und solche, die sich als Depolysemierung interpretieren lassen, sind leicht und massenweise zu finden. Für Polysemierung spräche etwa: Wurzel, im Mhd. laut Lexer (3, 1012) monosem, nämlich ‘radix, Pflanzenwurzel’, in der nhd. Standardsprache offensichtlich polysem, nämlich la. ‘radix’, lb. ‘Zahnwurzel’, 2. ‘Ursprung’, 3. ‘Möhre’, 4. ‘Ansatzstelle eines Körpergliedes’, 5. ‘Etymon, Wortwurzel’, 6a. mathematische Zahl, 6b. ‘Quadratwurzel’ (nach Duden, GWb. 10, 4570). Das Entstehen und die relativ schnelle Verbreitung epistemischer Partikeln gegen Ende des Frnhd. kann als Polysemierung vieler Vertreter einer funktionalen Wortklasse aufgefaßt werden (Schildt
´ gel 1999, 180 ff.). Für Depolysemie1992; A rung wäre z. B. Abenteuer anzuführen: in mhd. und frnhd. Zeit eine Fülle von Differenzierungen in mindestens 2 Dutzend unterscheidbare Bedeutungsansätze (oder Ansätze von Bedeutungsvarianten; vgl. DWB, Neub. 1, 150⫺165; FWB 1, 61⫺68), in der nhd. Standardsprache (aber wohl auch im Nhd. als Gesamtsprache) laut Duden, GWb. 1, 71 Reduktion auf 4 solcher Ansätze. Löst man die in (1) formulierte Frage aus ihrer Bindung an die Einzeleinheit und bezieht sie auf mehrere lexikalische Einheiten, so würde sie lauten (verkürzt): Hat es im Laufe der Geschichte des Dt. Synonymierungen oder Desynonymierungen gegeben, die in ihrer Gesamtheit als systematisch relevante Veränderung des Lexikons interpretiert werden können? Polysemierung führt ja zur Erhöhung der Synonymität, Depolysemierung zu ihrer Verringerung. Einzelfälle lassen sich für die Desynonymierung bedeutend leichter und zahlreicher finden als für die Synonymierung, was für eine gewisse Berechtigung spricht, die in (1) gestellte Frage zu bejahen, und zwar im Sinne von Depolysemierung und entsprechend von Desynonymierung; vgl. ‘abwerben’ in diesem Handbuch (Art. 129, S. 1839). ⫺ In einigen Wortgeschichten und lexikgeschichtlichen Einzeldarstellungen werden regelhaft Zusammenstellungen solcher Fälle, gehäuft im Bereich der Determinativkomposita, vorgenommen; sie wirken dann durchaus persuasiv. Dies gilt insbesondere für wortartbezogene Aussagen, wie etwa die zu den sicheren Erkenntnissen zählende Aussage, daß die Konjunktionen im Übergang vom Frnhd. zum Nhd. eine starke Bedeutungsreduktion (Depolysemierung, das heißt dann auch: Desynonymierung) erfahren haben. (2) Haben die einzelnen Bedeutungen lexikalischer Einheiten im Laufe des historischen Wechselspiels von Bedeutungsverengerungen und Bedeutungserweiterungen (= Verschärfung oder Lockerung einer Gebrauchsregel bzw. korrekter: Annahme solcher Entwicklungen durch den Lexikographen) in ihrer Gesamtheit einer so starken Tendenz zur Verengerung oder Erweiterung unterlegen, daß man für die Mehrzahl von Bedeutungen eine strukturell relevante Veränderung des Inhaltssystems zu konstatieren berechtigt ist? Auch hier wären Einzelfälle leicht auffindbar; Bedeutungsverengerungen werden fast klischeehaft immer wieder von fachlichen Wortgebräuchen, Erweiterungen eher von allge-
173. Hauptaspekte des Ausbaus und Umbaus des Wortschatzes in der Geschichte des Deutschen
meinsprachlichen Gebräuchen behauptet; Fallisten bei Paul 2002 im Sachregister, S. 6 s. v. Bedeutungserweiterung und -verengung; man vgl. dort auch die Stichwörter Bedeutungsverbesserung und -verschlechterung mit Fällen, die als Bedeutungsverengerungen gewertet werden können. 5.2. Das Reden von der Auffindbarkeit von Einzelfällen im vorangehenden Absatz erfolgte bewußt. Es soll von vorne herein dokumentieren, daß mit der Auflistung von einigen wenigen oder gar Dutzenden von Erscheinungen für die eine oder andere Entwicklung angesichts der Größenordnung des Lexikons noch keineswegs der Beispielwert dieser Erscheinungen belegt ist, also keineswegs der Beweis erbracht ist, daß der gerade dargestellte Fall für eine ganze Reihe ähnlicher Fälle und letztlich für ein Systemkennzeichen steht, auch wenn dies oft suggeriert wird. Sollte die Gleichsetzung von Einzelfall und Beispiel zufällig einmal begründet sein, so fehlt jede Quantifizierung in dem Sinne, ob ein Fall bzw. Beispiel für einige Dutzend oder Hunderte oder Tausende ähnlicher Erscheinungen steht. Es fehlt durchgehend das Bewußtsein für die Frage, ob die aufgeführten Fälle/Beispiele systemrelevant sind oder den Bereich der Norm betreffen. 5.3. Die damit aufgeworfene Frage ist nicht ontologistisch, sondern nur im Zusammenhang mit einigen methodischen Fakten und der Rolle der Sprachgeschichtstheorie zu beantworten. Methodisch gesehen ist es für eine hohe Anzahl von Fällen schwierig, zur Feststellung eines bestimmten Polysemiegrades im Sinne von obiger Frage (1) oder zur Feststellung zunehmender Wohlbestimmtheit im Sinne obiger Frage (2) zu kommen, wenn man um die Defizienzen der älteren Überlieferung selbst im Bereich der Schriftlichkeit weiß, wenn man außerdem weiß, daß die vorhandene Überlieferung interessegeleitet ediert wurde, sich drittens bewußt ist, daß die vorhandenen Editionen nochmals einer Filterung unterzogen werden, ehe sie Berücksichtigung in einem Wörterbuch finden, das dann die Quelle einer wortgeschichtlichen Aussage bildet. Unter sprachideologischem Aspekt kommt hinzu, daß man im Sinne des letztlich aufklärerischen Entwicklungsmodells und des Einheitsmodells der Sprachgeschichtsschreibung durchgehend eher geneigt war, der dt. Wortgeschichte eine zunehmende Polysemierungs-, Differenzierungs- und Berei-
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cherungstendenz (s. obige Frage (1)), und der Verwendungsregel eine zunehmende Verschärfungstendenz (s. obige Frage (2)) zuzuschreiben als das Gegenteil (dazu Art. 1, Abs. 12; Art. 129, Abs. 3.5.5; Reichmann 1988; 1995) und daß man die vorhandene Überlieferung bzw. ihre mehrfache Brechung entsprechend dieser Vorprägung interpretierte. Es ist ganz klar zu beachten, daß Wörterbücher den Schlußpunkt einer Reihe von Brechungen der sog. sprachlichen Realität bilden und daß sie außerdem bei aller vermeintlichen Deskriptivität immer auch Kulturpädagogik betreiben (dazu Malkiel 1989; Haß-Zumkehr 2001). 5.4. In den Absätzen 2. bis 4. wurde trotz einiger Vorsichtsklauseln die These vertreten, daß die jeweils beschriebenen Entwicklungen weniger als Systementwicklungen wie als Normvarianzen zu beurteilen seien. Betrachtet man die bei dieser Einschätzung verwendete Terminologie kritisch, dann wird Mehreres deutlich, z. B.: (a) Die Terminologie ist mit Ausdrücken wie Einzelbedeutung, Polysemie, System usw. beschreibungssprachlich dem lexikalischen Strukturalismus verpflichtet, obwohl dies nicht der hier vertretenen Sprachtheorie entspricht. (b) Damit erfahren bestimmte Konzepte mit einem zunächst nur fachspracheninternen Status eine Ontologisierung in dem Sinne, daß z. B. das Sprachsystem, die Polysemie, die Norm als diskrete Gegenstände innerhalb von so etwas wie der kommunikativen Wirklichkeit existieren und nur entdeckt, festgestellt, beschrieben werden müssen; je mehr man etwa von Sprachsystem (usw.) redet, desto unproblematischer wird seine Existenz. (c) Die ontologisierten Konzepte suggerieren infolge ihrer linguistischwissenschaftlichen Provenienz logische Ordnungsverhältnisse, klare Über- und Unterordnungen, Zentrales und Peripheres, letztlich durchgehende oppositive Wohlbestimmtheit, wie sie am deutlichsten in der Fachschriftlichkeit vorhanden gesehen wird. (d) Die Norm erscheint dann als gegenüber dem System, die Parole gegenüber der Norm als das eher Zufällige, das Akzessorische; am besten wäre ein Sprachsystem, das man ⫺ so tendenziell die Sprachtheorie der Aufklärung und alle sich von ihr herleitenden Konzeptionen ⫺ vor dem Gebrauch durch normale und erst recht durch individuelle Sprecher schützen müsse, so wie ein guter Bibliothekar seine Bibliothek eigentlich gegen ihre Benutzer zu verteidigen hat.
2550
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
5.5. Im Lichte solcher Kritik stellt sich dann natürlich die Frage, welche Möglichkeit einer ´ gel (2003 Theoriealternative es denn gibt. A und mehrfach vorher) vertritt das Modell einer sog. dynamischen Grammatik, das aber auch auf das Lexikon anwendbar ist. Das ist der Versuch, das bisherige einheitliche, skriptizistische, symbolgrammatische Denken mit einem sprachnäheren, vor allem auf die konzeptionelle Mündlichkeit bezogenen, oral konnektionistisch geprägten kontextgrammatischen Denken zu verbinden. In der kommunikativen Realität der Neuzeit (seit dem 16. Jh.) entspricht dieser Verbindung ein vielleicht mit der Metapher historische Architektur adäquat zu bezeichnendes In-, Neben-, Gegen-, Mit-, Übereinander von klar strukturiertem, tendenziell homogenem, sich am reinsten in der konzeptionellen Schriftlichkeit zeigenden Handeln und einem genuin sprechsprachlichen, gebrauchsbestimmten, aggregativen, heterogenen Handeln. In diesem Modell wäre die gesamte Terminologie von System/Norm/ Parole, von Einzelbedeutung, Polysemie usw., um nicht irreführend zu wirken, als theorieabhängig fortwährend im Bewußtsein zu halten. Parole und Norm würden dann nicht mehr am System relationiert oder gar vom System her konstituiert, sondern als Größen innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses verstanden. Würde man diesen ontologisieren, so erhielte man eine fundamental geschichtstypische Gesamtheit von Gebrauchsregeln. ⫺ Es bleibt also zu bedenken, daß auch die dynamische Grammatik bzw. Lexikologie ein theoretisches Konzept ist, dem sich eine Fülle einzelner Wort- und Bedeutungsgeschichten zuordnen läßt; ein Nachweis seiner unbezweifelbaren Überlegenheit hätte sich mit den in Art. 129, Abs. 3.5.4. aufgeworfenen Problemen zu befassen. Als Argument zugunsten der dynamischen Lexikologie könnte der bei Augst 2000 implizierte Befund angeführt werden, daß Fremdwörter gegenüber den Erbwörtern einen durchschnittlich geringeren lexikographischen Polysemieindex aufweisen. Unter der Voraussetzung, daß Fremdwörter eher durch schreibsprachliche als durch sprechsprachliche Kontakte übernommen werden, könnte die These der Depolysemierung im Gefolge der Literalisierung eine gewisse Begründung erfahren. In die gleiche Richtung weist die seit der beginnenden Neuzeit zu vermutende, freilich nirgendwo verläßlich quantifizierte und ohne gediegene Wörterbücher auch nicht quantifizierbare Reduktion der Symptomwerte des
dt. Wortschatzes. Die Ausgangsthese lautet: Der Wortschatz des Dt. ist auf der Ebene des Wortes und auf der Ebene der einzelnen Wortbedeutungen seit jeher stark räumlich distribuiert. Es gibt also neben der darstellungsfunktionalen Leistung des Wortschatzes eine ausgeprägte räumlich-symptomfunktionale Leistung, nach der ein Wort/eine Wortbedeutung nicht nur sachbezogen, sondern auch personenbezogen etwas zu wissen gibt. Die Verbindung von sach- und personenbezogener Information in einer einzigen Einheit kann geradezu als Anzeichen einer gebrauchsbestimmten, aggregativen Verfassung von Lexik verstanden werden. Es bleibt selbstverständlich zu beweisen, daß die geringere Raumbindung des Wortschatzes, gleichsam seine wortgeographische Darstellbarkeit, infolge seiner soziologischen, medialen und strukturellen Vertikalisierung (Reichmann 2002) seit dem 16. Jh. nicht nur aufgrund starker Indizien (vgl. Goebel/Lemberg/Reichmann 1995, 221⫺233), sondern aufgrund breit corpusbasierter Untersuchungen als Faktum gesehen werden kann. 5.6. Die oben gestellten beiden Fragen müssen unter systemlinguistischem Aspekt wohl so beantwortet werden wie die in den Absätzen 2. bis 4. beschriebenen Entwicklungen: Bei einem strengen Systembegriff liegen sie im Bereich der Norm bzw. der Normen, insbesondere des an hoch- und speziell fachsprachlichen Normen orientierten Sprechens; Auswirkungen auf das System werden der Zukunft überlassen. Bei einer Sprachtheorie, die Sprache als genuin geschichtliches Phänomen sieht, bilden sie eine außerordentlich relevante, mit dem Übergang von einer eher oralen zu einer eher literalen Kultur und einer entsprechend motivierten Sprachpädagogik einhergehende Neuorientierung des gesamten Sprachgebrauchs. Die zunehmende Reduktion einer in der Gesamtsprache variierenden Vielzahl von Regeln (das ist: Depolysemierung) und eine zunehmende Wohlbestimmtheit der einzelnen Regel (das ist: Regelschärfung), lexikographietechnisch gesehen seit dem Beginn der Neuzeit eine immer geringer werdende Anzahl restfrei zuordenbarer schreibsprachlicher und tendenziell auch sprechsprachlicher Belege ist eine Entwicklung von so fundamentaler Bedeutung, daß man sie als Grundlage einer Zweigliederung der dt. Sprachgeschichte, etwa in Altdeutsch (mittelalterliches Dt., bis zum 16. Jh.) und Neudeutsch (neuzeitliches Dt., seit dem 16./ 17. Jh.) ansetzen könnte.
173. Hauptaspekte des Ausbaus und Umbaus des Wortschatzes in der Geschichte des Deutschen
6.
Die Durchsichtigkeit des Lexikons
Das Lexikon des Dt. enthält in ahd. Zeit 2845 überlieferte, von Splett 1993 erfaßte wortfamilienbegründende Einheiten; für die Gegenwart setzt Augst 1998 auf der Basis des HdG eine Anzahl von 8415 als Kernwörter bezeichnete Einheiten an; in mhd. und frnhd. (bzw. auch in mnd.) Zeit ist mit einer irgendwo in der Mitte dazwischen liegenden, bisher quantitativ nicht bezifferten Menge überlieferter Einheiten zu rechnen. Wie immer man den Status der von Splett angesetzten Zählgrößen mit demjenigen der Kernwörter Augsts identifizieren kann, wie immer man das Kernwort genau definieren mag, wie umfangreich man das vor allem bei Augst aufgrund seiner eingeschränkten Corpusbasis nicht erfaßte Kernwortmaterial auch veranschlagen mag, es dürfte unbestreitbar sein, daß beide genannten Autoren das für die Wortfamilienforschung relevante Lexikoninventar substantiell und in der Größenordnung zuverlässig erfaßt haben. 6.1. Die von Splett und Augst erfaßten Einheiten sind, wenn man von so etwas wie Onomatopoetica oder phonästhemischen Erscheinungen absieht, einfach (im Gegensatz zu komplex) und unmotiviert/undurchsichtig/ nicht transparent (im Gegensatz zu motiviert/ durchsichtig/transparent); in Einzelfällen kann der Ansatz einer Einheit als Kernwort (ich behalte diesen, auch von Splett benutzten Terminus bei) diskutablen Kriterien unterliegen, man vgl. etwa redlich als eigenes Kernwort, also losgelöst von reden. Unbestreitbar sinnvoll ist aber der Ansatz von Ausdrücken wie aˆband/Abend, abuh, affo/Affe, balg/Balg usw. als Kernwörter. ⫺ Zu einer hohen Anzahl von Fällen, die aber nie quantitativ beziffert wurden und wegen der Problematik ihrer Bestimmung auch schwer bezifferbar sind, gibt es nun erstens Phrasembildungen und zweitens Wortbildungen. 6.1.1. Phraseme liegen etwa vor in frnhd. in angesicht der augen ‘vor js. Angesicht’, sich ab den augen machen ‘sich aus dem Staube machen’, unter augen sein ‘anwesend sein’ usw. (vgl. FWB 2, 839 f.) oder in nhd. magisches Auge, das Auge des Gesetzes, jm. gehen die Augen auf, die Augen zumachen usw. (Duden, GWb. 1, 359 f.). Wie immer man Ausdrücke dieser Art definieren mag, es handelt sich um komplexe Einheiten mit lexikalischem Status, die teils vollständig durchsich-
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tig und teils vollständig undurchsichtig sind, in einer Unzahl von Fällen irgendwo zwischen den Extremen liegen. Versuche der (Re)motivation haben dann folgende Form: Das Auge wird als das Organ verstanden, in dessen direktem Kontrollbereich Vorgänge ablaufen, Tätigkeiten und soziale Handlungen vollzogen werden. Es steht dann a) für sinnliche und geistige Gegenwart, b) für die Öffentlichkeit von Handlungen im Gegensatz zu hinterrücks Erfolgendem, c) für die Augenscheinlichkeit von Handlungen usw. (FWB, a. a. O.; vgl. auch Röhrich 1988). 6.1.2. Von mindestens gleich hoher Bedeutung sind die Wortbildungen, bei Splett 0 (Null) bis 220, bei Augst 0 bis 151 (je nach Kernwort). Die Zahl 0 findet sich unter Spletts 2845 Einheiten 778mal, unter Augsts 8415 Einheiten 4037mal (= 48 %), wobei die Wörter fremden Ursprungs (56,3 %) diejenigen indigenen Ursprungs (40,7 %) deutlich überwiegen; für das Ahd. kämen nur 27,3 % sog. Singles, also isolierte Einheiten, zustande, Prozentsätze, die übrigens Erklärungsschwierigkeiten bereiten: Immerhin wird für das Ahd. eine größere Wortbildungstypik suggeriert als für die gegenwärtige Standardsprache, was selbst dann erstaunlich ist, wenn man die Unvergleichbarkeit der Corpusbasen berücksichtigt (im Ahd. Verzeichnung aller Belegeinheiten; im Nhd. nur langue-Einheiten). Die erwähnten 220 bzw. 151 Einheiten stellen das andere Extrem dar, wobei die angegebene Zahl für das Nhd. je nach Corpusbasis, nach Kriterium und dessen Handhabung für viele Einzelfälle erhöht werden könnte. Für die Ausbautiefe (das sog. Stufungsprofil) einer Wortfamilie sind kaum Bedingungen angebbar, für den quantitativen Ausbaugrad kommen semantische (Grad der Polysemie des Kernwortes), historische (Rolle der starken Verben), genetische (indigen versus exogen), wortartbezogene (Verben vor Substantiven, Adjektiven und anderen Wortarten), strukturelle und mannigfache kulturhistorische Bedingungen in Betracht (zu den Wortfamilienprojekten des Dt. s. Kap. XVIII von Lexikologie). Unabhängig von Differenzierungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, sind für das Dt. Wortfamilien der im folgenden veranschaulichten Art typisch (vgl. Abb. 173.1). Bei Pinloche (1930, 473) ergibt sich für Rede die Liste (hier nur in Aufzählung und unvollständig): Rede, Redefluß, Redekünstler, Redeart, Redefigur, Redegabe, Redekunst, Re-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
reden /Vb./ red en
Ab an An aus be be daher dahin dazwischen drein drumrum ein Ge heraus Aus herum hinein hinweg mit nach Nach über Über unter Unter verab Verab vorbei zer zu
Red Red Red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red red
e erei ner ner isch e en e en en t en en en en en en e en e en en en en en e en ung en ung en ung en en en
Abb. 173.1: Die Wortfamilie reden (aus: Augst 1998, 1085)
dekünstler, […], redefertig, redegewandt, Redefertigkeit, redselig, -redig (z. B. in ruhmredig), redlich, Redlichkeit, unredlich, Unredlichkeit, Ab-, An-, Aus-, Ein-, Vor-, Wider-, Zurede (und zugehörige Verben), reden, abreden, Abrede, verabreden, Verabredung, anreden, Anrede, ausreden, Ausrede, bereden, Beredung, beredsam, Beredsamkeit usw. 6.1.3. Die Phraseme und die Einheiten der Wortbildungsfelder sind im Gegensatz zu den Kernwörtern komplex und mehr oder weniger motiviert/durchsichtig/transparent. Im einzelnen kann für beide Typen komplex-teilmotivierter lexikalischer Einheiten weder die Grenze zwischen ‘einfach’ und ‘komplex’ noch der Grad der Durchsichtigkeit ein für allemal gültig, linguistisch richtig, sondern nur nach einem bestimmten Kriterium als be-
gründet angegeben werden. Es gibt Fälle, die von einigen Sprachbenutzern wie von einigen Linguisten als einfach beurteilt werden und von anderen nicht, und es gibt derartige Urteilsschwankungen hinsichtlich des Grades der Durchsichtigkeit (ansatzweise, partiell, stark, vollständig undurchsichtig, obwohl morphologisch segmentierbar) und damit hinsichtlich der Grenze von relativer Durchsichtigkeit und absoluter Undurchsichtigkeit. Die Bedingungen dieses Schwankens ergeben sich aus der unterschiedlichen metasprachlichen Bewußtheit der Sprecher einer Sprache, aus der Art ihrer Bildung, aus dem Vorhandensein von Varietätenkenntnissen (z. B. von Dialekten, Fachsprachen), aus der Verfügung über Fremdsprachen, aus der Kenntnis der Sachverhalte, auf die mit einer Wortfamilie Bezug genommen wird, aus Kulturkenntnissen unterschiedlichster Art. Um wenigstens die beiden zuletzt genannten Bedingungen zu veranschaulichen, seien einige Beispiele angeführt: Wand ist morphologisch ebenso leicht auf winden zurückzuführen wie Band auf binden, Klang auf klingen, Trank auf trinken; es ist aber zu vermuten, daß dieser Bezug üblicherweise deshalb nicht vollzogen wird, weil die historische Bauweise des Windens, Flechtens von Gerten (mit anschließender Lehmfüllung des Geflechts) im Alltagsbewußtsein nicht mehr geläufig ist. Bei Drang und Schwang dürfte der Bezug auf dringen und schwingen leichter fallen, aber dennoch kaum vollzogen werden, was die Durchsichtigkeit antastet. In einer Legion von Fällen besteht zwischen den Einheiten einer Wortfamilie eine (teils kulturtypische) metaphorische Beziehung, die im Unterschied zur metonymischen nicht durch Sachgegebenheiten (wie bei Wand/winden), sondern durch die Möglichkeit der Setzung von Ähnlichkeiten und deren letztlich infinite Nutzung zustandekommt; vgl. schäumen/Abschaum, klar/aufklären/Aufklärung, aufschneiden/Aufschneider, binden/Ausbund, beißen/Biß/ bißchen, Statt/bestatten ‘beerdigen’ und dialektal sowie historisch ‘verheiraten’, mhd. vart/ nhd. fertig/Fertigkeit/fertigen. Das Spiel von kontinuierlicher Demotivation einerseits und Motivationserhaltung und -stärkung sowie Neu-, Um-, Remotivation andererseits ist ein hervorstechendes Systemkennzeichen einer wortbildungstypischen Sprache wie des Dt.; es führt einerseits zu neuen Wortfamilien (synchron-metasprachlich gesehen) und kann andererseits Familienzusammenfälle zur Folge haben, die dann allerdings durch die
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Kombination von Schriftlichkeitsfixierung des Dt., Sprachunterricht usw. besonderen Durchsetzungsproblemen unterliegen. 6.2. Die folgenden Überlegungen gehen ⫺ unter methodisch bedingter Ausklammerung der Semantik ⫺ von der Voraussetzung aus, daß die Durchsichtigkeit einer Wortfamilie zwar nicht in direkter Proportionalität mit der phonologischen und morphologischen Varianz steht, die für das betroffene Kernwort und die einzelnen Wortbildungen gelten, daß aber doch gewisse wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Durchsichtigkeit und Varianz wahrscheinlich gemacht werden können. Die Arbeitshypothese lautet: Je ausgeprägter die Varianz, desto wahrscheinlicher die Blockierung der Durchsichtigkeit; oder: Je unausgeprägter die Varianz, desto unwahrscheinlicher die Durchsichtigkeitsblokkade bzw. desto wahrscheinlicher die Stützung der Durchsichtigkeit. In dieser Formulierung wurden die Ausdrücke ausgeprägt und wahrscheinlich bewußt vage oder unterminologisch verwendet; ausgeprägt kann z. B. unter Aspekten der Substanz und unter solchen des Oppositionssystems interpretiert werden. Wahrscheinlich soll heißen: Es gibt keine Berechnungsmöglichkeit, sondern nur die plausible Annahme einer gewissen, von mannigfachen Einzelfaktoren abhängigen Tendenz. Es können also massenweise Wortbildungen aufgelistet werden, die zu ihrer Basis keinerlei (oder nur geringe) Varianz aufweisen und doch auf dem Wege der Lexikalisierung sind: allein (mit all verstärktes ein), also, Art/artig, Mut/Anmut/Hochmut, aufschneiden/Aufschneider/Schneider, Backfisch, bewegen/Weg/weg/wegen, Ding/dingfest/dingen, Habe/behäbig, schwer/beschweren, brechen/Gebrechen. Umgekehrt existieren (allerdings weniger häufig) Bildungen, die trotz ausgeprägter phonologischer Abweichung auf eine Basis bezogen werden können und bezogen werden: Brunst/brennen, Herkunft/ herkommen. Die große Masse von Bildungen liegt zwischen beiden Extremen. Die Verhältnisse verkomplizieren sich noch dadurch, daß Einheiten fremden Ursprungs anderen Durchsichtigkeitsbedingungen unterliegen als indigene; innerhalb der fremdsprachigen Einheiten zeigen diejenigen aus den Bildungssprachen (Griech., Lat., Frz., Engl.) ein anderes Verhalten als diejenigen aus den Nichtbildungssprachen. Ferner kann vieles, das normalsprachlich undurchsichtig ist, vom Etymologen und ⫺ mit breiter sozialer Wirkung
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⫺ vom Sprachpädagogen durchsichtig gemacht werden. Da keine über zufällige Stichproben (etwa unter Studierenden) hinausgehenden Befragungen von Sprechern existieren, beruhen alle folgenden Aussagen auf Introspektion; deren Kontrolle ist allenfalls durch den Vergleich synchronisch gemeinter Wörterbücher (etwa Augst 1998; auch z. B. Sanders 1876) mit diachron orientierten (etwa Pinloche 1930) möglich. Zu erwähnen bleibt schließlich, daß die Prozesse der Motivierung bzw. Demotivierung in den meisten Fällen von mehreren Varianzen abhängen. ⫺ Die folgende Auflistung beansprucht selbstverständlich keine Vollständigkeit; die aufgeführten Entwicklungen sind nach dem Kriterium ‘generell/spezifisch’ und ‘älter/jünger’ geordnet. Die Beispiele sind den Wörterbüchern (Paul 2002; Pfeifer 2000; Kluge 1999; FWB; Lexer u. a.) entnommen. (1) Assimilationen wirken als genuin sprechsprachliche Erscheinung (dazu: Frnhd. Gr. § L 72) demotivationsfördernd: Amboß (aus mhd. boˆzen), Ammann, Wimper (aus mhd. wintbraˆwe), Zwilling. (2) Dissimilationen wirken als ebenfalls genuin sprechsprachliche Erscheinung demotivationsfördernd: Balbier/Barbier, Bofist (aus mhd. vohenfist ‘Füchsinnenfurz’), frnhd. samenen / nhd. sammeln, Knoblauch / mhd. klobelouch, frnhd. enelende (aus elelende, vgl. nhd. Elend), Maulbeere (aus mhd. muˆrberi). (3) Kontraktionen, ein Kennzeichen gesprochener Sprache, fördern die Demotivierung und damit die Bildung neuer Wortfamilien: Beichte zu bejehen, echt zu ehaft, Büx zu buckhose ‘Hose aus Bocksleder’. In diesem Zusammenhang sind auch einige Intensivbildungen mit Suffixen auf -zen zu sehen, die einem Kontraktionsprozeß unterzogen wurden: blitzen/ Blick, ächzen/ach, brunzen/ahd. brunno, drucksen/drücken. (4) Diminuierungen sind im allgemeinen voll durchsichtig; in Einzelfällen können sie die Demotivation stützen, insbesondere dann, wenn das Diminutivsuffix raumgebunden ist und sonstige demotivationsfördernde Faktoren hinzukommen; vgl. Biß/bißchen, ahd. ano ‘Ahn’/nhd. Enkel, Knöchel, Krümel, Knödel/ Knoten, ahd. sperili(n) (zu sper)/nhd. Sperling. (5) Präfigierungen können in Verbindung mit Kontraktionen demotivationsfördernd sein: bange/enge, barmen/arm, Gebrechen/brechen, Fälle der Reduktion von be-, ge- auf b- (bleiben/ leiben), g- (gleich/Leiche, begleiten/mhd. leiten, Gleis/ mhd., frnhd. leise ‘Spur’). Falls sich mit der Kontraktion eine Fortisierung des Konsonanten verbindet, ist für den Sprecher der Standardsprache kaum noch eine Motivation mög-
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lich: frnhd. kalt zu gehalt, geheien zu kein, geheben zu keben (FWB, s. v.). Suffixvarianten können trotz teils geringfügiger substantieller Differenzen stark demotivationsfördernd sein: Ball/Ballen, Barre/Barren, Bart/Barte/Hellebarde. Dieser Vorgang spielt für die altdt. Sprachstufen eine bedeutend größere Rolle als für die jüngeren. Der Ablaut wirkt in Einzelfällen demotivationsfördernd; dies gilt insbesondere dann, wenn sich ein Glied einer Wortbildungskette in einem Schwundprozeß befindet und/oder wenn semantische oder sachliche Faktoren mit im Spiel sind: binden/Ausbund, schießen/ ausschießen/Ausschuß, baß, besser/Buße, biegen/Bogen/Bügel, bieten/Büttel, Bremse (die Fliege)/brummen, Berg/Burg (möglicherweise), Drall/drillen/drollig. Alte t-Bildungen schwanken zwischen Durchsichtigkeit und Undurchsichtigkeit; bei Augst erscheinen sie bezeichnenderweise teils unter ihrer Basis, teil als eigenes Kernwort: Anstalt, bezicht-, Blüte, Draht, Frost, Naht, Saat, frnhd. leinwat. Der grammatische Wechsel bleibt wortgebunden ohne Einfluß auf die Durchsichtigkeit (ziehen/Zug, verlieren/Verlust), teils wirkt er ⫺ freilich oft in Verbindung mit Vokalwechseln ⫺ demotivationsfördernd und kann dann zur Bildung neuer Wortfamilien führen: dürfen/ darben, Hefe/heben, Höhe/Hügel, kiesen/Kür, Farren/Färse, Schwäher/Schwager (vgl. auch Dammers/Hoffmann/Solms 1988, 512 f.; Frnhd. Gr. § M 104 f.). ⫺ Primärberührungseffekte sind ⫺ möglicherweise auch durch die oft gegebene Kombination mit Vokalwechseln ⫺ wohl schon in ahd. Zeit nicht mehr als regelhafter Konsonantenwechsel durchschaubar; sie haben deshalb unter synchronem Aspekt (s. Augst 1998) zu eigenen Wortfamilien geführt; vgl. das Nebeneinander von würken und mhd. (schuoch)würhte, mögen und Macht, pflegen und Pflicht, geben und Gift, heben und Haft, klieben und Kluft (Mhd. Gr. § 94). Pinloche 1930 führt diese Bildungen unter ihrer etymologischen Basis an. Suffixe mit j- haben als phonematische Reflexe die Konsonantengemination, damit indirekt ein eigenes Verhalten in der Zweiten Lautverschiebung, den Umlaut und die Brechung; semantisch führen sie zu Intensiv- und zu Kausativbildungen; Beispiele für Intensiva (oft in Kombination mit Ablaut) sind Dubletten wie raufen/rupfen, gleißen/glitzern, schneiden/schnitzen, biegen/bücken, neigen/nicken, triefen/tropfen (Henzen 1965, 216 f.); Beispiele für Kausativa bilden: beizen zu beißen, brennen zu brinnen, fällen zu fallen, hetzen zu hassen, rennen zu rinnen, sprengen zu springen (usw.; meist Ableitung von der 2. Hochstufe). Unter synchronem Aspekt sind sowohl für die Intensiva wie für die Kausativa meist neue Wortfamilien anzusetzen (so Augst 1998 im
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Gegensatz zu Pinloche 1930). Die mhd. Dubletten mit e¨/e (le¨schen/leschen, pfle¨gen/pflegen, ste¨chen/stecken, schre¨cken/schrecken) haben sich nicht als eigene Kernwörter etablieren können, ihre Geschichte spiegelt sich in Schwankungen der Flexionsklasse (Dammers/ Hoffmann/Solms 1988; Theobald 1992). Alte Brechungen (i/e; u/o) wirken demotivationsfördernd, führen teilweise zu Wortspaltungen und damit zur Neubegründung von Wortfamilien: biegen/beugen, mhd. we¨gen/nhd. (be)wegen/wägen/wiegen, Berg/Gebirge, Feld/ Gefilde, geschehen/Geschichte, geben/(er)giebig (relativ motiviert) gegen frnhd. rächen/richig, frnhd. jehen/gichtig/(möglicherweise:) nhd. Gicht, borgen/Bürge, Borste/Bürste, Fohlen/Füllen (eher demotiviert). Umlaute können die Durchsichtigkeit vollständig unbeeinträchtigt lassen, sie können aber auch, insbesondere in Verbindung mit einem Graphiewechsel, demotivationsfördernd sein: Balken/Gebälk, Holz/Gehölz gegen aber/frnhd. äfern ‘wiederholen’, Angst/eng, baß/besser, Hand/behende, Dank/denken, Adel/edel, alt/Eltern, fast/fest, schon/schön. Rundungen und Entrundungen sind im Dt. in aller Regel dialektale, konzeptionell mündliche Erscheinungen; sie wirken in vielen Fällen demotivationsfördernd und können zur Bildung neuer Wortfamilien führen: ereignen aus mhd. eröugen (zu ouge), Schleife aus mhd. sloufe, weitere Beispiele in der Frnhd. Gr. § L 36. Vielfach bleibt die Wortfamilie trotz der Substanzveränderung konstant: mhd. helle/ nhd. Hölle, ergetz-/ergötz-. Der frnhd. dialektale Wechsel von tw-/qu-/zwist demotivationbegründend und führt in nahezu allen betroffenen Fällen zu isolierten Einheiten bzw. zu neuen Wortfamilien: mhd. que¨ne/ kone, que¨r/Zwerchfell, Quecke/keck, que¨men/bequem/kommen, twahen/Zwehle. Der md., speziell mfrk. Lautwandel von ft zu cht führt bei den Sprechern der Standardsprache und außerhalb des Wandlungsgebietes zur Demotivierung der jeweiligen Bildung; Niederschläge in der Standardsprache (mit neuen Wortfamilien) sind z. B. echt aus ehaft, Schlucht aus schliefen/Schluft, Nichte aus mhd. niftel, achter/after, Gerücht aus gerüefte, sacht aus sanft, vgl. ferner Frnhd. Gr. § L 56, 3. Interferenzen aus Raumvarianten des Dt. in die Standardsprache sind auch in Fällen wie doof/ taub mit Demotivierung und der Bildung neuer Wortfamilien verbunden. Mundartlich weit verbreitete Verdumpfungen des mhd. altlangen a zu o insbesondere vor Nasal und nach w finden in frnhd. Zeit vorübergehend Eingang in die Schriftlichkeit, werden aber schon im 16. Jh. wieder ausgestoßen. Ausnahmen (ohne/mhd. aˆne, Odem/Atem, Argwohn/wahn, Brombeere/mhd. braˆmber, Woge/mhd. waˆc, und einige andere; vgl. Frnhd. Gr. § L 22) haben meist zu isolierten Einheiten geführt.
173. Hauptaspekte des Ausbaus und Umbaus des Wortschatzes in der Geschichte des Deutschen (18) Metathesen von l und r begegnen im Dt. in relativ wenigen, einzelwortgebundenen Fällen; sie fördern die Demotivation und können zu neuen Wortfamilien führen: brennen/Bernstein, Born/Brunnen, bersten/mhd. bresten/nhd. Gebresten, blöken/bölken (vgl. auch Frnhd. Gr. § L 65, 3). (19) In einer Reihe von Fällen führt die Existenz zweier substantiell ähnlicher Einheiten zur Wortverwischung, damit zum Zusammenfall zweier Wortfamilien. So kann mhd. ebentiure ‘gleich hoher Wert’ mit den md. (auf eventura zurückgehenden und mit e- anlautenden) Formen von aventiure, nhd. Abenteuer zusammenfallen (FWB 1, 61 f.; DWB, Neub. 1, 150 f.); vgl. Antlitz/ frnhd. antlit; dicht/dichten/ Dichtung (mit den beiden Etymologien dieser Wortfamilie). (20) Eine hohe motivationssichernde Rolle spielt die Orthographie des Dt. mit dem historischen, dem etymologischen und dem morphologischen Schreibprinzip. Dem wirken erstens diejenigen, besonders in der Orthographie der Aufklärung diskutierten Fälle entgegen, die das Prinzip der Homographenvermeidung nicht nur auf Homonyme, sondern auch auf polyseme Wörter anwenden und damit im Rahmen der Deutlichkeitsideologie gleichsam eine graphische Wortspaltung anstreben. Zweitens gibt es eine Anzahl von Einzelfällen, in denen die Orthographie unter heutigen synchronen Aspekten im Laufe des späteren Frnhd. und älteren Nhd. zur Spaltung von Wortfamilien geführt hat: Beet/Bett, bestätigen/stetig, entbehren/gebären, Gasse/Gessner, das/daß.
6.3. Überblickt man die vorgetragene Liste, dann zeigt sich folgendes Bild: (1) Die unter (1) bis (5) und (13) bis (18) angesprochenen Entwicklungen, also Assimilationen, Dissimilationen, Kontraktionen, Präfixveränderungen, Rundungen bzw. Entrundungen, dialektale Varianzen verschiedener Art, fördern die Demotivierung und führen in einer unterschiedlich hohen Anzahl von Fällen zu neuen Wortfamilien. Es handelt sich dabei großenteils um Niederschläge der Sprechsprache in der geschriebenen Sprache, genauer gesprochen: um Niederschläge dialektal-sprechsprachlicher Erscheinungen in der konzeptionellen Schriftlichkeit. Geht man davon aus, daß es zur Seinsweise von konzeptioneller Schriftlichkeit der Art, wie sie im dt. Sprachbereich gepflegt wird, gehört, ausnahmslos jede lexikalische Einheit in der Schriftlinie von ausnahmslos jeder anderen Einheit durch einen Zwischenraum zu isolieren, dadurch zu fixieren und jede variante Schreibung durch die Sprachpädagogik
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als falsch zu deklarieren und sowohl im Unterricht wie in der außerschulischen Praxis zu bestrafen (Stetter 1999), dann muß es irgendwann einen Zeitraum geben, in dem sich dieser Prozeß vollzieht. Auch wenn die historisch jüngere konzeptionelle Schriftlichkeit zunächst neben die historisch ältere konzeptionelle Mündlichkeit getreten ist, bedeutet dies, daß das gesamte Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit irgendwann zugunsten letzterer „kippt“. Ich setze als historische Zeitspanne für diesen Prozeß das weitere 17. Jh. mit seiner neuen, teils humanistischen (schon 16. Jh.), teils mystischen, bald schon rationalistischen Sprachkonzeption (Reichmann 1996) und mit den dazu stimmigen soziologischen Hierarchieverhältnissen (Absolutismus) an. Vor dem 17. Jh. wäre dann durchaus ein wechselseitiges Inter- und Transferieren von Spracherscheinungen jeder Varietät in jede andere nicht nur möglich, sondern sogar Normalität, danach würden nicht nur Interferenzen der als niedriger eingestuften sozialen und medialen (sprechsprachlichen) Sprachvarianten auf höher eingestufte zur Ausnahme, sondern der umgekehrte Prozeß, nämlich die durchgehende strukturelle Überlagerung z. B. der Dialekte durch eine herausgehobene Variante, die man dann besser als Hoch- wie als Standardsprache bezeichnen würde, aber auch aller konzeptionell mündlichen Erscheinungen durch eine zweite, schriftsprachgeprägte Mündlichkeit würde zur Regel (dazu Reichmann 2002). Zu dieser Entwicklung stimmen die in Punkt (5) von Abs. 4. behauptete ausdrucksseitige Variantenreduktion und die in Abs. 5. diskutierten Depolysemierungen und Regelverschärfungen. (2) Das unter (1) Gesagte läuft auch auf die These hinaus, daß bis zum weiteren 17. Jh. als einem sprachgeschichtlichen Einschnitt schlechthin die auch danach noch bestehende Möglichkeit einer Vermehrung von Wortfamilien intensiver genutzt wurde als seit dem 17. Jh. Die konzeptionelle Schriftlichkeit hätte also nicht nur zu einer stärkeren Fixierung des Einzelwortes, sondern auch zu einer Fixierung jeder Wortfamilie sowie des Inventars an Wortfamilien geführt. Die Kehrseite dieser Entwicklung lautet: Die Durchsichtigkeit der komplex gebildeten Einheiten des Lexikons nimmt zu, sie wird geradezu zum sprachpädagogischen Programm; Lexikalisierungen und Phrasematisierungen müßten abnehmen. Statt einer fortwährenden (wenn auch nur eingeschränkten) quantitati-
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ven Vermehrung des letztlich von Einheit zu Einheit zu lernenden Inventars wird die alte rationalistische Regel gepflegt, nach der man aus einer relativ begrenzten Menge von Einheiten und einem überschaubaren System von Regeln zu deren Kombination beliebig viele Neubildungen vornehmen kann. Umgekehrt: Die vorkommenden Neubildungen sind analytisch in ihre Bestandteile zu zerlegen und systematisch deshalb leichter verstehbar als (teil)lexikalisierte Einheiten. Die Fachsprachenideologie E. Wüsters (z. B. 1931), aber auch die Ideologie einer Reihe von Schulgrammatiken sind Orte, an denen diese Ideologie herrscht. Von hier aus ergibt sich eine Brücke zu dem in 5.5. angesprochenen Nebeneinander einer konnektionistischaggregativen, heterogenitätsorientierten und einer logisch-analytisch orientierten Linguistik. (3) Eine Anzahl von Punkten der vorgetragenen Liste ist unter dem gerade diskutierten Aspekt nicht behandelbar, weil die jeweiligen Entwicklungen in vorschriftlicher Zeit erfolgten.
7.
Fazit
Der Artikel macht zunächst darauf aufmerksam, daß historische Lexikologie und historische Lexikographie auf den sozialen Funktionszusammenhang lexikalischer Einheiten zielen und dabei systembezogene Fragen an den Rand drängen. Argumentiert man in den Geleisen von System, Norm, parole, dann würden sich Ausbau und Umbau des Wortschatzes eher im Bereich der Norm als des Systems vollziehen. Gibt man diesen Theorierahmen auf, dann zeigen sich hinsichtlich der Grenzen von Morphologie, Lexik und Syntax sowie hinsichtlich der Entwicklung der Ausdrucksseite, der Inhaltsseite und des Motivationsgefüges einige Entwicklungen, die entscheidend durch die neue Rolle der Schriftlichkeit seit dem weiteren 17. Jh. bestimmt sind und zu tiefgreifenden Umgestaltungen des Lexikons geführt haben.
8.
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174. Grundzüge einer Geschichte des Sprichwortes und der Redensart 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Einleitung Alter, Herkunft und Überlieferung Mittelalter Humanismus und Reformation Barock Aufklärung, Klassik und Romantik Das 19. Jahrhundert Das 20. Jahrhundert Literatur (in Auswahl)
1.
Einleitung
Die Verwendung von und das Interesse an Sprichwörtern und Redensarten lassen sich bis in die Frühgeschichte der dt. Sprache zurückverfolgen. Während heute synchronisch arbeitende Linguisten das Gesamtgebiet der Phraseologie erforschen (Dobrovol’skij 1988), widmeten sich Philologen, Literaturwissenschaftler, Volkskundler und Kulturhistoriker eher diachronisch ausgerichteten Themen. Dabei galt und gilt ihr Hauptaugenmerk der Sprichwörterforschung, die auf internationaler und komparatistischer Ebene in die beiden Teilgebiete der Parömiologie und der Parömiographie zerfällt. Beide Forschungsaspekte gehören zu einer inklusiven Betrachtung der sprichwörtlichen Volkssprache. Während Parömiographen die zahlreichen Sprichwörtersammlungen in ihrer sprach- und kulturgeschichtlichen sowie lexikographischen Entwicklung erforschen, sind Parömiologen interessiert an Alter, Herkunft, Überlieferung, Sprache, Stil, Kontext, Funktion und Bedeutung dieser meist metaphorischen Texte. Die dt. sowie internationale Sprichwörterforschung basiert auf zuverlässigen und vollständigen Bibliographien zu Sammlungen (Moll 1958; Mieder 1984 b; 1989) sowie zur umfangreichen Sekundärliteratur (Mieder 1982; 1990; 1993). Es liegen aber auch etliche Gesamtüberblicke zur Sprichwörterkunde vor (Seiler 1922; Taylor 1931; Kuusi 1957 a; Koller 1977; Röhrich/Mieder 1977; Mieder 1978; 1979; Pilz 1978; 1981; Burger/Buhofer/
Sialm 1982; Grzybek/Eismann 1984; Sabban/ Wirrer 1991; Whiting 1994). Doch auch die zahlreichen phraseologischen Sammelbände enthalten historisch ausgerichtete Beiträge über Sprichwörter und Redensarten (Korhonen 1987; 1992; Gre´ciano 1988; Eckert 1991; Palm 1991; Földes 1992; Sandig 1994). Zusammen ergeben die hier hauptsächlich auf Deutsch verfaßten Arbeiten einen gefächerten Überblick über die geschichtliche Entwicklung sprichwörtlicher Sprache vom Ahd. bis zur Gegenwart.
2.
Alter, Herkunft und Überlieferung
Ein beachtlicher Anteil dt. Sprichwörter und Redensarten war längst in mündlichem und schriftlichem Umlauf, bevor sich die dt. Sprache aus dem Germanischen herauskristallisierte. Um die Überlieferungsgeschichte auch nur eines sprichwörtlichen Textes in all seinen sprachlichen, strukturellen und semantischen Entwicklungslinien von der Antike bis zum heutigen Sprachgebrauch aufzuzeigen, bedarf es normalerweise monographischer Studien. Das zeigt z. B. Kuusis (1957 b) umfangreiches Buch zur „Weltgeschichte“ der vielen sprichwörtlichen und redensartlichen Varianten um das international verbreitete Motiv Regen bei Sonnenschein. Auch ein im Dt. gängiges Sprichwort wie Die großen Fische fressen die kleinen konnte bis zu griech. Quellen aus dem 8. Jh. v. Chr. belegt werden (Mieder 1988). Das Sprichwort wurde im Mittelalter aus dem Lat. lehnübersetzt, und man könnte nun die jeweilige Geschichte des Sprichworts in den verschiedenen Nationalsprachen erforschen. Das gilt nicht nur für zahlreiche Sprichwörter aus der griech. und römischen Antike wie etwa Eile mit Weile, Steter Tropfen höhlt den Stein und Eine Hand wäscht die andere, sondern dasselbe Phänomen der literarischen Lehnübersetzung zeigt sich auch für das biblische Weisheitsgut (Schulze 1860; Pfeffer 1975). Sprichwörter
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
und Redensarten wie Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler (Hiob 39, 30), Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein (Spr 26, 27) und Der Mensch lebt nicht vom Brot allein (Mt 4, 4) sind in so vielen Sprachen wortwörtlich im Umlauf, daß man hier zusammen mit antikem Sprichwortgut von internationalen Texten sprechen kann. Viele der heute immer noch kursierenden Sprichwörter und Redensarten gehen sicherlich auf eine vorliterarische Zeit zurück, denn auch die Texte, die man auf in Keilschrift verfaßten Tafeln des sumerischen Volkes entdeckt hat, waren wohl bereits im mündlichen Sprachgebrauch im Umlauf. So sind schriftliche Erstbelege eben nur Daten der Verschriftlichung gesprochener Weisheitstexte. Wenn also das beliebteste dt. Sprichwort Morgenstunde hat Gold im Munde in diesem Wortlaut zum ersten Mal 1585 in einer Sprichwörtersammlung auftaucht, so ist anzunehmen, daß es davor in mündlicher Form existierte. Das zeigt die schon 1582 belegte Variante Die Morgenstund hat die Arbeyt im Mundt (vgl. Mieder 1983, 105⫺112). Überhaupt gilt ganz allgemein, daß gerade oral verbreitete Sprichwörter in mehreren Varianten existieren, bis sich eine „mundgerechte“ und standardisierte Formulierung etabliert. Freilich können auch zuerst nur schriftlich belegte Texte den Weg vom Zitat zum geflügelten Wort bis zum anonymen Sprichwort gehen. Friedrich Schillers Zitat Die Axt im Haus erspart den Zimmermann (Wilhelm Tell, III, 1) vom Jahre 1804 ist längst sprichwörtlich geworden, denn die meisten Sprachteilnehmer denken bei seinem Gebrauch keineswegs mehr an seinen Urheber (vgl. Mieder 1985, 155⫺161). So gibt es in der Entwicklungsgeschichte der Sprichwörter einen ständigen Austausch zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit (Mieder 1992, 13⫺ 36), wie dies für andere Volkserzählgattungen wie Märchen, Sagen, Schwänke, Fabeln, Rätsel, Witze usw. auch der Fall ist (Wildhaber 1955; Röhrich 1960 [in Mieder 1978, 121⫺ 141]; Bausinger 1968; Permiakov 1979; Mieder 1986; Carnes 1988; Rölleke/Bluhm 1988; Röhrich 1991⫺1992). Ob aus mündlicher oder schriftlicher Quelle hervorgegangen, der Urheber eines Sprichwortes oder einer Redensart ist immer ein Individuum, das irgendwann, irgendwo und irgendwie einen Gedanken oder eine Beobachtung kurz und bündig zum Ausdruck bringt, der wegen seiner Weisheit und Allgemeingültigkeit rezipiert und auch „umgesagt“ wird, bis er die tradierbare Form gefunden
hat. Da die mündliche Überlieferung früherer Jahrhunderte nicht zu belegen ist, beruht die geschichtliche Erforschung der sprichwörtlichen Sprache zum größten Teil auf schriftlichen Quellen. Dabei hat man sich zu sehr nur auf die schöngeistige Literatur konzentriert, und auch da wieder speziell auf Schriftsteller des Mittelalters sowie des 16., 17. und 19. Jhs. (Mieder 1978, 179⫺200). Neuere Forschungsansätze beachten inzwischen auch die moderne Literatur sowie die frequente Verwendung der sprichwörtlichen „Fertigware“ in den Massenmedien und der Werbung (Reger 1980; Mieder 1975; 1983). Hinzu kommen auch Forschungsprojekte, die den Gebrauch von Sprichwörtern im modernen mündlichen Sprachverkehr untersuchen, und zwar von Dialekttexten bis hin zur manipulativen Sprache der Politik (Hain 1951; Gautschi 1982; Hünert-Hofmann 1991; Mieder 1992, 211⫺272). Auch werden Fragen nach der geographischen Verbreitung, der sprachlichen Struktur sowie der sozialen und kommunikativen Bedeutung dieser vorgeprägten Sprachware untersucht (Kuusi 1957 a; Grober-Glück 1973; Peukes 1977; Kanyo´ 1981; Mieder 1995). Allgemein kann festgestellt werden, daß es regional beschränkte sowie international verbreitete Sprichwörter und Redensarten gibt, daß viele scheinbar von zeitloser Bedeutung sind, während andere in der modernen technologisierten Welt aussterben und durch neue, weniger anachronistische Texte ersetzt werden (Müller-Thurau 1983). Wie in anderen Sprachgemeinschaften auch, spielen die sprichwörtlichen Wortblöcke im Dt. seit eh und je eine erhebliche Rolle in der menschlichen Kommunikation.
3.
Mittelalter
Das wohl älteste dt. Sprichwort ist im ahd. Hildebrandslied (ca. 810) überliefert und lautet Mit geru scal man geba infahan, ort widar orte (Mit dem Speer soll man Gabe empfangen, Spitze gegen Spitze; vgl. Lühr 1982, Bd. 2, 588⫺596). Zu den wenigen aus dieser Zeit überlieferten Sprichwörtern gehören 15 Texte, die der St. Gallener Mönch Notker Labeo seiner Schrift De partibus logicae am Anfang des 11. Jhs. beifügte (Seiler 1922, 68⫺71; Singer 1944, 55⫺61), darunter Soˆz re´genoˆt, so na´zzeˆnt tıˆ boˆuma (Wenn es regnet, werden die Bäume naß) und ⫺ aus Notkers Umkreis ⫺ Soˆ diz reˆpochchilıˆ fliet, soˆ plecchet imo ter ars (Wenn das Rehböcklein flieht, so
174. Grundzüge einer Geschichte des Sprichwortes und der Redensart
bleckt ihm [erscheint weiß] der Hintern). Mit der von Egbert von Lüttich verfaßten Sammlung Fecunda ratis (1023) beginnt dann eine ganze Reihe kleinerer Sammlungen, die außer antikem und biblischem Sprichwortgut auch dt. Sprichwörter in lat. Übersetzung enthalten. Der Sinn und Zweck dieser frühen Sammlungen war moralisch-didaktisch ausgerichtet, um Schülern an den Klosterschulen Moral und Lebensweisheit zu vermitteln. Diese Praxis verbreitete sich über große Teile Europas, so daß sich durch Lehnübersetzungen in die verschiedenen Volkssprachen ein sogenanntes „gemeinmittelalterliches“ Sprichwortgut entwickeln konnte. Dies gilt nicht nur für die rezipierten klassischen und biblischen Sprichwörter, sondern auch für die ins Mittellateinische übersetzten Volkssprichwörter. Auf diese Weise konnten bekannte Sprichwörter wie Neue Besen kehren gut, Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist und Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht im identischen Wortlaut in verschiedenen Nationalsprachen verbreitet werden. Erst mit den 162 Schwabacher Sprüchen aus dem 14. Jh. werden dann ausgesprochen zweisprachige Sammlungen zusammengestellt, wobei die dt. und lat. Texte hauptsächlich Übersetzungsübungen an den Klosterschulen dienten (Seiler 1922, 71⫺104; Seiler 1921⫺1924; Röhrich/Mieder 1977, 37⫺46). Für das deutschsprachige Volkssprichwort des Hochmittelalters ist selbstverständlich die mhd. Literatur als bedeutendste Quelle anzusehen, wie es Singers dreibändiges Werk Sprichwörter des Mittelalters (1944⫺1947) deutlich nachweist. Überhaupt haben Literaturwissenschaftler vor allem lange Werke wie das Nibelungenlied, Erec, Parzival, Tristan und Isolde und den Renner auf ihre sprichwörtliche Sprache hin untersucht. Zum Teil gilt dies auch für die Lyrik des Minnesangs, doch liegt z. B. noch kein Beitrag vor, der sich spezifisch mit der Funktion und Bedeutung von Sprichwörtern und Redensarten im Werke Walthers von der Vogelweide auseinandersetzt. Dagegen hat man natürlicherweise ein besonderes Augenmerk auf Spruchdichter wie Spervogel und Freidank geworfen, da ihre didaktische Dichtung tatsächlich viel Sprichwortweisheit enthält (Mieder 1978, 179⫺ 200). Neuerdings hat sich Hofmeister (1990) in einer Sprichwortanalyse des Gesamtwerks Oswalds von Wolkenstein auch mit der erheblichen Problematik auseinandergesetzt, aus heutiger Sicht erst einmal „sprichwortartige Mikrotexte“ in einem mittelalterlichen
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Text ausfindig zu machen. Gerade für diese frühen Texte müssen solche Aspekte wie Volksläufigkeit und Traditionalität, die allgemein zur Sprichwörtlichkeit gehören, durch sprachliche, strukturelle und vergleichende Analysen bewiesen werden (Hofmeister 1992). Die Metaphorik und Sprache mittelalterlicher Sprichwörter spiegeln vor allem die mannigfaltigen Aspekte der Ritterkultur wider. Wie ein Blick in Lutz Röhrichs dreibändiges Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten (1991⫺1992) aufzeigt, lassen sich das Vokabular und die Bildlichkeit solcher Texte wie Für jdn. eine Lanze brechen, Etwas im Schilde führen und Den Spieß umkehren nur auf Grund der Vertrautheit mit mittelalterlichen Gepflogenheiten und Realien verstehen. Wer heute Sprichwörter benutzt, kennt zwar deren Bedeutung, weiß aber oft ihren eigentlichen historischen Sinn nicht zu erklären. So ist z. B. die Redensart Einen Korb bekommen heute so populär wie eh und je, aber sobald man diese Aussage sprach- und kulturgeschichtlich hinterfragt, fühlt man sich zum Nachschlagen in Röhrichs Lexikon oder anderen erklärenden Wörterbüchern gezwungen. Dort erfährt man dann folgendes: „In der Bdtg. ‘mit einem Liebesantrag abgewiesen werden’ erklärt sie [die Redensart] sich aus der ma. Sitte, daß ein Mädchen einem ihr nicht genehmen Freier einen Korb, dessen Boden gelockert war, von ihrem Fenster an einem Seil hinunterließ. Wurde er nun in diesem Korb hinaufgezogen, so mußte er zwangsläufig ‘durchfallen’“ (Röhrich 1992, Bd. 2, 872).
Röhrich fügt auch gleich noch eine mittelalterliche Illustration zu diesem Sprachbild hinzu und weist nach, daß sich aus diesem älteren Durch den Korb fallen oder auch Im Korb hängenbleiben der weniger deutliche Ausdruck Einen Korb bekommen entwickelte. Nur detaillierte sprachliche und kulturgeschichtliche Forschung vermag den Werdegang solcher Texte an Hand von zahlreichen kontextbezogenen Belegen aufzuzeigen.
3.
Humanismus und Reformation
Am Anfang des 16. Jhs. erschien Erasmus von Rotterdams ungemein einflußreiche Sammlung Adagia (1500 ff.), die von etwa 800 griech. und lat. Texten in späteren Ausgaben bis auf 4151 Belege anschwoll. Nicht nur machte Erasmus seinen gebildeten Humanistenkollegen antikes Weisheitsgut in lat. Sprache zugänglich, er stattete die Belege
2562
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
auch mit etymologischen und kulturgeschichtlichen Kommentaren aus, die seine Adagia bis zum heutigen Tage zu einer wertvollen Quelle machen. Erasmus übersetzte aber auch niederländische Volkssprichwörter, um auf Parallelitäten zwischen antikem und neuerem Bildungsgut hinzuweisen. Das tat dann auch der dt. Humanist Heinrich Bebel in seinen Proverbia Germanica (1508), worin er 600 dt. Sprichwörter leider nur in lat. Übersetzung und mit ganz minimalen Worterklärungen abdruckte. Sein Buch galt erneut dem Zweck, eine Art Lehrbuch für korrektes Latein zu schaffen, d. h. Sprichwörter als schulische Übersetzungsübungen ohne kulturgeschichtliches Interesse (Seiler 1922, 104⫺112). Doch das änderte sich in dem Moment, wo reformatorisch gesinnte Schriftsteller und Verleger den rhetorischen und moralischen Wert dt. Volksweisheit entdeckten. Martin Luther selbst legte sich um 1530 eine handschriftliche Sammlung von 489 dt. Sprichwörtern und Redensarten an, auf die er ständig bei seiner Bibelübersetzung sowie bei der Abfassung seiner eigenen Werke zurückgriff. So wie Luther einen großen Einfluß auf die Entwicklung der dt. Gemeinsprache hatte, so muß er auch als sprachgewandter Übersetzer biblischer Sprichwörter und als Liebhaber sprichwörtlicher Sprache betrachtet werden (Schulze 1860; Thiele 1900; Cornette 1942; Moser 1980; Weckmann 1984). Ein Paradebeispiel seiner volkssprachlichen Übersetzungskunst bildet seine dt. Formulierung Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über (Mt 12, 34; vgl. Nelson 1986) aus Ex abundantia cordis os loquitur. Zur Zeit der Reformation entstanden drei umfangreiche Sprichwörtersammlungen, die nicht mehr bloß Texte kommentarlos aneinanderreihten sondern diese didaktisch und moralisch im Sinne des Glaubenskampfes auslegten, was sie zu wertvollen sprach- und kulturgeschichtlichen Dokumenten macht. Johann Agricolas Sybenhundert und fünfftzig Teütscher Sprüchwörter (1534), Sebastian Francks Sprichwörter/Schöne/Weise/Herrliche Clugreden/vnnd Hoffsprüch (1541) mit rund 7000 Texten sowie die 1320 Sprichwörterauslegungen (386 aus Agricola, 934 aus Franck) enthaltende Ausgabe mit dem Titel Sprichwörter/Schöne/Weise Klugreden (1548 ff.) des freibeuterischen Frankfurter Verlegers Christian Egenolff müssen als parömiographische Grundquellen betrachtet werden. Nicht nur wurde die antike Literatur verarbeitet, son-
dern es wird auch aus der dt. Literatur zitiert. Eine Sprichwortauslegung reiht sich der reformatorischen Tendenz folgend an die andere, wobei weder die Kulturgeschichte noch die Muttersprache zu kurz kommen (Seiler 1922, 112⫺131; Mieder 1984 b). Das 16. Jh. gilt ganz allgemein als „goldenes Zeitalter“ für die sprichwörtliche Sprache, und so sollte es nicht überraschen, daß sie mit hoher Frequenz in literarischen Werken auftritt. Luther, Sebastian Brant, Johann Fischart, Thomas Murner, Hans Sachs u. a. sind ausgesprochen sprichwortreich zu nennen (Eberth 1933; Mieder 1978, 179⫺200). Gab es bereits in der frühen Prosa des Ackermanns aus Böhmen (1400) regelrechte Sprichwortdialoge, so sind die Volksbücher von Dyl Ulenspiegel (1515) und der Historia von D. Johann Fausten (1587) sowie die Volkslieder dieser Zeit angefüllt mit sprichwörtlichem Material (Mieder, 1992, 59⫺102; 113⫺149). Dasselbe gilt für Flugschriften, Predigten und die gesamte Volksdichtung. Sprichwörtliche Weisheit des Bürgertums steht dem Narrentum gegenüber, so daß sich einerseits die sprichwörtliche Sprache der Bürger und Handwerker verfestigt, während als Kontrast auch satirische Sprichwörter gegen närrischen Unverstand wiederholt auftreten. Als Beispiele gängiger Sprichwörter und Redensarten seien genannt Gedanken sind (zoll)frei, Es ist nicht alles Gold, was gleißet (glänzt), Das Kind mit dem Bade ausschütten, Die Narren sagen die Wahrheit, Handwerk hat einen goldenen Boden, Jeder Krämer lobt seinen Kram, Juristen, böse Christen, und Das Werk lobt seinen Meister. Freilich stammen aus dieser Zeit auch etliche antiklerikale und skatologische Texte, die die Derbheit der formelhaften Volkssprache erkennen lassen, so etwa Pfaff und Kuckuck sind die schlimmsten Vögel, denn sie legen ihre Eier in fremde Nester und Aus einem Furz einen Donnerschlag machen.
5.
Barock
Im Vergleich zu den historisch interessanten Sammlungen der Reformationszeit sind die Sprichwörtersammlungen des 17. Jhs. ausgesprochene Massenkompilationen, worin Tausende von Texten in alphabetischer Anordnung oder nach Themen geordnet ohne Kommentar aufgelistet werden. So enthält Friedrich Petris Der Teutschen Weißheit (1604⫺1605) 21643 Texte, und Christoph
174. Grundzüge einer Geschichte des Sprichwortes und der Redensart
Lehmann kommt mit seinem Florilegium Politicum oder politischer Blumengarten (1630) gar auf 22922 Nummern. Für die diachronische Sprichwörterforschung sind solche Sammlungen von beachtlichem Quellenwert, aber für den Kulturhistoriker sind sie von geringem Nutzen (Seiler 1922, 131⫺138). Umso aufschlußreicher ist der häufige Gebrauch sprichwörtlicher Ausdrucksweise in der Literatur des 17. Jhs. Der Prediger Abraham a Santa Clara hat, ebenso wie seine Vorgänger Berthold von Regensburg und Geiler von Kaisersberg, zahlreiche Sprichwörter in seine didaktisch ausgerichteten Texte eingebaut. Bei Christoffel von Grimmelshausen und Johann Michael Moscherosch steigert sich die satirische Verwendung dieser volkstümlichen Sprache zu regelrechten Sprichworttiraden, die den übertriebenen Schwulststil des Zeitalters erkennen lassen. Auch die Dramen von Andreas Gryphius sowie die Romane und Schauspiele von Christian Weise enthalten reiches Sprichwortmaterial. Von Georg Philipp Harsdörffer liegen sogar zwei fiktive Liebesbriefe und ein vollständiges Schauspiel Teutscher Sprichwörter (1641) vor, die nur aus Sprichwörtern und einigen Redensarten bestehen (Lenschau 1924; Mieder 1974; 1978, 179⫺200). Der Sinn und Zweck solcher tourde-force Montagen war einmal das Spiel mit der Volkssprache selbst, doch kam auch noch der Wunsch dazu, als vaterländisch gesinnte Dichter die Stärke der dt. Muttersprache gegenüber dem Spracheinfluß des Französischen unter Beweis zu stellen. Auch in den barocken Sprachgesellschaften gab es großes Interesse für das angeblich „urdeutsche“ Sprichwortgut. Wiederholt wird in Traktaten ihr volkssprachlicher Wert hervorgehoben. Das gilt besonders für Harsdörffer und Justus Georg Schottelius. Als Frühgrammatiker setzte sich Schottelius wissenschaftlich mit der Definition, Sprache und rhetorischen Bedeutung von Sprichwörtern auseinander und fügte der wissenschaftlichen Diskussion in seiner Ausführlichen Arbeit Von der Teutschen Haubt Sprache (1663) eine Sammlung von 1790 Texten hinzu. Aus dem patriotischen Gefühl gegenüber der eigenen Muttersprache entwickelt sich hier sozusagen die Vorstufe der wissenschaftlichen Erforschung der Sprichwörter und Redensarten (Mieder 1982). Das Interesse der Humanisten an antiken Sprichwörtern hat zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges deutlich nachgelassen, doch kommen nun trotz Stolz auf die eigenen dt. Sprichwörter unter der Vorherrschaft der
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Kultur Frankreichs auch frz. Sprichwörter als Lehnübersetzungen zur Geltung. So wurde das frz. Sprichwort L’appe´tit vient mangeant als Der Appetit kommt beim Essen lehnübersetzt, und auch die redensartliche Aufforderung Revenons a` nos moutons! setzte sich als Kehren wir zu unseren Hammeln zurück! in dt. Sprache durch (Seiler 1921⫺ 1924). Dagegen zeigt Friedrichs des Großen sprichwörtlich gewordenes Zitat In meinem Staate kann jeder nach seiner Fac¸on selig werden vom Jahre 1740 lediglich, wie einflußreich die frz. Sprache auch am Berliner Hof zur Mitte des 18. Jhs. noch war.
6.
Aufklärung, Klassik und Romantik
Vergleicht man die augenscheinliche Vorherrschaft sprichwörtlicher Sprache im 17. Jh. mit dem darauf folgenden „aufgeklärten“ Zeitalter, so ist die Feststellung nicht überraschend, daß das Interesse im 18. Jh. nachläßt. Doch wäre es ein allzu schneller Trugschluß zu meinen, daß nun ein regelrechter Bruch mit der Überlieferungstradition von Sprichwörtern und Redensarten stattfand. Ohne Zweifel lebte die sprichwörtliche Sprache im mündlichen Verkehr weiter, wie dies z. B. Dialoge aus Dramen Lessings, Goethes und Schillers erkennen lassen, worin es zuweilen sehr volkstümlich zugeht. In den Schauspielen der Sturm-und-Drang Bewegung spielt gerade die metaphernreiche Volkssprache eine erhebliche Rolle, und mit der Romantik zur Jahrhundertwende kehrt bekanntlich ein großes Interesse an der Volkspoesie zurück, als dessen Wegbereiter vor allem Herder zu gelten hat. Literaturwissenschaftler haben bis heute weder Lessing noch Herder gründlich nach Sprichwörtern untersucht, obwohl beide ein offensichtliches Interesse an diesem Weisheitsgut hatten. Etwas eingehender hat man sich mit der Sprichwörtlichkeit in Goethes und Schillers Werken beschäftigt (Pfeffer 1948; MacLean 1952; Mieder 1983, 158⫺ 180), und zu den Romantikern fehlt es überhaupt noch an Untersuchungen. Es wird sich jedoch zweifelsohne zeigen, daß auch die Literatur des 18. Jhs. für die diachronische Forschung recht ergiebig sein wird. Das parömiographische Interesse zu dieser Zeit ist ebenfalls beeindruckend, wenn auch bisher wenig beachtet. Immerhin liegen einige aufschlußreiche Sammlungen vor, so z. B. Joachim Christian Blums zweibändiges Deutsches Sprichwörterbuch (1780; 1782), Johann
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Jacob Heinrich Bückings Versuch einer medicinischen und physikalischen Erklärung deutscher Sprichwörter und sprichwörtlicher Redensarten (1797) und Andreas Schellhorns Teutsche Sprichwörter, sprichwörtliche Redensarten und Denksprüche (1797). Hier dreht es sich im Unterschied zu den barocken Massensammlungen um kleinere Kompilationen, die individuelle Sprichwörter dem Zeitgeschmack entsprechend „vernünftig“ auslegen. Es wird also versucht, die Weisheit der Sprichwörter durch feinsinnige Argumentation verbunden mit einer gesunden Prise Moral und Didaktik zu beweisen (Seiler 1922, 138⫺142). Goethe kannte vor allem Blums Sammlung, aber natürlich gilt dies auch für Johann Christoph Gottscheds Grundlegung einer deutschen Sprachkunst (1748), worin sich dieser Aufklärer mit Sprichwörtern auseinandersetzt und sogar 971 Texte als Probe hinzufügt und für deren Verwendung plädiert. Lediglich Johann Christoph Adelung urteilt in seinem Umständlichen Lehrgebäude der deutschen Sprache (1782) negativ über die angeblich wertlosen Sprichwörter (Mieder 1982). Von einem Desinteresse am Sprichwort im 18. Jh. kann wenigstens keineswegs die Rede sein. Vielmehr versteckt sich hinter einer solchen Vorstellung lediglich die Tatsache, daß man bisher die volkssprachlichen Elemente in den Dokumenten dieses Zeitalters noch nicht eingehend genug untersucht hat. In der mündlichen Überlieferung hat es offensichtlich keinen Bruch in der Sprichworttradition gegeben, und das scheint auf Grund heutigen Wissens auch in der schriftlichen Überlieferung nicht viel anders zu sein.
7.
Das 19. Jahrhundert
Hier setzt nun das positivistische Forschungsinteresse an Sprichwörtern und Redensarten ein, das zu einer regelrechten Explosion auf dem Gebiete der Parömiographie führte. Hervorgehoben seien hier lediglich Wilhelm Körtes Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen (1837), Karl Simrocks Die deutschen Sprichwörter (1846) sowie Karl Friedrich Wilhelm Wanders fünfbändiges Mammutwerk Deutsches Sprichwörter-Lexikon (1867⫺1880). Wander hat in fünfzigjähriger Tätigkeit unermüdlich 250 000 dt. Sprichwörter und Redensarten mit Varianten, Quellenangaben sowie Paralleltexten aus anderen Sprachen zusammengetragen, was diese Sammlung zu einem bisher nicht überbotenen Meisterwerk der Parömiographie macht. Jetzt beginnt aber ebenfalls
das wissenschaftliche Interesse an sprichwörtlichen Texten der Dialekte, die in spezifischen Sammlungen herausgegeben sowie in Mundartwörterbüchern registriert wurden. Von den zahlreichen Sammlungen seien hier nur genannt H. Frischbiers Preußische Sprichwörter und volkstümliche Redensarten (1865; 1876), Anton Birlingers So sprechen die Schwaben (1868) und Rudolf Eckarts, Niederdeutsche Sprichwörter und volkstümliche Redensarten (1893). Gleichzeitig befaßte man sich aber auch mit den westeurop. Sprichwörtern, die in mehr oder weniger identischer Formulierung in verschiedenen Sprachen und Dialekten kursieren; vgl. dazu die vergleichende Sammlung Sprichwörter der germanischen und romanischen Sprichwörter (1872; 1875) von Ida von Düringsfeld und Otto Freiherr von Reinsberg Düringsfeld (Seiler 1922, 142⫺149).
Mit der Hinwendung zum Realismus und Naturalismus im 19. Jh. spielt die sprichwörtliche Sprache in der Literatur erwartungsgemäß eine wichtige Rolle. Prosaschriftsteller wie Hebel, Immermann, Auerbach, Gotthelf, Droste-Hülshoff, Ludwig, Anzengruber, Keller und Storm haben alle Sprichwörter verarbeitet, um ihren Dorfgeschichten und Novellen eine natürliche Sprache, teilweise durch Dialektsprichwörter, zu verleihen. Gezeigt werden vor allem die einfache Sprache auf dem Lande sowie die normierte Sprache des Bildungsbürgertums, wo Sprichwörter weiterhin Geltung besaßen. Einige Prosawerke, wie z. B. Kellers Novelle Kleider machen Leute (1869), sind regelrechte Beispielerzählungen zu Sprichwörtern (Mieder 1976). Im 19. Jh. beginnt auch die dt. Parömiologie als wissenschaftliche Erforschung von Sprichwörtern und Redensarten. Bereits 1810 legte Johann Michael Sailer seine Weisheit auf der Gasse vor, deren erster Teil sich mit theoretischen Aspekten auseinandersetzt, während im zweiten Teil eine Sammlung das Gesagte darstellt. Wichtiger ist Karl Friedrich Wilhelm Wanders lange unbeachtet gebliebenes Buch Das Sprichwort, betrachtet nach Form u. Wesen, für Schule u. Leben (1836). Oswald Robert Kirchners Parömiologische Studien (1879; 1880) bauen darauf auf. Schließlich hat Wolfgang Mieder neun Einzelaufsätze zu dem Sammelband Deutsche Sprichwörterforschung des 19. Jahrhunderts (1984 a) zusammengestellt, so daß die parömiologischen Erkenntnisse dieser Zeit leicht zugänglich vorliegen. Es sei auch noch erwähnt, daß Jacob und Wilhelm Grimm zeit ihres Lebens großes Interesse an der sprichwörtlichen Volkssprache hatten. Wilhelm insbesondere hat den Märchentexten in den verschiedenen Auflagen der Kinder- und Hausmärchen immer
174. Grundzüge einer Geschichte des Sprichwortes und der Redensart
mehr Sprichwörter und Redensarten eingebaut, oft verweisen beide Brüder in ihren wissenschaftlichen Büchern auf diese volkstümliche Sprache, und in ihrem Deutschen Wörterbuch (1854 ff.) haben sie in den ersten Bänden sehr viele sprichwörtliche Texte als historische Belege aufgenommen. Wilhelm Grimm hat durch seine Ausgabe von Vrıˆdankes Bescheidenheit (1834) besonderes Interesse am mittelalterlichen Sprichwort gezeigt und eine erst 1988 veröffentlichte Sammlung solcher Texte angelegt (Mieder 1986; Rölleke/Bluhm 1988; Wilcke/Bluhm 1988). Was bei dieser Überfülle an Textmaterial und Forschung allerdings fehlt, ist eine Zusammenstellung der am meisten verwendeten Sprichwörter und Redensarten. Mögen Sammlungen auch Tausende von Texten enthalten, so bleibt immer noch die Frage offen, welche denn nun wirklich zu einem gewissen Zeitpunkt von welchen Menschen in der Gesellschaft aktiv verwendet wurden. Dafür sind Frequenzstudien notwendig, die heutzutage von dem neuen Forschungszweig der empirischen Sprichwörterforschung ausgeführt werden. Auf Grund literarischer Untersuchungen kann wohl verallgemeinernd gesagt werden, daß das „sprichwörtliche Minimum“ des vorigen Jahrhunderts nicht viel anders war als heute, d. h. Sprichwörter wie Guter Rat ist teuer, Den Letzten beißen die Hunde und Ohne Fleiß kein Preis erfreuen sich damals wie heute derselben Popularität.
8.
Das 20. Jahrhundert
Die Parömiographie des 20. Jhs. zeichnet sich durch gewichtige Nachdrucke älterer Sprichwörtersammlungen aus, die für die historische Forschung unerläßlich sind (Mieder 1984b). Neuere Sammlungen sind hauptsächlich Zusammenstellungen aus früheren Kompilationen, und zwar fast ausschließlich aus Wanders Deutschem Sprichwörter-Lexikon. Vor allem kleinere populär ausgerichtete Sammlungen aus der Hochsprache und den Mundarten kommen ständig auf den Markt. Von wissenschaftlichem Wert sind allerdings z. B. Horst und Annelies Beyers Sprichwörterlexikon (1984), Günther Drosdowskis und Werner Scholze-Stubenrechts Redewendungen und sprichwörtliche Redensarten (1992), Hans Schemanns Deutsche Idiomatik (1993) und Julius Raubs Plattdeutsche Sprichwörter und Redensarten (1976). Eine Sonderstellung nimmt Wolfgang Mieders dreibändige Samm-
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lung Antisprichwörter (1982; 1985; 1989) ein, da hier modern abgewandelte Sprichwörter und Redensarten in der Form von Aphorismen, Schlagzeilen, Werbesprüchen, Spontisprüchen und Graffiti vorliegen. Auch die moderne Literatur ist weiterhin eine bedeutende Überlieferungsquelle von Sprichwörtern und Redensarten. Es wäre ein großer Fehler anzunehmen, daß die sprichwörtliche Volkssprache in der Literatur des 20. Jhs. keine Rolle mehr spiele. Im Gegenteil erweisen sich Autoren wie Thomas Mann, Bertolt Brecht, Alfred Döblin, Karl Kraus, Günter Grass, Rose Ausländer, Erich Fried, Ulla Hahn, Martin Walser usw. als geradezu sprichwortreich. Das gilt für moderne Prosa und Dramen sowie für die heutige Lyrik. Es gibt kaum Schriftsteller, die nicht auf diese vorgeprägte Formelsprache zurückgreifen (Mieder 1979). Obwohl Sprichwörter und Redensarten oft in ihrem traditionellen Wortlaut auftreten, zeigt sich doch eine ausgesprochene Tendenz zur innovativen Variation, kritischen Infragestellung und bewußten Parodie dieser als zum Teil altväterisch empfundenen Weisheiten. Selbstverständlich gehört bei solchem bewußten Spiel mit sprichwörtlichem Sprachgut zu dessen Verständnis dazu, daß die Originaltexte noch geläufig sind (Röhrich 1967; Bebermeyer 1977; Mieder 1975; 1983; 1985). Daß dies unbedingt der Fall ist, haben empirisch arbeitende Parömiologen durch wissenschaftlich fundierte Umfrageaktionen nachgewiesen. So ist z. B. bekannt, daß die Sprichwörter Morgenstunde hat Gold im Munde, Übung macht den Meister, Viele Köche verderben den Brei, Der Klügere gibt nach, Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, Wer A sagt, muß auch B sagen und Wie gewonnen, so zerronnen ohne Zweifel zu den geläufigsten dt. Sprichwörtern gehören (Grzybek 1991). Solche demoskopischen Frequenz- und Bekanntheitsstudien ermöglichen es den Parömiologen, sogenannte „sprichwörtliche Minima“ festzustellen, die allen Sprechern einer Sprache geläufig sind. Diese Mindestzahl an redensartlichen Texten ist aus pädagogischer Sicht besonders für den Fremdsprachenunterricht von großem Wert, wo diese frequenten Sprichwörter und Redensarten in die Lehrbücher und in den Unterricht eingebaut werden sollten. Die muttersprachliche Kenntnis oder das fremdsprachliche Erlernen sprichwörtlicher Formulierungen ist für die mündliche sowie schriftliche Kommunikation von größter Be-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
deutung. Gerade im gesprochenen Verkehr spielen Sprichwörter und Redensarten weiterhin eine erhebliche Rolle, doch ist das auch der Fall in sämtlichen Massenmedien. In den Zeitungen und Zeitschriften, im Radio und Fernsehen, in der Werbung, in Karikaturen und Comic strips, in Sprüchen und Graffiti ⫺ überall stößt man auf diese entweder traditionell oder variiert verwendete sprachliche Fertigware (Mieder 1975; 1983; 1985). Dabei darf allerdings nicht außer Betracht gelassen werden, daß es heute weiterhin auch zu neuen Sprichwörtern und Redensarten kommt. Die Sprache des Sports, der Technik, der Politik und Werbung gilt als besonderer Nährboden für neue Ausdrücke. So sind z. B. folgende Texte im modernen Zeitalter sprichwörtlich geworden: Trau keinem über dreißig!, Berlin ist eine Reise wert, Darauf einen Dujardin, Mach mal Pause, trink Coca-Cola, Eßt mehr Obst und ihr bleibt gesund, Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad, Zum Tango gehören zwei, Ein Wendehals sein, Die Schallmauer durchbrechen, Grünes Licht haben usw. Heute werden auch ganze Sprichwörter und Redensarten aus Fremdsprachen entlehnt, so etwa das Sprichwort Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter aus dem Türkischen und Ein Bild sagt mehr als tausend Worte sowie Wir sitzen alle in einem Boot aus dem Amerikanischen (Mieder 1990; 1992, 191⫺210). Oft werden gerade die angloamerikanischen Ausdrücke gar nicht erst übersetzt, so daß heute im Deutschen Texte wie Take it easy und Last but not least in der Fremdsprache kursieren. Freilich gibt es auch solche Zwitterwesen wie Einen Blackout haben, Fifty-fifty machen und Jdm. die Show stehlen. Hier macht sich die Internationalität neuerer Ausdrücke bemerkbar, wobei die dt. Sprache mehr empfängt als weitergibt. Das seit 1512 belegte dt. Sprichwort Man muß das Kind nicht mit dem Bade ausschütten hat sich allerdings als Lehnübersetzung in den letzten hundert Jahren im Angloamerikanischen als Lehnübersetzung Don’t throw the baby out with the bath water durchsetzen können (Mieder 1985). Es hat nicht an Stimmen gefehlt, die das Ende des Sprichwortes in der Moderne prophezeit haben. Davon kann allerdings absolut nicht die Rede sein (Fleischer 1982). Sprichwörter und Redensarten, deren Realien oder Vokabular heutigen Sprechern nicht mehr verständlich sind, werden aus dem Sprachverkehr ausgeschlossen (Burger/Linke 1985; Daniels 1988). Es gibt Hunderte solcher
ausgedienten Texte in den großen Sprichwörtersammlungen. Es kommen aber auch ganz neue Ausdrücke hinzu, die auf den alten Sprachstrukturen aufbauen und durch die Massenmedien mit großer Durchschlagskraft unter das Volk gebracht werden. Es wird sich zeigen müssen, inwiefern diese modernen Weisheiten am sprichwörtlichen Leben bleiben werden. Einige werden ohne Zweifel Teil des dt. sprichwörtlichen Minimums werden und als Erfahrungsausdrücke und Lebensweisheiten einen beachtlichen Spracheinfluß haben.
9.
Literatur (in Auswahl)
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175. Hauptaspekte der syntaktischen Entwicklung in der Geschichte des Deutschen 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Syntaktisches Gepräge Artikelgebrauch und Kasussystem Rahmenstruktur Struktur des Objektfeldes Tempussystem Literatur (in Auswahl)
1.
Syntaktisches Gepräge
Routinemäßig wird in den sprachhistorischen Handbüchern die Behauptung wiederholt, der Übergang von einem synthetischen zu einem analytischen Sprachbau bilde einen charakteristischen, gemeinsamen Entwicklungszug der germ. Sprachen. Die These ist nicht ohne Bedenken hinzunehmen. Sie ist insofern direkt irreführend, als die analytische Entwicklung keine germ. Besonderheit ist, sondern in allen ieur. Sprachen zu beobachten, deren Geschichte sich verfolgen läßt (weshalb es auch fraglich erscheint, ob sie im Germ., wie meist angenommen wird, die Folge eines ⫺ nur dort vorliegenden ⫺ phonetischen Prozesses ist). Was gegen die gegebene Charakteristik in ihrem zweiten Teil eingewendet werden kann, ist, daß sie, so unspezifiziert, eine Vorstellung von einer Konformität in der syntaktischen Entwicklung der germ. Sprachen vermittelt. Eine solche Konformität gibt es nicht. Vielmehr sind die strukturellen Diskrepanzen zwischen den verschiedenen germ. Sprachen so beträchtlich, daß die Frage berechtigt erscheint, ob wirklich (noch) eine gemeinsame (analytische) Entwicklungs-
tendenz vorauszusetzen ist. Besonders deutlich tritt dies durch einen Vergleich zwischen dem Dt. und dem Engl. zutage. Aus den Gradunterschieden sind hier Artunterschiede geworden: sprachtypologisch gehören das Dt. und das Engl. nicht (mehr) in dieselbe Klasse. Für das Engl. gilt dabei, daß es sich konsequent und geradlinig auf ein ausgeprägt analytisches Sprachmodell hin entwickelt hat. Schwieriger ist zu entscheiden, in welche Klasse die dt. Sprache gehört. Es ist für das Dt. nicht möglich, die strukturelle Entwicklung auf eine ähnlich einfache Formel wie für das Engl. zu bringen, sie paßt weder in das analytische noch in das synthetische Fach. Will man sich bei ihrer Beschreibung trotzdem dieser Einteilungsbegriffe bedienen, könnte man vielleicht umschreibend sagen, daß das Dt. bei einer eindeutigen Entwicklung in analytischer Richtung trotzdem eine generelle, grundlegende Disposition für den synthetischen Sprachbau bewahrt hat, daß es mit analytischen Mitteln synthetische Strukturen bildet: „in der Tiefe bleibt doch ein Beharren der Grundzüge des [ieur.] Bauplanes sichtbar, es sind bis zu einem gewissen Grad die nämlichen kategorialen Scheidungen, die früher durch die bloße Wortform ausgedrückt werden und heute durch Formworte ihre Darstellung finden, ja bis in Einzelheiten des Gebrauchs hinein treten die neu geschaffenen analytischen Ausdrucksmittel in die Fußspuren ihrer synthetischen Vorläufer“ (Ammann 1954, 24).
2570
2.
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Artikelgebrauch und Kasussystem
2.1. Das Gesagte läßt sich am Flexionssystem des Subst. exemplifizieren. Das Engl. hat dieses System so gut wie vollständig eliminiert und dessen syntaktische Aufgaben werden mit analytischen Mitteln gelöst. Im Dt. ist die Nominalflexion dagegen grundsätzlich erhalten geblieben; sie ist aber vom Subst. „analytisch“ gelöst und auf ein attributives sog. Bestimmungswort verlegt worden, was zur Folge hat, daß die flexivisch zusammengehaltene Subst.gruppe als primäre nominale Einheit des Satzes an die Stelle des Subst. tritt. ⫺ Für die syntaktische Entwicklung des Dt. ist diese analytische Erneuerung eines im Grunde bewahrten synthetischen Zustandes von allergrößter Bedeutung. 2.2. Als solche Bestimmungswörter des Subst., denen es obliegt, dessen grammatische Bedeutung im Satz auszudrücken, fungieren Pron., attributive Adj. (Part.) und ⫺ als „grammatische Satelliten“ des Subst., konstitutiv zu ihm gehörig, aber syntaktisch selbständig ⫺, der „bestimmte“ und der „unbestimmte“ Artikel. 2.2.1. Der best. Art. ist in allen germ. Sprachen, wie überhaupt in den ieur. Sprachen, die einen Art.-Gebrauch entwickelt haben, aus einem dem. Pron. entstanden. Im Dt. dürfte dies kurz vor der Entstehung der ältesten schriftlichen Quellen geschehen sein; die allmähliche Grammatikalisierung und die Entwicklung der syntaktischen Funktionen des Art. lassen sich zum Teil in diesen studieren. Die ursprüngliche Funktion scheint überall eine auszeichnende, abgrenzende, individualisierende zu sein; für das Dt. hat dies empirisch festgestellt werden können (Oubouzar 1992). Als Oppositionspartner des bestimmten entsteht im Dt., wie in den anderen germ. Sprachen (außer dem Isländischen), aus dem Zahlwort und Indef.-Pron. der unbestimmte Art. (zuerst bei Otfrid zu belegen, wo auch ein nicht weitergeführter Ansatz zu markierter Pluralbildung sich findet: in eineˆn buachon). 2.2.2. Das Aufkommen des Art.-Gebrauchs im Dt. liegt somit auf derselben Traditionslinie wie die Ausbildung der schwachen Adj.Deklination, deren ursprüngliche Funktion, wie noch im Ahd. deutlich erkennbar (vgl. z. B. Hild.lied: her uuas heroro man, ferahes frotoro), gleichfalls individualisierend und de-
terminierend ist (Sonderegger 1987, 240 f.). Man kann natürlich die Frage stellen, ob die Kategorie ‘Determiniertheit’ nicht eine universale kognitive Erscheinung ist, die in allen Sprachen zum Ausdruck kommt, ohne notwendigerweise grammatisch markiert zu sein, und ob sie also nicht auch im Dt. implizit vorgelegen haben könnte, bevor es dort den best. Art. gab und in Fällen, wo die Definitheit des Subst. nicht durch ein Attribut hervorging. Bejahend beantwortet diese Frage eine Theorie, die von einer Satzperspektive aus die Distinktion ‘Definitheit’ ⫺ ‘NichtDefinitheit’ mit der Verbkategorie Aspekt in Verbindung bringt und einen ursächlichen Zusammenhang zwischen der Entstehung des Art.-Gebrauchs im Dt. und der ungeführ gleichzeitigen Auflösung des Aspektsystems postuliert (Leiss 1994). Die These läuft darauf hinaus, daß Art. und Aspektualität zwei verschiedene Realisierungen ein und derselben grammatischen Funktion seien, und daß innerhalb des Aspektsystems perfektiver Aspekt des Verbs (⫹ Akk.-Obj.) definite, imperfektiver Verbaspekt indefinite Bedeutung beim Obj. ergebe. In einem Satz wie Ich habe das Holz gespalten drücken Verb und Obj. eine zusammengeflochtene ‘Totalität’ aus: ‘zu Ende geführte Verbhandlung’ (perfektiver Aspekt) ⫹ ‘die gesamte Menge des Holzes’ (bestimmte Form des Obj.). Im Satz Ich habe Holz gespalten wird über die Quantität des gespaltenen Holzes nichts ausgesagt, und was die Verbhandlung betrifft, so ist sie zwar (momentan) abgeschlossen, aber nicht zu Ende geführt; dem imperfektiven Verbaspekt entspricht hier partitiv-indefinite Bedeutung des Obj. ⫺ Auch die Kasuskategorie gehört in diese Aspekt-Definitheit-Kombinatorik. Bei Verben mit perfektivem Aspekt wurde in der älteren dt. Sprache (wie in manchen anderen, auch nicht näher verwandten) die Distinktion zwischen ‘Totalität’ (= definite Bedeutung) und ‘Partitivität’ (= indefinite Bedeutung) des Obj. durch entsprechende Alternierung der Kasus Akk. und Gen. ausgedrückt. Schon Jacob Grimm registriert und analysiert diesen Kasuswechsel als durch ganze oder teilweise Abhängigkeit des Obj. vom Verb bedingt: „des broˆtes nemen, des wıˆnes trinken gehn bloß auf einen theil des vorraths. heißt es […] daz broˆt nemen, den wıˆn trinken, so wird der gesamte gemeint“; im Nhd. hat sich, bemerkt Grimm, „die rection des acc. größtentheils erhalten, die des gen. meistens verloren und ist einer präpositionalen gewichen“, und die Opposition To-
175. Hauptaspekte der syntaktischen Entwicklung in der Geschichte des Deutschen
talität: Partitivität werde durch Setzen: Nichtsetzen des Art. deutlich gemacht (Grimm 1837, 610; 646; 651). 2.2.3. Aus der ursprünglichen, mehr oder weniger stark demonstrativen Bedeutung hat der Art. im Dt. eine Reihe syntaktischer Funktionen entwickelt, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann; nur kurz soll auf zwei fundamentale, sehr verschiedenartige, hingewiesen werden: auf die „substantivierende Kraft“ (Wackernagel) des Art., bzw. auf seine Funktion als Marker der grammatischen Form des Subst. Aus der Funktion des Art., auf ein im Satz folgendes Subst., von dem er ein konstitutiver Teil ist, hinzuweisen, entsteht bei ihm eine wortbildende Potenz. Die Prädizierbarkeit des folgenden Subst. hat zur Konsequenz, daß, wenn an seiner Stelle ein anderes Wort folgt, dieses ungeachtet seiner eigentlichen Wortklassenzugehörigkeit den semantischen Wert und den grammatischen Status eines Subst. erhält; vgl. das in der Welt Sein; das Wann und Wie. Diese subst.-konstituierende, im Grunde auf der prägenden Wirkung eines festen syntaktischen Musters beruhende Fähigkeit des Art. ist so evident, daß man sogar in Frage gestellt hat, ob artikellose Subst. wirklich noch eigentliche Subst. seien: „man vergleiche etwa Sätze wie er war König und er war ein König, und man wird deutlich den Adjektivcharakter des Wortes König im ersten Falle spüren“ (so Walter Porzig; Karl Bühler, der Porzig zitiert, führt als ein Gegenstück zum substantivierenden der das adjektivierende so, ebenfalls ein Dem., an: man „setze ein so vor ‘König’: er ist so König, wie nur das Märchen den König kennt’; das hieße gewiß die von Porzig vermutete Adjektivierung unterstreichen“ [Bühler 1965, 313]). ⫺ Die starke Inanspruchnahme dieser kreativen Potenz des Art. bei der Bildung von Abstrakten gehört bekanntlich zu den charakteristischen Zügen vor allem der neuzeitlichen dt. Schriftsprache. 2.2.4. Über die ursprüngliche determinierende Funktion hinaus hat der Art. im Dt. also auch die Aufgabe übernommen, Kasus, Numerus und Genus des Subst. zu markieren. Wie ist es dazu gekommen? Die Antwort war lange: Der Art. ist eigens für diese Aufgabe entstanden; er ist ein Ersatzmittel für Flexionsformen am Subst., die infolge der Verlagerung des Wortakzents im Germ. auf die Wurzelsilbe verschwunden oder durch
2571
Reduktion unkenntlich geworden sind (so noch von Polenz [1972, 20 f.]). Diese „funktionalistische“ (Lenerz 1984, 49) These wurde bereits von Jacob Grimm abgelehnt, unter dem stichhaltigen Hinweis darauf, daß sie nur auf die Verhältnisse im Dt. anwendbar sei (Grimm 1837, 436 f.). Mit dem weiteren Einwand: „die syntax kehrt sich nicht unmittelbar an das erlöschen der form“ (ebd.), steht Grimm ganz auf demselben Standpunkt wie die moderne historische Linguistik: syntaktische Neuerungen entstehen eher aus Konkurrenz- und Redundanzverhältnissen als aus einem Mangel an Ausdrucksmitteln; was diachron betrachtet Wandel ist, ist in der synchronen Betrachtung Bedingung für den Wandel: „lange bevor ein Element aus dem System verschwindet, existieren in der Norm bereits die Elemente, die es in seiner Funktionalität ersetzen werden“ (Coseriu 1974, 107). Auf den hier vorliegenden Fall angewandt bedeutet diese These: Der Art. ist vor dem „Verfall“ der substantivischen Kasusendungen da, und es ist wahrscheinlicher, daß der Art. durch seine stärkere flexivische Funktionstauglichkeit zu diesem Verfall beigetragen hat, als daß er durch ihn entstanden wäre; es ist wegen ihrer funktionalen Redundanz, daß die substantivischen Kasusendungen in ahd. Zeit den Auslautgesetzen nur schwachen Widerstand leisten konnten, so wie im gegenwärtigen Dt. der als Tendenz zu beobachtende Wegfall des Gen.-s durch „Monoflexion“ (ein Lehrbuch des Latein) eine Folge derselben morphologischen Redundanz beim Subst. ist. 2.3. Wie für die semantisch determinierende Funktion des best. Art. gilt für die grammatische, daß sie auf einer alten germ. syntaktischen Disposition beruht und mit morphosyntaktischen Verhältnissen beim Adj. zusammenhängt, deren erste Ausbildung zeitlich sehr weit zurückreicht. Die Übernahme der substantivischen Kasusfunktionen durch den Art. ist in einer Zeitperspektive zu sehen, die auch die historische Entwicklung der sog. starken Adj.-Flexion umfaßt. ⫺ Was diese seit vorgerm. Zeit kennzeichnet, ist die Verdrängung der ursprünglichen nominalen Endungen durch pronominale, wodurch das semantische Dependenzverhältnis einer Verbindung Adj. ⫹ Subst. auch grammatisch markiert wird. (Sievers 1876, 107). ⫺ In der letzten Phase dieses Prozesses, die in die ahd. Periode fällt und die auch die Entwicklung des best. Art. mit einbegreift, kann man, wie In-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
gerid Dal (1971) überzeugend dargelegt hat, eine Erklärung finden zu dem tiefgehenden strukturellen Unterschied zwischen dem heutigen Dt. und den westgerm. Nachbarsprachen, „gleichsam den Kreuzweg, bei dem sich die Entwicklung der beiden Sprachgruppen trennt“ (Dal 1971, 163). Verschiedenartige sprachliche Dispositionen des Hd. bzw. der anderen westgerm. Sprachen (nota bene auch des Nd.) werden hier sichtbar. Im Hd. manifestiert sich die synthetische Tendenz zum Bewahren und zum morphologischen Restaurieren des germ. Kasussystems darin, daß die alten endungslosen Nom.-Formen des Sing. des stark flektierten Adj. in attributiver Funktion seit ahd. Zeit zunehmend pronominalisiert werden: blint > Mask. blinteˆr, Fem. blintiu, Neutr. blintaz (in prädikativer Stellung erhalten sich in der Regel die unflektierten Nom.-Formen; auch endungslose Akk.Formen kommen dort zuweilen vor). Gleichzeitig, als eine Auswirkung derselben Tendenz, nimmt das dem. Pron. the, das sich um diese Zeit zum Art. entwickelt, nach Muster von er, wer, im Nom. Sg. Mask. die Form ther an, d. h. es wird mit einem expliziten Kasusmorphem versehen; es ist dies ein Indiz dafür, daß der Art. um diese Zeit auf dem Wege ist, die Funktion der Kasusbezeichnung des Subst. zu übernehmen. ⫺ An dieser Entwicklung beim Adj. und beim best. Art. nehmen die benachbarten westgerm. Sprachen nicht teil. Vielmehr läuft bei ihnen die Entwicklung in gerade entgegengesetzter Richtung, auf eine Nivellierung und einen schließlichen Zusammenbruch des ererbten Kasussystems hin: im Engl. sind es die endungslosen Nom.Formen des Art. und des Adj., die (am Anfang der mittelengl. Periode) über das ganze Kasusfeld generalisiert werden. 2.4. Die weitgehenden Konsequenzen dieser in alter Zeit auseinandergehenden Entwicklungswege des Dt. und der westgerm. Nachbarsprachen sind in den gegenwärtigen Sprachen auch für den linguistisch Ungeschulten direkt beobachtbar. Im Engl. hat die Wortfolge (in beschränktem Ausmaß unter Zuhilfenahme von Präpositionen) die syntaktischen Funktionen übernommen, die früher auf der Kasusflexion lagen; die Aufgabe wird durch eine „natürliche Serialisierung“ der Satzeinheiten von links nach rechts, dieselbe im Nebensatz wie im Hauptsatz, gelöst. Im Dt. ist das germ. Flexionssystem im Ganzen intakt geblieben. Sein innerer Charakter hat sich insofern verändert, als es von einem „Sy-
stem der Inhalte“ zu einem „System der Beziehungen“ geworden ist; die inhaltlichen Funktionen der germ./früh-deutschen Kasusformen sind im Nhd. von Präp.-Verbindungen übernommen worden (vgl. noch im Hildebrandslied suuertu hauwan, gegenüber nhd. mit dem Schwert hauen); diese Veränderung (die eine Verlagerung im syntaktischen System impliziert: die Kasusendung war ein Teil des Subst., die Präp. ist ein Teil des Verbs) hat aber keine Einschränkung der Flexionsmöglichkeiten des Subst. zur Folge gehabt, vielmehr deren Erweiterung, indem die relationellen Kasusfunktionen von den flexivisch leistungsfähigeren Bestimmungswörtern erfüllt werden. Da die alte Nominalstruktur sich also erhalten hat, braucht die Wortstellung nicht in gleichem Maß wie im Engl. für syntaktisch-relationelle Aufgaben in Anspruch genommen zu werden; bestimmend ist im Dt. (außer teilweise im Hauptsatz) deshalb noch das ieur. „zentripetale“ (von Polenz) Wortfolgeprinzip, nach dem ein determinierendes Glied im Satz seine Stellung vor dem determinierten hat.
3.
Rahmenstruktur
3.1. Gemeinsam bilden die genannten Faktoren ⫺ (a) eine Wortfolge, nach dem Prinzip geregelt, daß untergeordnete, determinierende Satzelemente je nach dem Grad der grammatischen Dependenz in einer Ordnung von rechts nach links erscheinen, und (b) die analytische Wandlung des Kasussystems, mit Verlegung der Flexionbezeichnung auf Bestimmungswörter; wozu im Bereich des Verbs das Setzen eines Subj.-Pron. eine Parallele ist ⫺ die Voraussetzung für die den dt. Satz ganz besonders kennzeichnende sog. Rahmenbildung (Klammerbildung), die Behaghel als „eine der bemerkenswertesten Tatsachen der dt. Sprachgeschichte“ betrachtet (Behaghel 1932, 144) und die von Sonderegger (1979, 279) als eine „Konstante“ in der syntaktischen Entwicklung des Dt. seit ahd. Zeit bezeichnet wird. Die Rahmenstruktur ist syntaktisch diskontinuierlich, um semantisch zusammenhaltend wirken zu können. Sie entsteht aus dem Konflikt zwischen einerseits der grammatischsemantischen Zusammengehörigkeit von Satzelementen und andererseits der Trennung dieser Elemente in der linearen Sequenz des Satzes. Die Regel kann so beschrieben werden: die beiden Glieder eines grammatischen Syn-
175. Hauptaspekte der syntaktischen Entwicklung in der Geschichte des Deutschen
tagmas (wie das Kind; er ist; ist gekommen) werden durch eine oder mehrere Bestimmungen des zweiten Rahmengliedes voneinander getrennt; diese Bestimmungen können unter sich parataktisch verbunden sein oder in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen; ist das letztere der Fall, gilt als weitere Regel, daß das determinierende Glied links von dem Glied steht, das es determiniert. Die Struktur kann durch die Formel [1 … 5 4 3 2] ausgedrückt werden, in der die Zahlen 1 und 2 die rahmenbildenden Elemente, die übrigen Zahlen den Grad der grammatischen Dependenz der eingeschlossenen Glieder markieren. Der nach außen geschlossenen, innerlich zusammengehaltenen Form der Bildung entspricht ihre Funktion als eine syntaktische Einheit. 3.2. Das Rahmenprinzip manifestiert sich auf verschiedenen syntaktischen Ebenen: in der Nominalgruppe, in der Verbalphrase des Hauptsatzes, im Nebensatz, im Infinitsatz, auch in der Wortbildung. 3.2.1. In der Nominalgruppe wird die Klammer von der grammatischen und der semantischen Komponente des Subst. gebildet: ein kleines Kind; eine für das Deutsche ungewöhnliche Interpretation. Im Laufe des (sich über Jahrhunderte erstreckenden) Etablierungsprozesses des Prinzips hat eine grammatische Rationalisierung seiner Verwendung stattgefunden, die eine Einschränkung der ursprünglichen Fakultativität in bezug auf die Besetzung des Rahmenfeldes bedeutet. So gilt im Nhd. als obligatorische Regel, daß die direkte Bestimmung des rahmenbildenden Subst. (gespalten in einen einleitenden grammatischen und einen abschließenden semantischen Teil) diesem deutlich untergeordnet sein muß; deshalb kann nicht wie in der älteren Sprache eine genitivische Bestimmung innerhalb des Rahmens als unmittelbar untergeordnete Bestimmung des Kernsubstantivs stehen, weil der Gen. und das rahmeneinleitende Determinativ dann parataktisch, grammatisch synonym sind; es ist dies ein wesentlicher Grund zur Verschiebung des Gen.-Attr. von der ursprünglichen Linksstellung. Konstruktionen wie in dhemu druhtıˆnes nemin; daz Etzelen wıˆp; daz Nibelungen liet kommen deshalb seit frnhd. Zeit nicht mehr vor. Aus demselben Grunde werden die in den ahd. Texten häufigen Bildungen Determinativ (das
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in dieser Verbindung eine demonstrative Färbung hat) ⫹ Poss.-Pron. ⫹ Subst. (vgl. der sıˆn namo [Freisinger Paternoster]) später ungebräuchlich. Auf der anderen Seite ermöglicht die nach der grammatischen Dependenz strikt geregelte Strukturierung der Bestimmungen innerhalb des Rahmens einen starken Ausbau der so zusammengehaltenen Subst.-Gruppe; eben darin besteht seine sprachsystematische Besonderheit. Wie Heinrich Weber in seiner grundlegenden Untersuchung des sog. erweiterten Attributs gezeigt hat, macht als erster im dt. Schrifttum Notker von St. Gallen in seinen Lateinübersetzungen von dieser Möglichkeit des Sprachsystems häufigen Gebrauch (Weber 1971, 78⫺80). Inwieweit Notker dabei unter lat. Einfluß steht, ist natürlich nicht mehr zu entscheiden und auch nicht wesentlich; er bedient sich der Rahmentechnik auch in solchen Fällen, wo die lat. Vorlage andere Konstruktionen hat, aber auch wo er die lat. Strukturen nachbildet, überschreitet er nicht die Grenzen des dt. Sprachsystems (Lötscher 1990, 16 f.). ⫺ Schule macht Notker mit diesem Sprachgebrauch nicht. Nominale Rahmenbildungen, in denen das attribuierende Adj. oder Part. mit mehr als einem Gradadverb ausgerüstet ist (vom Typ ein also biderber man) sind laut Weber (1971, 92) im mittelalterlichen Dt. noch selten. Eine die Regel bestätigende Ausnahme bildet Johann von Tepls „Ackermann aus Böhmen“, ein Werk, das man als repräsentativ für den neuen Prosatyp hat betrachten wollen; auch in diesem Text ist die nominale Rahmenbildung aber individualistische Abweichung (ein Beispiel, mit eingebettetem Nebensatz: die hochgelerten und allerlei vermugenden leut) und entspricht nicht dem allgemeinen Sprachgebrauch. ⫺ Eine drastische Veränderung tritt in der letzten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein: sowohl in bezug auf Frequenz als auf Umfang kann von dieser Zeit ab eine konstante Zunahme der Klammerbildung mit erweitertem Attribut festgestellt werden, zunächst in der Kanzleisprache, danach auch in wissenschaftlicher und literarischer Prosa (Weber 1971, 124). Daß um die Mitte des 18. Jhs. der Nominalrahmen mit erweitertem Attribut eine in der Schriftsprache fest etablierte Norm bildet, bezeugt folgende Vorschrift in Gottscheds „Deutscher Sprachkunst“: „Man nehme hier die altväterische Fügung aus: die heutzutage nicht mehr gilt: z. E. Er ist wie ein Baum, gepflanzet an den Wasserbächen, das ist: wie ein am Wasser ge-
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pflanzter Baum“ (vgl. Weber 1971, 118). ⫺ Einen frequentativen Höhepunkt erreicht die Konstruktion im 19. Jahrhundert. Im gegenwärtigen Dt. soll nach Weber ein ⫺ von der normativen Grammatik stark unterstützter ⫺ Tendenzumschwung in der Schriftsprache eingetreten sein; das ausgebaute Attribut werde jetzt in allen Textsorten „maßvoller“ verwendet als in früheren Jahrhunderten (Weber 1971, 102 f.; 107; 114). ⫺ Fraglos ist der erweiterte Nominalrahmen ungeachtet aller Normverschiebungen im dt. syntaktischen System fest verankert. 3.2.2. Das direkte Gegenstück zum Nominalrahmen bildet auf der Satzebene der Nebensatzrahmen; die Felder innerhalb des Nominalrahmens bzw. des Nebensatzrahmens sind identisch strukturiert. Das grammatische Syntagma, das sich im Nebensatz öffnet und zusammenhaltend andere Satzglieder ⫺ einige obligatorisch, andere fakultativ ⫺ umschließt, besteht aus dem Subj. und dem finiten Verb. (Häufig wird in grammatischen Handbüchern die satzeinleitende Subjunktion als erste klammerbildende Konstituente bezeichnet; dies bedeutet, daß man für den Rahmen im Nebensatz die Bedingung ignoriert, die für sein sonstiges Vorkommen als grundlegend betrachtet wird, nämlich daß die getrennten Satzelemente, die durch ihre Trennung den Rahmen konstituieren, eine syntaktische Einheit bilden sollen.) Die entwicklungsgeschichtliche Parallelität zwischen dem Nominalrahmen (mit erweitertem Attribut) und dem Nebensatzrahmen ist augenfällig und nicht überraschend: es handelt sich um Manifestationen ein und desselben grammatischen Prinzips auf verschiedenen syntaktischen Ebenen. ⫺ Wie es beim Nominalrahmen der Fall ist, stellt beim Satzrahmen die grammatische Etablierung einen sich lange hinziehenden Prozess dar (dessen frequentative Fluktuationen nicht, wie bei Weber [1971, 124] dargestellt, als Systemveränderungen, sondern als Verschiebungen einer stilistischen Norm zu interpretieren sind; vgl. auch Lötscher 1990, 23). Im Ahd. ist die Klammerbildung im Nebensatz zunächst eher deutliche Tendenz als Regel; Ebert (1978, 38) stellt fest, daß das finite Verb in den ahd. Texten „im eingeleiteten Nebensatz um mindestens eine Stelle weiter gegen Ende des Satzes als im Hauptsatz“ steht. Bei Notker ist die syntaktische Distinktion aber sehr deutlich: in der Boe¨thius-Übersetzung sind die Glieder des Nebensatzes „mit großer
Häufigkeit umklammert“ (Bolli 1975, 161), und im Psalter zeigen 74 % der Nebensätze eine vollständige Klammer (Borter 1982, 131); die Endstellung des Verbs in Hauptsätzen ist entsprechend seltener. Bedeutsam ist der Umstand, daß das Subj.-Pron. im Nebensatz in der ahd. Periode „fast normhaft“, im Hauptsatz dagegen „nur im Sinne einer grundsätzlichen Tendenz“ erscheint (Sonderegger 1987, 242); es liegt hinter dieser Entwicklung also nicht ein Bedürfnis nach Ersatz für lautgesetzlich bedingte Reduktion der Verbendungen vor (so von Polenz [1972, 20 f.]), sondern ein im Ausbilden begriffenes Systemprinzip. ⫺ Die mhd. und frnhd. Perioden sind im Hinblick auf die Entwicklung und die Frequenz der Rahmenbildung noch unvollständig untersucht; in den vorliegenden Studien wird außerdem zwischen dem Nebensatzrahmen und dem Verbalrahmen im Hauptsatz in der Regel nicht kategoriell unterschieden, was zum Teil zu irreführenden Resultaten führt, da nämlich das Rahmenprinzip sich generell eindeutig stärker geltend macht im Nebensatz als im Hauptsatz (Ebert 1986, 112). Immerhin kann festgestellt werden, daß die Klammerstruktur im 14. Jh. den deutlich vorherrschenden Bildungstyp des Nebensatzes darstellt und daß seine Dominanz im Laufe der folgenden Jahrhunderte noch stärker wird (Admoni 1967, 184⫺187; Ebert 1986, 105⫺112); nach Weber (1971, 112) erhöht sich die Frequenz besonders markant im 17. Jh. Die Veränderungen, die seitdem festgestellt werden können, betreffen nicht die Geltung des Rahmenprinzips an sich, sondern den Grad seiner Verwendung in der schriftsprachlichen Norm, und zwar in bezug auf solche Satzelemente, die fakultativ innerhalb oder außerhalb der Klammer stehen können: Rel.sätze, präp. Fügungen, Inf.-Konstruktionen, Ausdrücke des Vergleichs, Aufzählungen. Die zeitlichen Veränderungen der diesbezüglichen Norm (die beträchtlich sind und wesentlich zu dem Stilunterschied zwischen der älteren und der heutigen deutschen Literatursprache beitragen) bestehen, einfach ausgedrückt, darin, daß solche Satzelemente früher bevorzugt innerhalb, heute meist außerhalb des Satzrahmens stehen. Es hat die Tendenz gegeben, dieser Normverschiebung eine tiefere Bedeutung zu geben, sie als Anzeichen eines bevorstehenden Systemwechsels zu deuten, einer Umgestaltung des Verbkomplexes im dt. Nebensatz zu einer „Serialisierung“ von links nach rechts (wie im Engl.) statt wie jetzt von
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rechts nach links (so Bartsch/Vennemann [1973, 53]). Nichts spricht aber für die Richtigkeit einer solchen Annahme. Vielmehr geht aus empirischen Studien eindeutig hervor, daß in einem zentralen Bereich, dem mehrgliedrigen Nebensatzprädikat, das Rahmenprinzip seine Domäne immer noch erweitert: In Prädikaten mit zwei Verbkonstituenten stabilisiert sich im 16. Jh. die Struktur mit Endstellung des Finitums: wird kommen > kommen wird; wird geholt > geholt wird; seit dem 18. Jh. greift diese Tendenz sukzessive, in einer durch die semantische und grammatische Zugehörigkeit der Verbkonstituenten bedingten Reihenfolge, auf dreigliedrige Komplexe über: muß/wird geholt werden > geholt werden muß/wird, muß holen lassen > holen lassen muß; im 20. Jh. vollzieht sich der Übergang wird holen lassen > holen lassen wird; in der heutigen Literatursprache tauchen zum erstenmal Belege für Endstellung des Finitums in Verbindungen modales Finitum ⫹ Inf. ⫹ modaler Inf. auf: holen müssen soll neben dem älteren soll holen müssen (Härd 1981, 167⫺175). 3.2.3. Wenn also der Nebensatzrahmen und der Nominalrahmen als syntaktische Parallelerscheinungen auf verschiedenen Ebenen des Satzes charakterisiert werden können, so ist das Verhältnis des Nebensatzrahmens zum verbalen Rahmen entstehungsgeschichtlich betrachtet anderer Art. In synchronen Beschreibungen der Rahmenstrukturbildung, so wie diese im gegenwärtigen Dt. vorliegt, ist es üblich, die Nebensatzklammer als eine „Abart“ der Klammer im Hauptsatz zu bezeichnen (so auch in diachroner Sicht Admoni [1967, 191]). In einer entwicklungsgeschichtlichen Analyse der Verhältnisse wird man aber der Klammerbildung des Hauptsatzes keine solche Priorität zuerkennen können, vielmehr das Abhängigkeitsverhältnis umzukehren haben. Die rahmenkonstituierenden Einheiten des Hauptsatzes sind das finite Verb und dessen nächste Bestimmung (es handelt sich also im Hauptsatz um eine Verbalklammer, prinzipiell und terminologisch zu unterscheiden vom Satzrahmen im Nebensatz). Die Entstehung des verbalen Rahmens kann man, vom Satzrahmen als einer Grundstruktur ausgehend, schematisch so darstellen: Die rechte rahmenbildende Konstituente, das finite Verb, rückt an die Position unmittelbar nach der linken, dem Subjekt, wodurch der Satzrahmen aufgelöst und eine neue, reduzierte
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Klammer vom finiten Verb und dessen nächster Bestimmung gebildet wird: (daß) [er ernannt worden ist], (Struktur [1 4 3 2]), > er [ist ernannt worden] (Struktur: 1 [2 4 3]). Dieses strukturanalytische Schema, das das Verhältnis zwischen Verbalklammer und Satzklammer auf eine möglichst einfache Formel bringt, entspricht auch der Vorstellung von der Entwicklung der Hauptsatzstruktur, die die historisch-vergleichende Sprachforschung auf der Basis empirisch gewonnener Einsichten anzunehmen geneigt ist: Eine grundlegende ieur. Satzstruktur S(ubjekt) ⫹ O(bjekt) ⫹ V(erb) (d. h. ein Satzrahmen) ist in zwei Satztypen differenziert worden, indem die unbetonten „ein- oder zweisilbigen Verbalformen, oder überhaupt die kürzeren Verbalformen, bis zu einem gewissen Umfang im Hauptsatz an die 2. Stelle rückten, […] dagegen die anderen [betonten] Verbalformen auch im Hauptsatz die im Nebensatz herrschende Endstellung besaßen“ (Wakkernagel 1890, 427; vgl. hierzu auch die zusammenfassenden Darstellungen bei Ebert [1978, 34 ff.]; Lenerz [1984, 132 ff.]; Braunmüller [1982, 37⫺48]). Diese grundlegend wichtige satzstrukturelle Entwicklung, von der man also annehmen darf, daß sie in der ieur. Periode eingeleitet und im mittelalterlichen Dt. fortgesetzt und abgeschlossen ist, hat für das Dt. eine weitere bedeutsame syntaktische Implikation. Die Strukturveränderung SOV > SVO im Hauptsatz bedeutet, wie das obige Schema veranschaulicht, die Auflösung einer Satzklammer. Allerdings wurde diese im Dt. nicht vollständig aufgelöst: von der Verschiebung des Finitums von der letzten an die zweite Stelle im Satz abgesehen bleiben die Glieder in ihrer alten Reihenfolge. In dieser reduzierten Klammerbildung, jetzt vom Finitum eingeleitet, macht sich das grundlegende Prinzip geltend, nach dem die rahmenschließenden Komponenten ein inhaltlich-grammatisches Syntagma bilden sollen, und zwar auf folgende Weise: Das finite Verb am Anfang schließt eine syntaktische Verbindung mit der neuen Endkonstituente des Rahmens, die früher Teil des Obj.-Feldes war, jetzt aber in die Valenz des Finitums übergeht. (Es liegt hier im Grunde ein Prozess der gleichen systemkreativen Art vor wie der, der dem Artikel eine „substantivierende Kraft“ verleiht [vgl. 1.5.]: die Prädizierbarkeit der Glieder ei-
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ner gewohnten Struktur ergibt eine grammatische Regel.) So werden in der sekundär entstandenen Verbalklammer Nominalformen des Verbs, die vorher das Subj. oder das Obj. bestimmten, zu Präd.-Konstituenten syntaktisch „umgedeutet“ (vgl. ahd. si eigun inan ginomanan > nhd. sie haben ihn genommen); so werden weiter aus Adverbien des Obj.-Feldes mehr oder weniger feste Bestandteile des Verbs (vgl. er trat an mich heran/aus dem Wald hervor); so entsteht überhaupt die für den dt. Hauptsatz typische zweigliedrige Struktur des Prädikats, die, syntaktisch musterbildend, nicht zuletzt für die Entstehung und Verbreitung von analytischen Verbformen, wie periphrastischen Tempusbildungen und sog. Funktionsverbgefügen, eine wesentliche Rolle spielen.
4.
Struktur des Objektfeldes
4.1. Die diachrone Strukturanalyse des dt. Satzes kann nicht von der sekundär entstandenen, diskontinuierlichen Hauptsatzstruktur ausgehen, sondern muß bei der unterliegenden Struktur ansetzen, in der das Obj.Feld noch intakt ist. Die Zerlegung des Satzes in unmittelbare Konstituenten ist demnach hier keine geeignete Methode: In der (diachron) zugrundeliegenden Struktur des Satzes Er hat den Mann gesehen ist den Mann nicht das Obj. von hat gesehen, sondern von gesehen, und den Mann gesehen ist als Ganzes das Obj. von hat. 4.2. Diese dreigliedrige SVO-Struktur des Hauptsatzes ist mit dem zuerst von Erich Drach (1937) aufgestellten Grundplan für den dt. Satz identisch, der sich von der Mehrzahl der seitdem vorgeschlagenen eben darin unterscheidet, daß er nicht von der Klammerbildung ausgeht. Drach gliedert den Satz in die drei Felder „Vorfeld“, „Mitte“, „Nachfeld“, wobei in der Mitte immer das finite Verb steht, während die Besetzung der Vorund Nachfelder situationsbedingt ist: Im Vorfeld steht das „willensmäßig hochgetriebene“, im Nachfeld „der Restinhalt“ des Satzes, gegliedert, so Drach, nicht nach grammatischen Regeln, sondern nach der „Denkfunktion des Wortinhaltes“; als Beispiel dient ihm der Satz Bestraft / muß / er werden!. In einer „syntaktischen Ruhelage“ (Behaghel) dieses Satzes gehört aber das Subj. ins Vorfeld und die Bestimmungen des Verbs ins
Nachfeld, und zwar sind die Verbbestimmungen dort nicht nach „Denkfunktionen des Wortinhaltes“ gegliedert, sondern nach dem syntaktischen Prinzip ‘Determinans ⫹ Determinatum’, was durch Hinzufügung weiterer adverbialer Bestimmungen noch deutlicher wird: Er / muß / sehr streng bestraft werden. Diese durch die grammatische Dependenz bestimmte Reihenfolge der Verbbestimmungen (des Obj.-Feldes) bleibt auch dann beibehalten, wenn sie kontextbedingt, als Ganzes oder teilweise, wie in Drachs Beispielsatz, in das Vorfeld rücken (und dadurch das Subjekt ins Nachfeld verschieben). 4.3. Mit der Struktur des Obj.-Feldes hat es weiter folgende Bewandtnis. Es ist in Hauptund Nebensatz auf identische Weise aufgebaut, und zwar nach dem Prinzip des Nebensatz-Präd. (Fin. ⫹ Bestimmungen). Es erweist sich nun bei einer diachronen Analyse des Verhältnisses zwischen dem Obj.-Feld und dem Nebensatz, daß ihre synchrone strukturelle Konformität auf eine Abhängigkeit des Obj.-Feldes vom Nebensatz-Präd. zurückzuführen ist: Obj.-Felder, die, wie in den Beispielen Er muß / bestraft werden; Er hat / einen Brief geschrieben eine oder mehrere infinite Verbformen enthalten, reflektieren nicht nur die Strukturen von entsprechenden Nebensatz-Prädikaten ⫺ [daß] er / bestraft wird; [daß] er / einen Brief schreibt ⫺ sondern sie sind aus diesen Strukturen diachron herzuleiten; das Obj.-Feld hat seine Struktur vom Nebensatz her. Den empirischen Beleg für diese sowohl diachrone wie synchrone, strukturelle Abhängigkeit des Obj.-Feldes vom Nebensatz liefert der entwicklungsgeschichtliche Vergleich von komplexen Verbstrukturen in ihrem Vorkommen als Nebensatz-Prädikate bzw. als infinite Strukturen des Obj.-Feldes. Es ergibt sich aus diesem Studium, daß strukturelle Veränderungen solcher Komplexe konsequent zuerst in ihrer Funktion als Nebensatz-Prädikate auftreten, um dann auch in den Infinitkonstruktionen des Obj.-Felds in Erscheinung zu treten (Härd 1981, 65). ⫺ Man ist gewohnt, den hier aufgezeigten strukturellen Zusammenhang zwischen Obj.-Feld und Nebensatz in Gefügen wie
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Er verspricht, / mir einen Brief zu schreiben, zu sehen, wo das Obj.-Feld als ein (aus einem Nebensatz abgeleiteter) Infinitivsatz erkannt wird; mit gleichem Recht könnte man das Obj.-Feld im Satz Er hat / mir einen Brief geschrieben als einen Partizip-Satz und beide Fälle als Infinit-Sätze bezeichnen.
5.
Tempussystem
5.1. Das Germ. (und Früh-Ahd.) hatte zwei morphologische Tempora: Präs. und Prät.; wie die Prät.-präs. zu erkennen geben, geht das Prät. dabei auf ein ieur. Perf. zurück (nach Erdmann [1874, 11] wird bei Otfrid das Prät. beim starken Verb, nicht bei dem historisch jüngeren schwachen, noch mit perfektischer Bedeutung gebraucht). ⫺ Das Nhd. bewahrt diese beiden Tempora und hat vier weitere, analytische, gebildet: Perf., Plquperf., Fut. I, Fut. II (nach traditioneller, keineswegs unumstrittener Einteilung). ⫺ Die Unterschiede zwischen dem Germ./Frühdeutschen und dem Nhd. in bezug auf temporale Differenzierungsmöglichkeiten sind aber nicht so groß, wie die verschiedenen Zahlen der Tempora zu indizieren scheinen. Einerseits sind im heutigen Dt. die Grenzen zwischen dem Perf. und dem Prät. nicht mehr deutlich, und es scheint, daß das Perf. dabei ist, das Prät. als Vergangenheitstempus zu verdrängen (wobei der Vorgang im Germ. sich also wiederholt); ferner ist sehr umstritten, ob das Dt. wirklich eine markierte futurische TempusKategorie besitzt, ob die Fügung werden ⫹ Inf. nicht eher modal zu deuten ist. Auf der anderen Seite ist im Germ. das Zwei-Tempora-System mit einem wesentlich auf der Opposition Perfektivität : Imperfektivität beruhenden Aspektsystem kombiniert, und die Aspektualität einer Verbform impliziert oft auch eine temporale Deutung. Beispielsweise hat das Präs. eines perfektiven Verbs in ahd. Zeit immer (auch) einen Zukunfts-Bezug; deshalb geben die frühesten ahd. Übersetzer das lat. Fut. mit perfektivem Präs. wieder, und im Isidor steht für lat. Fut. Pass. konsequent die Konstruktion perfektives (ingressives/inchoatives) werden ⫹ Part. II: arslagan wirdit Christt: occidetur). ⫺ Besonders ist in diesem Zusammenhang auf das perfektivierende ge- hinzuweisen, das im Mhd. auf dem Wege ist, zu einem (polyfunktionalen) Temporalpräfix überzugehen, eine Entwicklung,
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die durch die allzu starke Konkurrenz der aufkommenden periphrastischen Tempora abgebrochen wird; beleuchtend sind hier einige Vergleichszahlen: bei Notker sind präfigierte Prät.-Formen doppelt so häufig wie die neuen Perf.-Formen; im Nibelungenlied ist das Verhältnis 1 : 3; mit dem Ausgang des Mittelalters verschwindet das ge-Prät. (Oubouzar 1974). An ein imperfektives Verb im Präs. gefügt, ergibt ge- in mhd. Texten oft eine deutliche Zukunftsrelation; vgl. etwa folgende Sätze im Nib.lied, wo die ge-präfigierten Verbformen nhd. Fut. I- bzw. Fut. IIKonstruktionen entsprechen: ich weiz vil wol waz Kriemhilt mit dem schatze getuot; swenne iuwer sun gewahset, der troestet iu den muot). Eine zugleich futurale und aspektuelle Bedeutung hat dieses Präfix im älteren Dt. ferner vor Infinitiven nach finiten Formen von können, mögen, müssen: seine Funktion dürfte hier die sein, ein in der Zukunft liegendes Ergebnis der Verbhandlung als das zu Erwartende hinzustellen. Wo das ge- eine Prät.Form präfigiert, kann diese ⫺ vom heutigen Standpunkt aus ⫺ entweder als Perf. interpretiert werden: dat du neo dana halt mit sus sippan man dinc ni gileitos (Hild.lied) oder, in einem temporalen Nebensatz, als Plquperf.: doˆ wir mit vreuden gaˆzen und daˆ naˆch gesaˆzen, und ich im haˆte geseit daz ich naˆch aˆventiure reit, des wundert in (Iwein). Die Umstrukturierung des germ.-frühdeutschen Verbalsystems ist also nicht in erster Linie funktional bedingt, sondern die Konsequenz einer (allgemeinsprachlich zu beobachtenden) Tendenz zu immer stärkerer Betonung einer von vornherein implizit möglichen temporalen Deutung aspektueller Oppositionen. Aufs Ganze gesehen konnten im Ahd. dieselben temporalen Relationen wie im Nhd. ausgedrückt werden. Die Entstehung der neuen Tempora im Nhd. (deren vollständige Grammatikalisierung spätestens um 1550 abgeschlossen ist [Oubouzar 1974, 75⫺ 90]) bedeutet deshalb keinen eigentlichen Gewinn an Ausdrucksmöglichkeiten für Zeitverhältnisse, eher insofern einen Verlust, als die Tempusbildungen aus alten Aspekt-Oppositionen entstanden sind und den Zerfall des an semantischen Nuancierungsmöglichkeiten reichen Aspektsystems zur Folge hatten. Freilich bedeutet die Auflösung der aspektuellen Oppositionen nicht, daß die Aspektualität seitdem im dt. Verbsystem keine Rolle mehr spielt. Sie ist beispielsweise bei den periphrastischen Tempusformen als semantische Substruktur immer noch ein wichtiger Fak-
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tor; soweit heute noch ein Bedeutungsunterschied zwischen Prät. und Perf. besteht, ist dieser Unterschied als aspektuell zu betrachten. Weiter ist es die Aspektualität, die die Wahl zwischen sein und haben bei der Perf.Bildung von intrans. Verben entscheidet. Nach einer erwägenswerten These ist es auch verbliebener Aspektualität zuzuschreiben, wenn die Fut.-Umschreibung mit werden (seit Luther) auch eine modale Bedeutung annehmen kann (er wird morgen kommen = wahrscheinlich kommt er morgen): perfektives werden ⫹ perfektiver Inf. ergebe eine semantische Inkompatibilität, eine „Unverträglichkeitsreaktion“, die eine modale Lesart zur Folge haben könne (Leiss 1992, 195⫺220). 5.2. Die Frage, ob die Fügung werden ⫹ Inf. futurale/modale oder nur modale Bedeutung hat, gehört zu den am heißesten debattierten der dt. Syntax. Sie berührt sich teilweise mit der Frage der Entstehung der Bildung, über die in der Forschung ebenfalls keine Einigkeit herrscht. Nach der heute vorherrschenden Meinung liegt Zusammenfall von zwei ursprünglich koexistierenden Fügungen vor: werden ⫹ Inf. bzw. werden ⫹ Part. I (Schröbler/Grosse 1982, 371); in der zweiten Verbindung hatte werden ingressive/inchoative Bedeutung; ob auch in der ersten ist umstritten; nach Saltveit (1962) war die Bedeutung hier modal. Beide Bildungen bestehen nebeneinander das Mittelalter hindurch; nach 1500 ist die Fügung werden ⫹ Part. I selten (Ebert 1993, 391). Die Grammatikalisierung der Periphrase, durch die werden ein temporales Hilfsverb wird (und die bis dahin üblichen futuralen Umschreibungen mit Modalverben ersetzt), tritt nach Oubouzar (1974, 85) um 1550 ein; nach einer Bemerkung, der Gewicht beizumessen ist, in der nd. sog. Münsterschen Grammatik aus dem 15. Jh. ist sie aber früher anzusetzen; es heißt dort, „de averlender“ (= die hochdeutsch Sprechenden) gäben das lat. legam mit ik werde lesen wieder. Die Grammatikalisierung bedeutet, daß die alte Opposition zum Prät. (vgl. noch Luther: Moses aber ward zittern) nicht mehr gilt; daß die Prät.-Form dadurch aus der Sprache verschwindet hat weiterhin zur Folge, daß die Form würde, eigentlich Prät. Konj., den Wert des Fut. vom Standpunkt der Vergangenheit erhält; zur gleichen Zeit entstehen, als weitere Konsequenzen der Grammatikalisierungen von werden, mehrgliedrige Verb-Komplexe wie wird getan haben, wird getan werden, wird getan worden sein (Oubouzar 1974, 86), die
zur syntaktischen Kompaktheit der nhd. Satzgefüge einen Beitrag liefern. 5.3. Gegenstand einer kontroversen wissenschaftlichen Diskussion ist auch das neugebildete Vergangenheitstempus Perf.; es kann hier nur summarisch auf einige der Problemstellungen hingewiesen werden. 5.3.1. Von den beiden Bildungstypen, aus denen das Perf. (sowie das Plquperf.) entsteht, ist die Verbindung finites sein ⫹ Part. II (eines intransitiven, perfektiven Verbs) die ältere, reichlich belegt sowohl im Got. wie im Ahd.; für die Annahme, das deutsche Perf. Aktiv mit sein, in einer Verbindung wie gekommen ist, wäre aus Perf. Pass.-Konstruktionen mit lat. Vorbild (scriptum est) entstanden (Brinkmann 1931, 23), liegt deshalb kein Grund vor (Grønvik 1986, 18 f.). In der Verbindung sein ⫹ Part. II steht das Part. prädikativ zum Subj. und ist im Got. konsequent und im Ahd. häufig mit dem Subj. kongruenzflektiert: arstorbane sint thie thar suohten thes knehtes sela (Tatian). Der sein-Fügung bei den intransitiven Perfektiva entspricht bei den transitiven die (jüngere, ohne Gegenstück im Got.) ahd. Verbindung habeˆn (in den ältesten Texten eigan) ⫹ Part. II, in der das Part. also prädikativ zum Obj. steht. Kongruenzflexion kommt auch hier vor, ist aber viel seltener als bei der seinKonstruktion: Er habet in thar gizaltan drost managfaltan (Otfrid). Beide diese Verbindungen haben präsentische, aspektuelle Bedeutung. Man könnte sie mit Leiss (1992, 270) als ein Substitut für das fehlende funktionale Präs. von perfektiven Verben (deren morphologisches Präsens in der Regel futurale Bedeutung hat) auffassen: sie halten in der Gegenwart die Folge einer in der Vergangenheit abgeschlossenen Handlung fest. Auf diesem aspektuellen, resultativen Niveau ist nach Leiss (1992, 164) die Verbindung sein ⫹ Part. II intrans. Verben im dt. Verbalsystem geblieben, während für die entsprechenden haben-Bildungen eine „Übergeneralisierung“ der Part.-Konstruktion zum Aufkommen eines neuen Tempus geführt habe. Leiss plädiert deshalb dafür, die Verbindung sein ⫹ Part. II intrans. Verben (er ist gekommen) aus der Perf.-Kategorie auszusondern, sowie auch die strukturell identische Verbindung sein ⫹ Part. II trans. Verben (den sog. Zustandspassiv: die Ausstellung ist eröffnet) aus der Passivkategorie, und beide Kon-
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struktionen in eine gemeinsame Gruppe „Resultativum“ zusammenzuführen. In diachroner Sicht bilden die beiden Part.-Verbindungen jedoch keine einheitliche, durch das Kriterium ‘resultativ’ zusammengehaltene Gruppe. Dem heutigen Zustandspassiv fehlt in älterer Zeit durchaus die resultative Bedeutung; das Oppositionsverhältnis zwischen sein und werden in der Verbindung mit einem Part. II eines trans. Verbs war nicht Zustand : Vorgang, sondern kursiver : inchoativer Vorgang; erst im späten Mhd. wird diese Opposition von jener abgelöst (Eroms 1992, 229; 233). Für die Verbindung sein ⫹ intrans. Verb gilt umgekehrt, daß die früher ausgeprägt resultative Bedeutung durch die Eingliederung in das neugebildete Tempus Perf. eingeschränkt worden ist. Daß eine solche Eingliederung (ohne die das Perf. ein defektives Tempus wäre) stattgefunden hat, ist vor allem aus dem Etablierungsprozesses dieses Tempus deutlich zu ersehen (s. 5.3.2.). Ferner ist hier darauf hinzuweisen, daß die Komponente ‘resultativ’ oft auch bei den haben-Fügungen des Perf. mehr oder weniger deutlich vorliegt und daß die wegen der doppelten Zeit-Relation etwas schillernde Semantik überhaupt das Tempus Perf. kennzeichnet; der synchronen Distinktion zwischen der sein- und der haben-Umschreibung wird deshalb innerhalb des Paradigmas durch die Regel ihrer komplementären Distribution hinreichend Rechnung getragen. ⫺ Noch einen Schritt weiter als Leiss geht Oubouzar, die, von dem mittelbaren Gegenwartsbezug, der das Perf. vom Prät. unterscheidet, ausgehend, das Perf. als ein Präs. gelten lassen will und die Opposition Präs. : Perf. nicht als temporal, sondern als eine „Phasen“-Opposition bezeichnet: derselbe Vorgang werde beim Präs. und beim Perf. von einem verschiedenen Standort aus betrachtet, als ‘unvollzogen’ (tut) bzw. ‘vollzogen’ (hat getan) (Oubouzar 1974, 8). 5.3.2. Die Entstehung des Tempus Perf. geht von der Verbindung haben ⫹ Part. II eines perfektiven Verbs aus. Ein Beleg dafür, daß diese aspektuelle Bildung auch temporal-perfektisch gedeutet werden konnte, ist die Übersetzung des lat. acceptistis in der frühahd. Exhortatio (um 800): ir den christiaˆniun namun intfangan eigut; diesem zeitlich noch isolierten Beleg schließen sich um 830 (Tatian, Muspilli) weitere an. Der entscheidende Schritt wird getan, wenn die Konstruktion finites haben ⫹ Part. II auf imperfektive Transitiva übertragen wird. Damit geht die prä-
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sentische Bedeutung der Verbindung verloren, denn diese wird hier schon durch das morphologische Präs. ausgedrückt, und es entsteht eine rein perfektische; vgl. sie suchen ihn : sie haben ihn gesucht. Syntaktisch bedeutet dies, daß haben seine Autonomie als Vollverb aufgibt und als temporales Hilfsverb mit dem Part. II, das aus dem Obj.-Feld ins Präd.-Feld übertritt, eine analytische, feste (klammerfähige) Verbindung bildet. ⫺ Die neue Tempusbildung haben ⫹ Part. II ist noch bei Otfrid auf transitive Verben (bisweilen mit ausgespartem Obj.) beschränkt; bei Notker von St. Gallen aber ist das System so weit ausgebildet, daß Perf.-Bildung mit finitem haben bei allen Vollverben möglich ist außer bei den intransitiven Perfektiva, für die schon Konstruktionen mit sein vorlagen, die die perfektische Bedeutung ausdrückten und als komplementär verteilte Gruppe in das Paradigma eingegliedert werden konnten (Grønvik 1986, 37). Weitere Etappen in der Entwicklung bilden die Perf.-Bildung von sein (um 1130), von haben (15. Jahrh.), von Modalverben (um 1550). 5.4. Es scheint eine allgemein wahrzunehmende Tendenz zu sein, daß in Sprachen, die sowohl ein Perf. als auch ein Prät. besitzen, das Perf. dem Prät. immer ähnlicher wird, bis es schließlich das Prät. verdrängt (Meillet 1953, 120; Bybee/Dahl 1989). Diese Tendenz prägt in hohem Grad die Entwicklung im Deutschen; zuerst und am markantesten ist sie dabei in der gesprochenen Sprache festzustellen. Nach Oubouzar, die ihrer „Phasen“Theorie gemäß eine späte Grammatikalisierung des Perf. annimmt, beginnt das Perf. im 16. Jh. in das Gebiet des Prät. einzudringen (Oubouzar 1976, 68); nach neuerer Forschung setzt die Entwicklung aber viel früher ein: nach Dentler (1994, 63) hat beim Ausgang der mhd. Periode rund 10 % der Perf.Bildungen „eine präteritumähnliche zeitreferentielle Bedeutung“. Die Tempusumschichtung ist in Texten, die die gesprochene Sprache reflektieren, noch auffälliger: in den von Dentler untersuchten Stadtchroniken des 15. Jhs. sind fast 55 % der Perf.-Konstruktionen präterital gefärbt (Dentler 1994, 63). ⫺ Im Lichte dieser Erkenntnisse wird man wohl auch den von ca. der zweiten Hälfte des 15. Jhs. bis ca. 1600 zu datierenden obd. Schwund des Prät. und dessen „Ersatz“ durch das Perf. in der gesprochenen Sprache zu betrachten haben. Man hat für diese Erscheinung lange den Grund in einer mangeln-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
den Funktionstauglichkeit des obd. Prät. sehen wollen, für die verschiedene Erklärungen vorgeschlagen worden sind (Ebert 1993, 389). Demgegenüber setzt sich in der jüngeren Forschung die Auffassung immer mehr durch, daß die wichtigste Bedingung der süddeutschen Entwicklung die Expansion des Perf. ist (Leiss 1992; Thieroff 1992; Dentler 1997). Mit dieser These gut vereinbar scheint die Analyse Lindgrens zu sein, durch die man auch eine Antwort erhält auf die Frage, warum der frnhd. Verdrängungsprozess gerade im Obd. eintritt; Lindgren stellt sich ein Zusammenwirken von einerseits der Ausbreitung des Perf. und andererseits der obd. Apokopierung des Prät.-e in der 3. Pers. Sing. der schw. Verben so vor: das Lautgesetz läßt funktionell wichtige Formen des Prät. äußerlich zusammenfallen; das gestörte System bleibt aber vorläufig noch bestehen; dann taucht das mit dem Prät. konkurrierende Perf. auf; die beiden Tempora bestehen eine Zeitlang nebeneinander, bis deutlich wird, daß man „ohne Präteritum ganz gut zurechtkommt; man kann teils in Perfekt, teils in Präsens erzählen“; damit ist das neue System da, in welchem das als störend empfundene Prät. gar nicht nötig ist und rasch verschwindet (Lindgren 1957, 128 f.). Der Prät.-Schwund ist längst nicht mehr auf das Süddeutsche beschränkt, und es wird die Prognose gestellt, daß dieselbe Entwicklung dem übrigen Hochdeutsch bevorsteht; in der gesprochenen Gegenwartssprache ist sie weitgehend schon eingetreten. Es ist allerdings wahrscheinlich nicht nur die funktionale Expansion des Perf., die den Rückgang des Prät. bewirkt hat und vielleicht zu dessen Verdrängung aus dem Tempussystem führen wird. Ein wesentlicher Faktor ist in diesem Prozess auch die syntaktische Struktur des Perf. Es ist hier auf eine umfassende Untersuchung zur Verwendung von Perf. und Prät. in der gegenwärtigen gesprochenen Sprache (Sieberg 1984) hinzuweisen; das Ergebnis der Untersuchung ist erstens die Feststellung einer totalen Dominanz für das Perfekt als Einheitstempus für vergangene Zeit, zweitens die Beobachtung, daß das Prät. wesentlich bei zweigliedrigen Präd.-Strukturen, wie Verbindungen Modalverben ⫹ Inf. und sog. Funktionsverben vorkommt, m. a. W. bei analytischen Strukturen, die wie die Perf.-Konstruktionen im Hauptsatz einen Verbalrahmen bilden (hierher gehört auch die Konj.-Umschreibung: wenn er kommen würde statt wenn er käme). Sieberg zieht daraus den
Schluß, daß es gegenwärtig das Rahmenprinzip ist, das die Konkurrenzsituation Perf.Prät. bestimmt: „Indem die Imperfektbildungsweise sich von ihrer Struktur her der periphrastischen Bildungsweise des Perfekts anpaßt, dient sie der ‘Vereinheitlichung’ und ‘Systematisierung’ des Konjugationssystems“. ⫺ So bestätigt sich auch im Bereich des Tempussystems die Wichtigkeit der Rahmenbildung als einer grundlegenden syntaktischen Strukturregel des Dt.
6.
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176. Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Die Rhetorik im Kommunikationsprozeß Die Rhetorik im Bildungsprozeß Gegenstand und Gliederung Die Dreistillehre Die zentrale Rolle der Gefühlsbeeinflussung Heutige Verständnisprobleme Ausklang Literatur (in Auswahl)
1.
Die Rhetorik im Kommunikationsprozeß
Wer mittels der Sprache Einfluß ausüben will, muß damit rechnen, Widerstände überwinden zu müssen: Gleichgültigkeit, Antipathie, Unverständnis, Widerspruch. Die Kunst der Rhetorik baut auf den Erfahrungen auf, die von Alters her bei der Lösung dieser Aufgabe gemacht worden sind. Sie ist eine dem praktischen Gebrauch entsprungene, erst nachträglich und ungenügend systematisierte
Kunst „bene dicendi“, wohl (d. h. wirkungsvoll) zu reden. Ihr Ziel wurde von Aristoteles definiert als „Wahrheitsvermittlung mit dem Ziel des Überzeugens“. Cicero betonte, daß der Theorie die Praxis, der Kunst die Natur vorausgegangen sei: was gute Redner von sich aus gemacht haben, wurde von anderen studiert, nachgemacht und gelehrt. So sei nicht die Wohlredenheit aus der Lehre, sondern die Lehre aus der Wohlredenheit erwachsen. Dies gibt einen Hinweis darauf, was man zu erwarten hat: kein geschlossenes, logischen Gesetzen verpflichtetes theoretisches Gebäude, sondern eher einen recht wild gewachsenen Garten. Die Rhetorik weist einen Reichtum und eine Vielfalt auf, die schier unerschöpflich erscheinen. Jedes Zeitalter hat sich aus dem Schatz an Erfahrungen das herausgesucht, was ihm besonders zusagte oder seinen Zwecken bzw. dem Geschmack beson-
176. Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache
ders entgegenkam. So entstanden verschiedene Schulen und Traditionen. Richtungen und Gegenrichtungen gab es bereits in der Antike. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jhs. war ihre Geltung unangefochten. „Wer die Geschichte der poetischen Theorie von der Antike bis ins 18. Jh. verfolgt, erkennt staunend die alles beherrschende Macht der Rhetorik“ (Brinkmann 1928, 33). Dies gilt gleichermaßen für die deutsche Prosa. Von Anfang an orientierte sich mündliche und schriftliche Darstellung an dem am Lateinischen erlernten Normenbewußtsein der ars bene dicendi. Dabei ging es nicht um Ästhetik, sondern um Wirkung. Um Texte älterer Zeit korrekt verstehen und einschätzen zu können, ist eine Kenntnis der Voraussetzungen, unter denen sie entstanden und rezipiert worden sind, unabdingbar. Ihre Bedeutung für die Entwicklung der dt. Sprache ist kaum zu überschätzen. Es wird im folgenden aufgezeigt werden, wie ihr Einfluß sich maßgeblich ausgewirkt hat auf Inhalt und Form von Rede und Schreibe. Eine Warnung ist an diesem Punkt am Platz: Das unentbehrliche „Handbuch der literarischen Rhetorik“ von H. Lausberg kann zu der Ansicht verleiten, es habe ein System der Art gegeben, wie es die Bestandsaufnahme der Lehrbücher suggeriert. Dies ist nicht der Fall. Bei seiner Benutzung ist im Gegenteil auf den Hinweis im Vorwort zu achten, daß es „eine auf das Mittelalter und die Neuzeit hin geöffnete Darstellung der antiken Rhetorik versucht“. ⫺ Zeitgeschmack und jeweilige Bedürfnisse haben dem System verschiedenartige Ausprägung verliehen, Schwerpunkte wurden unterschiedlich gesetzt, die Beliebtheit der Autoren wechselt mit den Zeitläuften.
2.
Die Rhetorik im Bildungsprozeß
2.1. Schule und Universität Unter den Sieben Freien Künsten gehörte die Rhetorik, zusammen mit Grammatik und Dialektik, zum sog. Trivium. Den Grundstein legte die (lateinische) Grammatik, die als die ars recte dicendi galt, die Kunst, korrekt (lateinisch) zu sprechen. Die Rhetorik baute darauf auf als ars bene dicendi. Die Dialektik sollte zu logischem Denken und Argumentieren hinführen, wobei die Grenze zwischen Rhetorik und Dialektik durchlässig ist und von verschiedenen Autoritäten unterschiedlich gezogen wird. Rhetorik war mithin ein Schulfach, das zu den „trivialen“ zählte. An das Trivium schloß sich das Quadrivium
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mit Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. An der Universität wurde vor allem in der Ausbildung von Juristen und Beamten eine Vertiefung rhetorischer Fähigkeiten angestrebt. Richter und Anwälte mußten Beweisführung beherrschen, Beamte Schriftstücke wohlgesetzt formulieren können, für alle Angestellten in der Verwaltung sowie an fürstlichen Höfen waren rhetorische Fähigkeiten von eminenter Bedeutung. Auch die Ausbildung von Theologen lehrte in sog. artes praedicandi rhetorische Kenntnisse und Fähigkeiten. 2.2. Wichtigste Lehrbücher und Autoritäten Im Schulbetrieb wurde als Lehrbuch zumeist die irrtümlich Cicero zugeschriebene „Rhetorik an Herennius“ verwendet, ein praxisorientiertes Werk mit zahlreichen Beispielen. Besonders Buch IV über den guten Stil gibt neben einem Arsenal von Stilfiguren mit ihrer jeweiligen Wirkungsabsicht auch Hinweise auf Deklamations- und Disputationsübungen. In der Herenniusrhetorik finden wir auch die älteste Lehre zur Gedächtnisschulung, die wir besitzen (s. u. 3.3.b.). Als Autoritäten galten ferner für Fortgeschrittenere Aristoteles Rhetorik und Ciceros De oratore (Vom Redner). Von unüberschätzbarer Bedeutung war die Wiederauffindung von Quintilianus’ Institutio oratoria (Ausbildung des Redners) im 15. Jahrhundert (Boskoff 1952, 75 f.). Dieses Lehrbuch hat u. a. Martin Luther stark beeinflußt. Quintilian baut auf Ciceros Ideal des orator perfectus auf. (Zu Cicero-Quintilian Conley 1990, 34⫺43). Charakteristisch für Quintilian ist vor allem die starke Beachtung der Affekte. In der Erregung und Besänftigung der Gefühle liegt nach ihm die Quintessenz der Redekunst, die Hauptaufgabe des Redners. Erfolg und Mißerfolg hängen von dieser Fähigkeit ab (Inst. or. VI. 2.7; s. u. 5.). Für Theologen kam als Autorität ein Lehrbuch des Augustinus hinzu: De doctrina christiana, wo im IV. Buch Anweisungen für den Prediger gegeben werden. Rhetorische Regeln werden hier den spezifischen Bedürfnissen der geistlichen Beredsamkeit angepaßt und teilweise umfunktioniert (vgl. 4.4.). „De doctrina christiana IV“ wurde 1465 bei Johannes Mentelin in Straßburg mit dem Titel „Ars Praedicandi Sancti Augustini“ gedruckt und innerhalb von drei Jahren zweimal neu aufgelegt (Roth 1956, 132⫺134).
2584
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
In der Schulrhetorik galten diese Autoritäten in ungebrochener Tradition durch die Jahrhunderte. (Über das Fortleben der Rhetorik als Studienfach s. Barner 1970, 411 ff.). Melanchthon, der „Praeceptor Germaniae“, lehrte in Wittenberg Rhetorik und Dialektik und gab drei eigene Lehrbücher darin heraus, die das antike Gut in klarer und pädagogischer Weise weitergaben, nicht ohne eigene Abwandlungen (Schanze 1983, 120 f.; vgl. 3.3.a.). Seine Rhetorik, an der er ständig weiterarbeitete, erlebte in ihren verschiedenen Fassungen zu seinen Lebzeiten mindestens 80 Ausgaben (Knape 1993, 23). ⫺ Ein prominentes zeitgenössisches Lehrbuch für die Ausarbeitung der Rede (elocutio) war im Humanistenzeitalter Desiderius Erasmus’ Traktat „De duplici copia verborum ac rerum libri duo“, 1512 abgefaßt (s. zu „copia …“ Bauer 1986, 119⫺129; s. u. 3.3.a.). Noch zu Lebzeiten seines Verfassers wurde es 60 Mal aufgelegt, darunter eine Ausgabe mit Kommentaren und Vorwort von Melanchthon (Bauer 1986, 121 f.). Das grundlegende Handbuch des Humanistenzeitalters für die imitatio (die wichtige Nachahmung großer Vorbilder sowie der Natur, s. u. 2.3.b und 5.4.), war Erasmus’ Dialogus Ciceronianus sive de optimo genere dicendi, erstmals 1528 aufgelegt. Er betont vor allem das aptum (s. u. 3.2.b. und 4.1.) als Richtschnur: Ciceros Stil sei nicht sklavisch nachzuahmen, da er in die gegenwärtige Zeit nicht passe (Gmelin 1932, 237⫺ 240). Darin weicht er von Melanchthon ab, der in seinem Lehrbuch ein ganzes Kapitel der imitatio widmet und Caesar und Cicero ohne Einschränkung als Vorbilder hinstellt. (Knape 1993, 158⫺164; vgl. u. 3.2.b.). ⫺ Die Verankerung der Rhetorik im Bildungswesen des 17. Jhs. hat Barner behandelt (1970; s. auch Kramer 1974, Dyck 1990, Fischer 1968). Besonders an Jesuitengymnasien hatte sie seit je eine starke Stellung (Bauer 1986, Barner 1970, 321⫺366), doch auch an protestantischen Gelehrtenschulen sowie in der Adelserziehung wurde sie gepflegt (Barner 1970, 258⫺321, 367⫺386). Das „gelehrte“ Element in der Barockliteratur wird am deutlichsten bei Opitz faßbar, der ein „vornehmgelehrtes Poetentum“ propagierte (Barner 1970, 225⫺236). Im 18. Jh. baut J. Ch. Gottsched seine erfolgreiche „Ausführliche Redekunst nach Anleitung der alten Griechen und Römer“ vor allem auf Cicero und den ersten und letzten Büchern der Inst. or. des Quintilian auf, unter charakteristischen Akzentverschiebungen von der Affektenlehre zur Ver-
nunftslehre hin (s. u. 5.5.). Gottsched lobt und zitiert Melanchthon: Von den „Neuern“ habe niemand die Redekunst besser beschrieben (AR VII/1, 87; 100). Auch franz. Vorbilder werden erwähnt und benutzt (vgl. AR VII: 4, 3 u. 35). Gottsched ging es darum, im Gegensatz zu der im Barockzeitalter starken lat. Dichtungstradition (s. Curtius, 1948/ 1993; Conrady 1962) eine deutschsprachige Redekunst zu fördern. Außer der „Ausführlichen Redekunst“, die fünf Auflagen erlebte, gab er eine gekürzte Ausgabe für den Hochschulgebrauch und eine umgearbeitete für den Schulunterricht heraus. Das Schulbuch erlebte vier Auflagen, die letzte 1775. ⫺ Zur Weiterentwicklung seit 1800 s. u. 7. 2.3. Abgrenzung gegen andere Künste 2.3.a. Rhetorik und Poesie: Da die Wohlredenheit es auch mit dem schönen Klang, dem Bilderreichtum, der Anschaulichkeit zu tun hat, finden sich unter den anbefohlenen Mitteln zum Redeschmuck (ornatus, s. u. 3.3.a) zahlreiche Kunstgriffe, bei deren Gebrauch sich Rhetorik und Poesie überschneiden. Etliche von ihnen sind als stilistische Universalien zu zählen, d. h., sie werden in der Dichtung aller Länder und Zeiten gefunden und können jederzeit spontan entstehen. Beispiele sind Assonanz, Alliteration und Reim; Parallelismus und Antithese, einprägsame Wiederholung, Wortspiel und Wortwitz, Bildersprache und vieles mehr. Ihre ästhetische Wirkung ist in Poesie und Rhetorik die gleiche, der Zweck ihres Gebrauchs und ihre Funktion jedoch unterschiedlich. Sie werden zu rhetorischen Mitteln in dem Augenblick, wo sie mit dem Ziel des Überzeugens und Überredens eingesetzt werden. Zwischen Rhetor und Poet wurde weder in der Antike noch im Zeitalter von Renaissance und Barock ein Unterschied gemacht (Norden II, 1898/1958, 883⫺908; Dyck 1966/1990; Fischer 1968; Barner 1970, 232⫺236). Martin Opitz’ „Buch von der Deutschen Poeterey“ (1624) ist reine Rhetorik. Georg Philipp Harsdörffers „Poetischer Trichter“ (1647) betont in seiner Vorrede noch einmal die Verschwisterung von Poesie und Rhetorik. Sein vorbildlicher Dichter ist ⫺ wie bei Opitz ⫺ der gelehrte poeta doctus. Er gleicht aufs Haar dem Idealtyp des Orators bei Cicero und Quintilian. Gottsched versteht sich als Fortsetzer von Opitz. Bei ihm ist jedoch ein Umdenken hinsichtlich der Affektenlehre (s. u. 5.5.) zu notieren, deren Bedeutung für den Redner abgeschwächt wird. Bei der Verwendung neuer
176. Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache
oder ungewöhnlicher Wörter (s. u. 3.2.b.) wird den Poeten ein größerer Freiraum (licentia) zugestanden als den Rednern. Auf Häufung und Intensivierung rhetorischer Formen im Barock ist vor allem von literaturwissenschaftlicher Seite hingewiesen und u. a. an Beispielen bei Andreas Gryphius illustriert worden (Conrady 1962, 224⫺242; Krummacher 1976). Erst mit der Absage an die RegelRhetorik im späten 18. Jh. geschieht eine theoretische Trennung zwischen Poesie und Dichtung (zu „Romantik und Rhetorik“ Schanze 1974, 126⫺144; vgl. u. 5.4.). 2.3.b. Wortkunst und Malerei: Beide Künste galten als miteinander verwandt. Melanchthon hat in seinem Lehrbuch „Elementa rhetorices“ ausführlich darüber gehandelt (Knape 1993, 16⫺21). Noch Opitz nennt sie Geschwisterkinder (Buch 1972, 21). Allgemein verbreitet war die Ansicht, daß ein Redner mit sprachlichen Mitteln „Farben aufträgt“, die sogenannten colores rhetorici. Harsdörffer fordert in seinem „Poetischem Trichter“, in dem der alte Vergleich zwischen Malerei und Dichtkunst eine entscheidende Rolle spielt, den Dichter auf, er könne „bey jeder Begebenheit die natürlichen Farben/ich will sagen die poetischen Wörter […] anbringen“ (I, 6; nach Fischer 1968, 226). Ein Gemeinplatz war die Ansicht von der Beschreibung als einem „redenden Bild“, von der Malerei als einer „stummen Poesie“, oft zitiert zusammen mit einem Horaz-Wort: „Ut pictura poesis“ (vgl. Buch 1972; Kaempfert 1985, 1815 ff.). Noch 1740 schreibt Johann Jacob Breitinger in seinem Titel: „Fortsetzung der Critischen Dichtkunst, Worinnen die Poetische Mahlerey In Absicht auf den Ausdruck und die Farben abgehandelt wird“. Ausgiebig werden von ihm die antiken Autoren, besonders Aristoteles und Quintilian, Horaz, Cicero und Longin, mit langen lateinischen Zitaten angeführt. Imitatio: Die Verwandtschaft zwischen beiden Künsten zeigt sich besonders deutlich an einem Prinzip, das bei der Ausbildung innerhalb sowohl der Sprach- als auch der Bildkunst zentral war: der imitatio, d. h. der Nachahmung anspruchsvoller Vorbilder sowie der Natur. Grundlage aller Empfehlungen im deutschen Humanismus und Barock war Quintilians Lehre (Inst. or. X.2.), die von Petrarca aufgegriffen und weiterentwickelt wurde (Gmelin 1932). Während die Humanisten wie Quintilian (Inst. or. X. 2.14.) die sorgfältige Wahl der Vorbilder betonen, wird
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im Barockzeitalter vor allem die Natur zur Nachahmung empfohlen (s. u. 5.4.). Melanchthon zieht in seinem Lehrbuch „Elementa rhetorices“ im Kapitel „de imitatione“ den Vergleich zur Malerei: so wie ein berühmter Maler zunächst bei anderen die Technik der Darstellung und Linienführung lernt, „So muß man auch den besten Schriftstellern eine sichere Ausdrucks- und Urteilsweise entnehmen“ (Knape 1993, 107⫺114 bzw. 158⫺164). Und noch Goethe läßt im Werther seinen Künstler-Helden den Beschluß fassen, sich bei seiner Malerei als Vorbild an die Natur zu halten, und läßt ihn in der späteren Fassung ausdrücklich hinzufügen: „Was ich dir neulich von der Malerei sagte, gilt gewiß auch von der Dichtkunst“ (Stolt 1980, 77 f.; zu Goethes Rhetorik s. u. 5.4.). Imitatio bedeutete jedoch keine sklavische Nachahmung oder zusammengestückeltes Flickwerk: es galt vielmehr, sich das Angelesene so zu eigen zu machen, daß man daraus etwas Neues, Eigenes hervorbringen konnte (Inst. or. X.2.4⫺ 13). Von alters her hat man diesen Prozeß im Gleichnis der Bienen verdeutlicht, die von Blume zu Blume fliegen und Nektar sammeln, um dann daraus Honig zu fertigen (Stackelberg 1956). Petrarca schreibt, es sei zwar noch besser, wie die Seidenraupe ganz aus sich heraus etwas Eigenes zu spinnen, doch sei dies nur sehr wenigen gegeben (Stakkelberg 283; Gmelin 1932, zu Petrarca: 98⫺ 173, zu Erasmus: 229⫺248; zu Stackelberg Bauer 1992, 156 f. und 162, A. 31). Beide Gleichnisse finden sich in Harsdörffers Poetischem Trichter wieder (Teil I, 15). ⫺ Über die Technik der Veranschaulichung durch Bilder (evidentia), wo der Vergleich zwischen Dichtkunst und Malerei stereotyp ist, wird unten (5.2.) gehandelt. Eine theoretische Grenzziehung zwischen Wort- und Bildkunst vollzog bekanntlich erst Lessing im „Laokoon“. 2.3.c. Rhetorik und Musik: Für die wortgebundene Musik des Abendlandes seit dem frühen Mittelalter bis auf Bach und Händel besteht ein enges Verhältnis zwischen rhetorischer ars oratoria und Musik (Gurlitt 1966). Grundlegend ist Quintilians Kapitel über die Musik im ersten Buch seiner Inst. or. (I. 10. 9 ff.). Und zwar ist es die Fähigkeit der Musik, Gefühle zu wecken und zu besänftigen, die im Vordergrund steht und die sie mit der Rhetorik teilt (vgl. o. 2.2.). Die dabei eingesetzten Mittel, Rhythmus und Melodie der Musik, Rhythmus und Stimmführung/Proso-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
die der Rede, berühren sich gegenseitig. Enge Beziehungen hat man zwischen rhetorischen und musikalischen Figuren gesehen (Schmitz 1950; Vickers 1984). ⫺ Was die Hierarchie der beiden Künste untereinander betrifft, so ist in der humanistischen Musiktheorie die Unterordnung der Musik unter die Dichtung gang und gäbe: die Musik gilt als ancilla verbi, hat dem Wort zu dienen (Walker 1949, 13 ff., 35 ff.; Fellerer 1959, 44 f.). Sie sollte durch Rhythmus und Melodie die Verständlichkeit des Textes fördern. Es gab acht Tonarten, die bestimmten Affekten zugeordnet waren. Damit Wort und Musik die gleiche Gefühlslage erzeugten, galt die korrekte Wahl der Tonart als wesentlich zur Komposition affekterfüllter Musik. Diese Anforderung galt nicht zuletzt für die Kirchentonarten und hat u. a. Martin Luthers Übersetzung der im Gottesdienst verwendeten Bibeltexte (Perikopen) beeinflußt. Hier berühren sich Musik, Rhetorik und Theologie (Stolt 2000, 130⫺145). Noch im 17.⫺18. Jh. hat die musikalische Affektenlehre ausgiebing aus der Rhetorik geschöpft (Unger 1940, Schmitz 1950, 1990). Die Literarisierung und Rhetorisierung der Musik erreichte ihren Höhepunkt während der Barockzeit in romanischen Ländern (Gurlitt 1966, 76). Gottsched steht ganz in dieser Tradition. Auch Goethe war damit vertraut. Quintilian illustrierte die beruhigende Wirkung gewisser Rhythmen mit einer Anekdote von Pythagoras, der rasende junge Männer besänftigt habe, indem er der Flötenspielerin befahl, ins spondeische Maß überzuwechseln. Diese Anekdote hat Goethe als Student aus Quintilian exzerpiert. Wenn Flavius in „Wilhelm Meisters Wanderjahren“ mit Dichtkunst und Musik geheilt, oder Faust durch österlichen Chorgesang vor Selbstmord bewahrt wird, ist hier ein Widerhall antiker Melotherapie und rhetorischer Affektenlehre spürbar.
3.
Gegenstand und Gliederung
3.1. Persönliche Voraussetzungen Allen Anforderungen an einen guten Redner übergeordnet ist, vor allem bei Aristoteles und, in seiner Nachfolge, Quintilian, eine ethische Voraussetzung: Der Redner muß moralische Integrität ausstrahlen, ein vir bonus sein, von untadeligem Ruf, der allein durch seine Persönlichkeit vertrauenerwekkend wirkt (sog. „subjektives Ethos“). Dies bewirke mehr als alle Argumente, die er für
seine Sache vorbringen kann (Inst. or. IV.1.7; V.12.9; Brinton 1983; Müller 1981, 12⫺14). ⫺ Es ist diese ethische Voraussetzung, die vor allem Schiller ansprach, in einer Zeit, als er Vater geworden war und sich mit Erziehungsfragen beschäftigte (Meyer 1959). War diese ethische Voraussetzung gegeben, waren drei weitere Anforderungen zu erfüllen: 1. Begabung (ingenium), 2. gediegenes Wissen (cognitio rerum), und erst an 3. Stelle die erlernbare Redekunst (ars). Dabei konnte die Ausbildung nur die beiden letzteren Punkte berücksichtigen. Ihre Rangordnung ergibt sich aus dem folgenden: 3.2.
Gegenstand der Rhetorik = „Res et verba“ 3.2.a. Der Vorrang von „res“: Es wird oft gesagt, daß die Rhetorik die Vorläuferin der Stilistik sei. Dies gilt jedoch nur für den rhetorischen Teilbereich der elocutio. Sie umfaßt weitaus mehr. Gegenstand rhetorischer Kunst war „res et verba“, d. h. betraf sowohl das Auffinden und Ordnen schlagkräftiger Inhalte (res), als auch deren ausgefeilte Formulierung (verba). Dabei hatte der Inhalt den Vorrang vor der Form. Fehlte das sachliche Fundament, war das Ergebnis hohle Schönrednerei, als verba sine re abqualifiziert (zu res et verba im Mhd. vgl. Hufeland 1985, 1194 f.). Eine im Schulbetrieb sprichwörtlich gelehrte Regel, die Cato d. Ä. zugeschrieben wurde, lautete: „Rem tene, verba sequentur“ (= Halte dich an die Sache, so folgen die Worte von selbst). Luther zitiert sie im „Sendbrief vom Dolmetschen“ so: „Wie denn alle Schulmeister lehren, daß nicht der Sinn den Worten, sondern die Worte dem Sinn dienen und folgen sollen“. „Alle Schulmeister“ meint dabei, daß es sich um eine im Trivium gelehrte, „triviale“ Schulweisheit handelte. ⫺ Es war immer darauf zu achten, daß Inhalt und Form aufeinander abgestimmt waren, sowie daß beides dem Hörer und der Situation angepaßt war (aptum, s. u. 2.b.). Hieraus folgt, daß man, um ein guter Redner zu sein, über eine gründliche Bildung verfügen und genaue Kenntnis der Dinge besitzen mußte, über die man reden wollte. In der Tradition dieser Forderung an gediegenes Wissen zur Sicherung der inhaltlichen Qualität von Rede und Dichtung steht das Ideal des poeta doctus, ein noch für Harsdörffer und Johannes Clajus gültiges Vorbild (s. o. 2.3.a.). Zur Illustration der zentralen Rolle des Lehrsatzes sowie des hierarchischen Verhältnisses von res und verba sei ein
176. Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache
Tischredenausspruch Martin Luthers zitiert, in dem Lob und Kritik an Freund und Feind nach diesem rhetorischen Maßstab verteilt werden: „Res et verba Philippus, verba sine re Erasmus, res sine verbis Lutherus, nec res nec verba Carolostadius“ (TR 3619; Stolt 1983, 244 f.). Luther zollt hier Melanchthon das höchste Lob: er hat sowohl res (was bei Luther den rechten Glauben meint) als auch verba, die gute Formulierung. Erasmus hat nur die verba, aber falschen Glauben. An sich selbst schätzt Luther nur den Inhalt seiner Schriften, während sein Feind Karlstadt völlig vernichtend beurteilt wird: er hat keins von beiden. ⫺ Der Beleg illustriert sowohl die zentrale Stellung des Lehrsatzes als auch seine allgemeine Kenntnis, die Luther voraussetzen konnte. 3.2.b. Verba: aptum, perspicuitas: Die Lehre von „res et verba“ ging aus von der Vorstellung, daß es zu jeder Sache, res, ein passendes Wort gab (verbum proprium), welches der Redner zu finden habe. In der richtigen Zuordnung der verba zu den res besteht das aptum, das Angemessene. (Ausführlich zum aptum: Fischer 1968, 184⫺252. Vgl. u. 4.1.). Das Treffen des richtigen Ausdrucks mit propria verba nimmt bei Quintilian einen zentralen Platz ein. Im Kapitel über die Durchsichtigkeit (perspicuitas) der Rede bezeichnet er sie als Haupttugend des Ausdrucks (Inst. or. 8.2.22). Eine logische Folge dieser Ansicht war eine Aversion gegen neue, unbekannte oder auch seltene Wörter. Sie konnten leicht zu Unverständlichkeit, Dunkelheit (obscuritas) und Mißverständnissen führen. Bestenfalls könnten Neubildungen mäßige Anerkennung finden, der Redner riskiere jedoch auch Spott (Inst. or. 1.5.71.). Auch in der Herenniusrhetorik wird die geforderte Klarheit der Rede durch den Gebrauch bekannter und treffender Wörter („usitatis verbis et propriis“) erreicht (4.12.17). Dagegen läßt Quintilian jedoch Neubildung durch Ableitung, Flektieren und Verbinden (Inst. or. 8.3.36) sowie übertragene Redeweise gelten. Die Ablehnung neugeprägter Wörter findet sich in den Poetiken des Mittelalters sowie in den Predigtanweisungen für die Priester wieder. Sie liegt dem Tadel Gottfrieds von Straßburg an Wolfram von Eschenbach zugrunde, wenn er ihn, in der sog. „Literarischen Schau“ im „Tristan“, wegen seiner „bickelworte“ tadelt, die so dunkel sind, daß man Ausdeuter zu seiner Rede brauche, da
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man sie sonst nicht verstehen könne. Hartmann von Aue dagegen wird wegen seiner perspicuitas gepriesen, wenn es heißt, daß er „mit rede figieret der aventiure meine“, d. h., den Sinn des Geschehens (res) mit der Rede (verba) trifft (figieret = ein Fremdwort nach lat. figere, treffen), mit reinen, klaren, „kristallenen“ Worten. (Zur Rhetorik in der „Literarischen Schau“ s. Stolt 1980, 69⫺74.) ⫺ Martin Luther warnt in einer Tischrede vor Leuten, die neue und ungebräuchliche Wörter verwenden (Stolt 1969, 128), weil sie gegen die eloquentia verstoßen. Und Melanchthon stellt in seinem Lehrbuch im Abschnitt über die Imitatio Caesar und Cicero als Vorbilder hin: „Deshalb ist Caesar zu beherzigen, der sagte, ein ungebräuchliches Wort sei ebenso zu fliehen wie eine gefährliche Klippe. In gleicher Weise sollte man unübliche Wortverbindungen einschätzen. Ähnlich ist aber auch über Metaphern zu denken, deren Neuheit zwar bewundert wird, die aber einen Text unverständlich machen. […] ein Text hat vor allem aus eigentlichen Ausdrükken zu bestehen. Wir weichen dementsprechend besser nicht vom Zeitalter Ciceros ab […]“ (Knape 1993, 158⫺164, cit. 108; zur imitatio s. o. 2.3.b. u. u. 5.4. Anders über die Nachahmung ciceronianischen Stils urteilte Erasmus, vgl. o. 2.2.). Auch im Abschnitt über die elocutio ergeht er sich ausführlich über diesen Gegenstand: „Weil der Klarheit (perspicuitas) beim Reden das höchste Lob zukommt, muß zuallererst ein Vorrat an eigentlichen Ausdrucksmöglichkeiten (copia proprii sermonis) vorhanden sein“ (ebd. 91; zu copia Bauer 1986, 119⫺129). Nur wenn die Verhältnisse neu seien, seien neue Wörter angebracht. Ein Jahrhundert später warnt Meyfarts „Teutsche Rhetorica oder Redekunst“ (1634), „daß ein Redner sich zu hüten habe vor dunckeln/zweifelhaftigen/verwickelten/abgekürtzten/übersetzten/und fernhinterhaltenen [weit hergeholten] Worten und Reden“ (64, 65). Auf diesem Gebiet gesteht Meyfart den Dichtern eine größere Freiheit zu als den Rednern, indem er ihnen den gelegentlichen Gebrauch mundartlicher Wörter erlaubt (63 f.). Auch Opitz räumt den Poeten nur einen mäßigen Gebrauch ungewöhnlicher epitheta ein: „Als wenn ich die nacht oder die Muse eine arbeittrösterin/eine kummerwenderin […] nenne“, warnt jedoch vor Fremdwörtern aus dem Franz. und Lat. und allem, „was unsere worte tunckel und unverständlich macht“ (2.27). In der Rede von „dunklen“ Worten kehrt der Tadel der lat.
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Lehrbücher an der „obscuritas“ wieder. Im gleichen Sinne warnt Gottsched vor Provinzialismen, Archaismen, Fremdwörtern, Fachwörtern der Wissenschaften und Künste sowie Neuwörtern (AR 301). Wenn ein Redner nicht umhin könne, ein neues Wort zu brauchen, müsse dies „erst sehr gänge und gäbe seyn, ehe sie ein Redner brauchen darf“, und er müsse, wie Cicero, dafür „gleichsam um Vergebung bitten“. „Gleichwohl wollte ich es niemandem rathen, mit den Geburten der Fruchtbringenden Gesellschaft aufgezogen zu kommen“ (AR 304). 3.3. Gliederung 3.3.a. Die drei aristotelischen Gattungen: Aus den Hauptaufgaben der öffentlichen Rede ergeben sich drei Gattungen: die Gerichtsrede (genus iudiciale), die Beratungsrede (genus deliberativum, vorwiegend Anliegen des Politikers, des Seelsorgers und des Erziehers), und die Preisrede vor einer Festversammlung (genus demonstrativum, auch epideiktische Gattung genannt). Ihnen sind ihre spezifischen Gegenstände zugeordnet: der Gerichtsrede Anklage oder Verteidigung, der Beratungsrede Zu- oder Abraten, wobei die Frage nach Nutz bzw. Schaden konstitutiv war, der Preisrede das Lob (auch Tadel). Auch Affekte gehörten diesem Schema traditionell an. Leitaffekte der juristischen Gattung waren Entrüstung (indignatio, über das Verbrechen) und Mitleid (miseratio, je nach der Rolle des Advokaten mit dem Opfer oder dem Angeklagten). Der deliberativen Gattung waren Furcht (metus) und Hoffnung (spes) zugeordnet. Wenig ausgearbeitet war die Lehre von den Leitaffekten für das demonstrative genus (Lausberg 1960, Kap. III.). ⫺ Am wichtigsten und deshalb am gründlichsten behandelt war das juristische genus. Seine Beherrschung war u. a. für die Streitreden (Disputationen) der Humanisten- und Reformationszeit von entscheidender Bedeutung. Jede der drei Gattungen kann Einschläge der beiden anderen enthalten. Illustratives Beispiel in der dt. Literaturgeschichte ist das rhetorische Paradestück des Frnhd. „Der Ackermann aus Böhmen“ des Johannes von Saaz. Er nutzte das gesamte Arsenal rhetorischer Kunstmittel der Gerichtsrede, mit Einschlägen der beratenden Rede und der Preisrede, souverän aus (Stolt 1974). Melanchthon machte den Versuch, zusätzlich ein viertes genus einzuführen: die Lehrrede, genus didaskalikon, eine dem demonstrativen genus benachbarte Gattung, die sich
auch auf die Dialektik erstreckt (Knape 1993, 68 f., 421). Darin hat er jedoch keine Nachfolge gefunden. 3.3.b. Die Bearbeitungsphasen: In fünf Arbeitsgängen (rhetorices partes, Quint. Inst. or. 3.3.11) wurde alles erfaßt, was zur Aufgabe eines Redners gehört: von der Auffindung eines für seine Zwecke geeigneten Stoffes (inventio), über dessen Anordnung (dispositio) zur guten stilistischen Ausgestaltung (elocutio). Für den mündlichen Vortrag galt dann das Auswendiglernen (memoria) und Vortragen (actio) mit wirkungsvoller Stimmführung und Gestik, was bereits an die Schauspielkunst heranführt. Besonders ausführlich ausgearbeitet war die elocutio. Hier lag der Schwerpunkt des Unterrichts. Ja, Johann Matthäus Meyfart schreibt in seinem 1634 erschienenen Lehrbuch „Teutsche Rhetorica oder Redekunst“: „Die Rhetorica wird in zwey Stück vertheilet: Das erste heisset Elocution, das andere pronunciation. Die Elocution (wiewol es schwer zuverteutschen) ist nichts anders als eine Außstaffierung der Rede/von artigen und geschickten Worten/auch klugen und vernünfftigen Sprüchen/die außersonnene Sachen vorzubringen“ (61; zu Meyfart s. Dyck 1966/ 1990; Barner 1970, 160 f.). Man lehrte diese „Ausstaffierung der Rede“ (= expolitio, amplificatio) durch Erwerb einer Fundgrube an Wortschatz und Argumenten (copia, Bauer 1986, 119⫺129; o. 2.2.) sowie „Redeschmuck“ (ornatus) mit Wort-, Klang- und Sinnfiguren, sog. flores rhetoricales. Im Unterrichtsbetrieb legte man sich Sammlungen an, sog. Florilegien. Von den flores beziehen die „Blümer“ der mhd. Blütezeit ihren Namen. Sie nutzten vor allem die Stilfiguren aus (Verzeichnis bei Lausberg 1960 unter Ornatus, S. 277⫺345). Außer von Blümen wird auch von Färben gesprochen. Ein anderer Name für flores war colores rhetorici (Arbusow 1963). Folgenreich vor allem für den Schulbetrieb war der Punkt memoria. Die zugrundeliegende Theorie der Gedächtnisschulung (ars memorativa) fußt auf der Herenniusrhetorik und der Bearbeitung der dort gegebenen Ratschläge durch Thomas Aquinas. Das jahrhundertelang vorherrschende Prinzip lautete: loca et imagines. Ausgehend von Ad Herennium III, XVI hatte Thomas vier Ratschläge gegeben: 1. Für den einzuprägenden Stoff sollten Bilder gefunden werden, und zwar möglichst solche von ungewohnter Art; 2. Der Stoff sollte in einer festen Ordnung ge-
176. Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache
gliedert werden; 3. Dem Einprägen sollte ein Affekt zugesellt werden; 4. Man solle häufig wiederholen. Der 2. Rat, die Disposition, wurde mithilfe der loca befolgt, d. h. einer räumlichen, leicht übersehbaren Vorstellung, innerhalb derer die Einzelheiten des Stoffes systematisch lokalisiert wurden (sog. „symbolisch-topologische Methode“, Hajdu 1936, 68 f., 99; Volkmann 1929, 111⫺200). Am gebräuchlichsten war die Hand mit ihren Fingern (vgl. Stolt 1989, 12⫺15), doch auch ein Haus, ein Saal, geometrische Figuren kamen vor. ⫺ Memoriallehren in rhetorischer Tradition wurden bis um 1810 verfaßt (Schanze 1993, 71). 3.3.c. Die Teile der Rede: Die Rede bestand bei Quintilian aus fünf (bei Melanchthon sechs) Teilen: Exordium, narratio, confirmatio, confutatio, peroratio: Melanchthon schob zwischen exordium und narratio eine propositio ein (Knape 1993, 73⫺76, 128⫺130; Stolt 1974, 49⫺52; Übersicht über unterschiedliche Einteilungsarten bei Lausberg 1960, S. 148 f.). Großes Gewicht wurde auf die Einleitung (exordium) gelegt. Es galt, die Aufmerksamkeit des Publikums zu sichern, was mit einer Sympathiegewinnung gleichgesetzt wurde (captatio benevolentiae). Man mußte bescheiden auftreten, sein Vorhaben motivieren (z. B. daß man nicht aus Ruhmsucht schriebe, sondern von einer hohen Persönlichkeit aufgefordert worden sei, sog. Auftragstopik, die oft rein erdichtet war), man mußte Allgemeinnutz oder Notwendigkeit der zu vermittelnden Kenntnisse betonen („tua res agitur“, es geht um deine Interessen) u. a. Diese Inhaltsstereotypen bleiben sich in deutschen Texten bis gegen Ende des 18. Jhs. gleich (Curtius 1948/1993, 95⫺99, dazu die Kritik bei Haug 1985, 10⫺16). Trotz ihrer Konventionalität war ein individueller Spielraum gegeben. In der spezifischen Verwendung des Traditionellen lag im Mittelalter die hauptsächliche Möglichkeit individueller Selbstverwirklichung. An das exordium schließt sich die narratio, die Erzählung des Geschehens, die parteiisch eingefärbt war, je nachdem ob es sich um Anklage oder Verteidigung handelte. Darauf folgt die eigentliche Beweisführung, argumentatio. Es galt hier, den eigenen Standpunkt mit in der Dialektik gelernten logischen Schlußfolgerungen geschickt und überzeugend darzulegen und mit Beispielen, Sprichwörtern u. ä. zu erhärten (probatio, confirmatio). Danach führte man mögliche
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Gegenargumente an, um sie zu widerlegen (confutatio). Die Regeln für die Beweisführung teilt die Rhetorik mit der Dialektik. Die Grenzen zwischen beiden Disziplinen sind fließend. Melanchthon meinte, daß man kaum einen Unterschied zwischen beiden machen könne. Eine (auch von Luther zitierte) Auffassung war, das die Dialektik die Dinge „nackt“ darbiete, während die Rhetorik sie mit schönen Gewändern bekleide. Die Aufgabe der Dialektik besteht vorwiegend im Belehren (docere), die der Rhetorik im Bewegen (movere). Da der Rhetorik so viel Dialektik beigemischt sei, meint Melanchthon, daß beide nicht streng voneinander getrennt werden könnten (Knape 1993, 65 f.; 419⫺421). Die Beweisgründe (loci) seien hier nach Melanchthon angeführt. In Melanchthons „Elementa rhetorices“ finden wir unter „De iuridiciali statu“ (Knape 1993, 77 und 130), daß eine Handlung vor Gericht als rechtmäßig galt, wenn sie vereinbar war mit 1. natura (dem Naturrecht), 2. lex (der staatlichen Gesetzgebung), 3. consuetudo (dem Gewohnheitsrecht), 4. wenn es als angemessen (aequum), 5. als gut (bonum) angesehen werden konnte, 6. wenn es ein Präjudikat gab (judicatum), 7. wenn ein Abkommen bestand, ein Vertrag geschlossen war (pactum). Diese Argumente hatten nicht alle den gleichen Wert. Wir erwarten heute eine Anordnung von den schwächeren in allmählicher Steigerung zu den stärksten. Damals galt jedoch eine andere Reihenfolge, die auf die Gedächtnisfähigkeit der Zuhörer zugeschnitten ist: laut Quintilian sollten die stärksten am Anfang und Ende, schwächere in der Mitte zu stehen kommen (Inst. or. 5.12.14). So bringt sie auch Melanchthon. Als schwächstes Argument galt das Gewohnheitsrecht. Als Höhepunkt, der vorwiegend auf affektische Wirkung abzielte und in dem alle rednerischen Schleusen geöffnet wurden, bildete die peroratio den Abschluß. Hier hatte das Pathos seinen Platz (vgl. u. 5.).
4.
Die Dreistillehre
4.1. Pragma, ethos, pathos Aristoteles definiert am Anfang seiner Rhetorik das Überreden als ein Glaubhaftmachen, das in drei Gestalten auftritt: als Pragma, d. h. als Durchführung von Sachbeweisen, als Ethos, d. h. als Erregen von geselligen Stimmungen und angenehmen Gefühlen, und als Pathos, d. h. als Erregung von Leidenschaf-
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ten (vgl. Dockhorn 1968, 49⫺68). Diese Trias liegt später bei Cicero und Quintilian in einer kanonisch werdenden Dreiteilung der Aufgaben des Redners vor: unterrichten (docere), unterhalten (delectare) und hinreißen (movere). Ihnen zugeordnet waren drei Stillagen: unterrichtet wurde in schlichtem, „niederem“ Stil (genus humile), der auf rhetorischen Schmuck weitgehend verzichtet, unterhalten in einem mittleren Stil (genus mediocre), in dem rhetorischer Schmuck (ornatus) maßvoll angebracht wurde, während das mitreißende movere den „schweren Schmuck“, das Pathos verwendete (genus grande). In Übereinstimmung mit der Lehre, daß res und verba aufeinander abgestimmt werden müssen, mußte die Stilhöhe dem Inhalt angepaßt sein: über banale, alltägliche Dinge sollte im niedern Stil, über hohe und ernste Gegenstände (Kaiser, Fürsten, schwere Verbrechen) nur im hohen Stil gehandelt werden. (Noch heute gilt, daß ein pathetischer Stil bei der Behandlung banaler Dinge lächerlich wirkt). Als aptum, auch decorum ging diese Forderung in die Lehrbücher ein (Aristoteles, Rhet. Kap. 7; Fischer 1968, Kap. V.) Man sah darin die Abbildung einer gottgewollten Ordnung mit sprachlichen Mitteln. Die gesellschaftlichen Veränderungen mußten hier im Laufe der Zeit Abwandlungen herbeiführen (Fischer 1968, 263⫺275). 4.2. Auswirkungen auf das Drama Den drei Stilen wurden die Werke des Vergil zugeordnet: Die Bucolica (Hirtenlieder) dem niederen, die Georgica (Gedichte von der Landwirtschaft) dem mittleren, die Aeneis dem hohen Stil. Damit wird auch ihre ständische Bezogenheit sichtbar: die Welt ist in drei Stände geteilt, rurales (Bauern), civiles (Bürger) und curiales (Herrscher). Für das Drama galt unbestritten, daß die Komödie es mit bürgerlichen Menschen, mittlerem Stil und gemäßigten Konflikten zu tun habe: Humor, als Ethos-Affekt, war dieser Gemütslage angepaßt. Die Tragödie dagegen hatte es mit erhabenen Persönlichkeiten, schweren Konflikten bzw. Verbrechen (wie z. B. Vatermord) zu tun, weswegen hier das Pathos angebracht war. Ganz in dieser antiken Tradition schreibt noch Opitz 1624 im „Buch von der Deutschen Poeterey“: „Die Tragedie ist an der maiestet dem Heroischen getichte gemeße/ohne daß sie selten leidet/das man geringen standes personen und schlechte [einfache] sachen einführe: weil sie nur von Königlichem wil-
len/Todtschlägen/verzweiffelungen/Kinder- und Vatermörden/brande/blutschanden/kriege und auffruhr […] und dergleichen handelt. Von derer zugehör schreibet vornehmlich Aristoteles […] Die Comedie bestehet in schlechtem [schlichtem] wesen und personen: redet von hochzeiten/gastgeboten/spielen/ betrug und schalckheit der knechte […] und solchen sachen/die täglich unter gemeinen [gewöhnlichen] Leuten vorlauffen […]“ (20).
Der Redestil hatte sich dem anzupassen (aptum): „[…] gehöret sich auch zu einem jeglichen ein eigener und von den andern unterschiedner Charakter oder merckzeichen der worte. Denn wie ein anderer habit einem könige/ein anderer einer privatperson gebühret/und ein Kriegesman so/ein Bauer anders/ ein Kauffmann wieder anders hergehen soll: so muß man auch nicht von allen dingen auff einerley weise reden; sondern zu niedrigen sachen schlechte [schlichte]/zu hohen ansehliche, zu mittelmässigen auch mässige und weder zu grosse noch zu gemeine [gewöhnliche] worte brauchen. In den niedrigen Poetischen sachen werden schlechte und gemeine leute eingeführet; wie in Comedien und Hirtengesprechen. Darumb tichtet man ihnen auch einfältige und schlechte reden an/die ihnen gemässe sein […]“ (30).
Was heute als „Soziolekt“ in der Sprachwissenschaft behandelt wird, findet sich hier als standesgemäße Dichterregel. Zur Komödie gehört auch die Satire. Ihr Ziel ist (laut Opitz) harter Tadel der Laster und Mahnung zur Tugend, zu welchem Zweck „sie mit allerley stachligen und spitzfindigen reden/wie mit scharffen pfeilen/umb sich scheußt“ (20 f.). Es ist der rhetorische argutia-Begriff, der sich besonders in der Mitte des 17. Jhs. etablierte und vor allem im Jesuitenorden gepflegt wurde (Barner 1970, 352⫺ 366, bes. 358; Bauer 1986, 419⫺432; s. u. 4.4.). 4.3. Briefsteller und Poetiken Außer im Drama wurden die ständischen Bedingungen besonders genau in den zahlreichen Brief- und Formellehren (artes dictandi) der Kanzleien beachtet, wo vor allem in den Gruß- und Anredeformeln der Stand des Adressaten ausschlaggebend war (Quadlbauer 1962, 272⫺278). Im 11.⫺13. Jh. sind die artes dictamini und die großen Poetiken die Hauptträger der genera-Lehre. 4.4. Sakrale Rhetorik; „Sermo humilis“ Die inhaltsorientierte Dreistillehre galt jedoch mit einer Ausnahme: der christlichen Beredsamkeit. Und zwar war es Augustinus, der im IV. Buch seiner „De doctrina christiana“ eine Umstrukturierung vornahm: Da
176. Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache
ein Prediger es immer mit hohen Dingen zu tun habe, dürfe er, sollte er den inhaltsorientierten Regeln folgen, nur immer im hohen Stil reden. Dies würde jedoch die Zuhörer viel zu sehr ermüden. Auch galt für die Stilarten allgemein der Rat, sie sollten variiert und ihre zugehörigen Affekte über den ganzen Text verteilt werden. Im Stall zu Bethlehem habe sich das Erhabene im niedrigen Gewand offenbart, daher habe auch der Prediger eine entsprechende Freiheit, Hohes, wenn nötig, im niederen Genus vorzubringen. Augustinus machte demzufolge die Stilhöhe ausschließlich abhängig von den Aufgaben des Predigers, die oben genannt wurden: unterrichten ⫺ auch über hohe Gegenstände ⫺ im niedrigen, danach unterhalten im mittleren und abschließend mitreißen im hohen Stil. Es bildet sich eine besondere „christliche Stilmischung“ heraus. (Zum sog. „sermo humilis“ s. Auerbach 1958, 25⫺53. Zur „Bibelrhetorik“ Dyck 1990 (1966). Ausführliche Diskussion der Tradition des Augustinus sowie weiterführende Lit. bei Krummacher 1976, 412⫺ 421). Die sorgfältige Einhaltung dieser Regeln läßt sich u. a. bei Martin Luther beobachten (Stolt 1974, 31⫺37; 2000, 62⫺83). Die Breitenwirkung auf die Allgemeinheit, die sonntäglich davon betroffen wurde und deren Normenbewußtsein öffentlicher Rede davon geprägt wurde, läßt sich schwer überschätzen. Ein Exponent ist beispielsweise Jacob Böhme (Andersson 1987, 15⫺30, 186⫺188). Die weitreichende Verbindlichkeit des „sermo humilis“ für die christliche Beredsamkeit noch im 17. Jh. hat Krummacher anhand von Gryphius aufgewiesen (1976, bes. 421⫺434.). Böckmann sieht in Gryphius geradezu den „Gipfel der Barockdichtung dadurch, daß er […] Offenbarungshaltung und Rhetorik […] gleichgewichtig zu erfüllen vermag“. Die Rhetorik verwandele sich dadurch in „pathetische Gebärden“. Als die eigentliche Leistung des Gryphius sieht Böckmann die „Vereinigung von Bibelwort, persönlicher Glaubensbewegung und humanistisch-rhetorischer Sprachform“ (Böckmann 1949, 420, 424). Die sakrale Rhetorik galt für Katholiken wie für Protestanten und wurde besonders sorgfältig von den Jesuiten gepflegt (Bauer 1986, bes. 547 f.; Barner 1970; Shuger 1988, 546⫺585). Barner sieht in der Pflege des Stilideals der argutia (vgl. o. 4.2.) ein Bestreben des Jesuitenordens nach einer eigenständigen rhetorischen Sprachkunst (352⫺366).
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Bemerkenswert ist, daß sich trotz des Rückgangs der Rhetorikpflege im 19. Jahrhundert die Rhetoriklehre im Rahmen der Jesuitenausbildung am längsten gehalten hat: eine „Ars dicendi“ von J. Kleutgen, 1847 erschienen, brachte es bis 1928 auf 21 Auflagen (Curtius 1948/1990, 88 A3). Exkurs: Zur Illustration der Rolle, die die Rhetorik in Luthers Predigten spielt, seien drei Tischredenaussprüche angeführt, die verschiedene Aspekte beleuchten (vgl. Stolt 1974, 31⫺77; 2000, 62⫺79). 1. Dialektik und Rhetorik werden bei einer Bauernpredigt eingesetzt: „Wenn ich z. B. einen Bauern unterweisen will, definiere ich mittels der Dialektik sein Leben, seine Arbeit, seinen Haushalt, die Früchte und was zur Substanz seines Lebens überhaupt gehört: danach hebe ich mittels der Rhetorik sein Leben so an zu loben, wie es das ruhigste und ertragreichste sei … und überredend rate ich ihm zu diesem zu und von den übrigen Lebensweisen ab. Wenn ich tadeln will, schelte ich ihre Laster und übertreibe ihre Rohheit“. (WATR 2629a; meine Übers. der lat. Teile). Die Hauptaufgaben des christlichen Redners, Unterrichten, Überzeugen und Überreden, werden hier mit den Mitteln der beratenden und der demonstrativen Gattung (Zu- und Abraten, Lob und Tadel) gelöst. Die Gestaltung der Predigt geschieht im Blick auf das Publikum und das Thema (= aptum). 2. Dagegen gehört die Dialektik nicht in eine Predigt am Tage der Verkündigung: „An dem Tag solt man eitel rhetoricam predigen, ut gauderemus de Christo incarnato […] Disputationes wehren die freud, quia pariunt dubitationes […] (WATR 494, vom 25. 2. 1533). D. h.: um Freude zu erwecken taugt nur Rhetorik. Rationales Argumentieren (= disputationes) sei an einem solchen Tage der Freude abträglich, meint Luther, damit würden nur Zweifel geweckt. 3. Am wichtigsten für den Prediger sei jedoch die Regel „Rem tene, verba sequentur“ (vgl. o. 3.2.a.). „Wer sich an die Sache hält, kann leicht darüber sprechen, denn der Sachkenntnis folgt die Kunst auf dem Fuß. Deswegen gehen diejenigen fehl, die sich nur um die Redekunst bemühen, ohne zunächst über den Redegegenstand unterrichtet zu sein. Nur nach der Kunst kann ich darum keine Predigt machen.“ (WATR 1312; meine Übers.). Es ist noch hinzuzufügen, daß Luther den italienischen Renaissancegelehrten Lorenzo Valla (1407⫺1457) außerordentlich schätzte. Dieser war Professor der Rhetorik in Pavia und der intensivste Bewunderer Quintilians seiner Zeit (Kennedy 1980, 207 f.). U. a. seine scharfe Kritik an Scholastik und Ordenswesen machte ihn zu einem Gesinnungsgenossen Luthers.
4.5. Fortwirkung Die beiden Dreistillehren liefen parallel, indem die inhaltsorientierte vorwiegend in der Dichtkunst, die aufgabenorientierte in der
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Gebrauchsrhetorik, vor allem der Theologie, praktiziert wurde. Als Lehre von der Angemessenheit gehört die Dreistillehre zum Grundbestand der rhetorischen Theorie. Sie wird als Decorum-Lehre in die rhetorischen und poetischen Traktate des 17. Jhs. übernommen (Dyck 1966/1990). Wandlungen, die die Vorstellung vom „Angemessenen“ in der Barockpoetik durchmacht, hat ausführlich Fischer analysiert (1968, 214⫺252; 262⫺ 275). Für das Drama waren die ständischen Bedingungen gültig, bis Lessing (⫺ wie in der Frage der Grenzziehung zwischen Malerei und Dichtung, s. o. 2.3.b. ⫺) sich von ihnen lossagte und mit „Miß Sara Sampson“ 1755, unter engl. Einfluß, das erste „bürgerliche Trauerspiel“ auf die Bühne brachte. Im Zusammenhang mit den Geschmacksveränderungen und Abwandlungen im Laufe der Jahrhunderte muß betont werden, daß es verschiedene Richtungen und Gegenrichtungen bereits seit der griechischen Rhetorik gab. Es sei hier kurz auf die zwei antiken Strömungen hingewiesen, die wir in der mhd. Blütezeit im Gegensatz zwischen Gottfried und Wolfram wieder anklingen hören: Asianismus und Attizismus. Der Asianismus wurde im 3. Jh. vor Christus im kleinasiatischen Ionien ausgebildet. Er löste die Gemessenheit und Wohlproportioniertheit des attischen Redestils auf und brachte kurze, zerhackte Sätze, mit starkem Rhythmus, bombastische, schwülstige Wendungen und Wortfülle. Bombasmus, Schwulst und stilistische Überladenheit finden wir wieder im Barock. Als Modestil herrschte der Asianismus in der ganzen griech.-röm. Welt bis ins erste vorchristliche Jh. Noch das Frühwerk Ciceros war von ihm beeinflußt. Später wurde er durch die Gegenbewegung des Attizismus mit seiner Forderung nach Klarheit der Rede abgelöst (Norden 1898/1958 Bd. I, 126⫺155).
5.
Die zentrale Rolle der Gefühlsbeeinflussung
5.1. Theorie; Affekte als Hauptaufgabe Mehrfach ist im Vorangehenden von den Affekten, Ethos und Pathos, die Rede gewesen. Man hatte bereits früh die ernüchternde Erfahrung gemacht, daß Menschen viel leichter über das Gefühl zu überzeugen und zu überreden sind, als über rationale Erwägungen. In der Erregung und Besänftigung der Affekte liegt daher in den Lehrbüchern Quintilians
die Hauptaufgabe des Redners, seine Macht über die Gefühle der Hörer ist ausschlaggebend (vgl. o. 2.2.). 5.2. Den Affekten zugeordnete Mittel Sie können hier nur summarisch angeführt werden. So wie ein Redner vor allem als vir bonus erscheinen mußte (s. o. 3.1.), galt es, vor Gericht als friedfertig, bescheiden, zurückhaltend aufzutreten und dadurch Sympathien zu erwecken. Kann der Redner diese Gefühle geschickt behandeln, habe dies laut Cicero eine stärkere Wirkung als Sachbeweise (De orat. 2.43.184). Diese Gefühle sowie Humor und Ironie, Wortspiel und Klangfiguren, die Mittel zur Unterhaltung (delectare), sind dem Ethos zugeordnet. Die gesamte Lehre vom Stil (elocutio) entspringt nicht etwa einem Bestreben nach ästhetischer Wirkung als Selbstzweck, sondern der Auffassung, daß die Stilmittel aus den Affekten entstehen und auf die Affekte wirken. Dies gilt nicht nur für die Gerichtsrede, sondern allgemein. Beispielsweise empfiehlt Melanchthon für die Beratungsrede vor allem Exempel aus den Gemeinplätzen (loci) des Angenehmen und Nützlichen, „weil sie die Affekte erregen können“ (Knape 1993, 79). Als besonders starkes Mittel galten anschaulich vor Augen geführte Bilder, „Wobei ferne Begebenheiten uns mit solcher Lebendigkeit ausgemalt werden, daß wir meinen, sie leibhaftig vor uns zu sehen. Wer über solche Einbildungskraft gut verfügt, der hat die größte Macht über die Gefühle“ (Inst. or. 6.2. 29 f.; meine Übers.). Diese Veranschaulichung, evidentia genannt, wurde als Tugend der glaubwürdig wirkenden Erzählung gelehrt und geübt. Neben der Wirkung auf die Gefühle sollte sie auch den Eindruck der Augenzeugenschaft vermitteln. Aus der Gerichtsrede wird die Technik in die Theaterwelt übernommen: Im Drama wird sie in der sog. „Mauerschau“ realisiert. Es ging dabei um die lebhaft-detaillierte Schilderung mit Aufzählung sinnfälliger Einzelheiten. Quintilian erläutert ihren Effekt anhand der Eroberung einer Stadt. Die knappe Nachricht dringe zu wenig tief ein in unser Gefühl. „Wenn du dagegen das entfaltest, was alles das eine Wort enthielt, dann wird das Flammenmeer erscheinen […] das Krachen der einstürzenden Dächer und das […] Getöse […]. Erreichen aber werden wir, daß die Dinge so handgreiflich wirken, wenn sie wahrscheinlich wirken, und man darf dann sogar fälschlich alles Mögliche dazuerfinden, was gewöhnlich dabei geschieht“ (Inst. or. 8.3. 67⫺ 70, Übers. H. Rahn).
176. Rhetorikkonzeptionen in der Geschichte der deutschen Sprache
Diese Technik der scheinbaren Augenzeugenschaft findet sich in der Dichtung aller Zeiten, im Ackermann aus Böhmen, im Drama, im realistischen Roman sowie im heutigen Journalismus (Stolt 1990). Sie wird sowohl im Ethos als auch im Pathos eingesetzt. 5.3. Vorbedingung: „Ipse moveatur“ Eine grundlegende Bedingung kehrt ständig wieder: Voraussetzung für den Erfolg des Gefühlsappells war die oft zitierte Regel: „ut moveamur ipsi“, daß der Redner selbst gefühlsmäßig engagiert sein mußte. Um Gefühle erwecken zu können, müsse er sie zunächst mithilfe von Einfühlungsvermögen und Phantasie bei sich selbst wecken als gelte es sein eigenes Schicksal, da er sich andernfalls durch geheuchelte Gefühle lächerlich mache (Cic. De orat. Kap. 43⫺52). Dies wurde systematisch gelehrt und geübt. Horaz hat auf die Wirkung der Tränen hingewiesen, mit einem oft zitierten Ausspruch: „Si vis me flere, dolendum est primum ipsi tibi“, wenn du mich weinen machen willst, mußt du zuerst selbst vom Schmerz ergriffen sein. „Du wilt das ich sol weinen? Du must zuvor mir greinen“, übersetzt Meyfart in seiner Teutschen Rhetorica 1634 den Spruch (2, 27). Quintilian (Inst. or. 6, Kap. 2) beansprucht den Ruhm für diese Lehre für sich, als seiner persönlichen Erfahrung und nicht den Lehrbüchern entsprungen. Ein zu Tränen gerührter Richter enthülle allen sichtbar sein Urteil. Aber auch Warnungen werden angebracht: ein Appell an das Mitleid z. B. solle stets kurz sein, denn nichts trockne so schnell wie Tränen! Dieser illusionslose Rat entstammt der Herenniusrhetorik (2.31.50). Die „Critische Dichtkunst“ Johann Jacob Breitingers von 1740 handelt in ihrem achten Abschnitt „Von der herzrührenden Schreibart“. Hier finden wir, in seitenlangen lat. Zitaten, alle oben angeführten Regeln und Autoritäten wieder, dazu den von Goethe und Schiller so fleißig gelesenen Longinus, dessen De sublimo (Über das Erhabene) im späten 18. Jh. beliebte Lektüre war. Breitinger tadelt Quintilian und wirft ihm „eine neidige und eigennützige Ruhmsucht vor“, da er behauptete, daß er „diese geheime Lehre [des „ipse moveatur“] niemandem als sich selbst zu dancken habe“, während Breitinger sie bei Cicero in De oratore gefunden habe, „wo er dieselbe Regel mit denselben Gründen unterstützet, und mit seiner eigenen Erfahrung bestätiget“ (358 f.). Breitinger demonstriert selbstgefällig seine klassische Belesenheit und
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bezweifelt nirgendwo, daß sich die Ratschläge ohne weiteres auf die deutsche Literatur anwenden lassen. 5.4. Natur Entsprechend der Auffassung, daß die Stilmittel „natürlich“ aus den Affekten entstehen und auf die Affekte wirken, galt die Regel, daß sie so eingesetzt werden sollten, daß das Publikum nichts von ihnen merkte. So finden wir das „ipse moveatur“ bei Breitinger, mit dem Ziel, „daß man die Kunst der Verstellung nicht leicht merken soll“[!] unter Hinweis auf ein Quintilianzitat, folgendermaßen formuliert: „Die Natur ist demnach die Lehrmeisterin, bey welcher man in die Schule gehen muß, wenn man diese natürliche Sprache erlernen will; und man kann demjenigen, der sich geschickt machen will, die Leidenschaften in der natürlichen Art ihres Ausdrucks so glücklich nachzuahmen [imitatio, s. o. 2.3.b.!], daß man die Kunst der Verstellung nicht leicht mercken soll, keinen bessern Rath erteilen, als daß er sich bemühen soll, diejenigen Leidenschaften selbst anzunehmen und in seinem Hertzen rege zu machen, deren eigene Sprache er zu reden gedencket. Dieses ist das Geheimniß, welches Quintilian gegen dem Ende des dritten Cap. im sechsten B. eröffnet […]“.
Die Verbindung zwischen Phantasie, Affekt und rhetorischen Figuren wird eingeschärft: „Die oratorischen und poetischen Figuren, von welchen unsre Kunstlehrer so weitläuftig handeln […], sind auch nichts anders, als die natürliche Sprache dieser Affecten, die in unsrer Brust aufgewecket werden. Ohne diese inwendige Bewegung wären diese besagten Figuren unwahrscheinlich und keines Lobes werth. Das ist, was Quintilian an dem obenangezognen Orte sehr geschickt erläutert“ (folgt Zitat Inst. or. 6.2.29⫺32). „Wer nun […] durch eine lebhafte und entzückende Vorstellung der Sachen zuerst seine eigene Einbildung, und durch dieselbe das Gemüthe in die erforderliche Hitze treibet, eh er andere entzünden will, der wird auch den natürlichen Ausdruck der Leidenschaften allemahl glücklich treffen“ heißt es ferner. Wie wichtig diese „Natürlichkeit“ für den Erfolg des Redners ist, wird besonders unter Betonung des rechten Maßes eingeschärft: „[…] er wird weder das rechte Maaß verfehlen, noch zur Unzeit in eine Raserey geraten, wenn er das Hertz reden läßt, und es wird nicht der wenigste Verdacht einer künstlichen Verstellung […] auf ihn fallen, weil seine Rede nicht aus dem blossen Gehirne künstlich herausge-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
sponnen wird, sondern aus dem tiefen Grund seines Hertzens selbst hervorquillt“ (364 f.). Doch könne die Kunst der Nachahmung (imitatio, s. o. 2.3.b.) bei einem geschickten Verfasser der Natur aufhelfen und ihre Wirkung verstärken (372). Dies wird dann unter Zitierung von Longins Buch Über das Erhabene (De sublime) mit Beispielen ausgeführt. Dieser von Goethe und Schiller intensiv studierte Longin schärft es ein und Breitinger führt es an: wenn ein Richter merkt, daß er durch Redefiguren manipuliert werden soll, wird er gewiß „einen Hass wider den künstelnden Redner fassen […] Darum halte ich diese für die allerschönsten Figuren in der Rede, welche niemand vor Figuren ansiehet“ (366). Es ist diese Auffassung von der nachzuahmenden „Natur“, die bei Goethe und Schiller wiederkehrt. 1788 schreibt Goethe über „Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil“ (JA 33, 54⫺59; zu dem zugrundeliegenden Kap. X:2 bei Quintilian Dockhorn 1968, 116). Breitingers oben zitierter Rat: „Die Natur ist demnach die Lehrmeisterin, bey welcher man in die Schule gehen muß“ (356), kehrt im „Werther“ wieder, wenn Goethe seinen Helden (am 26. Mai) den Entschluß fassen läßt, sich künftig nur an die Natur als Lehrmeisterin zu halten; alle Regel würde nur „das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören“. Und in diesem Sinne liest Werther in ländlich-einfacher Umgebung „seinen“ Homer, in dem die Stürmer und Dränger die „reine Natur“ fanden, während er früheren Generationen vorwiegend eine Hochschule und Fundgrube der Rhetorik gewesen war. Nur so ist zu erklären, daß Goethe bei Shakespeare „Natur“ fand, diesem Shakespeare, der die Rhetorik im antiken Sinne so vollendet beherrscht hatte: „Und ich rufe Natur! Natur! Nichts so Natur als Schäkespeares Menschen!“ (JA 36:I, 6). „Natur“ war die Kunst, das Handwerkliche so vollendet zu beherrschen, daß man von der „Künstlichkeit“ nichts merkte. Shakespeare war darin unbestrittener Meister. Durch die Übersetzung seiner Dramen ins Dt. wirkten sie auf dt. Bühnen ⫺ ohne daß man der Rhetorik darin gewahr wurde. Nicht nur im Drama leben Ethos und Pathos fort: In Goethes „Werther“ finden wir das Ethos wieder, wenn sich die Liebe des jungen Mannes zu Lotte bei dem Anblick entzündet, wie sie im trauten häuslichen Kreis einer hübschen und fröhlichen Kinderschar das Vesperbrot schneidet. So, mit den
gleichen Ethos-Mitteln, beschreibt der Witwer im „Ackermann“ die liebevolle Hausfrau und Mutter, die ihm der Tod im Kindbett geraubt hat (Stolt 1974, 18⫺21). Mit schematischer Vereinfachung läßt sich die emotionale Entwicklung im „Werther“ als im reinen Ethos beginnend und im höchsten Pathos endend beschreiben. In der „Geheimrhetorik“ Goethes sieht Schanze „die maßgebende präromantische Rezeptionsfigur […], deren Pole ein rhetorischer Klassizismus und eine bereits romantisch-rhetorische Praxis darstellen“. Um 1810 habe Goethe jedoch mit seiner „Rückkehr zu Quintilian […] deutliche Zeichen im Blick auf einen neuen Klassizismus“ gesetzt (1993, 63). 5.5. Der Wandel mit Gottsched Die Affektenlehre wirkte in der Dichtung, wo es um Gefühlswirkung geht, unangefochten fort. Anders steht es mit der Redekunst: hier führt das Zeitalter der Aufklärung mit seinem Glauben an die Macht der Vernunft einen Unterschied zwischen Poet und Rhetor ein. Besonders deutlich sichtbar wird dies in den Lehrbüchern des gleichzeitig mit Breitinger wirkenden Johann Christoph Gottscheds, angefangen mit seinem „Grundriß einer vernunftmäßigen Redekunst“ (Hannover 1728), dessen Titel bereits eine Programmerklärung enthält, und dem alsbald neue und vollständigere Ausgaben folgten, gipfelnd in der „Ausführliche[n] Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer …“ (5. Aufl. Leipzig 1759). Die Lehrbücher fanden weite Verbreitung und wurden z. T. noch Jahre nach seinem Tod wieder aufgelegt. Gottsched trägt in seinem ersten „Grundriß einer vernunftmäßigen Redekunst“ die „nothwendigsten Regeln, die ein Cicero und Quintilian von derselben gegeben haben“ zusammen (1759, Vorrede), aber bereits der Titel gibt die Richtlinien seiner Auswahl an. In seiner „Ausführlichen Redekunst“ empfiehlt er von den „Griechen und Römern“ vor allem Aristoteles und Cicero; der Letztere sei in allen seinen rhetorischen Schriften „der vollkommene Lehrmeister der Redekunst“. Longins „Vom Erhabenen“ wird empfohlen; auch Lucian sei „hin und wieder, mit Nutzen zu lesen.“ Aufschlußreich ist jedoch besonders, was über Quintilian gesagt wird; hier wird der Unterschied zu Breitinger deutlich: „Endlich lese man auch den Quintilian; wo nicht ganz, doch wenigstens die ersten und letzten Bücher desselben: als worinn das meiste, auch zu unsern Zeiten noch, brauchbar
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ist; da hingegen die mittleren sich mehr auf die gerichtliche Beredsamkeit der Alten beziehen.“ (98 f.). ⫺ In den „mittleren“ steht u. a. die Affektenlehre. Gottsched schließt die Gefühlserregung nicht aus: die Kunst der Überredung „schließt die Bewegung der Gemüter mit in sich; weil diese oft ein nothwendiges Mittel ist, jene zu erlangen“ (89 f.), dies tritt jedoch im folgenden völlig in den Hintergrund. Wenn in § VI von den Mitteln zur Überredung gesprochen wird, sind es Verstand und Willen, die gewonnen werden müssen, und es sei „gewiß, das die ganze Ueberredung auf den Gründen beruhet, deren sich ein Redner gegen seine Zuhörer bedienet“ ⫺ dies gelte auch für „einfältige Leute“ (89 f.). Gottsched nimmt eine Unterscheidung zwischen „wahren Gründen“ und „Scheingründen“ vor und illustriert sie mit den Gründen einer Lobrede. Da er nur persönliche Eigenschaften und hervorragende Leistungen gelten läßt, qualifiziert er etliche der antiken Gemeinplätze (wie Herkunft aus berühmtem Geschlecht, schöne Gestalt u. a. m.) als „Scheingründe“ ab. Nach diesem Kriterium unterscheidet er eine „wahre Beredsamkeit“ von einer „falschen“, die schwache Beweise braucht (91⫺93). Gottsched kann als hervorragendes Beispiel für den durch die Jahrhunderte hindurch fortlaufenden Auswahls- und Umwandlungsprozeß stehen, den die rhetorische Tradition seit der Antike durchlaufen hat (vgl. Fischer 1968, 262⫺275). Bei Gottsched zeigt sich, im Unterschied zu Breitinger oder Opitz, der Beginn einer kritischen Distanz zur klassischen Rhetorik, die in den folgenden Jahren immer größer wird (s. u. 7; vgl. auch Erasmus’ Vorbehalte gegen den Stil Ciceros, o. 2.2.).
6.
Heutige Verständnisprobleme
Damit ist eine summarische Übersicht über ein System und seine grundlegenden Prinzipien und Termini gegeben, das in Deutschland bis weit ins 18. Jh. ⫺ in mehr oder weniger guter Kenntnis oder Beherrschung, aber jedenfalls rudimentär ⫺ jeder Gebildete als selbstverständliche Voraussetzung mitbrachte und als Maßstab an Gelesenes legte und nach welchem Texte abgefaßt wurden. Indem es heute weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen ist, bieten ältere Texte dem heutigen Verständnis oft große Schwierigkeiten. Diese lassen sich mitunter beheben, indem man einen schwerverständlichen Ausdruck ins Lat. rückübersetzt und auf dem Hintergrund rhetorischer Lehre interpretiert.
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Beispielsweise macht es auf Heutige einen eigentümlichen Eindruck, daß Luthers Zeitgenossen seine Sprache als süß lobten und Gegner im Glaubensstreit vor der verführerischen Kraft seiner „zierlichen und feinen Sprache“ warnten (Heutigen fallen eher seine Grobianismen auf.). Hinter süß steckt der rhetorische Begriff des dulciloquus, des Wohlredners. Süß kann außer lat. dulcis auch suavis übersetzen; die narratio suavis gilt als Tugend innerhalb der narratio ornata (Lausberg I § 336). Zierlichkeit wie auch Zier übersetzt im Redezusammenhang sowohl ornatus als auch elegantia. In einem zeitgenössischen Wörterbuch, dem Vocabularius teutonico-latinus (Nürnberg 1482) findet man die Eintragung „Zierheit der worte studiern. rhetoricari“ (Stolt 1969, 121). Der Ausspruch J. G. Schottels in seiner „Ausführlichen Arbeit von der Teutschen Haubtsprache“, Luther habe „zugleich alle Lieblichkeit, Zier, Ungestüm und bewegenden Donner in die teutsche Sprache gepflanzet“ (I, 49), steht fest auf dem Boden des rhetorischen Ideals: die Begriffe dulcis, ornatus, „gepflanzet“ (vgl. das Bild der flores rhetoricales, des „Blümens“) sowie die Affekte Ethos und Pathos sind leicht wiederzuerkennen. Wer würde heute Donner „bewegend“ nennen? Für die damalige Zeit war die Gedankenverbindung klar: Donner gehörte zur Pathos-Tradition, die Aufgabe des Pathos war movere = (herz)bewegend rühren und mitreißen. Erst wenn man eine Rückübersetzung in die lat. rhetorische Terminologie vornimmt, sind solche Aussprüche in ihrem vollen semantischen Gehalt zu erfassen. Dies gilt auch für Ausdrücke aus dem Bereich der Argumentation. „Gewohnheit“ z. B. kann sich auf das Argument des Gewohnheitsrechts (consuetudo) beziehen s. o. 3.3.C.), das von geringem Gewicht im Beweisgang war (Stolt 1987, 60⫺62; 2000, 34⫺36).
7.
Ausklang
Mit dem Ende des 18. Jhs. geschieht eine Abwendung von der Regel-Rhetorik, die besonders in Deutschland zu einem Bruch mit der Tradition führte, der viel radikaler war als in Frankreich und England. In der Forschung werden viele unterschiedliche Gründe dafür angegeben: politische (Jens 1983), geistesgeschichtliche wie die Sprachskepsis, die Hugo von Hofmannsthal in seinem Chandos-Brief zur Absage an die Rhetorik bringt (Jens, ebd. 179 f.), die Lehre von der unbewußten Pro-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
duktion des Dichter-Genies (Gadamer 1958, 24), die Wirkung von Philosophen wie Kant und Hegel, die die Rhetorik ablehnten (Goth 1970, 11; Ueding 1971, 3 f.) u. a. m. Die Prozesse sind kompliziert und häufig widersprüchlich, indem sich beispielsweise eine explizit ausgesprochene Ablehnung der Rhetorik ⫺ wie bei den „Stürmern und Drängern“ ⫺ mit einer Hinwendung zu Shakespeare verbindet, dessen souveräne Beherrschung dieser Kunst nicht gesehen, sondern als „reine Natur“ mißverstanden wird (vgl. o. 5.4.). Der Stil der dt. Klassik ist, wie oben (5.4.) gezeigt, nicht ohne wesentlichen Anteil Quintilians und Longins zustandegekommen. „Transformationen der Rhetorik um 1800“ hat Schanze geschildert, der in Goethes Rhetorik einen „eminenten Fall ›vorromantischer‹ Rhetoriktransformation“ sieht und eine „Rhetorikgeschichte der Neuzeit“ mit drei Phasen beschreibt (1993, 61, 63). ⫺ Hier ist noch viel Forschung vonnöten (vgl. Jens 1977, 443 f.). Über dem Bruch mit der Tradition sollte man jedoch das unterschwellige Weiterleben der alten Kunst nicht vergessen. Im Rahmen der christlichen Beredsamkeit hat sich die rhetorische Lehre im Jesuitenorden bis ins 20. Jh. hinein fortgepflanzt (vgl. o. 4.4.). In der Stilistik werden die Wort-, Klang- und Gedankenfiguren weitergepflegt (vgl. Kaempfert 1985); im Aufsatzunterricht der Schule wie auch der Ausbildung von Journalisten wird Disposition und Einteilung gelehrt mithilfe der sog. „Lasswell-Formel“, d. h. mit den alten Fragen Quintilians nach „wer, was, wann, wo, warum, mit welcher Wirkung …“ (Lausberg § 328; Prakke 1965; Asmuth 1977; zur Schulrhetorik im 19. Jh. s. Breuer 1974.) Seit der 2. Hälfte des 20. Jhs. ist das Vorurteil gegen die Rhetorik als „hohle Schönrednerei“ und Kunst der Verführung weitgehend überwunden. Indem sich das Interesse der Sprachwissenschaft in den letzten Jahrzehnten den gesellschaftlichen und pragmatischen Aspekten der sprachlichen Kommunikation zugewandt hat, unter verstärkter Beachtung des Empfängerpols, werden viele Erkenntnisse der antiken Rhetorik heute wieder neu entdeckt. Pragmatische Sprachwissenschaft, Sprachpsychologie, Sprachsoziologie, Sprechakttheorie, Textlinguistik (Kalverkämper 1983), Rezeptionsästhetik u. a. m. befassen sich heute systematisch mit Aspekten, die in Ansätzen und wichtigen grundlegenden Erkenntnissen schon in den antiken Lehrbüchern zu finden sind. Klassische Lehren von
der Anpassung des Redners an die Situation, die Rücksicht auf den sozialen Status des Hörers, die psychologisch durchdachte Handhabung der Affekte, Glaubhaftmachung und Veranschaulichung des Gesagten u. a. m. führen weit in diese neuen Disziplinen hinein: Es handelt sich um kommunikationstechnische Universalien, die über Zeit und Raum hin ihre Gültigkeit bewahren, überall dort, wo mithilfe von Sprache Menschen beeinflußt werden sollen ⫺ im Guten wie im Schlechten.
8.
Literatur (in Auswahl)
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Birgit Stolt, Stockholm
177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel 1. 2. 3. 4.
7. 8.
Überblick Anredebestimmende Variablen Mittelalter Frühe Neuzeit (16./17., mit Übergängen in das 18. Jahrhundert) Vom adligen zum bürgerlichen ‘Decorum’ (18.⫺20. Jahrhundert) „Vom Sie zum Du ⫺ mehr als eine neue Konvention?“ Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Rückblick und Ausblick Literatur (in Auswahl)
1.
Überblick
5. 6.
Anredeformen geben Auskunft über zwischenmenschliche Beziehungsverhältnisse. Das gilt für den privaten wie auch für den öffentlichen Bereich. Letztlich sind sie Ausdruck des gesellschaftlichen Selbstverständnisses einer Sprachgemeinschaft zu einer bestimmten Zeit. Es stabilisiert sich dann jeweils eine Anrede-Konvention. Diese zu kennen und zu beachten, gehört zum Alltagswissen der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft und gewährleistet ein ef-
fizientes Sozialverhalten. Verstöße gegen die Anredekonvention können zu erheblichen Störungen im geordneten sozialen Miteinander führen, das war früher so und gilt auch heute noch weitgehend. Gesellschaftliche Veränderungen, gar Umbrüche, führen in der Regel auch zu Änderungen einer geltenden Anrede-Konvention. So ist es kein Zufall, sondern geradezu programmatisch, daß sich z. B. die Französische Revolution 1789, die sog. Mainzer Republik (1792/93) und auch die Studentenbewegung der 1968er Jahre in Deutschland für die Abschaffung von Prestige-Formen der Anrede eingesetzt haben zugunsten einer gesellschaftlich verstandenen Informalisierung, etwa durch Präferenz des du bzw. im Französischen des tu. Englisch informal heißt ‘zwanglos’, Informalisierung meint also hier Reduzierung differenzierter Anrede-Regularien. Einzelheiten zu diesem Vorgang wie auch weitere Beispiele werden später noch gegeben. Die Anredeformen unterliegen also dem geschichtlichen Wandel. Das betrifft alle drei
2600
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Wortklassen, die im Deutschen die Anredeformen bestimmen, nämlich Pronomen, Nomen und auch Verb. Daß es Sprachen in der Welt gibt, die mit ganz anderen Sprachmitteln den Anredebereich in aller Differenziertheit gestalten, sei hier nur beiläufig erwähnt. Es mag im übrigen hilfreich sein, an den Anfang dieses Artikels einen rasch informierenden Überblick über das deutsche Anrede-Inventar und seine unterschiedliche Funktionalisierung im Ablauf der deutschen Sprachgeschichte zu stellen. Ganz am Anfang stand wohl nur das du, soweit wir das den ältesten Quellen entnehmen können. Späterhin dann im 9. Jahrhundert stoßen wir zum ersten Mal in deutscher Sprache auf das ir, eine Höflichkeitsform in der 2. Person Plural für eine Einzelperson, verbunden mit der entsprechenden Pluralform des Verbs: thaz ir mih lertut harto „daß Ihr mich so vorzüglich (mit Eueren Worten) lehrtet“, das ist eines der frühen Beispiele bei Otfrid von Weißenburg um 865 in einer gereimten Dankadresse an seinen verehrten Lehrer Bischof Salomo (Ad Salomonem 12). Auch in Otfrids lateinischem Begleitschreiben zu seinem Evangelienbuch, gerichtet an Erzbischof Liutbert von Mainz, findet sich die Höflichkeitsform der Anrede in der 2. Person Plural (pluralis reverentiae). Diese lateinische Tradition führt zurück bis in die spätrömische Zeit ⫺ und es besteht kein Zweifel, daß das deutsche Ihr mit der 2. Person Plural des Verbs somit an eine frühe abendländische Schrift- und Kulturtradition anschließt. du und Ihr waren die Anredepronomen im deutschen Mittelalter, verteilt nach sozialem Rang: Ihr für Adel, Geistlichkeit, Regierende, überhaupt für alle Herausgehobenen, du für das Volk. Geburts- und Amtstitel als nominale Anrede verlangten das Ihr, ebenso die Bezeichnung herre ‘Herr’, frowe ‘Frau’ und frowelıˆn ‘Fräulein’. Alle drei waren lange Zeit eben nur Adelsbezeichnungen und signalisierten ‘Herrschaft’ in der Bedeutung ‘Herr’, ‘Herrin’, ‘kleine Herrin’. Spuren dieser Bedeutung reichen noch weit in das 19. Jh. hinein. Im 16. und 17. Jh. verkomplizierte sich die gesellschaftlich geforderte Anrede, analog zu einer Überprofilierung in der Benennung sozialer Ränge. Nehmen wir etwa die Anweisungen Georg Philipp Harsdörffers (1656, S. 30) zum Zeugnis: Schreibt man an geringere/als [= wie] Unterthanen/Knechte/Kinder/ec. so pflegt man sie zu dutzen. Schreibt man an seines gleichen/so pflegt man
sie zu ehren wie wir von ihnen wollen geehret seyn/ und soll sie zum wenigsten geirtzt und geherret oder mit ihnen in der dritten Person geredet were den. Schreibet man an hohere/so muß man ihnen ihren angebornen Titul beylegen/nach ihren Stand und Ambtsdiensten. Solche aber werden nicht auff e eine Art geherret/dann etliche nennet man gunstig/ e e e andre gestreng/hohre gnadig/gnadigst/und allere gnadigst.
‘geherret’ im Text bedeutet mit ‘Herr’ titulieren. Das Anreden ‘in der dritten Person’ bezieht sich hier wohl noch auf die dritte Person Singular (Er, Sie), denn die frühesten Belege für unser heutiges Sie (dritte Person Plural) finden sich erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Es ist also in der zweiten Hälfte des 16. Jhs. eine Erweiterung im Inventar der Anredepronomen erfolgt: Zum du und Ihr trat nun noch Er und Sie in der 3. Person Singular, offensichtlich als Steigerung der Höflichkeit. Normalerweise bezieht man sich ja mit der ‘dritten Person’ nicht auf ein Gegenüber, das angeredet werden soll, sondern auf andere, in der Regel nicht anwesende Personen. Worin besteht denn darin wohl der Höflichkeitsgewinn? Offensichtlich in der Indirektheit als Steigerungselement sozialer Distanz. Eine direkte Anrede verlangt ja das ‘Gegenüber’, mißdeutbar als unangebrachte Nähe. „Non-intimate is third person“ heißt die generalisierende These in der Anredeforschung (vgl. u. a. Listen 1999, 149). Dies läßt sich noch steigern durch Bevorzugung reiner Titelanrede ohne Anredepronomen (Majestät, Hochwürden, Magnifizenz, etc.), wobei sich dann ein im Kontext notwendig werdendes sie als anaphorisches, d. h. auf den Titel rückbezügliches Pronomen und eben noch nicht als neues Anredepronomen in der dritten Person Plural erweist. Dieses neue Sie trat erst Ende des 17. Jhs. als generalisierte Form des rückverweisenden sie allmählich zutage. Damit ergab sich folgende Reihe: du, Ihr, Er/Sie (3. Sing.) und Sie (3. plur.), bzw. Titelabstractum, gekoppelt mit anaphorischem sie oder gar dieselben. Wie dieses Anrede-Inventar in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ‘gesellschaftlich’ umgesetzt wurde, dafür dürfen wir als Zeitzeugen Johann Christoph Adelung (1782, I., S. 684) nehmen: Du wird nur noch 1. gegen Gott, 2. in der Dichtkunst und dichterischen Schreibart, 3. in der Sprache der engen Vertraulichkeit, und 4. in dem Tone der hochgebiethenden Herrschaft und tiefen Verachtung gebraucht. Außer diesen Fällen redet man sehr geringe Personen mit ihr, etwas bessere mit er
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177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel und sie, noch bessere mit dem Plural sie, und noch vornehmere wohl mit dem Demonstrativo Dieselben oder auch mit abstracten Würdenamen, Ew. Majestät, Ew. Durchlaucht, Ew. Excellenz u. s. f. an.
Fünf Möglichkeiten im Pronominalbereich, dazu eine differenzierte Skala von Geburtsund Amtstiteln, mit diesen wiederum gekoppelt und rangmäßig genau festgelegt eine Kette von auszeichnenden Adjektiven (z. B. günstig, gestreng, gnädig, gnädigst, allergnädigst, etc.) insbesondere in Anschreiben, korrespondierend dazu die Kette der Untergebenheitsadjektive auf der Seite der rangniederigen Personen (z. B. willig, schuldig, gehorsam, unterthänig, unterthänigst/allerunterthänigst, etc.), dies alles fügte sich zu einem überaus komplizierten Anrede-Zeremoniell zusammen. Schon für Harsdörffer (Discurs von der Höflichkeit, S. 345) „ist die Höfligkeit an etlichen Orten dahin gelangt, daß man die Menschen wie weiland die Götter ehren muß/wann man nicht für Bäurisch wil gehalten werden.“ In der Folgezeit ist mit dem weiteren Erstarken des Bürgertums eine Reduzierung der Anrede-Forderungen zu erwarten. Es schälte sich Ende des 18., Anfang des 19. Jhs. mit du und Sie ein neues Zweiersystem heraus. Er/ Sie und das Demonstrativum Dieselben wurden aufgegeben, und das alte Ihr galt fürderhin nur noch in der Provinz, d. h. in den regionalen Dialekten. Aus einem primär sozial markierenden System wuchs allmählich eine duale Beziehungsmarkierung heraus: Du für den vertrauten Lebenskreis, Sie für alles, was nicht dazu gehört. Oder, wie Gedike (1794, 44 f.) sagt, die eine Form als „Sprache des Herzens“, die andere Form als „Sprache des Verstandes“. Parallel dazu verlief ein Abbau der Titelhierarchien mit teilweiser Übernahme in das bürgerliche Decorum (Herr, Frau, Fräulein, gnädige Frau, etc.). Diese Konvention ist für das 19. und den größeren Teil des 20. Jhs. anzusetzen. Eine gewisse Sonderstellung nehmen Diplomatie, Kirche und partiell auch die Universitäten ein, indem sie das ältere Decorum länger beibehalten. In die andere Richtung gehen sodann Personenbünde (Turner, Vereine, etc.) und teilweise auch politische Parteien/Gewerkschaften mit einer obligatorischen Festlegung auf das du der Mitgliederanrede und die Bezeichnung Genosse/Genossin (in der Sozialdemokratischen Partei seit 1879, 1927 von der Kommunistischen Partei übernommen, im Dritten Reich und in der DDR von der je-
weils staatstragenden Partei propagiert und am Ende nachhaltig entwertet). Der Grundgedanke dieser Konvention ist ‘Solidarität’, das du ein solidarisches du von Menschen in gleichen oder ähnlichen Lebensverhältnissen bzw. Lebensnöten. Sonst aber blieb die Festlegung von du für den vertrauten Lebensbereich, von Sie auf alles, was nicht dazu gehört, die durchgehend akzeptierte Konvention. Erst die Studentenbewegung der 1968er Jahre löste wieder Veränderungen aus. Sie betrafen eine Ausweitung der du- und eine Minderung der TitelAnrede. Letztlich müssen diese Änderungen wohl im größeren Rahmen einer internationalen Tendenz der ‘Informalisierung’ auf demokratischer Basis gesehen werden, wobei die englische Sprache, in der ja das du (= thou) zugunsten von you (2. plur.) als einzigem Anredepronomen aufgegeben wurde, als Einflußfaktor ins Spiel kommt, ebenso eine ähnliche Tendenz zur Mono-Form in den skandinavischen Sprachen. Darüber wird in den Abschnitten 6. und 7. mehr gesagt.
2.
Anredebestimmende Variablen
Es bietet sich an, von den vier W’s auszugehen: Wer redet wen in welcher Situation wie an? Da kommen der Anredende (A), der Angeredete (B), die jeweilige Anredesituation (C) und das verfügbare Sprachinventar (D) in den Blick. Für (A) und (B) sind im Deutschen und in vielen Sprachen die Variablen ALTER und GESCHLECHT bestimmend. Man nennt sie auch biologische Variablen. Bei den folgenden Hinweisen dient die bis in die 1960er Jahre stabile Anredekonvention im Deutschen als Grundlage. Danach einsetzende Modifikationen, beschrieben in Abschnitt 6., haben sich noch nicht generell zu einer Konvention verfestigt. Variable ALTER: Kinder erhalten du, Erwachsene Sie. Es liegt Asymmetrie vor in der wechselseitigen Anrede, auch Nicht-Reziprozität genannt. Die Komplementärbezeichnungen sind Symmetrie (symmetrisch) und Reziprozität (reziprok). Diese Unterscheidungen sind in etwas älterer Zeit auch für andere Bereiche wichtig, etwa in sozialen Abhängigkeitsverhältnissen von Herrschaft und Untergebenen: der Knecht wird geduzt, der Herr geihrzt bzw. gesiezt. Für Jugendliche ergibt sich eine Übergangszeit zum ‘Sie der Mündigkeit’. In
2602
XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
den weiterführenden Schulen war das in der Regel mit dem Übergang zur Oberstufe (etwa 16 Jahre) gegeben und quasi obligatorisch. Die Variable Alter führt dann vom Erwachsenenstadium an zu keinen weiteren Differenzierungen beim Anredepronomen. Zur Altersvariable rechnet man im Nominalbereich die Verwandtschaftsnamen, etwa Vater, Mutter, Großvater, Großmutter, Onkel, Tante, Neffe, Nichte, Enkel, Enkelin u. a. m. Durchweg gilt das wechselseitige familiäre du; nominal für Eltern und Großeltern nur der jeweilige Verwandtschaftsname (Mutter, Großmutter, etc.), bei Onkel und Tante oft mit zusätzlichem Vornamen, bei Nichten, Neffen, Enkeln nur der Vorname. Das ist, verglichen mit früher und mit anderen Sprachen eine eher einfache Anredekonvention. Noch im 18. Jh. hatten in den gehobenen Kreisen in Deutschland die Kinder ihre Eltern zu siezen. Das galt auch für diese Eltern gegenüber ihren Eltern. Anderswo wird die Großelterngeneration ehrend abgehoben von der übrigen Familie, nie mit dem Vornamen angesprochen, auch nicht die Eltern. Im Japanischen etwa gelten als Verwandte mit höherem Status alle die, die älter sind als die sprechende Person: Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten, selbst ältere Brüder und Schwestern. Diese Gruppe darf nicht mit Vornamen oder Pronomen angeredet werden. Verwandtschaftsformen können auch metaphorisch gebraucht werden: Vater (für Priester), Mutter (für Nonnen), Bruder, Schwester in religiösen Gemeinschaften, Onkel und Tante (z. B. für Freunde der Eltern), je nach dem mit einem ehrenden oder solidarisierenden Pronomen. In bestimmten Sprachen wird die Generationenanrede sogar noch einmal nach väterlicher und mütterlicher Verwandtschaftslinie differenziert. Lebensalter in der Unterscheidung ‘älter/ jünger’ ist auch außerhalb der Familie vielfach anredesteuernd, in früheren Kulturen meist noch stärker als heute. Am Grad der Höflichkeit den ‘Alten’ gegenüber läßt sich die Wertschätzung von Lebenserfahrung und Lebensleistung in einer Gesellschaft ablesen. Wenige ehrende Signale (Sie, Herr/Frau-Anrede, gelegentlich auch Titel, schriftlich eventuell heraushebende Adjektive in Anrede und Grußformel) genügen, insbesondere aber die Vermeidung von oft demütigend empfundenen Bezeichnungen vom Typ Opa, Oma, Altchen u. a. m. für fremde Personen höheren Alters. Wenn sich, wie heute, der Geltungsbereich von du gegenüber früher stark erweitert,
dann geraten die Mittdreißiger beim du und Sie in Entscheidungsnot, ob sie noch zu den Jungen (du) oder bereits zu den Älteren (Sie) zählen bzw. gezählt werden ⫺ eine millionenfache Entscheidungssituation im Alltag aufgrund der Variable Alter. Wenn man von anredebestimmenden Variablen spricht, wie das in diesem Abschnitt 2. geschieht, dann muß der Blick auf andere Sprachen erhellend und erlaubt sein, denn jede Sprache, auch die deutsche, instrumentalisiert die einzelnen Variablen unterschiedlich stark und unterschiedlich differenziert. Die Anredeformen einer einzigen Sprache stellen dabei eben nur einen kleinen Ausschnitt der faszinierenden Möglichkeiten des Anredens in der Welt dar. Als sehr hilfreich für erste intersprachliche Vergleiche erweisen sich Arbeiten der Kieler Forschergruppe um Werner Winter aus den 1980er Jahren. Sie haben die neuere Anredeforschung in Deutschland stark beeinflußt. Hinzuweisen ist insbesondere auf den Sammelband Winter (Hrsg., 1984) mit drei wichtigen theoretischen und sieben einzelsprachlichen Beiträgen, sodann auf Braun/Kohz/Schubert (1986), deren kommentierte Bibliographie sich auf über 1100 Bücher und Aufsätze zu über 170 Sprachen/Dialekten bezieht. Auch Kohz (1982) ist mit Gewinn für theoretische Überlegungen und für einen deutsch-schwedischen Vergleich beizuziehen. Variable GESCHLECHT: Im deutschen Anredesystem ist diese Variable nicht oder nur in ganz feinen Nuancen des Gebrauchs funktionalisiert, abgesehen einmal von den geschlechtstypischen Nominalformen Frau, Präsidentin, u. a. m. Bei den Anredepronomen gibt es keine Unterschiede bezüglich der Geschlechter, es sei denn, daß Frauen, wie man Umfragen der 80er Jahre entnehmen konnte, wesentlich zurückhaltender als Männer gegenüber dem ‘schnellen du’ sind und in bestimmten Situationen höflicher angesprochen werden. Andere Sprachen haben die Variable ‘Geschlecht’ in der Anrede z. T. stärker und mit unterschiedlichen Mitteln versprachlicht. So gibt es etwa im Hocharabischen eine männliche und eine weibliche Form des Anredepronomens in der 2. Person Singular, ebenso in der 2. Person Plural (S. Pieper 1984, 13) wo bei uns eben nur du, bzw. Ihr ohne Genus-Markierung steht. Das Japanische ist, aus unserer Sicht, ein Paradebeispiel ganz anderer Versprachlichungsstrategien des Anredebereichs. Es verfügt über
177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel
sechs Anredepronomina, die sehr differenziert sind, aber nicht in allen Fällen in gleicher Weise von Männern und Frauen verwendet werden können. Die höflichste Form der Anrede wird aber durch völlige Weglassung der Pronomen erreicht. Von dem japanischen Verständnis von ‘Familie’ abgeleitet, ergibt sich ein Statusunterschied des Geschlechtes zugunsten des Mannes. Das hat auch zu asymmetrischen Anredekonventionen geführt, wobei Frauen die höflichere Form der Anrede zu wählen haben. Dies ist nicht nur über Anredepronomina zu bewerkstelligen, sondern bevorzugt über die Wahl bestimmter Stilebenen. Sie sind Teil des Anredevorgangs und verraten die ‘soziative’ Einschätzung der Beziehung des/der Sprechenden zum/zur Angesprochenen. Die verschiedenen Ebenen sind durch die Art der Lexeme, durch bestimmte Verbformen und durch zusätzliche Höflichkeitspräfixe markiert. Im wesentlichen lassen sich vier Ebenen unterscheiden: die höfliche, die formelle, die informelle und die niedere. Die höfliche Stilebene wird auch als ‘Frauensprache’ bezeichnet, sie drückt Respekt und Ehrerbietung aus. Man sieht also, daß der Variable ‘Geschlecht’ im Japanischen bedeutend mehr Steuerungsfunktion in der Anrede zukommt als im Deutschen. In Besch (21998, 113 f.) finden sich einige Hinweise auf andere Sprachen, jedoch nicht beschränkt auf die Variable ‘Geschlecht’. In Winter (Hrsg., 1984) sind folgende Sprachen behandelt: Russisch, Mingrelisch, Rumänisch, Jordanisches Arabisch, Kurdisch, Tigrinya (Äthiopien) und Koreanisch. Man darf sicher sein, daß die Variable ‘Geschlecht’ in den unterschiedlichsten Sprachen der Welt in vielfältiger Weise versprachlicht wird. Immer wird das auch ein Indikator für die Position und Rolle sein, die der Frau jeweils gesellschaftlich zugesprochen wird. Die bisher genannten Variablen ‘Alter’ und ‘Geschlecht’ stehen in starker Interrelation mit sozialen und situativen Gegebenheiten. Variable SOZIALE POSITION: Sie umfaßt alle Positions- und Rangunterschiede in der Gesellschaft, die eben auch in der Anrede versprachlicht werden oder werden können. In der Regel geschieht das durch Höflichkeitssteigerung in der Anrede für den sozial Höherrangigen. Sie wird herbeigeführt durch pronominale, nominale und zu bestimmten Zeiten sogar durch syntaktische Ehrerbietung (vgl. unter 4.). Der beabsich-
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tigte Höflichkeitseffekt Höherstehenden gegenüber kann aber auch zusätzlich durch Eigendegradierung erreicht werden. Darunter versteht man Formen der Selbsterniedrigung wie etwa ich-Tilgung, soziale Abwertung, Demonstration der eigenen notorischen Unzulänglichkeit, u. a. m. Beetz (1990, 211 f.) führt treffliches Material aus Barock- und Folgezeit an, sowohl für die Aufwertung des Adressaten, wie auch für die Abwertung des Sprechers. Er spricht von einer umfassenden ‘Sozialsemantik’ im Höflichkeitsdiskurs. Auch Montandon (1991) vermittelt wichtiges Hintergrundwissen für das Verständnis früherer Anredekonventionen im Deutschen. Im Zweifelsfall ist die Variable ‘soziale Position’ stärker als etwa ‘Alter’ und ‘Geschlecht’; eine entsprechend ‘hohe Position’ setzt beide biologischen Variablen in der Regel außer Kraft. Beispiele im Rahmen eines früheren Hofprotokolls, aber etwa auch noch bei heutigen Staatsempfängen und ähnlichen hochrangigen Anlässen, lassen sich leicht ausdenken. Es bleibt ein letzter Steuerungsfaktor, die Variable SITUATION: Was damit gemeint sein könnte, läßt sich an folgendem Beispiel erläutern: „Willkommen, du hast einen Freund in Pennsylvania!“ Das rief der Gouverneur Thurnburg 1983 in Philadelphia dem Bundespräsidenten Karl Carstens bei einem Festbankett mit 2000 Gästen zu. Anlaß der großen Festlichkeiten war die 300-JahrFeier deutscher Einwanderung in Amerika.
Warum stört uns dieses du? Zwar passen du und Freund zusammen, aber duzt man einen Staatspräsidenten? Die Antwort ist „nein“, nicht bei uns. Der höchste Repräsentant des Staates kann nicht geduzt werden, schon gar nicht in einer ‘öffentlichen’ Situation. Das ist eine Rangfrage und eine Frage der Situationsangemessenheit. Kohz (1984, 32 f.) spricht vom „Rahmen der Interaktion“, also von den „Rahmenbedingungen“ eines konkreten Anredevorgangs. Dazu zählt er (a) das „setting“ (time and place), (b) „topic“, (c) „channel“ (speaking/writing), womit Zeit, Ort, Thema und Äußerungsmedium (mündlich/schriftlich) gemeint sind. Diese Faktoren bestimmen die jeweils konkrete Anredesituation, natürlich in angemessener Korrelation mit den genannten anderen drei Variablen, vorab der sozialen. Eine grammatisch korrekte Kenntnis des Anredeinventars einer Sprache genügt für sich allein keineswegs, sie bedarf der situativen Sensibilisierung im kon-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
kreten Interaktionsrahmen und somit einer Kompetenz, die man in der Regel nur durch längere Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft erwerben kann. Es gibt informelle und formelle Interaktionssituationen und dazwischen mancherlei Abschattierungen. Mit einigen ‘Situationen’, z. B. Mannschaftsspiele im Sport, Bergsteigen, Reizrede vor Zweikämpfen in alter Zeit, Verbrecherjagd heute, u. a. m. verbindet sich in der Regel die informelle Variante der Anrede, also pronominales du, während umgekehrt die formelle Variante Sie absolut obligatorisch wird, je formeller, d. h. öffentlicher sich eine Situation darstellt und auch so empfunden wird ⫺ etwa bis hin zu einem feierlichen Staatsakt. Die entsprechende Wahl des Anredepronomens diktiert dann auch eine korrelierende Auswahl in der Nominalanrede. Die Anredekonvention, verstanden als gesellschaftliche Übereinkunft einer Sprachgemeinschaft, legt die Koppelung von sprachlicher Formalität oder Informalität mit bestimmten interaktiven Situationstypen fest. Verstöße gegen solche Festlegungen werden geahndet. Allerdings scheinen gerade Sprachgemeinschaften mit relativ strikter Festlegung dann auch ‘Entlastungsspielräume’ vorzusehen, allerdings wohldefinierte Sondersituationen. Im Japanischen scheint ein ‘Trostabend’ als solch ein ‘Entlastungsspielraum’ verstanden zu werden. ‘Trostabend’ nennt man gesellschaftliche Veranstaltungen, zu denen der Chef die Betriebsangehörigen einlädt und auf denen eine gewisse Narrenfreiheit herrscht. Unter dem Einfluß von Alkohol ist es hier üblich und ungestraft möglich, für den Vorgesetzten familiäre oder gar salopp-vulgäre Anredeformen zu wählen (vgl. Nagatomo 1986, 205). Das ist jedoch absolut auf diesen Anlaß beschränkt. Ähnlich war es (und ist es noch zum Teil) im Deutschen nach einem fröhlichen Zecher ⫺ du zwischen Höhergestellten und Untergebenen. Es galt eben nur für diese Ausnahmesituation. Solche Entlastungsriten finden sich eigentlich nur in Kulturen mit klar erkennbarer ‘Etikette’. Der Karneval in Deutschland hat damit zu tun, verstanden als temporäre Einebnung der unterschiedlichen sozialen Rollen, ja sogar als Möglichkeit des fröhlichen Rollentauschs für eine begrenzte Zeit. Ausnahmesituationen sind auch Katastrophen welcher Art auch immer, weil in wahrhaft existentieller Not die Etikette gesellschaftlicher Rangordnung unwesentlich wird. Die Variable ‘Situation’ deckt Anrede-Anlässe von ‘völlig informell’ bis zu ‘extrem for-
mell’ ab. Der entsprechenden Auswahl aus dem sprachlichen Anredeinventar ordnen sich auch nonverbale Verhaltensweisen zu, also Gestik, Mimik, Körperabstand, Blickrichtung u. a. m. Kurz, man hat es in jedem Einzelfall mit einem hochentwickelten ‘Kulturem’, einem Seismographen gesellschaftlicher Wirklichkeit zu tun ⫺ in jedem Fall des Studiums wert. Neben den schon genannten wichtigen Arbeiten der Projektgruppe um Werner Winter sind die Amerikaner Roger W. Brown und Albert Gilman mit ihrer Studie von 1960 mit dem Titel „The pronouns of power and solidarity“ auf große Resonanz gestoßen. Davon soll in diesem eher theoretischen Kapitel 2. abschließend die Rede sein. Die deutsche Übersetzung (1977) lautet: „Die Pronomen der Macht und Solidarität“. Es handelt sich um Anredepronomen, hier bevorzugt von solchen Sprachen, die über zwei Formen verfügen. Die beiden Autoren führen für die unterschiedlichen Pronomen die Symbole T und V ein, abgeleitet vom lateinischen tu und vos. T steht für das einfache, V für das höfliche oder distanzierte Anredepronomen, entsprechend unserer Verteilung von Du und Sie. Die Verwendung beider Formen wird von Brown/Gilman auf zwei Dimensionen zurückgeführt, auf eine vertikale und eine horizontale Dimension. Die vertikale zeichnet sich durch Asymmetrie zwischen anredender und angeredeter Person aus, begründet etwa durch Rangunterschiede verschiedenster Art. Entsprechend wird dann die rangniedrigere Person mit T (= Du) angesprochen, muß aber das V (= Sie) zurückgeben. Die Autoren nennen das power semantic (Überlegenheitssemantik), eine Form der Ungleichbehandlung. Die solidarity semantic (Zusammengehörigkeitssemantik) bezieht sich auf die horizontale Dimension, auf Symmetrie zwischen den Redenden, auf Gleichheit der Anrede in einem reziproken Verhältnis zueinander. Das kann sich gleichrangig auf der T- oder auf der V-Ebene abspielen, je nach Vertrautheit bzw. Distanz der beteiligten Personen zueinander. Es waren wohl weniger die (altbekannten) Fakten als vielmehr die griffigen Formulierungen, die dieser Studie eine ungeahnte Resonanz in den sozialsensiblen 60er und 70er Jahren bescherten. Die jüngere Anredeforschung erhielt dadurch einen ganz entscheidenden Anstoß. Parallelen zur Wirkung der Bernstein-Thesen vom restringierten und elaborierten Code drängen sich auf. Wie dort sind dann späterhin auch Korrekturen nötig
177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel
geworden (vgl. etwa Friederike Braun 1984). Aber davon ist hier nicht zu sprechen. Es bleibt der Bezug der an sich unscheinbaren Anredewörter zu sozialen Gegebenheiten, die eben auch Gegebenheiten von Macht und Unterlegenheit sein können, wie auch von Gleichheit und Solidarität.
3.
Mittelalter
Unsere Kenntnis früh- und hochmittelalterlicher Anrede-Konventionen hängt ganz von der Quellenlage ab. Das bedeutet Einschränkung allein auf den schriftlichen Bereich und auf starken lateinischen Einfluß bzw. lateinische Interferenzen in den Textgattungen wie etwa Brief, Urkunde, Gesetz, Abhandlungen, Traktat, Geschichtsschreibung und Dichtung. Die Alltagsmündlichkeit der Anrede ist so gut wie nie faßbar. Das ändert sich erst allmählich im Spätmittelalter und dann vor allem in der frühen Neuzeit mit dem Aufkommen neuerer Formularbücher und der sog. Briefsteller für breitere Kreise. Auch dies ist Schrifttum, aber die metasprachlichen Äußerungen nehmen zu, d. h. die Anrede wird zum ‘Thema’ gemacht. Dabei erfährt man vieles über Korrektheit und getadelte Abweichung, gelegentlich auch Kritik an überzogen empfundenen Decorumsvorschriften bezüglich der Anrede. Weitere Reflexe deutscher Anredepraxis finden sich parallel in der anschwellenden Menge von Verwaltungsarchivalien der städtischen und sonstiger Kanzleien, in Verhörprotokollen u. a. m., in denen zunehmend auch die Lebenswelt der Bürger, überhaupt der einfachen Leute, eine Rolle spielt. Solche Quellen fehlen weitgehend für das Früh- und Hochmittelalter, wir fassen da nur oberschichtliche Konvention und diese wiederum gebrochen, geprägt bzw. beeinflußt von lateinischen Textgattungstraditionen. Diese ‘Warnungen’ mußten vorangestellt werden. Es bleibt aber eine gewisse Hoffnung, daß in deutschsprachigen Texten ahd. und mhd. Zeit nicht völlig an der jeweils gegebenen Anredewirklichkeit vorbeiformuliert werden konnte. Selbst im fiktionalen Bereich, etwa im Artusroman, darf man von einem Widerspiegelungseffekt real höfisch-adeliger Anredekonvention ausgehen. Strikt beweisen kann man das aber nicht. Es folgen einige Fachtermini für die Höflichkeitsanrede und ausgewählte Textbeispiele. Sie entstammen der bisher unübertroffenen materialreichen Untersuchung von Gu-
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stav Ehrismann (1901⫺1904) und eigenen Beobachtungen an mhd. Texten. Beizuziehen ist immer noch J. Grimm (1837 und 1855). Im Gebrauch des Plurals beim Anredepronomen geht die 1. Person voran. Schon das klassische Latein kennt den pluralis modestiae, auf eine einzelne Person bezogen; ebenso das wir der Autoren, bekannt als pluralis societatis, d. h. Einbeziehung des Publikums durch den Redner oder Autor. Schließlich wird mit dem wir der 1. Person Plural auch der pluralis majestatis gebildet, ausgehend vornehmlich von der Aufteilung der Macht in der römischen Kaiserzeit auf z. T. mehrere Personen. Die auf eine einzelne Person bezogene Anrede in der 2. Person Plural gilt als pluralis reverentiae. Hier beginnt recht eigentlich die europäische Höflichkeitskultur der Anrede. Das ist keine Selbstbezeichnung, wie bei der 1. Person Plural, sondern eine von anderen ehrend und verehrend zugesprochene. Ehrismann (1901, 119) nennt als frühes Beispiel Quintus Aurelius Symmachus und dessen Briefwechsel mit seinem Vater (vos, vester), eine Datierung also in die zweite Hälfte des 4. Jhs. nach Christus. Der Briefstil ist ein bedeutendes Vehikel dieser Neuerung, und das erste deutschsprachige Beispiel, nämlich Otfrids Dankesverse an seinen verehrten Lehrer Bischof Salomo, am Anfang dieses Artikels schon zitiert, steht in solcher Tradition. Eine Regelhaftigkeit von auszeichnendem vos setzt erst spät ein. Für die Epistolae Carolinae, im wesentlichen Briefe von und an Karl den Großen, konstatiert Ehrismann (1901, 127) durchaus noch den Mischstil, etwa Alcuins Wechsel zwischen 2. Person Plural und Singular Kaiser Karl gegenüber, je nach situativer Gegebenheit. Man kann die Anredekonventionen in altdeutscher Zeit nicht losgelöst von den lateinischen Ausgangsmustern betrachten ⫺ daher diese wenigen rückverweisenden Bemerkungen. Die deutschsprachigen Texte des Mittelalters zeigen anfangs deutlich und später fast ausschließlich die du / ir-Konvention in strikt sozialer Verteilung, ir für Adel, Geistlichkeit, Regierende, überhaupt für alle Herausgehobenen, du für das Volk. Sozialer Abstand bewirkt Asymmetrie der Anrede, Gleichstand läßt symmetrisches ir oder auch du zu, wenigstens bei den Oberen, bei den ‘Niederen’ nur auf der duEbene. Abweichungen von dieser Regel sind bestimmten Textgattungen oder bestimmten Situationen etwa im Handlungsablauf eines Erzählstoffes zuzuschreiben. Die seelsorgerlichen Missionstexte ahd. Zeit (Vaterunser, Hymnen, Taufgelöbnis, Abschwörungsformeln, etc.) bleiben natürlich beim biblischen du ⫺ und so ist es im Deutschen bis heute (z. T. anders im Englischen, auch Französischen). Das du gilt nach alter Gattungstradition auch noch im Heldenlied und Preislied: Im ‘Hildebrandslied’, aufgezeichnet Anfang des 9. Jhs., stehen sich Vater und Sohn, fremd und unerkannt, zwischen zwei Heeren gegenüber. Sie reden sich, wiewohl herausgehoben, mit du an, so-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
wohl bei der gegenseitigen Vorstellung als auch dann bei der Reizrede vor dem Zweikampf: hwelihhes cnuosles du sis (welchen Geschlechts du bist), oder dann: du bist dir alter Hun, ummet spaˆher (du dünkst dich, alter Hunne, unmäßig klug). Im Preislied auf den Sieg Ludwigs III. über die Normannen bei Saucourt am 3. August 881, dem sog. Ludwigslied, wird der König mit du angeredet: froˆ mıˆn, soˆ lango beidoˆn uuir thıˆn (Herr, schon so lange warten wir auf dich). Nach Ehrismann (1901, 142 f.) könnten die sog. Altdeutschen Gespräche eine wichtige Quelle für die Verkehrsformen der Anrede in damaliger Zeit (Handschrift des 10. Jhs.) sein, eklatante Unstimmigkeiten indem z. B. der Herr geduzt, der Knecht aber geihrzt wird, deuten mit zahlreichen anderen Sprachformen auf einen klaren Sonderstatus dieser Texte, auf ein „Althochdeutsch als Zweitsprache“ (vgl. Klein 2000, 39). Es gibt insgesamt wohl keine verläßlichen Anzeichen dafür, daß der pluralis reverantiae in althochdeutscher Zeit als muttersprachliche Konvention Geltung hatte. Das ‘Annolied’, wohl um 1080 entstanden und eng mit Siegburg und Köln verbunden, sieht das anders. Es liefert uns eine noble Herkunftstheorie der Ihr-Anrede, auch ‘Ihrzen’ genannt, die alter Brauch sei und schließlich auf keinen Geringeren als auf Caesar zurückgehe. Dieser, so heißt es dort, wurde nach dem Sieg über Pompejus von den Römern gefeiert. Sie fingen ihm zu Ehren einen neuen Brauch an: Sie begannen den Herrscher mit Ihr anzureden. Diesen Brauch ließ Caesar daraufhin ⫺ als Ehrung ⫺ auch die Deutschen lehren: den sidde hıˆz er du˚ ceˆrin/diutischi liuti lerıˆn (Annolied 28, 11⫺ 12). Solche Freundlichkeit verwundert letztlich nicht, denn ebenfalls laut Annolied sind die Franken seine alten Verwandten, wie die Römer auf Troja zurückgehend. Die ‘Deutsche Kaiserchronik’, wohl zwischen 1140 und 1150 in Regensburg verfaßt, übernimmt in V, 520 f. diese Herkunftgeschichte des Ihrzen im Deutschen. Gegen diese ‘Legende’ steht die Textwirklichkeit. Es braucht Jahrhunderte, bis sich an der heimischen Schriftlichkeit so etwas wie eine gültige Höflichkeitskonvention der Anrede mit der Verteilung ir/du ablesen läßt. Im 11. und 12. Jh. nimmt das ir-Potential fast kontinuierlich zu, ohne schon zur klar erkennbaren Regel zu führen. Häufig treten Schwankungen im Gebrauch für einzelne Personen oder Personengruppen auf, ohne daß Gründe dafür auszumachen sind, auch keine situativen. Offensichtlich sind Zeitablauf, wie schon gesagt, und dann auch Stoff-Herkunft für die Entwicklung von Belang. Geistliche Erzählliteratur bleibt länger beim biblischen du; beim du älterer heimischer Tradition verharren auch eher die sogenannten Spielmannsepen, während Stoffe, die über französische oder lateinische Vorlagen vermittelt werden, dem pluralis reverentiae merklich aufzuhelfen scheinen. Das gilt insbesondere für den Artusstoff als höfische Dichtung mit einem schon in den französischen Vorlagen durchstilisierten Gebrauch des Höflichkeitspronomens, weniger konsequent
im deutschen Rolandslied, das gegenüber dem altfranzösischen Rolandslied das Ihrzen nur sehr selektiv einsetzt, und das gilt mit einer stufenweise höfisierenden Anpassung für die verschiedenen Fassungen des deutschen Alexanderliedes. Hilfreiche Zusammenstellungen für die vor- und frühhöfischen Texte finden sich bei Ehrismann (1902, 118⫺159). Die volle Ausbildung einer höfisch-adligen Anredekonvention läßt sich an den deutschen Artustexten eines Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach ablesen, aber etwa auch am Nibelungenlied. Das führt uns in die Zeit unmittelbar vor und nach 1200. Einige Beispiele sollen uns Regel und seltene Ausnahme verdeutlichen. Nur wo klare Regeln gelten, können Ausnahmen interpretatorische Tiefendimension erlangen, symptomatischen Charakter haben, vor allem, wenn sich ein Anredewechsel gegenüber ein-und-derselben Person vollzieht. Man nennt das dann einen ‘symptomatischen Wechsel’, oder einfach ‘Anredeprogression’. Die Parzival-Stelle 749, 18⫺30 Wolframs von Eschenbach ist von zentraler Bedeutung, weil hier Anrede nicht nur praktiziert, sondern auch ausdrücklich thematisiert wird: Parzival trifft im Zweikampf auf Feirefiz, Sohn Gahmurets wie er selbst, also Bruder. Dies offenbart sich erst in einer Kampfpause und beendet alsbald den Kampf. Der Bruder hat den Bruder gefunden. Feirefiz will dem dann auch in der Anrede Rechnung tragen und erbittet das du: ‘du solt niht meˆre irzen mich: wir heten beˆd doch einen vater! mit brüederlıˆchen triwen bater daz er irzens in erlieze und in duzenlıˆche hieze. diu rede was Parzivaˆle leit. der sprach ‘bruodr, iur rıˆcheit glıˆchet wol dem baˆruc sich: soˆ sıˆt ir elter ouch dan ich. mıˆn jugent unt mıˆn armuot sol sölher loˆsheit sıˆn behuot, daz ich iu duzen biete, swenn ich mich zühte niete.’ (‘Du sollst mich nicht mehr länger mit Ihr anreden, denn wir hatten beide denselben Vater.’ Er bat ihn mit brüderlicher Liebe, das Ihrzen zu lassen und ihn zu duzen. Das aber war Parzival nicht recht. Er sagte: Bruder, Euere Macht kommt wohl der des Baruc gleich. Auch seid Ihr älter als ich. Meine Jugend und meine Armut sollen sich vor solcher Unziemlichkeit hüten, daß ich Euch duze, gegen die gebührende Höflichkeit.) Für Parzival sind die Variablen ‘Alter’ und ‘Sozialrang’ wichtiger als engste Verwandtschaft. Er bleibt beim Ihr seinem Bruder Feirefiz gegenüber, bis er selbst Gralskönig, also gleichsam ebenbürtig ist: „ich mac nu wol duzen dich: unser rıˆchtuom naˆch gelıˆchet sich, mıˆnhalp vons graˆles krefte“ (Parzival 814, 19⫺21) („Ich kann Dich nun zu Recht duzen. Unsere Macht ist vergleichbar ⫺ was mich betrifft durch die Kraft des Grals.“). Sonst aber führt Verwandtschaft zum vertraulichen du, etwa zwischen Parzival und Sigune (138, 27 f.; 140, 15 f.), verhindert aber nicht den erneuten Übergang zum distanzierenden Ihr nach dem ‘Versagen’ Parzivals auf der Gralsburg und Sigunes Nachfrage: ‘haˆstu vraˆge
177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel ir reht getaˆn.’ Er sprach ‘ich haˆn gevraˆget niht.’ ‘oˆweˆ daz iuch mıˆn ouge siht’, sprach diu jaˆmerbaeriu magt …’ (254, 30 f.) („Hast du die Frage gestellt?“ Er antwortete: „Ich habe nicht gefragt.“ „O weh! Daß mein Auge Euch sieht!“). In der dritten Begegnung zwischen beiden (440, 20 f.) erfolgt sodann wieder der Wechsel vom Ihr zum du, insgesamt in allen drei Begegnungen ein stilistisches Meisterstück symptomatischen Anredewechsels. Die Begegnung mit Trevrizent (Mutterbruder ⫺ Neffe) im IX. Buch beginnt mit gegenseitigem Ihrzen, nach dem Erkennen mit dem du von Trevrizents, respektvollem Ihr von Parzivals Seite; am Schluß (798, 1 ff.) sind die Rollen vertauscht, Trevrizent ihrzt den Gralskönig, dieser duzt ihn nun. Gewisse Grundregeln werden deutlich: Höflichkeit ist das Gebot in der höfischen Gesellschaft; das Du verwandtschaftliche Konvention, wenn auch mit nuancierendem Spielraum, wie man sehen konnte. Hinzu kommt das du gegen Dienerschaft bzw. Hofstaat, etwa von Artuskönigin Ginover zu einer Hofdame (Erec 25), von Iwein zu seinem Knappen (Iwein 958 f.), vom Ritter Heinrich zu seinem Meier samt Frau und Tochter (Arme Heinrich 385 f.). Symmetrisches du über alle Sozialschranken hinweg ist nur noch fernab aller Zivilisation möglich, z. B. in dem Gespräch des Waldmenschen mit Kalogreant (Iwein 483 f.). Klare Regelverteilung nach Stand gilt auch im ‘Nibelungenlied’. Hagen ihrzt Kriemhild durchgehend ⫺ als Königstochter am Burgunderhof, als Königin an der Seite Siegfrieds, als Gattin des mächtigen Hunnenkönigs Etzel. Dann steht er ihr schließlich am Ende der mörderischen Saalschlacht gefesselt gegenüber in tödlicher Rivalität. Sie hat ihren Bruder Gunther enthaupten lassen, um ihn, Hagen, zur Preisgabe des Hortes zu zwingen. Da schleudert er ihr haßerfüllt in unmittelbarer Nähe des Todes das du entgegen: du haˆst iz naˆch dıˆnem willen/ z’einem ende braˆht. Dir, du Teuflin, soll der Schatz für immer verborgen bleiben. Ein symptomatischer Wechsel zum haßerfüllten du ! Umgekehrt gibt es auch den Wechsel vom vertrauten du zum distanzierenden, feindschaftlichen ir, wie z. B. im Königinnen-Streit (Nibelungenlied, 14. Aventiure). Sprachen, die nur eine Einheitsform des Anredepronomens haben, wie etwa das Englische, müssen in solchen Situationen mehr umschreibend erklären. Hier genügt der Wechsel vom du zum Ihr, um die totale Veränderung des ‘Gemütszustandes’ (Gedike 1794, 44 f.) zu signalisieren. Die du-Ihr-Konvention gilt offensichtlich bis zum Ende des Mittelalters und in die frühe Neuzeit hinein. Johannes von Saaz’ ‘Ackermann aus Böhmen’ (um 1400) bezeugt das, wo der Klagende dem grimmigen Tod, dem Mörder aller Menschen zuruft: her Tot, euch sei verflucht! (I, 2). Die HerrAnrede ist selbstverständlich verbunden mit ir- und dies durchgehend im Text. Ebenso konsequent nennt der Tod den Ankläger du und spricht selbst häufig im pluralis majestatis (da haben wir …; du tust uns unrecht …, etc.). Das ist hoher Stil, prozessuales Gebaren. Bäurisch dagegen geht es zu in
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‘Wittenwıˆlers Ring’, ebenfalls um 1400, mit dörflichen Verkehrsformen, auch in der Anrede, allerdings auch mit ironischen Brechungen und Überzeichnungen (vgl. Ehrismann 1903/04, 203 f.). Untereinander wird geduzt, Respektspersonen wie Bürgermeister, Pfarrer und Arzt erhalten das ir. Steigern sich aber gewisse Bauern in höherrangige Rollen hinein, sei es durch Sprache, sei es durch äußere Aufmachung, dann folgt oft auch die Höflichkeitsform der Anrede. So beim verliebten Bauernsohn Bertschi Triefnas (1329 f.), der nachts den Pfeifer/Spielmann aus dem Bett trommelt zur Unterstützung seiner Liebesgesänge vor dem Fenster der Angebeteten mit Namen Mätzli Rüerenzumph. Der Spielmann schreit wütend: ‘Ge fuder, merhensun/Und chlok nit me: daz ist dein frum!’/ Bertschin tet daz schelten we/Und das dützen dannocht me. (1334 f.: Hau ab, Mährensohn, und klopf’ nicht länger, das ist das Beste für dich! Bertschi fühlte sich durch das Schelten verletzt, mehr noch durch das duzen). Triefnas bietet gute Bezahlung an, da antwortet der Spielmann: ‘Ja, mein lieber herr, seit irs?/Ich bkant euch nicht: vergebt mirs!’ (Ja, mein lieber Herr, seid Ihr’s?/Ich erkannte Euch nicht, vergebt mir’s!). Die Herr-Anrede plus Ihr für einen Bauern! Es dauert noch Jahrhunderte, bis Herr, Frau, Fräulein dem Volk allgemein zugestanden werden. Auch Martin Luther wird vor dem Reichstag zu Worms (1521) von den Mächtigen geduzt: Sind die Bücher dein? Ja. Willtu sie widerrufen oder nicht? Nein: So heb dich! (Luther, WABr 2, 305, 13 f.). Und wie ist Luthers Brief an seine Frau, acht Tage vor seinem Tod, zu verstehen? (WABr 11, 291; 10.2.1546). Der H[eiligen] sorgfeltigen Fr[awen] Fr[awen] Kat[herin] Luth[erin], Doctorin, Zulsd[orferin] zu Wit[tenberg], meiner g[nedigen] lieben Hausfrawen. G vnd f in Christo! Allerheiligeste Fraw Doctorin! Wir dancken euch gantz freundlich fur ewer grosse sorge, dafur ir nicht schlaffen kund, Denn seit der Zeit ihr fur vns gesorget habt, wolt vns das feur verzeret haben in vnser Herberge, hart fur meiner stubenthur, Vnd gestern, on Zweifel aus krafft ewer sorge, hette vns schier ein stein auff den kopff gefallen vnd zuquetzscht, wie in einer Mausfalle […]. Ich sorge, wo du nicht auffhörest zu sorgen, es mocht vns zuletzt die erden verschlingen vnd alle Element verfolgen. Lerestu also den Catechismum vnd glauben? Bete du vnd lasse Gott sorgen, dir ist nichts befolhen, fur mich oder dich zu sorgen […]. Hiemit Gott befolhen, Wir wolten nu fort gern los sein vnd heim faren, wens Gott wolt, Amen. Am tag Scholasticae 1546. Ewer heiligkeit williger diener M.L. Er nennt sie Frau Doctorin, spricht sie liebevoll ironisierend mit dem ehrenvoll distanzierten Ihr an und tadelt sie, weil sie sich so große Sorgen um
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
seine Gesundheit macht. Das Wohlergehen steht eben nicht in der Hand des Arztes oder irgendeines Menschen, sondern in Gottes Hand. Hierauf macht er seine Kethe aufmerksam ⫺ mit subtiler Variation der Anrede und natürlich ohne Wissen um seinen nahen Tod und die hochaktuelle Berechtigung ihrer Sorge.
statt Ihre oder Ihrer. Sagt man Ihro MajestÁt, Ihro Durchl. so sollte doch dafÈr billig ‘Euere’ gesetzet werden, wenn man die Person anredet. Hergegen Wenn man in der dritten Person von ihr spricht; so muß es heißen: ‘Seine’ MajestÁt, wenn es ein KËnig, und ‘Ihre’ MajestÁt, wenn es eine KËniginn ist […] (1762, 329).
Ehrismann (1903/04, 218 f.) liefert eine kleine Liste von Belegen für das Aufkommen und die Schreibvarianten der Verba duzen und ihrzen. Letzteres ist erstmals im Annolied belegt und geht als Verb dem duzen zeitlich voran. Schreibvarianten sind: igizen, iecin (mit gy zusammenhängend), irrzen, ierriezen, irezen, irzen (überwiegend); als Umschreibung: eynen ir, gy heißen; einen uch heißen; eyn hern heißen; eren heysen. ⫺ duzen komme zuerst im Parzival (W. v. Eschenbach) vor, dann auch in folgenden Varianten: tuzen, tautzen, duizen, duozen, düczen, duen, duwen. Als Umschreibung: einem du sprechen, sagen; einen du heissen. Mittellat. ist vobisare (zu vobis) belegt; nach diesem Muster dann auch tibisare. Zum Anredeinventar gehören pronominale und nominale Einheiten. Bisher wurden vorrangig die pronominalen behandelt. Dies läßt sich für die Anfänge und das ganze Mittelalter rechtfertigen, denn da galten neben kaiser, könig die üblichen Bezeichnungen für adlige Rangunterschiede bzw. für Hof- und Verwaltungsämter, zudem die Anreden herre, junkherre, frauwe, frauwelıˆn für Standespersonen. Einzelheiten dieses Bereichs gehören eher in eine Geschichte des Titelwesens als in eine Geschichte der Anrede. Das wird sich im folgenden Kapitel ändern müssen, weil neue pronominale Formen hinzukommen, die sich ohne genaue Kenntnis der erweiterten Nomenklatur im Titelbereich des 16. und 17. Jh. nicht erklären lassen.
Wie dieses fünfstufige Anredepronomen-Inventar bis gegen Ende des 18. Jhs. gesellschaftlich umgesetzt wurde, das geht aus der schon in Abschnitt 1 zitierten Stelle aus Adelungs Grammatik von 1782 hervor. Insbesondere die 3. Plural, „das am meisten zu verwünschende ‘sie’ “, ist dann für Jacob Grimm, den Altmeister der Germanistik, Stein des Anstoßes. Er wundert sich, wie unser Volk „allmälich den unnatürlichsten und verschrobensten formen der rede verfallen konnte?“ „Es ist die schwüle luft galanter höflichkeit in der ganz Europa seinen natürlichen ausdruck preisgab; wir Deutschen aber sind nicht dabei stehn geblieben, sondern haben den widersinn dadurch pedantisch gesteigert, dasz wir nicht einmal die zweite Person in ihrem recht, sondern dafür die dritte eintreten lassen, wozu wiederum das begleitende verbum in die tertia pluralis gestellt wird […]“. „Die steigerung schwer zu sättigender höflichkeit ist freilich nicht aus dem volk, das sich zulängst dawider sträubte, hervorgegangen, sondern ihm von oben, durch die vornehmen stände zugebracht worden.“ (1864, 332⫺334). Höflichkeit kommt von höflich, mhd. hovelıˆch, d. h. ‘wie am Hof üblich’. Der Höfling beherrschte die Hof-Etikette, ein immer strikter werdendes Zeremoniell, zunächst wohl von spanischem Einfluß unter Kaiser Karl V. und danach geprägt, sodann auch von Höfen ähnlichen oder auch minderen Ranges übernommen. Das absolute Gegenbild des Höflings war der dorpaere, wörtlich der Dörfler/ der Bauer. Das ist auch die Bezeichnung für ‘roher Mensch, Tölpel’, franz. villain. Er kennt keine Etikette, keine Verfeinerung der Lebensart und der Sprache, er ist unhöfisch/ unhöflich, weiß sich also nicht hovelich zu gebaren, gehört nicht zur ‘Welt’, die zählt. Der Abstand zwischen ‘oben’ und ‘unten’ ist so groß wie nie zuvor. Höflichkeit ist ein Produkt der Hierarchie, so sieht es auch die neuere Zivilisationsforschung. Hierarchie meint Rangordnung, zunächst priesterliche, dann allgemein weltliche, meint Überordnung, Unterordnung, soziale Abgrenzung, Herrschaft und Untertanenstatus. Sprachliche Höflichkeit ist also so etwas wie verordnete Sprachhierarchie
4.
Frühe Neuzeit (16./17., mit Übergängen in das 18. Jahrhundert)
Im 16. und 17. Jh. verkomplizierte sich die gesellschaftlich geforderte Anrede, analog zu einer Überprofilierung in der Benennung und zusätzlichen sprachlichen Markierung sozialer Ränge. Harsdörffers Anweisung von 1656 wurde schon in Abschnitt 1 zitiert. Gottsched unterscheidet in seiner Grammatik (5. Aufl. 1762, 329) fünf pronominale Anredegrade: natürlich (Du), althËflich (Ihr), mittelhËflich) (Er/Sie), neuhËflich (Sie), ÈberhËflich (Dieselben). Anschließend tadelt er den grammatisch falschen Gebrauch von Ihro und Dero an-
177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel
⫺ wobei es z. T. zweifelhaft ist, ob sie vornehmlich von oben verordnet wurde, oder von unten kam als eine servile Leistung der am Hof Dienenden. Letzteres ist in etwa der Ansatzpunkt von Norbert Elias (1939, 131988). Es ist für ihn die fundamentale Verwandlung von Fremdzwängen hin zu Selbstzwängen, sprich Höflichkeit, bedingt durch die Herausbildung von Gewaltmonopolen an großen Höfen und die damit verbundene ‘Verhöflichung’ des kriegerischen Adels. Das Faustrecht früherer Zeiten tritt zurück, Gewalt wird monopolisiert und das bedeutet Ausbau der Hierarchie. Unter Fremdzwang versteht Norbert Elias die Ungeregeltheit von Machtausübung als tägliche Bedrohung für fast alle, unter Selbstzwang die verzichtende Unterordnung unter eine monopolisierte Gewalt an der Spitze einer hierarchischen Gesellschaftspyramide. Die Spitze, das sind dann in der Blütezeit des Feudalismus die Höfe. Die sprachliche Markierung von Hierarchie an diesen Höfen erschöpft sich nicht allein im Gebrauch von Pronomen und Titel, wie wir noch sehen werden ⫺ es kommen subtile semantische und syntaktische Strategien hinzu. Andere Markierungen verstärken die soziale Klassifizierung, man denke nur an Kleidung, Haartracht, Körperbewegung, Gestik, Konversationsfähigkeit, Jagd-, Fechtund Tanzschulung, an Abfolge- und Sitzordnungen bei öffentlichen Anlässen, überhaupt an alle strikten Protokoll- und Zeremonialvorschriften, die die vergangenen hierarchischen Jahrhunderte hervorgebracht haben (vgl. u. a. Julius Bernhard von Rohr 1728 u. 1733). Wir Heutigen vermögen uns kaum noch eine Vorstellung von der Subtilität der Decorumsvorschriften in absolutistischer Zeit zu machen. Das gilt für den mündlichen und mit zusätzlichen Feinheiten insbesondere auch für den schriftlichen Gebrauch und bezieht sich nicht nur auf korrekte Titulierung, sondern ebenso auf eine absolut stimmige Korrelation von Wortwahl, Syntax, Schriftgrad, Papierqualität, Papierformat, Absatzgestaltung, Distanzwahrung im Briefschluß, Siegelverwendung (nach Größe, Art, Farbe und Plazierungsort) u. a. m., also strikte Korrelation mit den sozialen Rängen. Beetz (1990, 200 f.) hat das sehr instruktiv im Kapitel „Verbale ‘Complimentir-Kunst’ “ herausgearbeitet. Ich übernehme von ihm wichtige Stichworte, weil die Anrede-Strategie über die eigentlichen Anredewörter hinaus tief in die Textstruktur hineinwirkt.
2609
Da ist von der Soziologie des Schriftbildes und der Textpräsentation die Rede (201 f.). Es gibt eine ‘Devotionsschrift’ und entsprechende Nachahmungen im Druckbild. Da können Pronomina und Titel insgesamt Großbuchstaben erhalten, die Größe der Schriftgrade kann statusbezogen variiert werden, gelegentlich auch unterschiedlich nach Generation, wobei wiederum Standes- und Geburtstitel größer geschrieben werden als Amtstitel. Papierformat und -qualität müssen nach Größe und Güte gewählt werden, also an Fürsten und hohe Standespersonen etwa Groß-Folio, selbst bei kurzen Mitteilungen, ansonsten eine vierfache Abstufung hin zu den niedrigen Rängen. Unterschiede gibt es auch in den ‘spatia honoris’, womit entsprechend den Rangunterschieden ‘Ehrenabstände’ gemeint sind zwischen Anrede, Text und Briefschluß, die wiederum hierarchisch gestaffelt bis zu einer halben Seite einnehmen können bzw. müssen. Gekoppelt mit der Variation der Schriftgröße entsteht so allein durch die Art der Textpräsentation ein optisches Bild der Rangverhältnisse und der entsprechenden Reverenzschuldigkeit. Unterschiede sind auch in der Art des Brieffaltens fixiert, ebenso in der Siegelgröße und -farbe (S. 204). Bezüglich der Sprachverwendung ist von einer Sozialsemantik und Sozialsyntax zu sprechen. Die Sozialsemantik betrifft die Lexeme aller Wortarten, schreibt die Courtoisiewörter und deren abgestufte Anwendung genau vor (etwa: allergnädigst/gnädigst/gnädig/hoch geneigt/großgünstig/günstig/willig ⫺ oder in komplementärer Selbstcharakterisierung: Willig/schuldig/gehorsam/unterthänig/ unterthänigst/allerunterthänigst). Wo stilistische Lexemvarianten zur Verfügung stehen, etwa für ‘essen’, für ‘Zutrinken’, für ‘Auffordern’ etc., da ist die rangentsprechende Stilwahl unabdingbar, z. B. in der Reihe essen/ bey Tische sitzen/speisen/Tafel halten; oder: Gesundheit/Wolseyn/dero hohes Wolseyn oder Wolwesen; oder: Begehren/Gesinnen/Wollen/ Gebieten/Befehlen (aus der Sicht der Obrigkeit) bzw. Bitten/Flehen/Ersuchen (von Untertanen). Als Sozialsyntax kann man alle Formen der Distanzgraduierung bezeichnen, die sich auch grammatisch-syntaktisch auswirken, etwa die ich-Tilgung, Bevorzugung indirekter Sprechakte, Dominanz von Konjunktiv und Konditionalis, syntaktische Unterordnung mittels vorangestellter Nebensätze: Kühnheit, daß ich mich unterstehe Ew. Excellence unterthänig zu ersuchen, mir die Gnade
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
zu erzeigen, und auf ein kleines von mir angestelltes Gastmahl in meinem geringen Hause hochgeneigt zu erscheinen (…) (S. 220). Beetz schreibt „Die Satztreppen stehen im Dienst einer raum-zeitlichen, die Annäherung verzögernden Sprachchoreographie“ (221). Es gibt darüber hinaus die Bagatellisierungsregel, die Ablehnungspflicht der Ehrerweisung, die Pflicht des Gegenkompliments, die Demonstration der notorischen Unzulänglichkeit. „Im Barock etabliert sich fest eine Sekundärkonvention der übertreibenden Ehrerbietung, die die primäre Konvention der schuldigen Höflichkeit verdrängt“, so lautet ein Zwischenresümee von Beetz (S. 260). Es mag dienlich sein, das Decorum-Szenario solcher Texte nicht nur zu beschreiben, sondern auch optisch vorzuführen, so weit das im Rahmen eines Handbuches überhaupt möglich ist. Die Wiedergabe des Textbeispiels aus dem Jahr 1745 (s. Abb. 177.1⫺177.4) ist nur in Verkleinerung möglich, aber die Größenabstufungen in den Buchstaben und die ‘Ehrenabstände’ bleiben auch so klar erkennbar. Es handelt sich um einen Widmungstext von sechs Druckseiten im Lexikonformat, gerichtet an Christian August, Fürst zu Anhalt, Herzog zu Sachsen, dem 46. Band von Zedlers Universal-Lexikon (Leipzig und Halle) vorangestellt. Aus Platzgründen werden nur Teile des Anfangs und des Schlusses mitgeteilt. Man wird bei genauer Betrachtung vieles bezüglich der genannten Decorumsmerkmale erkennen, insbesondere auch den hohen, in heutiger Sicht ‘angestrengten’ Sprachstil. In das Kapitel ‘Frühe Neuzeit’ gehört auch die allmähliche Ausbildung (Ende 17. Jh.) und dann die Konventionalisierung (18. Jh.) der Sie-Anrede in der Form der 3. Person Plural. Sie löst die Höflichkeitsanrede mit Ihr (2. Person Plural) ab, die im Mittelalter für Adel und geistliche Herren, später für einen immer größeren Kreis galt. Nur in den Dialekten blieb die Ihr-Anrede weiterhin erhalten. Abgelöst wurde außerdem die damals eher junge Höflichkeits- bzw. Distanzanrede mit Er und Sie der 3. Person Singular (z. B. „Der gnädige Herr, hat Er schon gespeist?“ Entsprechend Sie für die gnädige Frau ...). Die neue Sie-Anrede (3. Plural) im Deutschen kann als Sonderfall im Vergleich mit den meisten Nachbarsprachen gelten, die ja, wie z. B. das Englische und das Französische, bei der Höflichkeitsform der 2. Person Plural geblieben sind.
Wie kam es im Deutschen zu diesem ‘Sonderweg’? Als Nährboden für das neue Sie sind die Titelumschreibungen mittels nominaler Abstracta vom Typ Durchlaucht, Majestät, Hochwürden, Magnifizienz, etc. auszumachen. Sie eigneten sich sehr gut für eine Distanzanrede unter Vermeidung des Anredepronomens Ihr, das trotz seines Höflichkeitscharakters eben doch als zu direkte Anredeform empfunden wurde. Die Abstracta entpersönlichten, sie schufen allemal Distanz. Auf sie konnte man dann auch mittels eines anaphorischen Pronomens verweisen, etwa mit sie bei Feminina im Nom. und Akk. Singular wie Plural. Wenn nun auch das Verb im Plural erschien, so war man bereits der Form nach beim heutigen Sie, wiewohl das ursprünglich auf ein Abstractum referierende sie keineswegs den Status eines Anredepronomens hatte. Es wurde aber generalisierend in diesen Status überführt und entspricht in zweifacher Hinsicht den von amerikanischen Linguisten herausgearbeiteten Prinzipien sprachlich-gesellschaftlicher Markierung: ‘Power is Number’ (= Plural) und ‘Non-intimate is Third’ (= 3. Person = Indirektheit, Distanz). Man vgl. dazu Listen (1999, Kap. 2.3), der hier an kognitive und soziolinguistische DeixisKonzepte (anaphorische, personale, räumliche, soziale) aus den letzten Jahren anschließt. Unser heutiges Sie hat also gegenüber dem schon pluralischen Ihr die Komponente ‘Indirektheit’ hinzugewonnen. Späterhin dann, als die Abstracta-Anrede zunehmend aus der Mode kam, wurde es als direktes Anredepronomen empfunden, wiewohl es ursprünglich ein rückbezügliches (anaphorisches) Pronomen war. Für die genauere Kenntnis der AnredeEntwicklung von 1500⫺1800 ist die materialreiche Monographie von Metcalf (1938) immer noch unentbehrlich. Listen (1999) konzentriert sich ausschließlich auf die Entstehung des neuen Sie der 3. Person Plural und arbeitet dabei zum ersten Mal auf diesem Feld mit einem hochdeutschen und einem niederdeutschen Textkorpus beachtlichen Umfangs. Er kann u. a. zeigen, daß das auf ein Abstractum bezogene sie auch singularisch (3. Person Fem., Nom. und Akk.) verwendet und mit der Verbform im Singular verbunden wurde. Der später obligatorische Verbplural bildete sich erst allmählich heraus. Das Kapitel ‘Frühe Neuzeit’ kann nicht abgeschlossen werden ohne einen Blick auf die Anrede Juden gegenüber zu werfen. Es ist ein fast durchgehender Zug in den Formular-
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büchern der frühen Neuzeit, daß sie den Juden die Höflichkeitsanrede verweigern. Mitte des 16. Jhs. klingt das so: Item der Christ soll in seinen gschrifften kain Juden yrtzen/angesehen das aller Adel vnder jnen ausgereut ist [unter ihnen ausgerottet ist]. All ander glauben mag man eben dißgleichen halten/außgenommen die Edlen vnder den Saracener (…) etc. Mag man mit gezymm yrtzen. (Breunle 1546).
Unter den Juden gibt es keinen Adel mehr, so ist die Begründung, daher die Verweigerung der Höflichkeitsform. In gleicher Weise werden auch sonstige Andersgläubige sprachlich ausgegrenzt durch die Verweigerung der Höflichkeitsanrede mit Ihr, mit Ausnahme der Edlen unter den Sarazenen, etc. Das steht auch schon so bei Hug (1532), der aber die Ablehnung noch genereller formuliert: Den Juden oder vnglaubigen/Bedarff oder soll man kein dienst oder gru˚ß schreiben/ auch kein liebs oder gu˚ts. […] Wol mag ein Christ einem yeden Juden oder vnglaubigen/zu anfang seiner Missiue schreiben also. Wolt Got/das dein blindtheit erleücht wer im e rechten glauben. Item/Got woll erleüchten dein blindtheit. Item/Got geb dir zulernen den rechten glauben.
Das sind Vorschläge für drei konfrontative Briefanfänge mit der Du-Anrede, und zwar für Briefe an Juden bzw. Ungläubige. Alle Höflichkeit ist außer Kraft gesetzt. Meichsner (1538) fügt hinzu: „Dann [= denn] die Juden als jhenige/so Christum vnsern heiland enteret [entehrt haben]/sind dess nit wirdig …„ Selbst noch 1787, also schon in der Goethe-Zeit, notiert ein Beobachter (Anonymus): Gemeine Juden müssens noch fast überall leiden, daß sie durch Du erniedrigt werden. Der Knecht und die Magd kanns ressentieren, d. i. füglich Empfindlichkeit darüber auslassen, wenn ihm das drükkende Du aufgehalset werden will; aber der Jude nicht.
Wie oft wird schließlich im sog. Dritten Reich jüdischen Menschen die Höflichkeitsanrede verweigert worden sein ⫺ zusätzliche Demütigung zu allem sonstigen unermeßlichen Leid!
5.
Vom adligen zum bürgerlichen ‘Decorum’ (18.⫺20. Jahrhundert)
Die Entwicklung vollzieht sich in langen Übergängen, zudem teilweise auch zeitverschoben in Adel, Bürgertum und ‘gemeinem’
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Volk. Das ‘Nebeneinander’ charakterisiert vor allem noch das ganze 18. Jh. Aber bestimmte Verschiebungen von einer strikten Sozialrang-Anrede zu einer Anrede, die menschliche Beziehungsverhältnisse markiert, also ‘Gemütszustände’, wie auch gesagt wird, solche Verschiebungen treten immer deutlicher heraus. In Georg Christoph Lichtenbergs (1742⫺ 1799) „Lob der Mannigfaltigkeit“ deutscher Anrede, gerichtet gegen den Spott der Engländer und Franzosen, ist diese Verschiebung deutlich greifbar. Es scheint gerechtfertigt, dieses Zeugnis zeitgenössischen Anredegebrauchs im Wortlaut wiederzugeben: Es ist ein recht Favorit-Spott der Ausländer, zumal der Engländer und Franzosen, über unsere Sprache, daß sie sagen es sei törigt von uns gehandelt zu Einer Person bald Du, bald Er, bald Ihr, bald Sie zu sagen […] Es ist allemal hart und unbillig verjährten Sprachgebrauch, den der Weiseste nicht mehr ändern kann, eine Torheit zu schelten und fast unverzeihlich wenn eben in diesem Sprachgebrauch sehr viel mehr verborgen läge als sich manche Tadler vielleicht vorstellen. Der Tadel kann sich nicht darauf beziehen, daß wir eine Person so anreden als wären es mehrere, denn das tun jene Nationen selbst, er beziehet sich also entweder auf unsre größere Mannigfaltigkeit hierin, oder darauf daß wir, um diese Mannigfaltigkeit zu erhalten, die Personen die wir anreden, auch als Dritte betrachten, in dem wir Er und Sie sagen […] Dafür können wir nun aber auch mit unserm Du, Er, Ihr, Sie, mit einer einzigen Silbe Verhältnisse von Menschen ausdrücken, wovon der Engländer und Franzose gar keinen Begriff hat oder wenigstens keinen bestimmten, weil ihm das Zeichen dazu fehlt. Sie sehen es auch alle ein, so bald sie die Sprache vollkommen verstehen, zum sichern Beweis, daß der Tadel sich auf Unwissenheit gründete, oder auf Trägheit eine Schwierigkeit zu überwinden. Echt-Deutsche Romane sind daher diesen Nationen unübersetzbar. Ich mögte wohl wissen wie sich der Engländer die Verachtung ausdrücken wollte, die das Er mit sich führt, wenn ein Vorgesetzter zu jemanden, zu dem er sonst im Dienst Sie zu sagen pflegte, nun da er ihn auf einem Betrug ertappt, mit Er anredet, das kaum vor der völligen Überführung angeht und schon zur Strafe gehört. Oder wenn Leute von Stand in Streit geraten, und einer den andern fragt: hör er was will er? oder von der andern Seite das liebreiche scherzende Er zwischen Personen die sich gewöhnlich duzen, ferner die mannigfaltige Treuherzigkeit in unserm Ihr? Ja selbst das seelenverbindende Du, wenn es zumal zwischen Personen von verschiedenem Geschlecht aus dem Sie erwächst, ist für ihn verloren, denn sein Thou ist entweder feierlich wie im Gebet, oder dichterisch oder drolligt oder quäkerhaft. Er muß sich mit Umschreibungen helfen, aber das Um-
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schreiben haben wir alsdann entweder zu gut, oder können es im Fall der Not auch, so gut als die Ausländer und die Wilden (Bd. 3, S. 401/402).
Auch Friedrich Gedike sieht in seinem Vortrag 1794 vor der Berlinischen Akademie der Wissenschaften Vorteile darin, „wenn eine Sprache mehrere Formen der Anrede hat; nur muß sie deren nicht so viel haben, als bisher die Deutsche hatte.“ Die Mannigfaltigkeit ⫺ um mit Lichtenberg zu reden ⫺ steht zwar nun auch dem Bürgertum zur Verfügung, aber Gedike ist der Meinung, daß die Mehrheit dieser Formen weniger zur Bezeichnung der zu vielfachen bürgerlichen Verhältnisse, als vielmehr zur genaueren Bezeichnung des weniger mannigfaltigen Gemütszustandes, worin sich der Redende gegen den Angeredeten befindet, bestimmt war, oder doch bestimmt sein sollte. Ich glaube daher, daß es vorteilhaft für eine Sprache ist, wenn sie wenigstens zwei solcher Formen hat. Die eine als Sprache des Herzens, die andere als Sprache des Verstandes … Es ist ein wahres Glück, daß unsere Sprache die Form des Du nicht gänzlich ausgestoßen … (1794, S. 44 f.)
Daß diese Gefahr auch für das Deutsche bestand, vergleichbar mit England, hat neben anderen insbesondere Finkenstaedt (1963) gezeigt. Mihm (1995) stellt fest, daß in der Duisburger Stadtsprache zu Beginn des 16. Jhs. ein kompletter Du-Schwund stattgefunden haben muß. Theodor Frings hatte schon früh Ähnliches vermutet und einen Zusammenhang zwischen dem Schwund der 2. Person Singular in England und (teilweise?) in den Niederlanden gesehen (s. Mihm S. 237). Gedike nahm das Du für die „Sprache des Herzens“ in Anspruch, und das wäre sicher ohne den Einfluß der ‘Sturm und Drang’-Bewegung nicht so ohne weiteres möglich gewesen. Da nämlich kam es zu einer Aufwertung und Intensivierung des Du-Gebrauchs, verbunden mit einem Freundschaftskult und mit der Abkehr von einzwängender Etikette. Dies hat ohne Zweifel dem Du neuen Raum verschafft. Eines der anrührendsten Zeugnisse für ein Du der Freundschaft und des Seelenadels findet sich in Schillers ‘Don Carlos’ (1787), 1. Akt, 9. Auftritt: Carlos. Und jetzt noch eine Bitte! Nenn mich du. Ich habe deinesgleichen stets beneidet Um dieses Vorrecht der Vertraulichkeit. Dies brüderliche Du betrügt mein Ohr, Mein Herz mit süßen Ahnungen von Gleichheit. ⫺ Keinen Einwurf ⫺ Was du sagen willst, errat ich. Dir ist es Kleinigkeit, ich weiß ⫺ doch mir,
Dem Königssohne, ist es viel. Willst du Mein Bruder sein? Marquis. Dein Bruder! Carlos. Jetzt zum König. Ich fürchte nichts mehr ⫺ Arm in Arm mit dir, So fordr’ ich mein Jahrhundert in die Schranken. (Sie gehen ab)
Der Rangunterschied zwischen dem Königssohn und dem Marquis von Posa erlaubt zunächst nur das Du nach unten, nicht nach oben. Die gemeinsame Entscheidung für den Freiheitskampf beseitigt dann aber die Schranke und macht beide gleichsam ‘ebenbürtig’. Hier ist das Du die Besiegelung eines Geistes- und Seelenbundes, eine Auszeichnung und nicht eine Verachtung wie im Nibelungenlied. Das bürgerliche ‘Decorum’ umschloss zwar nicht die Abstracta-Anrede, aber doch die Höflichkeitspronomina Sie und z. T. auch Ihr, ebenso die nominalen Anredeformen mit Herr, Frau, Fräulein. Es dauerte aber noch lange, bis schließlich allen sozialen Gruppierungen unterhalb des Adels gleichermaßen das Sie und die Herr ⫺ Frau ⫺ Fräulein-Anrede zuerkannt wurden. Einige Zeitzeugnisse mögen das belegen, zuerst für die Pronomina, dann für die nominale Anrede. Kurz nach dem Siebenjährigen Kriege beschwerte sich ein brandenburgischer Rittergutsbesitzer bei Friedrich dem Großen, daß die Steuerbehörde ihn mit Du anrede. Diese Beschwerde veranlaßte die Regierung im Jahre 1764 zu einer Erhebung darüber, welche Anredeformen in Preußen gebräuchlich wären. Es wurde dabei festgestellt, daß, je weiter man nach dem Osten kam, um so häufiger das Du war. In den westlichen Landesteilen wurde es außer im engsten Kreise und zu Dienstboten überhaupt nicht mehr gebraucht. In Brandenburg und Pommern wandten es die Behörden in Schreiben an Bauern, Bürger und Adlige ohne Titel stets an. In Ostpreußen war es allgemein üblich. Nur Grafen und Doktoren redete man hier mit Ihr an. Seit dieser Zeit fiel das Du in behördlichen Schreiben fort. Das Ihr dagegen hielt sich noch bis in die große Zeit der Stein-Hardenbergschen Reform, also etwa bis 1810. Von da ab gab es nur noch die beiden Anredeformen Du für nahestehende Menschen und Sie für alle übrigen, das heißt also eine Form, die dritte Person der Mehrzahl, die sich in keiner andern Sprache findet. Beim Militär ersetzte man das Sie durch den Titel, beließ aber unlogischerweise das Zeitwort in der Mehrzahl (Haben Herr Kapitän gerufen?). (Selchow 1936, S. 160).
Der gemeine Soldat wurde bis zu den Freiheitskriegen (1813⫺1815) mit Du oder Er angeredet. Für die vielen Freiwilligen, die damals dem königlichen Aufruf folgten, sollte
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aber per Verordnung das höflichere Sie gelten. Dieses wurde dann auf alle Soldaten ausgedehnt und 1867 auch in Bayern und Österreich eingeführt (vgl. Eckstein 1869, S. 487). Der spätere Dichter Johann Heinrich Voß (1751⫺1826) fühlte sich als Fünfzehnjähriger, also 1766, durch die Ihr-Anrede in der Lateinschule gedemütigt. Nach 50 Jahren erinnerte sich Voß in folgender Weise: Dies anschnarrende Ihr schien dem beklommenen Fremdling ein gar trostloser Empfang; weil das Ihrzen damals nur noch in den strengsten Verhältnissen der Dienstbarkeit üblich war, außer welchen selbst der Geringste es für beleidigend, für entehrend hielt und lieber ein vertrauliches Du hörte (vgl. Heuer 1993, S. 18).
Andererseits ist die Ihr-Anrede fast 100 Jahre später in einem warnenden Aufruf deutscher Behörden an auswanderungswillige Landsleute offenbar noch üblich: Deshalb prüfe sich doch Jeder recht gewissenhaft, ehe er den Entschluß zum Auswandern faßt. Hört um Gotteswillen nicht auf sogenannte gute Freunde, die Euch das Leben in Amerika und Australien nicht schön genug schildern können. Wenn Ihr gründlich nachfragt, so werdet Ihr finden, daß sie entweder selbst nur vom Hörensagen sprechen, oder daß es verkappte Agenten für die Schiffs-Expedienten sind, die von Euch gerne ihre Provision verdienen möchten. Traut auch den Briefen nicht immer, die angeblich von Verwandten und Freunden von dort hierher geschrieben werden. Diese sind, so unglaublich es klingen mag, sehr oft erlogen … Berlin, den 15. März 1852 (s. Aufruf … 1852).
Eine 1786 anonym erschienene Schrift propagiert das Eheleute-Sie und glaubt feststellen zu können, daß es sich im kultivierten Leben und auch in der Ehe durchgesetzt habe und daß das aussterbende Du „dem Pöbel, der Verschwisterung und der Kindheit überlassen“ bleibe (vgl. Anonymus 1786). Sicherlich muß man das alles auch im Zusammenhang mit dem großen Einfluß der französischen Sprache und Kultur in damaliger Zeit sehen. Wenige Jahre später ⫺ allerdings nach der Französischen Revolution ⫺ meldet sich aber auch eine kritische Stimme gegen das Eheleute-Sie, bestätigt aber zugleich die zuvor geschilderte Praxis: Die Sitte, daß selbst Eheleute in den höhern Klassen, statt des zutraulichen, herzlichen und die Herzen gegenseitig nähernden Du sich der kalten, entfernenden, zurückstoßenden Form des Sie bedienen, leidet in unserem Zeitalter selbst bei den höchsten Ständen, schon immer mehrere Ausnahmen (Gedike 1796, S. 314 f.).
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Offensichtlich ist aber die ‘zurückstoßende’ Höflichkeitsform den Ehen und Familien nicht grundsätzlich abträglich, wie man etwa in Teilen der französischen Gesellschaft bis heute sehen kann. Auch das familiäre Du zwischen Kindern und Eltern war im 18. Jh. nicht generell gültig, schon gar nicht in den oberen Ständen. Dafür gibt es genügend Zeugnisse für unsere und für andere Sprachen. Selbst im Bürger-, Bauern- und Handwerkerstand herrschte Autoritätsdistanz und entsprechend die Höflichkeitsform der Anrede, vor allem dem Vater gegenüber. In ländlichen Gegenden ist das Ihr für die Eltern noch aus den Erzählungen der Großelterngeneration bekannt. So wird es nicht völlig verwundern, daß 1811 noch eine Schrift mit folgendem Titel erscheinen konnte: „Ueber die Sünde des Du und Du zwischen Eltern und Kindern.“ (vgl. Eckstein 1869, S. 486). Beklagt wird, daß das „Du und Du zwischen Eltern und Kindern die natürliche Rangordnung erschüttert habe.“ Es muß in den ersten Jahrzehnten des 19. Jhs. rasch um sich gegriffen haben. Das beobachtete man auch vom Ausland her. So berichtet der Verfasser einer ‘Grammar of the German Language’ 1800 in der ersten Auflage, daß Kinder im allgemeinen den Eltern gegenüber das höfliche Sie verwenden, fügt aber in der dritten Auflage 1816 die Beobachtung hinzu, daß sich das inzwischen leider geändert habe: „I found, in my last visit to Germany, since writing the above, that this practice of speaking, between children and parents, [nämlich Du anstatt Sie] had very much gained ground, and was, in some parts, almost becoming general. I am among those, who do not approve it. (Vgl. Noehden 1816, S. 206). Die nominalen Anreden Herr, Frau und Fräulein sind herrschaftlicher Herkunft, wie schon in 1. angemerkt. Nur mit diesem Wissen kann man Gretchens Antwort auf Fausts Anrede richtig verstehen: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“
Die Antwort ist: „Bin weder Fräulein, weder schön. kann ungeleitet nach Hause gehn.“ (Faust I, 1808).
Fräulein ist für sie noch eine Kennzeichnung höheren Standes, für sie nicht zutreffend. Auch der Sprachduktus Fausts mußte in den Ohren einer jungen Frau aus dem Volk ziemlich ‘oberschichtlich’ klingen.
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Wann fand der Wandel von einer höheren Standesbezeichnung zur Allerweltsbezeichnung (Herr, Frau, Fräulein) statt? Es lassen sich nur Stufen feststellen, keine abrupten Umbrüche. Die Entwicklung beginnt ansatzweise in der frühen Neuzeit. Für die Zeit Anfang des 19. Jhs., also etwa zeitgleich mit Faust I, liefert das Wörterbuch von Campe, Stichwort ‘Herr’, folgende ‘Momentaufnahme’: Ehemals führten nur Personen von hohem Adel den Namen Herr (…). Nach und nach aber wurde es eine Benennung jeder männlichen Person von Adel, wie auch jedes Gutsherrn und selbst jedes Hausherrn, welcher von den Unterthanen und dem Gesinde, auch vorzugsweise nur der Herr genannt zu werden pflegt. Die Gattin eines solchen Herren wird zwar gewöhnlich Frau genannt, doch aber auch Herrinn. (…) Auch die Glieder des Rathes, die obrigkeitlichen Personen werden in den Städten oft nur die Herren genannt. Dann nennt man überhaupt auch jede männliche Person von einigem Ansehen einen Herren. Ein guter, alter Herr. Ein junger Herr. (…) In weiterer Bedeutung ist Herr ein bloßer Titel, welcher allen männlichen Personen von einigem Stande beigelegt wird, und welchen man sowohl ihrem Namen, als auch dem Worte, welches ihre Würde, ihren Stand oder ihr sonstiges Verhältnis bezeichnet, vorsetzt. Herr Beyer. Herr Becker. Der Herr Graf von N. (…). Der Herr Pfarrer. Der Herr Verleger (…) In dieser ganzen Bedeutung, wenn Herr als Titel gebraucht wird, ist im ähnlichen Falle beim weiblichen Geschlechte das Wort Frau gewöhnlich (…) In noch weiterer Bedeutung nennt man Herr jede erwachsene Person männlichen Geschlechts, die nur nicht ganz niedrigen Standes sein darf, sonst ohne Rücksicht auf Stand, Rang, Ansehen, Alter, etc.
Heute fällt diese letzte Einschränkung fort, wie nicht anders denkbar in einem demokratischen Staat. Auch die Sportarten sind herren-, nicht männerdominiert, die Frauen mußten da allerdings den Damen weichen (Damentennis, Herrentennis, etc.). Frau und Dame (von frz. dame aus lat. domina) sind ursprünglich eigentlich völlig gleichbedeutend; Dame erhält aber im 17./18. Jahrhundert einen gewissen gesellschaftlichen Mehrwert, bedingt durch den starken französischen Einfluß. Das hat schon in der Barockzeit die Verteidiger der deutschen Sprache auf den Plan gerufen. Sie führten Dame nicht auf domina zurück, sondern auf ein mittellateinisches dama mit der Bedeutung ‘stinkende Bergziege’. Redensarten-Weisheit erinnert noch an die ältere Bedeutung unserer heutigen RoutineAnreden: „Spielt die Frau die Närrin, so
spielt die Magd die Herrin.“ Oder die semantisch tiefsinnige Wendung: „Wer eine Frau nimmt, der nimmt einen Herrn.“ (Wander, 1867, Bd. II, S. 654/655). Den Stand der Anredekonvention im Deutschen um die Mitte des 20. Jhs. kann man schließlich in den Hauptlinien etwa so beschreiben. Ich berichte im Präsens: Als Anredepronomen gelten Du und Sie, die sich in bestimmter Weise mit den Vornamen und Familiennamen kombinieren, sodann mit Frau, Herr, Fräulein, zusätzlich mit Titeln, z. T. in bestimmter Reihenfolge, alles wiederum auch unterschiedlich in unterschiedlichen Situationen und Konstellationen. Die Grundverteilung von Du und Sie wird bestimmt durch ‘vertrauliche’ versus ‘höflichachtungsvolle’ Anrede. Man duzt sich in der Familie, zwischen Verwandten, Freunden, Jugendlichen; Erwachsene duzen Kinder. Tiere erhalten das Du, aber auch Gott, die ‘heiligen’ Gestalten der Bibel, die Heiliggesprochenen der Kirche. Du gilt auch für Dinge (Sonne, Erde, etc.) und Abstracta (Güte, Freude, etc.), auch für die Anrede von Toten bei Beerdigungen ⫺ da ist Sie nicht denkbar, aus welchen Gründen auch immer. Gruppen, die sich durch entscheidende Gemeinsamkeiten verbunden fühlen, haben schon immer das Du gewählt. So war es in der Arbeiterklasse mit ihrem ‘SolidaritätsDu’, das später in die SPD und die Gewerkschaften übernommen wurde. Das galt und gilt aber auch für Vereine, Sportgruppen, Verbindungsstudenten, Bergsteiger, Soldaten, kurz für vielerlei Gruppierungen, die über eine gewisse Zeit oder generell enger zusammengehören. Asymmetrie in wechselseitiger Anrede ist jetzt, gegenüber früheren Jahrhunderten, selten. Sie existiert noch im Kind-/Erwachsenenverhältnis: Erwachsene duzen Kinder, wie schon erwähnt; Kinder aber werden angehalten, fremde Erwachsene zu siezen. Von kleinen Kindern erwartet man das allerdings noch nicht. Formen einer sozial bedingten Anrede-Asymmetrie treten kaum noch auf, Gemeint ist damit das Du von oben nach unten, gekoppelt mit dem Sie von unten nach oben, etwa im Verhältnis Herrschaft/Bedienstete. Der Übergang von Sie zum Du bei Erwachsenen, also Anredewechsel, unterliegt gewissen Regeln, deren Anwendung Sensibilität erfordert. Wer darf wem wann und warum das Du anbieten? ‘Brüderschaft trinken’ besiegelt den Wechsel vom Sie zum Du
177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel
unter gleichzeitiger ritueller Umarmung. Die Aufkündigung eines Duz-Verhältnisses wiederum kommt nach Weinrich (1993) einem feindseligen Akt gleich. Man kommt leichter von Sie zum Du als vom Du wiederum zum Sie. Anderer Art ist der Übergang von Du zum Sie gegenüber Jugendlichen, die allmählich in das Erwachsenenalter eintreten. Die Schule sieht den Einschnitt mit dem Eintritt in die Oberstufe (des Gymnasiums) gegeben, also etwa mit 16 Jahren. Von da ab wird zum Sie gewechselt, zum Sie der Mündigkeit wie man es auch genannt hat. Für die Koppelung von Anredepronomen und Nominalbereich gilt: Du verbindet sich mit Vorname, Sie mit Familienname und/ oder mit Titel. Bei Titelnennung mit vorangestelltem Frau/Herr kann der Familienname wegfallen. Das sind die Grundmuster der pronominal-nominalen Kombinationen. Die nominale Überprofilierung der Anrede, etwa im 17. und auch noch im 18. Jh., ist aufgegeben. Eine gewissen Ausnahme gilt für den diplomatischen Bereich, für die römisch-katholische Kirche, teilweise auch für die Universität. Für Einzelheiten wird auf den „Ratgeber für Anschriften und Anreden“ verwiesen, herausgegeben vom Bundesministerium des Innern, Protokoll-Referat. Das Studium der bisher fünf Auflagen (1975, 1979, 1990, 1993, 1995) und ihrer Änderungen ist interessant und zugleich auch aufschlußreich hinsichtlich des Entwicklungstrends. Beispiele und erste Analysen finden sich in Besch (21998, S. 17 f.). Hier einige Anredebeispiele: Mit Exzellenz werden angeredet: der Nuntius (als ständiger diplomatischer Vertreter des Papstes bei einer Staatsregierung), alle Botschafter, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, der Generalsekretär des Nordatlantikpakts, alle Bischöfe und Erzbischöfe der katholischen Kirche. Kardinäle erhalten die Anrede Eminenz. Die Titulierung für Rektoren und Präsidenten der Hochschulen ist Herr Rektor, Herr Präsident, bzw. die entsprechende weibliche Form. In einigen Universitäten sieht deren Verfassungen die Anrede Magnifizenz für den Rektor und Spektabilität für den Dekan einer Fakultät vor. Auch die Briefmuster für Anrede und Briefschluß weichen in den genannten Bereichen z. T. erheblich von dem üblichen Gebrauch ab.
Dies sind die Grundlinien deutscher Anredekonvention, wie sie sich im 19. Jh. allmählich stabilisierte und bis in die 60er Jahre des 20. Jhs. generell akzeptiert war. Dann setzte die Studentenbewegung der 1968er Jahre ein.
2619
Deren Änderungsanstöße sind nun auf der Hintergrundfolie der soeben skizzierten Anredekonvention aufzuzeigen.
6.
„Vom Sie zum Du ⫺ mehr als eine neue Konvention?“ Wandel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Die hier als Überschrift gestellte Frage hatte 1989 den Rang einer Preisfrage der ‘Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung’. 49 Beiträge gingen ein; den Preis erhielt Heinz Leonhard Kretzenbacher (1991), ein zweiter Beitrag von Wulf Segebrecht wurde in der Publikation von 1991 als Anerkennung mit abgedruckt. Endgültige Antworten werden in diesen beiden Schriften verständlicherweise nicht geliefert, aber eine Fülle von feinen Beobachtungen hinsichtlich Gewinn und Verlust und insbesondere auch hinsichtlich der mit beidem verbundenen Irritationen. Die Anstöße zur Änderung der geltenden Anredekonvention kamen gegen Ende der 1960er Jahre eindeutig von den Hochschulen. Die neuen Signale waren Titelverweigerung und Du-Expansion (vgl. Besch 21998, S. 20⫺ 28). Die Titelverweigerung [z. B.] Herr X statt Herr Professor (X)] wurde anfänglich stark als Affront empfunden und war auch so gemeint. Späterhin verlor sie ⫺ auch im Blick auf ausländische Vorbilder ⫺ zunehmend ihr Affront-Potential. Letztlich fügt sich Titelreduzierung irgendwie in den großen Entwicklungsbogen der Status-Markierung ein ⫺ vom barocken Exzeß bis zur modernen Informalisierung. Als wesentlich wirkungsmächtiger erwies sich allerdings die Du-Expansion. Sie hat in wenigen Jahren die Studierenden aller Hochschulen erreicht. Bis gegen Ende der 1960er Jahre siezte man sich in der Studentenschaft, ausgenommen ehemalige Mitschüler, Mitglieder von Vereinigungen, z. T. auch Sport- und Geographiestudenten, Laborgruppen. Es gab also keinen universitären Sonderstatus in der Anrede. Das hat sich dann von einem Jahr zum andern geändert. Augst (1977, S. 15) beobachtete das in seinen Seminaren an einer westdeutschen Universität: Im WS [= Wintersemester] 70/71 duzten sich wenige Studenten untereinander. Diese waren Verwandte, ehemalige Mitschüler, Studenten mit Zweitfach Geographie oder Sport, Studenten, die „linken“ Studentenvereinigungen angehörten. Im WS 72/73 duzten sich alle Studenten des Seminars mit Ausnahme einer etwas älteren Kommi-
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
litonin (1. Fach Theologie), die allen das „Sie“ gab und von allen gesiezt wurde. (Eine Reihe von „progressiven“ Assistenten der Politik, Psychologie und Soziologie duzten sich mit ihren Studenten). Im WS 73/74 duzten sich alle Studenten des Seminars ohne Ausnahme. Als ich ihnen berichtete, daß vor drei Jahren noch die meisten Studenten sich siezten, erschien ihnen das höchst lächerlich. Nicht ganz ohne Entrüstung berichteten sie, daß es noch Studentengruppen gebe, die untereinander das „Sie“ gebrauchten, z. B. die kleine Gruppe der Geologie- und Altphilologiestudenten.
„Nicht ganz ohne Entrüstung …“, so heißt es, wird das Festhalten kleiner Gruppen an der ‘alten’ und außerhalb des Hochschulbereichs immer noch gültigen Anredekonvention registriert. Hier wird mit einiger Entrüstung ein Du eingefordert, ein solidarisches Du der Studierenden. Das Du wird zum Erkennungszeichen. Wer es benutzt, gehört dazu, zum ‘progressiven’ Teil der Studentenschaft, ähnlich wie das Du die Zugehörigkeit etwa zu links orientierten Parteien und Verbänden signalisiert. Das Du als Ausdruck von Solidarität! So wurde es auch in den ersten Jahren der Studentenbewegung stark emp-
funden. Wer sich ausschloß, mußte mit unduldsamer Ablehnung rechnen. Das Nebeneinander von alter und neuer Konvention war konfliktträchtig. Es gab ja jetzt zweierlei Du und Sie nebeneinander, wenigstens an den Hochschulen. In welcher Konvention wurde man angeredet, welche benutzte man selbst? Bayer (1979, S. 15) spricht von semantischen Konflikten und macht das anhand zweier Tabellen plausibel (s. Abb. 177.5). ‘Formalität’ versus ‘Intimität’ grenzen das Sie der Möglichkeit 1 (= die alte Konvention) gegen das Du ab. Im neuen System (= Möglichkeit 2) sind die Orientierungspole für Sie und Du dagegen ‘soziale Distanz’ und ‘Solidarität’. Damit verbindet sich eine gewisse soziale Brisanz, die so in der Möglichkeit 1 nicht angelegt ist. Wenn Möglichkeit 1 und 2 gleichzeitig in einer Kommunikationssituation benutzt wurden, so mußte es unweigerlich zu Mißverständnissen kommen. Das war häufig der Fall, entsprechend nahm die Anrede-Verunsicherung zu und ist auch heute noch gegeben. Es hat sich ja nicht nur das Du
Die Anredepronomina Du und Sie Möglichkeit 1 (M 1) Verwendung
Anredeform
richtet sich an:
drückt aus:
semantische Dimension
Standardanrede
SIE1
prinzipiell alle Kommunikationspartner mit Ausnahme intimer Bekannter
Akzeptieren des Gegenüber als mündiger Mitbürger u. Rollenträger
Formalität
differenzierende Alternative
DU1
intime Bekannte und Freunde
in der Interaktion individuell erworbene Intimität mit dem Angesprochenen
ƒ √ √ √ √ √ √ √¬ √
Intimität
Möglichkeit 2 (M 2) Verwendung
Anredeform
richtet sich an:
drückt aus:
semantische Dimension
Standardanrede
DU2
alle Mitglieder einer Bezugsgruppe, in der Solidarität besteht oder erwünscht ist
Solidarität, Gruppenzugehörigkeit, Interessen- oder Meinungsübereinstimmung
Solidarität
differenzierende Alternative
SIE2
Inhaber höherer soz. Positionen, Mitglieder anderer Gruppen mit anderen Interessen oder Auffassungen
Distanz, Nicht-Solidarität, Konfrontation mit gesellschaftlich bestimmter Rollenstruktur
Abb. 177.5
ƒ √ √ √ √ √ √ √¬ √
soziale Distanz
177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel
verändert, wie man landläufig meint, sondern natürlich auch das Sie. Das Sie2 hat eine andere Qualität als das Sie1. Es hat gewissermaßen seine ‘Neutralität’ verloren. Inzwischen liegt über ein Vierteljahrhundert zwischen dem Aufbruch der Studentenbewegung und heute. Das studentische Du hat sich vollständig durchgesetzt und ist unangefochten bis heute geblieben. Es fand Sympathie und weitgehend Nachahmung in anderen Bereichen jugendlicher Ausbildung und in der Freizeitgestaltung. Zur Anredeform für alle, wie etwa in skandinavischen Ländern, ist es nicht geworden. Auch hat es die anfänglich stark ideologisch-solidarische Markierung weitgehend verloren, wie heute aus vielen Äußerungen junger Leute hervorgeht. Es ist sozusagen die Fortsetzung des Schüler-Du, selbstverständliche Anrede zwischen Personen jüngeren Alters (bis etwa 30⫺ 35?), nun allgemein üblich, nicht nur an Hochschulen. Anderes kennen sie nicht. Im Altersübergang und im Übergang zu anderen Alltags- und Berufsbereichen ergeben sich dann allerdings weit mehr Unsicherheiten und gelegentlich auch Konflikte, als dies nach dem alten Modus der Fall war. Entsprechende Hinweise finden sich im Kapitel „Alltagsstudien“ in Besch 21998, S. 45⫺86. Die neue ‘Duz-Kultur’ wurde an einigen Hochschulen ebenfalls von Dozenten und Professoren übernommen, nicht nur im Kollegenkreis, sondern, mit wechselseitigem Du auch den Studierenden gegenüber. Vielfach waren es neuberufene ehemalige Assistenten, die schon vom Alter her den studentischen Anliegen nahestanden. Das Du wurde auch in Prüfungen beibehalten und erregte an dem einen oder anderen Ort behördliches Mißfallen wegen des Verdachts der Befangenheit. Im Grunde waren diese Professoren fasziniert von der Semantik der Solidarität, sie wollten Brücken bauen, Chancengleichheit befördern, Hierarchien abbauen. Aber ⫺ kann ein programmatisches Du die Differenzierungen der Wirklichkeit aufheben, Positionsunterschiede annullieren, Gleichheit bewirken? Schon die Französische Revolution (1789⫺ 1794) hat das Du (tu) propagiert. 1793 wurde ein Duz-Dekret erlassen, das alle republikanisch gesinnten Franzosen verpflichtete, sich ohne Unterschied zu duzen („de tutoyer sans distinction“, vgl,. Brunot 1967, 10, 2 S. 691 und Besch 21998, S. 27 u. Anm. 13). Auch in der kurzlebigen Mainzer Republik ging man in einer Bekanntmachung 1792 gegen devote Anrede-Markierungen sozialer Rangunter-
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schiede an (vgl. Herrgen 1990, S. 10 und Herrgen 2000). Und heute, wofür steht das Professoren-Du? So fragte ein ‘Unverdächtiger’, ein Bremer Hochschullehrer, der selbst bis 1984 die Duz-Kultur lebte (vgl. Amendt 1995). Er hält es für „eine Illusion anzunehmen, daß Gesellschaften sich ohne Bewertungen organisieren könnten“ (S. 37). Diesen Eindruck vermittle aber gewollt/ungewollt das solidarische Professoren-Du, insbesondere dann auch bei Prüfungen. Er sieht in diesem Du ein Leistungshemmnis, eine Hinderung kritischer Intellektualität, eine Form der Lebenstäuschung. Amendts Büchlein ist eine interessante, biographisch reflektierte Studie über gewisse Hochschul-Befindlichkeiten der 1970er und 1980er Jahre, insbesondere in den Geisteswissenschaften. Die Duz-Welle der geschilderten Art war westdeutsch bestimmt. In der DDR galt ein verordnetes Du in Parteidomänen und staatlichen Institutionen, z. T. zum Überdruß der ‘neutralen’ Bürger. Das betraf auch verordnete nominale Anreden (vgl. u. a. Besch 2 1998, S. 29⫺44). Nach der Wende (1989) war eine deutliche Zurückhaltung hinsichtlich des Duzens zu spüren. Inzwischen ist wohl mehr oder weniger ein Gleichlauf der Entwicklung in beiden Teilen der Bundesrepublik gegeben. Für den Westteil hat das Institut für Demoskopie Allensbach die Einstellung zum ‘schnelleren Du’ für die Jahre 1974, 1980, 1984 und 1993 erfragt. Wie die Abb. 177.6 zeigt, steht das Du im Aufwärtstrend, besonders deutlich (1993) bei den 30⫺ 44jährigen, das sind ja z. T. die älter gewordenen 68er. Kaum berührt vom Du-Trend sind die über Sechzigjährigen. An gleicher Stelle finden sich auch erste Zahlen für die neuen Bundesländer (1993): 56 Prozent (16⫺29), 38 (30⫺44); 24 (45⫺59), 15 (60 und älter). Sie unterscheiden sich nicht wesentlich von den Zahlen im Westen. Der Gesamttrend ist gleichgerichtet und er scheint (1993) ungebrochen zu sein. In der Arbeiterschaft, im Handwerk, in der Landwirtschaft hatte das Du immer schon Tradition, neu und wirkungsmächtig sind jetzt viele akademisierte Institute, Betriebseinheiten und High-Tech Firmen hinzugekommen. In Neugründungen dieser Art ist das Sie kaum noch zu finden. Die Akademiker, entgegen früherem Verhalten, beschleunigen die Informalisierung. Diese Bezeichnung ist abgeleitet von engl. informal in der Bedeutung ‘zwanglos’. Ein verordnetes Du, verbunden mit Vornamen-Anrede, wird inzwischen auch über
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Abb. 177.6: Auf den ersten Blick überraschend ist, daß man sich in Ostdeutschland beim „Duzen“ ein wenig reservierter verhält als im Westen. Das hat einerseits damit zu tun, daß bürgerliche Werte und Tugenden von der Höflichkeit und Pünktlichkeit als Erziehungsziel bis hin zur tradionellen Arbeitsmoral in den letzten Jahrzehnten am ehesten in Ostdeutschland aufrechterhalten wurden. Die Zögerlichkeit und Reserviertheit beim Duzen resultiert andererseits aber aus einer gewissen Unsicherheit: Der größte Teil der Befragten in den neuen Bundesländern wartet offenbar lieber ab, was die anderen tun. „Ganz verschieden, kommt darauf an“, lautet die Antwort auf die Allensbacher Frage zum Duzen. Ob man schnell zum „Du“ übergeht oder es im allgemeinen eher beim „Sie“ beläßt, hängt ab von den Leuten, die man trifft, und von der jeweiligen Situation. Am Arbeitsplatz, also dort, wo man nicht lange unsicher zu sein braucht, wer wem sozial überlegen ist, verhalten sich die meisten auch in Ostdeutschland nicht reservierter als im Westen. (⫽ allensbacher berichte 1993, Nr. 9, S. 3).
skandinavische Firmen in Deutschland installiert. Das gilt für Ikea und für Hennes & Mauritz in ihren zahlreichen Filialen mit Tausenden von deutschen Mitarbeitern ⫺ und es gilt vom Lehrling bis zum Chef ohne Ausnahme. Man beruft sich auf die jeweilige Firmenphilosophie und sieht in der neuen Anredekonvention ein Verkauf und Teamgeist förderndes Element. Zu beachten ist allerdings dabei, daß ein betrieblicher DuzZwang 1974, als Ikea hier Fuß faßte, gegen die in Deutschland geltende Anredekonvention verstieß und es auch heute noch tut. Im Grunde war das keine neue Firmenphilosophie, sondern schlicht die bedacht/unbedachte Herübernahme der schwedischen Anredekonvention nach Deutschland. Auch bei
McDonald’s wie auch bei Green-Peace herrscht Duz-Zwang. Bei Ford, wie auch in anderen amerikanischen Firmen-Filialen in Deutschland bevorzugt man ein Zwischenmodell, nämlich Sie mit Vorname. Auch im nominalen Anredebereich ist der informale Trend greifbar. Beim Vergleich etwa des ‘Ratgebers für Anschriften und Anreden’ (Innenministerium) in den Fassungen von 1979 und 1995 zeigen sich merkliche Änderungen, und dies schon nach 16 Jahren ⫺ eigentlich eine geringe Zeitstrecke im behördlichen Selbstverständnis. Zu nennen sind: 1.) hochverehrt und sehr verehrt in schriftlicher Anrede sind gestrichen; 2. die freundlichen Grüße sind zunehmend auch an die Adresse von Hochgestellten zugelassen. Man spürt
177. Anredeformen des Deutschen im geschichtlichen Wandel
deutlich, daß der Bürger in Augenhöhe mit den ‘Oberen’ kommt. In der DDR war offiziell alles in Richtung geehrt oder gar verehrt ideologisch nicht mehr passend, dafür hatte dann zunehmend wert Konjunktur (werte Kollegin X, werter Genosse X), wobei eine Steigerung mit sehr gar nicht möglich war. Ein weiteres Signal von Informalisierung ist in der ‘Abschaffung der Eltern, Onkel und Tanten’ zu sehen. „Mama und Papa oder Klaus und Helga“ überschreibt Gerhard Amendt ein entsprechendes Kapitel in seinem Buch von 1995 (vgl. auch Besch 21998, S. 71⫺76). Vornamen-Anrede verdrängt bisherige Funktions- und Zugehörigkeitsbezeichnungen im Familienverband, die ja im Blick auf Verantwortung und Lebenserfahrung bei der Erziehung von Kindern durchaus ihren Sinn hatten und haben. Autoritätsabbau, zumeist falsch verstandener, ist ein Grund für diese Entwicklung; ein anderer Grund ist der Wandel der Familie von einem erwerbs- und existenzsichernden Zweckverband, in dem auch die Kinder schon Mitwirkungspflichten hatten, zu einer Schon- und Hege-Institution. Macha (1997) diskutiert die Entwicklung anhand der Stichwörter Informalisierung, Individualisierung, Intimisierung der Familie. Er kann sich für den neueren Stand (1994) auf eine Befragung von 372 Studierenden an vier bundesdeutschen Universitäten stützen. Die Vornamen-Tendenz ist zwar nicht dominant, aber doch deutlich angelegt, bezüglich der Schwiegereltern allerdings zu ca. 90 % bereits erfüllt. Eine Reihe von weiteren interessanten Beobachtungen in dieser Studie lassen es wünschenswert erscheinen, den Kreis der Befragten sozialschichtlich zu erweitern und die Erhebungen in gewissen Zeitabständen zu wiederholen.
7.
Rückblick und Ausblick
Die verfolgte Wegstrecke ist lang, die Vielfalt der Anrede groß. Es wird fast zwangsläufig Lücken geben, Literatur übersehen worden sein. Das ist wohl unvermeidlich, aber dennoch eine Einschränkung. Eine weitere Einschränkung betrifft die Bezeichnung ‘Deutsch’ in der Artikelüberschrift. Die Materialien und Feststellungen, insbesondere in den jüngeren Zeitabschnitten, beziehen sich vornehmlich auf das Sprachgebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Eigenkonventionen in Österreich, in der deutschsprachigen Schweiz und in anderen deutschsprachigen Regionen,
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auch in den Dialekten, konnten nicht eigens behandelt werden. Es bedarf hier spezieller Untersuchungen mit eigenem Material und intimer Landeskenntnis. Diese genannten Einschränkungen sind nun auch bei den abschließenden Bemerkungen hier unter Abschnitt 7 im Auge zu behalten. Es ist normalerweise unbefriedigend, nur bei der Beschreibung von Sachverhalten oder gar Veränderungen stehenzubleiben. Die menschliche Neugier drängt weiter zu der Frage: Warum ist das so? Oder: Wohin führt das? „Vom Sie zum Du ⫺ mehr als eine neue Konvention?“ Das war die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vom Jahr 1989. Wenn es mehr ist als eine neue Konvention, was ist es dann? Erweist sich das neue Du als ideologisch eingefärbt? Steht dem alten Du/Sie dadurch ein neues Du/Sie gegenüber mit deutlichen Verschiebungen in der Verteilung und Wertung? Oder ist das vermehrte Du schlicht Ausdruck von Gleichmacherei in kumpelhafter Zeit? Das ginge dann auch einher mit dem vielfach beklagten Verlust an Höflichkeit und an nötiger Distanz. Oder haben wir es mit einer langfristigen Tendenz der Informalisierung zu tun? Englisch ‘informal’ heißt ‘zwanglos’. Informalisierung meint also wohl eine Entwicklung auf Zustände hin, die nicht von vorgegebenen Regeln bzw. Richtlinien bestimmt werden. Da sind die heutigen Zeiten, verglichen mit früheren, ziemlich ‘regellos’. Man denke vergleichsweise nur an die Herrschaftsrechte und Standesprivilegien im Feudalismus des 17./18. Jahrhunderts, abzulesen an ellenlangen Protokoll-Vorschriften und Ceremonial-Ordnungen. Informalisierung könnte dann auch als Ausdruck weiterer Demokratisierung verstanden werden, insofern nämlich, als daß alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und jeder Mensch dementsprechend Ehre und Würde besitzt, und nicht nur die Oberen. Die Kratzfuß-Zeiten sind dann gewissermaßen endgültig vorbei. Dies ist nur eine kleine Auswahl von Deutungsstichwörtern für den beobachteten Anredewandel. Man kann ihn eher negativ oder eher positiv einschätzen, wie man sieht. Es gibt aber noch einiges zu bedenken, ehe eine genauere Festlegung erfolgen kann. Vor allem empfiehlt es sich, den Blick vom kurzatmigen Geschehen der Gegenwart auf die Abläufe größerer Zeiträume zu richten. Vergegenwärtigen wir uns, daß am Anfang im
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XVI. Ergebnisse der Sprachgeschichtsforschung II: Sprachsystematische Aspekte
Deutschen allein das Du steht. Es hat die ‘Unschuld’ der frühen Zeit. Durch Kulturkontakt beeinflußt, gesellt sich Ihr hinzu, erstmals belegt im 9. Jahrhundert. Dieses duale Modell (Du/Ihr) gilt gleichbleibend während des ganzen Mittelalters. Die frühe Neuzeit überschlägt sich aber dann in zusätzlichen Differenzierungen: Er, Sie (3. Sing.), Sie (3. Plur.), daneben natürlich Du und auch noch Ihr, auch Dieselben; parallel dazu ein Riesenaufgebot an nominalen Bezeichnungen. Später dann, im 18. Jahrhundert, erfolgt eine Rückstufung auf ein neues duales Modell (Du/Sie) und nach und nach ein Abbau der nominalen Bezeichnungsfülle: Wenn man die Entwicklung in solch langen Zeiträumen betrachtet, dann kann man den teils unmittelbaren, teils mittelbaren Zusammenhang von Gesellschaftsausprägung und entsprechender Anredekonvention überhaupt nicht verkennen. Das heißt aber auch, daß Anredekonventionen eine Wirklichkeitsbindung haben und insofern nicht beliebig (arbiträr) sind in ihren gesellschaftlilchen Markierungen. Wenn sich Änderungen einer Konvention abzeichnen, sollte man sie also nicht vorschnell und pauschal als bloßen Modetrend abtun. Man muß in jedem Fall genauer hinsehen. Hinsehen etwa auf neue Zwischenformen der Anrede, die früher so nicht zulässig waren, aber offensichtlich einem Bedürfnis der Sprachgemeinschaft entsprechen. Gemeint sind die Kombinationen Vorname ⫹ Sie einerseits und Nachname ⫹ Du andererseits, also Sie, Klaus … und Du, Frau Aichinger … So manche Eltern wählen z. B. Vorname ⫹ Sie für ehemalige, nunmehr erwachsene Freunde ihrer Kinder, damit in sympathischer Weise Kindervertrautheit und Erwachsenenstatus verbindend. Zwischenformen sind Brückenformen, sie vermeiden den abrupten Wechsel von Duz- und Siez-Konvention. Die andere Kombination, Nachname ⫹ Du, ist oft bei Beschäftigten in Warenhäusern oder sonst am Arbeitsplatz zu hören. Sie verbindet in der Regel das kollegiale Du mit dem Respektsignal unterschiedlichen Alters, daher nicht Vorname, sondern Frau ⫹ Familienname. Sind solche Zwischenformen eventuell nur eine Übergangsstation zur endgültigen DuzPräferenz, wie etwa in den skandinavischen Sprachen? Der Ausgleich in die andere Richtung, nämlich zu Sie, ist völlig unwahrscheinlich, wiewohl England damals im 17./18. Jh. den Ausgleich zur Höflichkeitsform hin (you, 2. Person Plural) vollzogen hat. Aber sowohl
das englische You als auch das skandinavische ‘Du’ fördern heutzutage die Informalisierungstendenz. Das Mono-Modell hat eine gewisse Anziehungskraft. Es erspart eben die andauernde Sortierung der Mitmenschen in eine Duz-Welt und eine Siez-Welt. Insofern besteht heute in der einen oder anderen europäischen Sprache eine latente Bereitschaft, das duale Anredemodell zu reduzieren oder vielleicht ganz aufzugeben. Höflichkeit läßt sich ja auch mit anderen sprachlichen Mitteln ausdrücken, wie man am japanischen Beispiel studieren kann oder an den vielfachen höflichen Abschwächungen von ‘Direktheit’ im Englischen. Nach Harald Weinrichs Einschätzung (1986, S. 22) ist jedoch eine endgültige Abkehr von der Sie-Anrede im Deutschen in näherer Zukunft nicht zu befürchten. Und selbst wenn dies einträte, dann stünde „dabei keineswegs die Höflichkeit schlechthin, sondern nur eine ⫺ allerdings wichtige ⫺ Rahmenbedingung für höfliches Sprachverhalten auf dem Spiel.“ Höflichkeit ist ein wichtiges Stichwort in den Gesprächen über Anrede. So manche sehen sie in gleichem Maße schwinden, in dem das Du immer mehr an Boden gewinnt. Natürlich werden auch noch andere Gründe für den Höflichkeitsverlust genannt. Solche Klagen sind nicht prinzipiell neu, aber sie sind jetzt entschieden lauter geworden. Schopenhauer plädiert in seiner ‘Stachelschwein-Fabel’ (s. Literaturliste) in puncto Höflichkeit auf mittlere Distanz. Wird diese beim allgemeineren Du im Deutschen leichter unterschritten oder gar aufgehoben? Die Einschätzungen sind widersprüchlich. In der FAZ von 22. 07. 2000 wird eine selbständige Mobbing-Beraterin mit folgender Äußerung zitiert: Früher siezten sich Mitarbeiter, was für eine gewisse Distanz unter ihnen sorgte. Dieser Höflichkeitspuffer existiert im Zeitalter des Duzens nicht mehr. Heute sagen sich viele Menschen die schamlosesten Gemeinheiten ins Gesicht. In vielen Betrieben geht es zu wie in einer Familie, ohne daß der Streit durch familiäre Zuneigung gemildert wird.
Verweigerte Distanz durch ein verordnetes Du in der Firma Hennes & Mauritz im münsterländischen Rheine versuchte ein Abteilungsleiter gerichtlich einzuklagen. Er scheiterte 1999 in erster und zweiter Instanz (s. NJW 14, 1999), wobei die Urteilsbegründung, wie Gerd Roellecke (1999, S. 999⫺ 1001) zeigt, mehr als fragwürdig ist, da ein
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Zwang zum Duzen das Persönlichkeitsrecht des Mitarbeiters verletze. Das nicht persönlich vereinbarte Duzen von Erwachsaenen, seien es Privat- oder Amtspersonen, ist immer schon untersagt und auch bestraft worden (vgl. Besch 21998, 14 f.). Gegenwärtig ist die Situation eher diffus. Da sich Regierungschefs und Staatspräsidenten über Staatsgrenzen hinweg in Windeseile duzen, kann das ja weiter ‘unten’ kein so großes Problem mehr sein. Das geschah im Dezember 1998 zwischen Jacques (Chirac) und Gerhard (Schröder) mit tu und Du (Der Tagesspiegel, Berlin, 2. 12. 98); das geschah im Juni 2000 zwischen Gerhard und Bill (Clinton) in Aachen bei der Verleihung des Karlspreises an den amerikanischen Präsidenten. Der Laudator Schröder sprach den Preisträger immer wieder mit lieber Bill an und schloß: „Bill, Du bist zu einem wahrhaftigen Europäer geworden.“ (General-Anzeiger, Bonn, 3./4. 6. 2000). Unmittelbar anschließend vermerkt der Journalist: „Schröders Duzerei klingt in amerikanischen Ohren unpassend. Selbst Clintons Frau Hillary sagt in der Öffentlichkeit Mister President.“ Unsicherheit auch im Alltagsleben in der Grauzone des Übergangs von den ‘jugendlicheren’ zu den ‘gesetzteren’ Generationen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Sekretärin und Chef (beim damaligen Bundeskanzler Schmidt = Sie, bei Bundeskanzler Schröder intern Du, in der Öffentlichkeit Sie bzw. Herr Bundeskanzler. (Bild am Sonntag, 29. 11. 98). Das rot-grüne Kabinett ist weitgehend ein Duz-Kabinett (Welt am Sonntag, 22. 11. 98). Erweitert sich die Du-Expansion der Studentenbewegung nun generell zu einem Arbeitsplatz-Du quer durch die sozialen Schichten hindurch bis in die obersten Ränge? Das wäre in der Tat eine wirkliche Neusortierung der Du/Sie-Verhältnisse gegenüber der bisherigen Konvention. Dabei wird sich auch das Sie verändern, wie schon von Bayer (1979) diskutiert. Beim Du wiederum ist zu fragen, ob es bei seiner beträchtlichen Gebrauchserweiterung den bisherigen Charakter der Vertrautheit und Intimität überhaupt bewahren kann. Wenn nicht, wie wird dann dieser wichtige Privatraum sprachlich markiert? Unsicherheit in der Umorientierung! Die Hofschranzen-Höflichkeit wollen wir heute nicht mehr. Sie hat längst ausgedient. Ihr sprachliches Inventar ist Schritt für Schritt reduziert worden ⫺ und das muß nicht bedauert werden. Nur ist Vorsicht ge-
boten, daß wir nicht alles über Bord werfen. Immerhin existierte das Höflichkeitspronomen schon lange vor den Hofschranzen und so manche andere ehrende (honorative) Anredeform ebenfalls. Höflichkeit hat es leichter, wenn dafür gleichzeitig sprachliche Ausdrucksmittel akzeptiert sind. Sie bilden wichtige Rahmenbedingungen für Höflichkeit, wie es wohl auch Weinrich im obigen Zitat verstanden hat. Das ist möglicherweise auch einer der Gründe, warum uns betont informelle Kulturen leicht als ‘unhöfliche’ Kulturen erscheinen, wiewohl sie es sicher nicht sind oder sein müssen. Gegenwärtig ist das Ergebnis der Umsortierung in der Du/Sie-Konvention noch nicht klar erkennbar. Eines aber scheint gewiß und ein Trost zu sein: Mag sich noch so vieles ändern in der Welt, auch in der Sprache ⫺ das, was dem sprechenden Wesen ‘Mensch’ existentiell wichtig ist, das wird er benennen und selbst, wenn er es neu tun muß, weil alte Benennungen abhanden gekommen sind.
8.
Literatur (in Auswahl)
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Werner Besch, Bonn
XVII. Regionalsprachgeschichte 178. Aspekte einer niederrheinischen Sprachgeschichte 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
1.
Der Niederrhein als Problemgebiet regionaler Sprachgeschichtsschreibung Bestimmung des Raumes Niederrhein und Grundzüge seiner Geschichte Die früheste sprachliche und literarische Überlieferung Die Ausbildung der niederrheinischen Schreibsprache im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit Niederländisch und Deutsch als konkurrierende Sprachen (16.⫺19. Jh.) Durchsetzung des Deutschen als alleiniger Standardsprache im 19. Jahrhundert Gesprochene Sprache: Mundarten und Umgangssprachen Literatur (in Auswahl)
Der Niederrhein als Problemgebiet regionaler Sprachgeschichtsschreibung
Der Niederrhein ist Teil eines größeren, historisch und kulturell zusammenhängenden Rhein-Maas-Raumes, der heute auf der Ebene der Hoch- oder Schriftsprache zweigeteilt ist durch die deutsch-niederländische Staatsgrenze, die zugleich die Grenze des Geltungsbereichs der dt. bzw. nl. Standardsprache markiert. Die Sprachgeschichte dieses Raumes vollzieht sich vom Beginn der schriftlichen Überlieferung bis in die Gegenwart im Spannungsfeld dieser beiden Sprachen bzw. ihrer historischen Vorstufen und Varianten. Die Verwendung der Begriffe Deutsch und Niederländisch bedarf gerade im Kontext der nrhein. Sprachgeschichte vorab einer Präzisierung, da beide Begriffe mehrdeutig bzw. vage gebraucht werden. Neben der Bezeichnung der neuzeitlichen, normierten Standardsprachen dienen sie traditionell in den Zusammensetzungen Ahd., And., Anl. bzw. Mhd., Mnd., Mnl. zur Benennung einer Gruppe jeweils regional differenzierter mittelalterlicher Sprachformen. Im Rahmen einer
solchen Dreiteilung des Kontinentalwgerm. wird der Niederrhein traditionell dem altbzw. mittelnl. Sprachraum zugeordnet. Auch wenn diese Zuordnung aus heutiger Sicht die Gefahr eines national(istisch)en Mißverständnisses in sich birgt, so ist sie historisch legitim, zumal sie auch dem sprachlichen Selbstverständnis früherer Jahrhunderte entspricht. So rechnen nl. Grammatiker und Lexikographen des 16. Jh. wie de Heuiter und Kiliaen das Klevische und Geldrische ganz selbstverständlich zum Nl., ebenso wie sich die Mehrheit der nördlichen Niederrheiner bis ins 19. Jh. kulturell und sprachlich als ‘Niederländer’ fühlt. Dennoch wird, um mögliche Mißverständnisse zu vermeiden, die Bezeichnung niederländisch im folgenden nur für die sich seit dem 16. Jh. allmählich entwickelnde nl. Standardsprache benutzt, während für die regionalen nrhein. Varianten niederfränkisch bzw. niederrheinisch verwendet wird. Im Zentrum dieses Überblicks stehen vor allem die Formen der Schreib- und Schriftsprache, in denen sich verschiedene Ansätze zu einer sprachlichen Standardisierung zeigen, zunächst durch Ausbildung einer eigenen nrhein. Schreibvarietät, später durch die Übernahme nl. und hd. Standardvarietäten. Eine besondere Schwierigkeit in der Beschreibung dieser Prozesse liegt darin, dass sich ungeachtet der geringen Größe des Gebiets kaum Aussagen treffen lassen, die für den Raum als ganzen gelten, da die komplizierte territoriale Geschichte dazu führt, dass sich in den einzelnen Teilgebieten spezifische sprachliche Entwicklungen vollziehen. Unter diesem Vorbehalt kann man die sprachhistorische Entwicklung des Niederrheins in vier Perioden gliedern: ⫺ die früheste sprachlich-literarische Überlieferung bis ca. 1300; ⫺ die Ausbildung einer regionalen nrhein. Schreibsprache, die ab ca. 1300 das Lat. als Amtssprache abzulösen beginnt;
2630
XVII. Regionalsprachgeschichte
⫺ die Aufgabe der autochthonen Schreibsprache und ihr Ersatz durch die nl. und dt. Schriftsprache seit der Mitte des 16. Jh.; ⫺ die Durchsetzung des Dt. als alleiniger Standard- und Schriftsprache seit der Mitte des 19. Jh.
räumliche, territoriale und sprachliche Grenzen wurden und werden hierzu herangezogen. In Rahmen einer Regionalsprachgeschichte des dt. Sprachraumes bieten sich am ehesten eine sprachliche und politisch-territoriale Abgrenzung an. So soll als Kerngebiet einer nrhein. Sprachgeschichte der nfrk. Teil des dt. Sprachgebiets definiert werden, der im Norden und Westen begrenzt wird von der dt.-nl. Staatsgrenze, im Osten von der Grenze des sogenannten verbalen Einheitsplurals, die die nfrk. von den nd.-westf. Dialekten trennt, und im Süden von der Benrather Linie als Hauptgrenze zwischen dem Nfrk. und dem Mfrk. Politisch-territorial haben wir es im wesentlichen mit dem Gebiet der spätmal. Herzogtümer Kleve und Geldern, der Grafschaft Moers und dem kurkölnischen Amt Rheinberg zu tun.
Der letzte Punkt gilt sodann der Entwicklung der gesprochenen Sprache ⫺ Mundarten und Umgangssprache ⫺ im 19. und 20. Jh.
2.
Bestimmung des Raumes Niederrhein und Grundzüge seiner Geschichte
Eine eindeutige, historisch konstante räumliche Abgrenzung des Niederrheins als geographischer, kultureller oder politischer Region ist nicht möglich. Unterschiedliche natur-
sür Brei f suur
Brief, Breef Arnhem
boomke
-funden
bömke gefunden
Bocholt
Nijmegen
houden
wi maket
halden, hauden
Kleve
wi maken Wesel
Xanten
Hertogenbosch
Recklinghausen Dortmund
Tilburg
Geldern
Helmond
Venraai
Essen
Eindhoven
Moers Duisburg Venlo
Turnhout
Krefeld Wuppertal
Weerd
Düsseldorf Roermond
Mönchengladbach
maken Diest
machen Hasselt
Köln
germanisch
Jülich
romanisch
Maastricht
Leuven Tongeren
Aachen Bonn
Karte 178.1: Das Rhein-Maas-Dreieck als Sprachlandschaft (aus: A. Mihm 1992, 91)
178. Aspekte einer niederrheinischen Sprachgeschichte
2631
Karte 178.2: Die Vereinigten Herzogtümer Kleve-Mark, Jülich-Berg und Geldern 1538 (aus: A. Mihm 1992, 115)
Für die meisten Aspekte einer nrhein. Sprachgeschichte ist es freilich nötig, über das so definierte Kerngebiet hinauszugreifen, dies gilt vor allem auch für den Raum westlich der heutigen Staats- und Hochsprachengrenze, die erst durch die Grenzziehung des Wiener Kongresses 1815 ihre heutige Gestalt erhielt. Für den größten Teil der Sprachgeschichte ist es angebracht, auch die Teile der heutigen Niederlande in die Betrachtung mit einzubeziehen, die östlich des Isoglossenbündels liegen, das das Limburgische vom Brabantischen trennt (vgl. Karte 178.1). Nicht weniger Probleme als die Abgrenzung nach außen wirft die territoriale Binnengliederung des Niederrheins auf. Die spätmal. Territorienbildung ist von entscheidendem Einfluß auf den Verlauf der Sprachgeschichte. Der Plan der Kölner Erzbischöfe, ein großes nrhein. Territorium zu schaffen, scheitert endgültig mit der Niederlage in der
Schlacht bei Worringen (1288). In der Folge kommt es am Niederrhein zur Ausbildung zahlreicher kleinerer Territorien, die ungeachtet ihres zeitweisen Zusammenschlusses und ihrer wechselvollen Geschichte für die sprachliche und sprachpolitische Entwicklung des Nrhein. bis ins 19. Jh. von Bedeutung bleiben. Die größte Macht erreichen die nrhein. Herzogtümer im 16. Jh., als nach der Vereinigung von Kleve und Mark mit Jülich und Berg (1511/21) und schließlich auch mit Geldern (1538) ein Territorium von beträchtlicher Größe entsteht (vgl. Karte 178.2). Diese als bedrohlich empfundene Machtkonzentration rief Karl V. auf den Plan, der Geldern 1543 in den Burgundischen Kreis, den Kreis der nl. Provinzen, eingliedert. Die weitestgehende rechtliche und politische Unabhängigkeit des Burgundischen Kreises vom Reich, die 1548 im Vertrag von Augsburg be-
2632 siegelt wird, wird zu einem entscheidenden, bis heute zu wenig berücksichtigten Faktor für die Stabilisierung der sprachlichen Eigenständigkeit der Niederlande (Mihm 1992, 116). Das Ende der Klever Dynastie (1609) führt zur Teilung der Vereinigten Herzogtümer: Jülich und Berg fallen an Pfalz-Neuburg, Kleve, Mark und Ravensberg an Brandenburg. In der Folgezeit bleibt Kleve bis zur 1794 beginnenden „Franzosenzeit“ eine der brandenburgisch-preußischen Residenzstädte, die im 17. Jh. eine angesehene Rolle als Vermittler nl. Kultur und Wissenschaft für den brandenb. Raum erfüllt. Sehr viel komplizierter gestaltet sich das territoriale Schicksal Gelderns, das im Zuge des Westfälischen Friedens (1648) geteilt wird. Die drei nördlichen Quartiere Nijmegen, Arnhem und Zutphen, die 1579 der Union von Utrecht beigetreten waren, werden Teil der Generalstaaten und bilden heute die nl. Provinz Gelderland. Der südliche Teil, das sog. Oberquartier, wird Teil der spanischen Niederlande. Im Utrechter Frieden (1713) wird das Oberquartier preußisch, mit Ausnahme von Roermond, das Teil der südlichen, nunmehr österreichischen Niederlande bleibt, und Venlo, das an die Generalstaaten fällt. Die Grafschaft Moers, zu der auch die Stadt Krefeld zählte, war seit 1600 in oranischem Besitz und blieb bis zum Tode Wilhelms III. im Jahre 1702 Teil der nl. Generalstaaten. 1702 übernahm Preußen auch in Moers das Regiment. Dass schließlich auch der Kölner Erzbischof Landesherr am Niederrhein blieb, verdankt er der Exklave Rheinberg, die von Kleve, Geldern und Moers umringt wird. Während der 1794 beginnenden Zeit der frz. Besatzung werden alle linksrhein. Gebiete des Niederrheins Teil des Roer-Departements, die rechtsrhein. Gebiete des preußischen Kleverlandes bleiben unbesetzt. Die Neuordnung durch den Wiener Kongreß schließlich führt zur Festlegung der Grenze zwischen den Königreichen Niederlande und Preußen, durch die der westliche Teil des preußischen Gelderlandes und einige Orte im Nordwesten Kleves an die Niederlande fallen, während das dt. Niederrheingebiet nun erstmals zu einer verwaltungsmäßigen Einheit im Rahmen der preußischen Rheinprovinz zusammenfindet. Neben den politischen Grenzen sind auch die kirchlichen Grenzen und die Konfessionszugehörigkeit von entscheidendem Einfluß auf die nrhein. Sprachgeschichte, da die Kir-
XVII. Regionalsprachgeschichte
chensprache einschl. der Sprache des Religionsunterrichts eine bedeutende Domäne der Sprachverwendung bildet. Teile unseres Raumes gehören im Laufe des Mittelalters und der Neuzeit zu den Diözesen Köln, Lüttich, Utrecht, Roermond, Deventer und Münster. Auf Seiten des Protestantismus erfahren frühe autochthone Reformationsbestrebungen (z. B. in Wesel) Unterstützung von starken Zuwanderungen calvinistischer Niederländer aus den südlichen Niederlanden; die preußische Verwaltung bringt seit den frühen 17. Jh. auch Beamte und Soldaten lutherischen Bekenntnisses in den nrhein. Raum. Die Konsequenzen der hier kurz skizzierten politischen und kirchlichen Entwicklung für die sprachgeschichtliche Entwicklung, besonders für die Konkurrenz zwischen dem Dt. und dem Nl. am Niederrhein werden im folgenden noch näher zu beleuchten sein.
3.
Die früheste sprachliche und literarische Überlieferung
3.1. Altniederfränkische Denkmäler Im Rahmen einer umfassenden Darstellung der nrhein. Sprachgeschichte müssen auch die historisch rekonstruierbaren Ereignisse und Entwicklungen beschrieben werden, die vor dem Einsetzen des schriftlichen Überlieferung nachweislich auf die Sprache der Region eingewirkt haben. Hier sei nur auf den langen und nachhaltigen Einfluß hingewiesen, den die romanische Bevölkerung der ehemaligen römischen Rheinprovinz noch lange nach der Eroberung des linksrhein. Raumes auf die Sprache der frk. Stämme ausgeübt hat und der seinen Niederschlag bis heute in einer großen Menge rom. Lehnwörter in den nrhein. Mundarten findet (Frings 1966; Müller/Frings 1968). Bevor die Volkssprache gegen 1300 beginnt, das Lat. als Amtssprache am Niederrhein abzulösen, beschränkt sich die schriftliche Überlieferung volkssprachlicher Texte im wesentlichen auf Zeugnisse geistlicher und weltlicher Literatur. Sie setzt nicht vor dem 10. Jh. ein, d. h. zu einer Zeit, da die hd. Lautverschiebung (LV) bereits den kontinentalwgerm. Raum insgesamt sprachlich geteilt hat. Die LV teilt auch die Sprache der Franken, deren nördliche Dialekte am Niederrhein und in den Niederlanden zusammen das Anfrk. bzw. Anl. bilden. Die gesamte anl. und frühmnl. Überlieferung liegt in einer umsichtig kommentierten Edition vor (Gysseling
2633
178. Aspekte einer niederrheinischen Sprachgeschichte
1980). Den bedeutendsten und umfangreichsten Text des Anl. bilden die Anfrk. Psalmen (Gysseling 1980, Nr. 9), eine im 10. Jh. entstandene nfrk. Bearbeitung einer ursprünglichen mslfrk. Interlinearübersetzung. Aufgrund der dialektgeographischen Merkmale gibt Gysseling als Heimat des Bearbeiters die Gegend um Krefeld an. Eine Reihe weitere kleinerer anl. Denkmäler sind nach Gysseling nrhein. Provenienz (Nr. 4, 6, 7, 11, 16), worunter mehrere, die bisher üblicherweise zu den kleineren asächs. Denkmälern gerechnet wurden (vgl. Goossens 1982). Tatsächlich fehlen in den kurzen, teils nur fragmentarisch überlieferten Texten nicht selten exklusive sprachliche Merkmale, die eine genaue Unterscheidung zwischen anfrk. und altwestfälischen Texten ermöglichen würden. Als weitere sprachgeschichtlich bedeutsame Quelle für unsere Kenntnis des Anfrk. ist das überlieferte Namengut zu nennen (Tiefenbach 1984). 3.2. Frühmittelniederländische Literatur am Niederrhein Der Übergang vom Alt- zum Mittelnl. vollzieht sich in einer Zeit, aus der keine Texte überliefert sind; der Beginn der kontinuierlichen literarischen Überlieferung in der zweiten Hälfte des 12. Jhs. fällt bereits eindeutig in die mittlere Periode. Betrachtet man die gesamte frühmnl. Literatur, so fällt auf, dass sich die Herkunft der Texte zunächst auf den limburgisch-nrhein. Raum konzentriert (Goossens 1982, 254 f.). Neben den Werken des Limburgers Heinric van Veldeken (Servatius-Legende, Eneide, Lyrik) sind aus dem nördlichen Rheinland Fragmente verschiedener Ritterdichtungen überliefert, die zeigen, dass der Rhein-Maas-Raum im 12. und 13. Jh. als Mittler weltlicher Epik aus dem rom. Raum fungiert: „Floyris“ und „Aiol“, beide vom Beginn des 13. Jh. aus der Gegend zwischen Venlo und Krefeld, sowie das Fragment einer Tristandichtung aus der Mitte des 13. Jhs. aus dem Raum Nijmegen (Gysseling 1980, Nr. 19, 20, 23). Die sprachliche Lokalisierung dieser ritterlichen Versdichtungen weist darauf, dass wir neben den in der älteren Forschung genannten Höfen im limb. Loon und in Kleve auch den geldrischen Hof zu den adeligen Literaturförderern zählen müssen. (Tervooren 1989) Für den Geldrischen Hof dürfte auch die umfangreiche Handschrift eines „Nederrijns Moraalboek“ (Gysseling 1987) vom Ende des 13. Jhs. angefertigt worden sein, die auch sprachlich im Raum Geldern zu lokali-
sieren ist. Der Aussagewert literarischer Zeugnisse für die regionale Sprachgeschichte ist in vielen Fällen begrenzt, da wir uns hinsichtlich der Datierung und Lokalisierung auf unsicherem Grund bewegen. Zudem haben wir es häufig mit Übersetzungen oder Bearbeitungen zu tun, die nicht selten sprachliche Einflüsse der Vorlagen aufweisen. Auch sind die Besonderheiten der Literatursprache zu berücksichtigen, die sprachlich und stilistisch eigenen Regeln folgt.
4.
Die Ausbildung der niederrheinischen Schreibsprache im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit
Der entscheidende Schritt für die Entwicklung der Volkssprache zum voll ausgebildeten Medium der schriftlichen Kommunikation ist die Ablösung des Latein als amtlicher Schreibsprache. Dieser Prozeß setzt am Niederrhein gegen Ende des 13. Jhs. ein. Zunächst sind es die gräflichen Kanzleien, die sich der heimischen Sprache bedienen. Am geldrischen Hof löst die nfrk. Schreibsprache um 1320 Latein als Urkundensprache fast vollständig ab, in Kleve überwiegt das Latein noch bis 1328; nach einer Phase eines gleichgewichtigen Nebeneinanders beider Sprachen gewinnt hier das Nfrk. ab 1340 eindeutig die Oberhand (Tille 1925; Sternberg 1998). Die anfangs kleinräumigen Varianten entwickeln sich im Laufe der Zeit zu einer relativ einheitlichen nrhein. Schreibsprache, die im Kontinuum der spätmal. nl. und nd. Schreibsprachen einen eigenen Typus bildet (Peters 1984). Sie ist gekennzeichnet durch eine Reihe sprachlicher Merkmale, die in ihrer charakteristischen Kombination die eigenständige Prägung des Nfrk. am Niederrhein ausmachen (Peters 1986; Cornelissen 1994). Zu den wesentlichen Merkmalen der klevisch-geldrischen Schreibsprache gehören: ⫺ der unverschobene Lautstand im Konsonantismus, ⫺ r-lose Pronomina (wi ‘wir’, mi ‘mir’, ‘mich’), ⫺ anlautendes h nur im Nom. der 3. Pers. Sg. Masc. (he ‘er’); ansonsten ⫺ die h-losen und velarisierten obliquen Pronominalformen oem, oen, oer (‘ihm’, ‘ihn’, ‘ihnen’, ‘ihr’), ⫺ die Konjunktion ende ‘und’ gegenüber westf. unde und rip. inde. ⫺ gegenüber den übrigen mnl. Schreibsprachen das Fehlen der Vokalisierung von a und o vor folgendem d/t (alt, holt),
2634
XVII. Regionalsprachgeschichte
⫺ die Graphien a für o in offener Silbe (apen ‘offen’) und ae für langes a (iaer ‘Jahr’).
Bei der Nennung der obigen Merkmale mußte aus Raumgründen auf eine Differenzierung zeitlicher, räumlicher und sozialer Schichtung verzichtet werden. Besonders für die südlichen Teile des Niederrheins gilt, dass sie schon früh einem starken rip. Einfluß unterliegen, wie de Smet am Beispiel von lokalen Moerser Urkunden aus dem 14. und 15. Jh. gezeigt hat (de Smet 1985). Hiervon zu unterscheiden ist die bewußte, adressatenorientierte Wahl der rip. Schreibsprache, wie sie de Smet wiederum für Moers nachgewiesen hat. Dass wir unter den gebildeten Schreibern am Niederrhein von Kenntnis und Interesse für die regionalen Nachbarsprachen ausgehen dürfen, belegt hinsichtlich des Wortschatzes die Fülle von Heteronymen im Teuthonista (Köln 1477), dem Wörterbuch des Klever Sekretärs Gerard van der Schueren (Eickmans 1986). Erste Ansätze zu einer großräumigeren Standardisierung der Sprache am Niederrhein, die wir zu Beginn des 16. Jhs. auch in der Übernahme überregional gültiger nl. Varianten beobachten können, erhalten im Verlauf des 16. Jhs. keine Chance zu einer weiteren Entfaltung. Die sprachlichen Umbrüche im Nordwesten Deutschlands, d. h. die Aufgabe der regionalen Schreibsprachen im nd. Norden und im Kölner Raum und ihr Ersatz durch das Hd., und andererseits das durch die politische und kulturelle Bedeutung der Niederlande wachsende Prestige des westlicheren Nl. bringen den Niederrhein sprachlich in die Defensive und machen es auch für die Landschaft zwischen Rhein und Maas unmöglich, an einer eigenen Schreibsprache festzuhalten.
5.
Niederländisch und Deutsch als konkurrierende Sprachen (16.⫺19. Jh.)
Das 16. Jh. wird für ganz Nord- und Westdeutschland zu dem Jahrhundert, in dem die regionalen Schreibsprachen aufgegeben werden. Im nd. und im kölnischen Raum findet ein Sprachwechsel zu standardisierten Varianten des Hd. statt, im protestantischen Norddeutschland zum Meißnischen Deutsch, in Westfalen und in Köln zunächst zum „katholischen“ Gemeinen Deutsch obd. Prägung. Der dazwischenliegende Raum des Niederrheins nimmt eine Sondereinstellung
ein, weil er die heimische Schreibsprache durch konkurrierende Sprachen ersetzt, die für ca. drei Jahrhunderte nebeneinander existieren: Niederländisch und Deutsch. Verkompliziert wird die sprachliche Situation noch durch die Tatsache, dass wir verschiedene Varianten des Nl. und Dt. unterscheiden müssen, so dass sich auf der Ebene der geschriebenen Sprachen die folgenden Varietäten gegenüberstehen: ⫺ die autochthone nrhein. Schreibsprache, die noch bis zur Mitte des 17. Jhs. im kleinräumiglokalen Rahmen Verwendung findet, ⫺ Niederländisch südl., d. h. brabantischer Prägung, das durch politische, kirchenpolitische und kulturelle Bindungen an die südlichen Niederlande Eingang findet, ⫺ Niederländisch nördl., d. h. holländischer Prägung, das seit dem ausgehenden 16. Jh. die Basis der weiteren Standardisierung der nl. Sprachnorm bildet und das im Zuge der überragenden kulturellen und wirtschaftlichen Bedeutung der Niederlande im 17. Jh. seinen Einfluß am Niederrhein geltend macht, ⫺ Hochdeutsch in der Form des Gemeinen Deutsch, das über Köln an den Niederrhein gelangt, ⫺ Hochdeutsch in der Form des Meißnischen Deutsch, das bei der Ausbildung der dt. Standardsprache tonangebend wird und im 17. und 18. Jh. über die preußische Verwaltung und als Sprache der Lutheraner an den Niederrhein kommt. ⫺ „Mischsprachen“, die in unterschiedlicher Form Elemente aller zuvor genannten Varietäten miteinander kombinieren. Sie sind teils eine bewußt intendierte Sprachmischung, zum größeren Teil aber Zeugnis individueller Schwierigkeiten beim Versuch, eine fremde Norm zu erreichen (Neuß 1973; Tervooren 1985; Cornelissen 1986, 254⫺ 267).
Über den genauen Prozeß der Ablösung der nrhein. Schreibsprache und ihren Ersatz durch die verschiedenen nl. und hd. Varianten sowie das Verhältnis dieser Varianten zueinander ist bisher wenig bekannt. Einzig für Geldern hat Cornelissen gezeigt, dass hier erwartungsgemäß der brabantische Typ des Nl. übernommen wurde. Ausschlaggebende Faktoren für die Sprachwahl in den verschiedenen Domänen (Verwaltung, Kirche, Schule, Buchdruck, private Schriftlichkeit) sind staatlich-politische, geographische, konfessionelle, kulturelle, wirtschaftliche und linguistische Gesichtspunkte. Faktoren, die die Übernahme des Nl. begünstigen, sind: ⫺ die aus der gemeinsamen nfrk. Basis resultierende enge sprachtypologische Verwandtschaft des Nfrk. am Niederrhein mit dem Nl.,
178. Aspekte einer niederrheinischen Sprachgeschichte ⫺ die politisch-territoriale Zugehörigkeit zu den Niederlanden. Dies trifft auf das erst ab 1713 preußische Obergeldern zu, ebenso wie auf die Grafschaft Moers im gesamten 17. Jh., ⫺ die besonders für den nördl. Teil des Niederrheins geltende kulturelle und wirtschaftliche Ausrichtung auf die Niederlande, von denen im 17. Jh. eine starke kulturelle und sprachliche Ausstrahlung auf den nrhein. Raum ausgeht, ⫺ die konfessionelle Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und zu solchen Formen des Protestantismus, die am Niederrhein autochthone Wurzeln hatten oder stark von nl. Zuwanderern geprägt waren wie Reformierte und Mennoniten.
Demgegenüber stehen als Faktoren, die einer Übernahme des Dt. als Schriftsprache förderlich sind: ⫺ die politische Zugehörigkeit zu einem dt. Territorium. Dies gilt ab 1609 für das Herzogtum Kleve, ab 1702 für Moers und ab 1713 schließlich auch für Obergeldern. ⫺ die relative geographische Nähe zum rhein. Zentrum Köln, das seit der Mitte des 16. Jh. zum Gebrauch des Hd. übergegangen ist. ⫺ die konfessionelle Zugehörigkeit zum Lutherischen Bekenntnis, dessen Sprache auch am Niederrhein von Anfang an das Hd. war.
Alle genannten Faktoren führen dazu, dass wir mit Blick auf den nrhein. Raum als Ganzes für ca. drei Jahrhunderte von einer sehr komplexen Zwei- oder Mehrsprachigkeitssituation auszugehen haben (Cornelissen 1998). Eine differenzierte Darstellung muß deutlich zwischen den unterschiedlichen Territorien, Konfessionen und Domänen der Sprachverwendung unterscheiden; an dieser Stelle können nur die Grundzüge aufgezeigt werden, soweit sie aus der bisherigen Forschung erkennbar sind. Die nfrk. Basis der nrhein. Schreibsprache (wie auch der Mundart) läßt unter einem sprachtypologischen Gesichtspunkt ihren Ersatz durch das Niederländische als natürlich oder zumindest naheliegend erscheinen. Einer solchen sprachinternen ‘Logik’ wirken vor allem politische und konfessionelle Kräfte entgegen. Das Nl. setzt sich daher als alleinige Schriftsprache nur in (Ober-)Geldern durch, das bis 1713 Teil der südl. Niederlande ist und damit bis zu diesem Zeitpunkt voll in die sprachgeschichtlichie Entwicklung des nl. Sprachraumes eingegliedert ist. Auch die Tatsache, dass das geldrische Oberquartier 1713 als Folge des spanischen Erbfolgekrieges Teil des Königreichs Preußen wird, ändert zunächst wenig an den sprachlichen Verhältnissen, da die geldrischen Stände
2635 mächtig genug sind, dem preußischen König die Respektierung der angestammtem, d. h. katholischen Religion und der angestammten, d. h. nl. Sprache abzunötigen. Das Nl. dominiert auch im preußischen Gelderland weiterhin und bleibt bis zur frz. Besetzung des Rheinlands 1794 in allen Bereichen die Sprache der einheimischen Bevölkerung. Eine Ausnahme bilden nur protestantische Zuwanderer und einige südliche Orte, in denen das Hd. über die südl. Nachbarschaft eindringt (vgl. grundlegend für Geldern Cornelissen 1986, für Erkelenz Egert 1994). Kaum weniger tiefgreifend als in Geldern scheint die Niederlandisierung der linksrhein. Teile des Herzogtums Kleve sowie des Raumes Emmerich/Rees auf der rechten Rheinseite gewesen zu sein; dies ungeachtet der Tatsache, dass Kleve seit 1609 bereits preußisch war (Merges 1977). Eine Ausnahme bildete allenfalls die Stadt Kleve selbst als Sitz der oberen Verwaltungs- und Justizbehörden, deren Sprache ebenso wie die der zugezogenen preußischen Beamtenschaft das Hd. war. Dies dringt im 17. und 18. Jh. allmählich auch in andere Bereiche wie die städtische Verwaltung und das höhere Schulwesen vor, so dass wir für die Stadt Kleve im 18. und 19. Jh. von einer Zweisprachigkeit ausgehen müssen, die Cornelissen (1998, 88) jedoch zurecht „asymmetrisch“ nennt, „weil der großen Mehrheit der Bevölkerung als Kultursprache nur das Niederländische zur Verfügung stand.“ Grundsätzlich anders stellt sich die sprachliche Situation im rechtsrhein. Kleverland südlich der Lippe dar. Dieser Raum mit Duisburg als zentralem Ort schließt sich bei der Ablösung der nrhein. Schreibsprache dem wirtschaftlich und kulturell auf den südl. Niederrhein ausstrahlenden rhein. Zentrum Köln an und übernimmt ab 1562 das Hd. als Schriftsprache (Mihm 1986). Die Ausstrahlung Kölns ist offensichtlich auch für die sprachlichen Verhältnisse in der alten Grafschaft Moers maßgeblich. Obwohl Moers das gesamte 17. Jh. über oranisch war und das Nl. für diese Zeit, sicherlich im Verkehr mit den Niederlanden, eine gewisse Bedeutung gewonnen haben dürfte, hat dies den Übernahmeprozeß des Hd. als Schriftsprache anscheinend kaum beeinträchtigt. (Cornelissen 1988a) Einen Sonderfall stellt das Amt Rheinberg dar, für das als kurkölnische Exklave eine zumindest in Teilen eigenständige sprachgeschichtliche Entwicklung anzunehmen ist, über die aber genauere Untersuchungen noch ausstehen.
2636
XVII. Regionalsprachgeschichte
Die frz. Einnahme des Rheinlands bringt 1794 alle genannten Gebiete mit Ausnahme der rechtsrhein. Teile des Hzgt. Kleve für zwei Jahrzehnte unter frz. Herrschaft. Diese Zeitspanne erweist sich als zu kurz, um nachhaltigen Einfluß auf die Sprache der nrhein. Bevölkerung zu gewinnen, zumal die Administration des von Aachen aus verwalteten De´partement de la Roer durch einheimische Beamte größtenteils in dt. Sprache erfolgte (Cornelissen 1988b). Einen eigenen, sprachgeschichtlich höchst bedeutsamen Komplex stellt die Sprachverwendung der verschiedenen Kirchen und Konfessionen dar. Stark vereinfacht läßt sich sagen, dass die Sprache der kath. Kirche in Geldern und im nördl. Kleverland bis ins 19. Jh. das Nl. ist. Die kath. Kirche erweist sich damit als letzte große Domäne des Nl., worauf im folgenden Punkt noch ausführlicher einzugehen sein wird. Demgegenüber stellt sich die Lage auf Seiten der protestantischen Kirchen sehr viel komplizierter und differenzierter dar (Tervooren 1979). Während die Sprache der zunächst ausschließlich aus der zugezogenen preußischen Beamtenschaft bestehenden lutherischen Gemeinden von Anfang an das Hd. ist, vollzieht sich bei den reformierten Gemeinden ein allmählicher Wechsel vom Nrhein. und Nl. zum Hd. Die Sprache der wenigen Mennonitengemeinden am Niederrhein in Kleve, Goch, Wesel und Krefeld war, soweit wir wissen, bis zum Ende des 18. Jhs. fast ausschließlich das Nl.
6.
Durchsetzung des Deutschen als alleiniger Standardsprache im 19. Jahrhundert
Die Grenzziehung durch den Wiener Kongress führt zu einer Neufestlegung der Grenze zwischen den Niederlanden und Preußen. Dabei werden Teile, die vor 1794 zu den preußischen Territorien Geldern bzw. Kleve gehörten, den Niederlanden zugeschlagen. Dies betrifft den Westen des geldrischen Oberquartiers (Cornelissen, 1986, 36 (Karte III)) sowie einige Gemeinden im Nordwesten Kleves (Berns 1991). Soweit das Hd. unter der preußischen Regierung hier hatte Einfluß gewinnen können, verliert es diesen nun wieder, das Nl. wird zur ausschließlich gültigen Schriftsprache. Abgesehen von diesen kleineren Gebieten wird der gesamte Niederrhein 1815 Teil der
preußischen Rheinprovinz. Damit beginnt zugleich der Prozeß der endgültigen Umlagerung und vollständigen Eingliederung des Niederrheins unter das Dach der hd. Schriftsprache auch in den Gebieten und Domänen, in denen sich das Nl. am längsten hatte behaupten können. Die relative Toleranz in Sprachfragen, die Preußen noch im 18. Jh. gegenüber der Verwendung des Nl. in seinen nrhein. Provinzen hatte walten lassen, weicht nun einer rigiden aktiven Sprachpolitik, deren Ziel die vollständige Verdrängung des Nl. und die Etablierung des Dt. als alleiniger Standard- und Schriftsprache ist. Während die Regierung dies in Verwaltung, Gerichtsbarkeit und Schule unmittelbar und aus eigener Macht umsetzen konnte, benötigte sie für die Eindeutschung des kath. Religionsunterrichts die Unterstützung der kirchlichen Behörden in Münster, zu welcher Diözese das nrhein. Archidiakonat Xanten seit 1826 gehörte. Die gesamte, von Merges (1983) ausführlich dokumentierte Auseinandersetzung zeigt, wie hartnäckig die kath. Geistlichen an der von Seiten der Regierung als „halb holländische Mundart“ diffamierten, von ihnen selbst mit bewußtem Stolz als „holländische Sprache“ bezeichneten Sprache festzuhalten suchen. Auch wenn sich dieser Kampf fast 15 Jahre hinzieht, so stehen die kath. Pfarrer doch auf verlorenem Posten, zumal ein wachsendes sprachliches Nationalbewußtsein in Deutschland mit einem rapiden Ansehensverlust des Nl. einhergeht. Mit dem Verlust der letzten öffentlichen Domäne wird das Nl. auf die Ebene der individuellen Schriftlichkeit zurückgedrängt. „Nach 1870 ist das Niederländische auch aus der privaten Schriftlichkeit (Anschreibebücher, Tagebücher, Nachbarschaftsbücher, Briefe) weitestgehend verschwunden“ (Cornelissen 1997, 93). Umgekehrt bedeutet dies für das Hd., dass es sich nun am Niederrhein auch dort, wo es nicht schon vor 1815 dominierte, schnell in allen Bereichen des öffentlichen Lebens als alleinige Standard- und Schriftsprache durchsetzt.
7.
Gesprochene Sprache: Mundarten und Umgangssprachen
Nicht anders als die Geschichte der Schreibund Schriftsprachen vollzieht sich auch die Entwicklung der gesprochenen Sprache am Niederrhein im Spannungsfeld und unter
178. Aspekte einer niederrheinischen Sprachgeschichte
dem Einfluß des Nl. und Dt. Auch wenn der Niederrhein, wie zu Beginn dieses Beitrags geschehen, als ein relativ einheitlicher Dialektraum definiert werden kann, so weist er seinerseits eine deutliche Binnengliederung auf. Diese ist das Ergebnis historischer Prozesse und Strömungen, deren Verlauf aus der Form und Verbreitung einzelner sprachlicher Erscheinungen rekonstruiert werden kann. Als beispielhaft für die historische Interpretation neuzeitlicher dialektgeographischer Daten können die Arbeiten zur rhein. Sprachgeschichte von Theodor Frings gelten (Frings 1956 u. 1966). Dabei galt noch bis für die Zeit vor dem 2. Weltkrieg, dass auch für die historisch-dialektgeographische Forschung „die lebenden Mundarten“ als „sicherster Erkenntnisquell“ dienen konnten, wie Frings es in seiner Rheinischen Sprachgeschichte (Frings 1956) ausdrückt. Die früheste umfangreichere Dokumentation gesprochener Sprache am Niederrhein sind die von Georg Wenker ab 1881 durchgeführten Erhebungen im Rahmen des Deutschen Sprachatlas. Sie bilden die Grundlage einer Reihe dialektgeographischer Arbeiten zu Beginn des 20. Jhs., von denen für das nördl. Rheinland vor allem Hahnenberg (1915) und Neuse (1915) zu nennen sind. Die Befunde der Dialektgeographie zeigen ein auffällig dichtes Isoglossenbündel, das den Niederrhein sprachlich zwischen Geldern und Krefeld horizontal teilt. Diese Teilung des Rhein-Maas Raumes ist Ausdruck gegenläufiger, zu unterschiedlicher Zeit wirksamer Strömungen von Süden (Köln) und Nordwesten (Holland) (Goossens 1991). Die seit dem Mittelalter geltende nachhaltige Einwirkung Kölns auf den limb.-nrhein. Raum führt zur Ausbildung des Südnfrk. als einer sprachlichen Übergangslandschaft (Goossens 1965). Die im 17. Jh. von Nordwesten einsetzende holländische Expansion erfaßt die Mundarten am nördl. Niederrhein bis einschließlich Moers und Duisburg (Goossens 1991, 284 (Karte 3)), d. h. bis in ein Gebiet, in dem das Nl. als Schriftsprache keine Bedeutung hatte. Die jüngeren holländischen Neuerungen sind ein Beleg dafür, „dass in der Neuzeit, im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert, eine regelrechte Niederlandisierung der Volkssprache am nördlichen Niederrhein stattgefunden hat“ (Goossens 1991, 288). Im 19. und vor allem im 20. Jh. ergeben sich tiefgreifende Veränderungen für die
2637 nrhein. Mundarten, sowohl was ihre linguistische Struktur als auch ihre kommunikative Funktion betrifft. Die seit der 2. Hälfte des 19. Jh. gegebene alleinige Überdachung des Niederrhein durch die hd. Standardsprache bewirkt eine zunächst allmähliche, nach dem 2. Weltkrieg rapide „Verdeutschung“ der nfrk. Mundarten. Das dadurch ⫺ und durch eine vergleichbare „Verniederländischung“ auf der anderen Seite ⫺ verursachte dialektale Auseinanderwachsen eines ehemals grenzenlosen Dialektraums beiderseits der Staatsgrenze ist in jüngerer Zeit unter verschiedenen Gesichtspunkten untersucht worden. Einen Überblick bietet Cornelissen (1994). Gravierender noch als die strukturellen Veränderungen ist der soziale „Abstieg“ und der damit verbundene Funktionsverlust, der in absehbarer Zeit zu einem Aussterben der nrfk. Mundarten am Niederrhein zu führen droht. Noch zu Beginn des 19. Jh. bedient sich eine große Mehrheit der Bevölkerung in den meisten Kommunikationssituationen der Mundart, wie eine aufschlußreiche Beschreibung der sprachlichen Situation um 1800 durch den Gocher Arzt J. G. Rademacher belegt: „Bloß die Landessprache ist es, worin man sich ihm dem gemeinen Mann verständlich machen kann. Redete bloß der Landmann und überhaupt die geringere Classe diese Sprache […] Aber so spricht auch der wohlhabende Städter dieselbe. Der Reichthum seiner Begriffe ist unendlich größer, er hat also auch die Sprache aus Noth mit holländischen, französischen und hochdeutschen Wörtern bereichert. Auf diese Weise kann man die Landessprache gut reden […]“ (Tervooren 1979, 191).
Die in diesem Zitat zum Ausdruck kommende funktionale Breite und soziale Schichtung des Dialekts hat noch bis weit ins 19. Jh. Bestand. Daneben bildet sich allmählich für eine immer größer werdende Anzahl von Sprechern eine Diglossie heraus, indem neben die heimische Mundart eine gesprochene Form des Hd. tritt, die in immer mehr Verwendungssituationen zur Anwendung kommt. Dennoch kann sich der Dialekt in weiten Teilen des Niederrheins auch in der ersten Hälfte des 20. Jh. als Mittel der ortsgebundenen und häuslichfamiliären Kommunikation behaupten. Nach dem 2. Weltkrieg allerdings bewirken verschiedene Faktoren wie verstärkter Zuzug und zunehmende Mobilität, vor allem aber der durch die Medien Rundfunk und Fernsehen wachsende Einfluß der Standardsprache, dass der Gebrauch der Mundart immer weiter zurück-
2638
XVII. Regionalsprachgeschichte
geht. Das entscheidende Faktum für das zu prognostizierende Aussterben der nfrk. Mundart ist aber die Tatsache, dass selbst die Eltern, die die Mundart noch beherrschen und im Gespräch mit der älteren Generation benutzen, ihren eigenen Kindern gegenüber ausschließlich das Hd. verwenden (Macha 1993). Viele Funktionen, die früher der Mundart vorbehalten waren, übernimmt die gesprochene Umgangssprache, die in ihrer heutigen Form als Regiolekt, d. h. überlokale regionale Variante des Hd. charakterisiert werden kann. Sie ist zwar durch eine Reihe dialektaler Interferenzen gekennzeichnet, unterscheidet sich aber deutlich von früheren umgangssprachl. Formen, die man am Niederrhein mit dem scherzhaften Namen „Hochdeutsch auf Klumpen“ (klompen = Holzschuhe) zu bezeichnen pflegt und bei denen es sich um nichts anders handelt als „intendierte, doch verfehlte Standardsprache“; die heutige Umgangssprache ist demgegenüber „intendierte Umgangssprache“, die vor allem für jüngere Sprecher funktional zum Dialektersatz wird (Cornelissen 1997, 98). Damit hat sich in der 2. Hälfte des 20. Jh. eine instabile Triglossiesituation herausgebildet, deren weitere Entwicklung zu einer neuen Form der Diglossie aus hd. Standard und hd. Umgangssprache absehbar ist.
8.
Literatur (in Auswahl)
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Heinz Eickmans, Münster
2640
XVII. Regionalsprachgeschichte
179. Aspekte einer Sprachgeschichte des Westfälischen 1. 2.
7.
Definitorische Überlegungen Zur Sprachvorgeschichte des westfälischen Raumes Lateinische Schriftlichkeit (800⫺1300) Ausbildung und Geltung westfälischer Schreibsprachen (14.⫺16. Jahrhundert) Hochdeutsche Schriftsprache und plattdeutsche Mundart (1550⫺1850) Plattdeutsche Mundart und hochdeutsche Umgangssprache (von 1850 bis zur Gegenwart) Literatur (in Auswahl)
1.
Definitorische Überlegungen
3. 4. 5. 6.
Den Gegenstand einer westf. Sprachgeschichte bildet die Geschichte der sprachlichen Verhältnisse in einem durch Sprecher mit westf. Sprachlichkeit konstituierten Raum. Westfalen ist eine der regionalen Sprachlandschaften des Nd., eine westf. Sprachgeschichte eine regionale Sprachgeschichte des Nd. Dieses Konzept ⫺ westf. Sprachgeschichte im Rahmen einer Disziplin „Nd. Sprachgeschichte“ ⫺ trägt bis ins 16./17. Jh. Infolge des Schreibsprachenwechsels vom Mnd. zum Nhd. ändern sich in dieser Zeit die sprachlichen Verhältnisse grundlegend. Nach dem Wechsel fungieren die westf. Mundarten als Sprechsprache in einem nordwestdt. Varietätenspektrum. Die Beschreibung der sprachlichen Verhältnisse des westf. Raumes seit dieser Zeit gehört zum Gegenstandsbereich einer Sprachgeschichte des Dt. Es ist zu fragen, wie sich eine Gemeinschaft mit westf. Sprachlichkeit gebildet hat. Weiter ist festzustellen, welche Sprachen im westf. Raum gesprochen und geschrieben worden sind; gesellschaftliche Gruppen und sprachliche Varietäten sind in Beziehung zu setzen (Mattheier 1994). Für die einzelnen Epochen sind die schriftliche wie die mündliche Sprachpraxis zu rekonstruieren. Die Sprachgeschichte des westf. Raumes ist bestimmt durch das Neben- und Gegeneinander der Sprachen Latein, westf. Nd. und Hd. Nach dem internen Sprachwandel vom Altwestfälischen (Awestf.) zum Mittelwestfälischen (Mwestf.) im 12. Jh. fand dreimal ein durch externe Faktoren bedingter Sprachenwechsel statt, in der Schreibsprache vom Lat. zum Mwestf. im 14. Jh., dann vom Mwestf. zum Nhd. im 16. Jh., in der Sprechsprache
vom Plattdt. zur hd. Umgangssprache (19./ 20. Jh.). An den Sprachenwechseln orientiert sich die Gliederung der Darstellung.
2.
Zur Sprachvorgeschichte des westfälischen Raumes
Das Ausgreifen der Römer ins rechtsrheinische Germanien führte dazu, daß hier neben germ. Stammesdialekten auch lat. Sprache und Schriftlichkeit präsent waren. Funde aus den Lippelagern bezeugen, wie die römischen Truppen ihren Schriftverkehr erledigten. Die Ansätze zu lat. Sprache und Schriftlichkeit blieben infolge der militärischen Entscheidung des Jahres 9 n. Ch. Episode. Der Niederrhein bildete nun vom ersten bis zur Mitte des 5. Jhs. die Grenze des römischen Reiches. In der Sprachvorgeschichte des westf. Raumes können zwei Phasen unterschieden werden: die Zeit vor und die nach der Eingliederung in den Sachsenbund. Nordöstlich des Niederrheins lebten die Chamaven, an der unteren Lippe die Brukterer, an der unteren Ruhr die Hattuarier. Diese Sprechergruppen werden Rhein-WeserGermanen oder Istwäonen genannt. Sie schlossen sich im 3./4. Jh. unter dem Namen der Franken lose zusammen. Istwäonisch wurde vom Nieder-/Mittelrhein bis zur mittleren Weser gesprochen. Die Wortgeographie hat einen Wortverband Westfalen-Niederrhein-Niederlande herausgearbeitet, dessen Kern sich in vorsächs. Zeit gebildet haben wird (Müller 1989, 39⫺41). Nach der Abwanderung einzelner Gruppen im 3. und 4. Jh. erfolgte im Münsterland ein erheblicher Bevölkerungsschwund, doch ist für das 5. Jh. eine kontinuierliche Siedlung einheimischer Bevölkerung nachzuweisen. Neu hinzu kommt eine zahlenmäßig geringe Einwanderung aus dem Elb-Weser-Raum, Zeugnis einer sächs. Südausbreitung im späten 5. und frühen 6. Jh. (Grünewald 1999, 106). Der archäologische Befund erweckt den Eindruck fortdauernder friedlicher Koexistenz und eines intensiven Kontakts der Gruppen. Im Gebiet zwischen Weser, Ems und oberer Lippe erscheinen seit dem Anfang des 5. Jhs. elbgerm.-sächs. Funde. Das Land der Angrivarier wird Teil sächs. Herrschaft. Im Gebiet südlich der Lippe und im westlichen Münsterland verbleiben im 5.⫺7. Jh.
179. Aspekte einer Sprachgeschichte des Westfälischen
die frk. Völkerschaften als autonome Gebiete im Merowingerreich. Im späten 7. Jh. gewannen die Sachsen das Gebiet bis zur Lippe. Um 700 unterwarfen sie die Brukterer zwischen Lippe und Ruhr (694/95), die Hattuarier zwischen Ruhr und Lenne (um 715) sowie die Chamaven im westlichen Münsterland. Damals dürfte es zur Ethnogenese der unter sächsischer Herrschaft stehenden Westfalen gekommen sein (Böhme 1999, 72). Der westf. Raum gehört zu Beginn der Sachsenkriege zum sächs. Heerschaftsbereich, gegliedert in die Heerschaften der Westfalen und Engern. Die sog. Einhardsannalen sprechen zu 775 von Westfalai und die fränkischen Reichsannalen zum selben Jahr von Angrarii. Mit dem westf. Personenverband bildet sich nach 700 eine Gemeinschaft mit westf. Sprachlichkeit. Die Sachsen gehören zum Sprecherverband der Nordseegermanen bzw. Ingwäonen. Mit der Ausbreitung nach Süden dringen ingw. Innovationen von Norden nach Süden vor. Für das 6. und 7. Jh. ist für den westf. Raum eine sprachliche Dreiteilung zu vermuten: sächs.-ingw. im Gebiet der Engern zwischen Ems, Weser und oberer Lippe, frk.istw. in Südwestfalen und im westlichen Münsterland, sprachliche Koexistenz zwischen Fränkisch und Sächsisch im Münsterland. Im 8. Jh. wird es dann auch im westlichen und südlichen Westfalen aufgrund des intensiven Sprachkontakts zu frk.-sächs. Mischungsprozessen gekommen sein. So erklärt sich die von Anfang an vorhandene Sonderstellung Westfalens im nd. Raum. Schon in vorkarolingischer Zeit wurden zahlreiche Wörter aus dem Lat. entlehnt (Müller 1989, 41, 46). Die Entlehnung von kirchenlat. kyrika zu asächs. kirika weist auf frühe Kontakte zwischen rheinischem Christentum und den gentes, die später zum Sachsenbund gehörten. Asächs. pre¯star ist wohl vor der ahd. Diphthongierung von wgerm. /eo/, also vor dem frühen 8. Jh., ins Asächs. übernommen worden (Haubrichs 1999, 131).
3.
Lateinische Schriftlichkeit (800⫺1300)
In den „Sachsenkriegen“ (772⫺804) ging der sächs. Stammesstaat zugrunde. Sachsen ⫺ und damit auch Westfalen ⫺ wurde in das frk. Reich eingegliedert, die Bevölkerung christianisiert. Es wurden die Bistümer Münster, Osnabrück, Minden und Paderborn ge-
2641 gründet, Südwestfalen direkt dem Erzbistum Köln, die östlichen Niederlande dem Bistum Utrecht unterstellt. Die Organisation des kirchlichen Lebens ließ an den Bischofssitzen und in Klöstern eine Schreibkultur entstehen, die die lat. Sprache und das lat. Schriftsystem übernahm. Für die Ausbildung eines einheimischen Klerus wurden Domschulen gegründet. 3.1. Lateinische Schriftlichkeit und altwestfälische Mündlichkeit (800⫺ca. 1150) Zwischen 800 und dem Beginn des 14. Jhs. wurde in Westfalen fast ausschließlich lat. geschrieben. Zu Missionszwecken und zum Studium lat. Texte (Glossen) wurde auch die Volkssprache ansatzweise verschriftlicht. Das Awestf. bildet den südwestlichen Teil des Asächs. Die awestf. Überlieferung endet im 11. Jh. Obwohl mit Sicherheit lokalisierte asächs. Texte nur aus Westfalen stammen und sich im 10. und 11. Jh. die asächs. weitgehend mit der awestf. Überlieferung deckt, bereitet es Schwierigkeiten, das Awestf. räumlich abzugrenzen. Schreiborte, aus denen mehr als awestf. Namen überliefert sind, sind Essen, Werden und Freckenhorst. Aus Essen stammen ein Heberegister, ein Beichtspiegel (1. Hälfte 10. Jh.), eine Beda-Predigt (um 1000), Evangelien-Glossen und Gregor-Glossen, aus Werden ein Heberegister, Prudentius-Glossen und wahrscheinlich das awestf. Taufgelöbnis. Der Sprachstand des Gernroder Psalmenkommentars weist wohl ins westliche Westfalen (Klein 1977, 543⫺549). Nordwestf. Texte sind das Freckenhorster Heberegister (um 1100) und wohl auch die Oxforder Vergilglossen. Die Heliandhandschrift M wurde im engrischen Kloster Corvey geschrieben. Sprachgeographische Aussagen von der Überlieferung her sind kaum möglich (Klein 1988, 46). Durch die Untersuchung von Namenquellen aus Xanten, Essen und Köln konnte eine recht genaue Abgrenzung zwischen dem Awestf. und dem Anl. und dem Amfrk. vorgenommen werden (Tiefenbach 1984). Eine solche Abgrenzung ist für andere Grenzbereiche nicht möglich. Im Osten schließt sich der Teilstamm der Engern an. Im Süden bildet die Nordgrenze der 2. Lautverschiebung die Begrenzung zum Md. Die ungünstige Quellenlage erschwert auch die Beurteilung der Heliand-Sprache. Drei Auffassungen konkurrieren miteinander: die schreibsprachliche Interpretation Rooths (frankonisierte Ortho-
2642 graphie), die sprachsoziologische Mitzkas und Sanders’ (frankonisierter Oberschichtssoziolekt) und die dialektgeographische Gysselings (Herkunft aus dem anl.-asächs. Grenzbereich an der IJssel) (Klein 1988, 47). Die asächs. Quellen lassen eine grobe Gliederung nach Nord/Ost versus Süd/West erkennen. Die südwestlichen westf. Quellen sind durch das weitgehende Fehlen ingw. Züge charakterisiert. Kennzeichen, die das Awestf. vom östlich angrenzenden Engrischen unterscheiden, sind z. B. die Endung des Dat. Sg. Mask. -emo, -emu und Fem. -ru der starken Adjektivdeklination, und der Akk. Sg. Mask. des best. Artikels thena (Foerste 1950, 150⫺155 sowie 1957, 1750⫺ 1758). Das Freckenhorster Heberegister überliefert typisch nordwestf. Formen wie tharp ‘Dorf’, karn ‘Korn’, haneg ‘Honig’ (Foerste 1957, 1753). Kontakte hatte das Awestf. vor allem zum Lat. und zum Frk. Westfalen erhielt rom. Lehngut aus dem rheinischen Raum. Zum Kölner Missionswortschatz gehören lat. pascha > Paschen ‘Ostern’, lat. offere > offar ‘Opfer’. Direkter frk. Einfluß zeigt sich in der Rechtssprache. Karolingische Rechtswörter ersetzen z. T. ältere gemeingerm. Begriffe: afrk. *ur-daili ‘Urteil, Gericht’ > asächs. urdeˆli gegenüber asächs. doˆm. Die mündliche Sprachpraxis war durch die awestf. Mundarten bestimmt. Im Adel werden daneben Kenntnisse des Frk. vorhanden gewesen sein. Die Geistlichkeit, die anfangs aus benachbarten Teilen des frk. Reiches stammte, kann auf lat. Sprechsprache ausgewichen sein. 3.2. Lateinische Schriftlichkeit und mittelwestfälische Mündlichkeit (ca. 1150 bis ins 14. Jahrhundert) Die Dreiteilung des südlichen Sachsens in Westfalen, Engern und Ostfalen blieb nicht erhalten. An ihre Stelle trat im Hochmittelalter die Zweiteilung in West- und Ostfalen. Der Begriff „Sachsen“ engte sich auf das nnsächs.-ofäl. Gebiet ein. Die mwestf. Mundarten bauen auf awestf. Grundlage auf. In der zweiten Hälfte des 12. Jhs. vollzog sich der interne Sprachwandel vom Alt- zum Mwestf. (awestf. /ia/ > /e:/). Im 13. Jh. wird sich der westf. Mundartraum herausgebildet haben, dessen Kennzeichen die Kürzendiphthongierung und die Diphthongierung der eˆ- und oˆ-Laute sind. Im Bereich der Schriftlichkeit bildet das Mwestf. keine Fortentwicklung des Awestf.:
XVII. Regionalsprachgeschichte
Nach dem Ende der awestf. Überlieferung im 11. Jh. wurde über 200 Jahre, bis in die erste Hälfte des 14. Jhs., fast ausschließlich lat. geschrieben. Die Differenzierung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens sowie der Aufbau territorialer und städtischer Verwaltungen bewirkten einen Verschriftlichungsprozeß in Verwaltung, Recht und Handel. Im 13. Jh. nahm die lat. Schriftlichkeit zu; in den Städten trat neben die geistliche die Schriftlichkeit des Rates. Das lat. Stadtrecht von Soest, die sog. „Alte Kuhhaut“, stammt aus der Zeit ca. 1200⫺1260. An der Ostsiedlung des 12. und 13. Jhs. und damit an der Bildung des ostnd. Dialektareals hatten westf. Sprecher hervorragenden Anteil. Westfalen waren in Ostholstein und Mecklenburg entscheidend am Landesausbau beteiligt. Zu den lübischen Gründerfamilien gehören die Attendorn, Bocholt, Coesfeld und Warendorp.
4.
Ausbildung und Geltung westfälischer Schreibsprachen (14.⫺16. Jahrhundert)
Der Verschriftlichungsprozeß bewirkte den Schreibsprachenwechsel vom Lat. zur Volkssprache. Neben das Lat. traten lokale westf. Schreibsprachen. Auch in Westfalen gibt es Zeugnisse für den Gebrauch bestimmter Varietäten der mhd. Dichtersprache (Beckers 1982). Für die Aufzeichnung juristischer Texte begann man die bei der mündlichen Rechtsverhandlung übliche nd. Sprache zu verwenden. Das älteste Zeugnis in mnd. Sprache sind einige Sätze in einer lat. Urkunde der Äbtissin des Klosters Weddinghausen bei Meschede von 1207 (Korle´n 1945, 92⫺94). Von diesem Einzelfall abgesehen beginnt die Verschriftlichung des Nd. in Westfalen später (um 1300) als in Ostfalen und im Nordnd. Mit Sicherheit aus dem 13. Jh. stammt die Ravensberger Urkunde von 1292 (Korle´n 1945, 112⫺115). Die Dortmunder Handschrift des frk. Landfriedens ist frühestens 1281 entstanden, kann aber jünger sein. Die übrigen von Korle´n besprochenen westf. Texte sind nicht genau zu datieren; sie gehören der Wende vom 13. zum 14. bzw. dem 14. Jh. an. Diese Zeit, vor allem das zweite Jahrzehnt des 14. Jhs., kann als zögernder Anfang der kontinuierlichen Überlieferung volkssprachiger Texte betrachtet werden
179. Aspekte einer Sprachgeschichte des Westfälischen
(Rooth 1919, XI ff.; Goossens 1983, 73). Doch findet der Wechsel von mehrheitlich lat. zu mehrheitlich nd. Urkunden erst in der zweiten Hälfte des 14. Jhs. statt; in Münster fällt der Umschlag in die Jahre zwischen 1370 und 1375. In die westlichen Randzonen drang die volkssprachige Urkunde von Utrecht her ein. Im 15. Jh. schritt der Sprachausbau des Westf. weiter fort. Die westf. Varietäten besetzen die Mehrzahl der schreibsprachlichen Domänen, die Verwaltung, die Rechtsprechung, den Geschäftsverkehr, die Chronistik. Auch die Domänen Religion und Wissensvermittlung gingen, soweit sie sich an Laien wandten, zur Volkssprache über. 1451 wurde die sog. Münstersche Grammatik geschrieben, in der das Lat. in nd. Sprache beschrieben wurde. Größere Bedeutung erhielt seit Beginn des 15. Jhs. die Schreibsprache der IJsselstädte, als in Deventer und Zwolle eine religiöse Erneuerungsbewegung, die Devotio moderna, entstand. Die Devotio moderna verbreitete sich ins nördliche Westfalen. Die Predigten des münsterischen Fraterherren Johannes Veghe wurden in nordwestf. Nd. niedergeschrieben. Das Lat. blieb die Sprache von Theologie und Wissenschaft. Seine Zurückdrängung verlief nicht geradlinig. Im Kreise der Humanisten, zu deren nordwestdt. Zentrum sich um 1500 die Stadt Münster entwickelte, setzte eine intensive Pflege der lat. Sprache ein, die zur Entstehung einer neulat. Dichtung führte. Die erste Druckerei Westfalens wurde 1485 in Münster eingerichtet. Druckereien in Soest und Lippstadt folgten erst 1523. Am Westrand war Deventer ein bedeutendes Druckzentrum. Weitere Druckorte im Ijsselgebiet waren Zwolle und Kampen. Auch in Köln erschienen Drucke in nd. Sprache. Die Nähe zu Deventer und Köln, von wo aus der westf. Raum beliefert wurde, erklärt es wohl, daß Münster nicht zu einem Druckzentrum aufstieg. In Münster steht das Aufkommen des Buchdrucks in engem Zusammenhang mit dem Humanismus: es wurden vor allem lat. Drucke für die Bedürfnisse des im Jahre 1500 reformierten Gymnasiums produziert. Im Zuge des Aufkommens volkssprachiger Schriftlichkeit entstanden regionale Schreibsprachen. Abgrenzbar ist das westf. Schreibsprachenareal nach Süden durch die Nordgrenze der hd. Lautverschiebung und durch die Wesergrenze vom Ofäl. Nach Norden gibt
2643 es ein Übergangsgebiet zum Gron.-Ofries. und zum Nnsächs. Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung nach Westen hin. Hier gibt es ein nl.-nd. Schreibsprachenkontinuum. Innerhalb dieses Kontinuums bilden das Geldrisch-Kleverländische und das Westf. Übergangszonen zwischen dem Holländischen und dem Mnd. östlich der Weser. Das Westf. läßt sich als eine Sammlung von Schreibformen zwischen dem Mnl. und dem Mnd. östlich der Weser beschreiben, wobei die nd. Färbung überwiegt (/e:/ statt /i:/ für wgerm. /eo/, /o:/ statt /u:/ für wgerm. /o:/, Einheitsplural der Verben im Präs. Ind., /h/-lose Pronominalformen im Dat. und Akk.) (Goossens 1983, 64). Zwischen Veluwe und Ems erstreckt sich eine schreibsprachliche Übergangszone, in der nd. Mundarten von einer stark nl. beeinflußten Schreibsprache überdacht werden. Meist gehört Westfalen zu einem größeren Wortverband Niederlande-Rheinland-Westfalen. Der Gerber heißt in Westfalen löer, in Ostfalen gerwer, der Flickschuster im Westf. ˚ sdahl lapper/lepper, im Ofäl. böter/oltböter (A Holmberg 1950). Die Beispiele verdeutlichen, daß an der oberen und mittleren Weser die wichtigste Wortgrenze innerhalb des nd. Altlandes verläuft. Westf. Schreibzentren sind Dortmund, Soest, Münster, Osnabrück, Herford, Lemgo und Paderborn. Im Grenzbereich von Westund Ostfalen liegt Minden. Kennformen der westf. Schreibsprachen sind etwa (vgl. ausführlicher Art. 106): Der Gen. von stad lautet der, des stades. ⫺ Es heißt westf. sal, brengen, dö¯t ‘tut’, konde(n), mensche, vrent/vrönt, derde ‘dritte’. ⫺ Das Pron. ‘dieser’ lautet desse, anfänglich auch noch dese, im Südosten disse/düsse. ⫺ selve, sölve, im Osten auch sülve. ⫺ wel ‘wer’ neben we. ⫺ jüwelik, malk ‘jeder’, nıˆn ‘kein’, im Südosten neˆn. ⫺ waˆr ‘wo’, wuˆ neben woˆ ‘wie’, wal neben wol ‘wohl’. ⫺ hent (nordwf.), bet, winte ‘bis’, dö¯r ‘durch’, tegen ‘gegen’, sünder ‘ohne’, tüsschen ‘zwischen’. ⫺ Neben unde ande (bis 1350), am Westrand ende, inde. Kombination eder/ofte (nordwestf.) bzw. eder/efte (süfwestf.), men/mer ‘aber, sondern’, dan ‘komparativisches als’, want(e) ‘denn, weil’, wattan ‘obwohl’. In einem Teil der Fälle ist das Inventar nach Westen hin offen, sind die Varianten auch mnl. und/oder rib.: sal, brengen, mensche, derde, selve, malk, wal, tegen, sünder, tüsschen, ofte, mer, dan, want. Im Nordwestf. gelten die Varianten desse, nıˆn, wal, up, hent sowie eder/ofte. Im Ost- und Südwestf. ist die Verbindung /ij/ zu /igg/, /u¯w/ zu /ugg/ (südwestf.) bzw. /uww/ (ostwestf.) geworden: friggen, nigge, buggen/ buwwen. Das Ostwestf., Übergangszone zum Ofäl., hat überwiegend sc(h)al, vrünt, sülve, twisschen. Im
2644
XVII. Regionalsprachgeschichte
Südwestf. ist /a/ vor /ld/, /lt/ erhalten: halden, salt. Südwestf. sind das Suffix -nüsse ‘-nis’, disse/düsse, neˆn neben nıˆn, nit neben nicht, op ‘auf’, winte ‘bis’, eder/efte ‘oder’.
Zwischen dem Mnl. und dem Westf. steht die Schreibsprache der IJsselstädte. Diese hat natürlich Anteil an den genannten nl.-westf. Gemeinsamkeiten: sal, mensche, derde, selve, tegen, tüsschen, ofte, want. Westf. sind /a/ zu /o/ vor /ld/, /lt/ (olt, solt), vrent, hillig, sünte, wal, mer, nl. die Senkung von /u/ zu /o/ vor Nasalverbindung (ons ‘uns’), elk ‘jeder’, geen ‘kein’. Charakteristisch für das IJsselländische ist das Schwanken zwischen der nl. und der westf. Variante: brief/breef, dese/desse, niet/nicht, op/up, ende/unde.
Kennzeichnend für die frühmnd. Zeit (14. Jh.) ist eine sowohl inter- als auch intraschreibsprachliche Variantenvielfalt. In der Zeit vor und um 1400 wird diese teilweise abgebaut, es bilden sich örtliche Schreibtraditionen heraus. In den 60er Jahren des 14. Jhs. ist in Herford und Lemgo der Abbau einer Reihe von Varianten festzustellen (Fedders 1990, 65). In Osnabrück konkurrieren in einigen Fällen eine westf. und eine nnsächs. Variante. Nach 1370 setzen sich die westf. Varianten durch (Weber 1987, 158). Auch in Westfalen kommt es zu ⫺ wenn auch kleinräumigen ⫺ Normierungsansätzen (Peters 1995, 210). Dies ist gegenüber der traditionellen These zu betonen, die „lübische Norm“, d. h. eine Ausgleichssprache auf lübischer Grundlage, habe im 15. Jh. im gesamten nd. Sprachgebiet gegolten. In Münster herrscht zwischen den Varianten des 14. und denen des 15. Jhs. weitgehende Übereinstimmung. In Herford erfolgt eine Hinwendung zu westlichen westf. Varianten: sunder/aˆne > sunder, schal > sal (Fedders 1990, 64). In Osnabrück wurde die Schreibsprache „westfalisiert“ (Weber 1987, 158). Der Abstand zwischen geschriebener und gesprochener Sprache ist im Mwestf. recht groß. Dies wird deutlich am Teilsystem der tonlangen Vokale: /ie/ /üe/ /ue/ /ea/ /öa/ oa/ /a¯/
<e>
Sprachliche Kontakte gab es zum Nord- und Ostseeraum (Hanse), doch im Spätmittelalter noch stärker zum Rheinland (Köln) und zu den östlichen Niederlanden (Deventer). Seit dem Ende des 13. Jhs. macht sich im nordnd. Sprachraum zwischen Stade-Hamburg und dem Baltikum ein westlicher, d. h. westf.,
rhein. und nl. Einfluß bemerkbar. In der ersten Hälfte des 14. Jhs. sind westliche Spuren im Nordnd. nicht selten (Korle´n 1950). In der lübischen Rechtssprache sind bursprake, torfacht egen und eggehachte wapen westf. Ursprungs (Hyldgaard-Jensen 1964). Das Pron. uns hat sich von Westfalen aus im nd. Sprachraum verbreitet (Bischoff 1962). Vom kulturellen wie religiösen Zentrum Köln aus machte sich schon in frühmnd. Zeit sprachlicher Einfluß geltend, so in der Dortmunder Hs. des frk. Landfriedens (vermutlich nach 1281) und in der westf. Psalmenübersetzung von etwa 1300 (Rooth 1919). Im 15. Jh. strahlt die Längenbezeichnung vor allem nach Südwestfalen aus. Kontakte zu den östlichen Niederlanden spiegeln sich in den Erbauungsschriften der Devotio moderna, in denen vorlagenbedingt (ost-)nl. Einfluß vorhanden ist. Als Sprachbezeichnung dient ⫺ neben düdesch ⫺ der Ausdruck westfelesch. Die Sonderstellung Westfalens im nd. Sprachraum war den Zeitgenossen durchaus bewußt, wie die Aussage eines westf. Klerikers erweist, der um 1513 den sprachlichen Zustand Palästinas mit der Differenz zwischen dem Westf. und dem übrigen Mnd. vergleicht: Eyn cleyne schelede galileus sprake vnde Iherusalemes (alse westfeles vnde sassesch) (Mante 1952, 350).
5.
Hochdeutsche Schriftsprache und plattdeutsche Mundart (1550⫺1850)
Im 16. Jh. wurden, im Zuge des Schreibsprachenwechsels vom Mnd. zum Nhd., die westf. Schreibsprachen durch die nhd. Schriftsprache verdrängt (vgl. Art. 109). Der Wechsel in Westfalen ordnet sich in den gesamtnd. Vorgang ein (Peters 2000, 168). Der Schriftverkehr mit dem Süden des Reiches stieg in der ersten Hälfte des 16. Jhs. stark an. Schon in den 30er Jahren übertraf er in Münster den Verkehr mit nd. schreibenden Kanzleien bei weitem. Für Juristen und Diplomaten sind hd. Sprachkenntnisse erforderlich. Die reformatorische Diskussion wird in nd. Sprache geführt: Die Schrift des Martin Bucer über das Straßburger Religionsgespräch mit dem Täufer Melchior Hoffmann erschien 1533 in Münster in nd. Übersetzung (Besch 1995). Eine spezifisch münsterische Sprachsituation resultierte aus der Herrschaft der Täufer in den Jahren 1534/35. Neben die westf. Stadtmundart traten die Dialekte der Zuwan-
179. Aspekte einer Sprachgeschichte des Westfälischen
derer vom Niederrhein, aus Holland und aus Friesland. Die nd. Schriften des Täufers Bernhard Rothmann begründeten eine münsterische Drucksprache. Mit der Diskussion theologischer Fragen in der Volkssprache erreichte der Sprachausbau des Westf. seinen Höhepunkt (Peters 1995 a, 155). Zur Überwindung der regionalen westf. Schreibsprachen gab es mehrere Möglichkeiten. Die erste Option, Sprachausgleich mit dem Ziel einer nd. Schriftsprache durch die Übernahme „sassischer“ Varianten, wurde etwa in Soest von den meisten kleineren Schreibstätten und von den evangelischen Prädikanten getragen. Die katholische Geistlichkeit Soests ist aufs Rib. ausgerichtet (Fischer 1998). Die Übernahme des Rib. hatte 1527 schon Johannes Cincinnius aus dem Kloster Werden, wegen der sprachlichen Mittelstellung des Rib. zwischen dem Nd. und dem Hd., empfohlen: „(…) want Coelsche spraiche allen landen umblanges boven und beneden middeldanich und angeneym dutzsch is“ (Hoffmann 1988, 110). Die dritte Option, der Wechsel zum Hd., setzte sich schließlich durch. Die Wertschätzung des Hd. bewirkte einen Prestigeverlust des Nd. Der Dortmunder Humanist Jacob Schöpper äußert 1550, „wie unsere Westphälische zung oder spraach vil Jar e her bey allen außlendischen nationen vn¯ volckern/als grob vnd beurisch/verlachet/verachtet vn¯ verspiegen ist worden. also gantz/das ein Westpheling schyr eins jeden affe und meerwunder/seiner sprache halber/hat sein müssen“ (Schulte Kemminghausen 1939, 60). Schon um 1550 lasen die Gebildeten hd. Bücher, die aus dem hd. Raum importiert wurden. Der Schreibsprachenwechsel breitete sich von Südosten nach Nordwesten über den nd. Sprachraum aus. Auf der Karte von Gabrielsson (1983, 148) bildet Westfalen zusammen mit den nnsächs. Städten die Zone III, in der der Wechsel zuletzt erfolgte. Innerhalb dieser Zone geht Westfalen dem nnsächs. Gebiet voraus. Die Darstellung des Ablaufs in Westfalen orientiert sich an den sog. Rezeptionsarbeiten. Es können vier Kanzleigruppen unterschieden werden: 1. Die Kanzleien der Stadt Münster, in denen der Wechsel zwischen 1533 und 1571 erfolgt; 2. die fürstliche Kanzlei Lippe wechselt 1550; 3. 1550 beginnt der Wechsel in der fürstlichen Kanzlei Bentheim; nach 1550 setzt er in Paderborn und Osnabrück, um 1560 in Bielefeld, Soest und Dortmund, um 1565 in Lemgo und Bochum ein (Peters 2000,
2645 172 f.). In den meisten Kanzleien wird die Schreibsprache zwischen 1550 und 1580/90 umgestellt. 4. Zuletzt beginnt der Übergang im Nordwesten und Norden, in Gronau 1570, in Lingen 1580. Die frühe Übernahme des Hd. in Münster kann als Übernahme der Kölner Neuerung erklärt werden (Peters 1994, XIII f.).
Zwischen 1580/90 und 1620/30 erfolgte die zweite Phase des Schreibsprachenwechsels. Sie umfaßt die klientennahen Bereiche des Kanzleiwesens, Kirche und Schule sowie das private Schrifttum. Im Westen endete die Ausbreitung der hd. Schriftsprache an der Grenze des Burgundischen Kreises (Mihm 1992, 115 f.; Peters 1998, 123). Nach 1570/80 etabliert sich östlich der späteren dt.-nl. Grenze das Hd. als Schriftsprache. Westlich der Grenze wurden die regionalen Schreib- und Drucksprachen vom Nl. verdrängt. Die wirtschaftliche und kulturelle Blüte Hollands führte, zusammen mit dem Calvinismus, zur Ausbreitung der nl. Schriftsprache bis zur Ostgrenze der Niederlande. In der politisch und kirchlich an die Niederlande gebundenen Grafschaft Lingen sind um 1600, soziofunktional unterschieden, als Schriftsprachen das Hd., Nl. und Nd. in Gebrauch (Taubken 1981). Andere „triglossische“ Territorien sind Bentheim, Steinfurt sowie die kleinen westmünsterländischen Herrschaften Gronau, Gemen, Werth und Anholt (Kremer 1998, 25 ff.). Als Folge der Schreibsprachenwechsel kommt es zur Teilung des ostnl.-westf. Sprachraums in einen kleineren nl. und einen größeren hd. Teil. Der Schreibsprachenwechsel führte zur Herausbildung einer medialen Diglossie. Das Hd. wurde geschrieben und seit etwa 1600 in Kirche und Schule gesprochen. Im 17. und 18. Jh. waren die Ober- und Bildungsschichten zweisprachig. Das nun Plattdeutsch genannte Nd. blieb die Sprechsprache der breiten Bevölkerungsschichten. Diese Sprachlage blieb mehr als 200 Jahre, von etwa 1620/30 bis in die Mitte des 19. Jhs., stabil. Während des europäischen Friedenskongresses (1643⫺1648) herrschte in den Städten Münster und Osnabrück in den Bereichen Schriftlichkeit und Mündlichkeit eine vielsprachige Kommunikationssituation. Welche Rolle das Frz. im 17.⫺19. Jh. im nordwestdt. Varietätenspektrum spielte, bleibt noch zu untersuchen. Verstärkt wurde der Einfluß des Frz. in der napoleonischen Zeit, als der nördliche Teil Westfalens zum frz. Kaiserreich gehörte.
2646
XVII. Regionalsprachgeschichte
Karte 179.1: Der westfälische Mundartraum (aus: Müller/Niebaum 1989, 7)
179. Aspekte einer Sprachgeschichte des Westfälischen
In den beiden ersten Jahrzehnten des 17. Jhs. war in den Städten die Unterrichtssprache hd. geworden. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. wurde das Problem des Plattdt. als Verstehensbarriere für die religiöse Unterweisung diskutiert (Niebaum 2000, 233 ff.). Die didaktische Notwendigkeit, beim Hochspracherwerb vom Plattdt. auszugehen, betont Th. Hegener 1843. Aus der Befürchtung eines baldigen Aussterbens der Mundarten heraus entstanden Idiotica, die westf. Dialekte dokumentierten (Niebaum 1979). Die Überlieferung gedruckter Gelegenheitsdichtung, wie sie aus dem nordnd. Raum bekannt ist, ist in Westfalen unbedeutend. Auch zu Beginn des 19. Jhs. ist das Plattdt. die Umgangssprache auch der breiten städtischen Bevölkerungsschichten. Heinrich Karl Wilhelm Berghaus bezeugt für das Münster der Jahre 1803⫺1811 die Fortdauer der medialen Diglossie: „Hochdeutsch wurde nur geschrieben, nie, oder doch blos von Einzelnen aus dem Kreise der höhern Geistlichkeit, gesprochen“ (Nagel 1995).
6.
Plattdeutsche Mundart und westfälisch-hochdeutsche Umgangssprache (von 1850 bis zur Gegenwart)
Die fünfte Phase der Sprachgeschichte des westf. Raumes beginnt in der Mitte des 19. Jhs. Im Bereich der Mündlichkeit setzt der Sprachenwechsel vom Plattdt. zum Hd. ein. Dieser kann als Folge des Schreibsprachenwechsels betrachtet werden. Zuerst ging das Bürgertum, dann die mittleren und unteren Schichten der Stadtbevölkerung zum Hd. über (1850⫺1920), schließlich, seit den 20er Jahren dieses Jhs., die Landbevölkerung. Das Bürgertum paßte sich dem Sprachgebrauch von Adel und Bildungsschicht an. Im Bürgertum der zweiten Hälfte des 19. Jhs. war der Wechsel mehr noch als im Einfluß der Schule durch das Bedürfnis nach Sozialprestige motiviert (Peters 1992, 57 f.). Der Wechsel breiter Bevölkerungsschichten im 20. Jh. wurde bewirkt durch zunehmenden Verkehr, Einfluß der Medien und den Einfluß eines Bildungswesens, das das Ziel verfolgte, die sprachliche Barriere zwischen der Bildungsschicht und der Bevölkerungsmehrheit zu überwinden. Der Sprachenwechsel führte im Regelfall zu hd. Einsprachigkeit, manchmal zu plattdt. Zweitsprache. Da der Wechsel in
2647 den Städten ⫺ abgesehen von den Kleinstädten ⫺ eher erfolgte als auf dem Lande, entstand, kennzeichnend für die Jahrhundertwende und die erste Hälfte des 20. Jhs., ein ausgeprägter sprachlicher Stadt-Land-Gegensatz. Die allgemeine Zweisprachigkeit der unteren und ländlichen Schichten führte zu einer veränderten Diglossielage: Das Plattdt. wurde aus der Öffentlichkeit verdrängt und nur mehr in nichtöffentlichen (privaten) Situationen verwendet. Eine Befragung von 1936 zeigt eine regionale Verteilung des Sprachgebrauchs. Das Hd. ist in den Groß- und Mittelstädten, im Industriegebiet an Ruhr und Lippe und im mittleren Westfalen Sprechsprache geworden, während das Plattdt. vorwiegend im größten Teil des Münsterlandes, im Norden Ostwestfalens und im Paderborner Land gesprochen wird (Schulte Kemminghausen 1939, 92). Beim Sprechen des Hd. wurde die Lautung der Hochsprache nicht vollständig erreicht. Es entstanden regionale Varianten des Hd. Für den westf. Raum werden zwei regionale Umgangssprachen genannt, das Westf. und das Ruhrdt. (Lauf 1996). Die westf. Umgangssprache entstand durch den Sprechsprachenwechsel vom Plattdt. zum Hd., das Ruhrdt. daneben auch durch den Sprachwechsel der ins Ruhrgebiet zugewanderten Bevölkerung von der Sprache des Herkunftsgebietes (z. B. Polnisch und Masurisch) zum Hd. Der Anteil des nd. Substrats (dat, wat) ist im Ruhrdt. höher als in der Umgangssprache des übrigen Westfalen, da der Wechsel zum Dt. im Ruhrgebiet früher erfolgte als in den ländlichen Regionen. Ein Kennzeichen beider Umgangssprachen ist die Vokalisierung des /r/ vor Konsonant unter Dehnung des vorhergehenden Vokals (a¯m ‘arm’, wa¯ten ‘warten’). Die Umgangssprachen haben mit der Mundart Lexeme gemeinsam, die das Hd. nicht kennt (z. B. Blage ‘Kind’). Im Ruhrdt. sind für die Lexik auch Einflüsse aus dem Rotwelschen und dem Jiddischen zu beobachten (Menge 2000, 337). Heute gibt es im Ruhrgebiet ein breites Spektrum an Variation zwischen standardnah und standardfern, wobei Merkmale des Ruhrdt. auch Kennzeichen des regionalen Standards sein können, etwa die genannte Vokalisierung des /r/ und die Spirantisierung von /g/ im Auslaut (Menge 2000, 346). Zu erwähnen sind Geheimsprachen aus dem Milieu der Wanderhändler, die bis ins
2648 20. Jh. verwendet wurden. Es handelt sich um drei regional gebundene Rotwelschdialekte, um das Bargunsch oder Humpisch der Tödden aus dem Tecklenburger Land, um das Schlausmen der wandernden Sensenhändler aus dem Hochsauerland und um die Speismakeimersprache oder Masematte, die in einigen münsterischen Stadtvierteln vor allem von Bauhandwerkern, aber auch als Pennälersprache, benutzt wurde (Kremer 2000, 322). Die gegenwärtige Situation der Mundarten ist durch Dialektverfall und Dialektverlust gekennzeichnet. Die westf. Mundarten übernehmen, vor allem im Wortschatz, Elemente aus der Standardsprache. Der Dialektverfall beseitigt aber den linguistischen Abstand zum Hd. nicht. Die Mundarten werden immer weniger gesprochen, und zwar in immer weniger Situationen (Funktionsverlust) und von immer weniger Menschen (Kompetenzverlust). In Westfalen konnten 1984 von den 18⫺ 34jährigen 1 %, von den 35⫺49jährigen 25 %, von den über 50jährigen 48 % sehr gut oder gut plattdt. sprechen (Goossens 1986, 18). In den östlichen Niederlanden ist die Sprachsituation ähnlich, doch gibt es Unterschiede, die in der größeren Nähe von Standardsprache und Dialekten begründet sind. Der Dialektverfall ist stärker ausgeprägt, der Dialektverlust läuft langsamer ab als östlich der Staatsgrenze (Kremer 1993). Neben den Varietäten Hd. und ⫺ in stark abnehmendem Maße ⫺ Plattdt. ist bei etwa einer Mio. Zuwanderern ⫺ vor allem Arbeitsmigranten, Asylsuchenden und deutschstämmigen Umsiedlern ⫺ eine Vielzahl von Sprachen in Gebrauch. Die Kinder werden außer in der Familiensprache in der Regel auch in der dt. Standardsprache und/oder in der westf. Umgangssprache bzw. im Ruhrdeutschen sozialisiert (Kremer 2000, 334 f.). Als Reaktion auf die Gefährdung der Mundarten setzte seit der Mitte des 19. Jhs. verstärkt eine Literatur in westf. Mundarten einn (Weber 1991). In der noch vor der Jahrhundertwende entstandenen Heimatbewegung wurde die Mundart als bedrohtes Kulturgut angesehen. Kulturelle Aktivitäten ⫺ Mundartliteratur, nach dem 1. Weltkrieg auch Laienspiel und Hörspiel ⫺ wurden als Vehikel zur Erhaltung des Plattdt. angesehen. Diese sprachpflegerischen Bemühungen führten insbesondere im Münsterland zur Entstehung einer Kulturmundart. Es kann in Westfalen beobachtet werden, daß die plattdt.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Kulturszene den Wechsel zur hd. Sprechsprache um mindestens eine Generation überlebt (Peters 1992, 62 ff.).
7.
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179. Aspekte einer Sprachgeschichte des Westfälischen
2649
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Robert Peters, Münster
2651
180. Aspekte einer Sprachgeschichte des Sassischen
180. Aspekte einer Sprachgeschichte des Sassischen 1. 2.
7.
Definitorische Überlegungen Zur Sprachvorgeschichte des sassischen Raumes Lateinische Schriftlichkeit (800⫺ca. 1300) Ausbildung und Geltung sassischer Schreibsprachen (ca. 1300⫺1600) Niederländische und hochdeutsche Schriftsprache, plattdeutsche Mundart (1550⫺ 1870) Plattdeutsche Mundart und norddeutsche Umgangssprache (von 1870 bis zur Gegenwart) Literatur (in Auswahl)
1.
Definitorische Überlegungen
3. 4. 5. 6.
Den Gegenstand einer Sprachgeschichte des Sassischen bildet die Geschichte der sprachlichen Verhältnisse in einem als sassisch definierten Raum. Die Bezeichnung sassisch ist in der Sprachgeschichtsschreibung bislang ungebräuchlich. Im Spätmittelalter verstand man unter sassisch den nd. Sprachraum ohne dessen westf. Teil, also das Nordnd. und das Ofäl. (Lasch 1920 a). Hier ist, da das Ofäl. gesondert behandelt wird, der Raum gemeint, der sich zwischen der fries.-nd. Sprachgrenze westlich des Groningerlandes und der alten Slawengrenze im Osten, dem Dän. im Norden und dem Westf. und Ofäl. im Süden erstreckt. Für den nordwestlichen Teil des nd. Raumes sind die Bezeichnungen nordnd. und nnsächs. in Gebrauch. Dabei ist der Ausdruck nordnd. uneindeutig: Er fungiert sowohl als Benennung für den nnsächs., zum anderen als Oberbegriff für den nnsächs. und den oelb. Raum. Der Norden des westnd. Sprachgebiets erstreckte sich im Westen über die heutige nl.-dt. Sprachgrenze hinaus. Für die Dialekte der nordöstlichen Niederlande ist die Bezeichnung nedersaksisch üblich. Der Terminus sassisch fungiert im folgenden als Oberbegriff für den nedersaksischen und den nnsächs. Raum, das heißt für den nordwestlichen Teil des nd. Sprachraums. Die sassische Sprachlandschaft ist eine der regionalen Sprachlandschaften des Nd., eine sassische Sprachgeschichte eine regionale Sprachgeschichte des Nd. Dieses Konzept trägt bis in die Zeit um 1600. Infolge des Schreibsprachenwechsels vom Mnd. zum Nhd. bzw. zum Nl. ändern sich in dieser Zeit die sprachlichen Verhältnisse grundlegend. Nach dem Wechsel fungieren die sassischen Dialekte als Sprechsprache in einem nordostnl. und einem nord-
westdt. Varietätenspektrum. Die Beschreibung der sprachlichen Verhältnisse des nedersaksischen Raumes seit dieser Zeit gehört zum Gegenstandsbereich einer Sprachgeschichte des Nl., die des nnsächs. Raumes zu einer Sprachgeschichte des Dt. Die Sprachgeschichte des sassischen Raumes ist bestimmt durch das Neben- und Gegeneinander der Sprachen Latein, sassisches Nd., Hd. und Nl. Auf Kosten des Fries. und des Dän. wurden Gebietsgewinne erzielt. Nach dem internen Sprachwandel vom Asächs. zum Mnd. im 12. Jh. fand dreimal ein durch externe Faktoren bedingter Sprachenwechsel statt, in der Schreibsprache vom Lat. zum Mnd. im 13. und 14. Jh., dann vom Mnd. zum Nhd. und zum Nl. im 16. und 17. Jh., in der Sprechsprache von den sassischen Mundarten zur norddt. und zur nordostnl. Umgangssprache (Ende 19. und 20. Jh.). An den Sprachenwechseln orientiert sich die Gliederung der Darstellung.
2.
Zur Sprachvorgeschichte des sassischen Raumes
Der Sachsenname ist erstmals bei Klaudios Ptolemaios im 2. Jh. belegt. Die Wohnsitze der Sachsen werden an der Unterelbe, im heutigen Holstein, gelegen haben. Die sächs. Expansion richtete sich zunächst über die Elbe nach Westen; noch im 4. Jh. wurde das Weser-Elbe-Dreieck zum Kerngebiet (Capelle 1999, 77). Von hier aus erfolgte eine Ausdehnung über die Weser nach Südwesten, wobei die Sachsen andere germ. Stämme überlagerten. Die Abwanderung der Angeln und eines Großteils der Sachsen nach Britannien im 5. Jh. führte die räumliche Trennung der ausgewanderten Sachsen und der Festlandsachsen herbei. Nach der Landnahme in Norddeutschland konstituierte sich mit dem sächs. Stammesstaat des 7. und 8. Jhs. eine sächs. Sprachgemeinschaft. In der ersten Phase der Sprachvorgeschichte des sassischen Raumes existierte ein sächs. Stammesdialekt in Holstein und im Weser-Elbe-Dreieck. Noch vor der ags. Landnahme wurde in einer zweiten Phase das Sächs. Teil eines sprachlichen Neuerungsverbandes, zu dem außerdem die Vorstufen des Aengl., des Afries. und z. T. auch des Anl. gehörten. Innerhalb des Wgerm. bildete sich die
2652
XVII. Regionalsprachgeschichte
nordseegerm. bzw. ingw. Sprachgruppe heraus. Die ingw. Neuerungen drangen, wohl mit der sächs. Südausbreitung, von Norden nach Süden vor. Nach der Südausbreitung ist die dritte Phase (7./8. Jh.) geprägt von einem intensiven Sprachkontakt zwischen dem Sächs. und den überlagerten germ. Stämmen in Westfalen, Engern und Ostfalen sowie mit dem Merowingerreich. In dieser Phase wird es zu den Sprachmischungsprozessen gekommen sein, auf die die sprachliche Zwischenstellung des Asächs. zwischen dem Aengl./ Afries. und dem Ahd. zurückzuführen ist (Foerste 1957, 1732; Sanders 1983, 29⫺31). Doch ist ein sächs.-ingw. Sprachcharakter des nördlichen sächs. Gebiets anzunehmen, da hier etwaige Sprachmischungsprozesse wohl Stämme mit bereits ingwäonisierten Dialekten betrafen. Die Kontroverse um die Echtheit oder Fälschung der sog. Weserrunen hielt bis in die Gegenwart an. Neuere Forschungen (Pieper 1988) ergaben, daß sich unter ihnen sowohl Fälschungen als auch echte Fundstücke befinden. Die Entstehung der drei Weser-Runen-Knochen wird an das Ende der römischen Kaiserzeit und den Beginn der Völkerwanderungszeit gesetzt.
3.
Lateinische Schriftlichkeit (800⫺1250)
In den „Sachsenkriegen“ (772⫺804) ging der sächs. Stammesstaat zugrunde. Sachsen wurde in das Karolingerreich eingegliedert, die Bevölkerung christianisiert. Die Übernahme des Christentums und die Organisation des kirchlichen Lebens bewirkten das Aufkommen der Schriftlichkeit. Diese stellt sich als Übernahme der lat. Sprache und des lat. Schriftsystems dar. 3.1. Lateinische Schriftlichkeit und altsächsische Mündlichkeit (800⫺ca. 1150) Zwischen 800 und der Mitte des 13. Jhs. wurde fast ausschließlich lat. geschrieben. Zu Missionszwecken wurde auch die Volkssprache zumindest ansatzweise verschriftlicht. Das Asächs. bzw. And. bildet die erste Sprachstufe des Nd. Es setzt um 800 ein und endet im 11. Jh. Schriftlichkeit ist im Norden des asächs. Sprachraums eine jüngere und seltenere Erscheinung als im Süden (Scheuermann 1977, 175). Meppen, Wildeshausen, die Bistumssitze Bremen und Verden, Lüneburg
und Bardowiek sowie am Ende des Zeitraums das ostholsteinische Bosau, der Sitz Helmolds sind die wenigen Schreiborte. Lat. Nekrologien sind aus Bremen und Lüneburg, Viten aus Bremen (Ansgar, Willehad), Chroniken und Annalen aus Bremen (Adam) und Holstein (Helmold) überliefert (Cordes 1973, 18⫺24). Als einziges asächs. Denkmal kann die 1977 entdeckte Straubinger Fragmenthandschrift des Heliand (um 850/60) in das nördliche asächs. Gebiet lokalisiert werden, wahrscheinlich in dessen mittleren Raum (Taeger 1981, 419). Hier kommen als Schreiborte Wildeshausen, Bremen oder Verden in Frage (Klein 1990, 219). Die Sprache ist ein stark ingw. gefärbtes Asächs. Aufgrund der äußerst ungünstigen Überlieferungslage ist es faktisch unmöglich, für die asächs. Zeit einen sassischen Sprachraum räumlich abzugrenzen. Die Umschreibung des asächs. Sprachraums wird meist nach den Grenzen des asächs. Stammesrechts im 8.⫺ 12. Jh. vorgenommen. Diese Begrenzung ist sehr unsicher. Im Süden des nordsächs. Gebiets schließen sich die Mundarten der asächs. Teilstämme der Westfalen, Engern und Ostfalen an. Im Norden grenzt das Dän., im Nordwesten das Fries. an. Als einigermaßen sicher kann lediglich die Eidergrenze gegen das Dän. gelten (Scheuermann 1977, 174). Die Grenze zum fries. Siedlungs- und Sprachgebiet verlief vermutlich an der Südgrenze Ostfrieslands und der Groninger Ommelanden, doch ist sie weder auf ihrer sächs. noch auf ihrer fries. Seite durch Quellen gesichert. Im Osten, gegenüber den ostseeslaw. Mundarten, ist eine breite Zone sächs.-slaw. Mischsiedlung, das sog. sächs.-polabische Mischgebiet, anzunehmen. 3.2. Lateinische Schriftlichkeit und mittelniederdeutsche Mündlichkeit (ca. 1150⫺ca. 1300) Im Hochmittelalter schränkte sich der Begriff „Sachsen“ auf das nnsächs.-ofäl. Gebiet ein. Im 12. Jh. vollzog sich der interne Sprachwandel vom nördlichen Asächs. zu nordwestlichen mnd. Mundarten. Bei Erhaltung einer eigenen Sprachstruktur ist der nordseegerm. Charakter weithin zurückgetreten. Aus dieser Zeit stammt der „Niederdeutsche Glaube“. Wegen einiger Frisismen erwog Rooth (1937/ 38, 157) die Entstehung im oldenburgischen Kloster Rastede nahe der fries. Grenze. Ansonsten wurde im hohen Mittelalter ausschließlich lat. geschrieben. Daher bildet das nnsächs. Mnd. im Bereich der Schriftlichkeit
180. Aspekte einer Sprachgeschichte des Sassischen
keine direkte Fortsetzung des nördlichen Asächs. Im 12. Jh. entwickelte sich das Städtewesen (Groningen, Bremen, Hamburg, Stade, Lüneburg). Die Bedeutung der norddt. Städte nahm im 13. Jh. zu. Die Fernhandelskaufleute schlossen sich zur Kaufmannshanse zusammen. Aufgrund des Verschriftlichungsprozesses in Verwaltung, Rechtsprechung und Handel nahm im 13. Jh. die lat. Schriftlichkeit zu. Nach 1200 entstand in den Städten die Schriftlichkeit des Rates (lat. Aufzeichnung des Hamburger Stadtrechts zu Anfang des 13. Jhs.). Mit dem Beginn des 12. Jhs. datiert eine nl. Siedlung in den Küstenräumen Nordniedersachsens: 1106 beginnt die Urbarmachung des später so genannten Hollerlandes östlich von Bremen. Auch der Beginn der Urbarmachung der niedersächs. Elbmarschen durch Kolonisten nl. Herkunft fällt in das 12. Jh. Hier wie dort zeugen Lehnwörter insbesondere aus dem Bereich des Wasserbaues von diesem Vorgang (Scheuermann 1977, 223). Die Ostsiedlung des 12. und 13. Jhs. bewirkte einen sprachlichen Umbau des Ostseeraumes. Das ostseeslaw. Gebiet ging zum Nd. über. Die sächs.-ostseeslaw. Sprachgrenze wurde aufgehoben. Es entstand das ostnd. Dialektareal. In Ostholstein kamen die Siedler zunächst aus der westlichen Umgebung, aus Holstein und Stormarn.
4.
Ausbildung und Geltung sassischer Schreibsprachen (ca. 1300⫺1600)
Der Verschriftlichungsprozeß führte zum Schreibsprachenwechsel vom Lat. zur Volkssprache. Neben die lat. trat eine Schriftlichkeit in lokalen nnsächs. Schreibsprachen. Der Wechsel vom Lat. zum Sassischen ist bisher ganz unzureichend erforscht. Im 12. und 13. Jh. hat es einige Dichter nd. Herkunft gegeben, die versuchten, in Varietäten des Mhd. zu dichten (Beckers 1982). Wahrscheinlich im Oldenburgischen ist der Kaplan Werner von Elmendorf beheimatet, denn nur hier gibt es einen Ort dieses Namens. Er dichtete einen Tugendspiegel von 1211 erhaltenen Versen. Für die Aufzeichnung juristischer Texte begann man die nd. Sprache zu verwenden. Die Verschriftlichung des Nd., das Einsetzen volkssprachiger Texte, beginnt im nnsächs. später als im ofäl. und früher als im westf. Raum. Groningen steht bei der Herausbil-
2653 dung einer volkssprachigen Schriftlichkeit unter südwestlichem, nl. Einfluß. Im Bereich der Stadtrechte erfolgte der Übergang zur Volkssprache z. T. noch in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. Das lat. Hamburger Stadtrecht wurde 1270 durch eine nd. Fassung, das sog. Hamburger Ordelbok, ersetzt. Das Original des Ordelboks ist nicht erhalten. Kodex D wird von Korle´n (1945, 124) um 1300 datiert. Vom Jahre 1274 stammt ein Hamburger Rechtsfragment. Eine Neubearbeitung des Hamburger Rechts liegt im sog. Roten Stadtbuch (1301 abgefaßt, 1305⫺06 überarbeitet) vor. Das Rote Stadtbuch enthält auch das ältere hamburgische Schiffrecht. Vom Stader Stadtrecht, einem Tochterrecht des Ordelboks, ist die Originalhandschrift aus dem Jahre 1279 überliefert (Korle´n 1945, 125⫺129; ders. 1950). Das Bremer Stadtrecht stammt von 1303/08. Im Normalfall erfolgte der Schreibsprachenwechsel in der Textsorte ‘Urkunde’ später als in den Stadtrechten (Mitte 14. Jhs.); noch später erfolgte er in Stadtbüchern und Testamenten. Auch hier folgte der nnsächs. Raum dem ofäl. In den städtischen Kanzleien konnte sich das Nd. erst zwischen 1370 und 1380 durchsetzen. Noch im 13. Jh. ging im hansischen Handel der Kaufmann zur schriftlichen Geschäftsführung über. Lat. Bruchstücke kaufmännischer Buchführung aus Kiel reichen bis ins 13. Jh. zurück (um 1290) (Korle´n 1949). Aus dem 14. Jh. liegen dann mehrere Rechnungs- bzw. Handlungsbücher vor. Im Handlungsbuch des hamburgischen Tuchhändlers Vicko von Geldersen (1367⫺1392) dominiert noch das Lat. Allein in der Zunahme zweisprachiger Notierungen im Laufe der Buchführung deutet sich ein allmählicher Sprachwechsel an (Tophinke 1999, 149). Im 15. Jh. ist der nd. Sprachausbau weit fortgeschritten. Das Nd. besetzt die Mehrzahl der Domänen, Verwaltung, Rechtsprechung, Geschäftsverkehr, Chronistik. Soweit sie sich an Laien wandten, gingen auch die Domänen Religion und Wissensvermittlung zur Volkssprache über. In der dudeschen scryffschole erwarb der angehende Kaufmann das für seinen Beruf erforderliche Wissen. Das neue Medium des Buchdrucks erreichte den sassischen Raum im letzten Jahrzehnt des 15. Jhs. Allerdings steht der nd. Nordwesten im Schatten Lübecks. Mit Johann Borchardes setzte 1492 der Buchdruck in Hamburg ein; in Lüneburg erschien 1493 ein nd. Druck. In der Reformationszeit wird
2654 Hamburg nach Magdeburg ein Zentrum des Buchdrucks. Neben Hamburg und Lüneburg treten im sassischen Raum die Druckorte Groningen, Emden, Bremen, Schleswig und Kiel. Starke nl. Einflüsse weisen die Lutherdrucke aus der Hamburger Presse der Ketzer (1522⫺23) auf, die aus der Offizin des aus Zwolle gebürtigen Simon Corver hervorgegangen sind (de Smet 1983, 750). Sie brachte 1523 mit dem Nygen Testament tøho dude die erste nd. Fassung des Lutherschen Septembertestaments von 1522 heraus. In der mnd. Spätzeit (1540⫺1650) ist die nd. Druckproduktion, bei einem weiteren Anstieg der Druckorte, rückläufig. Ein rapider Rückgang setzt nach 1620 ein. Hamburg ist nun der bedeutendste nd. Druckort; hier wird in den Jahrzehnten um 1600 etwa die Hälfte aller nd. Werke gedruckt. Die letzte nd. Bibelausgabe erschien 1623 in Lüneburg. Seit der Mitte des 16. Jhs. nahm der Anteil der Unterhaltungs- und der Fachliteratur zu. Bis weit in das 17. Jh. hinein wird das Nd. in Kräuter-, Koch-, Arznei-, Seebüchern, Karten und Reisebeschreibungen, auch in Sprachlehrund Rechenbüchern, beibehalten. 1633 erschien die Duedsche Orthographia des Hein Lambeck in Hamburg zum letzten Mal in nd. Sprache (Kayser 1986). Infolge des Schreibsprachenwechsels zur Volkssprache entstanden regionale nd. Schreibsprachen. Abgrenzbar ist das sassische Schreibsprachenareal nach Süden zum Westf. und zum Ofäl. Im Osten schließt sich das Oelb. an. In vielen Fällen bildet die frühe lübische Schreibsprache eine Fortsetzung der nnsächs. Schreibsprache des Altlandes. Durch Sprachwechselprozesse ist der sassische Sprachraum nach Norden und Nordwesten hin erheblich ausgeweitet. Nach Norden und Nordwesten hin, gegenüber dem Dän. und dem Fries., konnte das Sassische seinen Geltungsbereich erweitern. Im dän. Herzogtum Schleswig fand ein Sprachenwechsel vom Südjütischen zum Nd. statt. Seit dem 15. Jh. ging Südschleswig bis zur Schlei zum Mnd. über; die nd.-dän. Sprachgrenze verlagerte sich von der Eider nach Norden bis zu einer Linie Husum-SchleswigSchlei. Räumliche Gewinne erzielte das Nd. auch auf Kosten des Fries., und zwar sowohl des Nord- wie des Ostfries. In Nordfriesland wechselte die Halbinsel Eiderstedt in der Schreibsprache im 15. Jh. zum Nd. In Ostfriesland, dem Gebiet zwischen Lauwers und Weser, setzte der Schreibsprachen-
XVII. Regionalsprachgeschichte
wechsel bereits im 14. Jh. ein. Hervorzuheben ist die Rolle der drentisch-sächsischen Stadt Groningen. Sie gewann die politische und wirtschaftliche Kontrolle über die fries. Gaue zwischen Lauwers und Ems, die sog. Ommelanden. Von Groningen aus verbreitete sich ein nordwestlicher Schreibsprachentyp über die Ommelanden und das südwestliche Ostfriesland, während im nordöstlichen Ostfriesland das Fries. von Bremen und Oldenburg her durch den nnsächs. Sprachtyp ersetzt wurde. In den Ommelanden war bereits um 1400 das Fries. als Schreibsprache verdrängt. Die Urkundensprache ging in Ostfriesland vom Lat. direkt zum Nd. über; Urkunden in fries. Sprache sind nur aus dem westfries. Raum überliefert. Sowohl in den lat. wie in den nd. Urkunden stehen jedoch zahlreiche fries. Einzelwörter (Rechtstermini, Maßbezeichnungen, Flurnamen). Zwischen 1250 und 1450 waren afries. Rechtsaufzeichnungen entstanden. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jhs. erfolgte in den Rechtstexten der Wechsel vom Fries. zum Mnd., wurden neue Rechtstexte gleich auf Nd. abgefaßt, so 1465 das Emder Stadtrecht, 1515 das allgemeine ostfriesische Landrecht des Grafen Edzard I. Der Sprachenwechsel beschränkte sich zunächst auf die geschriebene Sprache und die Sprechsprache der Oberschicht. Seit dem 16. Jh. starben dann auch die fries. Mundarten aus. Die sassischen Schreibsprachen können in das Groningisch-Ostfries. und das Nnsächs. gegliedert werden. Im Groningerland und im südwestlichen Ostfriesland gilt ein nordwestlicher Typus, für den nl. und westf. Einflüsse charakteristisch sind, Schreiborte sind Groningen und Emden. Schon im 14. Jh. herrscht die verbale Pluralendung <en>, die aus dem Westen und nicht aus dem Osten stammen wird. Part. Prät. gewest ‘gewesen’. Senkung /u/ zu /o/ vor Nasalverbindung (ons ‘uns’), /a/ vor /ld/, /lt/ > /o/: holden, solt. ⫺ sal, solen/sullen, brengen; vrent, mensche; derde; h-anlautende Pronomina: hem ‘ihm’, hoer ‘ihr’. ⫺ dese/desse, de selve, geˆn/nıˆn ‘kein’, elk ‘jeder’; waˆr ‘wo’, hoˆ ‘wie’; tot ‘bis’, tegen, tüsschen; ende ‘und’, ofte ‘oder’, dan ‘komparativisches als’, want(e) ‘denn, weil’. ⫺ jof ‘oder’ in der Frühzeit in Groningen.
Zwischen dem nordöstlichen Ostfries. und Schleswig erstreckt sich das Nnsächs. Seine Schreibzentren sind Oldenburg, Bremen, Stade, Hamburg, Kiel und Lüneburg. Kennformen des Nnsächs. sind (vgl. ausführlicher Art. 106): /a/ vor /ld/, /lt/ > /o/: holden, solt. Kürzung tonlanger Vokale vor Kons. ⫹ <el>, <er>
2655
180. Aspekte einer Sprachgeschichte des Sassischen (hemmel, nedder), nicht aber vor Kons. ⫹<en> (weten). scal, schal ‘soll’, deit ‘tut’. ⫺ minsche ‘Mensch’, vrünt ‘Freund, Verwandter’. Einheitskasus für Dat. und Akk. auf dat. Grundlage: mıˆ ‘mir, mich’, dıˆ ‘dir, dich’; us wird durch uns verdrängt; juw ‘euch’; eme ‘ihm’, ene ‘ihn’. ⫺ desse ‘dieser’, de sülve ‘derselbe’, jewelik ‘jeder’, neˆn ‘kein’. ⫺ woˆr ‘wo’, woˆ ‘wie’, wol ‘wohl’. ⫺ uppe ‘auf’, wente ‘bis’, jegen ‘gegen’, sünder (ane) ‘ohne’, twisschen (tüsschen) ‘zwischen’. ⫺ ed(d)er, ofte (efte) ‘oder’, men ‘aber’, wen (den) ‘komp. als’, wente ‘denn, weil’.
Das Nnsächs. geht entweder mit dem Westf. (desse, sünder, men, eder/ofte) oder aber, häufiger, mit dem Ofäl. zusammen (minsche, vrünt, de sülve, neˆn, twisschen). Eigene Kennformen fehlen fast völlig (frühmnd. jüm ‘ihnen’, jewelik ‘jeder’). Anfangs ist hd. Einfluß über Ostfalen hinaus im Norden wirksam; oder im Hamburger Stadtrecht von 1301 ist wohl durch die „ofäl. Strömung“ vermittelt worden. Einige ofäl. Merkmale enthält auch das bremische Stadtrecht von 1303: sec ‘sich’, dredde ‘dritte’, ider, ifte ‘oder’, ifte ‘ob, wenn’. ⫺ Seit dem Ende des 13. Jhs. macht sich im nordnd. Sprachraum zwischen Stade-Hamburg und dem Baltikum ein westlicher (westf., rhein., nl.) Einfluß bemerkbar. Aus Stade und Hamburg ist das nl. vrint belegt, im 14. Jh. das westf. vrent, aus Bremen vrint 1304. Küstennl. Provenienz ist jof ‘oder’ aus Hamburg. Die frühe Phase des Mnd. gilt als sprechsprachnah und variantenreich. Die Pluralendung der Verben im Ind. Präs. lautet ; in Hamburg stehen schon im 14. Jh. und nebeneinander. us und uns variieren. Aus Oldenburg ist um, aus Bremen ium ‘ihnen’ belegt. ‘kein’: Oldenburg nıˆn, Bremen neˆn, Hamburg neˆn (nıˆn). ⫺ dicke ‘oft’. ⫺ ‘bis’: Oldenburg bent, Bremen wente, Hamburg bet. Das Oldenburgische hat Varianten mit dem Nordwestf. gemeinsam: döˆt, derde, nıˆn, und es besitzt regionale Formen: bent ‘bis’, tjegen ‘gegen’. Westf. Formen in Hamburg beruhen auf der westlichen Strömung. In der Zeit vor und um 1400 sind Ausgleichstendenzen zu beobachten, die wohl auf der Vorbildfunktion der lübischen Schreibsprache beruhen. Die frühmnd. Variantenvielfalt wird teilweise abgebaut. Hamburger Beispiele sind: /-Pluralendung > , vrünt/vrent > vrünt, us/uns > uns, neˆn/nıˆn > neˆn. Beispiele für Variantenwechsel in Hamburg sind ses > sös, seuen > söuen, dicke > vakene, ane > sünder, bet > wente, wen ‘komp. als’ > den. So vollzieht sich in
Hamburg ⫺ insbesondere durch den Abbau westlicher Formen ⫺ der Wechsel zum relativ normierten Schreibusus des 15. Jhs. (Peters 1996). In Oldenburg sind lokale sowie westf.westliche Varianten durch solche östlicher Herkunft ersetzt worden: döˆt ‘tut’ durch deit, um ‘ihnen’ durch en, derde durch drüdde, bent ‘bis’ durch wente. Das östliche neˆn tritt neben nıˆn. Das Oldenburgische verliert seine Sonderstellung innerhalb des Nnsächs. (Peters 1995). Im 15. Jh. ist in den Schreibsprachen zwischen Oldenburg und Lübeck ein großräumiger Ausgleich erfolgt. Seine Kennzeichen sind insbesondere die verbale Pluralendung auf , das Zahlwort drüdde, uns, en ‘ihnen’, neˆn ‘kein’, vaken ‘oft’, sünder ‘ohne’, twisschen ‘zwischen’, men ‘aber’. Schon ein Kennzeichen des Spätmnd. ist die Schreibung für tonlanges /o/ (apen, bauen statt open, bouen). Die Erscheinung setzt sich am Ende des 15. Jhs. in Bremen und Oldenburg durch. Ansonsten gibt es Anzeichen für eine Lockerung des Schreibusus: jewelik, ˆıslik, ˆıder, itlik ‘jeder’. Es findet ein Ausgleich in Richtung auf das Hd. statt: ˆıder ‘jeder’, aˆne ‘ohne’, edder ‘oder’, alse statt wen/den ‘komp. als’. Am Ende der mnd. Zeit sind Beispiele für schichtenspezifische Variation faßbar. Es kann zwischen Landmundart und Stadtmundart unterschieden werden (nach Bischoff 1956, 73). In Teweschen Hochtydt, Hamburg 1640, heißt es: „Datm upn Dorrepe Leer hetet, dat heten se inr Stadt Ledder, wem upn Dorpe secht weer, seggen se wedder, ene Feer ene Fedder.“ In der Lustigen Hochzeit, Hamburg 1708, findet sich: „Wat up dem Dorp heet Broor, heet in de Stadt Heer Broder.“ Die städtische Sprechsprache der höheren Schichten macht also bestimmte lautliche Entwicklungen nicht mit.
5.
Niederländische und hochdeutsche Schriftsprachen und plattdeutsche Mundart (1550⫺1870)
Im 16. und 17. Jh. wurden die nnsächs. Schreibsprachen vom Hd. (vgl. Art. 109), die groningisch-ostfries. vom Nl. und vom Hd. verdrängt. Der Schreibsprachenwechsel zum Hd. hatte keine spezifisch nnsächs. Ursachen. Das Hd. wurde im sassischen Gebiet östlich der heutigen nl.-dt. Grenze übernommen, weil dies vorher in den anderen nd. Schreibspracharealen geschehen war.
2656 Die Wertschätzung des Hd. hatte einen Prestigeverlust des Nd. zur Folge. „Es heben itzt auch an die unsrigen sich zu befleißigen den öberen Deutschen ihr Kirren nachzureden“, klagt der 1517 gestorbene Hamburger Geschichtsschreiber Albert Kranz (Sodmann 1985, 1293). Der Schreibsprachenwechsel breitete sich zeitverschoben von Südosten nach Nordwesten über den nd. Sprachraum aus. Auf der Karte von Gabrielsson (1983, 148) bildet das ostfries.-nnsächs. Gebiet zusammen mit Westfalen die Zone III, in der der Wechsel zuletzt erfolgte. Innerhalb dieser Zone bilden die ostfries.-nnsächs. Städte den Schlußpunkt der Entwicklung. Es können drei Kanzleigruppen unterschieden werden: 1. Die Kanzleien in Lüneburg (1551⫺1592) und Hamburg (1555⫺1600), in denen der Wechsel vor 1600 erfolgt; 2. die Kanzleien in Flensburg (1567⫺ 1626), Bremen (1555⫺1630); 3. Oldenburg (1588⫺ 1635) und Emden (1570⫺1640). Je weiter eine Kanzlei vom omd. Strahlungszentrum entfernt liegt, desto später erfolgt die Übernahme des Hd. (Sodmann 1985, 1290).
Im 17. Jh. erfolgte die zweite Phase des Schreibsprachenwechsels. Sie umfaßt die klientennahen Bereiche des Kanzleiwesens, Kirche und Schule sowie das private Schrifttum. So sind die Burspraken in Hamburg bis 1614, in Emden bis 1650 nd., ebenso in Emden die Fuhrleuteverordnung 1656 und die Pestordnung 1664, in Bremen die Wachtordnung von 1694 (Sodmann 1985, 1289). Handwerkerrechnungen bleiben in Hamburg bis 1678 nd. Die Mutter des Hamburger Bürgermeisters Schlebusch schreibt noch 1667 ihr in der Jungfrauen-Schule gelerntes Nd. (Gabrielsson 1983, 135). Um die Mitte des 17. Jhs. ist in den größeren Städten Norddeutschlands die Umstellung auf das Hd. in Kirche und Schule weitgehend abgeschlossen. Der ostfries. Sprachraum zwischen Lauwers und Weser, der im Spätmittelalter zum Gron.-Ostfries. und zum Nnsächs. übergegangen war, unterlag einem gespaltenen Schreibsprachenwechsel (Niebaum 1997, 51), vom Nd. zum Nl. westlich und vom Nd. zum Hd. östlich der Ems. Die wirtschaftliche und kulturelle Blüte Hollands führte in Groningen seit der Mitte des 16. Jhs. zu einer Orientierung der Stadt auf das Nl., die sich seit der Reductie von 1594, der Einverleibung in die Utrechter Union, verstärkte. Die schreibsprachliche Neuorientierung Groningens erfolgte um 1600 (Niebaum 1996); sie war in der Mitte des 17. Jhs. abgeschlossen. Groningen gab die nl. Sprache an seine Umgebung
XVII. Regionalsprachgeschichte
weiter. Die Groninger Stadtmundart und die Dialekte der Ommelanden blieben, bei Einfluß des Nl. insbesondere auf den Wortschatz, nd. geprägt. Östlich der Ems, in Ostfriesland, begann um die Mitte des 16. Jhs. die Verdrängung der nd. durch die hd. Schriftsprache. Den Anfang machte die gräfliche Kanzlei; am längsten, bis zur Mitte des 17. Jhs., hielt die Emder Stadtkanzlei im inneren Betrieb am Nd. fest. Seit der Mitte des 17. Jhs. erfuhr der calvinistische Südwesten Ostfrieslands mit Emden als Mittelpunkt eine besondere Entwicklung. In der zweiten Hälfte des 16. Jhs. erhielt Emden Zuzug durch zahlreiche nl. Emigranten; nach der Unabhängigkeit gewannen die Niederlande politischen Einfluß auf Ostfriesland. Seit etwa 1650 war das Nl. im Südwesten die ⫺ neben dem Hd. ⫺ zweite Schriftsprache; es war Kirchen- und Schulsprache der reformierten Gemeinden, Sprache des Buchdrucks und wurde auch zur Sprache der Kaufleute. Sprache der Verwaltung und der Rechtsprechung blieb auch im Südwesten das Hd., Sprechsprache blieb weiterhin das Nd. Um 1800 ging das höhere Bürgertum allmählich zum Hd. über. Der Übergang zum Dt. erfolgte in den Schulen seit 1845, in der Kirche zwischen 1843 und 1883 (Kremer 1983, 14). Der Nordosten Ostfrieslands ging von der Mitte des 17. Jhs. an in Schule und Kirche vom Nd. zum Hd. über. Als Folge der Schreibsprachenwechsel kam es zur Spaltung des gron.-ostfries. Areals in das Groningerland mit nl. Schriftsprache, das südwestliche Ostfriesland, in dem Nl. und Hd. domänenabhängig konkurrierten und das nordöstliche Ostfriesland mit hd. Schriftsprache. Durch Siedlung gelangte nl. Sprache um 1600 nach Schleswig-Holstein. Hier wurden u. a. die Städte Altona, Glückstadt und Friedrichstadt als religiöse „Freistätten“ für nl. Remonstranten und Mennoniten gegründet. Auf der Insel Nordstrand wurden nach der Flut von 1634 nl. Katholiken als Landwirte angesiedelt. Auf Nordstrand wurde bis 1875, in Friedrichstadt bis etwa 1880 auf Nl. gepredigt (Kremer 1983, 23, Menke 1992 a). Die Halbinsel Eiderstedt im Süden Nordfrieslands wechselte in der Sprechsprache im 17. Jh. zum Nd. Die im 15. Jh. entstandene nd.-jütische Grenze entlang der Linie Husum-Schleswig-Schlei war bis etwa 1800 relativ fest. Erst zwischen 1800 und 1850 ging die jütisch-sprachige Landschaft Angeln zum Nd. über. Noch langsamer vollzog sich der
180. Aspekte einer Sprachgeschichte des Sassischen
Sprachenwechsel im schleswigschen Mittelrücken. Auch an der Westküste gewann das Nd. an Boden (Walker 1996, 6). Der Schreibsprachenwechsel zum Hd. führte zur Entstehung einer medialen Diglossie. Das Hd. wurde geschrieben und seit etwa 1650 in formellen Situationen in Kirche, Schule und Verwaltung gesprochen. Das Übergreifen des Sprachwechsels auf die Sprechsprache führte im 17. und 18. Jh. zur Zweisprachigkeit und Diglossie der Ober- und Bildungsschichten. Diese sprachen je nach Situation und Partner Hd. oder Nd. Die breiten Bevölkerungsschichten, auch die städtischen, blieben einsprachig. Diese Sprachlage blieb mehr als 200 Jahre, von etwa 1650 bis etwa 1870, relativ stabil. So urteilt Friedrich Engels über den Sprachgebrauch in Bremen um 1840: „Was dem Fremden hier zunächst auffällt, ist der Gebrauch der plattdeutschen Sprache, selbst in den angesehensten Familien“ (Stellmacher 1972). Für Hamburg kann im 18. und 19. Jh. zwischen einem gepflegten Platt des Bürgertums und einem gröberen „Hafenplatt“ unterschieden werden (Möhn 1983, 160). Im 17./18. Jh. existierten zwei Formen nd. Schriftlichkeit. Zum einen hielten sich zäh Ausläufer der mnd. Literatur. Zum anderen wurden Mundarten zu komischen Zwecken und aus realistischen Bestrebungen heraus verschriftlicht. In hd. Dramen und Opern wurden mundartliche Zwischenspiele eingefügt, Gelegenheitsdichtungen, insbesondere Hochzeitsgedichte, wurden gedruckt. In der Sprache der Zwischenspiele liegt die ausklingende mnd. Schriftsprache zu Grunde, daneben treten neue dialektale Entwicklungen auf. Das Hamburgische löst sich sehr allmählich vom Mnd. Es gibt im Pl. Präs. der Verben die Endung <en> für das dialektale auf, führt das Part. Prät. ohne Vorsilbe gedurch und ersetzt en(e) ‘ihnen’ durch jüm (Lasch 1918). Um komische Wirkungen zu erzielen, wird die Sprache der Bauern vergröbert, indem Formen der Nachbardialekte (insbesondere ofäl. mik, dik) eingefügt werden (Lasch 1920, 309). Der Gebrauch des Hd. als Sprechsprache der oberen Schichten ließ ein Aussterben der Mundarten in naher Zukunft befürchten. Aus dokumentarischem Interesse heraus entstanden Idiotica: „wofern man noch der Nachwelt, von der ietztlebenden Nieder-Sächsischen Sprache einen Begriff zu machen gedencket“, sagt Michael Richey in der 2. Aufl. (1755) seines „Idioticon Hambvrgense“. In
2657 den Jahren 1767 ff. gab die Bremische Deutsche Gesellschaft das Bremisch-Niedersächsische Wörterbuch, 1800⫺1806 Johann Friedrich Schütze das Holsteinische Idiotikon heraus. Die Konfrontation mit dem Hd. löste eine Diskussion über das Plattdt. aus. In den Quellen des 18. und des frühen 19. Jhs. überwogen die Stimmen der Verteidiger des Nd. Eine Minderheit der Intellektuellen artikulierte ihre Opposition gegen die Domänenerweiterung des Hd. (Herrmann-Winter 1992, 124). Die unbefriedigende pädagogische Situation mit hd. Unterrichts- und plattdt. Schülersprache führte zur Diskussion des Problems Mundart und Schule (Möhn 1983 a). Der nnsächs. Dialektraum ist ex negativo definiert als der, der weder dem westf. noch dem ofäl. angehört. Linienbündel ergeben sich im südlichen Oldenburgischen zwischen Nnsächs. und Westf., in der nördlichen Lüneburger Heide zwischen Nnsächs. und Ofäl. (Scheuermann 1977, 202). Die nnsächs. Mundarten teilen mit dem Westf. die Form des Dat. als Einheitskasus beim Pers. pron., sie unterscheiden sich von ihnen durch den Zusammenfall von tonlangem /a/ und wgerm. /a:/; mit den ofäl. Dialekten teilen sie diesen Zusammenfall, unterscheiden sich von ihnen durch die Form des Dat. als Einheitskasus gegenüber dem ofäl. Akk. (Scheuermann 1977, 204). Die Linie zwischen der und der -Pluralendung der Verben im Präs. Ind. bezeichnet die Grenze zwischen dem Nnsächs. und dem Ostnd. Sie verläuft heute östlich von Lübeck. Auch das Groningisch-Ostfries. bildet den Pl. der Verben auf . Weitere Kennzeichen dieses Areals sind die mit h anlautenden Pers. pron. hum ‘ihm, ihn’ und hör ‘ihr, sie’, west statt we¯sen für das Part. Prät. des Verbs ‘sein’, twalf ‘zwölf’. Das Nnsächs. läßt sich unterteilen in ein Apokopierungsgebiet im Norden und das Gebiet ohne Apokope im Süden (nördlich in’n Huus, Göös ‘Gänse’, südlich in’n Huse, Gäuse). Die Linie zwischen beiden Gebieten verläuft etwa von der Emsmündung bis Bremen, dann weseraufwärts bis zur Aller und in einigem Abstand nördlich von dieser bis an die niedersächs. Ostgrenze (Scheuermann 1977, 210). Sprachliche Kontakte gab es zwischen dem 17. und dem 19. Jh. vor allem zum Hd., Nl. und Frz. Die hd. Kirchen- und Schulsprache beeinflußte die nnsächs. Mundarten. Die Handwerkersprache übernahm hd. Fachaus-
2658
XVII. Regionalsprachgeschichte
Karte 180.1: Der sassische Mundartraum
drücke (dat slot, aber de¯ sloser für nd. kleˆnsmit), nd. Verwandtschaftsnamen wurden durch hd. ersetzt (gro¯smudder Bremen 19. Jh.). Besonders die Kleinwörter (Adv., Präp., Konj.) wurden verhochdeutscht bzw. glichen sich dem Hd. an (wie für woˆ, wo für woˆr, fun < von für van, oder für edder, of) (Bunning 1934/35, 74). Welche Rolle das Frz. im 17.⫺19. Jh. insbesondere in Adelskreisen spielte, bleibt noch zu untersuchen. Frz. Wörter drangen in die nd. Mundarten ein, wohl weniger durch Kontakte in der Zeit der frz. Besetzung als durch die modische hd. Sprache des 17. und 18. Jhs., in einer Zeit, als die oberen Schichten noch plattdt. sprachen. Auf dem Umweg über das Hd. drangen sie, wie hd. Wörter, ins Nd. ein (Lasch 1918, 10). Die frz. Wörter unterlagen lautlichen Veränderungen: absolut > afslut, contraire > kunträr, capable > kumpa˚bel) (Bunning 1934/35, 76). In der Mitte des 19. Jhs. hatte sich das Hd. langsam über die Bildungsschicht hinaus als
Sprechsprache neben dem Nd. im gehobenen Bürgertum etabliert. Auch Mitglieder anderer Schichten erwarben vermehrt hd. Sprachkompetenz (Möhn 1983, 159). Für die Mehrheit der Stadtbevölkerung, das Kleinbürgertum und die sog. niederen Klassen, sowie für die ländliche Bevölkerung blieb die Mundart hauptsächliches Kommunikationsmittel. Noch im Jahre 1885 stellte A. van Eye fest (1885, 97): „Weiter nach Norden, in Ostfriesland, im Oldenburgischen, Bremischen usw., herrscht das Plattdeutsch noch mehr vor und wird auch in den Häusern der Gebildeten mit einer gewissen Vorliebe gesprochen“. Durch die Hinwendung weiterer Kreise zum Hd. war zumindest im städtischen Bürgertum die Existenz der Mundarten bedroht. Seit der Mitte des 19. Jhs. setzte verstärkt eine nd. Literatur ⫺ meist volkstümlich-humoristischer Art ⫺ ein. Die Sprachform ist nun die örtliche bzw. regionale Mundart. Traditionell wird davon ausgegangen, mit
180. Aspekte einer Sprachgeschichte des Sassischen
dem Lyrikband „Quickborn“ (1853) des Dithmarschers Klaus Groth habe die neue plattdt. Literatur eingesetzt.
6.
Plattdeutsche Mundart und norddeutsche Umgangssprache (von 1870 bis zur Gegenwart)
In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. setzte verstärkt der Sprechsprachenwechsel zum Hd. ein. Zuerst gingen das Bürgertum und die mittleren und unteren Schichten der Stadtbevölkerung zum Hd. über (1870⫺1920), dann, seit den 40er Jahren dieses Jhs., die Landbevölkerung. 6.1. Die sprachlichen Verhältnisse von 1870 bis zum zweiten Weltkrieg Das Bürgertum paßte sich dem Sprachgebrauch von Ober- und Bildungsschicht an. Die Kinder wurden nun in der Hochsprache sozialisiert. Der Wechsel im Bürgertum war insbesondere durch das Bedürfnis nach Sozialprestige motiviert (Peters 1998, 124). Diesem Vorbild folgten die mittleren und unteren Schichten der Stadtbevölkerung vor und um 1900. Nach Bunning (1934/35, 68) erfolgte der Wechsel in der Masse der Bremer Bevölkerung „seit um 1900“. Der Sprechsprachwechsel erfolgte in den Städten ⫺ abgesehen von den Kleinstädten ⫺ eher als auf dem Lande; hier dauert er noch an. So entstand, die Situation in der ersten Hälfte des 20. Jhs. kennzeichnend, ein ausgeprägter sprachlicher Stadt-Land-Gegensatz. Eine Befragung in Niedersachsen von 1938/39 zeigt die Verteilung des Sprachgebrauchs am Vorabend des 2. Weltkriegs (Janßen 1943). Deutlich wird zum einen der Stadt-Land-Gegensatz: In den Groß- und Mittelstädten ist der Sprachwechsel viel weiter vollzogen als auf dem Lande, wo er z. T. kaum angefangen hat. Zum anderen zeigt sich der Gegensatz zwischen Nord- und Südniedersachsen. In den meisten nnsächs. Kreisen sprachen mehr als 85 % als allgemeine Umgangssprache Plattdt. Beim Sprechen des Hd. wurde die hochsprachliche Lautung nur unvollständig erreicht. Es entstanden regionale Varianten des Hd., die sog. Umgangssprachen. Wegen ihrer Gemeinsamkeiten faßt Lauf (1996) die nnsächs. und die meckl.-vorpomm. Umgangssprache zusammen. Die regionale norddt. Umgangssprache weist deutliche Spuren des Nd. auf. So hat die unflektierte einsilbige Form einiger Wörter einen kurzen Vokal:
2659 tax ‘Tag’, aber ta:ge ‘Tage’. /e/ wird vielfach durch /苸/ ersetzt: dis苸 ‘diese’. Die halbhohen Langvokale /e:/, /o:/, /ø:/ neigen zur Diphthongierung. Es gibt eine starke Tendenz zur Vereinfachung von Konsonantenverbindungen: jets ‘jetzt’, nich ‘nicht’, au ‘auch’, e:m ‘eben’. Die Vereinfachung kann wortübergreifend stattfinden: ini ‘in das’, isas ‘ist das’. Inlautende Plosive sind „erweicht“: pladn ‘Platten’, phabe ‘Pappe’. Weitere phonetische Eigenschaften nennt Lauf (1996).
In der Mitte des 19. Jhs. hatte eine plattdt. Mundartliteratur eingesetzt. In der Heimatbewegung vor und um 1900 wurde die Mundart als bedrohtes Kulturgut angesehen. Eine Minderheit der Gebildeten mit plattdt. Hintergrund wollte sich mit der sprachlichen Entwicklung nicht abfinden. So entstand hauptsächlich im nordnd. Bereich, verstärkt nach dem 1. Weltkrieg, eine Niederdeutsche Bewegung, die über die Mundartliteratur hinaus sich den kulturellen Ausbau der nd. Mundarten zum Ziel setzte. Es herrschte die Vorstellung, der kulturelle Ausbau ⫺ neben der Literatur sind für die Zeit nach dem 1. Weltkrieg vor allem Laienspiel und Hörspiel zu nennen ⫺ könne die Mundarten retten. „Obendrein hat sich die Niederdeutsche Bewegung für ihre auf Sprach- und Kulturausbau zielenden Aktivitäten einen eigenen Schauplatz geschaffen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hat sie ein regelrechtes institutionelles Netzwerk aus Vereinen und Verbänden, Bühnen und Verlagen, Literaten-, Pastoren- und Lehrergruppen etc. aufgebaut, das fast den ganzen Norden überzieht“ (Schuppenhauer 1994, 7). Die sprachpflegerischen Bemühungen führten zur Entstehung einer nnsächs. Kulturmundart. 6.2. Die sprachlichen Verhältnisse vom zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart Der Wechsel der breiten Bevölkerungsschichten im 20. Jh. zum Hd. durch fehlende Weitergabe des Dialekts an die jüngere Generation ist eine Folge der Modernisierung des Landlebens mit zunehmendem Verkehr, dem Einfluß der Medien (Rundfunk) und mit einem Bildungssystem, das anstrebte, die sprachliche Barriere zwischen der Bildungsschicht und der Bevölkerungsmehrheit zu überwinden. Der Wechsel zum Hd. führte über das Stadium einer fast allgemeinen hd.-nd. Zweisprachigkeit. Diese hatte seit dem 18. Jh. die soziale Skala von oben nach unten durchwandert. Die allgemeine Zweisprachigkeit der unteren und ländlichen Schichten führte
2660 zu einer veränderten Diglossielage: Das Plattdt. wurde nur mehr in nichtöffentlichen (privaten) Situationen verwendet. Die gegenwärtige Situation der Mundarten ist durch Dialektverfall und Dialektverlust gekennzeichnet. Die Mundarten übernehmen, vor allem im Wortschatz, Elemente aus der Standardsprache. Hierdurch wird aber der sprachliche Abstand zum Hd. nicht beseitigt. Die Mundarten werden immer weniger gesprochen, und zwar in immer weniger Situationen (Funktionsverlust) und von immer weniger Menschen (Kompetenzverlust). In einer Untersuchung aus dem Jahre 1984 meinten 35 % der norddt. Bevölkerung von sich selber, sie beherrschten plattdt. „gut“ oder „sehr gut“ (Goossens 1986, 18). In Schleswig-Holstein konnten 47 % „sehr gut“ und „gut“ plattdt. sprechen; von den 18⫺34jährigen 23 %, von den 35⫺49jährigen 51 %, von den über 50jährigen 62 %. In Hamburg sprachen 29 % „sehr gut“ und „gut“ plattdt.; von den 18⫺34jährigen 7 %, von den 35⫺49jährigen 22 %, von den über 50jährigen 48 %. In Nordniedersachsen mit Bremen beherrschten 53 % plattdt. „sehr gut“ und „gut“, von den 18⫺34jährigen 25 %, von den 35⫺49jährigen 60 %, von den über 50jährigen 67 %. Es sprachen plattdt. „sehr oft“ und „oft“: In Schleswig-Holstein 30 %, in Hamburg 10 %, in Niedersachsen-Nord 31 %.
Das Nd. hat also in Schleswig-Holstein und im Nordteil Niedersachsens eine wesentlich größere Verbreitung als im Süden des nd. Gebiets sowie in der Großstadt Hamburg. Es gibt einen großen Unterschied zwischen der Dialektkompetenz und dem tatsächlichen Sprachgebrauch (Goossens 1986, 12). Die Mundart wird vor allem in der älteren Generation, in privaten Situationen (mit Ausnahme des Eltern-Kind-Gesprächs) und auf dem Lande gesprochen. Westlich der dt.-nl. Staatsgrenze, in den Provinzen Groningen und Drente, ist die Situation ähnlich. Unterschiede sind in der größeren Nähe von nl. Standardsprache und den Dialekten begründet: Der Dialektverfall ist stärker ausgeprägt, der Dialektverlust läuft langsamer ab als östlich der Staatsgrenze (Kremer 1993). Im Nordwesten Schleswigs hatte sich noch bis ins 20. Jh. das Nd. auf Kosten des Fries. und des Jüt. ausgebreitet. In der Gegenwart findet ein Sprachwechsel vom Jüt., Fries. und Nd. zum Hd. statt (Walker 1996, 6). Während Kompetenz und Gebrauch des Nd. in Norddeutschland stark rückläufig sind, wird der Ausbau nnsächs. Mundarten zum Kulturdialekt weiter verfolgt. Die plattdt.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Kulturszene mit geschriebenem Nd. (Belletristik und Sachprosa), Theater und „Funkplatt“ hat weiterhin Bestand. Mitte der 90er Jahre wurde das Nd. durch die Aufnahme in die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen als Regionalsprache anerkannt.
7.
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Robert Peters, Münster
2663
181. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostfälischen
181. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostfälischen 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
11.
Der Raum Ostfälisch Die ik/ich-Linie Die mnd. Periode Zur Phonologie des Ostfälischen Das ostfälische Lexikon Kontaktgeschichte Zum Sprachenwechsel Niederdeutsch > Hochdeutsch Hochdeutsche Umgangssprache auf ostfälischer Grundlage Zur Situation des Niederdeutschen in Ostfalen Literatur (in Auswahl)
1.
Der Raum
9. 10.
Der Raumname Ostfalen knüpft an die karolingerzeitliche Bezeichnung für eine der Heerschaften der Altsachsen bzw. für deren Siedlungsgebiet an: Zu a. 775 Hostfali, a. 797 de Oostfalahis, a. 803 Ostfalai (Neumann 1994, 172). Anders als sein Pendant Westfalen ist er nicht alltagssprachlich geworden. In der Dialektologie meint Ostfälisch die Summe aller nd. Mundarten im Südosten Niedersachsens und ⫺ als Elbofäl. ⫺ in der Magdeburger Börde; die südöstlich anschließenden ehemals nd. Mundarten sind heute md. Die Übertragung vom topographischen Raumbegriff ⫺ ostfälisches Hügelland ⫺ auf die Bezeichnung für einen Dialektverband erfolgte durch Bremer (1894); es bleibe dahingestellt, ob sie sowohl den älteren vorfränkischen als auch den modernen Verhältnissen in jeder Hinsicht gerecht wird. Lent (1992, 38) allerdings gilt sie als die „solideste und deshalb sinnvollste“ Möglichkeit eines „Begriffsgebrauchs von ‘Ostfalen’ bei den Wissenschaftlern“.
2.
Ostfälisch
Das Ofäl. ist eine dialektale Varietät des Dt. Es zählt zu den wnd. Mundarten (Niebaum 1980). Als wichtigste Isoglosse zwischen Nd. und Hd. ⫺ Mundarten wie Standarddeutsch ⫺ gilt die Lautverschiebungslinie am Beispiel von nd. ik gegenüber hd. ich; in ihrem ofäl. Abschnitt bildete sich ihr heutiger Verlauf seit dem 14. Jh. heraus. Als ofäl. gelten jene nd. Mundarten, in denen der Dat. und der Akk. des Personalpron. in der Form des Akk. zusammengefallen sind: mik ‘mir/mich’, dik ‘dir/dich’, öhne ‘ihm/ ihn’, sai ‘ihr/sie’, et, öt ‘ihm/es’, össek, ösch,
üsch ‘uns’, jök, jük ‘euch’, sai ‘ihnen/sie’. Den Geltungsbereich dieser Einheitskasus ⫺ im Nd. gilt sonst, bei gleicher Tendenz zum Zusammenfall, der Dat. ⫺ umschließe die mıˆ/ mik-Linie. Im And. wurde sehr wohl zwischen Dat. und Akk. des Personalpron. differenziert: mıˆ/ meˆ, thıˆ usw. gegenüber mik, thik usw. Für jene Zeit kann mithin nur retrospektiv von Ofäl. gesprochen werden. Auch in frühmnd. Zeit wurden mıˆ und mik, dıˆ und dik noch unterschieden (Bischoff 1943/44, 35). Erst später zeigt sich im Ofäl. der akkusativische Einheitskasus, am frühesten im Südosten, quellenbedingt nachweisbar zuerst in den Städten. Obwohl die Sprechsprache in ihnen im Prinzip durch die jeweilige Schreibsprache überdeckt wird, sind die Urkunden hinsichtlich ‘des’ ofäl. Kriteriums sehr wohl aussagekräftig: Bei einer Tendenz zum Akk. als Einheitskasus etwa seit der Mitte des 14. Jh.s erweitern sie den von Bischoff angegebenen Zeitraum einer Differenzierung ⫺ „bis über 1300 hinaus“ ⫺ beträchtlich: Noch im Dez. a. 1445 z. B. wurde in Göttingen der Dat. my (16 ⫻) konsequent vom Akk. mek/mik (7 ⫻) unterschieden (UB Gött. 2, 214). In einem an das Ofäl. angrenzenden Streifen des Md. sind beide Kasus zu mich und dich vereinheitlicht worden. Bischoff (1967, 23) hält „Alter und Entstehung des ostfälisch-thüringischen Einheitsfalles“ für ungeklärt, mich, dich aber für „alte[s] ostfälische[s] Erbe“ in nach der Aufgabe des Nd. angepaßtem lautlichem Gewande (ebd. 243), wie denn auch Spangenberg (1993, 248) mich, dich auf „alte Bindungen Thüringens zum nd. Sprachraum“ zurückführt; Foerste (1960, 16) dagegen trennt sie „trotz des sprachräumlichen Zusammenhangs“ von mik, dik und schreibt sie autochthonen md. Lautentwicklungen zu. Sofern er sich seiner retrospektiven Sicht bewußt ist, mag der Dialektologe auch schon für die and. Zeit von (Alt-)Ofäl. sprechen; ein Altwestf. zeichnet sich immerhin ab (Foerste 1950) und mit ihm eine östliche ⫺ eben die ofäl. ⫺ Gruppe. Bis in die Gegenwart hinein fungiert die Weser zwischen Münden und Minden als die „schärfste Grenze innerhalb des nd. Altlandes“ (Peters 1985a, 1217). Ob dieser jüngeren Zweiteilung eine ältere Dreiergliederung mit einer engrischen Varietät im Zentrum vorausging (Bremer 1894,
2664
XVII. Regionalsprachgeschichte
Jungandreas 1926/27, Flechsig 1985), bleibt ungewiß. Das Stammesgebilde, das uns nach einem längeren Entwicklungsprozeß unter dem Namen Sachsen entgegentritt, war „aus einer größeren Zahl älterer Kleinstämme und Gruppen“ (Cordes 1956, 9) entstanden. Bei der Inbesitznahme des thür. Gebietes zwischen Ohre und unterer Unstrut nach a. 531 z. B. blieb die „altthüringische Bauernschicht […] im ganzen erhalten, sie wurde sächsisch durchsetzt“ (Bischoff 1943/44, 27 f.; ders. 1967, 9 mit einem Zitat aus dem Sachsenspiegel); davon zeugt u. a. die Kontinuität im archäologischen Fundgut. Nicht zuletzt infolge der ethnischen Heterogenität der Sprachgemeinschaft war das And. kein einheitliches Sprachsystem. Die frühen EN. der Merseburger Quellen z. B. weisen deutliche Unterschiede zu den Sprachformen der literarischen Texte auf (Rooth 1932). Sie ⫺ voran die Ingwäonismen ⫺ können kaum anders denn diastratisch als ein Auseinanderklaffen von gesprochener Sprache, „wie sie damals in den sozial tieferstehenden, sprachlich konservativeren Personenkreisen üblich war“ (Sanders 1985, 1117), und geschriebener Literatursprache interpretiert werden (Scheuermann 1985).
3.
Die ik/ich-Linie
Ihren Verlauf beschreibt Foerste (1957, 1851): „[I]m Süden […] von Hann.-Münden (Weser) bis etwa Nienburg an der Mündung der Bode in die Saale […]. Im Osten folgt die Grenze der unteren Saale, Mittelelbe und Ohre, schließt sich dann der Nordgrenze des Kreises Uelzen an […] und folgt etwa der Böhme bis zur Mündung in die Aller, hält sich dann hart östlich der Weser von Nienburg bis Bückeburg, überquert sie bei Rinteln und bleibt auf dem rechten [recte: linken] Weserufer bis Münden“.
Über weite Strecken mag die ik/ich-Linie als die Südgrenze politischen, nicht zuletzt auch sprachlichen Einflusses der kontinentalen Altsachsen gelten. Daß sie Teil eines ausgeprägten Linienbündels ist (Möhn 1962), in das sich auch Wortgrenzen einfügen (Spangenberg 1966, 9), deutet Cordes (1960, 17) als Beleg für ihr hohes Alter, während Bischoff (1957, 21) betont, sie habe „sich erst im Grenzzuge anderer sächsischer Merkmale fangen“ müssen. Stammes- oder/und Territorialgrenzen haben bei ihrer Entstehung keine Rolle gespielt: Die Ausbreitung der 2. Lautverschiebung war eine oberschichtlich getragene Kulturströmung (Cordes 1960, 17).
Zwischen Duderstadt und Aken ist die heutige ik/ich-Linie eine Rückzugslinie: „Der Raum Mansfeld, Eisleben, Merseburg, Halle, Köthen, Aken, Dessau […] gab zwischen 1350 und 1450 seine nd. Schreibsprache und, mit zeitlicher Verzögerung, seine nd. Sprechsprache auf und ging ganz zum Omd. über“ (Peters 1985a, 1213; zu den Stationen Bischoff 1967, 219⫺280). Martin Luther war mithin das (elb)ofäl. Nd. geläufig, was „nicht unwichtig für sein späteres Sprachwerk“ gewesen sein dürfte (Bischoff 1957, 43); v. Polenz (1991, 189) bezeichnet ihn geradezu als einen „Zweisprachige[n]“.
Anhand historischer ON.formen läßt sich der ehemalige Geltungsbereich des Nd. südlich der heutigen ik/ich-Linie eindrucksvoll veranschaulichen (Bischoff 1967, Abb. 27); er umfaßte den Nordosten Thüringens bis zu einer Höhe Erfurt⫺Altenburg. Moderne ON. mit den Bestimmungswörtern Sud- bzw. Suderzeigen den sog. ‘ingwäonischen Nasalschwund mit Ersatzdehnung’ ⫺ fıˆf ‘fünf’, Goˆs ‘Gans’, Suˆd < Sunth ‘Süd’ ⫺ nach Süden bis an die Helme-Unstrut-Linie (ebd. Abb. 6). Viele Einzelwörter sind in diesem jetzt md. Raum „auch im Bereich der Lautverschiebung unangetastet geblieben“ (ebd. 237; Spangenberg 1966). Die ik/ich-Linie hat an Bedeutung verloren, sind doch „zahlreiche mitteldeutsche Spracherscheinungen […] längst weit über sie hinaus nach Nordwesten vorgedrungen“ (Sanders 1982, 82 f.). Nicht zuletzt aufgrund ihres Festhaltens an maken ‘machen’ und ik ‘ich’, an Pund ‘Pfund’, slapen ‘schlafen’ und Dorp ‘Dorf’, an Tıˆd ‘Zeit’, laˆten ‘lassen’ und groˆt ‘groß’ sind die Mundarten in einem Grenzsaum nördlich von ihr zwar als nd. zu klassifizieren, doch sind sie stark mit md. Elementen durchsetzt; vielen davon haftet ob ihrer Nähe zum Standarddeutsch ein sprachlicher Mehrwert an, der sie den vom Standard weiter entfernten nd. überlegen sein läßt.
4.
Die mnd. Periode
„Im ofäl. Gebiet mit seinen Zentren Braunschweig und Magdeburg liegt im 12. und 13. Jh. der kulturelle Schwerpunkt des nd. Raumes“ (Peters 1985a, 1214). Mit Ausnahme der Gandersheimer Reimchronik von a. 1216, der ersten ihrer Gattung in dt. Sprache (Cordes 1934/35, 42), waren die frühen literarischen Texte allerdings dem ⫺ mhd. ⫺ Vorbild der höfischen Dichtersprache verpflichtet, so um a. 1170 der erste dt.sprachige
2665
181. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostfälischen
Tristan-Roman des Eilhart von Oberg (Dorf 10 km südlich Peine) aus dem Kreis um Heinrich den Löwen. Weltliche Prosa hingegen, für die es „keine hochdeutsche Schreibtradition gab“ (Peters 1998, 117), die Vorbild hätte sein können, wurde in Nd. geschrieben, dem sich mit dieser Textsorte ein Betätigungsfeld sui generis eröffnete (Cordes 1934/35). Eike von Repgow (Reppichau, 12 km südwestlich Dessau) erschloß mit seinem Sachsenspiegel aus den 1220er Jahren der zuvor weitgehend schriftlosen Volkssprache einen neuen Anwendungsbereich und führte sie sogleich auf einen Höhepunkt. ⫺ Nach einem frühen nd. Vorläufer, dem Braunschweiger Ottonianum von ca. a. 1227 (Lasch 1925, 137⫺139, 142 f.), dem ersten dt.sprachigen Stadtrecht, wurde bei dieser Textsorte großenteils noch im 13. Jh. das Lat. durch das Nd. abgelöst. ⫺ Ebenfalls aus Ostfalen stammt das älteste Gilderecht in dt. Sprache, das Goslarer Kramerrecht von a. 1281 (Peters 1985a, 1216). Zu juristischer Prosa in der nd. Volkssprache gesellten sich alsbald umfangreiche ⫺ zumeist gereimte ⫺ Chroniken (Cordes 1934/ 35). Auch sie setzten mit einem Höhepunkt ein, der Sächsischen Weltchronik von ca. a. 1230 (oder um a. 1260?), ebenfalls in elbofäl. Nd., auch sie evtl. aus der Feder Eikes. Die Magdeburger Schöffenchronik stammt aus dem 14. Jh., die Weltchronik des Einbeckers Diedrich Engelhus und die von Johann Statwech aus dem Papenteich (Landschaft nördlich Braunschweig), die Cronecken der Sassen des Braunschweigers Conrad Bote aus dem 15. Jh. Urkundensprache wurde das Nd. erst im späten 13. Jh., und wieder war es, in einem Süd-Nord-Prozeß, „der ofäl. Raum, in dem sich die Neuerung […] zuerst durchsetzt[e]“ (Peters 1985a, 1216); als älteste bekannte nd. Urkunde gilt ein Bündnisvertrag aus a. 1272 (Schröder 1936). Hier ist eine Ausbreitung in absteigender Linie zu konstatieren: Als erste gingen die adligen Kanzleien zum Nd. über, es folgte das aufstrebende städtische Bürgertum. Anlaß für diesen Schreibsprachenwechsel waren die zunehmende „Verschriftlichung weiter Lebensbereiche“ (Peters 1998, 116) und die Notwendigkeit, den Inhalt von Rechtsgeschäften größeren Kreisen bekannt zu machen. Wie dominant in frühmnd. Zeit die ofäl. Rechtssprache war, das zeigt ihr Einfluß sogar „auf die ältesten nordnd. Rechtstexte“ (Peters 1985, 1255). Die Blüte des Ofäl. war allerdings nur kurz, setzte doch
schon bald ausgerechnet im Südosten ein erster Rückgang des Nd. ein, verursacht durch Vitalität und Strahlkraft des Md., einer hd. Varietät des Dt. Spezifika mnd. ofäl. Schreibsprachen sind u. a. /i/ vor /r/-Verbindungen > /e/ (kerke ‘Kirche’), /e/ vor /r/-Verbindungen > /a/ (barg ‘Berg’), Umlaut von /a/ über /e/ > /i/ (stidde ‘Stelle’), /e/ vor Nasal > /i/ (himmede ‘Hemd’), /o/ in offener Silbe > /o¯/, Kürzung tonlanger Vokale vor Kons. ⫹ -el, -er, -en, -ich (leppel ‘Löffel’, better ‘besser’, wetten ‘wissen’, honnich ‘Honig’), Personalpron. der 3. Person Sg. mit gerundetem Stammvokal (öt ‘es’, öme ‘ihm’, ön(e) ‘ihn’, ör(e) ‘ihr’, öm ‘ihnen’), im 14. Jh. disse, später mit Rundung düsse statt desse ‘dieser, diese’, gerundetes düt statt dit ‘dieses’, das Präfix ge- im Part. Prät. bewahrt, der Akk. als Einheitskasus des Personalpron. (Peters 1985, 1253 f.).
5.
Zur Phonologie des Ostfälischen
5.1. Die Struktur der eˆ- und oˆ-Laute Im 12. Jh. standen im nd. Altland „vier verschieden weit geöffneten eˆ-Lauten […] nur zwei oˆ-Laute gegenüber“ (Foerste 1960, 8). Das störende Übergewicht bei den /e:/ wurde dadurch beseitigt, daß einige von ihnen „im Zuge zweier im S des westf.-ostf. Raumes ihren Ausgang nehmenden Diphthongierungsbewegungen“ (Niebaum 1980, 461) diphthongiert wurden. Anhand der Ergebnisse dieses Prozesses läßt sich das Ofäl. heute in drei Gruppen gliedern (Niebaum 1980, 461): Im Süden und Westen das Göttingisch-Grubenhagensche, nach Nordosten und Osten anschließend das Kern- oder Zentralofäl., nördlich davon das Heideofäl. Im Gött.-Grubenhagenschen wurden „zuerst die offenen eˆ1, eˆ2a und oˆ2 zu /ai/ bzw. /au/ diphthongiert […]. Den […] weniger weit (etwa bis /äi/) fortgeschrittenen eˆ4 und eˆ2b hat sich dann der alte enge Diphthong eˆ3 angeschlossen; ihnen korrespondiert oˆ1 (> /ou/)“ (Niebaum 1980, 462). Für die Umlaute der oˆ gilt analog: Der von oˆ2 wurde zu /oi/, der von oˆ1 zu /öi, öü/ diphthongiert. Im Kernofäl. wurden umgekehrt zuerst eˆ2b, eˆ3 und eˆ4 sowie oˆ1 erfaßt und zu /ai/ bzw. /au/ diphthongiert, während eˆ1, eˆ2a und oˆ2 Monophthonge blieben. Für die Umlaute der oˆ gilt analog: Der von oˆ1 wurde diphthongiert (/oi/), der von oˆ2 blieb Monophthong (/ö:/). Im Heideofäl. wurden eˆ2b, eˆ3 und eˆ4 sowie oˆ1 nur noch zu /äi/ bzw. /ou/ diphthongiert, während auch hier eˆ1, eˆ2a und oˆ2 nicht erfaßt wurden. Für die Umlaute der oˆ gilt analog: Der von oˆ1 wurde diphthongiert (/öi, öü/), der von oˆ2 blieb Monophthong (/ö:/).
2666 5.2. Entrundung In weiten Teilen des Ofäl. ⫺ zum Elbofäl. Spangenberg (1993, 49, 57, 91, 95) ⫺ sind /ü, ö; ü:, ö:/ entrundet worden. Dieser Lautwandel wird zwar md. Einfluß zugeschrieben, doch kann der allenfalls für den Osten und Südosten ursächlich gewesen sein. Zumindest im ofäl. Westen und Norden dagegen, wo die Entrundung in isolierten Teilgebieten bis über die Weser hinaus- und „zum Teil weit in die Vergangenheit“ zurückreicht (Flechsig 1984, 98), ist mit autochthoner Entstehung zu rechnen. Ein Entrundungsgebiet beiderseits der unteren Oker macht den Eindruck, als seien hier „seit Wenkers Zeit mancherlei Veränderungen vor sich gegangen oder noch im Flusse […], teils durch weitere Verbreitung der Entrundung, teils durch deren Rückgang infolge des […] Einflusses nicht entrunde[nd]er Mundarten in der Nachbarschaft“ (Flechsig 1984, 91). Nicht in allen Entrundungsgebieten erfaßte dieser Lautwandel alle entrundungsfähigen Stammsilbenvokale; in Stadensen im Landkreis Uelzen z. B., am Nordrand des Heideofäl., wurden lediglich /ö, ö:/ vor /r/ (⫹ Kons.) entrundet, und zwar in den Wörtern för, vör ‘für, vor’ > fär, vär, dörch ‘durch’ > därch, Dörp ‘Dorf’ > Därp, Schörte ‘Schürze’ > Schärt, ik därf ‘ich darf’ und härken ‘horchen’ (aber z. B. Dör ‘Tür’, mör ‘mürbe’ oder störten ‘stürzen’ ohne Entrundung). Der „höchste Grad der Folgerichtigkeit“ wurde „nur in einigen Städten erreicht“ (Flechsig 1984, 115). Da deren jeweiliges Umland nicht erfaßt wurde, ist kaum an eine Verbreitung durch „kulturelle Ausstrahlung“ (ebd. 116) zu denken, sondern an je autochthone Entstehung. 5.3. Kurzvokale in (urspr.) offener Tonsilbe Die vormnd. Kurzvokale in (urspr.) offener Tonsilbe sind in weiten Teilen des Nnd. gedehnt und ⫺ außer dem /a/ ⫺ um je eine Stufe gesenkt worden (Niebaum 1974, 321⫺ 331); im Westf. wurden sie zu den diese nnd. Varietät prägenden Brechungsdiphthongen. Dabei sind mehrere ursprünglich distinkte Phoneme in je einem zusammengefallen: Das Ofäl. unterscheidet ⫺ einschließlich der Umlaute ⫺ heute noch fünf, zwei weniger als das Westf., aber doch zwei mehr als das Nnsächs. Idealtypisch abstrahiert gilt hier: /a/ > /o˛:/, /e¨/ ⫹ /ä/ > /e˛:/, /e/ ⫹ /i/ > /e:/, /o/ ⫹ /u/ > /o:/, /ö/ ⫹ /ü/ > /ö:/. In Adersheim im Landkreis Wolfenbüttel z. B. umfaßte um a. 1900 das
XVII. Regionalsprachgeschichte
System der Langvokale als zweistufiges symmetrisches Viereck geschlossene /e:, ö:, o:/, in denen sich außer alten Längen auch die tongedehnten /e, i/ /ö, ü/ /o, u/ wiederfinden, und offene /e˛:, ö˛:, o˛:/ mit u. a. tongedehnten /e¨, ä/ bzw. /a/ (Scheuermann 1972). In zahlreichen ofäl. Mundarten nun ist vor schwerer Folgesilbe seit mnd. Zeit die sog. Tondehnung nicht zu beobachten. Ursache ist entweder unterbliebene (so z. B. Sarauw 1921, 73) oder aber zunächst erfolgte und dann rückgängig gemachte (so z. B. Lasch 1914, § 69) Dehnung. Schon eine Braunschweiger Quelle von ca. a. 1500 bietet Beispiele wie seggel ‘Siegel’, betten ‘bissen’, Jodden ‘Juden’ oder mönnik ‘Mönch’ (Cordes 1934/35, 52; ältere Streubelege bei Brugge 1944, 55); Adersheim im Landkreis Wolfenbüttel steuert um a. 1900 z. B. ässl ‘Esel’, höwln ‘hobeln’, bettn ‘bißchen’, pöpr ‘Pfeffer’, wäddr ‘Wetter’, schuddrn ‘schaudern’ oder wennich ‘wenig’ bei. 5.4. Bewahrung von nebentonigem /e/ Ein das Ofäl. prägendes Merkmal ist seine weitgehende Bewahrung eines nebentonigen /e/ in allen Positionen des Wortes. Im Anlaut steht ein solches /e/ z. B. als Rest des Präfixes ge- im Part. Prät. der Verben ⫺ efungen ‘gefangen’, emoket ‘gemacht’ ⫺, bei Präfixverben auch im Wortinnern ⫺ anefungen ‘angefangen’, awemoket ‘abgemacht’, dörenomen ‘durchgenommen’ ⫺, wobei eine Verschiebung der Silbengrenze zu den Sprechformen anne/fungen, awwe/moket, döre/nomen geführt hat. Ebenfalls im Wortinnern blieb in Personalendungen sowie bei den schwachen Verben im Part. Prät. das /e/ erhalten: du mokest ‘du machst’, hei moket ‘er macht’, wi, ji, sai moket ‘wir/sie machen, ihr macht’; emoket ‘gemacht’. Im Auslaut schließlich steht dieses /e/ in nahezu allen Fällen: ik moke ‘ich mache’, Lampe, in’n Bedde ‘im Bett’, Chäuse ‘Gänse’, midde ‘mit’, Bottere ‘Butter’, Biure ‘Bauer’, sine Fröwwe ‘seine Frau’. Die Bewahrung des /e/, mit der die Erhaltung der ursprünglichen Silbenzahl der Wörter verbunden ist, zeugt vom in diesem Punkte konservativen Charakter des Ofäl. Die nebentonigen /e/ können im Einzelwort gehäuft auftreten ⫺ ofäl. taurechte/emoket (6 Silben): hd. zurechtgemacht (4 Silben): nnsächs. trechtma˚kt (2 Silben) ⫺, tun das mehr noch in jedem Kontext. Durch sie ist die „anzahl der metrischen Senkungen […] im ostf. größer als im nordns.“ (Blume 1980, 320), das hierin gegenüber dem Mnd. tiefgreifend umstruktu-
181. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostfälischen
riert wurde. Satzmelodie und Sprachrhythmus des Ofäl. klingen folglich in nnsächs. Ohren ungewohnt, und derartige „satzrhythmische divergenzen“ sind, da obendrein „permanent hörbar“, eine wichtige Ursache für den Eindruck des Fremden, den Sprecher des Nnsächs. leicht vom Ofäl. gewinnen ⫺ und umgekehrt (ebd.). Die Bewahrung des ofäl. /e/ ist autochthon dialektal und nicht etwa auf hd. Einfluß zurückzuführen. Allerdings rückt sie das Ofäl. in eine enge strukturelle Nähe zum Hd.: Ik/ ek hebbe dik/dek dat eßejjet (5 Wörter, 8 Silben), hd. Ich habe dir das gesagt (5 Wörter, 7 Silben) vs. nnsächs. Ik heff di dat secht (5 Wörter, 5 Silben).
6.
Das ostfälische Lexikon
Wenigstens anzudeuten ist, daß sich das Ofäl. auch in Teilen seines Wortschatzes deutlich vom übrigen Nd. abhebt. Zwar gilt kaum eines der betreffenden Lexeme im gesamten ofäl. Sprachraum ⫺ einige haben sich nur in Teilbereichen als Relikte gehalten (Foerste 1957, 1851, Seidensticker 1964) ⫺, doch gelten Beddespunnije ‘Bettstelle’, Brı¯ten ‘Küchendunst’, Dünnije ‘Schläfe’, hinner ‘hinter’, Hutsche ‘Fußbank’, Keileken und Kisseken ‘Holunder’, Kempe ‘Eber’, Lork ‘Kröte’, Mäken ‘Mädchen’, Terneisname ‘Spitzname’, Ütsche ‘Frosch’ oder Wiesche ‘Wiese’ als ‘typisch’ ofäl. Ofäl. Leitwörter im Heideofäl. scheinen von einer erst in jüngerer Zeit wirksamen expansiven Kraft des Ofäl. zu zeugen (Flechsig 1985, 125). Um eine Linie Bückeburg ⫺ Hannover ⫺ Peine ⫺ Braunschweig pendelt ein innerofäl., von Norden wie von Süden her aufgebautes wortgeographisches Isoglossenbündel, die Hannoversche Schranke (Seidensticker 1964, 5⫺12 mit Kt. 1); an ihr steht „ein relativ geschlossener Norden einem zerklüfteten Süden gegenüber“ (Stellmacher 1990, 116).
7.
Kontaktgeschichte
Wichtige gemeinsame Merkmale machen das Ofäl. zu einem Sprachraum, der sich als ganzer erkennbar von anderen nd. Dialektgebieten abhebt. Andererseits ist er in sich aber nicht so homogen, wie der Sammelname Ofäl. es suggerieren könnte. Zur Binnengliederung des Ofäl. hat nicht zuletzt der Einfluß benachbarter Mundarten beigetragen. So wurde das Heideofäl. durch das Nnsächs. ge-
2667 prägt, das Gött.-Grubenhagensche durch das Westf. und das Md., das Elbofäl. durch das Md.; lediglich das Kern- oder Zentralofäl. blieb weitgehend frei von interdialektalen Einflüssen. 7.1. Das Heideostfälische Seidensticker (1971, 70) gilt das Heideofäl., die nördlichste Varietät des Ofäl., als „eine nordnd. orientierte, aber zum Ofäl. neigende Übergangsmundart“. Der Einfluß des Nnsächs. beruht auf dessen sprachlichem Mehrwert, der nicht erst in jüngster Zeit durch Funk und Fernsehen wirkt: Das Nd. der Küste galt und gilt vielen als eine Art Normal-Nd. (Blume 1980, 324). Die ungefähre Südgrenze des Heideofäl. bildet die Aller. Nach Flechsig (1985, 121) weisen nicht selten nördlich von ihr gelegene Orte mehr ofäl. Elemente auf als südlich von ihr gelegene. Den heutigen Verlauf der mıˆ/ mik-Linie im Nordwesten hält er für das Ergebnis einer ofäl. Expansion „erst in neuerer Zeit“ (ebd. 124), während Indizien doch eher dafür sprechen, daß das Nnsächs. sie in jüngster Zeit nach Südosten abdrängt. Unter den Übereinstimmungen mit dem Nnsächs. ist die wohl bedeutsamste der teilweise Verfall des akkusativischen Einheitskasus beim Personalpron. Dieser findet sich zwar noch bei der 1. und der 2. Person Sg. (mik, dik) [die] sowie der 2. Person Pl. (jük), für das restliche Paradigma aber gilt, wie im Nnsächs., häufig schon der dativische Einheitskasus (em, ehr, uns, [das] jüm). Mit dem Nnsächs. teilt das Heideofäl. „die späte Diphthongierung der geschlossenen eˆund oˆ-Laute, die hier infolgedessen erst die Stufe äi bzw. ou erreicht hat“ (Foerste 1957, 1852). Des weiteren wurde es von einer primär wohl nnsächs. Erscheinung erfaßt, der Apokope eines auslautenden -e, verlor das Part. Prät. vollständig das Präfix ge-, e-, wurde bei sıˆn/wesen ‘sein’ im Prät. „de[r] Vokalismus des Sing. und Plur. ausgeglichen: weˆr : weˆren gegenüber kernostfäl. was : weˆren“ (ebd.). In zwei Fällen erweist sich das Ofäl. neuerdings ⫺ wohl gestützt durch das Standarddeutsch ⫺ als expansiv: „Die Apokope-Grenze weicht spürbar nach Norden zurück, der gänzliche Ausfall der Vorsilbe geverliert deutlich an Boden“ (Wesche 1968, 19). Heideofäl.-kernofäl. Gemeinsamkeiten im Wortschatz sind Brı¯ten ‘Küchendunst’, Flott ‘Rahm’, Gramm, Grammert ‘Grummet’ oder hinder, hinner ‘hinter’, heideofäl.-nnsächs.
2668 sind börnen ‘tränken’, De¯rn ‘Mädchen’, E¯be¯r ‘Storch’, Küsel ‘Kreisel’, Ökel-, Gökelname ‘Spitzname’, (ut)palen ‘(Hülsenfrüchte) ausschoten’, Pogge ‘Frosch’ oder Sott ‘Ruß’. 7.2. Das Göttingisch-Grubenhagensche Dahlberg (1934, Kt. 3) bezeichnet ⫺ wenn auch zögernd ⫺ die südnsächs. Mundarten zwischen Bodenwerder im Nordwesen und Duderstadt im Südosten insgesamt als Göttingisch-Grubenhagensch, betont aber, daß sie „gar sehr voneinander abweichen“ (ebd. 188). Er gliedert sie in „Einbeckisch“, „Westharzisch“, „Gött.-niedereichsfeldisch“; alle drei weisen breite Übergangszonen auf (ebd. 193). Nach Dahlberg (1941, 12) ist das Gött.-Grubenhagensche eine Mundart mit westf. und md. Einschlag. Die wichtigsten Ergebnisse Dahlbergs (1941) faßt Seidensticker (1964, 2) so zusammen: „Göttingen-Grubenhagen ist eine typische Treppenlandschaft; die von der Mitte des Ostfälischen ausgehenden Wellen klingen hier ab; Göttingen-Grubenhagen ist gegenüber Zentralostfalen isoliert; die Weser, die Verschiebungsgrenze und der Harz sind klare Grenzen, problematisch ist die Nordgrenze“. Als Treppenlandschaft hatte schon Bretschneider (1934, 230) die „Sprachlandschaft Südostfalen“ charakterisiert, wobei sie allerdings auf md. Einflüsse aus dem Südosten abhob. U. a. diese trugen zum Gegensatz zwischen dem Gött.-Grubenhagenschen und dem übrigen Ofäl. bei. Sehr pointiert stellt Seidensticker (1964, 46) fest: „Der Versuch, Göttingen-Grubenhagen in wortgeographische Zusammenhänge einzuordnen, schließt mit der Frage, was an dieser Mundart denn nun eigentlich niederdeutsch sei“. Appel (1994) beschreibt ein auf das Gött.Grubenhagensche beschränktes Phonemsystem, für das „das stimmlose /Z/ und der stimmlose Frikativ /G/“ charakteristisch sind, die geradezu „als Schibboleths dieser Region gelten“ (ebd. 177). Ebenfalls nur hier findet sich ein System, das mit ersterem nahezu identisch ist, sich von ihm „lediglich durch das […] uvulare /R/“ unterscheidet (ebd. 182). Den Südostteil des Gött.-Grubenhagenschen bildet das Eichsfeldische. Es ist einerseits durch starke md. Einflüsse geprägt ⫺ Entrundung z. B. in Derp ‘Dorf’, Sticke ‘Stück’, läpsch ‘läufig’, Kenig ‘König’, Dıˆwel ‘Teufel’ (Scheuermann 1996, 288, Schütze 1953, 123 f. u. K. 4); Gutturalisierung von /nd/ > /ng/ z. B. in Winge ‘(Acker)Winde’,
XVII. Regionalsprachgeschichte
Hallunger ‘Holunder’, Hänge ‘Hände’, hinger ‘hinter’; Wörter mit 2. Lautverschiebung wie Kleinlauch ‘Schnittlauch’, Fütze ‘Pfütze’, Zuun ‘Zaun’, draßig ‘30’, teib ‘tief’, ton ‘tun’ (Scheuermann 1996, 289) ⫺, wird andererseits aber auch als Raum sprachlicher Beharrung charakterisiert (Schütze 1953, 113) ⫺ Tondehnung, unterbliebene Diphthongierung von /i:, ü:, u:/. „Die dialektgeographische Lage als Grenzgebiet an der nd./md. Sprachscheide, die verkehrsmäßige Isolierung vom zentralostfälischen Raum […], die wirtschaftlichen und soziologischen Verhältnisse […] und die konfessionelle Insellage […] haben bewirkt, daß die Goldene Mark heute innerhalb der ostfälischen Sprachlandschaft als Reliktgebiet erscheint“ (Schütze 1953, 134). 7.3. Das Elbostfälische Das Elbofäl. ⫺ der Terminus seit Lasch (1914, § 14) ⫺ ist entscheidend durch die „Verzahnung […] mit dem angrenzenden Mitteldeutschen“ geprägt (Bischoff 1943/44, 73), das „auch in der Gegenwart noch ständig weiter nach Norden“ vordringt (Foerste 1957, 1852). Bei den sprachlichen Wechselbeziehungen über die ik/ich-Linie hinweg darf nicht übersehen werden, daß der Norden Thüringens in der Frühzeit lange nd. Sprachgebiet war (vgl. 2.) und erst seit dem 14. Jh. zu einer md. Mundart überging; die läßt das nd. Substrat bis heute „noch gelegentlich durchscheinen“ (Rosenkranz 1968, 118). Die südlichen Einflüsse erfuhren durch die fränkische Eroberung und die Christianisierung eine mächtige Stütze, während umgekehrt in der Ottonenzeit eine „Ausweitung des sächsischen Einflusses auf Thüringen“ stattfand (ebd. 144). Zu den auffälligsten Gemeinsamkeiten beiderseits der heutigen nd.-md. Sprachgrenze zählen die unterbliebene Diphthongierung der alten hohen Längen ⫺ Tıˆd/Zıˆt ‘Zeit’, Lüde/Lüte ‘Leute’, Tuˆn/Zuˆn ‘Zaun’ ⫺ und „die inl. und ausl. nicht verschobene Tenuis p in der abgeschwächten Form b statt pf (a˚bel ‘Apfel’, kob ‘Kopf’)“ (Spangenberg 1993, 6), ferner die im Nordwesten des Nthür. unterbliebene Entrundung von /ö, ü; ö:, ü:/, die fehlende Gutturalisierung von /nd/ > /ng/ (ebd. Abb. 10) sowie die erfolgte Assimilation von /hs/ > /ss/ (ebd. K. 28), nicht zuletzt auch der Einheitskasus mik/dik, mich/dich statt der nhd. formal differenzierten mir und mich, dir und dich. Daß sich so nahe der Grenze „im Nthür auch nd. Wortgut“ findet, dürfte sowohl auf älteren Gemeinsamkeiten beruhen
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181. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostfälischen
als auch ⫺ insbesondere im landwirtschaftlichen Fachwortschatz (Rosenkranz 1968, 146) ⫺ jüngerem nördlichem Einfluß zuzuschreiben sein. Ein Charakteristikum des Elbofäl. ist der Einheitspl. auf -en im Ind. Präs. der Verben, der ⫺ unter md. Einfluß (Bischoff 1957, 83) ⫺ etwa seit der Mitte des 13. Jh.s älteres -et ablöste. Das Elbofäl. reichte einst weiter nach Westen und ist im Laufe der Zeit durch „Spracheigentümlichkeiten des ostfälischen Kernlandes […] in östlicher Richtung“ zurückgedrängt worden (Jülicher 1926, 28). 7.4. Das Kern- oder Zentralostfälische Die meisten Mundarten des Kern- oder Zentralofäl., der „ostfälische[n] Mitte etwa zwischen Hannover im Norden und Göttingen im Süden“ (Sanders 1982, 82), heben sich durch eine auffällige Eigenheit von allen anderen nd. Dialekten in Niedersachsen ab: Ihren Phoneminventaren fehlen /i:, ü:, u:/. Statt ihrer findet sich eine verwirrende Vielfalt von Diphthongen: Anstelle des /i:/ stehen /e¨i, öi, ai, oi/, anstelle des /ü:/ stehen /ui, üi, öi, öü, iu/, anstelle des /u:/ schließlich /ui, üi, üe, üu, iu, e¨u, öu, ou, au/ (Nsächs. Wb. Bd. 3, K. 9, 14, 15). Diese relativ junge Diphthongierung ⫺ Beginn erst um a. 1700 ⫺ ist nicht auf das Kernofäl. beschränkt, sondern erstreckt sich westlich der Weser tief in das Ostwestf. hinein. Sie ist um so erstaunlicher, als für das Frühnnd. auch für das Kernofäl. ein Inventar der Langvokale anzunehmen ist, das mit /i:, ü:, u:/ als durchaus stabil gelten darf (Scheuermann 1972, 121 f.). Den Anstoß zum Wandel gab entweder das östliche Md. (Bischoff 1967, 237) oder das Hess.; an autochthone Entstehung ⫺ Beginn im Hiat, Ausweitung auch auf andere Positionen im Wort ⫺ denkt Foerste (1957, 1802). Eine Sonderstellung innerhalb des Kernofäl. weist Flechsig (1985, 134 f.) dessen Ostrand zu. Danach gehören zu dessen Eigenheiten u. a. frairen (statt fraisen) ‘frieren’, Mölle (statt Mö¯le) ‘Mühle’ und Sna¯i (statt Snı¯) ‘Schnee’, ferner Flaisen, Flaisenwost (statt Pümpel bzw. Flaumenpümpel) ‘Dauerwurst aus Mettgut’, Kaitschen, Kaiseken (statt Kaileken) ‘Holunderbeeren’ und Turnicks, Turnips, Turnits (statt Rummel) ‘Futterrübe’; ein weiteres Kennzeichen dieses Ostrandes ist op (statt up) ‘auf’, das gegenüber ursprünglichem up noch immer expandiert (ebd. 137). Flaisen, frairen, Mölle und Snai führt Flechsig (ebd.) „auf altmärkische Einflüsse“ zurück. Den Nordwesten des Kerno-
fäl. bilden die Mundarten im Land zwischen Deister und Leine, das Calenbergische (Mehlem 1944).
8.
Zum Sprachenwechsel Niederdeutsch > Hochdeutsch
Die Ablösung des gesprochenen Nd. durch das Hd. war der letzte „durch externe Faktoren bedingte Sprachenwechsel“ (Peters 1998, 110) in Ostfalen; zweimaliger Wechsel der Schreibsprache ⫺ Lat. > Mnd., Mnd. >Frühnhd. ⫺ war ihr vorausgegangen, letzterer in mehreren Fallstudien untersucht (Übersichten bei Gabrielsson 1983 und Sodmann 1985, dazu jetzt Lehmberg 1999). Sie war ein „sprachgeschichtlich erstrangige[s] Ereignis“ (v. Polenz 1991, 279), das zum Rückzug des Nd. „auf den mündlichen Gebrauch in nicht offiziellen, nicht überregionalen Funktionen“ führte (ders. 1994, 218 f.). Dieser auf gewandelte Kommunikationsbedürfnisse zurückgehende Wechsel wurde der Bevölkerung „eines runden Drittels des deutschen Sprachgebiets […] von obrigkeitlichen Institutionen und einflußreichen Aufsteigerschichten“ aufgezwungen (v. Polenz 1991, 280), speiste sich aber auch aus einem „Bedürfnis nach Sozialprestige“ (Peters 1998, 124) aufstiegsorientierter Niederdeutscher. Mühsam mußten diese „die nicht autochthone […] hochdeutsche Schriftsprache […] erlernen“, schätzten ihre nd. Muttersprache aber bald nur mehr „als sozial minderwertiges Plattdütsch“ ein (v. Polenz 1991, 280). „Nicht Koexistenz […] war das Ziel, sondern Ausrottung, mit allen Phänomenen der Mißachtung und Demütigung“ (Besch 1979, 343). Daß sich dagegen auch in Ostfalen Widerstand regte, zeigte sich u. a., als a. 1544 die kurz zuvor auf Hd. erschienene braunschw.-lüneburgische Kirchenordnung in das Nd. übertragen werden mußte (v. Polenz 1991, 291). Dort, wo heute Nd. gesprochen wird, liegt eine „binnensprachliche ‘Zweisprachigkeit’ “ vor (Besch 1983, 984), die, da nicht immer leicht zu erkennen, auch als ‘verborgene’ bezeichnet wird (Stellmacher 1990, 103). Sie setzt voraus, daß in diesem Sinne bilinguale Sprecher zwischen Mundart und Standard unterscheiden können und wissen, wann, der jeweiligen Kommunikationssituation angemessen, Code-Switching zwischen beiden Varietäten zu erfolgen hat. Dieser Zustand gilt heute in ganz Norddeutschland (Besch 1983a, 1409).
2670 Die gegenwärtige Lage auch des Ofäl. kann „mit Hilfe der Begriffe Dialektverfall und Dialektverlust charakterisiert werden“ (Peters 1998, 125). Durch die Koexistenz mit dem Hd. gleicht sich das Ofäl. ersterem immer mehr an (Wesche 1968), verliert es noch stets Domänen an dieses. Vielleicht darf die Öffnung zum Standard hin andererseits als ein Beweis für „die Lebensfähigkeit und das Funktionieren“ des Ofäl. gewertet werden (Sanders 1982, 185). Du sasst nun myn leeve Soen sien, ave[r]st dyn Vaar, de […] nig ⫺ diese Worte Herzog Heinrichs des Jüngeren von Wolfenbüttel bei der Geburt seines Enkels a. 1564 wertet Blume (1996, 65) als „ein Dokument der Tatsache, daß die spontane, gewohnte Sprache Heinrichs ⫺ wie die seiner Generation überhaupt ⫺ noch das Niederdeutsche war“, obwohl Hd. zu jener Zeit bereits Kanzleisprache war. Des Knaben Vater verlangte später von den Erziehern seines Sohnes, sie sollten darauf achten, daß dieser „eine möglichst reine, verständliche, hochdeutsche und lateinische Pronunciation fassen und führen möge“ (ebd. 66) ⫺ auch für ihn war das Hd. noch eine Fremdsprache. Metasprachliche Informationen über den Ablösungsprozeß, durch den die nd. Mundarten allmählich „aus den nördlichen Bindungen herausgelöst und in einen südlichen Verband umgelagert“ wurden (Bischoff 1967, 241), überliefern zeitgenössische Beobachtungen. Die wichtigsten hat in ihren entscheidenden Passagen Bischoff (1957, 40⫺47) zusammengestellt (vgl. auch ders. 1967, 241⫺244). Danach nahm z. B. a. 1477 in Halle während einer Ratssitzung der rathsmeister Heddrichs das Wort, wiewol es […] seinen kumpen Karlen behorte zu reden, […] wenn er wuste und kunde wol reden uff sechsisch; Heddrich war offenbar einer der wenigen Ratsherren, die im Halle jener Zeit noch des Nd. mächtig waren. Dieses zu verwenden erforderte aber die Situation, hatten doch ⫺ im Unterschied zu den Angehörigen der führenden Schicht ⫺ die von der gemeinheit aus allen vier pfarren zu einem Verhör einbestellten den Sprachenwechsel noch nicht vollzogen (ebd. 40 f.). Immerhin noch a. 1722 wird aus Halle von einer sprachlichen Dreischichtigkeit berichtet: „Ja wir haben alhier in Halle eine dreyfache Aussprache; wodurch sich vornehme und geschickte Leute von dem gemeinen Volk aus der Bürgerschaft und diese beyderseits wiederum von den so genannten Halloren sehr merklich unterscheiden“ (nach v. Polenz 1994, 218); „die Unterschichtsprache der Halloren“ (ebd.) trug noch einen elbofäl. Anstrich. Aus
XVII. Regionalsprachgeschichte
Magdeburg berichtet Georg Torquatus um a. 1570, „daß damals die vornehmeren Kreise das Niederdeutsche als ‘sächsische Barbarei’ zu verachten begannen“ (Bischoff 1957, 41); er ist zugleich ein Beispiel dafür, daß sich in privaten Aufzeichnungen ⫺ er führte ein Hu¯sbo¯k ⫺ die das Hd. „verbreitenden literati selbst noch Ende der 1560er Jahre in der Regel des Niederdeutschen bedienten“ (Loewe 1888, 18). Derartige Beobachtungen bestätigen das geläufige Bild eines sich vollziehenden Sprachenwechsels: Die andrängende neue Varietät findet relativ leicht Eingang zunächst in die Schrift, dann auch in die Sprache der sozial und kulturell führenden Schicht einer Gemeinschaft, deren ‘breite Masse’ vorerst noch bei der angestammten Sprachform verharrt. Einfallstore waren auch in Ostfalen die Städte und in ihnen die dünne bürgerliche Oberschicht; hd.-nd. Texte zeugen einerseits von dem Bemühen um Übernahme des Hd., andererseits aber auch davon, daß die Umgangssprache noch immer das Nd. war. Für Magdeburg z. B. resümiert Bischoff (1957, 42), daß in der Stadt „das letzte Niederdeutsch in den 1830er Jahren aufgegeben“ wurde. In ihrem Umland dagegen begann dessen Rückgang erst gegen Ende des 19. Jh.s, und zwar, wie schon Loewe (1888, 22) erkannte, zunächst „im Verkehre mit Gebildeten, Städtern und Mitteldeutschen“, bei „reichen Bördebauern“ (ebd. 23) allerdings auch ohne diesen externen Antrieb; dabei nahm die Intensität des hd. Einflusses von Süd nach Nord und von Ost nach West ab (ebd. 24 f.). Ein interessantes Schichtenmodell als Durchgangsstadium beschreibt Loewe (ebd. 50) hinsichtlich des Gebrauchs von Dat. und Akk. der 1. und der 2. Person Sg. des Personalpron.: „Der Magdeburger Arbeiter“ verwende meistens nd. mik, dik als Einheitskasus, eine „etwas höher stehende, sehr umfangreiche Gesellschaftsklasse, auch schon viele Arbeiter“, verwendeten md. mich, dich, eine „wieder etwas höher stehende Klasse“ kenne zwar auch mir, dir, könne sie aber nicht „überall von mich und dich funktionell richtig“ trennen, „und nur die oberste Klasse wird hier den Anforderungen der Norm gerecht“.
9.
Hochdeutsche Umgangssprache auf ostfälischer Grundlage
Die hd. Umgangssprache, eine „mundgerecht abgeschliffene […] Realisationsform der Standardsprache“, die heute „vielerorts die
181. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostfälischen
Sozialfunktionen der geschwundenen Dialekte erfüll[t]“ (Blume 1996, 77), trägt auch in Ostfalen deutliche Spuren ihres nd. Substrats. Eines ihrer Merkmale ist die Artikulation des Standarddeutschen /ai/ als /a:/. Sie beruht auf einem nd. Lautwandel, der Monophthongierung des nnd. /ai/ < mnd. eˆ3 (seltener eˆ2, eˆ4) > /a:/, kam also aus dem Nd. in die hd. Umgangssprache (anders Blume 1987, 26, der in ihr ⫺ und ihrem Pendant /e:/ (s. u.) ⫺ städtische „Markierungen sozialer Distanz zum Niederdeutschen und zu seinen Sprechern“ sieht). Sie hat auch nhd. /ai/ < mhd. /i:/ erfaßt, so daß es umgangssprachlich sowohl ba¯de ‘beide’, dra¯ßig ‘30’, ka¯ne' ‘keine’ oder zwa¯ ‘zwei’ heißt wie auch ba¯ ‘bei’, fla¯ßig ‘fleißig’, sa¯t ‘seit’ oder Za¯t ‘Zeit’. Umgangssprachliches /a:/ < /ai/ bot Anlaß zu Sprachspott: Ha¯ni soll in’n Vera¯n; denkste, der geht ra¯n? Na¯n! Der gewinnt dadurch an Brisanz, daß als Folge von /ai/ < /a:/ in Wörtern mit historisch zu erwartendem /a:/ als Stammvokal dieses ausweichen mußte: Es wurde zu /e:/ etwa in Ö˛¯ bend ‘Abend’, köö˛¯m ‘kam’, Röö˛¯sen ‘Rasen’, Ströö˛¯ße ‘Straße’, Wöö˛¯gen ‘Wagen’, Junge, sprich a¯n Hannoweröö˛¯ner. klöö˛¯res /e:/! ⫺ Jöö˛¯, Vöö˛¯ter, jöö˛¯! So entstanden ¯˛ le ‘Aale’ : A ¯ le ‘Eile’, Böö˛¯n ‘Bahn’ : Paare wie Ö Ba¯n ‘Bein’, köö˛¯men ‘kamen’ : ka¯men ‘keimen’, Möö˛¯ß ‘Maß’ : Ma¯ß ‘Mais’, Söö˛¯ne ‘Sahne : sa¯ne ‘seine’, Schöö˛¯be ‘(Küchen-)Schabe’ : Scha¯be ‘Scheibe’, schlöö˛¯fen ‘schlafen’ : schla¯fen ‘schleifen’ oder Wöö˛¯l ‘Wal/Wahl’ : wa¯l ‘weil’, Höö˛¯sede ‘Hasede’ : Ha¯sede ‘Heisede’ (ON. im Landkreis Hildesheim). Im Subsystem ‘Konsonantismus’ fällt vor allem die Tendenz auf, „an- und inlautendes /g/ durch einen Frikativ (bzw. den friktionslosen Konsonanten [j]) zu ersetzen“ (Lauf 1996, 213). So müssen sich z. B. die Chöttinger mit der choldchelb chebratenen Chans necken lassen, die eine chute Chabe Chottes sei. Flechsig (1957, 251) hält dieses Phänomen für jung, da es nicht vor der 2. Hälfte des 19. Jh.s bezeugt sei und obendrein „nach dem Norden und Westen fortschreitet und noch in vollem Flusse ist“. In den umgangssprachlichen Wortschatz Ostfalens sind viele nd. Dialektwörter eingegangen, ohne daß sich Sprecher/Hörer der Herkunft derselben (immer) bewußt wären. Nach seinem unreflektierten Verständnis von ‘Sprache’ sind für einen Ostfalen folgende Sätzchen rein hd.: Na warte, du Binke, wenn ich dich kriege! Was ist das hier wieder für ein Brieten in der Küche? Hol mir mal eben Handule und Fegeblech aus dem Kellerhals! Igitt, die Milch ist ja schon ho˝ttelig/gehöttelt,
2671 sie höttelt ja schon! Hört endlich auf, euch immer zu kretten! Wann backen wir mal wieder Prilleken? Setz dich mal ein bißchen zu mir auf den Süll!
10. Zur Situation des Niederdeutschen in Ostfalen Das Ergebnis einer sich über Jahrhunderte hinziehenden „Funktionsspezialisierung des Nd. im Bereich der gesprochenen Sprache“ (Möhn 1983, 158) ist sein Rückzug auf den kommunikativen Nahbereich: Dem Ofäl. kommt heute der Status ‘Dialekt’ zu. Da es jedoch, wie alle Varietäten von Sprache, historischem Wandel unterliegt, muß dieser Status nicht von Dauer sein: So, wie dem mnd. Ofäl. sehr wohl der Status ‘Sprache’ zukam (Goossens 1983, 19; v. Polenz 1991, 279), wäre ein neuerlicher Ausbau in der Zukunft wenigstens in Teilbereichen zumindest denkbar (zuletzt v. Polenz 1994, 200⫺238), wenn er gleich wenig realistisch ist. Bei dem Fehlen eines kommunikativen Bedürfnisses ist auch und gerade in Ostfalen der Rückgang des ohnehin nur noch rudimentär vorhandenen Nd. rapide, nimmt die „Sprachverwendungskompetenz“ (Möhn 1983, 163) der Sprecher des Ofäl. massiv ab. Ofäl. ist nicht mehr Erstsprache, sondern wird allenfalls als Zweitsprache erworben. Nicht zuletzt „die fatale Mentalität“ vieler Nd.-Sprecher, „selber ihre eigene Mundart als negativ einzuschätzen“ (Sanders 1982, 189), hat diesen Zustand herbeigeführt; schon der spätbarocke Dichter und Professor Johann Lauremberg hatte sie a. 1652 in seinem vierten „Schertzgedicht“ angeprangert, indem er (Verse 541 f.) einen Verächter des Nd. sagen ließ: Ewr eigen Muttersprach ist bey euch selbst unwerth,/Wer öffentlich drin redt, den helt man nicht gelehrt. Trotz der Tatsache, daß das Verhältnis Nd. : Hd. sich „in den letzten Jahren zum ersten Mal seit vierhundert Jahren ernsthaft dem Koexistenz-Modell“ nähert (Besch 1979, 343), dürfte insbesondere auf Ostfalen zutreffen, daß „bestimmte niederdeutsche Lokal-, vielleicht sogar Regionaldialekte unmittelbar in ihrer Existenz bedroht“ sind, andere gar „schon heute nurmehr auf dem Papier“ bestehen (Sanders 1982, 181). Davon, daß das Ofäl. „mehr und mehr zu einem Kulturdialekt“ werde, geht Stellmacher (1995, 96) aus (vgl. auch Peters 1998, 127). Erhebungen zu Gebrauch und Verbreitung des Nd. in Niedersachsen (Stellmacher 1995, 9⫺27) zeigen das auch im Bewußtsein der Sprecher hin-
2672 länglich bekannte Nord-Süd-Gefälle, ohne daß Ostfalen jedoch dialektfrei wäre, wie das aus der Sicht des Nordens scheinen mag. Antworten auf die Frage nach dem aktiven Sprachgebrauch zeigen, daß in Ostfalen infolge mangelnden Sprachbewußtseins ⫺ das Nnsächs. genießt hier ein höheres Ansehen als die bodenständigen Mundarten (Stellmacher 1995, 96) ⫺ der Dialekt im öffentlichen Alltagsdiskurs kaum noch verwendet wird. Der sprachliche Mehrwert des Nnsächs. beruht nicht zuletzt auf dessen Dominanz in Funk und Fernsehen, deren nd. Sendungen in der Regel im sog. Funkplatt ausgestrahlt werden, einer Koine´ auf nnsächs. Basis, der ofäl. und westf. Elemente weitestgehend fremd sind. Dieses Hoch-Platt (Blume 1980, 320) verstärkt auch in Ostfalen die verbreitete Tendenz zu einem Abbau lokaltypischer Besonderheiten (Möhn 1983, 170) und leistet einer Regionalisierung der lokalen Dialekte Vorschub (dazu Schunk 1999). Blume (1980, 323) charakterisiert die Sprecher des Ofäl. denn auch als bedingt dreisprachig, verfügen sie doch über eine aktive und eine passive Kompetenz des Hd. und des Ofäl., dazu über eine passive des Nnsächs. Ob es dem Ofäl. in Zukunft gelingen wird, verlorengegangene Domänen zurückzugewinnen, das hängt entscheidend von dem Sprachwillen der Ostfalen ab, nicht zuletzt davon, ob sie bereit sind, ihr Platt an Kind und Kindeskind weiterzugeben. Eine derartige Grundeinstellung könnte im Ofäl. Institut der DEUREGIO Ostfalen, im Arbeitskreis Ofäl. Platt und in den plattdt. Gruppen lokaler Heimatvereine eine Stütze finden, wie denn auch die Tatsache, daß die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, die mit Wirkung vom 1. Dez. 1998 in Kraft ist, von förderlichem Einfluß sein kann. Da überdies gerade „im mundartschwachen Südniedersachsen die niederdeutsche Sprachpflege besonders geschätzt ist“ (Stellmacher 1995, 34), könnte langfristig auch hier der heimische Dialekt wieder „zu einer beliebten, frei verfügbaren und somit gezielt einsetzbaren Zweitsprache“ werden (Schuppenhauer 1983, 1418). Die Stärkung eines sprachlichen Ostfalen-Bewußtseins könnte schließlich dazu beitragen, regionale Identität zu stiften und/oder zu festigen.
XVII. Regionalsprachgeschichte Besch, Werner, Schriftsprache und Landschaftssprachen im Deutschen. In: RVj. 43, 1979, 323⫺ 343. Ders., Dialekt, Schreibdialekt, Schriftsprache, Standardsprache. In: Dialektologie 1983, 961⫺ 990. Ders., Entstehung und Ausprägung der binnensprachlichen Diglossie im Deutschen. In: Dialektologie 1983, 1399⫺1411. [= Besch 1983a]. Bischoff, Karl, Zur Sprache des Sachsenspiegels von Eike von Repgow. In: ZMF 19, 1943/44, 1⫺80. Ders., Elbostfälische Studien. Halle (Saale) 1954. (MdSt 14). Ders., Zur Geschichte des Niederdeutschen südlich der ik/ich-Linie zwischen Harz und Saale. Berlin 1957. (Sächs. Ak. Wiss. 102, 6). Ders., Sprache und Geschichte an der mittleren Elbe und der unteren Saale. Köln/Graz 1967. (MdF 52). Blume, Herbert, Zur funktionalen Konkurrenz von Ostfälisch, Nordniedersächsisch und Hochdeutsch im südlichen Niedersachsen. In: ZGL 8, 1980, 314⫺327. Ders., Gesprochenes Hochdeutsch in Braunschweig und Hannover. Zum Wandel ostfälischer Stadtsprachen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert. In: Braunschweigische Heimat 73, 1987, 21⫺32. Ders., Babylon in Wolfenbüttel? Zur Sprachenvielfalt in den Dramen Herzog Heinrich Julius’ von Braunschweig und Lüneburg. In: Ders. (Hrsg.), Herzog Heinrich Julius von Braunschweig und Lüneburg. Tragica Comœdia Von einem Wirthe oder Gastgeber (1594). Braunschweig 1996, 61⫺79. Bremer, Otto, Deutsche Mundarten. In: Brockhaus’ Konversations-Lexikon. 14. […] Aufl. 5. Bd. Leipzig/Berlin/Wien 1894, 27⫺35. Bretschneider, Anneliese, Die Heliandheimat und ihre sprachgeschichtliche Entwicklung. Marburg 1934. (DDG 30). Brugge, Edvin, Vokalismus der Mundart von Emmerstedt. Lund/Kopenhagen 1944. (LGF 14). Cordes, Gerhard, Ostfälische Chroniken des ausgehenden Mittelalters. In: NdJb. 60/61, 1934/35, 42⫺62. Ders., Zur Frage der altsächsischen Mundarten. In: ZMF 24, 1956, 1⫺51, 65⫺78.
11. Literatur (in Auswahl)
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2673
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2674
XVII. Regionalsprachgeschichte
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Ulrich Scheuermann, Göttingen
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte 1. 2. 3. 4.
Brandenburg Gegenstand und Aufgabe einer brandenburgischen Sprachgeschichte Forschungsergebnisse und Fragestellungen Literatur (in Auswahl)
1.
Brandenburg
Der mit dem Namen Brandenburg seit dem Spätmittelalter bezeichnete Raum ist durch eine bis in die jüngste Vergangenheit veränderliche politisch-territoriale Form und eine administrative, ethnische und kulturelle Inhomogenität charakterisiert. Für die sprachlichen Verhältnisse bis zum Ende des 15. Jahr-
hunderts in diesem Kolonialland zwischen Elbe und Oder ist nach einer politisch instabilen Anfangsphase zunächst die Diözesangliederung (mit den Bistümern Havelberg, Brandenburg und Lebus) seit Ende des 13. Jh. prägend, die in der Folge durch die Provinzialgliederung der marchia brandenburgica überlagert wird. Das Landbuch Karls IV. von 1375 nennt fünf provinciae, quarum provinciarum una vocatur Nova Marchia Brandenburgensis [die spätere Mittelmark], altera Antiqua Marchia Brandenburgensis [Altmark], tercia Prigniez, quarta Ukrara et quinta Marchia trans Oderam [die spätere Neumark] (nach Landbuch 1940, 2). Das askanische Kernland
2675
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
KAMIN
SCHWERIN
Prenzlau
R AT Z E BURG
Uckermark
H AV E L B E R G Prignitz
Hft. Ruppin
Neumark
VERDEN
Freienwalde
Barnim
Altmark
Havelland
HALBERRathenow
BRANDENBURG Spandau
S TA D T
Küstrin
Strausberg
LEBUS
Berlin Brandenburg
Fürstenwalde
Köpenick
Potsdam
Zauche
Frankfurt
Te l t o w Zu MAGDEBURG
Fläming
Neuzelle
Jüterbog
MAGDEBURG
Luckau Dahme
Guben
MEISSEN Cottbus
Legende
0
25
50 km
Heutiges Gebiet des Bundeslandes Brandenburg Ausdehnung der alten Mark Brandenburg
Calau
NiederLausitz Spremberg
Senftenberg
Bistumsgrenzen
Karte 182.1: Umriß des heutigen Bundeslandes Brandenburg mit den Territorialgrenzen Ende 15. Jh., Bistumsgrenzen und Landschaften
zwischen Elbe und Oder, die ‘marchia media’, wird im Landbuch in ‘Landschaften’ gegliedert: Marchia media est inter Albeam et Oderam situata, et quia magna est. subdividitur in novem territoria, quorum nomina sunt hec: Lubus [Lebus], Barnym, Czucha [Zauche], Teltow, Terra Obula [Havelland], Glyn, Prignetz, Ukera [Uckermark], Comitatus Lindowensis [Ruppin] (nach Landbuch 1940, 63). Sie bilden als politisch-ethnisch motivierte Zuschreibungen bis heute wirksame sprachlich-kulturelle Identifikationsmuster
und sind nicht zu verwechseln mit dialektgeographischen Kartierungen. Die sich anschließende innere Konsolidierung, u. a. durch Aufhebung des Kirchenbesitzes (1555⫺1598), Steuerverwaltung mit Einführung der Akzise (indirekte Verbrauchssteuer) sowie die territoriale Expansion des Kurfürstentums Brandenburg durch Erbschaft (Kleve, Ravensberg, Mark, Herzogtum Preußen) und nach dem Westfälischen Frieden (u. a. Teile Pommerns, Magdeburg, Halberstadt, Minden) bilden die politisch-ter-
2676 ritoriale Basis für die spätere Gründung des Königreichs Preußen durch die Königsberger Selbstinthronisation Friedrichs III. im Jahre 1701 ⫺ ein Vorgang, dessen feierliche Begleitung der Bevölkerung im heimatlichen Brandenburg befohlen wurde und den Leibniz weitsichtig als „eine der grösten Begebenheiten dieser Zeit/ so nicht/ wie andere/ auf wenige Jahre ihre Wirckung erstrecket/ sondern etwas nicht weniger beständiges als vortreffliches herfür gebracht“ einschätzte (Leibniz 1701 nach Neugebauer 1985, 334). Innerhalb dieses politischen Gebildes wird die Mittelmark als ‘Brandenburg’ preußische Provinz, der zu Beginn des 19. Jh. größere Teile der zuvor sächsischen Niederlausitz zugeschlagen werden und der 1881 das politische, wirtschaftliche und kulturelle Zentrum, das inzwischen zur Metropole angewachsene Berlin, verwaltungstechnisch herausgetrennt wird. Die Provinz Brandenburg wird zum Um- und Hinterland Berlins, ihren Einwohnern ist zwischen 1961 und 1989 der Zugang zum Westteil dieser Stadt verwehrt. Seitdem versucht das jetzige Bundesland mehr oder weniger erfolgreich, der Reduktion auf den engeren Verflechtungsraum Berlins durch den identitätssichernden historisierenden Rückgriff auf die brandenburg-preußische Geschichte als ‘Mark Brandenburg’ entgegenzuwirken. Als ein Raum mit wechselnden äußeren Grenzen und innerer Struktur kann ‘Brandenburg’ aus Sicht der Sprachgeschichtsforschung nur ein heuristisches Konstrukt sein, das je nach historischer Zeit und Forschungsperspektive unterschiedliche Gestalt annimmt und auch im Bewußtsein der Sprecher als weder fest noch einheitlich vorausgesetzt werden kann, zumal die Bevölkerung insgesamt durch Kolonisierung und Zuwanderung aus anderen Kulturräumen mehr von Akkulturations- und Integrationsprozessen als von autochthoner Ethnizität geprägt ist. Wenn in diesem Beitrag der Fokus auf die Mittelmark gesetzt wird, dann vor allem deshalb, weil die ‘Mark’ als durchgängiger geographischer und politisch-territorialer Kernbereich dieses Konstrukts identitätsstiftenden Zuschreibungen dient(e). Auch lassen sich die prägenden sprachgeschichtlichen Entwicklungen in Brandenburg gut an den endogenen Veränderungen des Varietäten- und Sprachenspektrums in der Mittelmark und an den exogenen Veränderungen durch Kontakt mit den Sprech- und Schreibsprachen angrenzender Räume wie z. B. der Lausitz zeigen. Damit soll zugleich
XVII. Regionalsprachgeschichte
deutlich werden, daß Brandenburg ⫺ zumindest aus Sicht der regionalen Sprachgeschichtsforschung ⫺ ein produktiver sprachlicher Interaktionsraum und somit alles andere als eine ‘passive Sprachlandschaft’ (dazu Bretschneider 1962; 1981, 394) ist.
2.
Gegenstand und Aufgabe einer brandenburgischen Sprachgeschichte
Aus diesen Vorüberlegungen folgt, daß eine monolineare ‘Geschichte des Brandenburgischen’ den Sprachverhältnissen in Brandenburg ebensowenig angemessen ist wie deskriptive Modellierungen märkischer Dialekte auf der Basis von Sprachdaten des späten 19. Jh. (vgl. Bock/Langner 1989, Teuchert 1964 und Wiesinger 1983). Das charakteristische Merkmal Brandenburgs sind Mehrsprachigkeit und Entwicklungsbrüche in einem sich wandelnden Raum, dessen sprachlichkulturelle Entwicklung nicht nur von Zuwanderern und alten wie neuen Minoritäten geprägt, sondern auch nachhaltig von den angrenzenden Gebieten im Süden, Westen und Norden beeinflußt wurde ⫺ hier sind insbesondere das nördliche Obersachsen und Magdeburgische, das Anhaltinische und die Altmark, das Mecklenburgische und Pommersche zu nennen. Aufgabe einer Brandenburgischen Sprachgeschichte wäre somit die Rekonstruktion der relevanten diatopischen, diastratischen und diaphasischen Aspekte von Mehrsprachigkeit und sprachlicher Varianz sowie der historischen Bewußtseinsformationen, die sich im sprachlichen Handeln unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen zeigen. Zum Kern eines derartigen Forschungsprogramms gehört die quellengestützte Erforschung der ⫺ kommunikativen Reichweite, sozialen Geltung und Domänenzuordnung der jeweiligen Sprachen und Varietäten, des Auf- und Abbaus von Diglossie und die Rekonstruktion von Sprachkontaktszenarien, ⫺ phonologischen, grammatischen und lexikalischen Strukturmerkmale von Kontaktvarietäten und Dialekten, ⫺ Modalität und Medialität der verwendeten Sprachen und Varietäten, ⫺ Soziogenese usuell und normativ gefaßten sprachlichen Wissens, der Aneignungsprozesse von Schriftsprache(n) und überlokalen Verkehrssprachen, des Aufbaus und der Vermittlung von Bewertungsmustern.
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
3.
Forschungsergebnisse und Fragestellungen
Die vorliegenden, vorwiegend dialektologischen, dialektgeographischen, namen- und volkskundlichen Forschungen, insbesondere das 2001 abgeschlossene Brandenburg-Berlinische Wörterbuch (BBW), bilden mit ihrem reichen lexikalischen Material und zahlreichen Einzelbeobachtungen eine wertvolle Grundlage für eine brandenburgische Sprachgeschichte. 3.1. Forschungsstand und Quellenlage Schon im 17./18. Jh. finden sich vereinzelte Hinweise zu sprachlichen Besonderheiten in Brandenburg und gelegentliche Wortlisten und Einzelbelege (Frommius 1679 in Gottschling 1727, Frisch 1734, Stosch 1770⫺1773, Moritz 1781 [dazu Schmidt 1995], v. Rochow 1794, Gedike 1783⫺1785, Bauer 1797, Heinze 1799/1804, Hoefer 1841 [mit Teilauszügen der Idiotica von Bratring (um 1800), Hindenberg (o. J.), Schobelt (um 1800)], Idiotikon Brandenburgense [frühes 19. Jh.]). Im 19. Jh. werden die sprachgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen Berlinisch [Berl.] und Nd. (Kuhn 1860/1864 in mehreren Vorträgen vor der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache) und soziale Markierungen der Stadtsprache Berlins thematisiert. Für das 20. Jh. wäre die Forschungsgeschichte zu Brandenburg und Berlin eine andere, wenn Agathe Lasch nicht 1934 als Jüdin von der Universität Hamburg entfernt und ihr Leben nicht 1942 mit der Deportation nach Riga beendet worden wäre. Anstelle ihres soziolinguistisch (avant la lettre) orientierten sprachgeschichtlichen Forschungsansatzes wurde das traditionelle, vorwiegend dialektologisch und volkskundlich orientierte Programm weitergeführt, dessen völkische Indienstnahme vor allem Anneliese Bretschneider in den 30er Jahren aus Überzeugung betrieben hatte und für das sie bis in die 60er Jahre als Dialektologin und Mitbegründerin/Herausgeberin des BBW stand. Neben den dialektologisch angelegten Untersuchungen zu einzelnen Sprachlandschaften Brandenburgs und angrenzender Gebiete (Bischoff 1967, 1969, Bock/ Langner 1989, Bretschneider 1952, 1962, 1973, 1981, Dost 1991, Große 1988, Protze 1957, Schönfeld 1958, 1962, 1991, W. Seelmann 1913, 1921, 1922, 1923, 1925, 1926, Seibicke 1957, 1967, Siewert 1903, Stellmacher 1973, Teuchert 1928/1929, 1944/1972, 1964, Wiese 1957, 1965, Zwirner 1936) entstanden seit den 70er Jahren einzelne, stärker soziolinguistisch orientierte Arbeiten (Dost 1975), im Kontext des 750jährigen Stadtjubiläums Berlins dann zahlreiche Arbeiten zum Berl., die mehr oder weniger explizit an die früheren Untersuchungen
2677 Laschs (Lasch 1910, 1928) anknüpften und in der Mehrzahl sozio- bzw. variationslinguistische Beschreibungs- und Erhebungsverfahren anwandten (Beneke 1982, 1989, Berlinisch 1986, 21992, Berlinisch in Geschichte und Gegenwart 1988, Dittmar 1995, Dittmar/Schlobinski/Wachs 1986, Rosenberg 1986, Schlobinski 1987, Schmidt 1987, Schönfeld 1989, Sociolinguistics of Urban Vernaculars 1988, Wandlungen einer Stadtsprache 1988, Wiese 1996, Zimmermann 1996). Im letzten Jahrzehnt des 20. Jhs. folgten dann auch entsprechende Publikationen zu Brandenburg (Berner 1996, 1997, Fischer 2001, Gessinger/Fischer 1998, Gessinger 1999, 2000, Schmidt 1995, Umgangssprache in Brandenburg 2000, Wiese 1990). Kontaktlinguistische Arbeiten liegen insbesondere für das sorb.-dt. Siedlungsgebiet der Lausitz (s. u. 3.4.2.) vor, und im Rahmen eines Forschungsprojekts zur regionalen Dialektintonation (Auer 2000, Selting 2001) werden auch Sprachdaten Berliner Sprecher analysiert.
Für eine variations- und soziolinguistisch orientierte brandenburgische Sprachgeschichte liegen also eine Reihe von Einzeluntersuchungen vor, wobei Genese und aktuelle Entwicklungstendenzen der Stadtsprache Berlins noch am genauesten erforscht sind. Desiderate bestehen hier für das 18./19. Jh., jene Zeit, die für die Sprachverhältnisse auf dem ‘platten Land’ von so zentraler Bedeutung ist. Der ländliche und kleinstädtische Bereich ist ungeachtet einzelner Ortsgrammatiken, der anläßlich der statistischen Erhebung von Berghaus Mitte des 19. Jh. angefertigten Beilagen über ortsübliche sprachliche Besonderheiten (Berghaus 1854), teilweise ungedruckter Aufzeichnungen lokaler oder landschaftsbezogener (Fach)Wortschätze (Fidicin 1837⫺ 1842, Neumann 1853, Rubehn 1873, Gößgen 1902, Mackel 1905⫺1907, E. Seelmann 1908, Siewert 1907, 1912, 1913, 1921, 1922, Teuchert 1907, Trebs 1914/1915, Hildebrand 1913, Bretschneider 1967, Lademann 1956, Peesch 1955; Übersicht bei Wiese 1993), Tonbandaufnahmen lokaler sprechsprachlicher Varianten aus den 60er Jahren des 20. Jh. (Bestand BBW) sowie agrar- und schulgeschichtlicher Einzeluntersuchungen (Peters/ Harnisch/Enders 1989, Neugebauer 1985, Erziehungsreform 1999) aus sprachgeschichtlicher Sicht immer noch mehr terra incognita als vertrautes Terrain. Dies gilt vor allem für die Stadt-Land-Beziehungen im 19./20. Jh., die für die Umstruktierung der Sprachverhältnisse in Brandenburg von so großer Wichtigkeit sind. Insofern können in diesem Beitrag kaum mehr als nur Forschungsfelder abgesteckt und mögliche Zugänge vorgestellt werden. Ich schlage vor, die verschiedenen sprach-
2678 geschichtlichen Phasen in diesem Raum anhand der markanten Veränderungen in den von Mehrsprachigkeit geprägten Sprachverhältnissen zu rekonstruieren, also die (sprach)historischen Bruchzonen aufzusuchen. 3.2. Kolonisation und folgende Zuwanderungen Die Frühgeschichte der Besiedlung des brandenb. Sprachraumes läßt sich aus archäologischen Befunden sowie Resten slawischer Namen erschließen. Nachdem die seit dem ersten vorchristlichen Jahrhundert im Gebiet zwischen Elbe und Oder lebenden germanischen Semnonen nach Süden gewandert waren, begann mit dem 6. Jh. die Besiedelung durch westslawische Stämme (Berlinisch 1992, 26 ff.; Schrage 1995, 72 ff.). Die Übernahme heimischer Flußnamen (Uker, Havel, Spree, Dosse) durch die slawischen Siedler, wie sie sich in den urkundlich bezeugten Namen slawischer Gaue zeigt (Ukraner, Heveller, Sprewanen, Dosaner (vgl. Teuchert 1964, 155)), belegt zwar keine Kontinuität von germanischer und slawischer Siedlung, aber zumindest sprachliche und kulturelle Kontakte zwischen den Resten der alten Bevölkerung und den neuen Siedlern. Die sprachlichen Spuren der slawischen Besiedlung finden sich in Landschaftsnamen (Barnim) und in den im gesamten Gebiet der Mark Brandenburg häufigen slawischen Ortsnamen wie Berlin, Buckow, Köpenick, Lankwitz, Beeskow (vgl. Berlinisch 1992, 306⫺316) sowie in Familiennamen. Seit dem 10. Jh. versuchten sich dt. wie polnische Feudalherren an der Unterwerfung der slawischen Bevölkerung, doch ihr Vorhaben scheiterte im großen Slawenaufstand von 983. Die unter Heinrich I. und Otto I. etablierten politischen und kirchlichen Strukturen mußten aufgegeben werden, die Reichsgrenze lag wieder an der Elbe. Erst anderthalb Jh. später gelang die dt. Eroberung, ausgehend von den linkselbischen Territorien, von Meißen und von Mecklenburg. Aus dieser für die Entstehung der märk. Sprachlandschaft grundlegenden Kolonisierung vom Westen und Süden entstanden zwei große Siedlungsgebiete, zunächst die ‘Alten Lande’ (Prignitz, Ruppin, Havelland, Zauche), ein halbes Jahrhundert später die schon systematischer besiedelten ‘Neuen Lande’ östlich der Havel-Nuthe-Siedlung mit den Gebieten Teltow, Barnim, Uckermark und Lebus (vgl. Bretschneider 1962, 85). Einen Sonderfall bildet die Niederlausitz, die erst ab 1220 eine dt. Einwanderung erlebte und bei
XVII. Regionalsprachgeschichte
verspäteter Städtebildung diese Neusiedler in bestehende kleinräumige Siedlungsstrukturen integrierte. Dies führte zu einer über Jahrhunderte hinweg stabilen multiethnischen sorb.-dt. Population unter vorwiegend sächsisch-meißnischem Einfluß. Obwohl dieses Gebiet nicht zum brandenb. Kernland gehörte und seit dem 13. Jh. unter wettinischer Herrschaft stand, macht es Sinn (s. u., 3.4.2. und 3.6.), es mit in den Blick zu nehmen. Die Ausgangsorte der frühen Siedlergruppen sah die ältere Forschung vor allem im Ostfälischen und dem Raum zwischen Elbe und Harz, über den Anteil niederländischer Siedler wurde kontrovers diskutiert (vgl. Stellmacher 1990). Während Lasch vor allem dem elbostfälischen Anteil die entscheidende Bedeutung einräumte und die Annahme eines starken nl. Einflusses verwarf, glaubte Teuchert in den dialektgeographischen und volkskundlichen Kartierungen von Lexemen aus Land- und Wasserwirtschaft Belege für eine vorwiegend niederrheinisch-brabantische Besiedelung im 11./12. Jh. zu erkennen. In seiner Darstellung von 1944 sah er das nl. Substrat „als so kräftig an, dass daneben ein etwa aus dem linkselbischen Raum stammender Zuschuß keinen rechten Platz mehr fand“ (Teuchert 1964, 132), mußte diese These aber nach Hinweisen von Bretschneider (1962) mangels phonologischer und morphologischer Belege relativieren. Ein Werbeschreiben, das der Erzbischof von Magdeburg 1108 an eine Reihe geistlicher Herren im Westen richtete, mag illustrieren, mit welchen Versprechungen die Siedler in das weithin unfruchtbare und unwegsame Land östlich der Elbe gelockt werden sollten: „Die Heiden sind hier schlecht, aber ihr Land ist gut und reich an Fleisch, Honig, Mehl, Vögeln und, wenn es richtig bebaut wird, an allen Erzeugnissen des Bodens, so daß sich keins mit ihm vergleichen läßt. […] Darum, ihr Sachsen, Franken, Lothringer und ihr Flandrer […], hier könnt ihr euer Seelenheil gewinnen und, wenn ihr wollt, den besten Boden zum Siedeln erwerben“ (Zit. nach Teuchert 1944, 112).
Kolonisierung vor allem durch Nd./Nl. sprechende Siedler und die Expansionspolitik der Brandenburger Markgrafen, die das Land Anfang des 14. Jh. zu einem der größten dt. Fürstentümer werden ließen, bestimmten Rahmen und Dynamik von Mehrsprachigkeit in Brandenburg. Die mit der Städtebildung einsetzende soziale und sprachliche Differenzierung, zunehmende Spannungen zwischen Landesherrschaft, regionalen und loka-
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
2679
Karte 182.2: Die Eroberung Brandenburgs seit der Mitte des 12. Jh. durch geistliche und weltliche Herren
len geistlichen wie weltlichen Herren und städtischem Patriziat zeigen sich in einer intensiven und variantenreichen lat.-nd. Schriftlichkeit. 3.3. Schriftsprachwechsel vom 14.⫺16. Jahrhundert Der Wechsel von der mnd. zur hd. (omd.) Schriftsprache vollzieht sich in Brandenburg
diskontinuierlich, zeitlich wie räumlich verschoben und setzt so frühzeitig ein, daß er den Ablösungsprozeß des Lateins durch die Volkssprache zeitlich überlappt ⫺ eine Asynchronizität und Asyntopizität, die mit den unterschiedlichen Konfigurationen der Herrschaftsverhältnisse im spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Brandenburg zwar verknüpft war, aber aus ihnen allein nicht er-
2680 klärt werden kann. Das Resultat dieses Prozesses ist für einen Teil des Raums die für ganz Norddeutschland charakteristische Diglossie von gesprochenem Nd. und geschriebenem Hd., der Verlauf ihres langsamen Abbaus läßt erkennen, daß die Ungleichzeitigkeiten dieses Sprachwechselprozesses nachwirken. Die Brandenburger Landesherrschaft zwischen dem 14. und 16. Jh. läßt sich in drei Entwicklungsschritten beschreiben: Während der askanischen Herrschaft hatte sich im 12./ 13. Jh. ein Netz von Landstädten herausgebildet, Kirchenorganisation und Klöster waren ausgebaut und Gerichts- wie Steuerwesen etabliert worden. Das Ende der askanischen Herrschaft Anfang des 14. Jh. leitet einen zweiten Entwicklungsschritt ein, in dem die Landstände ihre Handlungsmöglichkeiten auf Kosten der politisch-territorialen Strukturen erweitern. Begünstigt durch die mangelnde Präsenz und politische Schwäche der Wittelsbacher (ab 1323) und Luxemburger Markgrafen (ab 1373), können vor allem die Städte ihre rechtliche und wirtschaftliche Unabhängigkeit sichern, die Handelsbeziehungen in den Nord- und Ostseeraum und nach Flandern werden ausgebaut. Auch als 1411 mit dem Nürnberger Burggrafen Friedrich der erste Hohenzollern an die Macht kommt, ändert sich zwar nicht der heteronome Charakter der Landesherrschaft, wohl aber deren politisch-kulturelle Basis. Eine Reihe von Städtebünden (1431, 1434, 1436) und die Union von Berlin und Cölln (1431) markieren die Höhepunkte städtischen Autonomiestrebens. Erst Ende des 15. Jh. erfolgt als letzter Entwicklungsschritt die nachhaltige Etablierung einer Zentralmacht brandenburgischer Provenienz auf Kosten der Stände. Städtische Handels- und Handlungsmöglichkeiten wurden ebenso eingeschränkt wie die Macht der märk. Ritterschaft und der Bischöfe. Der Territorialstaat Brandenburg hatte Gestalt angenommen. (Zur Brandenburgischen Geschichte in diesem Zeitabschnitt insgesamt Schultze 1989, Brandenburgische Geschichte 1995, zur Rolle der Stadt Hahn 1988, Helbig 1974). Die schriftsprachliche Entwicklung in diesen drei Phasen soll hier zunächst paradigmatisch an den Untersuchungsergebnissen Laschs zur Schreibsprache Berlin-Cöllns, in einem zweiten Schritt an den städtischen Urkunden im übrigen Raum gezeigt werden. Quellengrundlage sind vor allem die Urkundensammlungen von Riedel (Codex diploma-
XVII. Regionalsprachgeschichte
ticus Brandenburgensis 1838⫺1869) und v. Raumer (Codex diplomaticus Brandenburgensis continuatus 1831⫺1833), die teils auf Originalurkunden, teils auf Kopialbücher zurückgreifen, sowie Repertorien und Urkunden im Brandenburgischen Landeshauptarchiv. Ende des 13. Jh. weist der Schriftverkehr zwischen den Städten und dem askanischen Markgrafen Waldemar erste volkssprachliche Spuren, d. h. vereinzelte nd. Lexeme in lat. Schreiben auf, das Hofgericht schreibt wohl schon Nd., der kirchliche Bereich Latein. In der zweiten Phase der städtischen Konsolidierung führt Lasch für die Kanzlei der Wittelsbacher adressatenspezifische lat./hd./nd. Schriftlichkeit an, in der Folge scheinen die Verhältnisse komplexer. Aus Laschs Darstellung wird deutlich, daß im Geschäftsverkehr der städtischen Kanzleien untereinander und mit der markgräflichen Kanzlei nd. wie hd. Schriftlichkeit in unterschiedlichem Umfang verwendet wurde, wobei Adressatenspezifik, Repräsentation, Herkunft und Rang der Schreiber sowie Gegenstand für die jeweilige Sprachwahl ausschlaggebend sein konnten. In starker Vereinfachung läßt sich nach Lasch in dieser zweiten Phase für die Kanzlei der Wittelsbacher eine Dominanz md., nicht bair. (Butz 1988, 11) Schriftlichkeit nachweisen (Lasch 1910, 19), während die städtischen Kanzleien im Innenverhältnis zunächst Latein, als Geschäfts- und Rechtssprache Nd. verwandten und im Außenverkehr nd. wie hd. Schriftlichkeit praktizierten. Die bei Riedel abgedruckten Schreiben an die märk. Städte aus der Kanzlei des Luxemburger Markgrafen Jobst der Jahre 1396 ff., die von seinem Kanzler Spillner ausgefertigt wurden und mit nd. Formen durchsetzt waren („Wir laszen Iw weten, dasz wir von notlicken unsen Sacken vnd gescheften wegen zu dessen male in die marke to Iw nicht komen mogen …“ [Codex diplomaticus Brandenburgensis, Bd. 3, 136 et. pass.]), deuten, wenn sie nicht, wie Lasch vermutet, durch Einmischungen späterer Kopisten verändert wurden, auf das Bemühen der Luxemburger Kanzlei hin, mögliche Verständnisprobleme mit nd. schreibenden Städten zu verringern. Diese waren, wie etwa die Berliner und Cöllner Kanzleien, jedenfalls mehrsprachig und fertigten ihre Urkunden Hd., Nd. oder, wie in einem Schreiben an den Markgraf von Meißen und seine Frau von 1395, in einem Hd. aus, durch das das Nd. vor allem in den formelhaften Wendungen durchschimmerte:
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
„Das wir alle desse vorgeschrebin lobete Rede, stucke vnd artikel stete gancz vnd vnuorrugket halden wollen, des habe wir Radmanne ald vnd nüwe von Beiden steten Berlin und Collen czu Orkunde vnser vorgenanten stete groste Ingesegel an dessin Briff lassin hangen …“ (Codex diplomaticus Brandenburgensis, Bd. 3, 126 nach der Originalurkunde). Im Gegensatz zu Frankfurt/O. dominierte in den Kanzleien in Berlin-Cölln und Spandau nd. Schriftlichkeit. Mit den Hohenzollern werden die Verwaltungsspitzen nun mit fränkischen Beamten (Sesselmann, Zerer) besetzt, es lassen sich jedoch auch zweisprachige Schreiber nd. Herkunft nachweisen. Die markgräflich/kurfürstliche Kanzlei schreibt in der Regel Hd. Auch nachdem der Hof 1451 in Cölln eine feste Residenz errichtet und Hof- wie Kammergericht dort etabliert werden, bleibt die Grundlage des städtischen Schriftverkehrs zunächst nd., das bischöfliche Kommissariat ist dreisprachig (Lasch 1910, 80). Die dritte Phase im Übergang zum 16. Jh. ist geprägt vom Verlust städtischer Freiheiten, der seit Mitte des 15. Jh. zunehmenden Lockerung der Beziehung zur Hanse (die Einbeziehung Berlin-Cöllns in die Lübecker Tohopesate 1443 führte nicht zum politischmilitärischen Schutz gegen den landesherrlichen Eingriff, 1518 trat die Stadt förmlich aus der Hanse aus), der Umorientierung auf den Binnenhandel nach Leipzig, Frankfurt/O. und Nürnberg und der zunehmenden Integration der fränkischen Beamtenschaft vor allem in der Residenz. Mochte die Verwendung des Nd. noch brandenburgische Identität stiften, so scheint innerhalb kurzer Zeit ein anderes Motiv auf: der Ausweis sprachlicher Modernität und professioneller Qualifikation durch eine von der nd. Sprechsprache abgesetzte Schriftsprache, die nun osächs. geprägt war. Wie stark die Orientierung an den kulturellen Zentren im Süden war, läßt sich an den Studienorten der märkischen Studenten erkennen: Von rd. 3000 Studierenden vor 1500 waren die Hälfte in Leipzig, 86 in Bologna, 205 in Prag, 8 in Paris, 649 in Rostock, 376 in Erfurt, 237 in Greifswald eingeschrieben (Schultze 1989, 3, 239). Mit der Gründung der Viadrina 1506 und der zeitgleichen Einrichtung von gleich drei Offizinen (Schultze 1989, 3, 240), die Berlin mit Frankfurter Drucken versorgten, verstärkte sich auch von dort her der hd. Einfluß (Berlinisch 1992, 144).
2681 Auch wenn Lasch den Sprachwechsel in Berlin und Cölln nicht in den allgemeinen Prozeß des sich in Brandenburg von SO aus vollziehenden schriftsprachlichen Wandels eingliedern möchte und als einen „neuen Akt in der Geschichte der Rezeption des Hochdeutschen auf niederdeutschem Gebiet“ (Lasch 1910, 134) interpretiert, so ist es doch aufschlußreich, die Verhältnisse in der Residenz in die Entwicklung des Raums insgesamt zu stellen. Eine Auswertung der datumet-actum-Formeln aus den Eschatokollen der im Brandenburgischen Landeshauptarchiv verzeichneten Urkunden brandenburgischer Städte (ohne Berlin und Cölln), die den Schriftwechsel von Kanzleien, Zünften und Bruderschaften repräsentieren, belegt bis 1274 ausschließlich lateinische Formeln (Gessinger/Fischer 1998, 94⫺98). Daran schließt sich von 1274 bis 1301 ein synchrones Auftreten lat. und nd. Schriftlichkeit an, die sich nach 1301 bis 1409 um mhd. Formeln erweitert, nach 1409 keine lateinischen Formeln mehr aufweist und ab 1581 ausschließlich hd. ist. Gegenüber dem nordwestlich angrenzenden Raum vollziehen sich diese Ablösungsprozesse deutlich früher. Dieser Auf- und Abbau von Mehrsprachigkeit erhält seine räumliche Dimension, wenn er auf die Ausstellungsorte der Urkunden projiziert wird. In den Städten der östlichen und südöstlichen Mittelmark und der Niederlausitz ⫺ Dahme, Luckau, Senftenberg, Spremberg, Cottbus, Guben, Fürstenwalde, Frankfurt und Neuzelle ⫺ werden zwischen 1301 (Guben) und 1386 (Cottbus) erstmals hd. Formeln verwendet, es folgen Küstrin (1417) und Jüterbog (1441). Für Frankfurt, Calau und Guben ist in geringem Umfang vorgängige nd. Schriftlichkeit belegt. Im südöstlichen Brandenburg erfolgt also unter omd. Einfluß der Wechsel vom Latein in der Regel unmittelbar zu einer hd. Varietät. In einem mittleren Streifen von der Stadt Brandenburg über Spandau, Köpenick und Strausberg bis Freienwalde wechseln die Formeln zwischen 1500 und 1550 von der nd. zur hd. Fassung und der Bestand weist auch keine frühere hd. Schriftlichkeit im 14. Jh. auf. Die Stichprobe vermittelt damit ein anderes Bild als die Urkunden Cöllner und Berliner Provenienz. Dies gilt auch für die Städte nordwestlich der Linie Rathenow-Prenzlau, für die erste hd. Formeln erst nach 1550 verzeichnet sind. Dieser noch zu erhärtende Befund stützt die These Laschs von der Sonderstellung der Berlin-Cöllner Kanzleien und
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XVII. Regionalsprachgeschichte
Abb. 182.1: Sprachwechselprozesse in Brandenburger Urkunden
modifiziert die von Gabrielsson 1983 vorgenommene Einordnung des nordwestlichen Teils Brandenburgs (vgl. auch den Überblick in Art. 109). Für diese raumzeitliche Staffelung des Schriftsprachwechsels bieten weder die traditioniellen Landschaften noch die landesherrlichen Verhältnisse hinreichende Erklärungen. Zwar setzten die hd. schreibenden markgräflich-kurfürstlichen Kanzleien und märk. Städte bei ihren Adressaten entsprechende Lese- und Schreibkompetenz voraus, bewirkten jedoch in den städtischen Kanzleien keine Synchronisierung der Umstellung von nd. auf hd. Schriftlichkeit. In dem territorial noch wenig stabilen und homogenen Raum dürften eher sprachliche Bindungen und Orientierungen wirksam geworden sein, die sich in die Diözesangliederung einpaßten: Der größtenteils zum Erzbistum Meißen gehörende SO dürfte von Anfang an unter omd. Einfluß gestanden haben, verzeichnet also nur einen lat.-hd. Sprachwechsel. Das längere Festhalten an der mnd. Schreibsprache im nordwestlichen Brandenburg könnte auch durch die schon aus askanischer Zeit herrührende Unterstellung der Kirchensprengel in den Bistümern Brandenburg und Havelberg unter das Erzbistum Magdeburg und die nd. Nachbarschaft im Westen und Nordwesten gestützt worden sein, Annahmen, die durch genauere Untersuchung des kirchlich-admini-
strativen Schriftverkehrs überprüft werden müssen (vgl. Schmidt 1989). Die in der Mitte des 16. Jh. für Brandenburg dominante omd. geprägte hd. Schriftlichkeit erscheint zwar als Resultat einer Reduktion von Mehrsprachigkeit, der nach Zeit, Raum und Form unterschiedliche Schriftsprachwechsel deutet aber schon an, daß die Sprachverhältnisse insgesamt alles andere als homogen sein können. Beim Blick auf das Verhältnis von Schreib- und Sprechsprachen zeigen sich gravierende Unterschiede: Gegenüber dem südlichen und südöstlichen Brandenburg mit seiner nordobersächs. gefärbten Sprechsprache (vgl. Wiesinger 1983, 865 ff.) führt die Entwicklung im nd. sprechenden mittleren und nördlichen Brandenburg zur Diglossie zwischen gesprochenem Nd. und geschriebenem Hd. Dieses Spannungsverhältnis wird in der Folge unterschiedlich bearbeitet und bestimmt dort den Wechsel der Sprechsprache im 19./20. Jh. (s. u. 3.5.), der zweiten Bruchzone brandenburgischer Sprachgeschichte. 3.4. Minderheiten in Brandenburg ⫺ Hugenotten, Juden und Sorben Von den Minderheiten in Brandenburg müssen die Sorben gesondert betrachtet werden, weil ihre Siedlungsräume Ziel dt. Kolonisation waren und ihr minoritärer Status sich erst über die Eingliederung des Markgafentums Lausitz in das böhmische, sächsische
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und preußische Herrschaftsgebiet herstellte. Hugenotten und Juden hingegen waren, wenn auch auf unterschiedliche Weise, Kolonisten, die in ihren Herkunftsländern oder -orten verfolgt wurden und nach Brandenburg immigrieren konnten. Wenn hier die anderen Kolonisten aus anderen dt. Territorien und aus Böhmen, Holland und der Schweiz nicht besprochen werden, dann deshalb, weil Juden und ‘Franzosen’ zu den kulturbildenden Minderheiten in Brandenburg-Preußen gehörten und deshalb auch Teil der Sprachgeschichte dieses Raums sind. 3.4.1. Hugenotten und Juden In beiden Bevölkerungsgruppen setzt Mitte bis Ende des 18. Jh. ein Akkulturationsprozeß ein, der im Verlauf des 19. Jh. zur Aufgabe der jeweiligen identitätsstiftenden Sprache, Jüdisch-deutsch/Westjiddisch und Frz., führte. (Zur Terminologie vgl. Simon 1988, Kiefer 1991, Simon 1991 sowie Art. 208) Dieser Prozeß ist zugleich als Integration in das Sozialgefüge des sich modernisierenden Ständestaats zu sehen, sei dieser Vorgang nun, wie im Fall der Hugenotten, mit dem formalen Verlust alter Privilegien oder, wie für die Juden, mit der Lockerung alter Restriktionen verbunden. Mit dem Oktoberedikt von 1807, der preußischen Städteordnung (1808) und der Gewerbereform (1811/1812) wird der Sonderstatus der Minderheiten weitgehend aufgehoben. Damit gewinnt auch der Vorschlag Jersch-Wenzels an Plausibilität, beide Minderheiten nicht über ethnische oder rassische Differenzen, sondern über ihren sozialen Ort zu definieren, als Gruppen, die „weitgehend außerhalb der herrschenden sozialen Ordnung und Kontrolle dieses Ständestaates standen und die nach dem Sprachgebrauch zu Recht den Namen ‘Kolonie’ trugen“ (Jersch-Wenzel 1978, 3). Auch wenn die Sonderstellung beider Minderheiten und ihr innerer Zusammenhalt religiös begründet wurde, so sind es doch vorwiegend wirtschaftliche und bevölkerungspolitische Motive, die ihre Immigration als geduldet oder erwünscht erscheinen ließen. 3.4.1.1. Hugenotten Im Gegensatz zu dem auf 20 Jahre befristeten Judenprivileg räumte das Potsdamer Edikt von 1685 den Hugenotten eine Reihe von Privilegien für unbegrenzte Zeit ein, und obwohl beide Edikte formale Analogien aufweisen, sind es vor allem drei Maßgaben, die den Akkulturationsprozeß der ‘Franzosen’ oder ‘Re´-
2683 fugie´s’, wie sie sich selbst nannten, anders gestalten: Gewerbefreiheit, Abgabenfreiheit und der Verzicht auf Kontingentierung der Einwanderung. Dies führte zunächst innerhalb weniger Jahre zu einer massenhaften Einwanderung, bis zum Ende des 17. Jh. lebten etwa 14.000 Hugenotten in Brandenburg, davon ca. 5700 in Berlin. Dort stellten sie ein Viertel der städtischen Bevölkerung. (Zahlenangaben bei Muret 1885 und Geiger 1892/ 1895). Während die politische Einordnung als ‘staatsunmittelbare Preußen’ (v. Thadden) relativ früh erfolgte, vollzog sich die sprachliche Akkulturation der Re´fugie´s als ein langsamer Prozeß des Aufbaus und Abbaus von Zweisprachigkeit. Für dessen Verlauf war entscheidend, welche Funktion die mitgebrachte französische Schriftsprache erfüllte, wie sich ihr Verhältnis zu den autochthonen sprechsprachlichen Varietäten, zum gesprochenen und geschriebenen Französisch der Hof- und Hochkultur ihrer neuen Umgebung wie ihrer alten Heimat entwickelte und wie nicht zuletzt das Verhältnis zum gesprochenen und geschriebenen Deutschen der ländlichen oder städtischen Umgebung beschaffen war. Mit dem Schriftfrz. der Bibelübersetzung aus der 1. Hälfte des 16. Jh. verfügten die Immigranten über eine innerkommunitäre, freilich an den Kultus gebundene lingua franca, die in ihrer „purifizierten und alle sozialen Schichten gleichermaßen umfassenden Ausprägung selbst im zeitgenössischen Frankreich nicht existierte“ und Grundlage „kollektiver Identitätsfindung“ gewesen sei (Birnstiel 1990, 111). Wenn etwa die Historiographen des Refuge, Erman und Reclam, Ende des 18. Jh. behaupteten, die Hugenotten hätten Kultur und Sprache einer sich auf dem Kulminationspunkt befindenden zivilisatorischen Entwicklung in Frankreich, dem ‘beau sie`cle de Louis XIV’, in weniger entwickelte Zivilisationen, also auch nach Preußen, hineingetragen, nicht, um sich dort anzupassen, sondern um als Vorbild zu wirken (Erman/ Reclam 1782⫺1799, 1, 302), dann zeigt sich, wie Verfolgung, Flucht und frühe politische Integration reinterpretiert wurden als ein Akt hegemonialen Kulturtransfers. Trotz des Gleichklangs dieser Äußerungen mit der ideologischen Debatte über die Universalität des Frz. wird aber in dieser kulturkonservatorischen Stilisierung auch die ‘langsame Entfremdung’ (Yardeni 1990, 198) dieser minoritären kulturellen Elite in Brandenburg-
2684 Preußen vom Frankreich des späten 18. Jh. sichtbar, die sich schließlich zum ‘Kulturschock’ (Birnstiel 1990, 125) ausweitete, als die Re´fugie´s des späten 17. Jh. auf die Revolutionsemigranten trafen. Sie mußten erkennen, wie weit sie sich inzwischen von ihren kulturellen Wurfzeln entfernt und in das Exil integriert hatten und mochten dem Rückruf in das revolutionäre Frankreich ebensowenig folgen wie dem Solidarisierungsverlangen der napoleonischen Besatzer in Berlin. Angesichts dieser Ungleichzeitigkeit von sprachlich-kultureller Selbstdefinition des Refuge und der durch die Lumie`res geprägten zivilisatorischen Modernisierung in Frankreich und Deutschland bleibt zu klären, ob die Re´fugie´s tatsächlich von dem „kulturellen Trend profitieren [konnten], der sich an den europäischen Höfen und innerhalb der intellektuellen Eliten seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges abzuzeichnen begann“ ⫺ dem Wechsel vom Latein zum Frz. als lingua franca der ‘re´publique des lettres’, der Diplomatie und der europäischen Hochkultur insgesamt. (Birnstiel 1990, 110; vgl. auch Hartweg 1985 und Jersch-Wenzel 1978, 239 f.) Dabei dürfte entscheidend sein, wie die schon Ende des 17. Jh. auf zwei ‘Confe´rences sur la langue franc¸oise’ thematisierte Konkurrenz und Differenz zwischen dem zunehmend veraltenden Frz. des Kultus und dem modernen Frz. vor allem in säkularen Verwendungszusammenhängen bearbeitet wurde. Diese Debatten, die Herkunft der Flüchtlinge aus unterschiedlichen Regionen Frankreichs, ihre soziale Schichtung und der lange Akkulturationsprozeß sprechen eher gegen die Annahme, daß die Glaubensflüchtlinge durch einen schriftsprachlich induzierten Ausgleichs- und Koine´isierungsprozeß „in der Diaspora untereinander keinerlei sprachliche Verständigungsprobleme [hatten] und so ⫺ unter Ablegung ihrer für die alltägliche Kommunikation entbehrlich gewordenen Regionialdialekte ⫺ zu einer homogenen französischen Sprachfamilie zusammenwachsen [konnten]“ (Birnstiel 1990, 111). Ob sprachliche Homogenisierung auch über den im Laufe des 18. Jh. zunehmenden Erwerb des Deutschen als Zweitsprache erfolgte, könnten vor allem vergleichende Untersuchungen der sprachlichen Verhältnisse von Stadt- und Landkolonien zeigen. Mit der ersten Welle der Re´fugie´s 1684⫺1690 war der größte Teil aus meist agrarischen Zusammenhängen im Süden und Südwesten Frankreichs (vom Piemont bis zum Languedoc) gekommen, eine
XVII. Regionalsprachgeschichte zweite größere Gruppe überwiegend von Handwerkern und Gewerbetreibenden stammte aus den urbanen Zentren (Metz, Sedan, Paris) der mittleren und nördlichen Landesteile (Champagne, Picardie, Ile de France). Bis 1710 kamen Hugenotten aus der Pfalz, der Schweiz und aus dem südfrz. Orange hinzu. Insgesamt nahm Brandenburg-Preußen 16⫺ 20 000 Hugenotten auf, von denen sich ca. 40 % in Berlin, Cölln, Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichsstadt, 20 % auf dem Land, vor allem in der Uckermark, und weitere 30 % im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Halberstadt ansiedelten und Residenz-, Gewerbe- und Ackerbaukolonien bildeten. In Berlin entstand eine starke Gewerbekolonie, auf dem Lande und in den Kleinstädten Mischkolonien aus Händlern, Handwerkern und Bauern, insgesamt gab es 89 Ansiedlungen in Brandenburg-Preußen (Klingebiel 1990, 68 ff., Wilke 1992, 357). Eine Zuordnung der geographischen, sozialen und sprachlichen Provenienz der Flüchtlinge zu ihrer Verteilung auf städtische und ländliche Räume im brandenb. Exil und eine Einbeziehung der ländlichen Kolonien in die bislang berlinzentrierte Forschung (Hugenotten in Berlin 1988, Hartweg 1981a, 1981b, Jersch-Wenzel 1978, Wilke 1988, 1992) läßt ein differenziertes Bild der jeweiligen Varietätenspektren und ihrer Veränderungen erwarten. Die für Berlin ausgewerteten Kolonielisten enthalten z. B. fast alle Berufe, die ein städtisches Gemeinwesen in Frankreich damals aufwies und führen als häufigste Herkunftsorte und -gebiete Metz, Languedoc, Champagne und Brie an (Wilke 1992, 361 ff.). Während für die erste Generation der Berliner Re´fugie´s noch frz. Ehepartner, bevorzugt aus der gleichen Herkunftsregion, die Regel waren, nahm in der Folge exogames Heiratsverhalten kontinuierlich zu.
Eine mit Berlin vergleichbare demographische Analyse der Verhältnisse in den Landkolonien liegt nicht vor. Wie der Akkulturationsprozeß dort verlief, hängt weitgehend davon ab, ob dort die regioniale sprechsprachliche Varianz innerhalb der Gemeinde ebenso groß war wie z. B. in Berlin und welche Funktion frz. Schriftlichkeit für die alltägliche Verständigung untereinander und mit anderen Gemeinden dort überhaupt haben konnte. Da die umgebende Landbevölkerung ohnehin selten, und dann nicht frankophon literalisiert war und üblicherweise erwartete, auf (platt)deutsch angesprochen zu werden, ist zu vermuten, daß sich in den Landkolonien früher als in den größeren Stadtgemeinden Zweisprachigkeit entwickelte. Ein erkennbarer Zusammenhang zwischen Schulbildung, sozialem Status und den unterschiedlich verdichteten kommunikativen Beziehungen im ländlichen und städtischen Raum deuten darauf hin, daß ein Sprachwechsel nicht nur in den Landgemeinden, sondern auch bei Ange-
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
hörigen der Unterschichten früher als in bürgerlichen Zusammenhängen erfolgte (Bergerfurth 1993, 84 f.). Auch wenn die Erforschung des ländlichunterschichtigen Akkulturationsprozesses im Brandenburger Refuge noch aussteht, läßt sich der Sprachwechsel vom Französischen zum Deutschen generell als Auf- und Abbau von Zweisprachigkeit beschreiben. Äußerungen über sprachliche Defizite betreffen bis in die 30er Jahre des 18. Jh. mangelhafte Deutschkenntnisse, gegen Ende des Jh. wurden Schwierigkeiten beim Verständnis der frz. Predigt beklagt (Hartweg 1981a). Die mit der Zweisprachigkeit verbundene Schwächung der sprachlich-kulturellen Identität als bevorzugte Minderheit führte zu Disputen über die Rolle des Frz. in der Gemeinde und die Existenz eines vom zeitgenössischen Frz. abweichenden ‘style re´fugie´’. Selbst in Berlin, wo noch am ehesten von einem „kompletten Mikrokosmos französischen Lebens mit einer voll ausgebildeten sozialen Infrastruktur“ (Birnstiel 1990, 117) ausgegangen werden kann, stand ab 1774 die Sprachenfrage auf der Agenda der frz.-reformierten Kirche (Bergerfurth 1993). Trotz vielfacher Versuche, die Anstellung zweisprachiger Geistlicher und dt. Predigten durchzusetzen, um die einsprachig dt. Gemeindemitglieder an ihre Kirche zu binden, hielt das frz.-reformierte Konsistorium auch nach der formalen Aufhebung des Hugenotten-Privilegs durch die Städteordnung von 1808 und eine Kabinettsordre Wilhelms III. von 1809 zunächst am Frz. fest. Im Akkulturationsprozeß der Re´fugie´s war Frz. indes immer mehr auf die Domänen des religiösen Kults (Hartweg 1985) und der innerkirchlichen Administration reduziert worden, am 12. Januar 1852 vermerkt das Protokoll der Generalversammlung des Konsistoriums: „Mode´rateur Dr. Henry 1. in Folge des Beschlußes vom 13 October 1851 wird gegenwärtiges Protocol von heut ab in deutscher Sprache geführt“ (Bergerfurth 1993, 117). 3.4.1.2. Juden Vermutlich schon mit den ersten Kolonisatoren waren Juden in das Land gekommen. Quellen aus dem 16. Jh. berichten über eine Judenverbrennung Mitte des 13. Jh., die in Zusammenhang mit einem Hostienfrevel ⫺ ein wiederkehrendes Legitimationsmuster für Judenverfolgung ⫺ gebracht wurde (Heise 1932, 12 ff.). In der Folge war es 1446, 1510 (‘Hostienschändungsprozeß’) und 1573 (nach
2685 der Verhaftung des Münzmeisters und Hofjuden Lippold) regelmäßig zu Pogromen, Vertreibungen und Ansiedlungsverboten gekommen, so daß von einer Kontinuität jüdischer Kultur in Brandenburg bis in das letzte Drittel des 17. Jh. nicht gesprochen werden kann. Jüdische Familien, häufig Opfer von Vertreibungen in ihren Heimatländern, kamen aus Polen, Spanien, Schlesien, Böhmen, Mähren und dem übrigen Reichsgebiet. Im wesentlichen unverändert blieben hingegen die Motive der Judenansiedlung (Erschließung zusätzlicher Einnahmequellen für die Landesherrschaft und/oder die Städte durch kontrollierte Abschöpfung der Profite aus Geldund Warenhandel, vgl. dazu Ribbe 1992), ein abgestuftes System formaler Garantien und Beschränkungen des geduldeten Aufenthaltes (Schutzbriefe), die soziale Isolation der Familien und Gemeinden und die ständige Bedrohung durch Ausweisung, verbunden mit Verlust des Besitzes. Auch das kurfürstliche Edikt von 1671, das einer begrenzten Zahl vor allem aus Wien vertriebener jüdischer Familien die Einreise nach Brandenburg erlaubte ⫺ „[…] daferne es reiche wohlhabende Leute wären, welche Mittel ins Land bringen und hier anlegen wollten […]“ (zit. nach Jersch-Wenzel 1978, 27) ⫺, schrieb diese Tradition fort. Doch während im 17./18. Jh. etwa 90 % der jüdischen Bevölkerung des Reichsgebiets auf dem Lande lebte, konzentrierte sich die Ansiedlung in Brandenburg nach 1671 auf die Städte Berlin, Frankfurt, Brandenburg, Potsdam und Landsberg (Neumark). In Berlin war um 1700 der Anteil jüdischer Einwohner auf ca. 2 % (600 Personen) gestiegen, lag 1750 mit 2188 Personen etwa auf gleichem Niveau und nahm gegen Ende des Jh. relativ und auch in absoluten Zahlen ab. (Zur räumlichen Verteilung der Juden vgl. Jersch-Wenzel 1978, 58 ff., zur demographischen Entwicklung Berlins insgesamt Schultz 1992). Waren die Juden auf dem Lande durch ihre religiösen und kulturellen Traditionen und ihre vorherrschende Subsistenzform als Kleinhändler der bäuerlichen Umgebung eher entfremdet (Bräuer/Graetz 2000, 183 ff.), so konnten sich jüdische Handelsfamilien in der Messestadt an der Oder oder in der Residenz Berlin zunehmend in das ökonomische Netzwerk ihrer Umgebung einpassen. Auch wenn etwa in der Uckermark um 1750 ca. 86 jüdische Familien lebten und auch in Landstädten wie Eberswalde, Luckenwalde und Rathenow kleinere Gruppen jüdischer Einwohner nachgewiesen sind, so dürfte doch die Im-
2686 migration in den stadtbürgerlichen Raum seit Ende des 17. Jh. für die soziokulturelle, insbesondere sprachliche Entwicklung der jüdischen Minderheit in Brandenburg entscheidend gewesen sein. Immigration aus unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Zusammenhängen, zahllose abgebrochene Lebensprojekte durch Vertreibung und Pogrome, verstreute, vor allem ländliche Ansiedlung bis ins 16. Jh. und eine städtisch geprägte Entwicklungsdynamik jüdischer Kultur im 18. Jh. lassen es als unangemessen erscheinen, die sprachgeschichtliche Dimension jüdischen Lebens in Brandenburg mit Verweis auf die jüdische Aufklärung als ‘langsamen Niedergang des Westjiddischen’ (Katz 1983, 1025) oder als ‘Aufgabe der Besonderheiten ihrer gruppenspezifischen Sprache’ (Simon 1993, 10) zu fassen. Auch wenn die Forschungslage es kaum zuläßt, den Akkulturationsprozeß in seiner Komplexität zu beschreiben, so soll doch versucht werden, ihn anhand einiger Indikatoren zu rekonstruieren. Die sprachliche Ausstattung dieser Minderheit hatte die doppelte Funktion einer Verständigung mit der majoritären sprachlichen Umgebung und der Verständigung innerhalb der Gemeinden, verbunden mit der Stiftung und Stabilisierung jüdischer Identität. Der jüdische Bürgereid im Berliner Stadtbuch aus dem späten 14. Jh. deutet die soziale und religiöse Sonderstellung der Minderheit wie ihre partielle sprachliche Integration gleichermaßen an, wenn die minderheitenspezifische Formel ‘alse werlike helpe di de / levendige almechtige god eloy adonay/di Moyses gaf di e/in den berch tu Synai’ in der nd. Stadtsprache erscheint (zit. nach Heise 1932, 122). Die Autobiographie des Aaron Isaak, der Mitte des 18. Jh. in Treuenbrietzen lebte, weist Merkmale der Verschriftung seiner jidd. und nd.-berl. geprägten Sprechsprache auf (Simon 1993; s. u. 3.5.). Auch dieser späte Befund deutet darauf hin, daß die jüdischen Familien sich die Sprechsprache ihrer Umgebung aneigneten und es möglicherweise zu Mischformen mit der Umgangssprache innerhalb der Familie und Gemeinde kam. Von Bedeutung für die Ausbildung derartiger lokaler oder regionaler Kontaktphänomene dürfte der Umfang schriftsprachlicher Stabilisierung des Jidd. gewesen sein, die unabhängig von der Kompetenz, Hebräisch zu verschriften, betrachtet werden muß. Hebr. und zunehmend auch Jidd. erfüllten sakrale
XVII. Regionalsprachgeschichte
und profane Funktionen im Innenverhältnis der jüdischen Minderheit. Eine textsortenspezifische Auswertung der jidd. Literatur (Bräuer/Graetz 2000) läßt eine Konzentration auf Andachts- und Sittenbücher, Pentateuch-Übersetzungen und -Paraphrasen, populärphilosophische Traktate und profane wie sakrale erzählende Literatur erkennen. Hebr. blieb demnach eine Domäne für juristische (Halacha) und gelehrte Literatur, es diente auch, wie die Verhandlungsprotokolle der Landjudenschaften zeigen, als Sprache von innerjüdischen Rechts- und Verwaltungsakten. Allgemein wird ein Rückgang des Hebr. vor allem im ländlich-kleinstädtischen Raum angenommen, während in den größeren Städten durch die Existenz von Talmudschulen (‘jeschiwot’), Lehrhäusern (in Berlin gab es ab 1747 ein ‘bet hamidrasch’ mit 40 Schülern) und hebr. Druckereien (Frankfurt, Berlin) eine relativ stabile Tradition hebr.aram. Lese- und Schreibkompetenz etabliert wurde. Ein Schlaglicht auf die Verhältnisse in der ersten Hälfte des 18. Jh. werfen die Protokolle der Verhandlungen zwischen den Deputierten der Landjudenschaften mit Vertretern der königlichen Verwaltung im Jahre 1728 über die Verteilung der zu zahlenden Schutzgelder an den Landesherren und der sich anschließenden Versammlungen der jüdischen Deputierten untereinander. Die Dominanz der städtischen, insbesondere Berliner Gemeinde hatte zu Spannungen mit den überörtlichen Landjudenschaften geführt, in denen die verstreuten Juden in BrandenburgPreußen (mit Ausnahme der Berliner Juden) nach dem Muster der alten jüdischen Stadtgemeinden organisiert waren. Neben den offiziellen hebr. Protokollen wurden jidd. Mitschriften angefertigt und das Beratungsergebnis in einer dt. Übersetzung für das königliche Generaldirektorium weitergeleitet. Einen Eindruck über die ‘Verhandlungssprachen’ gibt ein von Cohen zitiertes jidd. Dokument: „ulefi se [= und dementsprechend] is’ die Einteilung gemacht [worden] mit groß’ schtadlonus [= Fürsprache, Intervention], daß diese anschej ssewiwossejnu [= Leute unserer Umgebung, d. h. Ortschaften] mit 8 Rt. potur sein worden [davongekommen sind]“. (Cohen 1983, 217; Hervorhebungen und Ergänzungen bei Cohen) Deutschsprachige Schriftlichkeit ist ⫺ möglicherweise aufgrund der unzureichenden Forschungslage ⫺ für die ländlich-kleinstädtische jüdische Minderheit in Brandenburg
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
erst relativ spät belegt. Die im ‘Revidierten General-Privilegium und Reglement vor die Judenschaft im Königreiche Preußen’ von 1750 verordnete Führung von Pfandbüchern in deutscher Sprache wie entsprechende Proteste jüdischer Geldhändler gegen diese als Diskriminierung empfundene Nachweispflicht (vgl. Jersch-Wenzel 1978, 100) verweisen zumindest auf eine vorgängige Praxis, die Einträge in hebr. Schrift vorzunehmen. Immerhin konnten die auf dt. (aber schlecht) geführten Bücher des Levin Joseph aus Spandau als Beweismittel im Prozeß von 1789 wegen betrügerischen Konkurses und Wechselbetrugs dienen. (Herzfeld 1990) Das Varietätenund Sprachenspektrum medialer Mündlichkeit dürfte für die jüdischen Händler auf dem Lande, die durch das gesamte Territorium reisten und sich mit der meist nd. sprechenden Bevölkerung verständigen mußten, weitgespannt gewesen sein: lokale Sprechsprachen, interferierendes Jidd. als familiale und ⫺ auch angesichts des endogamen Heiratsverhaltens ⫺ kommunitäre Nahsprache (Simon 1991, Simon 1993, 32 ff.) und an den Kultus gebundenes Hebräisch. Die mediale Schriftlichkeit dürfte je nach dem Grad der Literalisierung aus unterschiedlich verteilten Leseund Schreibfähigkeiten in Deutsch, Jidd. und Hebr. bestanden haben. Für die vor allem aus Kaufleuten bestehende jüdische Gemeinde in Berlin mit ihrer dünnen Oberschicht aus Hofjuden und wohlhabenden Bankiers vermittelt ein etwas anderes Bild. In diesem Milieu entwickelte sich eine literarische Mehrsprachigkeit, die als exemplarisch für die bildungsbürgerliche Basis des kulturellen Verdichtungsraums Berlin gelten kann. Im Rückblick und aus der Perspektive der jüdischen Aufklärung (Haskala) beschrieb der Unternehmer Lazarus Ben David die sprachliche Ausstattung seiner Eltern (und damit die Situation in der 2. Hälfte des 18. Jh. in Berlin): „Meine Eltern hatten beyde eine liberale Erziehung genossen. Sie schrieben beyde sehr richtig jüdisch und deutsch, sprachen beyde gut französisch, und besonders machte mein Vater sehr schöne kaufmännische Aufsätze und besaß eine große Belesenheit in den französischen klassischen Schriftstellern.“ (zit. nach Bräuer/Graetz 2000, 307)
Diese ‘Liberalität’ hinderte sie freilich nicht, ihren Sohn durch den üblichen polnischen Hauslehrer unterrichten zu lassen und ihm über die Lektüre von Talmud und Bibel sowie hebr. Grammatik und aristotelische Lo-
2687 gik (nach Maimonides) die Grundlagen traditionieller jüdischer Gelehrsamkeit zu vermitteln. Henriette Herz wurde durch Hauslehrer „im Notwendigsten“ unterrichtet, „im Hebräischen, Französischen, Schreiben, Rechnen und Geographie; in der ersten Sprache fing ich an, die Bibel zu übersetzen und sogar mit einigen ihrer Kommentatoren […]“ (Henriette Herz 1913, 106). Mehrsprachigkeit und Bildungsbemühen waren Teil jener habituellen Angleichung an die nichtjüdische Umgebung in Kleidung, Frisur und Körpersprache, die Berliner Juden schon in den 70er Jahren für Beobachter des Berliner Lebens kaum noch als solche erkennbar machte. Allein für diese urbane, gebildete Schicht kann ⫺ gleiches gilt auch für die Re´fugie´s ⫺ von einem ‘importierten Ersatzbürgertum’ (Jersch-Wenzel 1978, 21; 244⫺246) gesprochen werden. Die Abwertung von Jidd. als ‘Jargon’ und das Plädoyer für die Übernahme des Deutschen als Bildungssprache und Medium der Akkulturation im Kontext der Haskala (vgl. etwa David Friedländers hebr. und dt. gedrucktes ‘Sendschreiben an die deutsche Juden’ (1788) in der Zeitschrift ‘Hame ’assef’ (‘Der Sammler’)) gründete sich also auf einen markanten Gegensatz von ländlich-kleinstädtischer und in Berlin konzentrierter Residenzund Stadtkultur. Der hier formulierte hegemoniale kulturelle Anspruch beschleunigte den Funktionswandel und die Vertikalisierung der verfügbaren Sprech- und Schreibsprachen, d. h. vor allem die säkular motivierte literarästhetische ‘Reform’ und Verwissenschaftlichung der Sakralsprache Hebr., den Erwerb schriftsprachlicher Standards im Deutschen und den Austausch der traditionellen Nahsprache Jidd. durch die Umgangssprache des umgebenden nicht-jüdischen kulturellen Milieus. 3.4.2. Sorben Die Niederlausitz und die sorb. Siedlungsgebiete blieben vom Slawenaufstand von 983 unberührt und waren seit dem 11. Jh. dem Bistum Meißen unterstellt. Deutsche Einwanderung ist erst ab 1220 durch Keramikfunde bezeugt, und in der zweiten Jahrhunderthälfte erlangten die neugegründeten Städte wie Luckau und Guben Stadtrecht. Die Siedlungsgebiete der Sorben lagen außerhalb des askanischen Herrschaftsgebiets, und es mag an der territorialen Zersplitterung mit wechselnden Herrschaften liegen, daß Niederlausitz wie Oberlausitz „als einzige Landschaft innerhalb der ‘Germanica Slavica’ […] seit
Karte 182.3: Territoriale Gliederung der Niederlausitz im 15./16. Jh. (nach Meˇtsˇk 1962)
2688 XVII. Regionalsprachgeschichte
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
dem Mittelalter ihren slawischen Charakter bis in die Neuzeit hin bewahrt [haben]“ (Assing 1995, 101). Dies gilt insbesondere für die brandenburg-preußische Exklave Cottbus. Dort bildete die dt. sprechende Bevölkerung auf dem Land nach Schätzungen vom Meˇtsˇk (1962) bis ins 19. Jh. eine Minderheit. In seiner Landbeschreibung von 1854 ermittelte Berghaus für den Kreis Cottbus eine fast rein sorb. bäuerliche Schicht. Ein Bericht an das Lübbener Konsistorium von 1812 klassifizierte von knapp 6000 Familien des Cottbusser Kreises etwa ein Viertel als deutschsprachig (einsprachig dt. oder mehrsprachig dt.sorb.), drei Viertel als einsprachig oder überwiegend sorb. (Lehmann 1963) Dabei konzentrierte sich die Mehrsprachigkeit zunächst auf die städtische Bevölkerung, während die Landbevölkerung in der Regel einsprachig sorb. gewesen sein dürfte. Diese Verteilung läßt erkennen, daß die Sprachverhältnisse in der (Nieder-)Lausitz nicht nur areal bestimmt werden können, sondern durch die soziale Zuordnung der Sprecher und den Gegensatz von Stadt und Land geprägt waren. Wenn also Norberg (1996, 90) das Fehlen eines sorb. Bürgertums konstatiert und Lehmann (1930) die ‘Wenden’ als durchgängig bäuerlichen Stand ansieht, dann zeigt sich, daß die kontinuierliche Abnahme des sorb.-sprachigen Bevölkerungsanteils nicht nur als Resultat des staatlichen Assimilationsdrucks, sondern auch der Industrialisierung und Verstädterung der Lausitz im 19. und 20. Jh. interpretiert werden muß. Ältere statistische Angaben über die Verteilung nach ‘Sorben’ und ‘Deutschen’ beruhen in der Regel nicht auf ethnisch-kultureller Selbstdefinition der Befragten, sondern auf Sprachpräferenzen und bilden damit bestenfalls quantitative Verschiebungen im Verhältnis der beiden Kontaktsprachen Sorb. und Dt. ab. Eine Berechnung von 1987/1988 zählt noch etwa 50.000 sich als Sorben bezeichnende Einwohner der Lausitz, ca. 70.000 geben an, Sorb. zu beherrschen. (Vgl. Tschernik 1954 und Faßke 1993, 72) Sorb. Schriftlichkeit setzte in der 2. Hälfte des 16. Jh. ein und entwickelte sich in Niederund Oberlausitz zu unterschiedlichen Schriftdialekten, eine nsorb. Übersetzung von Luthers Katechismus durch Wjaclaw Warichius erschien 1595. Nach einer Phase bescheidener Fortschritte im Ausbau einer eigenständigen, pietistisch geprägten kulturellen Identität (Gründung einer ‘Wendischen Predigergesellschaft’ in Wittenberg (1749), zahlreiche
2689 Drucke nsorb. religiöser Schriften, Johann Gottlieb Hauptmanns ‘Nieder-Lausitzische Wendische Grammatica’, 1761) wurde die Lausitz als Folge der Wiener Verträge geteilt: Der nördliche Teil geriet unter preußische Herrschaft, und die Sorben sahen sich schnell einer antisorb. Politik der preußischen Regierung ausgesetzt. Als wenn sich gerade Brandenburg-Preußen durch sprachliche Homogenität auszeichnete, wurde dem Nsorb. in Ermangelung einer fehlenden weiträumigen Umgangssprache und schriftsprachlichen Standardisierung die Funktion als überlokale Verkehrs- und Schulsprache abgesprochen. So hieß es in einem Artikel im ‘Neuen Lausitzischen Magazin’ von 1827: „Nicht weniger hält auch die innere Zerspaltung dieser Sprache in mehrere Mundarten auf einem ohnehin beschränkten Raum […] jede weitere Ausbildung des Wendenvolkes auf. […] fast jedes Dorf hat seine Eigentümlichkeit, und ist doch die ganze Sprache mit einem Dialekte eines kleines [!] Negerstammes vergleichbar, deren jeder bekanntlich eine eigene Mundart hat und wovon hundert Stämme auf anderthalb hundert Quadratmeilen geben.“ (Johann Christian Richter, zit. nach Meˇtsˇk 1973, 35 f.) Dieser solchermaßen indigenisierten Bevölkerung versuchte die Verwaltung mit einsprachigen dt. Pfarrern aufzuhelfen, die Cottbusser Gerichtsbarkeit ließ sorb. Nebenprotokolle abschaffen und erwog, die Sorben zur Änderung ihrer Familiennamen zu zwingen. Moderate Kräfte schlugen eine zweisprachige Erziehung der Kinder vor, die mit ihren Eltern noch sorb. sprechen durften, untereinander aber dt. sprechen sollten ⫺ in der Hoffnung, das Sorb. würde dadurch am ehesten den schnellen Sprachtod erleiden. Die im Kontext der Frankfurter Verfassungsdiskussion von 1848 vor allem aus der Oberlausitz erhobenen Forderungen nach einem gleichberechtigten dt.-sorb. Sprachunterricht, nach sorb. Predigt und Abendmahl in sorb. Sprache und einem ‘wendischen Gerichtshof’, dessen Verhandlungen auf Sorb. geführt werden sollten (Mac´ica-Petition an den sächsischen Landtag 1848), blieben in der Niederlausitz bis auf den kirchlichen Bereich unerfüllt. Auch wenn Zweisprachigkeit nicht erklärtes Ziel preußischer Minderheitenpolitik in der Niederlausitz war, so entwickelte sich in der sorb. Bevölkerung durch den vertikalen Druck des Hd., sorb.-dt. Ehen und die mit sozialem Aufstieg verknüpfte Beherrschung des Deutschen ein ‘sekundärer, kulturaler Bi-
2690 lingualismus’ (Bellmann 1971, 15). Komplementäre Verhältnisse auf Seiten der dt. Bevölkerung sind ab dem Ende des 19. Jh. aber nur in Kleinstädten und auf dem Lande anzunehmen. In der Stadt Cottbus deuten die Belege auf einen zumeist einsprachigen dt. Bevölkerungsanteil hin. Dieser ‘unilaterale Bilingualismus’, also die Koexistenz zweisprachig-sorb. und einsprachig-dt. Bevölkerungsteile innerhalb eines Areals entspricht zwar der zu erwartenden Folge des Assimilationsdrucks und der sozialen Verteilung von individualer Mehrsprachigkeit, doch erscheinen die unterschiedlichen Formen von Bilingualismus aus Sicht aktueller Entwicklungen als Durchgangsstadien eines Sprachwechselprozesses, wie er von Elle (1992) für die gesamte Lausitz, von Norberg (1996) exemplarisch an der Gemeinde Drachhausen/Hochoza untersucht worden ist. Norberg kommt zum Ergebnis, daß die historischen Erfahrungen der letzten Generationen (Verbot sorb. Sprache und Kultur im Nationalsozialismus, Industrialisierung und Urbanisierung, demographische Verschiebungen in der Folge des 2. Weltkriegs, politische Indienstnahme der sorb. Kultur in der DDR) und unzureichende Strategien der ‘Sprachbewahrung’ zum Sprachwechsel beigetragen haben. Zwar unterscheiden sich diese Strategien in der Oberund Niederlausitz vor allem im Konzept des schulischen Spracherwerbs (bilingualer sorb.dt. Spracherwerb vs. Sorb. als Fremdsprache), doch reduziert sich das Obersorb. zunehmend auf die Domänen Familie, Kirche und Schule, während das Niedersorb. in seiner Existenz insgesamt gefährdet ist. (Vgl. Geske/Schulze 1997) Deutsch-sorb., seltener sorb.-dt. Inter- und Transferenzen (vgl. Eichler 1965, Faßke 1997, 1795 f. und insgesamt Art. 211) wurden schon vereinzelt im 18. Jh. und 19. Jh. verzeichnet (Heinze 1799/1804, Bronisch 1862), neuere Untersuchungen beziehen sich entweder auf die „stark sorbisch interferierte Halbmundart“ zweisprachiger Sorben (Bellmann 1980, 680 mit Bezug auf Meˇtsˇk 1969) oder auf das Neulausitzische als dialektferne Umgangssprache im Sorbengebiet (Bielfeld 1962/1983, Bellmann 1971) und verzeichnen vor allem lexikalische, weniger syntaktische und phonologische Phänomene. Rezente Sprachaufnahmen einsprachig deutscher Sprecher weisen allerdings eine starke Tendenz zur Entrundung und den Ausfall des initialen -h (/‘aite/ ‘heute’) mit Hyperkorrektur (/hai/ ‘Ei’) auf (Wiesinger 1983, 868).
XVII. Regionalsprachgeschichte
3.5. Wechsel der Sprechsprache im 19./20. Jahrhundert, gegenwärtige Situation und Entwicklungstendenzen Eine 1995⫺96 durchgeführte Befragung der Brandenburger Bevölkerung zu Sprachpraxis und Spracheinstellung (Umgangssprache in Brandenburg 2000) ergab, daß die Befragten unabhängig vom Alter die überlokale Verkehrssprache mehrheitlich als Berlinisch bezeichnen und die meisten der unter 40jährigen Berlinisch sogar als Ortsdialekt ansehen. Je jünger die Befragten sind, desto eher nimmt Berlinisch als neuer ‘Basisdialekt’ den Platz des Plattdt. im Varietätenspektrum ein. Nur in drei Gebieten (Uckermark, Prignitz, Fläming) gibt es überhaupt noch ältere Sprecher des Plattdt. Ein abweichendes Bild bietet der Südosten Brandenburgs, wo nur eine Minderheit der Befragten überhaupt die Existenz eines Ortsdialekts bejaht. Berlinisch hat sich also nach Ansicht der Sprecher fast landesweit als regionale Umgangssprache etabliert und bildet im Varietätenspektrum zunehmend den Gegenpol zum standardnahen Sprechen. Dieses Bild steht am Ende eines längerwährenden Sprachwechselprozesses, für dessen Charakterisierung zwar einzelne Indikatoren bereitstehen, aber eine Rekonstruktion, die auslösende Faktoren, räumliche und zeitliche Dynamik, soziale Differenzierung, sprachliches Wissen, Formen sprachlicher Interaktion und sprachstrukturelle Selektionskriterien in Beziehung setzt, steht noch aus. Die durch den Schriftsprachwechsel vom 14.⫺16. Jh. entstandene mediale Diglossie in einem Teil Brandenburgs konnte für den ländlichen Raum solange ohne größeren Einfluß auf die gesprochene Sprache bleiben, wie nicht ein nennenswerter Teil der Bevölkerung lesen und schreiben konnte. Mit Blick auf das Elementarschulwesen Brandenburgs (Gessinger 1980, Heinemann 1974, Neugebauer 1985, Vollmer 1918) kann bis ins 18. Jh. nicht davon ausgegangen werden, daß die Landbevölkerung die Möglichkeit hatte, hinreichende schriftsprachliche Kompetenz zu erwerben. Erst mit zunehmender Alphabetisierung gerieten die lokalen Sprechweisen unter den Druck der überdachenden hd. Schriftsprache, wurden abgewertet und hätten normalerweise die low-variety in einem durch standardnahes Sprechen neu konstituierten sprechsprachlichen Varietätenspektrum gebildet (vgl. Mihm 1999), wenn dieser Prozeß nicht vom sprachlichen Wandel in Berlin und dem Wandel dieser Stadt insgesamt beeinflußt worden wäre. Dort hatte sich seit dem
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
16. Jh. eine Sonderentwicklung vollzogen, deren Resultat von Lasch als osächs. überformtes Nd., von Teuchert in seiner Rezension ihrer 1928 erschienenen Monographie ‘Berlinisch. Eine berlinische Sprachgeschichte’ hingegen als nd.-omd. Mischsprache beschrieben worden ist. Beiden Hypothesen liegt eine unterschiedliche Sicht auf das Verhältnis von Stadtraum und ländlichem Raum zugrunde. Während Teuchert aus dialektgeographischer Sicht „die Abhängigkeit Berlins von der Sprache seiner Landschaft auch für md. Bestandteile des Laut-, Formen und Wortschatzes, neben den heimischen nd. Elementen“ (Teuchert 1928/29, 305) betonte, war für Lasch Berlinisch „ein neu erlernter hochdeutscher Dialekt seit dem 16. Jahrhundert von einer niederdeutschen Bevölkerung fortentwickelt, als Stadtmundart ohne Hinterland“ (Lasch 1927, 6, vgl. auch Lasch 1979, 472 und Wiese 1957). Gegenüber der autozentrisch argumentierenden These des intensiven Austauschs zwischen dem städtischen Kern und den umliegenden Dörfern wie Tempelhof, Steglitz, Köpenick, Rixdorf etc. sind im heterozentrischen Modell Laschs die wirtschaftlichen Beziehungen und kulturellen Orientierungen nach Sachsen wirksam. Sprachliche Ausgleichsprozesse, wie sie Teuchert im Stadt-Land-Verhältnis und innerhalb der Stadt annahm, können allerdings die Dynamik des sprechsprachlichen Wandels in Berlin, der zu einer wachsenden Differenz zu den weiterhin plattdt. sprechenden Landbewohnern führte, nicht hinreichend erklären. Andererseits hat Berlin bis ins 19. Jh. hinein seinen ackerbürgerlichen Charakter nicht verloren, seine Population wies trotz massiver Zuwanderung, die zwischen 1650 und 1800 mehrheitlich Sachsen, vorwiegend Kaufleute in die Stadt brachte, neben Beamten, Kaufleuten und Handwerkern auch Soldaten und Bauern mit engen familialen Bindungen in die Mark auf (Einzelheiten in Schultz 1992). Für die Sprachgeschichte Berlins ist also neben der Beschreibung der internen sozialen Differenzierung eine Klärung der Beziehungen zum engeren ländlichen Raum grundlegend. Es bietet sich an, diese als Relation zwischen Zentrum und Peripherie zu beschreiben (vgl. Grober-Glück 1975). In einem solchen Modell erscheinen die sozialen Trägerschichten der Stadtsprache Berlins als ‘exocentric dialect community’ (Lodge 1999 mit Verweis auf Andersen 1988). Sie bilden unter dem Einfluß der nun nicht mehr nd., sondern
2691 omd. geprägten Schriftsprache ein neues, sozial differenziertes Varietätenspektrum aus und drängen die autochthone nd. Sprechsprache zunehmend an den geographischen und sozialen Rand der Stadt. Im 19. Jh. wird Plattdt. nicht nur Sprache der Peripherie, sondern zugleich Substandard, wobei diese ‘Peripherie’ zunehmend in das Land ausgreift und damit die Bildung der Region BerlinBrandenburg einleitet: Mit der Entwicklung von der Residenz zur (Industrie-)Metropole wird der alte bäuerliche Rand zum städtischen Einzugsgebiet, und mit der Bildung Groß-Berlins 1920 werden nicht nur riesige Flächen, sondern die 1,9 Mio. Bewohner der zu Großstädten gewachsenen ehemals umliegenden Dörfer inkorporiert. Am Ende des 20. Jh. schließlich ist Brandenburg mit Ausnahme des Südens und der nördlichen Ränder der Uckermark und Prignitz großenteils zur Peripherie Berlins geworden (Berlin und die Provinz Brandenburg 1968, Gessinger/ Fischer 1998). Bevor das ländliche und kleinstädtische Brandenburg von diesem metropolitanen Transformationsprozeß erfaßt wurde, also bis ins 18. Jh. hinein, muß angesichts der sprechsprachlichen Heterogenität und des Verlusts einer überdachenden mnd. Schriftlichkeit von lokalen Vernakularen ausgegangen werden. Bretschneider sieht allerdings schon für die Zeit nach dem 30jährigen Krieg in der regionalen Verteilung frz. und nl. Lehnwörter einen Beleg für die Existenz einer berl. beeinflußten Ausgleichssprache, „das sich festigende, umgangs- und sondersprachliche Idiom, das ‘Zentralmärkische’“ mit Wurzeln im „gesprochenen, werdenden Berlinischen der zugewanderten Märker mit niederländischem und hugenottischem Einschlag“ (Bretschneider 1973, 84). Zwischen der Mitte des 18. und ersten Hälfte des 19. Jh. setzte nun zunächst wohl in den Landstädten ein Prozeß ein, an dessen Ende eine im Bewußtsein der Sprecher als Berlinisch repräsentierte regionale Umgangssprache steht, der sich aber von der Genese des Berl. als Stadtsprache deutlich unterscheidet. Zwar wird auch hier die mediale nd./hd. Diglossie wirksam, allerdings zwei Jahrhunderte später unter deutlich veränderten Bedingungen: Ein mittlerweile gefestigter schriftsprachlicher Standard machte die Regel ‘Sprich, wie du schreibst’ für die Alphabetisierung praktikabel. Anders als Leipzig für Berlin wirkte Berlin auf das Land nicht als ferner kultureller Bezugspunkt, sondern durch tiefgreifende de-
2692 mographische Austauschprozesse, die Etablierung einer auf Berlin ausgerichteten Infrastruktur und die Konzentration von politischer, ökonomischer und kultureller Macht. Kurz gesagt, der Antrieb für sprachliche Innovation lag nun mitten im Land. Durch den ungleichzeitigen Abbau der medialen Diglossie kam so für die plattdt. sprechende Landbevölkerung neben der hd. Schriftsprache ein zweiter Pol ins Spiel, wobei noch ungeklärt ist, in welcher Form der verstärkte StadtLand-Gegensatz und die sozialen Differenzierungen in den ländlichen und städtischen Sprachverhältnissen diese doppelte Orientierung prägten. Auch wenn die Belege für eine solche zeitliche Einordnung des sprechsprachlichen Wechsels bislang rar sind, soll die Situation auf dem Lande in der 2. Hälfte des 18. Jh. zumindest illustriert werden: Die hebr. verschrifteten Lebenserinnerungen des Aaron Isaak aus Treuenbrietzen (1730⫺1816), die er 1801 in Bützow niederschrieb, bieten die sicherlich mecklenburgisch gefärbte Wiedergabe seiner damaligen lokalen nd.-jidd. Sprechsprache. Das Ms. weist Formen wie fertich, reljon, relijeß und bräutjam auf (Simon 1993, 208), die nicht mehr nd. sind und mit berl. Formen korrespondieren. So weicht bräutjam von den im Teltow, in der südlichen Zauche und im Fläming belegten entrundeten (bridijen, bridijam) oder nicht-diphthongierten (brudigam, brudijen) Varianten ab und entspricht eher dem vom BBW als ‘umgangssprachlich’ aufgeführten broetjam. Historische Belege für die Bearbeitung vorhandener Diglossie bieten Beschreibungen der Situation in den Elementarschulen, insbesondere dann, wenn Lehrer oder Beobachter im Plattdt. der Schüler nicht einfach nur korruptes Deutsch, sondern ein domänenspezifisches, freilich in der Schule deplaziertes Sprechen erkennen. Den Aufbau einer zweisprachigen Kompetenz in der Landschule des aufgeklärten Brandenburger Rittergutsbesitzers v. Rochow beschreibt Heinrich Gottlieb Zerrenner 1788 im ‘Journal für Prediger’. Im kombinierten Sach- und Sprachunterricht des Lehrers Bruns ging es um die Dinge, die aus Eisen gemacht wurden. Die Kinder nannten ‘Klinke’, ‘Pferdekette’ und ‘Krampe’: „Kind 3. eine Krampe. B[runs]. Wozu braucht man denn die? K. Dat miner Mutter keiner wat rut dregt. B. Rut dregt? was ist das? wie muß das heissen? Ein andres Kind: herausträgt! B. Recht.“ (Zerrenner 1788, 4 f.)
XVII. Regionalsprachgeschichte
Ob eine derartige sekundäre sprachliche Sozialisation tatsächlich zum ‘rechten’, zum angemessenen standardnahen Sprechen in formellen Situationen jenseits des Schulunterrichts geführt hat, bleibt zu klären. Jedenfalls stand den alphabetisierten plattdt. Sprechern zusätzlich zum Berl. eine weitere Fernsprache zur Verfügung. Der zwischen den lokalen plattdt. Vernakularen, den sozial differenzierten Varietäten des Berl. und dem standardnahen Sprechen aufgespannte Varietätenraum wird nun im Verlauf von rd. 200 Jahren so umgestaltet, daß am Ende eine regionale Umgangssprache die Funktionen des alten Basisdialekts übernimmt. Ein Blick auf den ‘monolingualen’ Süden, der sich, auf Berlin bezogen, azentrisch verhält, macht deutlich, daß ein Verweis auf die Strahlkraft des Berl. als metropolitaner Prestigevarietät (Bretschneider 1973, Schönfeld 1992, 292 f.) allein nicht ausreicht, diese Umgestaltung zu erklären. Der Übergang vom Latein zur Volkssprache, der Isoglossenverlauf zwischen Berlin und dem osächs.-meißnischen Raum (‘Berliner Trichter’, dazu Teuchert 1964, 119 ff.) und die im Rahmen des genannten Forschungsprojekts (Umgangssprache in Brandenburg 2000) erhobenen mentalen Kartierungen der geographischen Zuordnung von ‘Berlinisch’ deuten an, daß dort die Verhältnisse durchgängig anders liegen. 3.6. Der Südosten Die Niederlausitz (mit Ausnahme des Kreises Cottbus, der 1462 aus dem gleichnamigen Markgrafentum nach Brandenburg ausgegliedert wurde) stand seit 1370 unter böhmischer, ab 1635 unter Wettinischer Herrschaft und gehörte zusammen mit dem kurmärk. ‘Wendischen Distrikt’ (Bärwalde, Zossen, Teupitz, Storkow, Beeskow) vor der Reformation zum Bistum Meißen, das im Norden bis an Köpenick heranreichte. (s. K. 182.1 und 3). Sie wurde mit angrenzenden sächsischen Gebieten in den Wiener Friedensverhandlungen 1815 zu Preußen geschlagen. Insofern gehörte das heutige südöstliche Brandenburg bis zum Beginn des 19. Jh. kulturell und politisch zum sächsischen Einflußbereich. Wenn dieses ‘Zwischenland’ (Lehmann 1937, 468) dennoch hier in die Betrachtung einbezogen wird, dann deshalb, weil es als nd./nordobersächs. Übergangszone gegenüber der sich nördlich anschließenden Mittelmark vom Latein unmittelbar zur hd. Schriftlichkeit überging und deshalb im Vergleich mit dem diglossischen Raum nördlich dieser
2693
182. Aspekte einer brandenburgischen Sprachgeschichte
Zone etwas vereinfachend als ‘monolingual’ bezeichnet werden kann. Tatsächlich war auch der Südosten in Teilen mehrsprachig, soweit es das sorb. Siedlungsgebiet betraf (s. o. 3.4.2.), aber bezogen auf das Deutsche mochte man sich bis zum Ende des 18. Jh. in relativ geringer Distanz zum osächs.-meißnischen Sprachvorbild wähnen. Um zu klären, inwieweit die Sprachenverhältnisse um die Wende vom 18./19. Jh. und die vorgängige sprachgeschichtliche Entwicklung für den Einbau von Berl. in das sprechsprachliche Varietätenspektrum der Brandenburger maßgeblich sind, bietet sich deshalb ein Vergleich der rezenten Spracheinstellungen im Südosten mit jenen im Gebiet der alten Mittelmark an. Nur für den Raum Cottbus weist die erwähnte Untersuchung zur ‘Umgangssprache in Brandenburg’ einen nennenswerten Anteil Befragter aus, die überhaupt einen Ortsdialekt annehmen. Auch hier sind es vornehmlich die Jüngeren, die als Bezeichnung ‘Berlinisch’ angeben, allerdings liegt dieser Anteil nur etwa halb so hoch wie in der vergleichbaren Altersgruppe in den anderen Gebieten Brandenburgs. Während bei der Benennung der Zwischenformen im Gesamtgebiet ‘Berlinisch’ eindeutig dominiert, zieht der Südosten die Bezeichnung ‘Umgangssprache’ vor. Ein noch klareres Bild ergeben die ‘mental maps’ für die angenommene Verbreitung von ‘Berlinisch’: Allein im Südosten plazieren die Befragten ihren eigenen Ortspunkt dezidiert außerhalb des ‘Berlinisch’-Raums, alle anderen sehen sich innerhalb dieses Raums. Diese noch heute eher distanzierte Haltung zum Berl. deutet darauf hin, daß seit der Eingliederung des Südostens in die Kurmark und spätere Provinz Brandenburg Anfang des 19. Jh. die frühere Orientierung nach den omd. kulturellen Zentren Leipzig und Dresden nicht oder nur sehr langsam aufgegeben wurde und Berlin mit seiner metropolitanen Ausstrahlung und prestigebesetzten Stadtsprache auf eine relativ sprachstabile Population autochthoner, teilweise bilingualer Sprecher traf. Im Südosten hat sich also, wie im Süden insgesamt, weder ein Wechsel von der nd. zur hd. Schriftsprache noch ein Wechsel von der lokalen Varietät zum Berl. als regionaler Umgangssprache vollzogen. Allerdings deutet sich auch hier eine zunehmende Bereitschaft an, lexemgebundene Berlinismen zu verwenden. Träger dieser Veränderung ist, wie im übrigen Brandenburg, die Jugend.
3.7. Zusammenfassung Die brandenb. Sprachgeschichte zeichnet sich in dem hier betrachteten Zeitraum von gut 1000 Jahren durch Entwicklungen von erheblicher Dynamik aus. Handliche Begriffe wie Abbau von Mehrsprachigkeit und Diglossie sowie Schrift- und Sprechsprachenwechsel verweisen auf räumlich wie zeitlich verschobene Prozesse. Ihre Mehrdimensionalität erfordert ein Forschungskonzept, das die Stadtsprachengeschichte Berlins in die brandenburgische Sprachgeschichte integriert, dialektgeographische Befunde für sozio- und kontaktlinguistische Beschreibungsmodelle nutzbar macht und in die soziolinguistische Analyse rezenter Sprachverhältnisse longue-dure´e-Phänomene wie die Unterschiede zwischen dem relativ stabilen monolingualen Süden des heutigen Bundeslandes Brandenburg und den durch den ungleichzeitigen Abbau medialer Diglossie gekennzeichneten mittleren und nördlichen Teilen einbezieht.
4.
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Joachim Gessinger, Potsdam
183. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen 1. 2. 3. 4.
1.
Problematik des Begriffes Ostniederdeutsch Entstehung des ostniederdeutschen Sprachraumes Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen: Beispiel Mecklenburg Literatur (in Auswahl)
Problematik des Begriffes Ostniederdeutsch
Mit dem Begriff Ostniederdeutsch (Ond.) wird ein Teil des (historischen) dt., und hier insbesondere des nd. Sprachraumes erfaßt,
der sich im Mittelalter durch Eroberungsund Siedlungsbewegungen herausbildete und das dt. Sprachgebiet erheblich vergrößerte. Als Zugewinn für das Deutsche waren dies die sich östlich der Elbe an der Südküste der Ostsee bis ins Baltikum hinziehenden Landstriche der Ostseeländer. Eine Verkleinerung des ond. Sprachraumes ergab sich als Folge des 2. Weltkrieges: Flüchtlingsströme und Umsiedlungen, Festlegungen der Konferenz von Potsdam im Sommer 1945. Heute bildet die Linie Swinemünde ⫺ Gartz und ab Fiddichow die Oder seine östliche Begrenzung. Die-
2700
XVII. Regionalsprachgeschichte
Karte 183.1: Ond. Mundarten (um 1930)
ser im Mittelalter dazugewonnene Sprachraum kann nicht als eine Region im Sinne einer spezifischen räumlich-zeitlichen Organisationsform sozialer Beziehungen, zu denen auch die sprachlich-kommunikativen gehören, betrachtet werden. Der ond. Sprachraum umfaßt mehrere Gebiete, die sich hinsichtlich mehrerer Aspekte unterscheiden. Jedes einzelne Gebiet wäre seinerseits als Region zu charakterisieren, denn Bestimmungsfaktoren einer Region ⫺ „territorial-gesellschaftliche Struktur in wirtschaftlicher, sozialer, politischer, kultureller und psychischer Hinsicht, die zumeist durch administrative Grenzen umschlossen wird und eine relativ von anderen Regionen abweichende Entwicklung hat, einschließlich eines eigenen historischen Bewußtseins“ (Bartosˇ 1981, 14) ⫺ können auf den zu betrachtenden Gesamtraum nicht angewandt werden. Bei der Begriffsbestimmung Ond. dominiert der geographisch-differenzierende Gesichtspunkt: Ostniederdeutsch versus Westniederdeutsch. Wnd. bedeutet unter historischem Aspekt nd. Altland, während Ond das durch die dt. Expansion gewonnene nd. Neuland meint. Unter diatopischen Aspekten zählen zum Ond. die Dialektgruppen Mecklenburgisch-Vorpommersch, Mittelpommersch, Märkisch-Brandenburgisch, Ostpommersch (Hinterpommersch) und Niederpreußisch sowie das in den balt. Gebieten bis zum Schreib- und Sprechsprachwechsel anzutreffende Nd. Jede der betroffenen Regionen hat aufgrund spezifischer Faktoren ihre ei-
gene sprachliche Entwicklung gehabt, die zur Ausbildung der ond. Sprachlandschaft führte, die für die 30er Jahre des 20. Jh. mit dialektgeographischen Methoden erfaßt wurde. (Karte 183.1) Nach einem Überblick über die Entstehung des ond. Sprachraumes (ausgenommen das Märkisch-Brandenburgische, Art. 182) wird die Sprachentwicklung der Region Mecklenburg betrachtet.
2.
Entstehung des ond. Sprachraumes
Die Geschichte des Ond. beginnt im 12. Jh. Das Ond. hat sich in einem Gebiet ausgebildet, das vor seiner Eroberung und/oder Besiedlung durch Deutschsprachige von slaw., balt. und ostsee-finn. (estn.) Stämmen bewohnt wurde. (Karte 183.2) Bei der Bewertung der dt. Ostsiedlung sind zwei Aspekte zu berücksichtigen. Einerseits sind diese Wanderungen, die Deutsche seit Beginn des 12. Jh. bis in die letzten Jahrzehnte des 13. Jh. in den Osten brachten, eine eigenständige Bewegung: Sie waren von langer Hand vorbereitet, und die Eroberungen und das Vordringen des Christentums jenseits der Elbe begünstigten diese Ausbreitung, die regionale Ursachen und Erscheinungsformen hatte. Andererseits sind diese Siedlungsbewegungen Teil einer großen Bevölkerungsexpansion Westeuropas im Mittelalter gewesen, die weder durch Binnenkolonisation Westeuropas noch durch Stadterweiterung oder durch höhere Agrarerträge aufgefangen werden konnte.
183. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen
2701
Karte 183.2: Ostseeküste (um 1100)
Wesentliche Faktoren, die sich auf die Sprachentwicklung in den ond. Regionen Mecklenburg, Pommern, Preußen und im Baltikum auswirkten, sind ⫺ Charakter der Besiedlung, einschließlich Christianisierung und des Aufbaus der Kirchenorganisation ⫺ die regionale und soziale Herkunft der bäuerlichen Siedler und Städtebürger ⫺ die Art des Zusammenlebens von einheimischer Bevölkerung und Siedlern. Bestimmendes Moment für die Herausbildung der ond. Sprachlandschaft waren das Siedlungsgeschehen und die Bewegungen, auch spätere, der Siedler. Territorialgrenzen, wie auch zeitweilige schwedische, dänische oder polnische Oberhoheit haben weniger Einfluß gehabt. 2.1. Eroberung und Christianisierung Dt.-slaw. Kontakte, sowohl friedlicher als auch kriegerischer Art, gehen bis zur Völkerwanderungszeit zurück. Seit dem ausgehenden 6. Jh. drangen, von Osten bzw. Südosten kommend, wslaw. Stämme bis ins östliche Holstein ein und vermischten sich mit verbliebenen Resten germ. Bevölkerung. Im 8. Jh. treten die Wenden ⫺ über Jahrhunderte bleibt dies die zeitgenössische dt. Sammelbezeichnung für die wslaw. Stämme ⫺ in das Blickfeld der fränk. Politik: 789 Feldzug Karls des Großen gegen die Obodriten. Ab dem 10. und 11. Jh. intensivierten Sachsen und Franken ihre militärischen Vorstöße in Richtung Osten. Die Eroberungszüge Richtung Osten waren verbunden mit Versuchen, die slaw. Stämme des südlichen Ostseeraums
zu christianisieren, denn noch um 1100 schob sich hier ein heidnisches Gebiet wie ein Keil zwischen die bereits christlichen Herrschaftsgebiete der Deutschen, Polen und Dänen. Erst im 12. Jh. gelang es, in Mecklenburg und Pommern feste kirchliche Organisationen herauszubilden, was immer auch mit der Einführung von Schriftlichkeit, und zwar lat. verbunden war. Die Christianisierung der im Odergebiet und östlich der Oder siedelnden Pomeranen erfolgte seit 1124 im Auftrag des Polenherzogs Boleslaw und mit Unterstützung des Pommernherzogs Wartislaw I. durch Bischof Otto von Bamberg, der bei seinem Missionierungszug von poln. Adligen und drei poln. Priestern, die ihm bei der Übersetzung des Gotteswortes behilflich sein sollten, begleitet wurde. Nach Bischof Ottos Abreise 1125 wurde das Missionierungswerk von diesen Geistlichen fortgeführt und gefestigt. Diese relativ frühe Christianisierung Pommerns schuf günstige Voraussetzungen für den Landesausbau. Noch im 12. Jh. wurden die ersten Bistümer errichtet (1140 Wollin, 1175 Kammin) und Klöster gegründet (1153 Stolpe, 1154 Grobe, 1173 Kolbatz, 1199 Eldena), die jedoch vorrangig dt. Mönchen vorbehalten waren. Poln. Mönche wurden nur aus den Familien der Gründer oder Wohltäter aufgenommen. Diese Klöster, die zumeist auch die Aufgabe hatten, dt. Dörfer anzulegen, unterstützten durch die Ansiedlung von dt. Bauern die Eindeutschung Pommerns. Verstärkt wurde dieser Prozeß durch dt. Ritter, die von pom. Herzögen als Vasallen ins Land gerufen wurden.
2702 Während die Christianisierung der Pomeranen und der kirchliche Aufbau Pommerns sich weitgehend friedlich gestalteten, weil sie in enger Anlehnung an den heimischen Herrschaftsaufbau erfolgten, war die Christianisierung der an Elbe und Oder lebenden Obodriten und Lutizen nur mit militärischer Eroberung und politischer Neuorganisation zu erreichen. Der als Kreuzzug deklarierte Krieg gegen Obodriten, Lutizen und Teile des christlichen Pommern im Jahre 1147 brachte zwar vorübergehende Erfolge bei der Christianisierung, z. B. die Massentaufe bei Dobbin, verstärkte insgesamt aber nur den Widerstand der Obodriten. Dieser Widerstand richtete sich vor allem auch gegen die Herrschaftsansprüche des Sachsenherzogs Heinrich des Löwen, der den Aufbau einer kirchlichen Organisation mit der politischen Unterwerfung der Obodriten verbinden wollte. Nach dem Tod des Obodritenfürsten Niklot in der Schlacht bei Werle im Jahre 1160 begann das Zusammenbrechen des obodritischen Widerstands, der 1163 unter der Führung der Niklotsöhne zwar erneut aufflammte, 1164 aber mit dem Blutbad in der Festung Mecklenburg gebrochen wurde. Bereits 1160 hatte Heinrich der Löwe mit der Neuordnung der eroberten Territorien, die er als Domäne seines Herzogtums sichern wollte, begonnen. So war er bemüht, die von Kriegszügen verwüsteten und zum Teil entvölkerten Landstriche wieder intensiv bebauen zu lassen. Wegen innenpolitischer Schwierigkeiten mußte er jedoch seine Ziele in Mecklenburg weitgehend verändern. Um sich während der bevorstehenden Kämpfe mit dem sächsischen Adel der Neutralität bzw. der Unterstützung der Obodriten zu versichern, gab Heinrich dem Niklotsohn Pribislaw 1167 den größten Teil des eroberten Obodritenlandes, außer der Stadt und Grafschaft Schwerin, als Lehen zurück. In Lehnsabhängigkeit vom sächsischen Herzog entwickelte sich nun unter einem slaw. Herrschergeschlecht ein obodritischer Teilstaat in Mecklenburg. Unter dem Schutz der Obodriten festigten sich auch die kirchlichen Strukturen, und es wurde mit der Ansiedlung dt. Bauern begonnen. Das Siedlungsgebiet der Ranen auf Rügen blieb bis in die zweite Hälfte des 12. Jh. weitgehend unberührt von der Christianisierungswelle. 1168 eroberten Dänen die Insel, unterstellten sie der Oberhoheit des dän. Königs und gliederten sie dem Bistum Roskilde
XVII. Regionalsprachgeschichte
ein, von wo aus der kirchliche Ausbau Rügens betrieben wurde. Etwa Mitte des 13. Jh. war die Christianisierung der Slawen in Mecklenburg, Pommern und auf Rügen weitgehend abgeschlossen. An der Ostseeküste gab es weiter östlich von Oder und Weichsel aber immer noch nicht-christianisierte Stämme, so wie es dort auch noch freien Boden für dt. Siedler gab. Im weiteren waren es dann nicht mehr verschiedene Kräfte, die Eroberung oder Verbreitung des Christentums betrieben. Schwert und Kreuz lagen nun in einer Hand, in der Hand der dt. Ritterorden. Pommerellen, Preußen und Livland wurden durch die Eroberungs- und Missionierungszüge dieser Orden ebenfalls zu Gebieten, in denen die dt. Sprache über mehrere Jahrhunderte in bestimmten Kommunikationsbereichen Verbreitung fand. Bemühungen, die Pruzzen im Weichselgebiet zu christianisieren, blieben lange Zeit erfolglos. Erst mit der Niederlassung des Zisterzienserordens in Polen, mit der Gründung des Klosters Oliva bei Danzig im Jahre 1178 war eine verbesserte Ausgangssituation für erneute Versuche gegeben. Die von den Zisterziensermönchen ausgehenden Missionierungsversuche wurden vom Papst gefördert. So ernannte er auch einen Mönch aus dem Kloster Oliva zum Bischof von Preußen. Zur Unterstützung der weiteren Christianisierung wurde der 1198/99 gegründete Deutsche Orden ins Land gerufen. Als Gegenleistung für den Schutz des Missionierungswerkes und für die Bekämpfung der heidnischen Pruzzen schenkte Herzog Konrad von Masowien dem Deutschen Orden 1225 das Kulmer Land. Damit war der Grundstein für einen eigenständigen Staat, den späteren Deutschordenstaat, gelegt. Mit immer mächtigeren Eroberungszügen, die jedoch nicht nur auf die heidnischen Territorien der Pruzzen gerichtet waren, und durch geschickte Diplomatie (z. B. 1308 Abkauf der „Rechte“ für die herzogliche Burg Danzig) gelang es dem Orden, einen straff organisierten Staat, der von Mönch-Rittern verwaltet wurde, aufzubauen. 1309, als alle an die Ostsee grenzenden Landstriche zwischen Pommern und Livland dem Orden gehörten, verlegte der Hochmeister des Ordens, Siegfried von Feuchtwangen, seinen Sitz von Venedig zur Marienburg. Die östliche Ostseeküste, Livland ⫺ vom Ende des 12. bis zum 17. Jh. Bezeichnung des Landes zwischen dem Lauf der unteren Düna und dem Finnischen Meerbusen ⫺ rückte mit
183. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen
seinen Völkerschaften erst in der zweiten Hälfte des 12. Jh. näher in das Blickfeld der Deutschen, denn unter den seefahrenden Anrainern hatten zunächst nur die Skandinavier Berührung mit dem Ostbaltikum. Für einen eigenen Ostseehandel fehlte es den Deutschen noch an Voraussetzungen, höchstens als mitfahrende Schiffsgäste konnten sie am Handel teilhaben. So zog es reisende Kaufleute und predigende Missionare nach Livland, bevor dt. Ritterorden dort Fuß faßten. An der Mündung der Düna wurde 1161 eine Kaufmannssiedlung gegründet. Dem Handel folgte bald die Missionierung. Nach Teilerfolgen ⫺ um 1180 ‘Aufsegelung’ Livlands, Beginn der Mission des Segeberger Domherrn Meinhard, des späteren ersten Livenbischofs, 1184 Gründung der ersten Kirche in Uexküll (Lettland) ⫺ stießen die von Bremen ausgesandten Missionare jedoch auf heftigen Widerstand. Nachdem 1198 Meinhards Nachfolger, Bischof Berthold, im Kampf gegen die liv. Heiden gefallen war, wurde die Christianisierung unter militärischem Schutz durchgesetzt. Dem Aufruf des Papstes zum Kreuzzug nach Livland (1199) folgten viele Kreuzfahrer: Adlige, Ritter, Kaufleute. 1201, nach der Gründung der Stadt Riga, verlegte der zum Bischof der Liven ernannte Bremer Domherr Albert seinen Bischofssitz dorthin. 1202 wurde der Orden der Schwertbrüder gestiftet, eine Art stehendes Heer, das den Schutz der eroberten Gebiete und die Unterwerfung der Heiden gewährleisten sollte. So konnte mit Unterstützung der Schwertbrüder die Eroberung des Dünatals und der nordwärts gelegenen Gebiete stetig voranschreiten, und nach den Liven und Letten wurden auch die Esten bezwungen. In der Folgezeit, nach Bischof Alberts Tod, begann für die Schwertbrüder eine Zeit der Rückschläge, der Widerstände und Rivalitäten, die 1236 nach einer vernichtenden militärischen Niederlage (Schlacht bei Saule) mit der Auflösung des Ordens endete. Der Deutsche Orden, dem die überlebenden Schwertbrüder beitraten, übernahm 1237 die Besitzungen und die Aufgabe, die Christianisierung und Kolonialisierung Livlands weiterzuführen. Der Deutsche Orden hatte aufgrund der Größe seines Gebietes, der straffen Verwaltungsgliederung in Komtureien und Vogteien und der gut organisierten Militärmacht das politische und militärische Übergewicht im Lande. Um auf dem flachen Land besser Fuß zu fassen, versuchte der Orden seit dem Ende des 13. und besonders im 14. Jh., weitere dt. Ritter ins
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Land zu holen, was insgesamt aber nur wenig Erfolg hatte. Bis 1450 sind nur 42 Belehnungen bekannt. Einige der belehnten Ritter gaben ihren dt. Familiennamen auf und nahmen den ihres Lehngutes an, z. B. Wrangel, Uexküll, Koskül. 2.2. Bäuerliche Siedlung und Städtegründungen Der Eroberung der Ostseeländer, verbunden mit der Christianisierung ihrer Einwohner, folgte die Kolonisation. In jeder Region verlief dieser Prozeß auf seine eigene Art, denn der Landesausbau wurde von Faktoren beeinflußt, die sehr unterschiedlich sein konnten: die Entfernung zum Altland, die Umstände der Eroberung, die Haltung der einheimischen Bevölkerung, politische Strukturen des neuen Landes, Träger und lenkende Kräfte der Kolonisation. Geleitet und durchgeführt wurde der Landesausbau, mit zeitlichen und regionalen Differenzierungen, von den Landesherren, weltlichen und geistlichen Grundherren, niederen Adligen und ⫺ im wohl direktesten Kontakt mit den Siedlern ⫺ den Lokatoren. Die Lokatoren, als magister incolarum oder cultor (in Mecklenburg) bezeichnet, waren Unternehmer, die im Auftrag ihrer Herren Siedler anzuwerben und Dörfer zu gründen bzw. zu erweitern hatten. Lokatoren, die eigentlichen Stützen der Kolonisation, scheinen eine Besonderheit der Ostexpansion gewesen zu sein. Neben ihren Namen sind mitunter auch ihre Herkunftsorte belegt, z. B. Werner von Paderborn (Poppendorf, 1164), Dietrich von Tiefenau (Pommern, 1236), Konrad von Leiwitz (Kulmerland, 1282). Für ihre Bemühungen als Leiter der Kolonisation „vor Ort“ genossen die Lokatoren gewisse Vergünstigungen, wie z. B. Zuteilung von Land als Erbpacht-Lehen, Befreiung von Abgaben, häufig auch Überlassen des erblichen Amtes des Schulzen im neu gegründeten Dorf, wodurch sie innerhalb der neuen Siedelgemeinschaften eine besondere soziale Stellung einnehmen konnten. Unbestritten ist die Bedeutung der Lokatoren bei der Kolonisation, aber ungeklärt sind noch Fragen, deren Beantwortung auch im Hinblick auf regionalsprachliche Aspekte von Bedeutung sein könnte, z. B.: Wie haben die Lokatoren die Leute angeworben? Aus welchen Regionen haben sie die Siedler zusammengebracht? Woher kamen die notwendigen Finanzmittel? Die neugegründeten, mit Deutschen besiedelten Dörfer wurden zum Teil neben älteren
2704 slaw. Siedlungskernen angelegt. In beyden dorpen to wendesschen retze vnde to dudesschen retze heißt es z. B. 1391 in einer Rostocker Schuldverschreibung. In Mecklenburg lassen sich diese Siedlungsvorgänge bis heute an der Unterscheidung gleichnamiger Orte an den Zusätzen Neu bzw. Alt (Alt-Kalen, Neukalen) oder Deutsch bzw. Wendisch (Deutsch- und Wendisch-Trechow, heute Langen- und KurzenTrechow), später häufig umgewandelt in Groß bzw. Klein (Groß- und Klein-Poserin), ablesen. Eine bedeutsame Rolle, nicht nur für die Christianisierung, sondern auch für die Landerschließung kam den christlichen Konventen zu, insbesondere dem Orden der Zisterzienser, der von seiner Regel her die Voraussetzungen besaß, ein ländlicher Orden zu werden. Weiterhin waren besonders aktiv die Prämonstratenser, Augustiner und Franziskaner. Klostergründungen förderten nicht nur die Ausbreitung des Christentums. Wo diese Klöster ansiedelten, wurden sie auch zu Zentren der Neulanderschließung und der Besiedlung. Die Abteien verfügten zumeist über einen großen Landbesitz, oftmals sogar über unbebautes Land. So benötigten sie Arbeitskräfte, um Wälder und Sümpfe zu erschließen. Durch eine Erhöhung der Anzahl neuer Pächter konnten für die Kirche auch die Einnahmen des Kirchenzehnten steigen. Die Orden der Augustiner und Franziskaner ließen sich vor allem in den neugegründeten Städten nieder. Landerschließung und -ausbau mit Hilfe dt. bäuerlicher Siedler findet sich von Mecklenburg über Pommern bis ins ostpreußische Ordensland. Im Baltikum ist es dagegen zu keinem Landesausbau mit dt. Bauern gekommen. Trotz der Aufrufe der Deutschordensritter und der in Aussicht gestellten Belehnung mit Gütern kamen keine dt. Siedler ins Land. Zur Erklärung dieser ausbleibenden positiven Resonanz verweist Mitzka (1937, 16) auf die besonderen zeitgenössischen regional-politischen Voraussetzungen. Das liv. Ordensland ist von den ostpreußischen dt. Siedlungsgebieten durch „die litauische bis zum Meer querliegende Sperre […] abgeriegelt“. Die Besiedlung konnte deshalb nicht über Land, sondern nur über See erfolgen, was für den bäuerlichen Siedler damals nicht machbar war. Den inzwischen mehr oder weniger eingedeutschten liv. seniores terre und anderen nobiles war es aufgrund dieser besonderen Gegebenheiten deshalb möglich, als Lehnsträger des Bischofs und des Ordens in den dt. Vasallenstand aufgenommen zu wer-
XVII. Regionalsprachgeschichte
den. Somit gingen die grundherrlichen Rechte und Pflichten auf die Vasallen über, die sich zu einem starken adligen Stand entwickelt hatten. Die Unterschichten der liv. Gesellschaft ⫺ Sklaven (Drellen) und Pächter ⫺ blieben an ihre Grundherrschaften gebunden und bestellten neben der freien einheimischen Bauernschaft das Land. Dt. bäuerliche Siedlung fehlte also in Livland. Ende des 13. Jh. bis in die Mitte des 14. Jh. folgten hingegen schwed. Siedler dem Aufruf des Bischofs von Ösel und besiedelten die Küsten Estlands und die Insel Ösel. Noch ungenügend erforscht sind spätere regional unterschiedlich stark ausgeprägte Bevölkerungsbewegungen, die Einfluß auf die regionale Sprachentwicklung genommen haben, z. B. zog der Deutsche Orden außer dt. Siedlern auch poln., Masowier, ins Land, oder die planmäßige Ansiedlung von Niederländern zum Deichbau im Weichselgebiet, der Zuzug der Mennoniten usw. Landesausbau und Städtegründung schritten im ond. Neuland gleichzeitig voran. Die Stadtgründungsvorgänge waren ein vor allem von Kaufleuten und Handwerkern getragener Vorgang, der durch die jeweiligen Landesherren gefördert worden ist. Häufig wurden dabei bereits bestehende Kaufmannssiedlungen genutzt, die von Slawen, Pruzzen, Liven, Esten ⫺ häufig verbunden mit starkem skand. Einfluß ⫺ aufgebaut worden waren, d. h. in deren unmittelbarer Nähe wird eine dt. Niederlassung angelegt. Zu den slaw. Stadtkern-Vorformen gibt es bis ins 12. Jh. wenige schriftliche Quellen, so daß hier vor allem auf Forschungen der Archäologie aufgebaut werden muß. Auch die große Zahl slaw. Ortsnamen ⫺ in Mecklenburg beispielsweise ⫺, denen gegenüber die dt. Ortsnamenprägungen in der Minderzahl blieben, zeugt vom Vorhandensein derartiger Siedlungen. Die dt. Niederlassungen überflügeln in ihrer Bedeutung innerhalb weniger Jahre die alten Siedlungen. Im 13. Jh. erfolgt dann zumeist die Bewidmung mit einem Stadtrecht. Hammel-Kiesow (1998, 246 f.) hebt hervor, daß seit dem 12. Jh. die Einbeziehung der älteren Siedlungsteile und die Wachstumsphasen unterschiedlich verlaufen. Nach Variante 1 werden die Erweiterungen sofort in das Stadtgebiet eingebunden. Oft bilden sich dadurch schlechter gestellte Vorstädte heraus (z. B. Elbing). Zumeist entwickelten sich jedoch nach Variante 2 nebeneinanderliegende selbständige Bürgergemeinden mit eigenem Recht, eigenen Ratskollegien, zum Teil mit eigenen
183. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen
Pfarrkirchen und eigenen Städtemauern. So kommt es zur Bildung von Doppel-, Dreifach- oder sogar Mehrfachstädten, was auch hinsichtlich der Sprachsituation interessante Aspekte bietet, wie das Beispiel Danzig zeigt. In Danzig dominiert im 14. Jh. das Nd., beruhend auf der vorherrschenden Stellung der Rechtstadt, während das Md. seinen Ausgangspunkt in der Altstadt, Jungstadt und in den Vorstädten nimmt. Die Beziehungen dieser Teilstädte zum Deutschen Orden und zum näheren Umland stützen den Gebrauch des Md. (vgl. ten Venne 1998). An der meckl. und vpom. Küste erfolgte noch im 13. Jh. die Vereinigung der verschiedenen Städte(teile) zu einer Stadt, während dieser Zusammenschluß in anderen Städten Jahrhunderte dauern konnte, so in Königsberg erst 1724. Ein wichtiger Aspekt im Hinblick auf die Geschichte der Sprachentwicklung ist zweifelsohne neben dem der Förderung von Schriftlichkeit und ihren entsprechenden Institutionen (Kanzleien, Schulen) die Bewidmung der Städte mit einem Stadtrecht, was in Hunderten von neugegründeten Städten die Ausbreitung eines dt. Stadtrechts bedeutete. Die Wahl des Stadtrechts ⫺ im Ond. zumeist das Lübische oder das Magdeburger Recht ⫺ war abhängig von den mitgebrachten Rechtsvorstellungen der Bürger oder dem Einfluß des Stadtherren. Es lassen sich im ond. Siedlungsgebiet Stadtrechtskreise ausmachen: Entlang der Ostseeküste bis nach Reval gilt zumeist das Lübische Recht, das entweder direkt oder über die Vermittlung Rostocks und Greifswalds verliehen wird. Im Binnenland gewinnt das Magdeburger Recht an Einfluß, einschließlich seiner unterschiedlichen Ausprägungen: Parchimer, Schweriner, Brandenburger, Stettiner Recht. Die Bedeutung der Ausbreitung eines Stadtrechts ist vor allem in seinen Auswirkungen, auch sprachlichen, zu sehen: Gleichheit der formulierten Rechtsvorschriften, Parallelität der Prozeßführung u. ä. Wenn auch der Anteil der einzelnen Nationalitäten im ond. Raum zwischen dem 13. und 15. Jh. von Stadt zu Stadt beträchtlich schwanken konnte, so wurden die Städte schnell zu Zentren des dt. Einflusses, denn die dt. Sprache wurde ⫺ zunächst neben dem Lat. ⫺ schnell die Sprache der Verwaltung und des wirtschaftlichen Lebens. 2.3. Regionale und soziale Herkunft der Siedler Die Frage nach der Herkunft der Siedler, insbesondere die Frage nach ihrer Stammhei-
2705
mat, wurde in den Forschungen zum ond. Sprachraum wiederholt gestellt, z. B.: Bahlow 1933; Bischoff 1966; Lasch 1925; 21987; Mitzka 1955; Penners 1964; Riemann 1965; Rosenfeld 1956; Teuchert 1957/58, 1959. Schriftliche Quellenzeugnisse, die Auskunft geben können über den Umfang der bäuerlichen dt. Ostsiedlung, über die Stammeszugehörigkeit und die Heimat der Siedler sind sehr spärlich. Der zeitgenössische Chronist Helmold von Bosau berichtet von Westfalen, die von Graf Heinrich von Ratzeburg, der von Heinrich dem Löwen eingesetzt worden war, gerufen wurden, „damit sie das Land bewohnen sollten, und wies ihnen Grund und Boden zur Vermessung und Aufteilung zu. Sie bauten Kirchen und leisteten den Zehnten von ihren Erzeugnissen …“ (1983, I/91 f.). Zur bäuerlichen Ostsiedlung sind direkte schriftliche Nachrichten, z. B. Lokationsoder Schenkungsurkunden mit konkreten Angaben zur Herkunft der Siedler, äußerst selten, weshalb zur Klärung dieser Fragen auch extralinguistische Zeugnisse wie Hinweise aus ländlichen Rechten, aus bäuerlichen Dorf- und Feldstrukturen, aus Hausund Kirchenbau herangezogen wurden. Diese Aussagen genügen insgesamt jedoch nicht, um der ond. Sprachgeschichte von ihrer Besiedlungsgeschichte her eine tragfähige Grundlage zu schaffen. Der Versuch, ursprüngliche Siedlungsverhältnisse und damalige Sprachzustände aus der modernen Dialektgeographie, z. B. den Wortkarten des Deutschen Wortatlas (vgl. Mitzka 1955) oder den Lautkarten des Deutschen Sprachatlas, eindeutig ablesen zu wollen (vgl. Teuchert 1957/58, 1959), ist nicht unproblematisch. Zwischen Besiedlungszeit und Erfassungszeit des Vergleichsmaterials liegen Jahrhunderte gesellschaftlicher, auch weiterer siedlungsgeschichtlicher und sprachlicher Entwicklung, so daß die Kartenbilder nicht als Widerspiegelungen der wortgeographischen Situation zum Ende der mittelalterlichen Besiedlungszeit aufgefaßt werden können. Die mittelalterliche deutschsprachige Überlieferung aus dem ond. Raum ist der Sprache der Siedlungszeit zwar zeitlich näher als die Mundart des 19./20. Jh., kann aber keinesfalls als Wiedergabe der Sprache der Siedler aufgefaßt werden (vgl. Lasch 1925), denn erst Generationen nach der Besiedlung, im 14. Jh., hat man begonnen, sich auch in der schriftlichen Kommunikation statt des Lat. der Volkssprache zu bedienen. Ausgleichs- und Vereinheitlichungsprozesse zwischen den Sprachen der
2706 einzelnen Siedlergruppen, aber auch Beeinflussung durch Sprecher aus anderen Sprachgebieten, muß für die Zwischenzeit angenommen werden. Bischoff (1966) plädiert für ein Vorgehen, bei dem sich beide Ansätze ⫺ vergleichende wortgeographische Methode und Erforschung der überlieferten Quellen ⫺ miteinander zum gegenseitigen Ergänzen verbinden, und die aussagekräftigen Ergebnisse der Namenforschung hinzugezogen werden sollten. Aber auch das Einbeziehen von Herkunftsnamen, deren Anteil an den überlieferten Personennamen in den frühen städtischen Quellen zumeist relativ hoch, etwa bei 50 %, liegt, ist nicht ganz unproblematisch. Mit dem Festwerden der Personennamen als Familiennamen sagt der Name nicht in jedem Fall etwas aus über die direkte Herkunft seines Trägers, sondern möglicherweise über dessen Vorfahren. Wird eine Person in Verbindung mit zwei Ortsnamen genannt, so ist ungewiß, welches der eigentliche Herkunftsname ist, z. B. iohannes de kessin dictus de bruneswich (Rostock, 1293) oder iohannes pececowe de rybeniz (Rostock, 1280). Wahrscheinlich ist mit solchen Doppelnennungen außer dem ursprünglichen Heimatort des Benannten bzw. seiner Vorfahren noch eine Zwischenstation angegeben. Bei Personennamen wie gherardus de borneholme (Rostock, 1288) oder hermannus de norwegia (Rostock 1257) wird angenommen, daß hier Handelsbeziehungen zu skand. Ländern bzw. dortige Aufenthalte des Benannten bezeichnet werden. Der Zusatz de norwegia wird in diesem Fall nicht als ein Hinweis auf die Nationalität des Namenträgers gewertet, wohl aber in Fällen wie … slavus/went (Rostock, vor 1257) oder Henniko Pruthenus (Königsberg 1286). Herkunftsnamen sind wohl für einen Teil der Stadtbevölkerung, für die borgere, überliefert. Die Namen anderer städtischer Bevölkerungsschichten, der inwanere, sind kaum erschließbar, und zur Herkunft der Zuwanderer auf dem flachen Land gibt es kaum Quellenhinweise. Auch mit Methoden der Lehnwortforschung konnten die Fragen nach der Herkunft der Siedler und Städtebürger bislang nicht eindeutig beantwortet werden. So konnte der interessante Versuch, über die Analyse mnd. Lehnwörter im Lett. (phonetische/lexikalische Besonderheiten) auf die Gebermundart zu schließen, die aufgrund der Herkunftsnamen in der Forschungsliteratur festgestellte Dominanz westf. Siedler in Let-
XVII. Regionalsprachgeschichte
tisch-Livland nicht bestätigen (vgl. Jordan 1995, 43 f.). Innerhalb des ond. Sprachraums gibt es siedlungsgeschichtlich bedingte regionale Unterschiede im Verhältnis Sprache der Siedler und deutschsprachige Überlieferung aus den städtischen Kanzleien. Für die Regionen Mecklenburg und Pommern wird eine weitgehende Übereinstimmung von Sprache der Siedler/der städtischen Einwohner und schreibsprachlicher mnd. Überlieferung angenommen. Dagegen ist für das preußische Ordensland auf Diskrepanzen zwischen der Sprache der ländlichen Siedlung und der Stadtbevölkerung sowie der überlieferten städtischen Schriftlichkeit aufmerksam gemacht worden. Z. B. ergibt sich nach den Herkunftsnamen der Bürger der Stadt Thorn, daß zunächst vor allem Omd. aus Obersachsen, Thüringen, der Lausitz einwandern: Hans Spremberg, Cunczen Czeycz, Elyzabet von Golicz, Tyme von Leypck, Gabriel von der Neiss, Patricus von Breslaw. Seit Anfang des 14. Jh. nehmen dann Namen zu, die auf nd. und nl. Herkunft hinweisen, vor allem auf Westfalen, z. B. Albrecht von Allen, Johann von Menden, Helle von Essen, Claus von Dorpmunden, Döring von Möstir. Noch 1389 bestand für einwandernde Westfalen ein besonderes Vorrecht: Sie brauchten keinen Geburtsbrief vorzuweisen. Eine soziale Differenzierung entspricht der unterschiedlichen regionalen Herkunft: Während die omd. Bürger überwiegend Handwerker sind, gehören die nd. zur Gruppe der Kaufleute. Deshalb überwiegen um 1400 auch die Westfalen im städtischen Rat, und fast die Hälfte der Einwohner stammt aus dem nd. und nl. Sprachraum. Diese Bevölkerungsstruktur findet in der schreibsprachlichen Überlieferung der Stadt Thorn aber keinen Niederschlag. Grabarek (1997, 122 ff.) weist nach, daß die Sprache der Schöffenbücher des 14. und 15. Jh. mit der omd. Sprache, die in den Kanzleien des Ordenslandes verwendet wurde, übereinstimmt, und es begegnen weder nd. Eintragungen noch lassen sich nd. Interferenzen nachweisen. Auf der Grundlage dieser Schreibsprache läßt sich die Sprache der damaligen Stadtbewohner nicht rekonstruieren. Die Sprache der Landesherrschaft ⫺ der preußische Zweig des Deutschen Ordens ⫺ bestimmte in Thorn die städtische Schreibsprache: omd. Im Herrschaftsbereich des liv. Zweiges des Deutschen Ordens, im Baltikum, galt dagegen nach der Ablösung des Lat. das
183. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen
Nd. als Schreibsprache, was mit der Herkunft der ersten dt. Ritter, Geistlichen und Städtebürger übereinstimmt. Adressatenbezogen bedient sich der Orden jedoch im Schriftverkehr mit den in Preußen ansässigen obersten Behörden des Ordens (Hochmeister, Königsberg) des Hd. Bei gemischter Bevölkerung (nd./md.) ist die schreibsprachliche Überlieferung weiterer westpreußischer Städte ebenfalls rein hd.: Dirschau, Graudenz, Kulm, Mewe, Neuenburg, Neumark, Neuteich, Schöneck, Schwetz, Straßburg und Tuchel, wobei die Zufälligkeiten der Überlieferung stets zu bedenken sind. Aus Hammerstein und Konitz sind neben überwiegend hd. Schreiben einige wenige nd. überliefert. Nur für Schlochau ist von 1433 bis 1510 ein gleichwertiges Nebeneinander von hd. und nd. belegt. Auch östlich der Weichsel, in Elbing, wird überwiegend omd. geschrieben, obwohl die Mehrzahl der Herkunftsnamen nach Westfalen weist. Zwar gibt es im Kämmereibuch von 1404 ein Nebeneinander von hd. und nd., z. B. vor 3 slosle und alde slote to vorbeteren …, die Masse des Schrifttums dieser Hansestadt und gleichzeitigen Komtureisitzes des Deutschen Ordens, ist omd. Die überlieferte Schriftlichkeit der im nd. Siedlungsgebiet an der Passarge gelegenen Stadt Braunsberg ist überwiegend ebenfalls md.; 1400 ergehen jedoch Schreiben an die Stadt Reval in nd. Sprache. Für Königsberg ist neben einigen nd. Privatschreiben und Hanse-Urkunden nur md. Schriftlichkeit überliefert. Wenn auch die Frage nach der sozialen und beruflichen Zusammensetzung der „Ostseewanderer“ (Penners, 1964) noch nicht vollständig geklärt ist, so zeichnet sich wie in Thorn in vielen Städten eine Differenzierung ab: Die Kaufleute stammen überwiegend aus dem Altland westlich der Elbe, insbesondere aus Westfalen, während die Handwerker häufig ofäl.-nnsächs. oder in späterer Zeit ond. Herkunft sind. 2.4. Einheimische und Siedler Unterschiedliche Auffassungen zur Art der Siedlungsbewegung ⫺ von ideellen Ausgangspunkten im Altland ausgehend, wellenartiges Vorstoßen der Siedlungsbahnen in Richtung Osten oder im Kolonisationsgebiet Binnensiedlung, die Insel- und Horstsiedlungen verbindet ⫺ sind nicht als sich widersprechend anzusehen (Stellmacher 1980). Sie charakterisieren das nicht gleichförmig verlaufende Siedlungsgeschehen, das für die sprach-
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liche Entwicklung Prozesse der Mischung und des Ausgleichs ermöglichte, in die auch die Sprachen der einheimischen Bevölkerung einbezogen sein können. In Mecklenburg und in großen Teilen Pommerns ist es durch Assimilation der slaw. Bevölkerung, deren Anteil für das 13. Jh. auf etwa die Hälfte der damaligen Landesbewohner geschätzt wird (Witte 1906), zur Ausbildung der Neustämme der Mecklenburger und Pommern gekommen, was letztendlich mit dem Aufgeben der heimischen Sprache verbunden war. Auf der Insel Rügen soll die letzte wendisch sprechende Frau um 1404 gestorben sein, wie Thomas Kantzow in seiner Chronik von Pommern berichtet. Das Wendische wird in der Jabelheide, südwestlich von Ludwigslust, noch im Jahr 1521 erwähnt. Heute aber sind die slaw. Sprachen dieses Gebietes nur noch aus Befunden der Orts-, Flur- und Personennamenforschung sowie der Lehnwortforschung erschließbar. In vom Altland weit entfernten Gegenden, die zudem aufgrund landschaftlicher Gegebenheiten ⫺ Sümpfe, Urwald u. ä. ⫺ nur wenig von dt. Besiedlung beeinflußt wurden, so daß es nicht zur Ausbildung einer geschlossenen Siedlungsfläche kam, gab es für den Erhalt der heimischen Sprachen günstigere Voraussetzungen. So konnte sich in Hinterpommern und in der Danziger Gegend das Pomoranische (Kaschubisch und Slowenzisch) bis heute als selbständige Sprache behaupten, wenn auch nur in geringer Verbreitung. Das Altpreußische, die Sprache der Pruzzen, ist noch Mitte des 16. Jh. in einem zweisprachigen Druck (dt./altpreußisch) schriftlich überliefert: jnn vndeudscher Preußnischer sprach/ wie die vff Samland … gebreuchlich. Die zwei Auflagen von Luthers Kleinem Katechismus (Königsberg 1542, 1545) sind nicht für die des Lesens unkundigen pruzzischen Bauern gedacht, sondern für die des Altpreußischen nicht mächtigen dt. Pfarrer zur Unterstützung ihrer seelsorgerischen Arbeit. In der Vorrede zur zweiten, überarbeiteten Auflage wird auf lokale Besonderheiten der Aussprache der preussen auff Natangen … vmb Welaw … und Sudawen hingewiesen. Trotz dieser Verschriftlichung hat sich das Pruzzische nicht gehalten, im 17. Jh. ist es auch als gesprochene Sprache ausgestorben. Die einheimische bäuerliche Bevölkerung übernahm in einem lang andauernden Prozeß der Angleichung das Nd. (Niederpreußisch) ihrer dt. bäuerlichen Nachbarn, nicht das Hd. der Adligen und der Städtebürger.
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XVII. Regionalsprachgeschichte
Im Baltikum hat sich das Fehlen der bäuerlichen dt. Siedlung positiv auf den Erhalt der Sprachen (Lettisch, Estnisch) ausgewirkt, denn es fehlte eine der einheimischen bäuerlichen Bevölkerung sozial entsprechende dt. Gruppe, die den Prozeß der Angleichung gefördert hätte.
3.
Aspekte einer Sprachgeschichte des Ond.: Beispiel Mecklenburg
Seit dem Eintritt Mecklenburgs in die deutsche Sprachgeschichte dominierte in dieser Region das Nd. bis zur Mitte des 20. Jh. als Sprechsprache (mnd., nnd.), als Schreibsprache (mnd.) im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Situative, funktionale und soziale sowie mediale Differenzierungen im Gebrauch des Nd. wurden anhand schriftlicher Überlieferung und metasprachlicher Aussagen festgestellt. Neben dem Nd. besaßen in der Region Mecklenburg im Spätmittelalter das Lat. und Slaw. und seit der Neuzeit das Hd. kommunikative Bedeutung. Darstellbar ist diese Entwicklung nach verschiedenen Kriterien: Nach den gesellschaftlich relevanten Bereichen und Institutionen, nach den Kommunikationsbereichen, nach Textsorten, nach soziologischen Gesichtspunkten, nach den in der Region verwendeten Sprachen. Die Strukturierung der Sprachgeschichte Mecklenburgs nach dem Kriterium der in dieser Region in der schriftlichen und mündlichen Kommunikation vorwiegend verwendeten Sprachen ergibt folgende grobe Phaseneinteilung, wobei berücksichtigt sei, daß es zu den Hauptprozessen auch immer wieder Nebenentwicklungen und Ausnahmen gibt. Die mit ( ) gekennzeichneten Sprachformen deuten einen sozial und/oder funktional eingeschränkten Gebrauch an. Phase 1: 1160⫺1300 Schreibsprache: Lat. Sprechsprache: Slaw., Nd., (Lat.) Phase 2: 1300⫺1450 Schreibsprache: Lat. ⇒ Nd., Nd., (Lat.) Sprechsprache: Nd., (Slaw.), (Lat.), (Hd.?) Phase 3: 1450⫺1600 Schreibsprache: Nd., Nd. ⇒ Hd., (Lat.) Sprechsprache: Nd., (Hd.), (Lat.) Phase 4: 1600⫺1800 Schreibsprache: Hd., (Nd.) Sprechsprache: Nd., (Hd.)
Phase 5: 1800⫺Mitte 20. Jh. Schreibsprache: Hd., (Nd.) Sprechsprache: Nd. ⇒ Hd., (Nd.)
Phase 1 beginnt mit der ersten dt. Städtegründung in Mecklenburg: Schwerin. Bis gegen Ende des 13. Jh. sind die überlieferten Texte lat.: Urkunden, Stadtbücher, die in das Wismarer Stadtbuch von 1272 eingetragene Chronik. Undatierte nd. Eintragungen im Wismarer (25 ⫻ M. 13. Jh.) und Rostocker Stadtbuch (4 ⫻ Ende 13. Jh.) stehen isoliert. In den lat. Urkunden begegnen seit dem 13. Jh. einzelne dt. Lexeme, bei denen offenbar das Lat. nicht ausreichte, z. B. … teloneum vel in justum debitum, quod in vulgo u ngelt dicitur (Parchim 1248) oder … sic a ligonum laboribus debet ampliari, quod in vulgo sonat raden (Parchim 1282). In der mündlichen Kommunikation kann ein Nebeneinander von Slaw. und Nd. vermutet werden, bei Kommunikationsereignissen mit stärker offiziellem Charakter (Kirche, Politik) wird das Lat. sicher eine Rolle gespielt haben. Ob es zwischen den nd. Mundarten der dt. Siedler und Städtebürger unterschiedlicher Herkunft schon Prozesse in Richtung auf eine mecklenburgische Ausgleichsmundart gegeben hat, läßt sich nicht belegen. Der Germanisierungsprozeß der einheimischen Bevölkerung wird durch die religiöse und sprachliche Anpassung der Slawen an die neuen Verhältnisse beschleunigt, z. B. frühzeitige Übernahme dt. Namen bei slaw. Adligen. Dennoch hat das Slaw. in vielen Familien- und Ortsnamen (vor allem auf -ow, -in, -itz, wie in Güstrow, Schwerin, Strelitz, aber auch in Rostock und Doberan) deutliche Spuren hinterlassen. Bis auf wenige fachsprachliche Wörter wie Zeese oder Jonicke für spezielle Fischernetze fehlen im mecklenburgischen Nd. slaw. Relikte. Phase 2 ist durch den Übergang vom Lat. zum Nd. in einigen Textsorten geprägt: Bei den Urkunden gehen Fürsten und Adlige voran: 1290 erste nd. Fürstenurkunde, um die Jahrhundertmitte Gleichgewicht lat. : nd. Urkunden, seit Ende des 14. Jh. nur noch vereinzelte lat. Die Städte beginnen später nd. zu urkunden: 1312 Parchim, 1326 Schwerin, 1332 Rostock, 1333 Neubrandenburg; Ende des 14. Jh. überwiegt das Nd. Eine Ausnahme bildet die Stadt Neukloster, für die von 1404⫺1529 7 Urkunden, und zwar alle lat., überliefert sind. In den Textsorten innerstädtischer Schriftlichkeit wird erst später das Lat. aufgegeben. Stadtbücher: Schwerin ab 1424, Rostock ab 1480 mit vereinzelten Eintragungen 1390, 1439, 1449, Wismarer Zeugebücher
183. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostniederdeutschen
ab 1486, Grundbücher ab 1521. Bei den Ordnungstexten hält Wismar ebenfalls länger am Lat. fest: Burspraken bis 1453 lat., mit vereinzelten nd. Einfügungen; erst ab 1480 nd. In Rostock ab 1400 nd., mit Vorläufern 1354⫺ 1356; nd. Luxusordnung für Stadtdörfer 1421, Gerichtsordnung M. 15. Jh. In diese Phase fällt auch die Gründung der Universität Rostock (1419), die über den nd. Raum hinaus Bedeutung hatte. Ein Bruch mit der lat. Schreibpraxis der Universität scheint auf den Einfluß der Stadt Rostock, die neben der Kirche und den Landesfürsten an der Gründung beteiligt war, zurückzugehen: Auf Wunsch des Rostocker Rates wird in die Statuten der Universität ein Artikel eingearbeitet, der das Verhältnis zwischen Stadt und Universität regelte. Ebenso wie die Verhandlungskorrespondenz mit dem Rostocker Rat ist der in die Statuten eingearbeitete Artikel XX nd. (Hampel 1999). Hd. Dichtung ist als Auftragswerk Herzogs Albrecht II. entstanden: die von dem hess. Adligen Ernst von Kirchberg verfaßte „Mecklenburgische Reimchronik“ (1378/79). Das Verständnis des Hd. kann für die Fürsten angenommen werden, denn sie besaßen Handschriften mhd. Dichtungen und seit dem 13. Jh. lebten und wirkten fahrende hd. Sänger (Rumesland, Heinrich von Meißen) am Fürstenhof. Steinmann (1937, 233) vermutet deshalb, daß man „wohl wenigstens für gewisse Zeitabschnitte, vom Vorhandensein einer mhd. Dichtersprache, ja vielleicht auch von einer mhd. Hofsprache in Mecklenburg“ reden kann. In der mündlichen Kommunikation kann aber für alle anderen sozialen Schichten von einer Dominanz des Nd. ausgegangen werden, und von sozial, funktional und regional differenziertem Gebrauch des Lat. und Slaw. In Phase 3 dominiert zunächst das Nd. in allen Bereichen der schriftlichen und mündlichen Kommunikation. Das „Redentiner Osterspiel“ (1464) und die nd. Lieder und Sprüche des wahrscheinlich von Rostocker Studenten aufgezeichneten „Rostocker Liederbuches“ (ca. 1487) sind Beispiele für nd. Dichtungen der Region. Der Wechsel zur hd. Schreibsprache beginnt Ende des 15. Jh. und kann, mit sozialen und funktionalen Differenzierungen um 1600 für Mecklenburg als abgeschlossen gelten (Dahl, Gernentz, Steinmann, Rösler). In der mündlichen Kommunikation dominiert in dieser Phase noch das Nd., was zu einer medialen funktionalen Diglossiesituation führt (Rösler), weshalb in den Schulen und in der Kirche noch bis ca.
2709
1640 nd. Drucke (Fibeln, Rechenbücher, Wörterbücher, Katechismen, Gesangbücher) genutzt werden. Der nd. Prediger Joachim Slüter und der aus dem hd. Raum stammende Nathan Chyträus berücksichtigen dies in ihrem Schaffen. In Phase 4 wird in der schriftlichen Kommunikation fast ausnahmslos ⫺ bis auf die Bereiche Schule und Kirche ⫺ das Hd. verwendet, neben gelegentlichem Lat. in der Rechtsprechung. Die gedruckten nd. Gelegenheitsdichtungen (Hochzeitsgedichte, Flugschrift zum 30jährigen Krieg) sind als verschriftete Mundart einzuschätzen. Zunehmende Zweisprachigkeit (hd./nd.) ermöglicht es den sozialen Oberschichten, in der mündlichen Kommunikation situativ und funktional die Sprachform zu wechseln, während bäuerliche und städtische Unterschichten sich nur des Nd. bedienen können. Diese Situation wird in der Dissertation des Bernhard Raupach „De linguae saxoniae inferioris neglectu atque contemtu injusto“ (Rostock 1704) thematisiert und findet künstlerische Bearbeitung in dem Schuldrama des Jochim Schlue „Isaac“ (Rostock 1606) und in Johann Laurembergs „Niederdeutschen Scherzgedichten“ (Rostock 1652). In Phase 5 setzt sich diese Diglossiesituation fort. Der Anteil derjenigen, die in der mündlichen Kommunikation das Hd. bevorzugen, vergrößert sich und kann bei fehlenden Bildungsvoraussetzungen zum „Missingsch“ führen. An dem Meinungsstreit über die Existenzberechtigung des Nd. beteiligen sich auch Mecklenburger (Flörke, Pries) mit unterschiedlichen Auffassungen. Für die Mecklenburger Fritz Reuter, John Brinckman u. a. bietet das Nd. eine Möglichkeit, sich in besonderer Art und Weise künstlerisch-literarisch auszudrücken. Mit den Merkmalen des Sprachsystems befassen sich J. Mussäus „Versuch einer plattdeutschen Sprachlehre mit besonderer Berücksichtigung der mecklenburgischen Mundart“ (Neustrelitz/Neubrandenburg 1829), J. Ritter „Grammatik der mecklenburgischplattdeutschen Mundart“ (Rostock/Schwerin 1832), J. Wiggers „Grammatik der plattdeutschen Sprache. In Grundlage der Mecklenburgisch-Vorpommerschen Mundart“ (Leipzig 1857) und K. Nerger „Grammatik des meklenburgischen Dialektes älterer und neuerer Zeit“ (Leipzig 1869). Bei J. Wiggers begegnet der Hinweis auf die relative Einheitlichkeit des Nd. in Mecklenburg und Vorpommern, die sich auch in den Karten des DWA und des DSA bestätigt
2710
XVII. Regionalsprachgeschichte
und auf eine weithin gemeinsame Besiedlung Mecklenburgs und Vorpommerns schließen läßt. Spätere Landesgrenzen haben sich kaum ausgewirkt.
4.
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Irmtraud Rösler, Rostock
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte 1. 2. 3.
6.
Regionale Sprachgeschichte Römisches Rheinland Der Aufbau der fränkischen Sprachlandschaft im Rheinland und die Ausbildung eines rheinischen Schreibdialektes Varietätenwechsel im Rheinland: das 16. Jahrhundert Umrisse einer Sprachgeschichte der Rheinlande seit 1600 Literatur (in Auswahl)
1.
Regionale Sprachgeschichte
4. 5.
Im Zusammenhang mit der von Peter von Polenz propagierten soziopragmatischen Sprachgeschichte (von Polenz 1995) ist auch
das Raumkonzept der dt. Sprachgeschichte in die Diskussion geraten. Problematisiert wird dabei die lange Zeit nicht hinterfragte Annahme, daß, wie Wiesinger es formuliert, „die Beurteilung der Sprachentwicklung letztlich teleologisch auf den rezenten Sprachzustand ausgerichtet (ist)“ (Wiesinger 1990, 403). Konsequenz dieser ⫺ anachronistischen ⫺ Annahme ist für die Gestaltung der dt. Sprachgeschichtsdarstellungen, daß von allen in der dt. Sprachgemeinschaft ablaufenden linguistischen und soziolinguistischen Entwicklungen nur diejenigen von sprachhistorischem Interesse sind, die für die Ausformung der späteren Standardsprache von Bedeutung sind. Nun stellt man sich die Ausbildung der dt. Standardsprache zwar
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte
tatsächlich als einen Auswahl- und Ausgleichsprozeß vor, in dem über Jahrhunderte hinweg die Sprachlichkeit verschiedener Landschaften dominierende Bedeutung für den Ausbau des Standardmodells gehabt hat. Jeweils zu unterschiedlichen Zeiten gab es etwa Einfluß des Oobd. (im 15./16. Jh.), des Omd. (im 17./18. Jh.) und des Ndt. (18. Jh.). Und zumindest seit dem 16. Jh. gab es in dem neuerdings von Reichmann skizzierten Prozeß der Vertikalisierung (Reichmann 1990), einen Entwicklungsfaktor, durch den derartige Auswahlen aus verschiedenen Landschaftssprachen strukturiert wurden. Doch darf eine soziopragmatisch orientierte Sprachgeschichte des Dt. über diese massiv im 16. Jh. einsetzenden Vertikalisierungsprozesse nicht vergessen, daß daneben die Varietäten der einzelnen Regionen ihre eigene, oftmals schon jahrhundertealte Geschichte hatten, die sich auch nach der Konzipierung einer Standardnorm weiter entwikkelte. Unter einem regionalsprachlichen Aspekt gesehen ist das ‘Engagement’ einer Regionalsprache in einem Vertikalisierungsprozeß in der Regel von peripherer Bedeutung. Hier zeichnet sich also neben der Sprachgeschichte als Geschichte der Herausbildung und Institutionalisierung einer Standardsprache ein zweiter Gegenstandsbereich einer soziopragmatischen Sprachgeschichte des Dt. ab: die regionale Sprachgeschichte. Derartige Überlegungen können forschungshistorisch zumindest an zwei Traditionen einer regionalen Betrachtung der dt. Sprachgeschichte ansetzen (Mattheier 1998, 145). Einmal ist hier die historische Dialektologie zu nennen, durch die schon im 19. Jh. historische Grammatiken der großen dt. Dialektlandschaften erarbeitet worden sind. Als zweiter Ansatz kann das Kulturraumkonzept von Theodor Frings genannt werden, durch das eine sprach- und kulturhistorische Fundierung der dialektgeographisch erkennbaren Regionen versucht wurde (Mattheier 1998, 146). Die soziopragmatische Sprachgeschichte greift diese Konzepte auf und erweitert den diatopischen Raum um eine sozialstilistische Komponente. Die Sprachregion bildet dabei einen soziokommunikativen Handlungs- und Wirkungsraum mit autochthoner Entwicklungsdynamik. Es stellt sich dabei die Frage, ob nicht neben der Einheit ‘Region’ und der im Rahmen der Standardentwicklung relevanten Einheit ‘Nation’ noch weitere soziokommunikative
2713 Handlungs- und Wirkungsräume existieren, die für eine soziopragmatische Sprachgeschichte derartige Handlungsräume vorgeben. Zumindest könnte die ‘Stadt’ ein solcher Raum sein, in dem dann die Stadtsprache sich linguistisch und soziolinguistisch entfaltet. Nun ist die sozialgeographische Analysekategorie ‘Region’ bisher noch kein Konzept, das im Zusammenhang mit sprachhistorischen Entwicklungen bedeutsam ist. Für die Definition einer Region werden allgemein drei Bestimmungsstücke vorgegeben: Die räumliche Identität, die Charakterisierung durch eine Reihe von bedeutsamen gemeinsamen Merkmalen der in dieser Region Lebenden und ⫺ besonders wichtig ⫺ einer Reihe von identitätsbildenden, d. h. auch im Bewußtsein der Gruppenmitglieder als regionstypisch verzeichneten Merkmale (Veither 1987/1988, 97). Macht man sich ⫺ ausgerüstet mit einem solchen Begriffskonzept ⫺ auf die Suche nach einer Region ‘Rheinland’ in Vergangenheit oder Gegenwart, so kommt man schnell in Schwierigkeiten. Schon seit der ersten historisch greifbaren Raumbildung im Umfeld des Rheines ⫺ der Gliederung in die römischen Provinzen Germania superior und Germania inferior ⫺ werden unter dem Konzept ‘Region Rheinland’ sehr unterschiedliche Raumbildungen verstanden. Es scheint unmöglich zu sein, mit dem Konzept ‘Rheinland’ in historisch weiter zurückliegenden Epochen eine feste Raumvorstellung zu verbinden (Mattheier 1998, 78⫺79). Erst zu Beginn des 19. Jhs. entsteht im Zusammenhang mit der Herausbildung des ‘preußischen Rheinlands’ ein Raumkonzept, an dem sich von da an fast alle rheinischen Raumvorstellungen orientieren, wobei etwa der Südbereich ⫺ mit der Nahe als Grenze und der Ausgliederung des Mainzer Raumes ⫺ deutlich von früheren ‘Rheinland-Vorstellungen’ abweicht. Dieses Konzept der Rheinlande als preußischer Rheinprovinz wird dann im 19. Jh. auf verschiedenen Ebenen ausgebaut und institutionalisiert. In diesem Prozeß wird zur Verfestigung einer ‘rheinischen’ Identität insbesondere auf die historische Dimension des Rheinlandes verwiesen. Die junge und von verschiedenen Seiten angefochtene historisch-politische Einheit ‘preußisches Rheinland’ sucht ihre Position durch Rückgriffe auf vermeintlich ‘uralte’ regionale Traditionen in den Rheinlanden abzusichern. In den damit angesprochenen Zusammenhang gehört letztlich auch die Gründung von Institutionen, wie etwa dem Institut für ge-
2714 schichtliche Landeskunde der Rheinlande sowie anderer landeshistorischer Institutionen, deren primäre Aufgabe gerade die Erforschung der vorpreußischen und sogar bis in die Römerzeit zurückreichenden Traditionen ‘der Rheinlande’ gewesen ist. Welche Rolle spielt nun die Sprachlichkeit bei der Ausbildung und Verfestigung des Regionenkonzeptes? Grundlegend ist hier ⫺ auch mit Blick auf die sozialgeographische Definition der Region ⫺ daß Sprachregionen sich in der Regel dadurch bilden, daß Bevölkerungsgruppen, die mit einer bestimmten Sprachlichkeit, in unserem Fall mit verschiedenen Varianten des Frk., ausgestattet sind, sich in einem festen Siedlungsraum ansiedeln. Dadurch ist schon einmal ein Ansatzpunkt für die Verbindung eines bestimmten geographischen Raumes mit einer Bevölkerung, die als gemeinsames Merkmal eine ähnliche Sprache hat, gegeben. In der Folgezeit bildet ein derartiger Kultur- bzw. Sozialraum häufig den Rahmen für sprachliche und dialektgeographische Ausgleichsprozesse, die zu einer noch weitergehenden sprachlichen Angleichung und zugleich Abgrenzung von Nachbarregionen führen und einen Kulturraum entstehen lassen. Derartige Ausgleichsprozesse kann man sich innersprachlich motiviert, aber auch in gesellschaftliche Entwicklungen eingebettet vorstellen. Jedoch stellen die räumliche Verankerung einer Region und ihre Ausgestaltung mit gemeinsam geteilten Merkmalen ⫺ in unserem Fall einer geteilten Sprachlichkeit ⫺ nur den äußeren Bedingungsrahmen für die Ausbildung eines regionalen Identitätsbewußtseins innerhalb der Bevölkerung der Region. So wird man, solange es nicht ein ‘Rheinlandbewußtsein’ gibt, das unter anderem über gemeinsam geteilte Sprachlichkeit, aber auch über eine Fülle von anderen soziokulturellen Markierungen symbolisiert wird, nur mit Einschränkungen von einer soziokulturellen Region ‘Rheinland’ sprechen können. Andererseits weist die geteilte Sprachlichkeit aber auch auf den soziokommunikativen Raum zurück, aus dem die Region dann schließlich erwachsen ist. Der theoretisch-methodische Ansatzpunkt für die sprachhistorische Skizzierung einer Sprachregion ‘Rheinland’ ist das von von Polenz propagierte soziopragmatische Konzept der Sprachgeschichte. Das bedeutet, daß hier nicht die Geschichte der rhein. Sprache im Zentrum der Darstellung steht. Thema ist die Geschichte der Sprachlichkeit im Rheinland,
XVII. Regionalsprachgeschichte
wozu natürlich neben der frk. geprägten Basisvarietät auch die anderen in diesem Raum wirksamen Varietäten und Sprachen gehören, also etwa das Lat., das Frz. und auch das Jidd. Daß einige dieser Bereiche in der hier vorgelegten Darstellung letztlich doch nur sehr kurz behandelt werden, liegt in erster Linie an noch fehlenden Forschungen.
2.
Römisches Rheinland
Vor dem Hintergrund der allgemeinen Überlegungen zur Existenzweise und zur historischen Entwicklung von regionalen Sprachen stellt sich für das Rheinland die Frage, ob die etwa vierhundertjährige Entwicklung des Rheinlandes in röm. Zeit innerhalb einer sprachhistorischen Darstellung des Rheinlandes mitbehandelt werden soll. Sicherlich bildet das röm. Rheinland zwischen der Zeitenwende und dem Beginn des 5. Jhs. eine historische Region, insofern sie ein Ergebnis soziokommunikativen Handelns und zugleich Gegenstand eines weitausgreifenden Reflexionsprozesses über diesen Raum darstellt. Andererseits wird man von einem Beginn rhein., also mfrk. und nfrk. Sprachlichkeit, erst nach der frk. Landnahme im 5. Jahrhundert sprechen können. Wäre die Zielsetzung dieses Beitrages eine Geschichte der rhein. Sprache, so wäre ein Einsetzen mit der frk. Landnahme durchaus sinnvoll. Gegenstand der Darstellung soll jedoch eine Sprachgeschichte des Rheinlandes sein. Und die historische Region ‘Rheinland’, die mit der Eroberung durch Rom zum ersten Mal geschichtsmächtig wird, umfaßt natürlich nicht nur die Entwicklung des Frk., sondern alle Varietäten und Sprachen, die früher wie heute das Rheinland geprägt haben und prägen, soweit sie quellenmäßig überhaupt greifbar sind. Es wird allgemein davon ausgegangen (Ewig 1980, von Petrikovits 1978), daß der Raum des späteren röm. Rheinlandes und sein rechtsrhein. Vorland bis zur Eroberung durch die röm. Legionen um die Zeitenwende dominant kelt. besiedelt waren. Und es hat auch nach den archäologischen Funden den Anschein, daß Römer und Germanen um diese Zeit fast gleichzeitig von Westen und von Osten in den Raum vorgedrungen sind. Was die kelt. Vorbesiedlung betrifft, von der etwa die riesigen Ringfestungen zeugen, so nimmt man eine relativ geschlossene Siedlung nur von Süden bis etwa zur Main-/Nahelinie an. Die davon nördlich liegenden Regionen
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte
weisen neben der kelt. Besiedlung auch andere Besiedlungs- und Kulturformen auf, die teils auf frühe germ. Besiedlung auch des linksrhein. Gebiets, teils auch auf nichtgerm., aber indoeuropäische Vorbesiedlung hindeuten (Kuhn 1973, 1974). Sowohl der archäologische Befund als auch der frühe Namensbestand weisen für die nördlichen Regionen des Rheinlandes auf eine sehr enge Verzahnung des Kelt. und des Germ. hin. Die rechtsrhein. Gebiete waren zur Zeitenwende im Norden des Rheinlandes schon weitgehend germ. besiedelt. In dieser Situation setzt mit der im Bellum Gallicum geschilderten Auseinandersetzung Caesars mit kelt. und germ. Völkern am Rhein die röm. Eroberung der Rheinlande ein. Nach dem Scheitern von Plänen, die röm. Reichsgrenze noch weiter in die rechtsrhein. Gebiete zu verlegen, konsolidierte sich dann als ‘Römisches Rheinland’ in der frühen Kaiserzeit ein Raum, der das gesamte linksrh. Gebiet und rechtsrhein. einen Grenzsaum von 50 bis 100 Kilometer umfaßte. Im Jahre 83 bzw. 90 wurde die damals befriedete Militärregion Rheinland in zwei Provinzen gegliedert: die Germania superior mit Mainz als zentralem Ort und die Germania inferior mit Köln als Vorort. Grenzfluß zwischen beiden ist der Vinxtbach (= ad fines) in der Nähe von Andernach. Schon früher war der stark keltisierte Raum um Trier in die das röm. Rheinland westlich begrenzende Provinz Gallia Belgica eingegliedert worden. Hier zeichnet sich schon zu Beginn der darzustellenden Gesamtentwicklung einer historischen bzw. soziolinguistischen Region Rheinland die für das Rheinland typische dreigliedrige Binnenstruktur mit den drei administrativen Zentren Köln, Mainz und Trier ab. Nach einer Konsolidierungsphase in der frühen Kaiserzeit, die um 90 n. Chr. mit dem Bau des Limes abgeschlossen wurde, entwikkelten sich die röm. Provinzen am Rhein weitgehend ungestört über Jahrhunderte hinweg, unterbrochen nur durch die Germanenkrise um 280. Die zweite krisenhafte Entwicklung in der Geschichte des röm. Rheinlandes seit dem Beginn des 5. Jhs. fiel dann schon mit der allgemeinen Krise des röm. Reiches zusammen und beendet die Existenz der röm. Rheinlande. Beide Krisen entstehen im Zusammenhang mit dem massiven Vordringen germ. Völkerschaften aus dem rechtsrhein. Gebiet. Während der etwa 400 Jahre Entwicklung der drei rhein. Provinzen müssen drei sprach-
2715 historische Prozesse abgelaufen sein. Einmal muß der kelt. Anteil an der Sprachlichkeit der Rheinlande immer weiter zurückgedrängt worden sein, wobei wohl Trier eines der letzten Zentren der kelt. Sprachen im Rheinland gewesen ist (Kleiber/Pfister 1992, 12⫺15; Post 1982, 24⫺30). Die zweite soziolinguistische Entwicklung, die für diese Epoche anzunehmen ist, ist die allgemeine kulturelle und daher wohl auch kommunikative Romanisierung sowie die zunehmende Verbreitung der lat. Sprache als Schrift- und auch als Sprechsprache bei einer immer größeren Bevölkerungsgruppe. Die dritte hier zu nennende Entwicklung steht mit der zweiten in Konkurrenz: es handelt sich um eine zunehmende Germanisierung, eine Erhöhung des Anteils an germ. Sprache sprechenden Bevölkerungsgruppen. Über das Miteinander und wohl auch Gegeneinander dieser drei Sprachentwicklungen gibt es keine direkten Informationen. Die Romanisierung des Rheinlandes erfolgte zuerst einmal über den über lange Perioden offensichtlich wachsenden Anteil von lat. sprechenden Zuwanderern und ihrer die lat. Tradition pflegenden Familien. Das Lat. existierte im röm. Rheinland ⫺ zumindest in den ersten Jahrhunderten ⫺ als eindeutige HVarietät, die wahrscheinlich noch durch ein sehr hohes Sprachprestige gestützt wurde. Nicht abzuschätzen ist, in welchem Ausmaß in den verschiedenen Entwicklungsphasen des röm. Rheinlandes die lat. Sprache sich auch durch Sprachwechsel von kelt. und germ. sprechenden Bevölkerungsgruppen verbreitet hat. Denkt man jedoch, in welchen Bereichen die Romanisierung einheimischer Bevölkerung am weitesten fortgeschritten war, so wird man auch Sprachwechselentwicklungen mit Sicherheit annehmen können. Die zentralen Institutionen der kulturellen und sprachlichen Romanisierung waren das Militär, die Zivilverwaltung und die massive Urbanisierung durch Gründung zahlreicher Städte unterschiedlichen Status. Deshalb müssen wir auch davon ausgehen, daß es innerhalb der röm. Rheinlande einen Stadt-/Landgegensatz mit soziolinguistischen Implikationen gegeben hat, wobei die Städte die Zentren der lat. Sprache bildeten. Erst in dem Maße, in dem die röm. Besiedlung in späterer Zeit auch auf das Land und die Landwirtschaft übergriff, dringt das Lat.Rom. auch in die bäuerlichen Schichten ein. Dabei ist insbesondere an die von den Römern selbst initiierten Sonderkulturen, wie
2716 etwa den Weinbau an der Mosel, zu denken. Zuletzt hat Rudolf Post (1982) durch seine Untersuchung der röm. Sprachinfiltrate in rhein. Dialekten überzeugend gezeigt, daß es etwa im Moselkeil eine weitgehend romanische oder romanisierte Bevölkerung über Jahrhunderte und wohl auch noch bis weit in die germ.-dt. Zeit hinein gegeben hat. Die im Rheinland verbreitetste Sprache war in den ersten Jahrhunderten sicherlich das Latein im schriftlichen Bereich und seine verschiedenen gesprochenen Varietäten. Wie in anderen Provinzregionen auch durchlief dieses gesprochene Latein eine Reihe von Sprachveränderungen (Post, 264⫺269), sowohl auf lautlicher als auch auf morphologischer Ebene, die die dann einsetzende Romanisierung des Lat. auslösten. Solche Entwicklungen zeigen sich etwa auf Inschriften der Zeit, aber sie finden auch ihren Niederschlag in entlehnten Formen heutiger rhein. Dialekte (Kleiber/Pfister 1992, 71⫺85). Die zentrale soziolinguistische Frage, die wir jedoch voraussichtlich nie werden beantworten können, ist die nach der genauen diatopisch-diastratisch-diaphasischen Verbreitung lat.-rom. Sprachlichkeit im Gegensatz zu den germ. Sprachen, also die sprachliche Architektur dieses Raumes. Auch stellt sich die Frage, ob es ⫺ was in einer solchen Konstellation durchaus wahrscheinlich ist ⫺ nicht auch pidginartige Mischsprachen zwischen dem dominierenden Lat. und den lokalen Volkssprachen gegeben hat. Der hohe rom. Lehnwortanteil, gerade im landwirtschaftlichen Spezialwortschatz, den Rudolf Post nachgewiesen hat, scheint durchaus in diese Richtung zu deuten. Der soziokulturelle und kommunikative Romanisierungsprozeß steht über die gesamten lat. Jahrhunderte des Rheinlandes in direkter Konkurrenz zu einem Germanisierungsprozeß. Schon in der Besiedlung der vorröm. Zeit haben wir es zumindest in den nördlichen Teilen mit einer kelt.-germ. Mischsiedlung zu tun, in der der kelt. Anteil wohl dominierte und die germ. Völkerschaften deutliche Keltisierungsmerkmale zeigen. Für unsere Fragestellung wichtiger ist die sprachliche Entwicklung der schon vor der Zeitenwende auf die linke Rheinseite einsiedelnden oder zwangsangesiedelten Germanenvölker. So wurden etwa schon 38 v. Chr. durch den Statthalter von Gallien, Agrippa, die Ubier (von Petrikovits 1978, 59 f.) in den Raum zwischen dem heutigen Düsseldorf und dem Vinxtbach, der späteren Grenze
XVII. Regionalsprachgeschichte
zwischen den beiden Provinzen, angesiedelt. Diese germ. Bevölkerungsgruppe hatte 58 v. Chr. Caesar um Schutz vor den nach Westen drängenden Sueben gebeten. Diese Praxis führte ebenso wie die zwangsweise Ansiedlung von germ. Völkern seit der älteren Kaiserzeit zu einer langsamen Verstärkung des germ. Bevölkerungsteils im röm. Rheinland. Die Namensgebung und auch die archäologischen Funde weisen darauf hin, daß auch diese Gruppen von Anfang an einem starken Keltisierungs- und insbesondere Romanisierungsdruck ausgesetzt waren. Ob sie ihre Sprache bis zur endgültigen Germanisierung des linken Rheinufers bewahren konnten, dafür gibt es keinerlei Hinweise (Schützeichel 1976, 60). Die zwangsweise oder freiwillige Ansiedlung von germ. Völkerschaften aus dem rechtsrhein. freien Germanien ist eine Praxis, die die röm. Provinzialverwaltung auch in den folgenden Jahrhunderten beibehalten hat. Insbesondere in den krisenhaften Entwicklungsphasen um 280 und nach 400 sind größere germ. Gruppen an- und auch umgesiedelt worden. Man kann davon ausgehen, daß Gruppen, die auf diese Weise und teilweise auch noch in geschlossenen Siedlungsverbänden angesiedelt worden sind, ihrer Volkssprache besonders lange angehangen haben. Und in diesen Gruppen wird man auch die Sprecher zu suchen haben, die ihre germ. Sprache an ihre Kinder weitergegeben haben und auf diese Weise neben dem Lat. verschiedene germ. Dialekte auch während der Römerherrschaft bewahrten. Das zweite Einfallstor von Germanen und ihrer Sprachlichkeit in die linksrhein. röm. Provinzen war das Militär. So waren etwa schon von der zweiten Hälfte des 1. Jhs. an die meisten Dekurionen der rhein. Provinzen Germanen. Was die Sprachlichkeit angeht, so wird man bei dieser Gruppe eher als bei den geschlossen siedelnden Gruppen davon ausgehen, daß sie ihre germ. Sprachen aufgegeben haben. Wir werden in röm. Zeit im Rheinland mit flächenhafter und bäuerlich verankerter Besiedlung und germ. Sprache rechnen können. Dabei muß offen bleiben, ob sich in einigen Teilregionen eine germ. Besiedlungskontinuität aus der vor- und frühröm. Zeit zeigt, oder ob ⫺ was sicherlich für den größten Teil des röm. Rheinlandes zu erwarten ist ⫺ der Beginn der dauer- und flächenhaften Germanisierung mit der ersten Germanenkrise um 280 zusammenfällt. Die Entwicklung findet ihren
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte
Abschluß in dem endgültigen Zusammenbruch der röm. Reichsgewalt am Rhein seit Beginn des 5. Jahrhunderts.
3.
Der Aufbau der fränkischen Sprachlandschaft im Rheinland und die Ausbildung eines fränkischen Schreibdialektes
3.1. Die Neustammbildung der Franken und die Besiedlung der Rheinlande Eine für die weitere Entwicklung sehr bedeutsame Veränderung in der ethnischen Struktur der Völkerschaften im Rheinland beginnt schon tief in der röm. Phase des Rheinlandes (Ewig 1980). Im 3. und 4. Jh. verändert sich die ethnische Struktur, soweit sie sich im Namen für verschiedene Völkerschaften niederschlägt. Im rechtsrhein. freien Germanien werden die vielen Namen für verschiedene Völkerschaften, die bis dahin überliefert sind, also etwa die Brukterer, Chamaven, Chattvarier, Amsivarier, Tenkterer und Usipeter, ersetzt durch die Bezeichnung ‘Franke’. Die Peutingerschen Tafeln, in denen man den Zustand des 4. Jahrhunderts abgebildet sieht, haben die Bezeichnungen ‘Francia’ und ‘Chamavi qui est Franci’. Sie zeigen aber auch noch die ‘Bructeri’. Diese Entwicklung läuft parallel zu ähnlichen Vorgängen in anderen Regionen, die zu den Neustämmen der Sachsen, der Alemannen und der Thüringer führen. Man geht im allgemeinen davon aus, daß es sich um Aktionsverbände in der Phase der Völkerwanderung handelt. Ob dabei auch sippenmäßiger Kontakt oder ein Kulturverband mitgewirkt hat, ist offen. Fest steht jedoch, daß etwa bei den Alemannen die Verbindung zu den Sueben noch lange im ethnischen Bewußtsein erhalten blieb. Denn Gregor von Tours (Staab 1975, von Petrikovits 1978, 230) schreibt noch im 7. Jahrhundert von den ‘Suebe id est Alamanni’. Auch führte die Gruppierung zu Großstämmen wie den Franken in der Anfangsphase wohl nicht zu administrativen Zusammenschlüssen. Denn neben der Bezeichnung ‘Franke’ sind uns auch Bezeichnungen für Teilgruppen überliefert, etwa bei Sidonius die ‘Ribuarii’, die ‘Masuarii’ und die ‘Hasbanienses’, die teilweise Kleinkönigreiche bildeten. Erst durch die merowingischen Eroberungen entsteht dann ein einheitliches Frankenreich. Die von den Franken abgeleitete Bezeichnung ‘Francia’ taucht zum ersten Mal beim Kosmograph von Ravenna auf, der im 7. Jh. teil-
2717 weise weit ältere Konstellationen darstellt. Bei ihm ist von der ‘Francia rinensis’ die Rede, einem Raum, der die Germania Secunda, die Belgica Prima und die nördlichen Teile der Germania prima bis südlich von Mainz umfaßt. Diese Raumkonstellation, die als erste in etwa die spätere Vorstellung von den Rheinlanden umreißt, spiegelt nach Ewig in etwa die Raumverhältnisse vor den Auseinandersetzungen Chlodwigs mit den Alemannen um 500 wider (Ewig 1980, 9 f. und Karte S. 11). 3.1.1. Die fränkische Besiedlung der Rheinlande Die frk. Besiedlung der Rheinlande beginnt nach einer längeren Phase der Eroberung und des Zusammenbruchs röm. Herrschaft am Rhein in den ersten Jahrzehnten des 5. Jhs. Dabei sollte nicht außer acht gelassen werden, daß sowohl im Rheinland als auch weiter westlich schon vorher größere frk. Bevölkerungsteile fest angesiedelt worden sind, sei es als Foederati, als Kriegsgefangene oder in Militärsiedlungen. Und es wird auch zu berücksichtigen sein, daß die meisten Franken, die nach 400 die Rheingrenze überschreiten, aus rechtsrhein. Regionen stammen, die teilweise lange Erfahrungen und Kontakt mit dem röm. Rheinland haben. Für die Besiedlung der damals eroberten Räume sind die folgenden Jahrhunderte anzusetzen, insbesondere die Phase nach dem Ausgreifen der Merowinger auf die neue Ostregion ihres Reiches. Über die sprachlichen und sprachsoziologischen Konstellationen dieser Besiedlungszeit lassen die Quellen leider so gut wie nichts erkennen. Weder ist sicher, daß die unterschiedlichen eroberten Regionen jeweils von zusammengehörigen Sippenverbänden besiedelt worden sind, noch ob schon in der Siedlungsphase mit einer extremen Mischung der Bevölkerung, eventuell sogar auch nichtfrk. Bevölkerung zu rechnen ist. Auch umstritten ist die These von der Besiedlung in zwei Etappen, wobei die zweite Besiedlung eine Sekundärbesiedlung im Rahmen einer West-Ost-Bewegung aus dem westfrk. Raum in Richtung Mittelrhein gewesen ist (Schützeichel 1976, 82). Einzig über den soziolinguistisch sehr interessanten Ablösungsprozeß des Lat.-Rom. durch das Fränkische ist man durch die Analyse von Entlehnungsprozessen und Namen etwas besser informiert. Es handelt sich hier um einen Sprachumlagerungsprozeß. Da nach allem, was wir wissen, die Eroberung
2718 der Rheinlande durch die Franken nicht zu einer Vertreibung der romanischsprechenden Bevölkerungsteile geführt hat, müssen wir in diesen Regionen mit einem Sprachwechsel der Bevölkerung rechnen. In Konstellation der direkten Konfrontation von Frk. und Rom., also wenn romanischsprechende Bauern einen neuen fränkischsprechenden Herrn erhalten, und wenn die Zahl der siedelnden Franken groß genug gewesen ist, wird man mit einem unmittelbaren Sprachwechsel innerhalb von zwei bis drei Generationen rechnen müssen. Verschiedene Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, daß sich, zumindest in acht Regionen des Rheinlandes, eine Kontinuität rom. Besiedlung auch an der Sprache nachweisen läßt: es handelt sich um die Moselgegend unterhalb von Trier, das Maifeld, den Hunsrück bei Castellaun, den Hochwald nördlich der Saar, das Gebiet um Prüm, Contwig und den Mittelrhein um St. Goar und Boppard. In diesen Regionen müssen bis mindestens in das 9., eventuell jedoch auch bis in das 12./13. Jh. romanischsprechende Bevölkerungsgruppen gelebt haben. Das läßt sich unter anderem an einer Reihe von lautlichen Erscheinungen im dialektalen Wortschatz beziehungsweise in den Flurnamen erkennen. Diese Sprachinseln stehen, wie Haubrichs zuletzt gezeigt hat (1987), in dem umfassenden Zusammenhang der Ausbildung der dt.-rom. Sprachgrenzen als einer Ausgleichsgrenze. Denn im Bereich der altlothr.-ostfrz. Dialekte lassen sich in derselben Zeit ähnliche frk. Sprachinseln erkennen, die ebenfalls nach und nach aufgelöst werden. Mit der Ausbildung dieser germ.-rom. Westgrenze findet der rhein. Raum schon in seiner frühen Zeit eine stabile Westgrenze. Zu der inneren linguistischen Strukturierung liefert ebenfalls die Untersuchung des frk.-rom. Sprachkontaktes in früherer Zeit interessante Forschungsergebnisse. Die Untersuchungen Rudolf Posts über die diatopische Verbreitung von Entlehnungen aus dem Rom. in die rhein. Dialekte läßt deutlich erkennen (Post 1982; Klein 2000, 8⫺10), daß die Binnendifferenzierung der rhein. Lehnwortlandschaft teilweise schon in röm. Zeit anzusetzen und somit älter als der Rheinische Fächer ist. Besonders deutlich tritt dabei die Hunsrückschranke und die Ahrschranke hervor, an der etwa die rom. Lehnwörter nördl. Söller auf südl. Speicher sowie nördl. Partsche auf südl. Kelter trifft. In denselben Zusammenhang gehören die Beobachtungen von Jan Goossens (Goossens
XVII. Regionalsprachgeschichte
1988; Klein 2000, 9⫺11), daß nicht nur Lehnwortareale zeitlich bis in die provinzialröm. Zeit zurückreichen, sondern auch die Wortgeographie die frk. Landnahme überdauert hat (Klein 2000, 10). Eine solche Weitergabe von rom. Dialektstrukturen setzt nach Klein (2000, 11) längere intensive Sprachkontaktphasen zwischen den ethnischen Gruppen voraus. Dieser Befund ergänzt neuere Forschungen der Archäologie, nach denen von einem Kulturabriß durch die frk. Landnahme nicht mehr die Rede sein kann. Eher ist mit einem über mehr als drei Generationen gehenden soziokulturellen Umlagerungsprozeß zu rechnen, in dem aber wichtige Basisstrukturen noch lange erhalten blieben. Diese und andere Forschungen zwingen uns, die frk. Sprache, die mit der Landnahme in den Rheinlanden Verbreitung fand, als diatopisch differenziert anzusehen und als Dialekträume bildend, deren Lage und Begrenzungen schon provinzialrömisch vorgeprägt waren. Die Anfangsphase der historischen Entwicklung des Frk. in den Rheinlanden ist ein in der Forschung sehr umstrittener Fragekomplex. Ohne Zweifel durchlaufen die in den verschiedenen Dialekträumen des Rhein. verbreiteten Varietäten noch in der Völkerwanderungszeit verschiedene Wandlungsprozesse, die dann die strukturelle und die diatopische Gliederung entstehen lassen, die die Dialekte der Rheinlande in den folgenden Jahrhunderten geprägt haben. In der Forschungsdiskussion stehen insbesondere der Konsonantismus und hier die von der II. Lautverschiebung erfaßten Teile des Obstruentensystems im Zentrum (Schützeichel 1976; Klein 2000, 14 f.; Schwerdt 2000). Ausgangspunkt muß sicherlich der schriftliche Anfangsbefund im Rheinland im 8. und 9. Jh. sein ⫺ wenn man nicht auf die manchmal nicht klar zu deutenden Entlehnungsbeziehungen zurückgreifen will. Dieser Anfangsbefund zeigt eine Mischung von verschobenen und unverschobenen Formen. In der Deutung des Befundes stehen sich die Vertreter einer autochthonen Lautentwicklung und die einer Lautverschiebung durch wellenförmig sich entfaltende Kontaktprozesse gegenüber. Für die erste Gruppe (vgl. Schützeichel 1976) zeigen die Verschiebungsfälle die durchgeführte II. Lautverschiebung in der frk. Form. Unverschobene Formen werden auf verschiedene Weise als isolierte Ausnahmen betrachtet. Der auf Strahlung basierende Ansatz Theodor Frings (Frings 1956, Bd. 2, 123) geht von einem in der frü-
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte
hen Zeit unverschobenen Sprachzustand im Rheinland aus, in dem sich schon erste verschobene Infiltrate finden, die aus dem Süden übernommen worden sind. Während nach der Schützeichelthese die II. Lautverschiebung dann im 9. Jh. abgeschlossen ist, erreicht die verschiebende Sprachwelle aus dem Süden nach der Fringsthese erst im 11. Jh. Köln und verebbt dann an der Benrather Linie. Bei einer Bewertung dieses Befundes, die hier keinesfalls geleistet werden kann, wird man einmal die doch teilweise sehr große Systematizität in Rechnung zu stellen haben, mit der seit dem 9. Jh. in den rhein. Dialekträumen der Verschiebungszustand in der jeweils diatopisch gebotenen Form für das Rip. und das Mslfrk. erreicht, aber auch selten überschritten wird, so daß hyperkorrekte Formen entstünden. Weiter sollte noch ein dialektgeographisches und ein damit verbundenes soziolinguistisches Argument nicht außer acht gelassen werden. Einmal hat Froeßl (1950) überzeugend gezeigt, daß das Rheinland in den ersten Jahrhunderten und bis ins 12. Jh. hinein eindeutig durch eine Nord-Süd-Strahlung geprägt ist, die sich etwa in der Süd-Ausbreitung von Wörtern wie /ossen/ gegen /ochsen/ zeigt. Erst im 13. Jh. scheint hier ein Umlagerungsprozeß zu beginnen, der dann die für das Spätmittelalter typische Süd-Nord-Strahlung entstehen läßt, die etwa für den Mainzer Raum und auch von Schützeichel für den mittelrhein. Raum um Koblenz festgestellt worden ist. Mit diesem Befund in sprachsoziologischen Verbindungen kann ohne Zweifel das in der Diskussion um die II. Lautverschiebung immer wieder genannte soziolinguistische Argument stehen. Eine Sprachstrahlung ist, das zeigen allgemeine soziolinguistische Befunde durchweg, in der Regel eingebettet in ein gesellschaftliches bzw. historisch-politisches Wertgefälle, das die Richtung der Strahlung festlegt. Nun ist das frühe und das hohe Mittelalter sicherlich nicht geprägt durch ein gesellschaftliches und politisches Übergewicht des Südens. Franken, Sachsen und Salier sind diejenigen, die die regionalen Strahlungszentren wohl eher im Norden verankern. Und ein Wechsel in dieser Gewichtsverteilung im Deutschen Reich setzt erst mit der Ausbildung des Staufischen Reiches im 12. Jh. ein. Alles das scheint darauf hinzudeuten, daß wir als sprachlichen Ausgangspunkt für die Entwicklung des Rhein.-Frk. mit Einsetzen der Schriftlichkeit eine lautverschobene Varietät ‘Fränkisch’ anzusetzen ha-
2719 ben, die ihrerseits wohl schon in dieser Anfangsphase die uns dann aus dem Spätmittelalter bekannte Fächerstruktur aufwies. 3.2. Ausbildung und Konsolidierung des rheinisch-fränkischen Schreibdialekts bis zum 15. Jahrhundert Die Varietäten des Rhein., die seit dem 9. Jh. durch schriftliche Überlieferung erkennbar werden, weisen charakteristische soziolinguistische und linguistische Strukturen auf. Einmal ist die rhein. Sprachgemeinschaft auch in diesen Jahrhunderten noch massiv durch Zweisprachigkeit geprägt. Im Bereich der Schriftlichkeit stehen sich spätestens seit dem Beginn des 9. Jhs. das Lat. und erste Versuche, auch die Volkssprache zu schreiben, gegenüber. Dabei durchläuft das geschriebene Lat. im Umfeld der karolingischen Renaissance einen Reformprozeß (Fleckenstein 1953), der die Verwilderung des merowingischen und frühkarolingischen Lat. überall im Frankenreich zurückschneidet. Nur war diese lat. Schriftlichkeit weitestgehend auf die gebildete Geistlichkeit beschränkt. Die lat. Schriftlichkeit war im Rheinland wie überall weitgehend auf einen recht engen Domänenausschnitt beschränkt: Verwaltungstexte, theologische Texte, Missionstexte und schon sehr früh auch Literatur im engeren Sinn. Volkssprachige Schriftlichkeit ist aus dem Raum Echternach-Trier-Aachen-Köln in Ansätzen seit dem 8. Jh. überliefert. Neben den von Norbert Kruse (1976) herausgearbeiteten Kölner Texten, die alle eine sehr komplexe Überlieferungslage aufweisen, sind hier zu nennen: Psalm 1-3.6 der Wachtendonckschen Psalmen, das Trierer Capitular und die Trierer Sprüche (Klein 2000, 14). Hinzu kommt jedoch ein sehr reiches und mit den Griffelglossen des Maihinger Evangeliars auch weit in das 8. Jh. zurückreichendes Glossen- und Namenmaterial, das in seiner Masse jedoch eher den spätahd. Sprachstand in den Rheinlanden spiegelt. Dieser frühe volkssprachige Ansatz bricht im Rheinland wie auch in anderen Regionen des frk. Reiches im späten 9. Jh. zusammen. Volkssprachige Schriftlichkeit gibt es nur noch in der Glossierungstätigkeit und auch hier nur reduziert gegenüber dem 9. Jh. Als Gründe dafür werden neben der historisch-politischen Unruhe des 10. und beginnenden 11. Jhs. wohl auch der Übergang der Herrschaft an die bildungsferneren Sachsen angesehen.
2720 Über die soziolinguistischen Konstellationen im Bereich der gesprochenen Sprache fehlen so gut wie alle Informationen. Sicher ist, daß sich im Rheinland Regionen mit stark verdichtetem rom. Lehnwortgut noch bis weit in das Mittelalter erhalten haben und man geht allgemein von der Existenz rom. sprechender Sprachinseln in diesen Regionen aus. Die am weitesten verbreitete gesprochene Varietät wird das Frk. in seinen jeweiligen dialektalen Varianten gewesen sein, das auch Grundlage für die volkssprachige Schriftlichkeit war. In welchem Ausmaß von welchen Personengruppen das Lat. auch gesprochen worden ist, ob es in den rom. Sprachinseln etwa sogar eine lat.-rom. Diglossie gegeben hat, darüber kann man nur spekulieren. Daß es eventuell sogar Konfrontationen zwischen dem romanisch- und dem fränkischsprechenden Teil der Bevölkerung gegeben hat, darauf deutet als vereinzelter Beleg die Erzählung des Wandalbert von Prüm, nach der ein frk. Adliger namens Reginari nach 750 sich weigerte, Romanen überhaupt nur zu sehen: „omnes Romanae nationis ac linguae homines ita quodam gentilicio odio execraretur (…)“ (Staab 1975, 5). Hier wird, auch nach der Deutung von R. Wenskus (1965, 209), erkennbar, daß Reginari die Sprache als ethnisches Kennzeichen „in krankhaft übertriebener Weise“ empfand. Insgesamt muß der frühe Ansatz einer quellenbasierten Sprachgeschichte in den Rheinlanden wie auch im bair. und im alem. Raum als eine isolierte Entwicklung angesehen werden. Vom Beginn einer genuin rhein. literarischen Schriftlichkeit kann erst von Mitte des 12. Jhs. an die Rede sein. Insofern ordnet sich das Rhein. im großen und ganzen in den Rahmen der allgemeinen Entwicklung literarischer Schriftlichkeit im Dt. ein. Diese Literatur gründet auf einer wahrscheinlich reich entfalteten und mündlich überlieferten literarischen Kultur, die keineswegs nur um geistliche Inhalte kreiste. Das wird etwa gleich am Anfang des Annoliedes angedeutet, wenn es dort heißt: wir horten ie dikke singen von alten dingen, wi snelle helide vuhten, wi sie veste burgi brechen, wi sich liebin uuiniscefte schieden, wi riche künige al zegiengen, nu ist zit daz wir dencken, wi wir selbe sulin enden … (Zit. Beckers 1989, 23).
In diesem kleinen Text wird aber auch die Konfrontation zwischen dem weltlichen und dem geistlichen Gegenstand deutlich, die die Anfangsphase einer literarischen Schriftlich-
XVII. Regionalsprachgeschichte
keit nicht nur im Rheinland prägte, insbesondere wenn man bedenkt, daß die Autoren literarischer Werke weitestgehend aus der geistlichen Bildungselite stammten. Neben den weltlichen und geistlichen Texten, die zur Domäne Literatur gezählt werden können, gab es in dieser Phase und bis weit in das 13. Jh. hinein nur sehr vereinzelt volkssprachige Schriftlichkeit in anderen Domänen, also etwa im Bereich der Rechtsbeziehungen oder im Verwaltungsbereich. Und es ist auch eine offene Frage, inwieweit etwa die sich parallel entwickelnde lat. Literatur insbesondere in den Rheinlanden Auswirkungen auf die volkssprachige Literatur gehabt hat. Die Entwicklung der rhein. Literatur ist in jüngster Zeit von Klein (2000) und insbesondere von Beckers (1989) dargestellt worden und kann hier übergangen werden. Was die in der Überlieferung erkennbaren Raumstrukturen des Rhein. als Literatursprache angeht, so kann man mit Beckers (1989, 22) festhalten, daß die Südhälfte der Rheinlande mit den Zentren Trier und besonders Mainz sich eher dem hd. Literaturraum eingliedert, während sich der Kölner Raum in niederlothr. Zusammenhängen orientiert. Das kann man insbesondere etwa in der Behandlung der Karlsepik beobachten, die nach der Heiligsprechung Karls 1165 einen kräftigen Entwicklungsschub erfuhr. Die Literatur ist also der erste Domänenbereich, in dem sich im Rheinland ⫺ wie übrigens auch in anderen Regionen ⫺ die Volkssprache gegenüber dem Lat. einen festen Platz erobert. In einem zweiten Schritt folgt dann etwa von der Mitte des 13. Jhs. an das Ausgreifen der volkssprachigen Schriftlichkeit auf den Bereich der Rechts- und Verwaltungstexte. Dieser Prozeß ist für Köln recht gut erforscht (Hoffmann 1980; Hoffmann/Mattheier 1984) und wird so auch in anderen Regionen des Rheinlandes allenfalls mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung abgelaufen sein. Der Übergangsprozeß vom Lat. zum Rip. im Bereich der Rechts- und Verwaltungstexte verläuft nicht linear. Nach einem frühen Einsatz volkssprachiger Überlieferung seit der Mitte des 13. Jhs. nimmt die Zahl der lat. Texte gegen das Ende des 13. Jhs. wieder zu. Mit Beginn des 14. Jhs. setzt dann ein sich verstärkender Übergangsprozeß ein, der jedoch erst um 1400 im groben abgeschlossen ist. Wir haben es also im Bereich der Verwaltungsschriftlichkeit mit einem Sprachwechsel zu tun, der über 150 Jahre verläuft.
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte
Was die innere soziolinguistische und auch linguistische Struktur dieses Prozesses angeht, so hat Hoffmann (in Hoffmann/Mattheier 2002) Forschungsergebnisse vorgelegt. Er unterscheidet zwei Entwicklungen: eine eher die Urkunden betreffende und eine andere eher auf das Aktenschrifttum der allgemeinen Verwaltung bezogene. Während der Übergang der Urkunden, die in der Regel in festen Traditionszusammenhängen standen, dadurch charakterisiert ist, daß vielfältige sprachliche Übergangsformen und Interferenzen in den Texten des späten Mittelalters auftreten, sind die Verwaltungstextsorten, also die Akten, in der Regel ohne lat. Infiltrate verfaßt. Hier handelt es sich fast immer um Textsorten, die keine vorgängigen lat. Traditionen aufweisen, die also im Zuge der allgemeinen Verschriftlichung der gesellschaftlichen Beziehungen sogleich in dt. Sprache entstanden sind. Zur Erklärung des Sprachwechsels arbeitet Hoffmann fünf Aspekte heraus, die die Rahmenbedingungen dieser Entwicklung darstellen. Einmal werden durch die sich entwickelnde städtische Kultur immer mehr gesellschaftliche Gruppierungen in die Skribalität hineingezogen, die aufgrund ihrer sozialen Position beziehungsweise ihrer Ausbildung keine Lateinkenntnisse haben. Dann unterliegen die städtischen Wirtschaftsbeziehungen einem Verschriftlichungsprozeß, da die schriftliche Dokumentation von Transaktionen sichergestellt sein mußte. Drittens konzentriert sich der Alphabetisierungsprozeß im Bereich der Schule immer mehr auf die Volkssprache. Viertens nimmt ganz allgemein die Produktion der Texte im nichtfunktionalen Bereich zu und es müssen neue Inhalte verarbeitet werden, für die es keine lat. Tradition gibt. Und fünftens schließlich kann man eine allgemeine Aufwertung der Volkssprache gegenüber dem Lat. im späten Ma. beobachten.
Hier setzt die Entwicklung ein, die dann zur Zurückdrängung des Lat. in den Bereich der Theologie führt. In der spätmittelalterlichen Großstadt Köln können diese Entwicklungen durchweg sehr früh und auch auf einer umfangreichen Quellenbasis beobachtet werden. Insbesondere wird hier deutlich, wie sich vom 13. zum 14./15. Jh. auch die Zahl und die Art der Schreibstätten ändern, in denen dieser Übergangsprozeß stattfindet. Haben wir im 13. Jh. ausschließlich die erzbischöfliche und die städtische Kanzlei als Produktionsstätten von Verwaltungsschriftlichkeit, so findet sich ein Jh. später eine Fülle von Verwaltungsschrifttum in den Schreibstätten der grundbuchführenden Sondergemeinden, der hand-
2721 werklichen Ämter, der zahlreichen geistlichen Korporationen und schließlich auch der kaufmännischen Kontore. Die Schriftsprache, die im Rahmen des eben skizzierten Übergangs vom Lat. zur Volkssprache das Lat. ersetzt, ist etwa in Köln der rip. Schreibdialekt, in anderen Teilregionen des Rheinlandes jeweils eine Schreibsprache, die sich mehr oder weniger eng an den Dialekt der Region beziehungsweise des städtischen Zentrums anschließt. Wiederum sind es die Entwicklungen im kölnischen Raum, über die wir aufgrund von Forschungen ⫺ wie neuerdings der Arbeit von Möller (1998) ⫺ genauer informiert sind, so daß diese als Modell für parallele Entwicklungen in anderen Regionen des Rheinlandes dienen müssen. Es ist in erster Linie ein Entwicklungsprozeß, der das Rip. im 14. und 15. Jh. umgestaltet: die Konsolidierung einer köln. Schreibsprache. Die rip. Schreibsprache, die uns in den Texten des 13. und beginnenden 14. Jhs. entgegentritt, ist zumindest im Konsonantismus durch eine deutliche Stabilität gekennzeichnet. Phänomene wie der mfr. Stand der II. Lautverschiebung, die mfr. Kleinwörter, die d-Erhaltung, die b/g-Spirantisierung sowie die Kennform uff sind kategorisch realisiert. Im Bereich des Vokalismus und auch im morphologischen und im lexikalischen Bereich liegt eine teilweise erhebliche Variabilität vor, die sich jedoch nur auf die orthographische Ebene bezieht. Zu nennen ist hier etwa die Schreibung des palatalen/ velaren Frikativs (); /zo/ vs. /zu/; /dun/ vs. /doin/; -onge, -inge, -unge bzw. /alse/, /ase/, /als/, /as/. In solchen Fällen konnte Möller für den Übergang zum 15. Jh. durchweg eine Standardisierung in Form einer Autozentrierung feststellen. Für die /als/-Variable etwa zeigte sich, daß in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. noch die Form zu über 90 % in den Texten dominierte. In der zweiten Hälfte des 15. Jhs. dominiert die rip. Form neben einem sehr kleinen Anteil von -Formen. An diesem Material wird zugleich auch noch eine weitere Entwicklungsbesonderheit erkennbar. Die Entwicklungsrichtung des Rip. ist bis zum Ende des 15. Jhs. keineswegs durch die jeweils parallelen hd. Formen vorgegeben. Die Variablen entwickeln sich offensichtlich nach eigenständigen Strukturvorgaben oder nach regionalspezifischen Interferenzeinflüssen ⫺ im gegebenen Fall etwa aus dem Nordwesten (Mihm 2001 und eine im Entstehen begriffene Arbeit von Karin Salewski).
Der rip. Schreibdialekt um 1500 ist also eindeutig geprägt durch standardartige Normierungen, die eine Varietät mit relativ hoher Homogenität entstehen lassen. Dabei muß man jedoch wahrscheinlich trotz dieser Ent-
2722 wicklung mit einer gewissen internen Schichtung in der Sprachlichkeit der Texte rechnen, je nach Textsorte, sozialer Herkunft der Schreiber und wohl auch Offizialität der Texte. Offizielle Texte aus der Ratkanzlei werden sich in höherem Maße an den Normen orientieren als private Rechnungsbücher (Heinrichs 1961). Das normierte Rip. ist nicht nur innerhalb der Stadt Köln die vorbildliche Varietät. Sie ist auch, das hat Möller (2000) eindrucksvoll herausgearbeitet, für ein weites regionales Umfeld um Köln die Vorbildvarietät gewesen. Dabei finden wir in Kanzleien in Aachen, Jülich/Berg und auch Siegburg im Laufe des 15. Jhs. durchweg einschlägige Formen der Kölnischen Schreibsprache, die sogar die abweichenden autochthonen Formen des 14. Jhs. verdrängen. Kölnischer Spracheinfluß ist im 15. Jh. aber auch noch bis in die Ahrgegend und bis nach Westfalen sowie in weiten Teilen des Rhein-Maas-Raumes festzustellen. In der von der Fringsthese (Frings 1926, 158) beeinflußten Forschung zum Aufbau des Rhein. wurde allgemein davon ausgegangen, daß die Stadt Köln und ihr Umfeld seit etwa 1000 unter dem kontinuierlichen Einfluß südlicher Formen liege. Das ist in dieser Ausschließlichkeit nach den jetzt vorliegenden Forschungsergebnissen nur schwer vorstellbar. Schon Froeßl (1950) hatte im Rheinland eine bedeutsame Nord-Süd-Strömung bis weit in das 12. Jh. hinein festgestellt. Jetzt wird erkennbar, daß einer postulierten SüdNord-Strömung im Rheinland zumindest in seinem von Köln dominierten Nordteil ein festgefügter und weit ausgreifender rip. Sprachblock entgegenstand. Von einem südlichen Einfluß auf den rip. Raum kann bis zum Beginn des 16. Jhs. allenfalls in Einzelfällen die Rede sein. Es ist jedoch noch zu klären, inwieweit derartige Einflüsse von Süden im Trierer und besonders im Mainzer Raum nicht schon eher und auch intensiver eingesetzt haben (Steffen 1995/96, 1988). So hat etwa Schützeichel (1974) gezeigt, daß eine Süd-Nord-Strömung etwa auch in nichtstädtischen Schreibstätten des mittelrhein. Raumes um Koblenz schon seit dem 14. Jh. in Ansätzen erkennbar ist. Obgleich der südliche Einfluß auf das Rip. bis zum Beginn des 16. Jhs. keine sehr zentrale Erscheinung ist, wird doch schon in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. eine Entwicklung erkennbar, die eine Gewichtsverschiebung
XVII. Regionalsprachgeschichte
zwischen dem Rip. und der süddt. Schriftlichkeit andeutet. Möller hat gezeigt, daß köln. Schriftlichkeit, die an süddt. Empfänger gerichtet war, durchweg gemäß der Forderung der Empfängerorientierung in süddt. Form geschrieben war. Dagegen richteten sich süddt. Schreiber, die nach Köln schrieben, in der Regel nicht nach diesem Schreibgebrauch. Möller sieht hier wohl ganz richtig einen Ansatz für eine beginnende Heterozentrierung des Rip., die sich zuerst im Bereich der Sprachbewertung zeigt (Möller 2000, 74 f.).
4.
Varietätenwechsel im Rheinland: das 16. Jahrhundert
Das 16. Jh. ist sowohl für das Rheinland als auch für viele andere norddeutsche Regionen sprachsoziologisch und sprachlich ein Jh. des Umbruchs. Der Jahrhundertanfang ist geprägt durch variantenarme regionale Schreibsprachen insbesondere in den bedeutenderen Städten. Diese Schreibdialekte bilden Orientierungspunkte sowohl für die innerstädtischen Varietäten der mittleren und unteren Gesellschaftsschichten als auch für Schreibstätten und Verwaltungszentren in teilweise sehr großem Umfeld. Zugleich ist die soziolinguistische Konstellation in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. in den meisten mitteleurop. Städten und auch in Köln und Mainz geprägt durch eine weitverbreitete Mehrsprachigkeit und Mehrdialektalität der oberen, am Handel interessierten sozialen Gruppen (Mihm 2001). Fremdsprachige bzw. fremddialektale Varianten, die in Texten dieser Zeit auftauchen, sind keineswegs die Frühbelege einer einsetzenden Varietätenverschiebung (language shift), sondern Ausdruck einer langandauernden und relativ stabilen Mehrsprachigkeit dieser Gruppen. Langfristige Varietätenverschiebungen lassen sich allenfalls innerhalb des Einflußbereiches der stadtsprachigen Zentren erkennen. So kann Mihm (2001, 19) etwa für das Umfeld um Köln zeigen, daß schon seit Beginn des 15. Jhs. die Stadt Ratingen unter kontinuierlichem Einfluß der köln. Leitvarietäten steht. Am Ende der soziolinguistischen Umbruchentwicklung zu Beginn des 17. Jhs. ist ein geschriebenes Rip. nur noch in Relikten in der mittleren bzw. unteren Schriftlichkeit greifbar (Neuss 2000). Diese Entwicklung ist jedoch bisher ausschließlich in den nördli-
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte
chen Teilen des Rheinlandes, also im Einflußbereich von Köln, beobachtet worden. Auf die südlichen Bereiche um Trier und insbesondere um Mainz wird man eine solche Entwicklung allenfalls ansatzweise übertragen können, da man etwa in Mainz mit einer viel längeren und intensiveren Südströmung rechnen muß. Dieser zentrale Varietätenumlagerungsprozeß ist insbesondere für Köln sowohl unter linguistischen als auch unter soziolinguistischen Aspekten verschiedentlich analysiert worden. Die Forschungsergebnisse lassen sich jedoch noch nicht zu einem zusammenhängenden Bild formen. Insbesondere ist anhand des vorliegenden Quellenmaterials nicht klar erkennbar, ob die Varietätenumlagerung zuerst im Bereich der Schriftlichkeit eingesetzt hat und auf der sprechsprachigen Ebene erst später eingetreten ist. Insbesondere die auf der Kritik an Theodor Frings basierende Forschungshypothese von Werner Besch propagiert den Weg über die Schriftlichkeit (Mattheier 1999). Die Umlagerung manifestiert sich dabei in dem Übergang vom rip. Schreibdialekt zum obd.-hd. geprägten Gemeinen Deutschen im Bereich des Buchdrucks, in den Kanzleien und später dann in der privaten Schriftlichkeit. Auf der gesprochenen Ebene war diese Varietät allenfalls präsent, wenn es darum ging, die neue Schriftlichkeit in Bibellesungen und in Predigten hörbar zu machen. In dieser Phase sind die großen Städte des rhein. Raumes durch eine mediale Diglossie geprägt, die an die heutigen Verhältnisse in der Schweiz erinnert. Nun unterscheidet sich die Schweizer Konstellation insofern von der rip., als dort die Bewertungsstrukturen anders verteilt waren. In der Schweiz ist der Dialekt durch eine sehr positive Bewertung gegen Einflüsse durch das Schriftdeutsche gesichert. In Köln gibt es keinen Hinweis auf eine solche Bewertungsstruktur. Das Gemeine Deutsch muß also auch außerhalb der Schriftlichkeit höher bewertet gewesen sein als das Rip. Als alternatives Konzept schlägt Mihm (2001) ⫺ orientiert an allgemeinen Überlegungen zur Sprachkontakttheorie ⫺ eine Funktionserweiterung der obd.-hd. Varietät vor. Ihr Verwendungsfeld erweitert sich über den Bereich der Kommunikation mit Sprechern/Schreibern aus dem Süden hinaus. Sie wird auch innerhalb von Köln selbst verwendet, wobei nicht mehr eine verständnissichernde, sondern eine besondere sozialsymbolische Funk-
2723 tion anzusetzen ist, die mit einem Mehrwert zu tun hat, der sich offensichtlich schon in Ansätzen im 15. Jh. latent entwickelt hat und jetzt dominant wird. Unklar bleibt jedoch, warum es gerade im zweiten und dritten Drittel des 16. Jhs. zu einer solchen Loslösung der Ober- und der Bildungsschichten aus ihrer bis dahin dominanten Loyalität gegenüber der Sprechermehrheit kommt. Wahrscheinlich wird man annehmen müssen, daß im 16. Jh. der Identitätsbezug innerhalb dieser Gesellschaftskreise wechselt. War bis dahin die Heimatstadt der zentrale Identitätspunkt, so tritt im 16. Jh. an ihre Stelle wohl das Deutsche Reich. Hier wird man mit mentalitätsgeschichtlich faßbaren grundlegenden Wandlungen in der Identitätsmodellierung ⫺ zumindest der höheren und der Bildungsschichten ⫺ zu rechnen haben, wie sie auch in anderen Bereichen der kulturellen Entwicklung der Zeit, etwa in der humanistischen Rückbesinnung auf die germ. Wurzeln des Deutschtums oder des Reichspatriotismus ihren Ausdruck finden. Resultat dieser Entwicklung ist eine zunehmende Heterozentrierung des Sprachgebrauchs in Köln und anderen Städten des nördl. Rheinlandes, die sich letztlich einordnen läßt in den von Reichmann (1990) skizzierten allgemeinen Vertikalisierungsprozeß, der die Grundlage für die Ausbildung einer einheitlichen Standardvarietät bildet. Der linguistische und soziolinguistische Ablauf dieser Entwicklung läßt sich sehr grob in drei Phasen einteilen. Die erste Phase ist charakterisiert durch eine sehr starke Mischung von Varianten der rip. und der obd./hd. Varietät. Sowohl innerhalb von Schreibergruppen verschiedener Textsorten als auch bei ein und demselben Schreiber, sowie auch in ein und demselben Text, treten beide Variantengruppen in nicht voraussagbaren Quantitätsverhältnissen auf. Auch lassen sich bisher noch keine klaren Implikationsbeziehungen zwischen verschiedenen Variablen erkennen. Diese Mischungsphase ist übrigens in erster Linie bei geschriebenen Texten vorhanden. In Drucktexten weisen die einzelnen Texte in der Regel nur geringe innere Variationen auf. Dort auftretende Variationen lassen sich meist auf die Vorlageneinflüsse zurückführen. Hinsichtlich der Motivation der Verwendung von Varianten ist in dieser Phase schwer zu entscheiden, ob die sporadische Verwendung von süddt. Neuerungen in einem von der Intention her rip. Text ein Hinweis auf ein erst in Ansätzen bekanntes Obd. ist oder ob der Schreiber bewußt eine obd. Variante an bestimmten exponierten Stellen quasi als Modernitätssignal verwendet. In der zweiten Phase der Umschichtung geht die Intention des Schreibers ausschließlich auf
2724 die moderne obd. Schreibvarietät. Dabei findet hier nicht ⫺ wie in ähnlichen Varietätenkontaktkonstellationen ⫺ ein Ausgleichsprozeß statt, in dem die hohe Variabilität einmal in die eine und einmal in die andere Varietät ausgeglichen wird. Es handelt sich eher um eine Varietätenersetzung, in der an die Stelle der rip. Variante nun in allen Vorkommensfällen die Obd. tritt. Dieser Prozeß wird nun durch das Auftreten einer Reihe von Ripuarismen gestört. Auch hier ist es wieder unklar, ob diese Interferenz auf nicht vollständig erlernte moderne Formen zurückzuführen ist oder auch auf das bewußte Signalisieren von Regionalität oder evtl. auch Traditionalität, Konservativität. Dabei spielt natürlich die Schulbildung der Schreibenden eine zentrale Rolle. Man geht davon aus, daß in Köln um 1550 der Schulunterricht von Rip. auf das Gemeine Deutsch übergegangen ist. Die dritte Entwicklungsphase der Varietätenumschichtung betrifft nicht mehr die Ober- und Bildungsschichten bzw. die professionell mit der Sprache umgehenden Drucker, sondern die sprachlichen Mittel- und Unterschichten in ihrer privaten, aber auch in einer auf die Stadt und die Region bezogenen Schriftlichkeit sowie die Schriftlichkeit in der ländlichen Umgebung von Köln und anderen rhein. Städten. Hier finden sich Ripuarismen in direkter Varianz zu Formen des Gemeinen Deutsch noch bis weit in das 17. Jh. hinein (Neuss 2000).
Umstritten ist in der Forschung die Zielvarietät, auf die hin der Varietätenumlagerungsprozeß orientiert war (Mattheier 1981; Macha 1991, 49; Hoffmann 2000, 134; Hoffmann/Mattheier 1998 ff.). Hier wird man eine linguistische Argumentationsebene von einer Sprachbewußtseinsebene zu trennen haben. Auf der linguistischen Ebene haben Forschungen gezeigt, daß die im Überschichtungsprozeß in Köln auftauchenden Varianten durchweg aus der sich in der zweiten Hälfte des 15. Jhs. herausbildenden Druckersprache des Augsburg-Nürnbergischen Raumes stammen, die zeitgenössisch das ‘Gemeine Deutsch’ oder auch ‘Hochdeutsch’ genannt wurde. Was die Ebene des Sprachbewußtseins betrifft, so zeigen schon zeitgenössische Bezeichnungen wie ‘Hochdeutsch’ oder auch ‘Gemeines Deutsch’, daß diese Varietät einen Mehrwert gegenüber den anderen regionalen Schreibsprachen aufwies. In Köln wurde diese Schreibvarietät seit dem zweiten Drittel des 16. Jhs. übernommen und ersetzte den rip. Schreibdialekt. Anfangs wies sie einen deutlichen obd. Charakter auf, der jedoch im Laufe des 16. Jhs. zurücktrat und der wmdt. Charakteristika des Rhein-Main-Raumes Platz machte. Diese südlich, aber auch wmd. geprägte Varietät ist wohl im 16. Jh. allgemein ge-
XVII. Regionalsprachgeschichte
meint, wenn von ‘Hochdeutsch’ die Rede ist (Haas 1999, 111⫺113). Aber im Gegensatz zu der sich parallel entwickelnden und ausbreitenden omd. ‘Luthersprache’ weist sie keine ausschließlich omd. Charakteristika auf, was sich auch in den kölnischen Texten dieser Zeit zeigt. Durch den Ausgang der Reformationswirren und das Verbleiben Kölns und großer Teile des Rheinlandes im katholischen Lager wird die deutliche Tendenz gegen die omd. Luthersprache im ausgehenden 16. und im 17. Jh. noch verstärkt, und erst um die Mitte des 18. Jhs. schwenkt die in Köln verwendete Schrift- und Druckersprache auf die damals schon konsolidierte dt. Standardnorm ein. Eine andere Entwicklung ist ⫺ darauf macht Macha mit Recht aufmerksam ⫺ von der Entwicklung des Hd. in Köln und im Rheinland zu trennen (Macha 1993). Köln gerät im 17. Jh. aus historisch-dynastischen Gründen in den politisch-kulturellen Einflußbereich der bayr. Wittelsbacher. Das zeigt sich in der in den oberen Ebenen der Schriftlichkeit verwendeten Sprache, die eine Reihe von typischen Bavarismen aufnimmt, die jedoch Mitte des 18. Jhs. zusammen mit den letzten Merkmalen des Hochdeutschen/Gemeinen Deutschen aufgegeben werden. Die Entwicklung der gesprochenen Sprache im Rheinland und seinen zentralen Städten entzieht sich weitgehend der Beobachtung, weil es an aussagekräftigen Quellen fehlt. Unbestritten ist jedoch der Geltungsbereich des rhein. Basisdialektes in seiner diatopischen Vielfalt und in allen gesellschaftlichen Kreisen unter den Einheimischen. Dabei gibt es zeitgenössische Hinweise darauf, daß innerhalb größerer und gesellschaftlich strukturierter Städte eine sprachliche Schichtung existiert, wobei die Varietät der höheren Schichten entweder einen größeren internen Homogenitätsgrad oder aber eine größere Anzahl von Varianten aus der neu übernommenen Schriftsprache auch in der Sprechsprache aufweist. In den höheren Gesellschaftsschichten wird man auch mit einer mündlichen Realisierung der neu übernommenen Schriftsprache allgemein zu rechnen haben. Diese Varietät wird zumindest als Predigtsprache und als Vorlesesprache sowie als Verständigungsmittel mit Fremdsprachigen und Fremddialekten existent gewesen sein. Unwahrscheinlich ist jedoch, daß sie auch in dem seit 1550 auf das Hochdeutsch/Gemeindeutsch zielenden Schulunterricht mündlich verwendet worden
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte
ist. Diese Varietätenkonstellation im Bereich der gesprochenen Sprache, die durchaus schon Ansätze zur Ausbildung eines diastratisch-diaphasisch strukturierten Varietätenspektrums aufwies, findet sich im 16. und 17. Jh. im Rheinland sicherlich nur in den großen Städten, insbesondere in Mainz und Köln. Dabei wird man in Mainz mit besonderen Konstellationen zu rechnen haben, da die Alltagssprechsprache der höheren gesellschaftlichen Schichten sicherlich der Schriftsprache in Mainz ähnlich gewesen ist. In kleineren Städten und auf dem Lande dominiert weitestgehend der Ortsdialekt. Die gesprochene Varietät der Schriftsprache beschränkt sich auf spezielle Kommunikationssituationen.
5.
Umrisse einer Sprachgeschichte der Rheinlande seit 1600
Die Sprachgeschichte des Rheinlandes nach dem Übergang der Schriftlichkeit zum Hd. entfaltet sich in erster Linie im Bereich der gesprochenen Sprache (Elspaß 2000). Schon seit der Zeit des Varietätenumbruchs steht der heimische Dialekt überall im Rheinland ⫺ besonders aber in den größeren Städten ⫺ unter dem Einfluß einer ‘fremden’ überdachenden Schriftsprache. Und seit dieser Zeit werden wir mit einem diastratisch-diaphasisch strukturierten Verdrängungsprozeß des Dialekts durch diese überdachende Standardsprache zu rechnen haben, vermittelt natürlich durch die gesprochene Form dieser Varietät, die insbesondere auf den Lautebenen sicherlich noch lange Zeit über eine Fülle von rhein. Merkmalen aufgewiesen hat. Dieser Prozeß ist bis heute nicht abgeschlossen, und es gibt durchaus Hinweise darauf, daß die Verdrängung des Dialekts durch die gesprochene Standardvarietät nicht zum völligen Verlust des Dialektes, sondern zu einer Diglossiekonstellation führen wird, einer Diglossiesituation zwischen einem großregional abgeschwächten rhein. Dialekt und einer wmd. Variante der Standardsprache. Die diastratische und die diaphasische Steuerung der Verwendung dieser verschiedenen Varietäten entspricht im großen und ganzen den auch heute noch im Rheinland zu beobachtenden Gebrauchsregeln: Höhere und gebildete gesellschaftliche Gruppen weisen ein eher zum Standardpol verschobenes Varietätenspektrum auf, und untere Schichten bzw. ländliche Regionen weisen ein dialektal geprägtes
2725 Sprachlagenspektrum auf. Diese Gebrauchsregel wird durchkreuzt durch die diaphasische, nach welcher Dialektalität eher private und inoffizielle Gebrauchssituationen abdeckt und die Standardorientiertheit eher öffentliche und offizielle Gebrauchssituationen. Eine solche Konstellation läßt sich in Ansätzen für das 17. und 18. Jh., recht deutlich für das 19. und 20. Jh. quellenmäßig belegen, und zwar an der literarischen Verwendung verschiedener Sprachlagen bzw. an metasprachlichen Äußerungen (Elspaß 2000; Mattheier 1994). Ein Problem ist dabei oft die sprachliche Wiedergabe des rhein. Standards, der als solcher in der Regel nicht erkannt und markiert wird, sondern meist als Normalstandard nachgebildet wird (Hoffmann 1995). Die metasprachlichen Äußerungen zu den Varietätengebrauchsregeln im Rhein. sind in der Regel mit Varietätenbewertungen verbunden, die vordergründig eine deutliche Stigmatisierung des Dialekts im Rheinland erkennen lassen. Eine gegenläufige Tendenz zur positiven Bewertung der Dialektalität zeigt sich mit Deutlichkeit erst im 19. Jh. Der Dialekt wird ⫺ auch im Zusammenhang mit der Rheinromantik und der Wiederentdekkung des rhein. Karnevals, in den 20er Jahren des 19. Jhs. zu einem Identitätsmarker für die rheinische Regionalität (Hoffmann/Mattheier 1984/85, 1860). Diese Entwicklung ist in einem noch zu erforschenden Ausmaß ausgelöst worden durch zwei politisch-historische Prozesse, die mit einer erheblichen Identitätsgefährdung des Rheinlandes als historische Region in Zusammenhang stehen: die Franzosenzeit und die ‘Verpreußung’ der Rheinlande in ihren nördlichen und mittleren Teilen. Insbesondere die Abwehr der Preußen und ihrer politisch-gesellschaftlichen Dominanz im Rheinland löste eine Rückbesinnung auf den emotional positiv bewerteten Dialekt aus, was sich etwa an der Gründung des Kölner Hänneschen-Theaters (Hoffmann/Mattheier 1984/85, 1859) zeigte. Am Übergang zum 20. Jh. weist der rhein. Dialekt zumindest in den Städten durchaus jene Ambivalenz zwischen Stigma und Identitätssymbol auf, die die Dialektentwicklung im 20. Jh. und bis heute prägt. Was die Schriftsprache im Rheinland betrifft, so hat es vordergründig den Anschein, daß diese Varietätenentwicklung mit der Übernahme des Hochdeutschen/Gemeindeutschen seit der Mitte des 16. Jhs. abgeschlossen sei. Eine solche Sicht der Verhältnisse greift jedoch zu kurz. Einmal reicht der
2726 Prozeß der Übernahme des Hd. insbesondere in den kleineren Städten des Rheinlandes und auf dem Lande noch bis weit in das 17. Jh. hinein (Neuss 2000). So weisen etwa die ländlichen Weistümer aus dem zentralrip. Bereich um Jülich zwar eine ‘neuhochdeutsche Grundierung’ auf, zeigen aber sonst ‘alle Grade und Spielarten von Annäherungen an ein Neuhochdeutsch’ (Neuss 2000, 199). Zweitens werden wir auch für die postulierte sprachliche Schichtung innerhalb der zentralen Stadt einen langsamen Durchsetzungsprozeß der schriftlichen nhd. Norm in die unteren gesellschaftlichen Gruppierungen annehmen, sofern sie überhaupt alphabetisiert waren. Die Schriftlichkeit, die uns zeitgenössisch entgegentritt, entspricht daher nur zum geringen Teil den allgemeinen überregionalen Normvorstellungen. Je nachdem, welchen sozialen Kreisen ein Textproduzent entstammt und welche formalstilistischen Anforderungen er oder der Empfänger an den Text stellt, haben wir in den überlieferten Texten Abweichungen von der zeitgenössischen Schriftnorm vorliegen. Diese Abweichungen entstammen einmal dem heimischen Dialekt oder der Sprechsprachlichkeit allgemein. Hinzu kommt aber auch ein nur teilweise erlernter Standard, was auf allen Sprachebenen zu typischen ‘Fehlern’ in den Texten führt. Dabei sollten wir jedoch berücksichtigen, daß zumindest bis weit in das 19. Jh. hinein sich der Zwang zu einer genauen Erfüllung der sprachlichen und stilistischen Regeln erst langsam durchsetzt, während die früheren Zeiten durch eine erhebliche Normtoleranz charakterisiert gewesen sind. Diese Toleranz ist erst im Zuge einer im 19. Jh. einsetzenden durchgehenden und ‘nachhaltigen’ Pädagogisierung der Standardschriftsprache zurückgedrängt worden. Die vorher realisierten Texte folgen daher eigentlich eher einem ‘Protostandard’, der aus den speziellen schriftsprachigen Produktionsbedingungen der frühen Neuzeit entsteht und eine angemessenere Beurteilungsbasis für Schriftlichkeit in dieser Epoche bildet. Das Verhältnis der verschiedenen Varietäten innerhalb der Rheinlande ist wohl bis zur Mitte des 20. Jhs. von einer gewissen Stabilität gekennzeichnet (Macha 2000). Sicherlich wird man annehmen können, daß im Zuge der Industrialisierung und der damit verbundenen Verstädterung die Varietätenstruktur des städtischen Typs sich langsam weiter ausgedehnt hat. Aber selbst so radikale Eingriffe
XVII. Regionalsprachgeschichte
in das Varietätenspektrum wie die Ausbildung des Ruhrgebietes und damit verbunden die Integration vieler Millionen Zuwanderer haben nicht zu grundlegenden sprachlichen Veränderungen geführt. Wir haben es hier auch weiterhin mit einer allenfalls abgeschwächten, westfäl. bzw. niederrhein. Regionalsprache zu tun, die mit einer regional beeinflußten H-Varietät kovariiert. Erst seit dem Ende des 2. Weltkrieges hat es den Anschein, daß sich die soziolinguistische Struktur der Rheinlande grundlegend ändert. Der bedeutsamste Veränderungsprozeß ist dabei, daß in großen Teilen des Rheinlandes ⫺ und durchaus auch in ländlichen Regionen ⫺ der Orts- bzw. Regionaldialekt seine Position als ‘Muttersprache’, also erste in der Familie gelernte Varietät, verliert. Zwar lernen immer noch viele Kinder, insbesondere auf dem Lande, den heimischen Dialekt, jedoch erst, nachdem sie die regionaltypische Standardvariante gelernt haben. Diese Entwicklung hängt zusammen einmal mit den riesigen Bevölkerungsverschiebungen nach dem Kriege, durch die allgemein die Position des Hd. in den ländlichen Regionen des Rheinlandes verstärkt wurde. Hinzu kommt die Medienrevolution, durch die die gesprochene Standardsprache in einem zuvor ungeahnten Ausmaß bis in die Familien vorgedrungen ist. Drittens wirkt sich eine in den 60er Jahren einsetzende Veränderung der Bildungsmentalität aus, die stark von sozialem Aufstiegsstreben geprägt ist. Dialekt gilt dabei durchweg als Hindernis in dieser Entwicklung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese und ähnliche Entwicklungen, die man in den letzten Jahrzehnten auch im Rheinland beobachten kann, die Vorboten einer ‘Entdialektalisierung’ der dt. Sprache darstellen. Einer solchen Entwicklung wirkt nicht nur im Rheinland, sondern auch in anderen Regionen entgegen, daß Dialektismen auch in einer weitgehend durch Standardsprachlichkeit geprägten Sprachgesellschaft durchaus noch wichtige soziolinguistische Funktionen wahrnehmen, die in den Bereich der Sprachpragmatik zu rechnen sind. So ist es während eines Gespräches möglich, durch den gezielten Einsatz von mehr oder weniger Dialektalität die jeweilige Position des Sprechers und des Hörers zu modellieren bzw. zu bewerten. Auch die Einordnung eines Sprechers in einen diatopischen oder auch diastratischen Identifizierungsraum läuft vielfach über den Einsatz bzw. die Deutung von Dialektalität.
184. Aspekte einer rheinischen Sprachgeschichte
2727
Durch eine Entdialektalisierung gibt man ein solches sprachpragmatisches Instrument aus der Hand. Vor dem Hintergrund einer in vielen Kulturbereichen erkennbaren Regionalisierung ⫺ als Gegengewicht zu der zunehmenden Globalisierung ⫺ ist eine solche Entwicklung eher nicht zu erwarten.
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2729
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Klaus J. Mattheier, Heidelberg
185. Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen 1. 2.
5.
Vorbemerkungen Die Herausbildung eines hessischen Sprachraums in ahd. Zeit Sprachraumdifferenzierung und überregionale Schreibsprache: Die Entwicklung vom hohen Mittelalter bis zur frühen Neuzeit Sprachräume und Sprachvarianz: Die neuzeitlichen Entwicklungen Literatur (in Auswahl)
1.
Vorbemerkungen
3.
4.
Die naturräumlichen Eigenschaften, die Hessen einerseits in landschaftliche Kleinräume gliedern, andererseits das Land über die langgestreckten Höhen und die offenen Senken zum Durchgangsland zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West in der Mitte des dt. Sprachraums werden ließen, bestimmen die allgemeinen Konturen der sprachgeschichtlichen Entwicklung. Unter den dt. Dialekträumen weist der hessische die differenzierteste Binnenstruktur auf. Um die Geschichte des mündlichen Sprachgebrauchs in seiner zeiträumlichen und kommunikativen Varianz zu rekonstruieren, sind die Strukturen der (rezenten) hess. Dialekte grundlegend. Die historischen geschriebenen Quellen folgen ihren eigenen Konventionen und spiegeln die mündlichen Sprechverhältnisse nur sehr gebrochen. Die Dokumentation der Geschichte der geschriebenen Sprache und die Rekonstruktion der historisch gesprochenen Sprache sind also methodisch getrennt zu halten, zugleich aber aufeinander zu beziehen. Da außer Untersuchungen W. Mitzkas umfangreichere Vorarbeiten für eine Darstellung der hess. Sprachgeschichte von den schriftlichen Quellen her fehlen, ist die Darstellung auf eine Reihe von meist älteren Spezialstudien zu einzelnen Texten einerseits und Hessen einbeziehende überregionale Untersu-
chungen andererseits angewiesen. Das 19. und 20. Jh. bis in die Gegenwart ist unter den Gesichtspunkten der Sprachvariation genau erforscht (dazu Dingeldein 1981, Ramge 2000) und zur historischen Entwicklung in Bezug gesetzt (Wiesinger 1980). Der folgende Überblick beruht auf einer umfangreicheren Darstellung der Sprachgeschichte Hessens (Ramge i. E.; hier auch die Einzelnachweise für Belege).
2.
Die Herausbildung eines hessischen Sprachraums in ahd. Zeit
2.1. Zur Vorgeschichte der hessischen Sprachgeschichte Spuren der vor- und frühgeschichtlichen Besiedlung des hess. Raums sind resthaft vor allem in vielen Gewässernamen sprachlich erhalten, die der sog. alteurop. Hydronomie (z. B. Rhein, Main, Eder, Sieg, Weser, Fulda (?), Ohm) und ⫺ in manchmal unklarer Abgrenzung dazu ⫺ dem Keltischen (Kinzig, Gersprenz, Ursel, Köbel, Nidda) angehören. Daß sich in der Kette der late`nezeitlichen kelt. oppida, zu denen Dünsberg (Biebertal, Kr. Gießen), Glauburg (Wetterau-Kr.) und Milseburg (Kr. Fulda) gehören, Abgrenzungen gegen nördliche Ethnien wie den umstrittenen Nordwestblock andeuten, ist nicht auszuschließen (Meid 1984). Frühgerm. Siedelzüge haben wohl ihre Spur in der Verbreitung des Hügelnamens Hauk hinterlassen (Bischoff 1975; Hessischer Flurnamenatlas 1987, K. 72). Eine erkennbare Grundstruktur erhält der Raum aber erst mit der Erschließung der südlichen Landesteile durch die Römer. Zwar sind deren unmittelbare Namenspuren eher marginal, und auch der Limes hat in keinem Fall Sprachgrenzen bedingt, aber in sprachlichen und kulturellen Traditionen zeigt sich,
2730
XVII. Regionalsprachgeschichte
Karte 185.1: Die Verbreitung von Kappes ‘Kraut’ in hessischen Flurnamen.
185. Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen
daß eine grundsätzliche Orientierung der südlichen und mittleren Landesteile auf die mittelrhein. Siedlungszentren etabliert wird, denen sich Nordhessen (mit den chattischen Siedlungszentren im Fritzlarer Becken) und Osthessen auch auf Dauer entziehen. Als exemplarisch für Weiterleben und Geltungsbereich lat. Lehnguts in Namen kann die Verbreitung von Kappes ‘(Weiß-)Kraut’ in hess. Flurnamen gelten. Mhd. kabez geht auf mlat. caputia, caputium zurück, das seinerseits zu lat. caput ‘Kopf’ gehört. Das Appellativ gilt als seit dem 5. Jh. entlehnt. Die Verbreitung von Kappes in Flurnamen (nach Hessischer Flurnamenatlas 1987, K. 24) bildet mit ihrer Nordgrenze von der oberen Lahn über den südlichen Vogelsbergrand bis an die obere Kinzig genau den Teil des hess. Sprachraums ab, der durch die gesamte Sprachgeschichte hindurch nach dem Süden und Westen des dt. Sprachgebiets hin orientiert ist (vgl. K. 185.1). 2.2. Die fränkisch-karolingische Landeserschließung und ihre sprachlichen Folgen Über die siedlungs- und sprachgeschichtlichen Ereignisse in den Jahrhunderten zwischen der letztmaligen Erwähnung der Chatten und der erstmaligen Erwähnung der Hessen im 8. Jh. ist wenig Sicheres bekannt. Zwei Faktoren werden für die Sprachgeschichte wichtig (Schützeichel 21976): ⫺ Die fränkische Erschließung des hess. Raums geht von den mittelrhein. Zentren um Worms und Mainz aus, erfaßt deshalb zuerst die fruchtbaren Altsiedellandschaften im Rhein-MainGebiet mit der Wetterau und geht von da aus weiter nach Norden. Auch die sprachgeschichtliche Entwicklung folgt der von Süden nach Norden gerichteten Dynamik. ⫺ Wirksam wird die fränkische Erschließung in politisch-militärisch-administrativer und siedlungsmäßiger Hinsicht erst gegen E. des 7. Jhs., vielleicht sogar noch etwas später. Die Unterwerfung der einheimischen Ethnien scheint langsam und offenbar relativ friedlich verlaufen zu sein. In jedem Fall ist die zeitliche Lücke bis zur religiös-missionierenden und kirchlichen Erschließung Hessens, mit der auch die schriftlichen Zeugnisse einsetzen, nicht allzu groß.
Diese beiden Sachverhalte stellen den historischen Rahmen für die ahd. Zeit dar. Diese ist im phonologischen Bereich durch zentrale Sprachveränderungen gekennzeichnet: die 2. oder hochdeutsche Lautverschiebung, die Diphthongierung von germ. /eˆ2/ + /ia, ea, ie/ und germ. /oˆ/ + /uo, ua/ u. ä., den Primärumlaut und einzelne Sonderentwicklungen.
2731 2.2.1. Die 2. Lautverschiebung in Hessen Für die frühe Strukturierung des hess. Sprachraums sind die Ergebnisse der 2. Lautverschiebung von zentraler Bedeutung. Die folgende Übersichtskarte (nach Debus 1983, 937) verdeutlicht die geographische Staffelung des Westmitteldeutschen anhand ausgewählter Beispiele und zeigt zugleich anhand der unterschiedlichen Geltungsbereiche seit 800, wie sich die durch die Lautverschiebung entstandenen Formen in historischer Zeit durchweg nach Norden verlagert haben: Dieser Gliederung verdankt der hess. Raum seine sprachgeschichtliche und dialektale Einordnung als „rheinfränkisch“. Er ist dadurch charakterisiert, daß er gegen Osten pund statt (p)fund, gegen Westen das statt dat und gegen Norden in der hd./nd. Sprachgrenze ich gegen ik aufweist. Nur zum linksrhein. Südwesten hin gibt es kein eingrenzendes Lautverschiebungsmerkmal. Ohne hier auf die verschiedenen Entstehungs- und Verbreitungstheorien und schwierigen Einzelfragen eingehen zu können (für Hessen vor allem Mitzka 1968, Schützeichel 2 1976), läßt sich sagen, daß die um 700 den hess. Raum erschließenden Franken die verschobenen Formen entweder schon (vom Mittelrhein um Worms und Mainz) mitgebracht oder bald danach übernommen haben müssen. Als Zeitpunkt post quem gilt nach den schriftlichen Zeugnissen das Jahr 721, als Bonifatius auf der Amöneburg die Gebrüder Dettic und Deorulf (wieder)bekehrt: Der Name *Dettic+ (zum Stamm Theot-) enthält als Auslaut einen unverschobenen /k/-Laut. Als ältester Beleg für ein lautverschobenes Sprachzeichen gilt das in einer Originalurkunde Karls d. Gr. 782 überlieferte *in villa Berinscozo+ (‘Bärenschießen’; wüst gefallene Siedlung östl. Marburgs; zu vorahd. *sciotan;). Damit rückt die Verbreitung der Lautverschiebung in Hessen zeitlich ziemlich dicht an die Periode der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Franken und Sachsen heran und damit letztlich an die Herausbildung der hd./nd. Sprachgrenze. Die heute streng gebündelte Grenze ist Ergebnis eines über Jahrhunderte gehenden Ausgleichsprozesses in einem ursprünglich siedlungsarmen Grenzbereich mit zeitweiliger ethnischer Gemengelage, wie die dort zahlreichen Sachsen- und Franken-Siedlungsnamen bis heute andeuten. Im Osten grenzt die pund/(p)fund-Linie das Hessische gegen das Ostfränkische im Südosten und gegen das Thüringische im Nordosten ab. Hiervon kann nur der nördlichste
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XVII. Regionalsprachgeschichte
Karte 185.2: Sprachräume der 2. Lautverschiebung und historische Veränderungen
Teil (Hoher Meißner bis südl. Sontra) sicher mit den frühen Siedelverhältnissen verbunden werden; denn hier stießen Hessengau und Thüringgau aneinander; hier hatten (möglicherweise) schon Chatten und Hermunduren miteinander um die Salzquellen bei Bad Sooden-Allendorf gekämpft (57 n. Chr.). Die heutige Nordgrenze und die Nordostgrenze des hess. Sprachraums sind also als unmittelbar bleibendes Ergebnis der vom Mittelrhein ausgehenden frk. Landeserschließung des 7. und 8. Jhs. zu verstehen. Nur in diesem Sinne sind die ahd. Grundlagen des heutigen hess. Sprachraums in der Tat „rheinfränkisch“. In einigen Fällen trat die Lautverschiebung erst verspätet ein (Mitzka 1953). So hemmten die Liquiden /l/ und /r/ vor /p/. Die durch die Lautverschiebung entstehende Dreierkonsonanz /lpf/, /rpf/ entwickelt sich regulär zu /lf/, /rf/ (scarp + scharpf + scharf ‘scharf’). In hess. Quellen nördlich des Mains finden sich in ahd. und mhd. Zeit nicht selten noch unverschobene Verbindungen. So steht in einer Hersfelder Urkunde ca. 815 als Zeugenname *Helfrih+ und auf der Rückseite ⫺ von gleicher Hand ⫺ *Helprih+. In einer
Reihe von Belegen hat sich -dorp bis ins 14. Jh. erhalten, zuletzt 1349 *Rustorp+ (Roßdorf, Kr. Marburg-Biedenkopf). Weit verbreitet bis in die frühe Neuzeit ist unverschobenes /t/ in /tv/-Verbindungen. Von den unverschobenen „Restwörtern“ bleibt nur dit aussagekräftig. Zumindest in hess. Quellen gibt es wegen fehlender dat-Belege keine Anhaltspunkte dafür, daß die heutige dat/dasGrenze am hess. Westrand nicht ein hohes Alter hat. Hingegen taucht dit nördlich des Mains bis ins 16. Jh. sehr häufig auf, und zwar auch in Frankfurter Quellen. Die strukturierende Bedeutung dieser wenigen Spracherscheinungen wird jedoch überbewertet, wenn man allein daraus eine engere Bindung des nordmainischen Hessens an das Mittelfränkische ableitet und den ‘rheinfränkischen Keil’ des hess. Sprachraums in ein wmd. ‘Parallelogramm’ (Mitzka) uminterpretiert. Allerdings weisen diese Fälle auf ein Zentralproblem der diachronen und synchronen Gliederung der hess. Sprachlandschaften hin. Denn hier beginnt sich eine Differenzierung anzudeuten, die den Main als Trennlinie zwischen nördlichen und südlichen Formen zeigt.
185. Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen
Neben dit gilt die Verbreitung von he gegen er als zweite Leitform für ein ‘Parallelogramm’ mit dem Main als Südgrenze. Aber gerade he gehört zur Gruppe der r-losen Pronomina wie wi ‘wir’, uns(e) ‘unser’, di ‘dich, dir’, die relikthaft heute noch Teile Ost- und Nordhessens mit Teilen Thüringens verbinden und die in dortigen Quellen bis ins 13. Jh. häufiger vorkommen, vereinzelt auch in mittelhessischen. Es ist aber nicht sinnvoll, Reste sehr alter Sprachzusammenhänge zur Gliederung und überregionalen Einbindung der entstehenden hess. Teilsprachräume heranzuziehen. 2.2.2. Missionierung und karolingische Klosterkultur Die Ausgestaltung des Mainzer Besitzes und der Mainzer Kirchenprovinz als Folge der bonifatianischen Mission verstärkt die durch die fränk. Landeserschließung begründete Süd-Nord-Dynamik und verhindert einen dauerhaften sprachlichen Einfluß anderer klerikaler Zentren wie Würzburg, Paderborn/ Corvey und Trier (das sich nur an der unteren und mittleren Lahn bis in den Raum Wetzlar/Gießen halten kann). Die beiden hess. Hauptklöster mit deutschsprachigen literarischen Zeugnissen, Fulda und Lorsch, entwickeln eigene Schreibtraditionen, die erstmalig die Frage auftreten lassen, ob eine soziolinguistisch zu definierende Diglossie-Situation zwischen dem Sprachgebrauch der Oberschicht (des Adels und des Klerus) und dem der landsässigen Bewohner anzunehmen ist. Fulda und der osthessische Sprachraum: Für Fulda wird angenommen, daß der ostfrk. Sprachstand der deutschsprachigen Klosterüberlieferung in einem rheinfrk. sprechenden Gebiet entstanden sei, wofür die pund/pfundOpposition das Musterbeispiel darstellt. Das Kloster sei in siedlungsleerer Wildnis errichtet worden, und allmählich hätten sich vom Westen her rheinfrk. sprechende Siedler im osthess. Raum niedergelassen. Als Bonifatius 744 den Baiern Sturmi mit der Gründung des Klosters beauftragte, geschah dies allerdings vermutlich an der Stelle eines großen wüstgefallenen Herrenhofs mainfränk. Provenienz. Die Schreibsprache des Klosters hatte von Anfang an den ofrk. Lautstand, wie sich vor allem an der Namenschreibung der Totenlisten des 8. und 9. Jhs. (Geuenich 1976) zeigt. Das gilt nicht nur für die bis auf /kch/ voll durchgeführte Lautverschiebung, sondern auch für die Diphthongierung von germ. /eˆ2/
2733 zu *ie, iae, yo+ und die von germ. /oˆ/ zu *uo+ (daneben im 8. Jh. noch häufiger *o+). Der Wandel von germ. /eu/ zu frühahd. /eo/+ /io/ wurde hier zwischen 825 und 850 vollzogen. So entwickelt das Fuldaer Scriptorium, besonders nach der Lösung von der Mainzer Kanzlei (⫺776) und der Gründung einer eigenen Schreibschule unter Abt Baugulf (nach 779), eine strenge und ausgeprägte Schreibtradition. Der Tatian entspricht wie die Hammelburger Markbeschreibung dem Lautstand der Namenüberlieferung nach 825. Erst nach 900 werden rheinfrk. Spracheinflüsse deutlicher erkennbar, so im Übergang von ostfrk. /t/ (aus germ. /d/) zu /d/ (*Tuto+ zu *Duto, Duodo+ u. ä.). Es mag sein, daß auch unverschobenes /p/ damals in das gesprochene Osthess. einrückte. Aber dieses Sprachmerkmal wird eindeutig überbewertet, wenn man es zum zentralen Kriterium der Zuordnung des Fulda-Raums zum rhfrk. Sprachraum erhebt. Denn auffällig ist, auf die gesamte Sprachentwicklung bezogen, wie gering die westlichen Einflüsse auf den osthess. Sprachraum blieben. Im Ergebnis ist der osthess. Sprachraum vor allem zum Hennebergischen, dann zum Unterostfränkischen und zum Thüringischen hin orientiert (Wiesinger 1980, 136). Lorsch und der südhessische Sprachraum: Auch die häufigen *ph+- und *pph+-Schreibungen des Lorscher Codex (z. B. *Hephenheim, Hepphenheim+ ‘Heppenheim’, Kr. Bergstraße ⬍ PN Heppo; *Phungestat+ ‘Pfungstadt, Kr. Darmstadt, zum Stamm Pung-) wurden als Beleg für ein zumindest von der Oberschicht gesprochenes lautverschobenes /pf/ gewertet (Mitzka 1953, 148). Es läßt sich aber zeigen (Haubrichs 1990), daß die *ph+-Schreibungen als rom. Schreibungen zu verstehen sind, wobei *h+ als diakritisches Zeichen der Bezeichnung der Stimmlosigkeit von /p/ dient. Die Lorscher Schreibüberlieferung enthält eine Fülle an Belegen, die die verschiedenartigsten gallorom. Ersatzschreibungen für deutschsprachige Lautungen in Siedlungs- und Personennamen widerspiegeln. Dazu gehören z. B. der Wegfall von *h+ im Wortanlaut (*esinloch+ ‘Heßloch’, Kr. Alzey-Worms) bzw. hyperkorrekte *h+-Schreibung (*Haschibrunne+ ‘Eschborn’, Stadt Frankfurt); *gh+- und *ch+Schreibungen mit diakritischem *h+, z. T. auch Umkehrschreibungen wie *Hughilheim+ ‘Heuchelheim’ (Pfalz), aber *Bochinheim + ‘Bokkenheim’, Stadt Frankfurt.
2734
XVII. Regionalsprachgeschichte
Die immer wieder durchscheinenden rom. Schreibkonventionen hängen mit der Gründungsgeschichte Lorschs zusammen: Der mit der Klostergründung (764) beauftragte Erzbischof Chrodegang von Metz entsandte die Mönche aus seinem Kloster Gorze (bei Metz), d. h. aus einem Interferenzgebiet zwischen dt. und gallorom. Mehrsprachigkeit. Bei aller Ungewißheit über den Verlauf früher Sprachgrenzen (und trotz vereinzelter Indizien in der Lorscher Glossenüberlieferung) gilt deshalb wohl für den südhess. Sprachraum, daß /p/ dort unverschoben blieb und daß die frühe Überlieferung keinen Anhaltspunkt für eine „vornehmer“ /pf/-sprechende Oberschicht enthält. Merkwürdig und nicht recht erklärlich ist jedoch eine Reihe Schreibungen des Codex Laureshamensis mit unverschobenen Formen (Haubrichs 1990, 148 f.) wie 767/68 *Brittenheimer marca+ ‘Bretzenheim’, Stadt Mainz, oder bei den Personennamen, z. B. 769 und 783 ein *Adelgoti+ (*vorahd. *Adal-gaut+ ahd. Adal-goˆz.) 2.3. Fragestellungen Aus den Anfängen der hess. Sprachgeschichte ergeben sich drei Fragestellungen, die weiter zu verfolgen sind: (1) Kann für den hess. Raum (oder Teile davon) in ahd. Zeit davon gesprochen werden, daß es eine Sprache der landsässigen Grundschicht und eine davon abgehobene Sprache der herrschenden Schicht gab? Bislang fehlen hinreichend beweiskräftige Anzeichen für eine ausgeprägtere Diglossie. (2) Wie verträgt sich die auch hier vertretene Hypothese einer von Süden nach Norden gerichteten sprachlichen Dynamik mit den Beobachtungen, dass das Hess. nördlich des Mains in ausgeprägten Bezügen zum Mfrk. steht? (3) Würden weitergehende Kenntnisse über morphologisch-syntaktische und lexikalische Verhältnisse wesentlich die auf phonologischen Beobachtungen beruhenden Vorstellungen über die Grundlagen der hess. Sprachgeschichte in ahd. Zeit verändern?
3.
Sprachraumdifferenzierung und überregionale Schreibsprache: Die Entwicklung vom hohen Mittelalter bis zur frühen Neuzeit
3.1. Heutige Dialektgliederung und Schreibsprachgeschichte Die Zeit zwischen dem Beginn des hohen Mittelalters und dem Ende der frühen Neuzeit ist auch für den hess. Raum hauptsächlich durch zwei Vorgänge gekennzeichnet:
⫺ Die gesprochene Sprache entwickelt sich aufgrund regionaler und überregionaler Veränderungen so, daß verschiedene, bis heute charakteristische dialektale Teilsprachräume in Hessen entstehen, die strukturell in das System der dt. Dialekte eingegliedert sind (Sprachgeschichte der mündlichen Verkehrsformen). ⫺ Mit zunehmender deutschsprachiger Schriftlichkeit entwickeln sich Schreibsprachen mit eigenen regionalen und überregionalen Normen und sprachlichen Konventionen (Schreibsprachgeschichte).
Die rezenten Dialekträume (ausführlich Wiesinger 1980, Überblick bei Wiesinger 1983, Friebertshäuser 1987), die den Rahmen für die historische Entwicklung bieten, sind mit folgenden allgemeinen Raumbegriffen verbunden: ⫺ Südhessen für den Raum südlich des Mains, ⫺ Mittelhessen für den Raum nördlich des Mains bis zum Vogelsberg und bis zur oberen Lahn, ⫺ Osthessen für den Fuldaraum von der Rhön bis in den Raum Bad Hersfeld, ⫺ Nordhessen für die restlichen nördlichen Landesteile. Dem entsprechen die Dialekträume (Wiesinger 1980, K. 24) (vgl. K. 185.3). Als Bezeichnungen für die heutigen dialektalen Sprachräume in Hessen sind üblich: südhessisch (bei Wiesinger rheinfränkisch), mittelhessisch (bei Wiesinger zentralhessisch), osthessisch und nordhessisch; dazu niederdeutsch (nördlich der hd./nd. Sprachgrenze). Auf dieser dialekträumlichen Folie werden die wichtigsten historischen Sprachveränderungen im Spiegel der schreibsprachlichen Überlieferung mit dem Ziel beschrieben, Spuren in der schriftlichen Überlieferung mit den dialektologischen Rekonstruktionen (Wiesinger 1980) in einen konsistenten Zusammenhang zu bringen und zugleich die Eigenständigkeit der schreibsprachlichen Existenzformen herauszuarbeiten. Die Ablösung der lat. Sprache durch die dt. in der urkundlichen Überlieferung am Mittelrhein und in Hessen beginnt sehr zögernd in der 2. H. des 13. Jhs. Verhältnismäßig spät im Vergleich zu den obd. Kanzleien, erst im Verlaufe der 2. H. des 14. Jhs. setzt sich das Dt. in den städtischen Kanzleien durch, zuerst in den großen Städten am Mittelrhein (für Mainz Steffens 1988) und in Frankfurt (Liffgens 1925), dann auch in kleineren Städten wie Friedberg und Wetzlar. Die
185. Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen
Karte 185.3: Gliederung der hessischen Dialekträume
2735
2736 Sprache der durchweg rechtserheblichen Textsorten (Urkunden, Ordnungen, Weistümer, Urbare usw.) ist in bezug auf Reflexe lokalen Sprachgebrauchs um so aufschlußreicher, je mehr die Texte schreiber- und adressatenseitig lokal gebunden sind. Für die Rekonstruktion der hess. Sprachgeschichte sind darüber hinaus die Texte von Spielen wie die Frankfurter und Alsfelder Passionsspiele (Heinen 1963, Treutwein 1987, Janota 1999) oder das Friedberger Weihnachtsspiel (Reinhold 1909) wichtig. Vielfach tragen Namen, besonders Siedlungs- und Flurnamen, zur Lokalisierung sprachgeschichtlicher Erscheinungen bei. Für die hess. Schreibsprachgeschichte gelten natürlich eine Reihe spätmittelalterlich und frühneuzeitlich im gesamten Westmitteldeutschen verbreitete Schreibkonventionen (Piirainen 1985, 1373), vor allem: ⫺ Lange Vokalqualität wird häufig durch nachgestelltes *i+, auch *y+, *j+ oder *e+ bezeichnet, z. B. *verboit+ ‘Verbot’, *cloester+ ‘Kloster’, *zijt+ ‘Zeit’. ⫺ Vokale in unbetonter Stellung werden sehr unterschiedlich bezeichnet. Das häufig verwendete *i+ (*irvaren+ ‘erfahren’, *adir+ ‘oder’) entspricht lautlich wohl /e/ und erscheint in Namen in hess. Urkunden häufiger seit der M. des 12. Jhs. Regionale Unterschiede sind nachweisbar: ver- in ‘verkaufen’ wird in den südlichen und westlichen Landesteilen meist *ver+- oder *vir+- und in den nordöstlichen (ab Marburg) *vor+- geschrieben. ⫺ Der Umlaut bleibt bis ins 16. Jh. (außer beim Primärumlaut) meist unbezeichnet.
3.2.
Die hauptsächlichen Sprachveränderungen und ihr Niederschlag in der Schreibsprache 3.2.1. Vokalismus 1. frmhd. /ie/ ⫺ /üe/ ⫺ /uo/: Monophthongierung: Die Monophthongierung /ie/ > /i:/, /üe/ > /ü:/, /uo/ > /u:/, vermutlich im mfrk. Nordwesten entstanden, erfaßt das Mittelrheingebiet spätestens im 11./ 12. Jh. und ist auch in hess. Urkunden in der 2. H. des 12. Jhs. vollzogen. Neben den weiter häufig anzutreffenden Graphien *ie+ u. ä., *u˚+ u. ä. treten *e+- und *o+-Schreibungen im gesamten hess. Sprachraum vom 14.⫺16. Jh. nicht selten auf; so in Frankfurter Urkunden 1. H. 14. Jh.: *breb+ ‘Brief’, *schole+ ‘Schule’; in Friedberg 1443 *densttag+ ‘Dienstag’; A. 16. Jh. Alsfeld: *lebenn+ ‘lieben’, *dot+ ‘tut’: Bei diffuser Streuung ist unklar, ob es eine sprechsprachliche Grundlage gibt. Die in urkundlichen Schreibungen anzutreffenden Formen vom Typ *breif+ ‘Brief’, *preister+ ‘Priester’, *veir+ ‘vier’ werden meist als *e+ ⫹ Längenzeichen *i+
XVII. Regionalsprachgeschichte interpretiert. Belege aus einer sprechsprachnahen Friedberger Quelle von 1443 wie *onser leyben frauwen dage+ und *Item 1/2 gulden um junge houner+ schließen die Möglichkeit nicht aus, daß die aus den ahd. Diphthongen entstandenen mhd. Monophthonge schon in der 1. H. des 15. Jhs. im mündlichen Sprachgebrauch zu steigenden Diphthongen /ei/-/oi/-/au/ geworden waren, wie sie für das Mittelhes. bis heute charakteristisch sind. 2. frmhd. /ei/ ⫺ /öu/ ⫺ /ou/: Monophthongierung: Im 12. Jh. ist der hess. Sprachraum von der wohl ebenfalls aus dem Mfrk. stammenden Monophthongierung /ei/ > /e:/, /ou/ > /o:/ erfaßt: 1177 Mainz *stengruben+ ‘Steingrube’, *och+ ‘auch’. Die in Mittel- und Südhessen verbreitete Monophthongierung zu /a:/ ist seit dem 14. Jh. schriftlich häufiger belegt, besonders der Wechsel von *o+ zu *a+, vor allem in *bom+, *bam+, selten für /ei/, z. B. 1382 Mainz *Rinwaden+ ‘Rheinweide’. 3. mhd. /i/ ⫺ /ü/ ⫺ /u/: Senkung: Die Senkung der Kurzvokale /i/ ⫺ /ü/ ⫺ /u/ + /e/ ⫺ /ö/ ⫺ /o/ tritt zuerst im Mfrk. auf, verbreitet sich im 12. Jh. am Mittelrhein und über den hess. Raum ins Omd. Die Senkung erfaßt in Hessen hauptsächlich die Kurzvokale vor Liquiden und Nasalen, z. B. *korz+ ‘kurz’, *torn+ ‘Turm’, *onser+ ‘unser’, *zwengen+ ‘zwingen’, *herte+ ‘Hirt’, *melch+ ‘Milch’, *hemel+ ‘Himmel’; aber auch andere Positionen: *met+ ‘mit’ und das durch die Dehnung in offener Silbe entstandene /i:/: *dese+ ‘diese’, *erme+ ‘ihrem’, *seben+ ‘sieben’. Unter obd. Schreibeinfluß nimmt die Häufigkeit der gesenkten Formen ab dem 15. Jh. wieder deutlich ab, wohl im Zusammenhang mit sprechsprachlichen Varianten: Südlich des Mains gilt heute vor allem nur die Senkung vor /r/ (⫹ Konsonant): /hern/ ‘Hirn’, /kords/ ‘kurz’. 4. mhd. /e/ ⫺ /ö/ ⫺ /o/: Hebung: In der Schreibsprache finden sich vor allem im 14. und 15. Jh. auch in haupttonigen Silben häufig Schreibungen, die auf (gesprochene?) Hebung kurzer Vokale hindeuten: *finster+ ‘Fenster’ (Lindenfels 1401), *hirne+ ‘Herrn’ (Friedberg 1443), *ridde+ ‘Rede’ (Marburg 1453), *uberste+ ‘oberste’ (Fritzlar 1289). Selten vorkommende Schreibungen wie *ou+ in *houltz+ ‘Holz’, *gould+ ‘Gold’ und *ei+ in *eirbe+ ‘Erbe’ sind wohl als Kompromißschreibungen zu bewerten. 5. mhd. /e:/ ⫺ /ö:/ ⫺ /o:/: Hebung: Die Hebung der mhd. Langvokale /e:/ > /i:/, /o:/ > /u:/ mit umgelautetem /ö:/ > /ü:/, entrundet + /i:/ gehört heute zu den auffallendsten Merkmalen des Mittelhess.: /gli:/ ‘Klee’, /gru:s/ ‘groß’ /si:/ ‘schön’, ist jedoch nur ziemlich selten in den älteren Quellen nachweisbar, z. B. *Holin Wig+ ‘Hohlen Weg’ (Mainz ca. 1315), *cluster+ ‘Kloster’ (Frankfurt 1461), *Sin+ ‘sehen’ (Marburg 1356), *du˚+ ‘da’ (Wetzlar 1307), *du+ ‘da’ (Alsfeld A. des 16. Jhs.). 6. /a/, /a:/: Hebung: Die mundartlich in fast ganz Hessen geltende Hebung /a:/ > /o:/ (/jo:r/ ‘Jahr’), die sog. Verdumpfung, findet sich schreibsprachlich häufiger seit der 1. H. des 14. Jhs.: *obent+ ‘Abend’, *ansproche+ ‘Ansprache’ (Mainz 1347), *mins votern+ ‘meines Vaters’ (Kaufungen 1351).
185. Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen Die Kleinwörter aˆne/oˆne ‘ohne’ und sal/sol ‘soll’ treten bis E. 15. Jh. überwiegend mit *a+ auf, bei ader/oder überwiegt *oder+ seit dem 14. Jh. sehr stark. *van+ ‘von’ findet sich bis M. des 15. Jh. manchmal in nordhess. Quellen. 7. ahd. /iu/: Monophthongierung und Diphthongierung: Wie in weiten Teilen des Md. und Obd. wurde ahd. /iu/ vor allem vor /v/ und /r/ zu /u:/ monophthongiert und später durch die nhd. ∧ Diphthongierung zu /ao/ verändert: mhd. niuwe ⫽ /nu:ve/ > /nao/ ‘neu’; ebenso fauer ‘Feuer’, auer, auch ‘euer, euch’. Die Erscheinung war mündlich in ganz Hessen verbreitet, wie z. B. zahlreiche rezente Flurnamen vom Typ Nauenberg, Nauwiese zeigen, gilt heute aber besonders als Kennzeichen des Mittelhess. Die /u:/-Monophthongierung kann wegen der meist fehlenden graphischen Umlautkennzeichnung in den Quellen erst nach der Diphthongierung zu *au+ sicher identifiziert werden. 8. mhd. /i:/ ⫺ /ü:/ ⫺ /u:/: Diphthongierung: In der schriftlichen Überlieferung hat die nhd. Diphthongierung der alten Längen /i:/ > /ae/, /ü:/ > /oe/, /u:/ > /ao/ im 11./12. Jh. im (Süd)Bair. begonnen und sich bis um 1450 am mittleren Main ausgebreitet. In der Mainzer erzbischöflichen Kanzlei werden die neuen Diphthonge nach 1480 geschrieben. In Hessen sei die Diphthongierung zur Zeit Philipps des Großmütigen in der 1. H. des 16. Jhs. eingeführt worden (Mitzka 1946, 23 f.). In Frankfurt beginnen die Diphthong-Schreibungen verstärkt erst nach 1500. Es gibt jedoch triftige phonologische Gründe, auch für den hess. Raum eine frühe sprechsprachliche Grundlage der neuen Diphthonge anzunehmen. Vor allem gibt es hier, wie auch im Mainzer Umfeld, eine Reihe früher Diphthongschreibungen in lokalen Quellen, z. B. 1323 *In Neu˚wenb(er)g+ ‘Naumburg’ (Wetterau-Kr.), 1355 Frankfurt *sweyn+ neben *swyn+ ‘Schwein’, 1443 Friedberg *von weyden zu hawen+ neben *von wyden zu hawen+ ‘für Weiden (salix) zu hauen’. Im mündlichen Sprachgebrauch können deshalb in den südlichen und mittleren Landesteilen Hessens die neuen Diphthonge spätestens seit der 1. H. des 14. Jhs. gegolten haben und dann nach Norden bis zur heutigen Sprachgrenze (s. Is/ Eis-Isoglosse K. 3) vorgerückt sein (Ramge 1991).
3.2.2. Konsonantismus 1. /p/ ⫺ /t/ ⫺ /k/ und /b/ ⫺ /d/ ⫺ /g/: Die (md.) Lenisierung führt früh zur Schreibung von Medien in allen Positionen: *dag, godes, gud+ ‘Tag, Gottes, gut’, auch zur *g+-Schreibung von Wörtern, wo normalmhd. Auslautverhärtung *c+ für /k/ zu erwarten ist: *dag, unschuldig+. Das unverschobene /p/ wird in der Regel mit *p+ oder *ph+ wiedergegeben. Für Hessen insgesamt trifft die auch für Mainzer Quellen geltende Beobachtung zu, daß die abgeschwächten und unverschobenen Formen, die den mündlichen Sprachgebrauch repräsentieren, in der 2. H. des 15. Jhs. fortschreitend durch später standardsprachlich werdende überregionale Schreibkonventionen süddt. Provenienz überlagert
2737 werden, z. B. *p(h)erner+ wird zu *pferner+ ‘Pfarrer’. Von den Medien /b/, /d/, /g/ wird /g/ früh und häufig im Auslaut *ch+ geschrieben, z. B. *wech+ ‘Weg’, was auf frühe Spirantisierung /g/ > /x/ hinweisen könnte. In der Spannung zwischen der Media /b/ und der Spirans /f/ neigen die Frikative /v/, /b/ in hess. Quellen intervokalisch und postkonsonantisch dazu, als *b+ geschrieben zu werden; in einigen Wörtern sogar die Spirans /f/ selbst: Charakteristisch und auch heute noch dialektal nördlich des Mains sind brieb ‘Brief’ und hob ‘Hof’, auch intervokalisch oft *hobestat+ ‘Hofstätte’, bis hin zu einem 1468 in Kassel belegten *kachelob(b)en+. Ab 2. H. des 15. Jhs. werden die *b+Schreibungen in *brieb+ deutlich seltener. 2. /s/ ⫺ /s/: Palatalisierung: Die wohl im 13. Jh. durchgeführte Palatalisierung von /s/ > /s/ im Anlaut vor /v/, /m/, /n/, /l/ findet erst ab dem E. 15. Jh. zögernden Niederschlag in der Schriftlichkeit. In der Übergangszeit des 15. Jhs. sind häufiger Kontrast- und Unsicherheitsschreibungen zu beobachten, z. B. *syn huschfrauwe+ vs. *syn Husfrouwe+ (1479, mittlere Lahn). Sichere Belege für in- oder auslautende Verbindungen von /s/ mit /d/ oder /b/ zu -*schd+(-) oder -*schb+(-) wie rhfrk. /fesd/ fehlen fast völlig. 3. /nd/ ⫺ /n/: Velarisierung: Die vermutlich im 10./11. Jh. im Mfrk. entstandene Velarisierung /nd/ > /n/ (/gefunden/ > /gefonge/) ist in hess. Quellen nur spurenweise nachweisbar, z. B. 1349 *bekengnusse+ ‘Bekenntnis’ (Hersfeld), 1530 *unger+ ‘unter’ (Eschwege). 4. /xs/ > /s(s)/ > /xs, ks/: Der Wandel der *hs+Lautkombination im In- und Auslaut zu /s(s)/, im 9. Jh. im dt. Nordwesten beginnend, hat spätestens im 12. Jh. auch Hessen erfaßt. Vom Bair. aus entwickelt sich eine Gegenbewegung, die /s(s)/ wieder durch *hs+-, *chs+, *gs+-, *x+-Schreibungen ersetzt. Frühe Belege dafür zeigen sich seit E. des 13. Jhs. in Mainz. Das 14. Jh. ist auch in hess. Quellen von einem Nebeneinander beider Formen bestimmt. Erst gegen E. des 15. Jhs. gewinnen die späteren Standardformen, wohl von Süden nach Norden fortschreitend, eindeutig die Oberhand. Einzelne Wörter verhalten sich verschieden, so daß z. B. in einer Frankfurter Zunftordnung von 1355 mehrfach *sehs+ ‘sechs’ und *wasz+ ‘Wachs’ nebeneinander vorkommen. 5. /r/-Metathese: Der Stellungswechsel von /r/ ⫹ Vokal (brunn- > burn/born) verbreitet sich seit dem 9. Jh. aus dem nd. Westen rheinaufwärts, erfaßt im 12. Jh. das Rhein-Main-Gebiet und im 13. Jh. das nördliche Hessen. Aus Bayern kommt auch hier seit der 2. H. des 14. Jhs. eine Gegenbewegung, die aber erst gegen 1500 den Mittelrhein erreicht und nördlich des Mains in Hessen dialektal nicht mehr recht Fuß fassen konnte. *Brunnen+-Schreibungen treten an der mittleren Lahn, offenbar überregionalen Schreibkonventionen folgend, erst wieder im 17. Jh. auf, so daß dialektal eine breite Schwingungszone entsteht (Rein 1983, 1137) (vgl. K. 185.4).
2738
XVII. Regionalsprachgeschichte
Karte 185.4: Born/Brunn
3.3.
Die Stellung des hess. Sprachraums als Ergebnis der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Sprachveränderungen 3.3.1. Die Sprachraumstruktur Die in 3.2. dargestellten Einzelerscheinungen zusammenfassend und viele Einzelheiten vernachlässigend, zeichnet sich am Ende des Zeitraums folgendes Bild ab: 1. Die Kanzleisprache in hess. Schreibstätten unterliegt insgesamt in den Sprachformen einem deutlichen Wandel. Bis ca. 1400 herrschen für das westliche Md. charakteristische Sprachformen stark und ziemlich einheitlich vor. Im 15. Jh. werden fortschreitend südlichobd. Schreibkonventionen verwendet, wobei sich die rheinisch-mainischen Schreibstätten dem Einfluß stärker öffnen als die nordhess. Differenzen im Kanzleistatus (und in den Textsorten) wirken sich jetzt stärker aus: Sprechsprachliche Reflexe werden besser faßbar. 2. Fast alle wichtigen phonologischen Veränderungen treten zwischen dem 9. und 11. Jh. zuerst im rhein.-mfrk. Bereich auf, verbreiten sich rheinaufwärts und gelten mit
Beginn der deutschsprachigen Schreibtradition im Rhein-Main-Gebiet mit Mainz und Frankfurt. Von hier sind sie, meist rasch verebbend, weiter nach Süden vorgedrungen, aber auch in die Wetterau, nach Mittelhessen und oft genug weiter nach Nordhessen und ins Omd.: Die Süd-Nord-Dynamik mit dem Rhein-Main-Gebiet, mit Frankfurt als sprachlichem Umschlagort, bestimmt auch die mittelalterliche und frühneuzeitliche Sprachgeschichte Hessens. In dem Maße aber, in dem die Sprecher sich in Mainz-Frankfurt (und deren südlichem Umland) den süddt.-obd. Spracheinflüssen öffneten, brach ⫺ bildlich gesprochen ⫺ die Wendemarke zusammen, die die aus dem Mfrk. rheinaufwärts gelangten Sprachformen nach Nordosten ins Mittelhess. und noch weiter nach Norden und Osten umgelenkt hatte. Dies scheint eine sprachhistorisch plausible Erklärung für die dialektologische Beobachtung (Wiesinger 1980) zu sein, daß sprachstrukturell die hess. Dialekte nördlich des Mains eng mit dem Mslfrk. verbunden sind. 3. Mit der Auslagerung des Rhein-MainGebiets aus den alten wmd. Sprachzusammenhängen, vollzogen gegen E. des 15. Jhs.,
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185. Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen
differenzieren sich südhess. und mittelhess. Sprachraum. Zwar bestehen weiterhin sprachliche Affinitäten (z. B. die /a:/-Monophthongierung) und eine gemeinsame Südwestorientierung; zugleich driften die Sprachräume auseinander, weil sich die Mittelhessen weitgehend der Übernahme der neuen südlichen Formen verschließen und die früher zeitweise gemeinsamen Sprachelemente beibehalten (/au/-Formen, Hebung zu /i:/, /u:/, steigende Diphthonge usw.): Die heutige Lagerung der /xs/-/s/-Grenze mitten durch die Wetterau versinnbildlicht den Prozeß. 4. Der Osten und Norden Hessens hat, wenn auch oft verspätet und zögernd, Anteil an den großen mittelalterlichen Sprachströmungen aus den Rheinlanden, übernimmt aber spätere Innovationen wie die nhd. Diphthongierung nicht. Die sprachhistorische Entwicklung legt die Deutung nahe, daß sich Nord- und Osthessen bei der Übernahme neuer Erscheinungen im Laufe der Zeit fortschreitend passiver verhalten, offen sind auch für Anbindungen an das Ostfrk. (wie der urkundlich kaum nachweisbare Wandel /e/ + /a/ (/bad/ ‘Bett’) oder Verbindungen zum Thüringischen. 3.3.2. Die Rolle Frankfurts Die „sprachschöpferische Leistung der deutschen Stadt im Mittelalter“ (L. E. Schmitt) beruhte auf der wirtschaftlichen und sozialen Fernorientierung ihrer führenden Gruppen. Mit dem Aufschwung der Schriftsprachlichkeit entstanden nicht nur Differenzen zwischen geschriebenen und gesprochenen Sprachformen, auch die gesprochenen städtischen Verkehrssprachen differenzierten sich. Je nach Nähe der Stadtsprache zum entstehenden überregionalen Standard fanden Prozesse des Ausgleichs oder der Überlagerung statt, wobei sich in den hessischen Städten beide Formen der Durchsetzung gemischt zu haben scheinen (Maas/Mattheier 1987). Mit dem Aufblühen der Städte entstand zugleich ein sozial-ökonomisch-kultureller Stadt-Land-Gegensatz, der die flächenhafte Ausdehnung von Sprachneuerungen seit der frühen Neuzeit offensichtlich erheblich behinderte. So konnte auch die große und überaus bedeutende Reichsstadt Frankfurt nur geringfügigen Einfluß auf die Sprache der nächsten Umgebung nehmen: Noch bis ins 19. Jh. reicht das Wetterauisch-Mittelhess. vor die Tore der Stadt. Was die Neuerungsbereitschaft angeht, fällt Frankfurt im Vergleich zum benachbar-
ten Mainz deutlich ab. Frankfurter Schreibstuben halten länger an bedrängten md. Erscheinungen fest (bis hin zu he und dit), übernehmen zögernder die neuen Formen bis hin zur nhd. Diphthongierung, die sich kanzleisprachlich in Frankfurt erst im 2. Jahrzehnt des 16. Jhs. voll durchsetzt. Auch der Buchdruck kam in Frankfurt erst nach 1530 zur Blüte, wieder Jahrzehnte später als der mittelrhein. in Mainz und Worms. Bei aller wirtschaftlichen und reichspolitischen Bedeutung Frankfurts ist unter sprachlichen Gesichtspunkten eine eher konservative Haltung unverkennbar. Sie hängt in der Wendezeit um 1500 wohl damit zusammen, daß Frankfurt in der Randzone des entstehenden gemeinen Deutschs südlichen Gepräges liegt. Der Anteil des Wmd. bei der Herausbildung der nhd. Schriftsprache gilt als eher geringfügig, auch wenn die Hauptmerkmale der nhd. Schriftsprache nach Frings (31957, K. 43) in einem westlichen Schlauch das RheinMain-Gebiet umfassen. Die Fringssche Auswahl und Kombination der Merkmale, deren Relevanz umstritten blieb, liefert als solche aber ohnehin keine hinreichende Erklärung für den geographischen Ursprung der nhd. Schriftsprache. Da nicht einmal die Frankfurter Schreibstätten im Hinblick auf die entstehende Gemeinsprache innovativ sind, kann der hess. Anteil insgesamt nicht allzu hoch veranschlagt werden.
4.
Sprachräume und Sprachvarianz: Die neuzeitlichen Entwicklungen
4.1. Sprachräume und Kulturraumforschung Um 1500 sind die wichtigsten phonologischen und morphologischen Sprachveränderungen vollzogen, die die dialektale Gliederung des hess. Sprachraums bis heute bestimmen. Größere Veränderungen haben sich in den folgenden Jahrhunderten vor allem im Bereich der Lexik und der Worträume ergeben. Besonders die rezente Wortgeographie schien (in Verbindung mit der phonologischen Raumgliederung) geeignet, die zentrale Hypothese der Kulturraumforschung zu überprüfen, dass natürliche, politische und kirchliche Grenzen als Schranken sprachraumorganisierende Kräfte gewesen seien (Maurer 1929, Mulch 1963, 1967). Über die mittelalterliche und frühneuzeitliche Lexik und Wortgeographie des hess.
2740 Raumes ist wenig bekannt. Mit Erasmus Alberus (vor 1500⫺1553) und seinem Novum dictionarii genus (1540) beginnt die Tradition der hess. Lexikographie, die mit den späteren Idiotica von Estor (1767), Schmidt (1800), Vilmar (1883), Kehrein (1891) und Crecelius (1897/99) wichtige Quellen für die Sprachgeschichte erschlossen hat und heute bereits selbst darstellt. Allerdings wird die Erwartung enttäuscht, die territorialen Entwicklungen, insbesondere der jahrhundertelange Kampf der führenden Mächte im hess. Raum, der Landgrafschaft und des Mainzer Erzbistums, oder der jahrhundertelange Weg der Landgrafschaft aus dem Niederhess.-Thüringischen nach Süden und an den Rhein fänden einen auffallenden Niederschlag in bestimmten Sprachraumstrukturen. Für den Raum der älteren hess.-thür. Landgrafschaft gibt es gerade zwei und dazu schwach ausgeprägte sprachliche Kennzeichen: Die Verbreitung von Sutte, Sotte ‘Jauche’ und gesenktes /ec¸/ ‘ich’. Die 1557 verselbständigte Obergrafschaft Katzenelnbogen, die spätere Landgrafschaft HessenDarmstadt, bildet nach Süden und Westen gegen die Kurpfalz und das Erzstift Mainz eine Sprachgrenze aus, die am auffälligsten die südliche Palatalisierung von /sd/ > /sd/ im In- und Auslaut betrifft, aber auch ein Bündel von Wortgrenzen wie Karren/Karch, Klosterbeere/Gruschele ‘Stachelbeere’ u. a. (Mulch 1987). Der Diözesanbereich des Erzbistums Mainz spielt keine nennenswerte Rolle. Verbreitungsbilder wie die von Sarg gegen älteres Leiche, Leichkar, Lade u. ä. (Maurer 1929, S. 57 ff. und Abb. 6) spiegeln ebenso wie von gleichgelagertem Streichholz (gegen Zündholz) allgemein den Einfluß des Rhein-MainGebiets auf die nordmainischen Landesteile. Für den Trierer Einfluß im Raum der unteren Lahn kann im wesentlichen nur /ic¸ sli:n/ ‘ich schlage’ angeführt werden (z. B. Frings 3 1957, K. 6). Für die kleineren Territorien gibt es eine Fülle von Beispielen (Mulch 1963), so das Mainzer Gebiet um Amöneburg, in dessen Umkreis sich einige südliche Ausdrücke wie ehrn ‘pflügen’, Buzche ‘Ferkel’, Parrer ‘Pfarrer’ (gegen Perner) etablieren konnten. Bei den weltlichen Territorien gilt z. B. als Kennwort für das Gebiet der Grafschaft Erbach die Bezeichnung Mallert für den ‘Eichkater’ oder Fräsch ‘Frosch’ für die ehemalige Grafschaft Solms-Lich.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Insgesamt ist aber die Bedeutung von Herrschaftsgrenzen für die Strukturierung des hess. Sprachraums geringfügig. Daß auch ein viele Jahrhunderte bestehendes Territorium ohne nennenswerten Einfluß auf den Verlauf von Sprachgrenzen bleiben kann, zeigt am deutlichsten die Grafschaft Waldeck, inmitten derer die hd./nd. Sprachgrenze verläuft. Außer Frage steht natürlich, daß neuzeitliche Sprachbewegungen im Raum in nicht unerheblichem Ausmaß stattgefunden haben. Wie aber schon die Verbreitung von Sarg und Streichholz gezeigt hat, gibt es jetzt in der Neuzeit eine sehr allgemeine Tendenz der Verbreitung sprachlicher Neuerungen in SüdNord-Richtung mit einem allmählichen Verebben der neuen Formen im mittleren oder nördlichen Hessen, spätestens an den natürlichen gebirgigen Außengrenzen des hess. Raumes, wie die Staffelungen auf der folgenden Karte (nach Mulch 1967, K. 4) zeigen (vgl. K. 185.5). Was sich als flächenhafter Wellenprozeß darstellt, ist in der Neuzeit, vor allem aber seit dem 19. Jh. durch die Übernahme Frankfurter Formen in den mittleren und kleineren Städten Hessens erfolgt, von denen aus dann auch die Landbevölkerung die Formen allmählich übernahm (Debus 1963/64). So war z. B. die Grenze zwischen südlichem Samstag und nördlichem Sonnabend mitten durch die Wetterau jahrhundertelang stabil. Im 19., vor allem im 20. Jh. kommt dann Samstag immer rascher nach Norden voran, wobei die südliche Form zuerst in der Stadt Gießen übernommen wird und sich dann ins Umland verbreitet (Maurer 1964, 27 ff. und K. 185.3). Betrachtet man die Entwicklung der hess. Sprachräume über die Zeiten, wird deutlich, daß die Differenzierung mit den generellen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Orientierungen der Kommunikationsgemeinschaften zusammenhängt. Der in diesen Hinsichten immer dominierende mittelrhein. und untermainische Raum bewirkt eine durchgängige Süd-Nord-Dynamik, wobei der nordhess. und der osthess. Sprachraum sich eher passiv und zurückhaltend in der Aufnahme neuer Formen verhalten, zudem ihren Zusammenhang mit dem omd.-thür. Sprachraum wahren. Mittelhessen hingegen bleibt, bei all seiner sprachstrukturellen Andersartigkeit, nach Süden und Westen ausgerichtet. So bleibt bis auf den heutigen Tag die entscheidende Sprachscheide in Hessen dieje-
185. Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen
Karte 185.5: Naturräumliche Außengrenzen des hessischen Sprachraums
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2742 nige, die sich bereits in K. 185.1 angedeutet hatte. Die hess. Flurnamenräume (Ramge 1987), die insgesamt einen älteren Zustand repräsentieren als die heutigen Dialekträume, zeigen im Vergleich mit diesen einerseits einen hohen Grad an Entsprechung, andererseits insgesamt eine Verschiebung der maßgeblichen Sprachgrenzen nach Norden, so daß die auch in K. 185.1 erkennbare ‘mittelhessische Namenscheide’ die unterschiedlichen Sprachorientierungen bis weit in die Neuzeit am besten dokumentiert. 4.2. Sprachvariation als Form symbolischen Handelns Die wohl im Gefolge der Schriftlichkeitskultur entstandene Differenz zwischen Stadtund Landsprachen veränderte sich grundsätzlich erst im Zeitalter der industriellen Revolution durch die jetzt geforderte soziale Mobilität. Mit dem gewerblich-industriellen Pendlertum entstanden neue kommunikative Netze, die die älteren der wandernden Landarbeiter und der Taglöhner ersetzten. Gruppen der vom Land in die Stadt pendelnden Arbeiterschaft übernehmen in unterschiedlichem Ausmaß sprachliche Zeichen der Stadtsprache als symbolische Widerspiegelung des Sozialprestiges, das mit der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Werk oder einer bestimmten Position im Produktionsprozeß verbunden ist (für Wetzlar Hofmann 1963). Bei diesem Sprachwandel, der sich vor allem seit dem 2. Weltkrieg stark beschleunigt hat, setzen sich die städtischen Formen auf dem Land nicht durch, sondern es kommt zum sozial und situativ geprägten Nebeneinander von Formen im Sprachgebrauch der Sprecher und zugleich zu einer fortschreitend intensiver werdenden Anpassung an die auch medial allgegenwärtige Standardsprache. In dem Maße, in dem der stadtsprachnahe Sprachgebrauch sich der Standardsprache nähert, entstehen verschiedene Varietäten von Umgangssprachen, die den Dialektgebrauch als Sprechvariante überlagern. Daß dabei neue Regionalismen entstehen, zeigt die Geschichte der einzigen wichtigen phonologischen Neuerung der jüngeren Vergangenheit, die Palatalisierung des /c¸/ in allen lautlichen Umgebungen zu /s/: /mis/, /bers/, /kers/ ‘Kirche’ und ‘Kirsche’, /sbi(:)sel/ ‘Spiegel’, die heute allgemein südlich der mittelhess. Sprachscheide gilt. Der Lautwandel hat sich im 19. Jh. wohl zuerst in den Städten Frankfurt und Mainz vollzogen (Herrgen 1986).
XVII. Regionalsprachgeschichte
Ambivalent in Annäherung und Distanz zur Standardaussprache zugleich, ist die /s/-Aussprache zu einem Hauptmerkmal des sich gegenwärtig entwickelnden „Neuhessisch“ mit Frankfurter Einschlag geworden. Die Untersuchung der Varietäten im heutigen Sprachgebrauch von Frankfurt zeigt, wie standardnah die eine der beiden Hauptvarietäten schon ist und beispielsweise hess. unverschobenes /p/ durch /f/ ersetzt (/fenic¸/ ‘Pfennig’), die neue /s/-Aussprache aber beibehält (Brinkmann to Broxten 1986, 50 ff.). Der heutige Dialektgebrauch zeigt ein deutliches Süd-Nord-Gefälle in der DialektKompetenz: Während rund zwei Drittel aller Südhessen angeben, einen (oder mehrere) Dialekt(e) zu sprechen, sinkt dieser Anteil auf etwa ein Drittel in Nordhessen, sogar auf ein Viertel im nd. sprechenden Teil Hessens. Bei einer Differenzierung nach Altersklassen sinkt der Anteil bei den jüngeren noch weiter ab (Friebertshäuser/Dingeldein 1989). Der Dialektgebrauch wird in formellen Sprechsituationen sehr stark zurückgedrängt, stabilisiert sich aber, jedenfalls in Süd- und Mittelhessen, im sozialen Nahbereich: Dialekt wird in der lokalen Kultur zunehmend zum sprachlichen Symbol der Zusammengehörigkeit. Die mittlerweile entstandene überregionale Standardvarietät zeigt in der (städtischen) Verbreitung des derzeitigen Wort- und Formenbestands (Friebertshäuser/Dingeldein 1988) aus sprachhistorischer Perspektive als Hauptergebnis: Zwar werden primäre Dialektmerkmale wie das unverschobene /p/, das nur noch in Südhessen ziemlich unangefochten herrscht, weitgehend aufgegeben, wie auch die alten Monophthonge in Eis, Zeit in den größeren Orten Ost- und Nordhessens. Aber sehr viele der Verbreitungsbilder spiegeln in verblüffender Weise die Sprachraumstrukturen, wie sie sich historisch entwickelt haben, insbesondere die mittelhess. Sprachscheide und die Mainlinie als Grenzzone. Nur Fulda hat sich jetzt meist zu den südlichen und mittelhess. Formen gestellt. Bei der Überführung in überregionale Sprachvarietäten sind die historisch gewordenen Grundmuster des hess. Sprachraums auch unter stark veränderten Kommunikationsbedingungen erhalten geblieben. Einer besonderen sprachgeschichtlichen Betrachtung bedürfte der Einfluß nicht-deutscher Sprachen auf die Sprachvariation und Sprachverwendung in Hessen: des Jiddisch-
185. Aspekte einer Sprachgeschichte des Hessischen
Hebräischen, des Manischen (einer dem Rotwelschen verwandten Sondersprache sozialer Randgruppen vor allem in Gießen) und des Französischen durch die umfangreiche Ansiedlung der Hugenotten seit 1685, deren sprachliche Assimilation mittlerweile vollständig vollzogen ist.
5.
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XVII. Regionalsprachgeschichte
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Hans Ramge, Gießen
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen 1.
2. 3. 4.
5.
Ostmitteldeutscher Regiolekt: Versuch einer sprachhistoriographischen Gegenstandsbeschreibung Historische Sprachräume des Ostmitteldeutschen Zur Geschichte kommunikativer Strukturen eines regiolektalen Transferraumes Historische Diagliederung des omd. Regiolekts und Diagliederung des deutschen Standards Literatur (in Auswahl)
1.
Ostmitteldeutscher Regiolekt: Versuch einer sprachhistoriographischen Gegenstandsbeschreibung
1.1. Ostmitteldeutsch ist im Rahmen der sprachgeographischen Wissenschaftstradition zunächst die Bezeichnung eines Teilbereichs des dt. Sprachgebiets und der dort gesprochenen bzw. überlieferten Mundarten. Von deren
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen
entwicklungsgeschichtlichem Primat im Prozeß der Herausbildung der dt. Schriftsprache ausgehend, hat der Name dann auch analoge, d. h. sprachräumlich lokalisierende Anwendung auf Teilmengen literaler historischer Texte der deutschsprachigen Überlieferung vor allem der spätmittelalterlichen Epoche gefunden. Im Verständnis soziopragmatischer Beschreibungsmodelle der dt. Gegenwartssprache schließlich meint der Begriff eine (areale) Varietät der als Variable aufgefaßten dt. (Gesamt-)Sprache; sie wäre zu bestimmen als die Gesamtheit derjenigen ⫺ potentiellen wie realisierten ⫺ Äußerungen, die durch eine begrenzte Menge von Übereinstimmungen in Repertoire und Verwendungsregularitäten der sie konstituierenden Zeichen charakterisiert sind und diese gegenüber anderen deutschsprachigen Äußerungen abgrenzen. Für die ins Auge zu fassende sprachgeschichtliche Darstellung „des Ostmitteldeutschen“ ergibt sich mithin in bezug auf ihren eigentlichen Gegenstand eine nicht wenig störende onomasiologische Vagheit. Sie verdankt sich heterogenen konzeptionellen Perspektiven bzw. unterschiedlichen methodologischen Zugriffen des jeweiligen Beschreibungsinteresses, wird aber empirisch immerhin über die Merkmale Sprachraum (Arealität), Teil ⫺ Ganzes ⫺ Relation in bezug auf die (als irgendwie übergeordnet angenommene) Bezugsgröße dt. Sprache (Partialität) und durch die daraus resultierende Abgrenzung und sprachliche Eigenart gegenüber anderen vergleichbaren Beschreibungsgegenständen (relationale „Idiotizität“ oder Spezifik) zusammengehalten. Auf eine solcherart „definierte“ Beschreibungsgröße sei im folgenden der Terminus Regiolekt angewandt. Gegen seine Verwendung mag sprechen, daß er unvermeidbar das ebenso heterogene wie inhaltlich relativ vage Verständnis von dem assoziiert, was in den unterschiedlichsten modernen Sozial- und Geisteswissenschaften als Region firmiert (Lottes 1992; Handke 1993; Kohler-Koch 1994). Ein Bezug auf die damit verbundenen ebenso ausgebreiteten wie unübersichtlichen Diskussionen wird hier aber ausdrücklich nicht hergestellt. Regiolekt wird mithin verstanden als deskriptives Konstrukt, das die natürliche Variabilität einer Sprache nach den Merkmalen Arealität, Partialität und relationale Idiotizität (Spezifik) ausschnitthaft erfaßt, ohne in irgendeiner Weise auf weitergehende funktionale, soziale, mediale oder gar wissenschaftshistorische Spezifizierungen festgelegt zu sein. Diese werden
2745
vielmehr, soweit erforderlich, in die Deskription eingeschlossen. 1.2. Das gilt auch und gerade für das diachronische Beschreibungsinteresse und hat für die Auswahl möglicher historiographischer Aspekte des Gegenstandes omd. Regiolekt die folgenden Konsquenzen: 1.2.1. Rückt der Regiolekt als spezifische, in ihrer Eigenart und demzufolge in ihrem Eigenwert historisch zu beschreibende sprachliche Gegebenheit in den Mittelpunkt des Interesses, ändern sich gegenüber einer gesamtsprachlich orientierten Betrachtungsweise methodologisch in grundsätzlicher Weise Standpunkt und Perspektive: Statt einer mehr oder weniger teleologischen, d. h. von allem Anfang an retrospektiv ⫺ selektiv auf das Resultat „deutsche Standardsprache“ hin konzipierten dt. Sprachgeschichte in historischen Querschnitten ⫺ mit den jeweiligen „Anteilen“ einzelner Landschaften oder Varietäten am Endprodukt ⫺ muß es (idealiter) um die prospektiv ⫺ autonome Darstellung der Entwicklungen des Regiolekts im geschichtlichen Längsschnitt gehen, zunächst völlig unabhängig davon, ob die regiolektalen Prozesse überhaupt und gegebenenfalls wieviele von ihnen für die Standard- oder Nationalsprache und Regiolekt Bedeutsamkeit erlangt haben. Beschreibungsgegenstand einer omd. Sprachgeschichte sind in diesem Verständnis sämtliche chronologischen Varietäten des Regiolekts von seinen Anfängen bis auf die Gegenwart. Daß eine solche Beschreibung auf der Grundlage der bisher erbrachten Forschungsergebnisse zur Zeit praktisch nur in Bruchstücken geleistet werden kann, sei bereits hier betont, ändert aber natürlich nichts an der Produktivität der Fragestellung als solcher: Der quantitativ weitaus überwiegende Teil der dt. sprachhistorischen Entwicklungen dürfte in regiolektalen Begrenzungen stattgefunden haben und bedarf methodologisch spezifischer Beschreibungsraster. 1.2.2. Anzunehmen ist also eine Diagliederung des Regiolekts, der sich auf den zur Deskription ausgewählten Zeitebenen seinerseits durch areale, funktionale, soziale und mediale Varietäten konstituiert. Bezogen auf die Sprachbenutzer, existieren und interagieren jene Varietäten in dem kommunikativen Netzwerk soziokultureller Beziehungen, das historisch jeweils die Basis für deren sprachlich-kommunikatives Handeln abgibt. Dieses
2746 Netzwerk sei unter ausdrücklichem Bezug auf die kulturmorphologische Schule von Th. Frings und F. Mauer als Kulturraum spezifiziert, allerdings mit der Modifikation, den Begriff nicht einseitig oder vorrangig auf mündliche Varietäten in einem geographisch begrenzten Areal anzuwenden, sondern als Gesamtheit soziokultureller Parameter eines historisch gewachsenen Diasystems zu verstehen. Der kommunikative Ort des omd. Regiolekts wird so bestimmt durch die ⫺ historisch wechselnden ⫺ Geltungsbereiche einer spezifischen Kommunikationskultur. 1.2.3. Diese begriffliche Erweiterung macht sich u. a. deshalb erforderlich, weil m. E. auf diese Weise eine methodisch saubere Einbeziehung der interaktionalen Beziehungen des omd. Regiolekts, die er im Laufe seiner Geschichte zu anderen Regiolekten und zum gesamtsprachlichen Standard eingegangen ist, ermöglicht wird: Es handelt sich nach dem hier entwickelten Verständnis vom Wesen eines Regiolekts dann um „Außenbeziehungen“, d. h. in jedem Fall um Erscheinungsweisen sprachlich-kommunikativer bzw. interkultureller Interferenz zwischen autonomen sprachgeschichtlichen Einheiten, nicht einfach um z. B. Ausgleich und Vereinheitlichung auf der Ebene nur einer regiolektalen Varietät (etwa der Literalität) oder gar bloß um Ausstrahlung einzelner Merkmale bzw. Neuerungen wie Monophthongierung, Diphthongierung oder Konsonantenschwächung. Der historische Anteil, der dem Omd. bei der Herausbildung der dt. Schrift- und Standardsprache zuzuschreiben ist, wird sich demgemäß aus regiolekthistoriographischer Perspektive verfremdend darstellen müssen als Ergebnis interferentieller Interaktion zwischen (mindestens) zwei Diasystemen. 1.2.4. Prozesse dieser Art können nach dem hier für verbindlich gehaltenen Konzept einer pragmatischen Sprachgeschichtsschreibung (Schlieben-Lange 1983) nicht zureichend erhellt werden ohne Einbeziehung sozialpsychischer Parameter wie Sprachgemeinschaftsbewußtsein und Sprachideologie. Das Konzept der Kommunikationskultur bietet hierfür insofern einen günstigen Ansatz, als Sprachtätigkeit und kulturelles Handeln hier explizit als funktionale Einheit gefaßt werden und Kultur sich, anthropologisch gesehen, generell von außen her begrenzt, also mit einiger Sicherheit die Konstituierung und Tradierung regionaler Identität entscheidend prägt. Da aber alle natürlichen und künstlichen Umwel-
XVII. Regionalsprachgeschichte
ten der Menschen „über sprachlich gefaßte gedankliche Prozesse hergestellt, vermittelt und akzeptiert werden müssen“ (Steger 1990, 45), kann regionale Identität ihrerseits als sprachgeschichtliches Produkt wie umgekehrt auch als sprachgeschichtsbildende Kraft über das Gesamtspektrum der kulturgeschichtlichen Fakten beschreibungswirksam werden. Geschichte des Regiolekts und Geschichte kultureller Systeme wie Literatur, Musik, Baukunst schließen sich über die vermittelnde Instanz des Stilwillens einer Landschaft zusammen und vermögen einander entwicklungsgeschichtlich wechselseitig zu erhellen (Lerchner 1992). Zusammenhänge der Stilgeschichte dieser Art entwickeln analysepraktische Signifikanz insbesondere in bezug auf jüngere Sprachstufen, auf denen der Kultivierungsgrad von Sprachvarietäten, oralen wie literalen, die Entwicklung des Regiolekts insgesamt und seine überregionalen Einflüsse oder eben auch Einbußen im besonderen entscheidend bestimmt. 1.2.5. Als Gegenstand einer aspektuell begrenzten sprachgeschichtlichen Beschreibung des Omd. sollen also gelten die areale Herausbildung und die kulturell-kommunikativ bedingten Veränderungen des omd. Regiolekts als eines Diasystems im weiteren Rahmen der deutschen Gesamtsprache, dessen Spezifik bezüglich der strukturierten Gesamtheit seiner Varietäten im historischen Längsschnitt und, als regiolektgeschichtliche Konstante, seine traditionsbildende Funktion für die Ausformung der regionalen Identität der „sprechenden Menschen“. Bei der analytischen Sicherstellung entsprechender „Regionaldaten“ (Mattheier 1982, 572) zum Siedlungs- und Lebensraum, zu den wirtschaftlichen, administrativen und politischen Strukturen des Raumes und zu seiner gesellschaftlichen Wertstruktur wird freilich deutlich, daß ein Beschreibungsvorhaben nach diesen Parametern häufiger als zuträglich auf Lükken im verfügbaren Wissen stößt, die nicht geschlossen werden können. Sie bezeichnen Desiderate der Forschung. Aber auch unabhängig davon kann in diesem Rahmen eine omd. regiolektale Entwicklungsgeschichte zur Gänze ohnehin nicht geleistet werden.
2.
Historische Sprachräume des Ostmitteldeutschen
2.1. Nach dialektgeographischem Befund gliedert sich das Omd. in die historischen Geltungsbereiche des Obersächsischen, des
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen
2747
Karte 186.1: Deutsche Mundartlandschaften (aus: Wiesinger 1983, K. 47, 4)
Thüringischen, des Schlesischen und (partiell) des Böhmischen. Außerhalb des geschlossenen Areals treten das Hochpreußische und eine kleinere (erzgebirgisch-obersächsische) Kolonie im Oberharz hinzu (Wiesinger 1983; vgl. K. 186.1). Diese werden mit der Bezeichnung ostmitteldeutsch „in eine dreifache sprachgeographische Beziehung“ gesetzt: als ostmitteldeutsch in einer unterscheidenden Bindung an den dt. Westen, über HessenNassau bis an den Rhein, als mitteldeutsch in die Südnordstaffelung der dt. Mundartlandschaften von den Alpen bis ans Meer, mit Verweis „bald nach Niederdeutschland, bald nach Oberdeutschland“ (Frings 1936, 175). Das als obersächsisch geltende Areal setzt sich im Südwesten und Westen von obd.
Mundarten im Egerland (nordbairisch) und im Vogtland (ostfränkisch) ab, im Westen gegen das Thüringische und im Osten bzw. Südosten gegen das Schlesische (unter Einschluß der lausitzisch-sorbischen Sprachinsel); im Norden bildet es im Elbe-Elster-Mulde-Gebiet und Südbrandenburg eine nordobersächsisch-südmärkische Übergangszone. Insgesamt weist es in der Tat eine deutliche NordSüd-Staffelung auf. Das Thüringische grenzt im Süden an das Oberdeutsch-Ostfränkische, im Westen ⫺ allerdings nur auf Grund kleinräumiger struktureller Unterschiede bei gleichzeitig geltenden Gemeinsamkeiten ⫺ an das Westmitteldeutsche (Ost- und Nordhessische), im Norden an das Niederdeutsch-Ostfälische und geht im Osten in das Obersächsi-
2748 sche über. Das Schlesische, als historisch ehemals größter omd. Dialektverband im Osten an das Obersächsische anschließend, gliedert sich in zwei Großbereiche, das (stärker mitteldeutsch geprägte) Nord- oder Reichsschlesische und das (mittelbairisch beeinflußte) Süd- oder Sudetenschlesische. Im Osten hat es eine offene Grenze gegen das Polnische. Das Hochpreußische schließlich, als ⫺ heute faktisch nicht mehr existierende ⫺ Sprachinsel weit nördlich vom (übrigen) omd. Areal gelegen, wird von drei Seiten (W, N, O) durch das Niederdeutsch-Niederpreußische eingeschlossen und bildet nach Süden eine Saumzone mit poln. Mundarten. Insgesamt ist die Gebietsentwicklung des Omd. durch die Jahrhunderte seiner Existenz, als Regiolekt betrachtet, durch bemerkenswerte Inkonstanz gekennzeichnet: Bezieht man, wie methodologisch unabweislich, seine literalen und oral-umgangssprachlichen Varietäten in die Betrachtung ein, stehen bedeutenden Erweiterungen seiner arealen Geltung in der Zeit zwischen 16. und Mitte des 18. Jhs. bzw. Ende des 19./erste Hälfte des 20. Jhs. starke Gesamtverluste als Folge des II. Weltkrieges gegenüber, die insbesondere das Schlesische und Hochpreußische sowie das Böhmische betreffen. 2.2. Vor die wissenschaftsgeschichtlich-traditionsbedingte Notwendigkeit gestellt, das Omd. als sprachgeschichtliche Beschreibungsgröße zu begreifen, bleibt keine andere Wahl, als Osächs., Thür., Schles., streng genommen (wenn auch mit deutlichen Fragezeichen versehen) auch Böhm. und Hpreuß., beschreibungspraktisch als areale Varietäten des omd. Regiolekts zu handhaben, auch wenn sie ihrerseits keine in sich einheitlichen dialektalen Einheiten bilden. Die Frage nach ihrer kommunikativ-funktionalen Verortung in einem gemeinsamen Diasystem läßt sich anhand der von der sprachgeographischen Forschung sichergestellten Ergebnisse allerdings nicht zufriedenstellend beantworten, insofern diese die (rezenten) omd. Mundartlandschaften als Resultate von Siedelvorgängen (vgl. 2.3.), also von historischen Prozessen erklärt und ⫺ im spezifischen Unterschied zu westlichen Gebieten, etwa im Rhein.-Wmd. ⫺ primär gerade nicht auf Kommunikationsräume bezieht. Die Verwertbarkeit des dialektgeographischen Befundes als historische Ausgangsbasis für eine Sprachgeschichte des Omd., von der älteren dt. Sprachgeschichtsforschung mehr oder weniger unreflektiert
XVII. Regionalsprachgeschichte
vorausgesetzt, wird dadurch für das Omd. wohl stärker zu problematisieren sein, als es prinzipiell auch für andere dt. Sprachlandschaften notwendig erscheint. Immerhin lassen sich aus der groben Skizzierung der sprachräumlichen Geltung omd. Dialekte, die Möglichkeit einer Projektierung rezenter Verhältnisse in die historische Tiefe einer sprachgeschichtlichen Ausgangssituation einmal nicht grundsätzlich in Frage gestellt, die folgenden historiographisch relevanten Feststellungen treffen: (a) Den Regiolekt kennzeichnet areal eine signifikante interne Differenzierung, die das Konstrukt eines historischen omd. Diasystems in einem gewissen Abstand zur kommunikativen Realität, d. h. in einem erheblichen Abstraktionsgrad erscheinen läßt. (b) Den arealen Varietäten kann eine gewisse Weitläufigkeit ihrer sprachräumlichen Bereiche zugeschrieben werden. (c) Der omd. Regiolekt wird durch relative Offenheit bzw. Unabgeschlossenheit seiner kommunikationsräumlichen Konstitution charakterisiert. Insbesondere die Begrenzungen nach Westen wie nach Osten sind strukturell nur schwach markiert und daher für eine Außenbegrenzung funktionell wenig(er) bedeutsam. (d) Dadurch wird die Annahme nahegelegt, daß omd. Sprachraum (areale Sprachgeltung) und historischer Kommunikationsraum bzw. historische Kommunikationsräume keine kongruente Entwicklung durchlaufen haben.
2.3. Der dialektgeographische Befund hat insbesondere durch die Untersuchungen der Leipziger Schule der Kulturraumforschung (Kulturmorphologie) seit den dreißiger Jahren eine die Sprachgeschichtsdarstellungen bis heute weithin beherrschende sprachhistorische Interpretation erfahren (Frings 1936; 1956; 1957). Die wesentlichen Gesichtspunkte dieses in seiner Weitgespanntheit und intuitiven Genialität nach wie vor imponierenden Zugriffs lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das Omd. ist zu seinem überwiegenden Teil im 12. und 13. Jh. durch dt. Siedlung auf „kolonialem Neuland“ entstanden, d. h. auf slaw. Gebiet östlich einer Linie, die etwa von Mittelelbe, Saale und Unstrut gebildet wird. Gestützt auf die großflächige Übersicht ermöglichenden Karten des Deutschen Sprachatlas, wurden sprachliche Merkmale der omd. Dialektlandschaften zu gleichen Merkmalen im Altland vergleichend in Beziehung gesetzt. Dabei ergaben sich ⫺ der Materialbasis gemäß überwiegend lautliche ⫺ Übereinstimmungen, die sich zu drei großen Gruppierungen zusammenfügen ließen: Eine Verbindung vom Osächs. über das westliche Thüring. nach dem Wmd., nach Hessen und zum Rheinland, Beispiele die Monophthongierung von ie, uo, üe zu den Langvokalen ¯ı, u¯, ü¯; Hebung
Karte 186.2: Wetter, schlecht, Schwester (nach Frings in: Ebert u. a. 1936, K. 57)
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen
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2750 der Langvokale e¯, o¯ und Senkung der Kurzvokale i, u; Kontraktion bei haben; Vokalisierung von -age-; Senkung von e zu a (vgl. K. 186.2); Diminutivsuffix -chen usw. Zweitens traten südwestlich gerichtete Übereinstimmungen zwischen dem Südmeißnisch-Norderzgebirgischen, dem Vogtländischen und dem Egerländischen mit dem Ofrk. und Nordbair. zutage, Beispiele e-Apokope, -na-Morphem dat. plur. usw., mit einer Nordgrenze an der thüringischen sog. Holzlandschranke. Eine dritte Gruppierung zeigte Übereinstimmung mit dem Nd., z. B. unverschobene Lautverschiebungsfälle, Monophthong statt Diphthong in Reliktwörtern (sˇlı¯sn statt schleißen), Spirantisierung von anlautendem g- bis in das Osterländische um Leipzig hinein, wo später g < k und g < g zusammenfallen. Dem deutenden Auge des Sprachhistorikers stellten sich diese kartographischen Verbindungen dar als Zeichen mit Signalwert für einen epochalen hochmittelalterlichen Siedelprozeß, in dessen Verlauf die ostelbisch-ostsaalischen Gebiete in das dt. Sprachgebiet eingegliedert worden waren. Rekonstruktiv (und stark idealisiert) hatte dieser sich demgemäß auf drei Siedelbahnen vollzogen: einer südlichen (obd.-mainfrk.) auf einer Linie Bamberg⫺Meißen⫺Dresden, einer mittleren, md. Bewegung auf der Linie Erfurt⫺Leipzig⫺Breslau und einer nördlichen, nd. (ofäl.) entlang der Linie Magdeburg⫺ Leipzig (vgl. K. 186.3). Die später nachfolgende Lokalforschung hat die Ansetzung dieser nördlichnd. Siedelbahn (über das „Tor“ Magdeburg) ⫺ übrigens unter Frings’ Zustimmung ⫺ als im wesentlichen nicht gerechtfertigt nachgewiesen und scheinbar Niederdeutsches durch Herkunft aus dem (ursprünglich nichtverschiebenden) Nordthür. bzw. aus Reliktlage gegenüber Vorbrüchen des Md. nach Norden erklärt (Schönfeld 1958; Bischoff 1967; Krug 1969; Stellmacher 1973; Langner 1977). Auch der im Zuge der nördlichen Siedelbahn zunächst als relativ hoch veranschlagte nl. Anteil an diesem Siedelzug (Karg 1933; Teuchert 1944) hat der Kritik in wesentlichen Teilen nicht standgehalten (Lerchner 1959).
2.4. Abgesehen von Korrekturen an Einzelheiten, hat das Verfahren grundsätzlich Kritik herausgefordert. Sie läßt sich auf drei Einwände bringen. Der erste bezieht sich, wie bereits angedeutet, auf die methodologisch grundsätzlich ungesicherte Projektion synchronischer Arealstrukturen auf diachronische Zustände und die damit zusammenhängende Deutung räumlicher Verbreitungen von dialektalen Spracherscheinungen als lineare Folge ihrer Geschichte (Schützeichel 1967, 84; Besch 1985, 1787). Wenn auch unter bestimmten Umständen durchaus eine gewisse Folgerichtigkeit in der grundsprachlichen Entwicklung eingeräumt wird, die die heutigen Mundarten zur „wichtigsten Stütze in der Rekonstruktion historischer Mundart“ zu machen vermag, so mahnt doch zur Vor-
XVII. Regionalsprachgeschichte
sicht, daß selbst in ausgesprochen altertümlichen Dialekten wie denen im Süden des Alem. neben Relikterscheinungen auch eindeutige Neuerungstendenzen zu beobachten sind. Ist dies schon ein generelles Problem sprachraumbezogener Sprachgeschichtsforschung, so erhält es in vergleichsweise jungen Siedelgebieten noch größeres Gewicht, in denen nach Mischung und Ausgleich zwischen Sprachgebrauchssystemen areal höchst unterschiedlicher Herkunft mit großer Wahrscheinlichkeit die Konstituierung und relativ eigenständige Weiterentwicklung selbständiger Dialekte stattgefunden hat. Wiesinger (1983, 862) zieht so für das Osächs. ein konstantes Verhältnis zwischen dem dialektalen Befund der Neuzeit und dem Sprachstand zur Siedelzeit in Zweifel. Schon 1968 hatte auch de Smet, trotz aller unverkennbaren Bewunderung für die erzielten „glänzenden Ergebnisse“, die „heroische und optimistische Zeit der Sprachgeographie, die aus den modernen Sprachatlanten die Sprachgeschichte vollständig rekonstruieren zu können glaubte“, für beendet erklärt (de Smet 1968, 50). In gleiche Richtung scheinen, der kommunikativen Situation nach durchaus vergleichbar, auch die Ergebnisse der Sprachinselforschung Schirmunskis zu weisen, der im Abstand weniger Generationen sogar den kompletten Mundartenwechsel einer ganzen Dorfgemeinschaft in fremdsprachiger Umgebung festzustellen hatte (Schirmunski 1931/ 1992, 222). Für die omd. Siedelzeit ist dergleichen natürlich nicht belegbar, ausgeschlossen erscheint es gleichwohl nicht, besonders nicht im Bereich der auf K. 186.3 nach Norden und Süden angezeigten Staffelungen, die Frings selbst als Zeugnis der Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Herkunftsdialekten interpretiert hatte. Andererseits hat die mit Hilfe dialektometrischer Untersuchungen auf der Grundlage der computativen Grundlage des Kleinen Deutschen Sprachatlas vorgenommene Überprüfung der methodologischen Grundannahme Frings’ doch eine Bestätigung der weitgehenden Übereinstimmungen zwischen den dialektgeographischen Daten auf historischer und rezenter Zeitebene erbracht (Putschke/Hummel 1990, 56). Anhand der dialektometrischen Kartierungen werden spätmittelalterliche Ausgleichsprozesse für das Meißnische, aber auch für das Fränkische und (Mittel)Bairische deutlich erkennbar, „sofern keine methodischen Bedenken gegen eine solche Rückprojektion der Wenker-Daten erhoben werden“ (Putschke/
Karte 186.3: Mitteldeutsche Siedelbahnen (aus: Frings 1957, 41)
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen
2751
2752 Hummel 1990, 57). Damit erfährt indessen auch der Sonderstatus der omd. kolonialen Ausgleichssprache, von Frings im Sinne sprachlandschaftlicher Priorität bei der Entstehung und Ausbreitung der deutschen Hochsprache postuliert, eine wichtige Korrektur, so daß insgesamt ein produktiver Ausgleich zwischen den Standpunkten möglich scheint. Das berührt indessen nur indirekt den zweiten objektiv, nach der Forschungssituation der Zeit freilich nicht subjektiv geltend zu machenden Einwand gegen das dialektgeographische Verfahren. Er bezieht sich auf die mangelnde funktionelle Transparenz des Prozesses, der nach den konzeptionellen Annahmen gleichsam in einer Art „black box“ situiert erscheint, insofern die de facto gegebene Interferenzsituation zwischen den aufeinandertreffenden heterogenen Dialektsystemen in der Beschreibung keine gegenstandsadäquate Berücksichtigung gefunden hat (Lerchner 1990). Damit in unmittelbarem Zusammenhang steht, drittens, daß der fehlende strukturelle Gesichtspunkt bei dem praktizierten Dialektvergleich zwischen im Prinzip völlig willkürlich ausgewählten einzelnen sprachlichen, noch dazu weithin auf das lautliche Teilsystem beschränkten Entitäten die Gültigkeit der Aussagen stark problematisiert (Große 1990). 2.5. Trotz alledem besteht, aufs Ganze gesehen, kein hinreichender Grund, die Fundierung der omd. Sprachgeschichte durch die Ergebnisse sprachgeographischer Forschung generell in Frage zu stellen. Werden sie doch, dem kulturmorphologischen Gesamtkonzept gemäß ⫺ was häufig nicht gebührend ins kritische Kalkül gezogen worden ist ⫺, in gewichtiger Funktion durch Resultate interdisziplinärer Forschungen von Namenhistoriographie, Landes-, Kirchen- und Rechtsgeschichte, Verkehrsgeographie, Volkskunde, Siedlungsformen- und Patrozinienforschung gestützt oder doch wenigstens flankiert ⫺ auch dies freilich ohne Explikation des internen Mechanismus des funktionellen Zusammenwirkens der heterogenen Erscheinungen, aber in der Summe ihrer Teilaussagen für das Gesamtbild doch mit unbestreitbarer Argumentationskraft. Nur auf die in diesem Zusammenhang wichtigsten Einzelheiten sei hier, Ungesichertes und Umstrittenes außer acht lassend, hingewiesen (Ebert/Frings/ Gleißner u. a. 1936): (a) In namenhistoriographischer Hinsicht haben sich früh mehr oder weniger eindeutige Zuordnungen bestimmter Ortsnamenvorkommen zu den drei
XVII. Regionalsprachgeschichte Siedelzügen feststellen lassen, im Obersächsischen Orte des südlich-mainischen Typs auf -grün, nordbairisches -reut(h) im Vogtland und Egerland, mitteldeutsche Typen auf -hain, -walde und -rode im osächs. Tiefland, im Nordwesten Ortsnamen auf städt (Becker/Bergmann 1969, 29) ⫺ Süden, Mitte und Norden also auch hier. (b) Die in der Ostsiedlung und beim Landesausbau führenden Adelsgeschlechter im Mittelelberaum lassen sich ihrer Herkunft nach zumindest teilweise ins westsaalische Thüringen und Mainfränkische zurückverfolgen, Beispiel die (möglicherweise) frk. Herkunft der durch Wiprecht von Groitzsch geförderten Ansiedlungen im Osterländischen um Leipzig (Czok 1989, 105 ff.). Die ⫺ relativ wenigen ⫺ einschlägigen Urkunden der Zeit bezeugen zudem Ansiedlungen nach frk. Recht, in einigen Fällen auch ausdrücklich die Herkunft der Siedler aus Flandern oder den Niederlanden, mit Spuren in Ortsnamengebungen dörflicher Siedlungen im Osächs.-Thür. (Flemmingen u. ä.). (c) Die Hauptformen der ländlichen Siedlungen in diesem Gebiet, wie sie der Atlas des Saale- und mittleren Elbegebietes (1959, Bl. 23) zeigt, lassen gewisse Übereinstimmungen mit den angenommenen Siedelbahnen erkennen, wenn auch die jeweiligen Landschaftsformen Einfluß auf die Ausformung der Dorfanlagen und Flureinteilung gehabt haben. Platzdorfartige Siedelformen mit Fluraufteilung nach Gelängen in den Lagen der Dreifelderwirtschaft an der oberen Elster (Vogtland) weisen auf bäuerlichen Zuzug aus dem Thür., von der Saale her. 2.6. Den wesentlichen sprachgeschichtlichen Ertrag der siedlungsgeschichtlichen Herkunftsbestimmungen machte wohl, auch nach Frings’ Selbstverständnis, die daran angeschlossene Folgerung in bezug auf die Herausbildung einer kolonialen Ausgleichs- oder Durchschnittssprache aus (letzterer Terminus ist von der Leipziger Forschungsgruppe später (Eichler/Bergmann 1967, 2) ausdrücklich preisgegeben worden). Mischung der unterschiedlichen Bevölkerungsanteile und in der Folge dessen Ausgleich ihrer Sprachformen bildeten danach, zwischen dem Sprachbesitz aus allen deutschmundartlichen Großlandschaften des politisch und kulturell zerrissenen Altlandes vermittelnd (Frings 1957, 42), auf großer Fläche die Grundlage für die Herausbildung der geeinten dt. Hochsprache (vgl. K. 30, 12 in Teilband 1), deren Weg über das Kraftzentrum des wettinischen Staates und seiner Kanzlei, die Reformation und das Wirken Luthers bis hin zur klassischen dt. Literatur und zur Reichseinigung gesehen wurde. „Süden und Mitte fanden sich also seit dem 12. Jahrhundert zusammen im Gebiet von Leipzig⫺Meißen⫺Dresden, in der Mark Meißen, im Staate der Wettiner“ (Frings 1957, 44). Der kolonialsprachliche Ausgleichsprozeß und sein Ergebnis seien im Munde der Siedler vorgeformt gewesen ⫺ wie immer man einen solchen Sachverhalt linguistisch verstehen soll ⫺ und habe sich [daher] hier so schnell durchgesetzt, daß die Ausgleichssprache bereits die anschließende Be-
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen siedlung Schlesiens geprägt habe; nach den verfügbaren chronologischen Zeugnissen bedeutet das für die Herausbildung des im wesentlichen bäuerlichen Sprachverwendungssystems die sprachgeschichtlich bemerkenswert kurze Frist von allenfalls zwei Menschenaltern, wenn nicht weniger. Wenn man die grundsätzliche Kritik an der mehr oder weniger einseitigen Fundierung der dt. Hoch- oder Standardsprache in den oralen (dialektalen) Verhältnissen der Siedelzeit an dieser Stelle außerhalb der Diskussion lassen kann, haben besonders diese beiden Parameter, die räumliche und die zeitliche Dimension des postulierten Vorgangs, Einwände bzw. Modifikationen veranlaßt ⫺ wohlgemerkt: nicht die Tatsache sprachlichen Ausgleichs im Zuge des auf die ersten Ansiedlungen folgenden Landesausbaus an sich, dessen typologische Wahrscheinlichkeit nach allem, was synchronisch beobachtbare Vorgänge in analogen kommunikativen Konstellationen erkennen lassen, ohnehin als ziemlich hoch zu veranschlagen sein dürfte. Dies festzustellen erscheint für die weitere Historiographie der oralen Varietäten des omd. Regiolekts nicht ohne Bedeutsamkeit. Im übrigen kann man den zeitlichen Schwierigkeiten durchaus entgehen, falls man, dem Vorschlag Rosenkranz’ (1964) folgend, als soziale Trägerschicht des Ausgleichsprozesses nicht (allein) die bäuerliche Bevölkerung, sondern in erster Linie Händler und Vertreter der politischen und/oder wirtschaftlichen Administration anzunehmen bereit ist, also mögliche Kontinuität oder gar chronologische Identität mit der im Fringsschen Konzept erst zeitlich folgenden omd. Geschäfts- und Verkehrssprache herstellt. Dann verlören auch die Beobachtungen von Große (1955, 192 ff.) und Bellmann (1962, 140 ff.) im gegebenen Zusammenhang an argumentativem Gewicht, die mundartlichen Ausgleich nur als in relativ kleinen Kerngebieten vollzogen feststellen konnten, aber eben in (rezenten) Bauernmundarten. Wie auch immer: Die sprachgeschichtliche Evidenz einer omd. kolonialen Ausgleichssprache kann vernünftigerweise kaum grundsätzlich in Zweifel gezogen werden, um so weniger, als sich für sie ⫺ sogar im Sinne der Fringsschen Annahmen zu ihrer räumlichen Geltung und zeitlichen Ausformung ⫺ in der Diskussion weitere bisher kaum oder gar nicht beachtete linguistische Argumente geltend machen lassen (vgl. 2.7. und 2.8.).
2.7. Es besteht keinerlei Zweifel daran, daß im kolonialen Neuland des md. Ostens mit einem z. T. jahrhundertelangen räumlichen Neben- und Durcheinander von slaw. Bevölkerung und deutschstämmigen Siedlern zu rechnen ist (Czok 1989b, 104, 108). Wenn man mit Schützeichel (1976, 180 ff.) davon ausgehen kann, daß die sprachlichen Grundlagen eines Raumes durch dessen erste dauerhafte Besiedlung gelegt werden, kann die sprachgeschichtliche Bedeutsamkeit dieses siedlungsgeschichtlichen Sachverhalts kaum
2753
überschätzt werden. Die sprachlichen Folgen der aus ihm leicht ableitbaren Kommunikationsbeziehungen, resultativ darstellbar in der Abstraktion von dt. Superstrat und slaw. Substrat oder Adstrat, sind gut untersucht; sie betreffen zum großen Teil den appellativischen Wortschatz, aber auch in bedeutendem Umfang Namen, dazu möglicherweise lautliche Interferenzen (Große 1955; v. Polenz 1963; Eichler 1965; Becker/Bergmann 1969, 24 ff.; Bellmann 1962; 1971). Abgesehen von den standardsprachlich gewordenen Lehnwörtern aus dem Slaw. hat sich in den omd. Dialekten eine ⫺ immer noch nicht abschließend untersuchte bzw. dialektgeographisch dargestellte ⫺ Fülle von Reliktwörtern, vorwiegend aus dem Bereich des bäuerlichen Alltagslebens, erhalten: Sachgebiete z. B. landwirtschaftliche Arbeitsgeräte (Nusteln ‘Tragestangen für den Jauchenzuber’, Nusche ‘altes Messer’, Dese ‘Backtrog’), Räume im Haus (Horns’che, Kalluppe, Kamurke ‘baufälliges altes Haus’), Pflanzen und Bäume (Kren ‘Meerrettich’, Marunke ‘große, gelbgrüne Pflaume’, Moch ‘Moos (auf dem Dach)’, Papransch ‘Farn’), Tiere (Huppatsch ‘Wiedehopf’, die Fischbezeichnungen Karausche, Jäse(n), Ukelei), Speisen (Mauke ‘Kartoffel-)brei’, Bäbe (‘Napfkuchen’, Plinsen ‘Eierkuchen’), Geländebezeichnungen, auch Flurnamen (Lug, Laug ‘sumpfige Wiese, Morast’).
Die Reliktwortareale sind (im Altenburgischen und Nordmeißnischen) in vielen Fällen kongruent mit nachgewiesenen slaw. Siedelkernen des 13. Jhs.; weiträumig können sie sekundär auf das kursächsische Territorium in den Grenzen von 1590 festgelegt sein (v. Polenz 1963). Für den Prozeß von Mischung und sprachlichem Ausgleich noch aufschlußreicher als slaw. Reliktwörter dürften indessen die toponymischen Zeugnisse für dt.slaw. Kontaktbezeichnungen sein. Jene sind auf unmittelbare Initiative von Th. Frings und ursprünglich unter seiner Leitung unter dem Dach der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig während der zurückliegenden Jahrzehnte in für das dt. Sprachgebiet einmaliger Systematik untersucht, die Ergebnisse in langer Reihe publiziert worden (Deutsch-slawische Forschungen 1956 ff.). Sie haben Aufschluß gebracht über wichtige Spezifika in bezug auf den kommunikativen Anfangszustand des omd. Regiolekts. So haben sich z. B. in Flurnamen slaw. Lexeme in großer Zahl erhalten, die im appellativischen mundartlichen Wortschatz längst verloren gegangen sind, etwa:
2754 Colm ‘Berg’, Zauche/Zauke ‘Trockenbach’, Ölsch ‘Erlenwald’, Lutzschke/Lautzschke ‘Wiesenland, Sumpf’, Punitzsch/Ponisch ‘Vertiefung, wo sich fließendes Wasser im Boden verliert’, Biehl- ‘heller, lichter Ort’ (Naumann 1970, 721).
Auch die Ortsnamen in dem breiten dt.-slaw. Berührungsgebiet bezeugen in vielfältiger Form die sprachgeschichtliche Realität kommunikativer Interaktion zwischen den ethnischen Gruppierungen. Während eine Neubenennung eines Ortes mit ursprünglich slaw. Namen sich nur ausnahmsweise belegen läßt (Beispiel: Tribun b. Naumburg wird zu Flemmingen), bezeugen zahlreiche Übersetzungen wie Altenkirchen (Krs. Altenburg) aus 1140 bezeugtem Ztarecoztol oder das Bestimmungswort Windisch-, Wendisch- bzw. Grundwort winden, -wenden (Windischleuba, Etterwinden) das Nebeneinander von slaw. Bevölkerung und dt. Siedlern. Besonders aufschlußreiche Nachweise für deren unmittelbare sprachliche Kontaktsituation bieten verschiedene Typen von Ortsnameninterferenz, die in den omd. Neusiedellandschaften in großer Zahl begegnen. So haben einige genuin slaw. Ortsnamen durch dt. Siedler eine muttersprachliche Umdeutung (eine Art volksetymologisch-semantische Remotivierung der Namenbestandteile) erfahren. Altsorb. Medebor ‘Honigwald’ ist auf diese Weise zu Magdeborn (ehemaliger Ort südl. Leipzig) geworden, Geithain (zwischen Leipzig und Chemnitz) geht auf ein slaw. *Chyte’n oder *Chyta’n ‘Ort eines ⬃’ zurück. Vor allem aber unterlagen die meisten slaw. Ortsnamen ⫺ erklärbar aus der Konfrontation z. T. erheblich voneinander abweichender Phonemsysteme der Sprechergruppen ⫺ Regularitäten der Phonemsubstitution, etwa im Bereich der Sibilanten, Typ Zedtlitz (zu slaw. sedlo ‘Sitz’) oder die nördlich/südwestlich von Leipzig anzutreffende Namengruppe auf Schk- (Schkeuditz, Schkorlopp, Schkeitbar), deren Eindeutschung nach dem Übergang von t s t zu t sˇ t in den dt. Mundarten erfolgt sein muß. Schließlich weisen die sogenannten Mischnamen auf dt. Siedeltätigkeit in slaw. Umgebung, Typ Berntitz, Elberitz, Peterwitz, die ein dt. Basismorphem mit dem slaw. patronymischen Suffix -ici, -ovici (in rein slaw. ONN z. B. in Löbnitz, Liebertwolkwitz, Miltitz ‘Nachkommen des ⬃’) verbinden, eine im 12. Jh. offenbar besonders produktive Bildungsweise, die sich schließlich wohl sogar unabhängig von einem tatsächlichen slaw. Anteil an der Bevölkerung eines Ortes verselbständigt haben wird. Slaw. Spracheinfluß auf die mundartlichen Systeme
XVII. Regionalsprachgeschichte
im einzelnen wird sich auf Grund des nur mangelhaft verfügbaren Wissens über die beteiligten historischen Systeme dagegen wohl nur indirekt sicherstellen lassen. Dabei kommt Beobachtungen, die mehr oder weniger auffällige lautliche Dialekteigentümlichkeiten auf eine slaw. Grundlage zurückzuführen für möglich halten, durchaus Bedeutsamkeit zu, etwa wenn Große (1955, 123) die für das Nordmeißnische charakteristischen öffnenden Diphthonge in fu¯adn, u¯efm, ¯ıel, wı¯e ‘Faden, Ofen Öl, weh’ aus Substratwirkung auf die Silbenstruktur („loser Anschluß“) erklärt und Schönfeld (1963, 55 f.) in ähnlicher Weise mundartliche Unsicherheit bei anlautendem h- (Typ Eidechse⫺Heidechse, Arfel/ Harfel ‘Handvoll’) mit slaw. Sprechgewohnheit zusammenbringt. Einzelheiten dieser Art verdeutlichen zumindest auf typologischer Ebene ein sprachgeschichtlich signifikantes Problem, die Frage nämlich, ob nicht auch eine interferentielle Einwirkung des mit Sicherheit als gegeben anzunehmenden slaw. Substrats auf die sich konstituierende Ausgleichssprache der Siedler stattgefunden haben könnte. Daß Substrateinfluß verändernd auf Phonemsysteme wirkt, ist umfassend nachgewiesen (Georgiev 1964). Für den konkreten Fall entscheidend ist, daß bei Annahme eines solchen Vorgangs ein in sich relativ einheitliches slaw. dialektales System einer differenzierten Gesamtheit von ihrer Herkunft entsprechend heterogenen deutschmundartlichen Systemen im Kontakt gegenübergestanden hätte, woraus sich für diese ⫺ hypothetisch ⫺ zumindest ein starker struktureller Impuls zu vereinfachendem Ausgleich, etwa als Variablenreduzierung vorstellbar, ergeben haben dürfte. Die koloniale Ausgleichssprache wäre dann nicht nur oder möglicherweise sogar nicht einmal vorrangig das Produkt eines „Durchschnitts“ aus den zugrunde liegenden dt. Siedlermundarten, sondern folgte einer strukturellen Tendenz aus der nachweisbaren dt.-slaw. Kontaktsituation zweisprachiger Sprecher auf großem Areal. Der soziokommunikativ motivierte Einwand gegen die Fringssche These, bäuerliche Siedler könnten höchstens engräumig, also kaum wesentlich über ihren dörflich begrenzten Kommunikationsraum hinaus sprachlich ausgleichend gewirkt haben, verliert gegenüber dem höherwertigen strukturellen Argument deutlich an Gewicht, insofern dieses typologisch ⫺ bei Vorliegen gleicher Kontaktkonstellation ⫺ im kolonialen Neuland für einen
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen
grundsätzlich multizentrisch Prozeß spricht.
verlaufenden
2.8. Die Hypothese einer primär strukturellen Begründung der omd. Ausgleichssprache wird unterstützt durch eine analoge Argumentation hinsichtlich der Mischungs- und Ausgleichsvorgänge zwischen den dt. Dialekten selbst. Fleischer (1966, 94 ff.) hat anhand seiner umfassenden Analysen zur frnhd. Dresdner Kanzleisprache einleuchtend geltend gemacht, daß bei der Herausbildung des Graphemsystems der nhd. Schriftsprache die strukturbedingten Veränderungen, d. h. Lautwandel entsprechend der „inneren Kausalität“ (Fourquet 1958, 171 f.) des Systems, eine entscheidende Rolle gespielt haben, und zwar durchaus in Richtung auf eine Variablenreduktion („Beseitigung konkurrierender Dubletten“, S. 96). Da ‘konkurrierende Dubletten’ natürlicherweise auch beim Nebeneinander bzw. bei der Durchmischung von Sprachverwendungssystemen von Sprechern unterschiedlicher dialektaler Herkunft im Siedelvorgang des Neulandes auftreten mußten, steht der Annahme eines tendentiell gleichen Prozesses auf oraler Ebene im Verlauf der Ostsiedlung nichts entgegen. Auch die Herausbildung einer großräumigen mündlichen Ausgleichssprache auf früher Stufe folgt mit hoher Wahrscheinlichkeit der „inneren Kausalität“ struktureller Entwicklung, zumindest im Sinne einer Prädisposition für die (hypothetische) substratbedingte Interferenz (vgl. 2.7.). Die Fringssche Formulierung von der ‘Vorgeformtheit der Ausgleichssprache im Munde der Siedler’ bekäme damit ⫺ wenngleich natürlich völlig anders motiviert ⫺ eine ganz neue Bedeutungsdimension. 2.9. Die Diskussion der Siedelvorgänge und ihrer regiolektgeschichtlichen Folgen hat sich auf einen im 12./13. Jh. im Entstehen begriffenen Siedlungsraum konzentrieren müssen, von dem gewöhnlich diskussionslos angenommen wird ⫺ Folge der retrospektiven Grundeinstellung der standardorientierten Sprachhistoriographie ⫺, daß er zu dieser Zeit in einem (nicht näher bezeichneten) Verständnis auch einen Sprachraum darstellt. Angesichts der Aufgabe, dessen Begrenzungen dann einigermaßen genau angeben zu müssen oder etwa zu entscheiden, ab wann denn eigentlich und wo hier von einem dt. Sprachgebiet die Rede sein kann, stellt sich in dieser Hinsicht allerdings alsbald Skepsis ein. Ein omd. Sprachraum erscheint, unbeschadet
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aller Evidenz von Siedelbahnen und regiolektaler Ausgleichssprache, bis ins 14. Jh. hinein als eine ziemlich ungewisse Größe. Siedelbahnen sind keine Sprachräume, und wo bzw. bis wohin und wann die Ausgleichssprache mehr oder weniger allgemein gesprochen worden sein mag, kann durch den angestrengtesten Evidenznachweis für die Erscheinung als solche nicht gesichert werden. Auch Kommunikationsräume zeichnen sich, auf größere Flächen gesehen, eben erst in Umrissen ab, etwa die Rolle omd. Städte, allen voran Erfurts und Leipzigs (Frings 1936; 1957). Daraus muß beschreibungspraktisch die notwendige Konsequenz gezogen werden: Für den Beginn der Geschichte des Omd. besteht hinsichtlich seiner arealen Dimensionierung m. E. keine andere Möglichkeit, als von einem regiolektalen Transferraum zu sprechen. Mit dieser Bezeichnung soll zunächst, horizontal, jener relativen Offenheit der Mundarten nach Westen, besonders aber derjenigen nach Osten, in Richtung auf Schlesien und das poln. Sprachgebiet Rechnung getragen werden, die sich dem Siedelvorgang in seiner zeitlichen Abfolge verdankt. Transferraum bezieht sich aber ausdrücklich auch auf sprachgeschichtlich signifikante längerfristige Vorgänge im Innern, auf die vertikal gerichtete Prozessualität allmählicher sprachlicher Ausformungen von internen Mundartgebieten und gleitender Übergänge zwischen Siedelkernen, ablesbar an den Kartographierungen rezenter dialektaler Nord-Süd-Staffeln, und möchte schließlich ebenso dem sich über Jahrhunderte erstreckenden slaw.-dt. Sprachwechsel annehmbar großer Bevölkerungsanteile des Gebiets gerecht werden, der, verebbend, im Grunde bis in die Neuzeit anhält. Transfersituationen in wechselnden Konstellationen und anhaltender sprachlicher Transfer unterschiedlicher Verursachung dürften zu den markantesten Spezifika des Omd. im Vergleich zu anderen dt. Regiolekten gehören. So gesehen, führt eine konsequente regiolektgeschichtliche Entwicklung von den Siedelvorgängen des Spätmittelalters über die frühe Öffnung der omd. Kanzlei- u. Druckersprache gegenüber (ost)obd. Einflüssen, die Expansion der omd. Schriftsprache im Gefolge der Reformation in den nd. Norden und über die kulturell-sprachlichen Transferleistungen Obersachsens in bezug auf die westeurop. Aufklärung des 18. Jhs. bis hin zu der, freilich zögerlichen, Ausdehnung der meißnisch geprägten schriftsprachlichen Varietät um die Mitte des 18. Jhs. nach Süden und schließlich
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XVII. Regionalsprachgeschichte
sogar bis zur Entwicklung der osächs.-thür. Umgangssprache des 19./20. Jhs. Als Aspekt omd. Sprachgeschichte formuliert: der „traditionslose Boden des kolonialen Vorgeländes“ (Frings 1957, 42) stiftet mit dem Ergebnis des spätmittelalterlichen Siedelvorgangs über areale Offenheit und Dynamik die für die Geschichte der dt. Sprache einmalige regiolektale Tradition vermittelnden Transfers.
3.
Zur Geschichte kommunikativer Strukturen eines regiolektalen Transferraumes
3.1. Trifft die Beobachtung tendentieller Nichtübereinstimmung zwischen Mundartlandschaften (als rezentem Resultat historischer Siedelvorgänge) und entwicklungsgeschichtlich wechselnden regiolektalen Sprachräumen bzw. damit zusammenhängenden chronologischen Varietäten des Omd. zu (was einer theoretischen Gewichtseinbuße des Merkmals Arealität für die Regiolektgeschichte gleichkommt), so erfordern die Kommunikationsräume, genauer gesagt die kommunikativen Strukturen, die jene chronologischen Varietäten auf verschiedenen Zeitebenen konditionieren, um so mehr Aufmerksamkeit. Zu fragen ist, wie sich die kommunikativen Infrastrukturen des omd. Transferraumes historisch konstituiert und wie sie sich durch die Zeiten entwickelt haben. Die Antwort kann, soweit überhaupt möglich, nur in groben, wiederum aufs Spezifische beschränkten Skizzierungen nach den Parametern politisch-administrativer, wirtschaftlichsozialer und kultureller Netzwerke erfolgen. Solcherart regionale kommunikative Netzwerke haben, wie Gumperz (1975, 349 f.) bei soziolinguistischen Untersuchungen zum Sprachwandel in einem norwegischen Dorf festgestellt hat, unmittelbar Bedeutsamkeit für die Formierung von Sprachgebrauchsstrukturen. 3.2. Im Unterschied zu den Kulturräumen des (rhein.) Altlandes (Aubin/Frings/Müller 1926) spielen die politisch-administrativen Verkehrsräume mittelalterlicher Territorien im md. Osten auf Grund der Bedingungen von Siedlung und Landesausbau keine vergleichbar grundlegende Rolle (Ebert u. a. 1936). Diese Aussage bezieht sich aber, wie fast überflüssig zu betonen, auf den Vergleich auf annähernd übereinstimmender metachronischer Ebene. Daß die Entwicklung territo-
rialer Machtzentren, vorab der Mark Meißen und des ‘Staates der Wettiner’, anschließend an den Siedelvorgang für die Geschichte des Omd. und die ihm zugeschriebene Rolle auf dem Weg zur dt. Hochsprache gleichwohl von herausragender Bedeutung war, daran hat Frings selbst nie den geringsten Zweifel aufkommen lassen: „Martin Luther faßt als einzelner das zusammen, was die Siedlung, der Staat des Neulandes und Leipzig, die überragende Stadt des Neulandes vorbereitet haben“ (Frings 1957, 44). Die verglichenen kommunikativen Verhältnisse gründen also nur auf unterschiedlichen historischen Traditionen, sind daher durch unterschiedliche Erscheinungsweisen gekennzeichnet und nehmen zeitlich einen anderen Verlauf. Im Bereich des omd. Regiolekts erlangen die regionalen politisch-administrativen Strukturen erst im 15. Jh. ihre entfaltete kommunikative Wirksamkeit, bleiben aber dann, bestimmter Schwankungen und mehr oder weniger gravierender Verluste oder Einschränkungen unerachtet, bis in die unmittelbare Gegenwart von entscheidendem Einfluß. 3.2.1. Das im wesentlichen strategischen Zwecken dienende Netz von Burgwarden, an den östlichen Grenzen gegen die Slawen seit dem 10. Jh. mehr oder weniger systematisch vor allem an den größeren Flüssen Elster, Pleiße, Mulde und Elbe angelegt, stellt die Grundlage dar für die spätere Herausbildung des äußeren Rahmens der regiolektalen kommunikativen Strukturen, die erst mit dem umfassenden Landesausbau im Gefolge der Siedelbewegung im 12. Jh. allmählich Gestalt annehmen. Nur die wichtigsten, für die äußere Entwicklung der politisch-administrativen Kommunikationsräume des Regiolekts signifikanten Fakten seien anhand der gängigen Geschichtswerke genannt. Sie belegen zunächst für das Spätmittelalter den kontinuierlichen Auf- und Ausbau des wettinischen Territorialstaates, der zwar zu keiner Zeit mit dem Geltungsbereich des ostmitteldeutschen Sprachraumes tatsächlich identisch ist, diesen aber deutlich dominiert: Nach der Belehnung der Wettiner mit der Mark Meißen (1089) und dem Erwerb der Ostmark (1210) setzt um 1250 die systematisch betriebene Ausdehnung der wettinischen Herrschaft vor allem nach Westen und Südwesten ein. Im 14. Jh. kommt es zu machtpolitischen Auseinandersetzungen mit dem erstarkenden Böhmen, dem zweiten für das Omd. wichtigen, aufs Ganze seiner Kommunikationsgeschichte gesehen aber räumlich (Lausitz, Schlesien) und zeitlich (Spätmittelalter) eher begrenzt einwirkenden Territorialstaat. 1423
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen erfolgt die Verleihung der Kurwürde, gebunden an den Besitz des Kurkreises um Wittenberg; damit wird der Grundstein gelegt für die dann Mitte des 16. Jhs. im Bewußtsein der Sprecher nachweislich vollzogene Übertragung der Bezeichnung sächsisch auf das südliche Meißnische, beides von Luther auch sprachlich noch sehr deutlich unterschieden. 1483 auf dem Höhepunkt ihrer Ausdehnung und territorialstaatlichen Macht, reichen die wettinischen Lande ⫺ unterbrochen durch Einsprengsel geistlicher und kleinerer weltlicher Herrschaften ⫺ von Wittenberg im Norden bis Coburg im Südwesten, der Mark Meißen im Osten über Oster- und Pleißenland bis zur Landgrafschaft Thüringen im Westen. Es darf angenommen werden, daß diese areale Struktur für die tatsächliche regiolektale Einheit des Omd. (im Sinne sprachgeschichtlicher Realität) von entscheidender Formkraft war, allerdings unter Ausschluß des Schles., das kommunikationsgeschichtlich (und zum guten Teil auch dialektgeschichtlich) eine nicht zuletzt seiner peripheren Lage geschuldete Sonderrolle gespielt hat. Mit der Teilung von 1485 in das ernestinische Kurfürstentum Sachsen und das albertinische Herzogtum Sachsen findet die staatliche Einheit der wettinischen Lande aber bereits ihr Ende. Das ernestinische Sachsen verliert im Ergebnis des Schmalkaldischen Krieges, in dem die wettinischen Staaten auf gegensätzlichen Seiten kämpften, mit der Kapitulation von Wittenberg 1547 die Kurwürde samt Kurkreis, böhmische Lehen und Anteile an den (meißnischen) Bergwerken, während den Albertinern eine bedeutende Abrundung ihres Herrschaftsgebietes zu einem geschlossenen Territorialkomplex gelingt, zu dem nach Einführung der Reformation 1539 und der damit verbundenen Säkularisierung von Kirchenbesitz nun auch die ehemals geistlichen Territorien (Bistümer Meißen, Merseburg und Naumburg-Zeitz) des Areals gehören. Im Unterschied zu den ernestinischen Territorien, die in der Folgezeit durch wiederholte Teilungen aus dynastischen Interessen einer weitgehenden politischen Zersplitterung unterliegen, bleibt das albertinische Sachsen auf Grund der von Herzog Albrecht 1499 erlassenen „Väterlichen Ordnung“, die Teilungen grundsätzlich ausschließt, als Territorialstaat ungeschmälert erhalten, woran auch die Begründung von 3 Sekundogenituren im 17. Jh. (Sachsen-Weißenfels, Sachsen-Merseburg, Sachsen-Zeitz, alle in der ersten Hälfte des 18. Jhs. erledigt) nichts geändert hat. Machtpolitisch bedeutsam, für die regiolektale Kommunikationsgeschichte aber nur indirekt folgenreich war der vorübergehende Aufstieg Kursachsens zur europ. Großmacht mit der Erlangung der poln. Krone (1697). Dadurch wird Sachsen in die militärischen Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft im Ostseeraum (Nordischer Krieg) und in den poln. Erbfolgekrieg verwickelt und politisch wie wirtschaftlich entscheidend geschwächt. Seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges wachsender Konfrontation mit BrandenburgPreußen ausgesetzt, sinkt das Land auf Grund militärischer Niederlagen in den Schlesischen Kriegen
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zur außenpolitischen Bedeutungslosigkeit ab und verliert seine Vormachtstellung in Mittel- bzw. Nordeuropa an Preußen (Friede von Hubertusburg 1763). Diese Entwicklung findet mit den politischen Entscheidungen der Wettiner in der Napoleonischen Ära (Beitritt zum Rheinbund, Erhebung zum Königreich; Kriegsteilnahme gegen die Alliierten auf Seiten Napoleons) ihren Abschluß. Auf Grund der Beschlüsse des Wiener Kongresses (1815) verliert Sachsen zwei Drittel seines Territoriums und knapp die Hälfte seiner Bevölkerung. Über den Beitritt zum Norddeutschen Bund (1866) und die Reichseinigung von 1871 führt der Weg zum mit eingeschränkten Vollmachten zunächst monarchisch, ab 1918 demokratisch-republikanisch regierten Bundes- bzw. Freistaat, der auch zur Zeit der faschistischen Herrschaft in seinen Strukturen erhalten bleibt und nur zwischen 1952 und 1990 aufgehört hat zu bestehen. Die schles. Gebiete gehen dem omd. Sprachraum auf Grund der weitgehenden Aussiedlung der dt. Bevölkerung weitgehend verloren. Thüringen erlangt während der Weimarer Republik (ebenfalls bis 1952 und wieder ab 1990) eine (neue) staatliche Einheit, die allerdings mehr administrativ denn historisch begründet ist.
3.2.2. Für die omd. Kommunikationsgeschichte wichtiger noch als die äußeren politisch-administrativen Strukturen erweist sich die strukturelle Organisation von sozialem Austausch und Verkehr (im weitesten Sinn) im Inneren ⫺ nicht nur, weil diese bereits vor der Etablierung der feudalen Territorialstaaten kommunikativ-sprachliche Wirkung gezeitigt haben dürften, sondern weil sie in der Form von Kommunikationsnetzen über verschiedenen Sozialsystemen generell wirksam geworden und damit regiolektgeschichtlich signifikant sind. Ohne Zweifel anzunehmen, wenngleich allenfalls in Umrissen nachweisbar, ist mit Kommunikationsbeziehungen des Alltagsverkehrs in den Grenzen kleinräumiger sozialer, rechtlicher und kirchlicher Organisationsformen zu rechnen (Dorfgemeinde, Patrimonialgericht, Kirchspiel, Marktbeziehungen, später Zugehörigkeit zu Ämtern und Kreisen), in den sprachlichen Realisierungen möglicherweise zunächst als orale koloniale Ausgleichssprache vorstellbar (vgl. 2.8.). In diesem Rahmen hat die überwiegende Masse sprachlich-kommunikativer Handlungen stattgefunden. Da solcherart Kommunikationsbeziehungen als strukturell im wesentlichen gleichbleibend durch die Jahrhunderte hindurch bis in die Neuzeit anzunehmen sind, wird damit die Notwendigkeit erkennbar, eine Geschichte des gesprochenen Omd. (seiner gesprochenen chronologischen Varietäten) vom 13. Jh. bis zur Gegenwart regiolekt-
2758 historiographisch ins Auge zu fassen (vgl. 4.). Ob für die Anfänge der Entwicklung ein signifikanter Unterschied zwischen dörflichen und städtischen Kommunikationsgemeinschaften (im Sinne einer dort gültigen relevant von den Dorfmundarten verschiedenen Verkehrssprache) existiert haben mag oder nicht, kann hier unerörtert bleiben. Entscheidend dürfte aber sein, daß sich, Erfordernisse von wirtschaftlichem Austausch, Verwaltung und Rechtsprechung folgend, relativ schnell nach dem Landesausbau großräumigere kommunikative Strukturen ausgebildet haben, deren Knoten in landesherrlichen, kirchlichen, handelsökonomischen oder herrschaftlichen Verwaltungszentren lagen und zunehmend literale muttersprachliche Äußerungsformen erforderlich machten. Neben den landesfürstlichen Kanzlein ist hier insbesondere auf die Rolle der Stadt im Mittelalter im allgemeinen, insbesondere aber die der omd. Stadtentwicklung zu verweisen (Schmitt 1942; Kettmann 1990). In diesem Bezug von Anfang an immer wieder genannt werden Erfurt und Leipzig (Frings 1936; 1957; Bentzinger 1973), nachfolgende Untersuchungen haben urkundensprachliche Überlieferung u. a. von Zeitz (Otto 1970), Wittenberg (Kettmann 1967), Jena (Suchsland 1968) und Dresden (Fleischer 1970) sprachgeschichtlich aufbereitet. Vom 15. Jh. an erfolgt in den wettinischen Landen ein kontinuierlicher, immer differenzierterer Ausbau der landesherrlichen Verwaltung (1446 erste Landesordnung in Thüringen, 1482 in Sachsen), der mit dem zielstrebigen Ausbau der feudalstaatlichen Strukturen im 16. Jh. (z. B. 1547 Verwaltungsreform Moritz’ von Sachsen) neben territorialen Neugliederungen (Ämterverfassung, Kreiseinteilung) auch eine relativ straff organisierte zentrale Behördenebene (Hofrat, Konsistorien) schafft; in diese eine effektive landesinterne Verwaltungskommunikation ermöglichenden Strukturen gehen nach Einführung der Reformation auch diejenigen der Landeskirche und ihrer Organe ein. Die Tendenz zur Anpassung von staatlichen Strukturen an veränderte Bedingungen setzt sich in den folgenden Jahrhunderten fort, besonders auch in Krisenzeiten oder nach einschneidenden militärischen Niederlagen (staatliche bzw. wirtschaftliche Reformen nach dem Dreißigjährigen und nach dem Siebenjährigen Krieg). 3.3. Herausragende Bedeutung für die Kommunikationsgeschichte des omd. Regiolekts unter den Bedingungen seiner transferräum-
XVII. Regionalsprachgeschichte
lichen Existenzweise erlangte die Entwicklung der sozioökonomischen Netzwerke, die sich, korrespondierend mit den politisch-administrativen Strukturen und von diesen begünstigt, in vergleichsweise progressiven Ausprägungen insbesondere in den wettinischen Landen feststellen lassen; die folgenden Ausführungen stützen sich auf Kötzschke/ Kretzschmar (1965), Blaschke (1967), Groß (1968), Forberger (1958, 1982), Czok (1989b). 3.3.1. In diesem Bezug an erster Stelle zu nennen sind Verkehrsnetz- und Stadtentwicklung. Zuerst entlang der alten Handelsstraßen von West nach Ost und Süd nach Nord, bevorzugt an deren Knotenpunkten, konnte sich im kolonialen Neuland frühzeitig ein relativ dichtes Netz von Städten entwickeln. Zu den Zentren geistlicher und weltlicher Administration wie z. B. Erfurt, Eisenach, Magdeburg, Merseburg und Meißen kam seit der Mitte des 12. Jhs. eine Welle von Marktgründungen, so daß im 13. Jh. (im Gebiet des albertinischen Sachsens) das gegenwärtige Städtenetz bereits nahezu vollständig ausgebildet war. Besondere Bedeutung erlangten sehr schnell Leipzig als Zentrum des Fernhandels, Freiberg und Annaberg durch den Silbererzbergbau und Dresden und Torgau als landesfürstliche Residenzen, während die meisten anderen Städte zunächst kaum über eine begrenzte lokale Rolle als Ackerbürgerstädte hinausgekommen sein dürften. „Die Marck zu Meyssen hat viel und namhafftige Stett, als Schreckenberg [= Annaberg], Zeits, Freyberg, Dresen, Torga, Leipzig“ (Münster 1598, 1001). Um 1550 zählte das albertinische Sachsen 137 Städte, die ziemlich gleichmäßig über das Gesamtgebiet angeordnet waren; das ernestinische Sachsen kam auf 62, im Vergleich dazu das Herzogtum Bayern nur auf 34 und 90 gefreite Märkte. In den kursächsischen Städten lebte zu dieser Zeit bereits 1⁄3 der Gesamtbevölkerung. Das im zeitgenössischen Vergleich äußerst günstige Stadt-LandVerhältnis wurde durch den im 16. Jh. einsetzenden Wandel von Bauerndörfern zu Gewerbesiedlungen (Leineweberei, Textilmanufakturen) speziell in den Bergbauregionen weiter verbessert; der Anteil der nicht-bäuerlichen Bevölkerung auf dem Lande stieg zwischen 1550 und 1750 von 18 % auf 38 % (Groß 1968, 31). Zwischen den städtischen Siedlungen bestand ein gut funktionierendes, durch die verschiedenen kriegerischen Einwirkungen bzw. staatlichen Krisen durch die Jahrhunderte hindurch niemals bleibend beein-
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen
trächtigtes Binnenhandelsnetz, das durch zahlreiche landesherrliche Maßnahmen zum Ausbau der innerterritorialen Verkehrsverbindungen nachhaltig geschützt und gefördert wurde (Straßenbau, Einrichtung von Geleitämtern, Fuhrleutezentren, Straßengerechtigkeiten). Daß sich in diesem kommunikativen Bedingungsgefüge frühzeitig die Notwendigkeit zur Ausbildung einer ebenso ausgebreiteten wie nach Sendern und Empfängern qualitativ stark differenzierten, über Fernhandel und Wirtschaftsbeziehungen dazu verschiedenen überregionalen Einflüssen offenstehenden (muttersprachlichen) Schriftlichkeit ergeben hat, besitzt zweifellos für die Charakterisierung der omd. Schreiblandschaft Signifikanz, auch wenn die Sprachgeschichtsforschung bisher von den Quellen einer stark lokal begrenzten Schreibtätigkeit noch kaum hat Kenntnis nehmen können. Bemerkenswert für die omd. Kommunikationsgeschichte ist auch, daß der hohe Entwicklungsgrad der frühneuzeitlichen Verkehrsstrukturen im Industriezeitalter seine adäquate Fortsetzung in der führenden Rolle Sachsens im dt. Eisenbahnbau und im Postund Telegraphenwesen gefunden hat; 1870 verfügte Sachsen über das dichteste Eisenbahnnetz aller dt. Staaten. 3.3.2. Stadtentwicklung und Verkehr, verstanden als Ausdrucksformen ökonomischer Kommunikationsbeziehungen, gründen natürlich in der arealen Wirtschaftsentwicklung. Diese gestaltete sich in den wettinischen Landen nicht zuletzt auf Grund der natürlichen Voraussetzungen von Anfang an ausgesprochen positiv. Das bezieht sich vorrangig auf Handel und Kapitaltransfer mit der überragenden Rolle des Messe- und Umschlagplatzes Leipzig vom 12. bis zum 20. Jh. Aber auch die produzierende Wirtschaft prosperierte hier kontinuierlich bzw. nur mit relativ kurzzeitigen Unterbrechungen durch Kriege und Krisen (Dreißigjähriger, Siebenjähriger Krieg, Wirtschaftskrisen der Neuzeit) bis zum II. Weltkrieg. Vom 13. Jh. an spielte der Bergbau, zunächst vor allem der Silberbergbau, in der zweiten Hälfte des 16. Jhs. auch Eisenund Zinnerzabbau eine wichtige Rolle. Die Erträge förderten nicht nur frühzeitig einen intensiven Fernhandel bis nach Frankreich und Italien sowie die östlichen und nördlichen Nachbarstaaten, sondern führten ebenso zu einer anhaltenden Blüte von Handwerk und Gewerbe. In Leipzig lassen sich z. B. schon zu Beginn des 15. Jhs., 30⫺40 verschiedene
2759
handwerkliche Berufe nachweisen. 1481 verlegt Marcus Brandis seine im Jahr zuvor in Merseburg eröffnete Buchdruckerwerkstatt nach Leipzig, 1501 bestehen hier bereits neun Offizinen und lassen die Stadt ⫺ neben Wittenberg und Erfurt ⫺ sehr schnell zum Zentrum des Buchdrucks und später des Buchhandels werden. Die Verfügbarkeit von Kapitalien aus Handel, Gewerbe und Bergbau ermöglicht dann auch einen relativ schnellen Übergang zu einem fachlich breit gefächerten Manufakturwesen, das sich vom 16. Jh. an auch in ländlichen Regionen ansiedelt und mit seinen effektiven Wirtschaftsformen, intensiv gefördert durch landesherrliche Aktivitäten (straffe Regulierung von Verwaltung und Rechnungslegung der Kammergüter und des Forstwesens) allmählich sogar in die Rittergutswirtschaft eindringt. Kursachsen stellt im 16. Jh. nach den habsburgischen Ländern das größte Wirtschaftspotential des Heiligen Römischen Reiches dar und kann sein bedeutendes wirtschaftliches Gewicht über die Zeiten bis hin zur industriellen Revolution behaupten. Diese Entwicklung im einzelnen zu verfolgen ist hier allerdings nicht möglich. Unverzichtbar aber erscheint die Hervorhebung der regiolektalgeschichtlichen Relevanz, die sie gehabt hat. Diese besteht vor allem in folgendem: (1) Die ökonomischen Strukturen des Areals werden in den Grundzügen in der frühen Neuzeit etabliert und bleiben über die mannigfachen Veränderungen in der regionalen politischen Organisation hinweg im wesentlichen bis an die Schwelle der Gegenwart erhalten. So haben z. B. die Teilungsgrenzen der wettinischen Territorialfürsten des 15. und 16. Jhs. für sie kaum eine Rolle gespielt. (2) Für die Ausprägung des regiolektalen omd. Kommunikationsraumes und seiner Traditionsbildung kommt ihnen mithin erhebliche Bedeutung zu. Blaschke (1967, 195) kann in diesem Zusammenhang die außerordentlich wichtige Feststellung treffen: „In Sachsen konnte die Industrielle Revolution nicht nur in bezug auf die Standorte der Industrie an das in Jahrhunderten vorher organisch Gewordene anknüpfen, sondern auch mit einer auf die Industrie vorbereiteten Bevölkerung beginnen.“ (3) An den früh einsetzenden und im weiteren extensiv verlaufenden Ausdifferenzierungsprozeß von diskreten Kommunikationsbereichen in Handel, Landwirtschaft, Handwerk, Gewerbe, seit dem 16. Jh. auch Cameralistik, Algebra, Bergscheidekunde und Mineralogie sowie in der Neuzeit schließlich in verschiedenen industriellen Bereichen (Textilindustrie, Maschinenbau usw.) ist die regiolektale Ausbildung von Fachwortschätzen, Registern oder allgemein fachsprachlichen Varietäten des Regiolekts geknüpft, die dieser dann in den Prozeß der Heraus-
2760 bildung der deutschen Schriftsprache interferierend einbringt (vgl. 4.).
3.3.3. Abgesehen von der für den Feudalismus bzw. Absolutismus allgemein gültigen Ständegliederung, die im Prinzip bis in die erste Hälfte des 19. Jhs. besteht, ist in bezug auf die von den ökonomischen Entwicklungen abhängige Ausformung der arealen Sozialstrukturen grundsätzlich ⫺ unbeschadet aller gewerblichen Grenzüberschreitungen ⫺ zwischen Stadt und Land zu unterscheiden. In den größeren Städten des Gebietes bildet sich zwischen dem 11. und 13. Jh. eine deutliche Differenzierung zwischen Patriziat, hervorgegangen aus reichen Kaufmannsgeschlechtern bzw. Bergherren, einer breiteren Mittelschicht aus Krämern, Ackerbürgern, Handwerkern und Gewerbetreibenden und schließlich Unterschichtsangehörigen (Dienstboten, Tagelöhnern, Plebejern) heraus. Mehr oder weniger aktiven Anteil an den quantitativ wie qualitativ zunehmenden Ausformungen städtischer Kommunikationskultur (Stadtregiment, Rechtsprechung, Schriftlichkeit/Kanzleiwesen, Musikkultur, Profanbauten) hat mindestens bis ins 16. Jh. vorwiegend die Oberschicht. Die Landbevölkerung wird durch adlige, später durchaus auch bürgerliche Gutsbesitzer, durch freie Bauern und Hausgenossen (Knechte, Mägde, Tagelöhner) sowie Handwerker und Gewerbetreibende, ab dem 16. Jh. auch durch Manufakturarbeiter konstitutiert. Die mit der Einführung der Rittergutswirtschaft verbundene Tendenz zum Bauernlegen nimmt ⫺ im Unterschied etwa zu Brandenburg-Preußen, Mecklenburg und Pommern ⫺ im albertinischen Sachsen kein größeres Ausmaß an, woraus dessen relativ geringe Affizierung durch die Bauernkriegsauseinandersetzungen resultiert. Die maßgeblich vom Bürgertum getragene ökonomische Prosperität und kulturelle Blüte der sächsischen Gebiete hat am Ende des 17. und vor allem im 18. Jahrhundert bei gleichzeitig weitgehendem Ausschluß der bürgerlichen Kräfte von der politischen Macht einen soziokommunikativ hochbedeutsamen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zur Folge (Habermas 1981), der natürlich nicht auf den omd. Raum beschränkt ist, hier aber als Konsequenz aus den spezifischen sozioökonomischen Entwicklungen mit besonders scharfer Konturierung zutage tritt. Die textsorten-, medien-, stil- und kulturgeschichtlichen Äußerungsformen der Konstituierung einer
XVII. Regionalsprachgeschichte
privaten bürgerlichen Öffentlichkeit gehen dann, weit über ihre regiolektale Wirksamkeit hinausreichend, unmittelbar in die Geschichte der dt. Standardsprache ein, sind also im strengen Sinne schon kein Gegenstand der Regiolektgeschichte mehr, wohl aber zu erheblichen Teilen deren organische Folge. Das Gleiche gilt schließlich analog für die in der ersten Hälfte des 19. Jhs. zuerst in Mitteldeutschland (mit Zentrum in Sachsen) einsetzenden tiefgreifenden Umgestaltung der Siedlungs- und Sozialstruktur durch die wachsende Konzentration der Bevölkerung in Ballungsgebieten, in deren Folge der kommunikationsgeschichtlich neue Varietätentyp einer modernen Umgangssprache entsteht. 3.4. Den Sozialstrukturen parallel entwikkeln sich im Geltungsbereich des omd. Regiolekts historische Netze einer kulturell bestimmten bzw. gerichteten Kommunikation. Diese lassen sich demgemäß beschreibungspraktisch grobklassifizieren nach Gesichtspunkten einer höfischen (feudalen), einer ländlich-bäuerlichen und einer städtischen, später im umfassenden Verständnis bürgerlichen Kommunikationskultur. Regiolekthistoriographische Produktivität verspricht die analytische Sicherstellung ihrer internen Ausformungen, Organisation und Entwicklung, nicht minder aber die Beschreibung ihrer wechselseitigen Beziehungen bzw. Überschneidungen. Dies erscheint aber, soweit überhaupt möglich, nur im Bezug auf ihre jeweils faßbaren Produkte, also das sozioregiolektal strukturierte Textsortenspektrum als praktikabel (vgl. 4.). 3.5. Der regiolektgeschichtliche Aussagewert der zusammengetragenen Daten zur Netzwerkentwicklung kann zu den folgenden Feststellungen kondensiert werden: (1) Dominierender Kommunikationsraum und damit sprachräumliches Zentrum omd. Kommunikationskultur durch die Jahrhunderte hindurch bis an die Schwelle der Gegenwart sind die wettinischen Lande bzw. die durch sie geprägten kommunikativen Traditionen. Schlesien erscheint, von da aus gesehen, in Randlage mit entsprechender Eigenentwicklung, für die sich kommunikationsgeschichtlich kaum ein gemeinsames Dach mit ObersachsenThüringen erkennen, sondern eher ein Verhältnis externer Interaktionsbeziehung annehmen läßt. (2) Unbeschadet aller im Laufe der historischen Entwicklung erlittenen territorialen Einbußen bzw. staatlichen Zersplitterung und des politischen Prestigeverlustes Sachsens in neuerer Zeit tritt raumbezogen deutlich eine traditionsbildende Kontinui-
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen tät in Erscheinung, deren arealer Geltungsbereich heute freilich nur noch verfließend-ungenau umschrieben werden kann (etwa mit historisch-wettinischen Lande). (3) Die Lokalisierung des Omd. in einem Transferraum wird durch den historisch-soziokommunikativen Befund eines bereits frühzeitig und anhaltend überdurchschnittlich dichten, durchlässigen und effizienten Kommunikationsnetzes bestätigt. (4) Der daraus folgenden Prädisposition der regionalen Sprachgemeinschaft für Sprachkontakte und kommunikative Interaktion kommt hohe regiolektgeschichtliche Signifikanz zu.
4.
Historische Diagliederung des omd. Regiolekts und Diagliederung des deutschen Standards
4.1. Den festgestellten kommunikativen Strukturen entsprechen Funktionsbereiche sprachlichen Handelns, die jeweils mit bestimmten Texttraditionen und über diese mit regiolektalen Varietäten korrelieren. In Übereinstimmung mit den meisten ‘externen’ Sprachgeschichtsdarstellungen sei auch hier von der Annahme ausgegangen, daß die Geschichte von Mündlichkeit und Schriftlichkeit und die Geschichte der Texttraditionen die Geschichte einer Sprache, in diesem Falle also die Geschichte des omd. Regiolekts erhellen (vgl. Schlieben-Lange 1983, 165 ff.). Der praktischen historiographischen Validierung dieser Hypothese stehen allerdings beträchtliche Schwierigkeiten entgegen, insofern derzeit keine durchgängig ausgearbeitete historische Sprachsoziologie verfügbar und Untersuchungen zu einer regiolektalen Textsortengeschichte zum größten Teil Desiderat sind. Außerdem wird das, was diesbezüglich an gesichertem Wissen existiert, weithin an anderer Stelle des Handbuchs dargestellt, wenn auch eingeordnet in andere Begründungszusammenhänge. 4.2. Anzubieten ist daher nur eine grobe Skizzierung von Entwicklungslinien, zunächst zur Geschichte der regiolektalen Oralität. 4.2.1. Regiolekthistorisch unbestreitbar ist der (chronologische) Primat alltagssprachlicher Oralität im Rahmen kleinräumiger Kommunikationsstrukturen, vorzugsweise auf dem Lande. Bezogen auf die Gesamtheit der Sprecher und die Domänen ihres Sprachhandelns bedeutet das zugleich bis in die unmittelbare Gegenwart ein quantitatives und funktionales Übergewicht oraler Texttraditionen chro-
2761
nologisch hoher Stabilität, in denen alltagsweltliche Sinnstrukturen für die Sicherung von Rezeptwissen zur Lösung von Routineproblemen repräsentiert sind (vgl. Schütz/ Luckmann 1979). Die ihnen zugeordneten Sprechweisen können ausdrucksseitig durch mundartliche oder modern-substandardsprachliche Varietäten realisiert werden, die ihrerseits regionalen Entwicklungen unterliegen (vgl. Große 1993). 4.2.2. Müssen die kleinräumigen Kommunikationsstrukturen im sprachlichen Austausch überschritten werden, entsteht im Grunde genommen eine Kontaktsituation zu anderen Varietäten mit der Folge von Interferenzen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen („Mischung und Ausgleich“, Koine´bildung). Der Substanz nach entspricht dies der Grundvorstellung der Fringsschen Verkehrssprache im omd. Neuland (Frings 1936; Frings/Schmitt 1944), hervorgegangen aus oder auch anfangs identisch mit der kolonialen Ausgleichssprache, von der sie sich aber möglicherweise alsbald funktionell, als differentes Sprachgebrauchssystem, unterscheidet; dies allerdings eine rein hypothetische Setzung ohne Beleggrundlage. Nur so viel scheint rekonstruktiv sichergestellt: Der kommunikative Ort dieses historischen Prozesses, der im md. Osten frühzeitig und unter signifikant günstigen Bedingungen vonstatten geht, ist zunächst die mittelalterliche Stadt mit den skizzierten spezifischen sozioökonomischen Voraussetzungen und Anforderungen wie Bevölkerungsfluktuation, Fernhandel, Bildungsmittelpunkt, Zentrum von Gewerbe, Handwerk, Administration und Rechtsprechung. In dem Maße, wie einzelne dieser Parameter im Laufe der Entwicklung auch ländlichen Kommunikationsgemeinschaften zukommen (Gewerbe, Bildung), verschieben sich die Geltungsbereiche dieser oralen Varietät: Im 18. Jh. z. B. überwiegt für ihre Zuordnung der Gegensatz gebildet : ungebildet bereits denjenigen von Stadt : Land (v. Polenz 1994, 226 ff.), der für die Umgangssprache des 19./ 20. durch industrieller Ballungsraum : (ländliche) Rückzugslage ersetzt wird. Entsprechend der sozialen Stellung ihrer Sprecher verbindet sich historiographisch mit dieser Varietät für die Struktur des jeweiligen Diasystems die Vorstellung ihrer Überordnung über den (oralen) Basisdialekt. 4.2.3. Aus der Perspektive des regiolektalen omd. Diasystems wird methodologisch zwin-
2762 gend nahegelegt, auch für diesen Typ oraler Varietät historische Kontinuität vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart vorauszusetzen, um so mehr, wenn man nicht nur, wie üblich, ausdrucks-, sondern auch inhaltsseitige Gegebenheiten ins Auge faßt. Der Type hat chronologisch variable Tokens entwickelt, d. h. ineinander übergehende Erscheinungsweisen wie omd. Verkehrssprache ⫺ „Sprache der obern Classen“ in meißnischen Städten des 18. Jhs. (im Streit Adelung⫺Wieland) ⫺ Mundart (im Verständnis des 18. Jhs.: ‘regionale Sprechsprachvarietät’) ⫺ gehobene Umgangssprache bzw. Verkehrssprache der Gebildeten im 19./20. Jh. Es gibt Belege bzw. Hinweise für frühe Erscheinungsformen einer solcherart dreifachen Diagliederung im beschriebenen Verständnis lange vor der Industrialisierung (Hugo Moser 1960; Große 1961, 1988; Bekker/Bergmann 1969; Rosenkranz 1963, 49; Bellmann 1986). Trotzdem hält sich mit Zähigkeit eine Erklärung für die moderne Umgangssprache, die diese einseitig als Produkt eines vertikalen Ausgleichsvorgangs zwischen Schriftsprache und Mundart deklariert. Daran kann deutlich werden, bis zu welchem Grad das jeweilige Beschreibungsmodell ⫺ Regiolektdarstellung hier, schriftsprachorientierte Standardgenese da ⫺ unterschiedliche Deutungsangebote erzeugt bzw. präferiert. 4.3. Als besonders problematisch erweist sich aus dem gleichen Bezugsverhältnis unterschiedlicher Beschreibungsraster die entwicklungsgeschichtliche Charakterisierung der literalen Varietäten des omd. Regiolekts im Verhältnis zur Geschichte der dt. Schrift- bzw. Standardsprache, insofern hier die beiderseitigen Domänen scheinbar unauflöslich ineinandergreifen; immerhin bietet das den Vorteil, die an entsprechender Stelle dieses Handbuchs gebotenen Fakten und Diskussionsstandpunkte nicht wiederholen zu müssen. 4.3.1. Die nach Frings (1936) bzw. Frings/ Schmitt (1944) am Anfang omd. Literalität stehende Geschäftssprache, zusammen mit der (mündlichen) Verkehrssprache unmittelbar aus der kolonialen Ausgleichssprache hervorgegangen, ist zwar genauso hypothetisch wie jene der Annahme gemeinsamer Struktureigenschaften für beide Varietäten am Anfang ihrer Entwicklung, an einer „Kontaktstelle von mundartlichem Laut und mehr oder weniger grober schriftlicher Fixierung“ (Besch 1961, 289), im Zustand ihrer „Konsoziation“ (Hans Moser 1985, 1406),
XVII. Regionalsprachgeschichte
kann indessen ein relativ hoher Evidenzgrad nicht abgesprochen werden (vgl. Fleischer 1966, 97). Ungeachtet einer unbestreitbaren funktionalen Komplementarität beider Varietäten („Glieder eines aufeinander bezogenen Paares“) müssen jedoch gegen Frings bereits auf dieser Stufe die medial bedingten Eigengesetzlichkeiten stärker hervorgehoben werden, die die Parallelisierung beider Varietäten nicht einfach als Prozeß der Umkodierung von Laut- in graphische Strukturen (oder umgekehrt) denken läßt, sondern tiefgehende lebensweltliche und redekonstellative Differenzen überbrücken muß (vgl. Feldbusch 1985; Baum 1993). 4.3.2. Wendet man für die anschließenden Epochen die umfangreichen Untersuchungsergebnisse (Peilicke 1981) zum Anteil „des Ostmitteldeutschen“ (was heißt das eigentlich in diesem Zusammenhang genau?) an der Herausbildung der schreib-, schrift- und schließlich standardsprachlichen dt. Normen auf die Regiolekthistorie an, so stellt sich die Geschichte des omd. regiolektalen Diasystems dar als Geschichte einer zunehmenden Entfremdung und schließlich Isolation zwischen seinen oralen und literalen Varietäten: Während der spätmittelalterliche omd. Schreibdialekt noch territoriale Begrenztheit und eine gewisse Rückbindung an die Sprachlandschaft (qua Dialektgebiet?) aufweist, wird in der schriftsprachlichen Etappe (etwa seit dem 16. Jh.) die areale Bindung an die Sprachlandschaft und ihre genuinen oralen Existenzweisen nahezu völlig aufgegeben, äußerlich sichtbares Zeichen der sukzessive verlaufende Sprachwechsel nd. Gebiete unter der Einwirkung der lutherisch-reformatorischen omd. Schriftsprache. Die auf diesem Weg schriftlicher Vereinheitlichung und Normierung entstehende Standardsprache erhält schließlich mit dem Artefakt eines sprechsprachlichen Korrelats zur Literalität ihre kennzeichnende Polyfunktionalität bzw. entwickelt im Austausch mit den (alten) Basisdialekten einen (neuen) umgangssprachlichen Substandard. Konsequenterweise kann das nichts anderes heißen, als daß der omd. Regiolekt spätestens im 18. Jh. einer tiefgreifenden strukturellen Destruktion unterliegt und in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. faktisch aufhört zu bestehen. 4.3.3. Die regiolekthistoriographische Sichtweise hat, von ihrem völlig anderen Blickpunkt und Beschreibungsansatz aus, erhebli-
186. Aspekte einer Sprachgeschichte des Ostmitteldeutschen
che Schwierigkeiten, mit diesem Resultat umzugehen. Sie geben Veranlassung zu den folgenden problematisierenden Einlassungen: 4.3.3.1. Unter der Voraussetzung, daß „das Ostmitteldeutsche“ als Ganzheit seiner Existenzweisen (hier als Regiolekt gefaßt) legitimer Gegenstand einer dt. Sprachhistoriographie, dem Regiolekt also notwendigerweise in irgendeiner Form sprachgeschichtliche Realität zuzuschreiben ist, verlangt, der herrschenden Lehrmeinung entsprechend, eine völlig autonome Entwicklung einer seiner literalen Varietäten („auf der Ebene der Schriftlichkeit“, Stichwort omd.-oobd. Schreiballianz) nach einer linguistisch-theoretischen Erklärung. Dies um so mehr, als unter regiolektalem Aspekt jede überregionale Austauschbeziehung nur als Interferenz zwischen sprachlichen (Dia-)Systemen beschreibbar werden kann; eine solche Erklärung des Vorgangs ist, soweit ersichtlich, nicht zur Hand. 4.3.3.2. Urkunden-, kanzlei- und druckersprachliche Untersuchungen setzen ihre Befunde hinsichtlich sprachlandschaftlicher Bindung der untersuchten Textcorpora zu mundartlichen, d. h. basisdialektalen Daten (aus rezenten Erhebungen!) in Beziehung. Regiolekthistoriographisch wird dieses Verfahren durch die Evidenz einer gehobenen oralen Varietät des Regiolekts in kontinuierlicher Entwicklung insoweit problematisiert, als diese Varietät für den arealen Vergleich und für Aussagen über eine areale Bindung eher in Frage käme, dann wohl auch, wenn praktisch durchführbar, mit voraussichtlich relativierendem Resultat. 4.3.3.3. Ebensowenig (oder wenigstens unzureichend) wird in der Regel eine praxisorientierte „niedere“ literale Varietät unterhalb einer offiziellen, amtlichen Schriftlichkeit ins sprachgeschichtliche Kalkül gezogen, wie sie für das frühneuzeitliche Omd. durch entsprechende kommunikative Strukturen mit Textsorten im Rahmen niederer Gerichtsbarkeit, chronikalischer Niederschriften, Wirtschaftsführung (z. B. auf wettinischen Kammergütern, man vergleiche 1569/70 Abraham Thunshirns „Haushaltung in forwerken“), Zinsdienst, Kirchenverwaltung, Deichbau und Entwässerung usw. zumindest nahegelegt (vgl. 3.3.3.) und für das 17./18. Jh. in neueren Untersuchungen zu einer ländlichen Schriftlichkeit generell nachgewiesen worden sind (vgl. Schönfeld 1983; Gessinger 1993; Maas
2763
1993 u. a.). Auch konnte im städtischen Bereich bereits eine berufsbedingte Teilhabe der Unterschichtbevölkerung an der literalen Entwicklung nachgewiesen werden (Walther 1988: Gerichtsbotenbericht in Prozeßakten des Dresdner Appellationsgerichtes zwischen 1605 und 1701). Besonders die umfangreichen Briefbestände des 17. und vor allem 18. Jhs., die im wesentlichen noch der Auswertung harren, weisen oft deutlich sprechsprachliche Schreibungen fern aller schriftsprachlichen Normierung auf (vgl. Czok 1989a, zu dt. Briefen Augusts des Starken). Texte dieses literalen Soziolekts (nach Gessinger (1993) „subbürgerliche Literarität“) sind zwar ihres nichtoffiziellen Charakters wegen nur mehr oder weniger zufällig überliefert und schon gar nicht flächendeckend untersucht, dürfen aber dennoch bei der Rekonstruktion des omd. Diasystems im Verständnis einer oral-literalen Gesamtheit nicht vernachlässigt werden. Hinzu kommen die vielfältigen Formen semioraler Kommunikation in Wirts-, Kaffee-, Zunft- und Pfarrhäusern, Werkstätten, Societäten usw. (sogenannte Kannegießerey) als Vorformen einer privaten bürgerlichen Öffentlichkeit (Welke 1981, 38 ff.). 4.3.3.4. Die kommunikationskulturellen Traditionen im Rahmen des Regiolektareals (vgl. 3.) und die an sie gebundenen Texttraditionen, aufgenommen bzw. flankiert durch die vielfältigen Aktivitäten für eine hochentwikkelte wettinische Sprachkultur im 17. und 18. Jh. (v. Polenz 1989), begründen ein starkes regiolektal fundiertes Kultur- und Sprachgemeinschaftsbewußtsein, das sich am sinnfälligsten im Stolz auf das Lutherdeutsche und seiner Pflege bis in die Mitte des 18. Jhs. repräsentiert, darüber hinaus aber mit großer Wahrscheinlichkeit die Gesamtheit der regionalen Kulturleistungen prägt. Das „kulturelle Gedächtnis“ einer Landschaft (Kulturelle Perspektiven 1995) oder, in der Bezeichnungsweise der Kulturmorphologie, ihre „Kulturseele“ bzw. ihr gemeinsamer „Kulturwille“ (Lerchner 1986) werden maßgeblich über die Sprachtätigkeit der Sprecher tradiert und in dieser wirksam, d. h. sie dürften entscheidend an der identitätsstiftenden Konstituierung eines Landespatriotismus, wirksam bis in die Gegenwart, beteiligt sein. Über diese soziopsychisch-mentale Dimension der Regiolektgeschichte besteht freilich noch wenig sicheres Wissen. Das sollte aber kein zureichender Grund sein, sie nicht in
2764 problematisierender Funktion in die sprachhistoriographische Diskussion einzubringen. 4.3.4. Alles dies zusammengenommen, kann man dann folgerichtig für diese Epoche dem omd. Regiolekt auch nicht, dem generellen Plurizentrismus der deutschen Sprachentwicklung entsprechend und durchaus analog zu anderen deutschen Sprachlandschaften bzw. in Konkurrenz mit diesen, den Status einer Landschaftssprache absprechen, und zwar mit vollständig ausdifferenzierten literalen (4.3.3.) und oralen Varietäten (4.2.3.) für die kommunikativen Anforderungen einer potentiellen Polyvalenz. Die omd. Spezifik bestand anderen entwickelten Landschaftssprachen gegenüber zunächst darin, daß das regiolektale Diasystem auf Grund seiner Situierung in einem Kulturraum mit der historisch einmaligen Konstellation von ökonomischem Gewicht, Kultivierungsgrad der lebensweltlichen Organisationsformen und konstanten Traditionen einer hocheffizienten transferräumlichen Strukturierung die kommunikationsgeschichtlichen Voraussetzungen für eine standardsprachliche Geltung durchaus besaß und diese bis zur Mitte des 18. Jhs. auch mehr oder weniger erfolgreich zu beanspruchen verstand. Für das im Bewußtsein der Zeitgenossen ziemlich abrupt gesetzte Ende dieser möglichen Entwicklung im zweiten Drittel des 18. Jhs. stellte der Übergang der politischen Vormachtstellung in Mitteleuropa an Brandenburg-Preußen wohl nur die äußere Markierung einer bedeutend früher einsetzenden Entwicklung dar. Zwei interne regiolektale Gründe dürften für diese die eigentlichen Ursachen sein, (a) ein linguistisch-struktureller und (b) einer der kommunikationskulturellen Konstellation. Strukturell war mit der Expansion der durch Reformation und Luthertum sozial hochkonnotierten (obersten) literalen Varietät des Regiolekts ins nd. Sprachgebiet, dessen anschließendem Sprachwechsel und der dadurch initiierten Entstehung einer neuen (gehobenen) oralen Varietät („nach der Schrift“), d. h. ohne oder mit nur indirekter Bindung an die landschaftssprachliche Tradition, ein potentiell überregionales Diasystem entstanden, das schließlich mit dem omd. System selbst in interferentielle Konkurrenz treten konnte und auf Grund seiner größeren intern-strukturellen Nähe zwischen Literalität und Oralität pragmatisch höhere Attraktivität besaß. Diese Attraktivität der Systemdisposition konnte ihre volle Wirksamkeit in einer Konstellation der kulturellen Sozial-
XVII. Regionalsprachgeschichte
systeme entfalten, in der sich durch Buchmarktentwicklung und Leserevolution die Proportionen zwischen Literalität und Oralität quantitativ wie qualitativ grundlegend verschoben hatten. Die kulturelle Überdachung durch den sich etablierenden Standard hat dann eine tiefgreifende Umstrukturierung des omd. Regiolekts zur Folge: Die beiderseitigen literalen Leitvarietäten verschmelzen problemlos auf Grund ihrer weitgehenden historischen Identität. Damit verbunden ist die radikale Domäneneinschränkung des Regiolekts im wesentlichen auf orale Varietäten, in denen sich aber seine „Traditionen des Sprechens“ ungebrochen fortsetzen.
5.
Literatur (in Auswahl)
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Gotthard Lerchner, Leipzig
187. Aspekte einer fränkischen Sprachgeschichte 1. 2. 3. 4. 5.
7. 8.
Vorbemerkungen Das Areal des Ostfränkischen Frühgeschichte Literarische Quellen aus dem Mittelalter Neuzeitliche Quellen zur gesprochenen Sprache Das gegenwärtige Ostfränkische (Forschungsüberblick) Schlußbemerkung Literatur (in Auswahl)
1.
Vorbemerkungen
6.
Der Titel des Artikels bedarf zweier Klarstellungen: (a) Unter „fränkisch“ ist „ostfränkisch“ zu verstehen, als Sammelbegriff für diverse mundartliche Subsysteme, die sich in der Zeitspanne vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart in dem Raum entwickelt haben, für dessen Westen am Anfang der historische Terminus „francia orientalis“ galt; dies zur Begründung des sprachwissenschaftlichen Fachbegriffs „ostfränkisch“. Heute ist das Mundartareal im wesentlichen durch die drei bayerischen Regierungsbezirke Unter-, Mittel- und Oberfran-
ken abgedeckt. (b) „Aspekte“ läuft, zumindest für das Mittelalter, auf eine Auflistung von quellenkundlichen Problemata hinaus, da es dem ostfränkischen Raum an allem mangelt, was zuletzt Ingo Reiffenstein (1995, 328 f.) als Idealvoraussetzungen für eine regionale Sprachgeschichte dargestellt hat: eine enge Kommunikationsgemeinschaft, eine Binnenkommunikation, die den gesamten Raum zusammenhält; eine Region als historisch gewachsenes Gebilde mit erkennbarer Stabilität, womöglich mit einem dominierenden Zentrum; eine Entwicklung von Schreibusus, die noch erkennbar in der gesprochenen Sprache verankert sind und gleichzeitig zum hochsprachlichen Ausgleich beigetragen haben.
2.
Das Areal des Ostfränkischen
2.1. Außengrenzen Das Ofrk. grenzt von Nordwesten bis Nordosten an md. Mundartgroßräume (Rhfrk., Hess., Thür., Osächs.), im Osten und Südwesten an obd. (Bair., Schwäb.). Zum Überblick vgl. Erich Straßner (1980, 479 f.) und Peter
2768
XVII. Regionalsprachgeschichte
Administrative Grenze
THÜRINGISCH
Haupt-Mundartgrenze
Henneberger Raum
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Sprachraumgrenze
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Karte 187.1: Außen- und Binnengrenzen des Ostfränkischen (umgezeichnet nach Steger, 1968, Karte 0)
Wiesinger (1983, 842⫺846). Von der Rhönschranke über den Norden des Henneberger Raumes, die Frankenwald/Lobensteiner und Kernvogtländer Schranke dominieren (stets mit kleinräumigen Ausnahmen und Interferenzen) im Süden -lein als Diminutivsuffix, Zusammenfall der mhd. Lautreihe ei ⫺ öu und ou in den mdal. Monophthongen [i:] oder [a:]; demgegenüber im Norden -chen und fnhd. regulärer Diphthongwandel. Auf der Linie Schmalkalden ⫺ Suhl ⫺ Eisfeld ⫺ Lobenstein ⫺ Greiz ⫺ Adorf reicht das Areal des Ofrk. über die bayerische Landesgrenze hinaus nach Thüringen. Im Osten und Südosten unterscheidet sich das Ofrk. durch Langvokale gegenüber den nordbair. gestürzten Diphthongen. Während die Nordbair. Hauptmundartschranke (auf der Linie Rehau-Pegnitz) als relativ kompaktes
Isoglossenbündel zu erkennen ist, spaltet sie sich südlich anschließend in die Nordbair. Westschranke (im Westen [w:], im Osten [ou] in der Position von mhd. uo, vgl. Steger 1968, 545) und die Ostgrenze des Nürnberger Raumes (im Westen [a:] im Osten [cB] in der Position von mhd. ei) auf (Steger 1968, 547) und konstituiert den Nürnberg-Weißenburger Übergangsraum. Die Schwäbische Hauptmundartlinie im Süden (zwischen Feuchtwangen und Dinkelsbühl in Ost-West-Richtung verlaufend) reicht in die fränkischen Regierungsbezirke hinein. Diese, von Nübling (1938, 196 ff.) als „Heideforst-Hahnenkammschranke“ bezeichnete Grenze ist durch die Isoglosse der Verdumpfung von mdal. gedehntem mhd. a definiert (nördlich [ro:d] vs. südlich [ra:d] Rad). Sie grenzt jedoch nur eines von mehreren mar-
187. Aspekte einer fränkischen Sprachgeschichte
kanten Merkmalen des Schwäb. gegen das Ofrk. ab. Die etwa 20 bis 25 km weiter nördlich in etwa parallel verlaufende Isolosse der Palatalisierung von in- und auslautend -st wird zumindest von den Sprechern der betroffenen Mundarten als ebenso wichtiges Kriterium angesehen (nach Erhebungen des Sprachatlas von Mittelfranken). Ein Problem eigener Art stellt das Süd(ost)fränkische dar: Kann man es als eigenständiges nobd. Dialektareal auffassen (Straßner 1980, Karte S. 480) oder als zum Ofrk. gehörig (König 1996, Karte S. 230⫺231); oder als Interferenzraum von Schwäb. (nördlich der Linie Murrhardt-Ellwangen), einem rhfrk. Superstrat östlich der Linie Karlsruhe⫺Miltenberg (vgl. Steger 1984, 92) und Ofrk. (westlich der Linie Stadtprozelten⫺Bad Mergentheim⫺Wassertrüdingen, vgl. Wiesinger 1983, 839 ff.)? Für letzteres spricht, daß rhfrk. und schwäb. Primärmerkmale zwischen der Taubergrenze und der Linie Stadtprozelten⫺Heilbronn (also der Crailsheimer Raum und das Hohenloher Land) deutlich von ofrk. überlagert sind (Kriterium u. a.: mhd. eˆ, oˆ, œ diphthongiert). Die Spessart-Barriere (Stadtprozelten bis etwa Dermbach) stellt eine klare Abgrenzung des Ofrk. vom Rhfrk. und damit vom Md. dar (im Westen keine Lautverschiebung p/pf; schibilliertes Diminutivsuffix -chen). Die historisch terrritoriale und gegenwärtig wirtschaftliche Ausrichtung des westlichen Spessarts führte hier zu einer der wenigen markanten Sprachgrenzen in der ansonsten durch Überschneidungsräume gekennzeichneten Umgrenzung des Ofrk. Aber selbst hier sind Mischgebiete (Mainzer und Fuldaer Übergangsstreifen) unverkennbar (nach Erhebungen des Sprachatlas von Unterfranken). 2.2. Binnengliederung Im Gegensatz zu den in sich deutlich homogeneren „Stammesdialekten“ zeichnet sich das Ofrk. durch eine komplexe Binnengliederung aus. Mit Steger (1968, 2 ff.) ist von einer groben Dreiteilung in Unter-, Ober- und Südostfränkisch auszugehen, wobei aber stets zu bedenken bleibt, daß diese Areale nur abschnittsweise durch klare Isoglossenbündel zu definieren sind. Wie schon bei den Außengrenzen gezeigt, sind auch hier breite Interferenzzonen und Übergangsräume eher die Regel als die Ausnahme. Die drei großen Binnenräume des Ofrk. können ⫺ vereinfachend und exemplarisch ⫺
2769 durch die Isoglossen der unterschiedlichen Entwicklung des Infinitiv-Morphems definiert werden. Im Oberofrk. wird dieses nach Plosiv oder Frikativ im Stammauslaut als silbischer Nasal realisiert, z. B. [rı:dn] reden, [blaem] bleiben, [maxn] machen. Im Südofrk. ist historisches -en wie im Wmd. und Alem. vokalisiert zu [-e], also [reide], [blaewe], [maxe], während es im Unterofrk. wie im angrenzenden Thüringischen gänzlich schwindet, also [reid], [blaeb], [max]. Die Grenze zwischen Ober- und Unterofrk. wird im Norden durch Stegers Coburg-Obermainschranke (Ludwigstadt bis Ebern), im Süden durch die Steigerwaldschranke (Ebern bis Uffenheim) gebildet (vgl. auch Krämer 1995, Karte 2). Die Taubergrenze zwischen Wertheim und Creglingen scheidet das Unterofrk. vom Südofrk. Als Grenze zwischen Südofrk. und Oberofrk. kann die FrankenhöheSchranke angenommen werden, eine weniger markante Fortsetzung der Steigerwaldschranke, die in Nord-Süd-Richtung von Uffenheim aus auf die Schwäbische Hauptmundartlinie zuläuft. Bei den zahlreichen Übergangsräumen ist zu unterscheiden zwischen Binnen- und Außeninterferenzräumen. Als markantester Binneninterferenzraum ist der Coburger Raum zu nennen (vgl. Steger 1968, 333 ff.). Hier überlagern sich eine ältere Schicht von thür.-unterofrk. Gemeinsamkeiten (z. B. endungslose Infinitive) und eine jüngere von thür.-obermain. Übereinstimmungen, wie die fallende Diphthongierung von mhd. oˆ z. B. in [brued] Brot. Der bedeutendste Außeninterferenzraum ist der Nürnberg-Weißenburger Übergangsraum östlich der nordbair. Westschranke. Beide Teilräume zeichnen sich durch einen nach Osten hin zunehmenden Anteil von nordbair. Merkmalen aus. Die Westgrenze beider Räume bildet das Isoglossenbündel der „Nordbairischen Westschranke“. Östlich dieser Linie treten steigende Diphthonge in den Positionen nahezu aller mhd. Langvokale und aller mhd. fallenden Diphthonge auf. In dieser Beziehung stimmt das Nürnbergische mit dem Nordbair. überein. Die Entsprechungen von mhd. sneˆ, liep und guot lauten im Oberofrk. östlich Ansbachs [sne:], [li:b] und [gw:d], im Nürnberger Raum hingegen [snii], [leib] und [goud]. Andererseits stimmen auch einige Merkmale des Nürnberger Raums mit dem Ofrk. überein, z. B. die Monophthongierung von mhd ei zu mdal [a:]. So lautet mhd. breit hier, wie im gesamten
2770
XVII. Regionalsprachgeschichte
Oberofrk., [bra:d]. Eine relativ unscharfe Trennlinie grenzt den Nürnberger Raum vom Weißenburger Raum ab. Zwar zeichnet Steger (1968, Karte 0) diese als Fortsetzung der Ostgrenze des Nürnberger Raums ein, sie ist aber im Westen ihres Verlaufs weniger markant, weil die im Nordosten noch ein Bündel bildenden Isoglossen hier nach Südwesten zu immer mehr zerfasern. Die bair. Fortes sind westlich von Hilpoltstein nicht mehr zu hören, die Isoglosse bair. Richtungsadverbien des suffigierenden Typs, z. B. [af=] hinauf (Sprachatlas von Mittelfranken, Frage 155/5) trennt sich an der Grenze der Regierungsbezirke Oberpfalz und Mittelfranken von derjenigen der Monophthongierung von mhd. ei und markiert, in Nord-Süd-Richtung verlaufend, die Ostgrenze des Weißenburger Raums gegen das Nordbair. Charakteristisch für den Weißenburger Raum sind Interferenzen mit dem Mbair., z. B. die Lautung [guAd] für gut, und mit dem Alem., z. B. [dw b=sd] für du bist. Die Größe der Interferenzräume hängt von historischen Gegebenheiten ab, die sich zu sehr unterschiedlichen Zeiten prägend auswirkten: z. B. Regensburger Besiedlung im 9./10. Jh. im Weißenburger Raum, salische und staufische Reichslandbildung wie spätere, nordgauische Besiedlung des Bayreuther Raumes, die alte frk.-thür. Siedlungsgrenze an der Lobensteiner Schranke, die Rolle von Kleinterritorien wie Plauen, Reuß, Coburg, Henneberg usw. (Wagner 1987, 36⫺39), schließlich die Kirchspielgrenzen an der nordbair. Westschranke (Steger 1968, Abb. 33).
3.
Frühgeschichte
Zur Frühgeschichte des Ofrk. existieren keine schriftlichen Quellen, jedenfalls keine literarischen Texte. Aus markanten faktengeschichtlichen Daten ⫺ alem. Niederlagen um 500 und Niederwerfung des Thüringerreiches 531 ⫺ läßt sich nur mit Vorsicht auf volkssprachliche Umschichtungen schließen. Aussagekräftiger sind archäologische („Großromstedter Kultur“) und namenkundliche, speziell hydronomische, Befunde. Demnach ist für das Ofrk. eine elbgermanisch-suevische Grundlage anzunehmen (Schwarz 1955, 53), vielleicht dem Markomannischen nahestehend, d. h. von frühester Zeit an ist das Spannungsfeld zwischen md. und obd. Dialektzugehörigkeit angelegt. Das 6./7. Jh. ist durch südostfrk. Siedlungstätigkeit und die Über-
deckung des altthüringer Raumes gekennzeichnet. Verläßlich im Detail sind hier die orientierten und schematischen Ortsnamen (Typ: Ost-, West-, Nord-, Sundheim; Koch 1967, 113 f. und Schuh 1998, 28), während früher übliche Zuordnungen von der Art Ortsnamen auf -ungen und -leben seien immer thüringisch, solche auf -ingen immer alemannisch, heute in Frage gestellt werden (Frh. v. Reitzenstein 1989, 635⫺641). Die in früherer Forschung angenommene überragende Bedeutung der sog. Fränkischen Staatskolonisation, auch mit flächendeckenden volkssprachlichen Konsequenzen, ist nach neueren toponymischen Ergebnissen zu relativieren: Es scheint sich vielmehr um eine straffe fränkische Verwaltungsorganisation gehandelt zu haben, von Königshöfen und von überregionalen Verkehrswegen ausstrahlend, und durch die Verwaltungsdistriktnamen auf -gau und -feld belegt (Wagner 1987, 27⫺35), im Norden und Südwesten stark durchsetzt von thür. und alem. Bevölkerung, im gesamten Osten durch den dt.-slaw. Kontakt gekennzeichnet (Schwarz 1960, 29 ff., 404 f.; vgl. Eichler 1962, 365⫺395; Frh. v. Reitzenstein 1991/92, 1⫺76). Siedlungskontinuität ist anzunehmen ⫺ vgl. die ältesten Flußnamen ⫺, aber es scheint eine sehr aufgelockerte Besiedlung gewesen zu sein.
4.
Literarische Quellen aus dem Mittelalter
Das auffallendste Merkmal der Überlieferung nach dem Einsetzen der deutschsprachigen literarischen Tradition ist, daß ihr Zentrum weit außerhalb des heutigen Ofrk. liegt: in Fulda, d. h. einer rhfrk., konkreter: einer Mainzer Tradition näherstehend als dem Ofrk. Dies trifft auf die „hohe“ Literatur des 9. Jhs. zu (Tatian, Hildebrandslied; erschwerend: Übersetzung bzw. Mischtext), mit Abstrichen auch auf Gebrauchsliteratur vom Ende des 8. Jhs. (Markbeschreibungen; hier erschwerend: propriale Lautstände dürfen nicht überinterpretiert werden, propriale Wortbildungsmuster sind eher gemeingermanisch). Dies gilt auch bezüglich des hohen proprialen Gehalts der Glossenüberlieferung und der Formelhaftigkeit kirchlicher Gebrauchstexte. Sinnvollerweise wird in sprachgeographischen Darstellungen (z. B. Sonderegger 1974, 63) ein Raum als „fränkisch“ ohne Grenzlinien markiert, charakterisierbar als vokalischer Ausstrahlungs- und konso-
187. Aspekte einer fränkischen Sprachgeschichte
nantischer Aufnahmeraum (Kriterium z. B. die gestaffelte, nicht vollständige 2. Lautverschiebung), der spätere mittel- und obd. Mundartgebiete übergreift. Aus der frühmhd. Epoche sei exemplarisch das Ezzolied (a. 1063) hervorgehoben ⫺ wegen der klaren Entstehungsgeschichte in Bamberg, ohne die überlieferungsgeschichtlichen Probleme (Vorauer Hs. des 12. Jhs.) zu verkennen; man könnte hier, auf Land, Leute und Sprache bezogen (der literarische Typus Weltchronik weist allerdings weit darüber hinaus), von der ersten ofrk. Dichtung sprechen. An lautlichen Merkmalen fallen auf die Spirantisierung des gutturalen Auslauts (Babenberch), im Ofrk. bis heute beibehalten, und die Diphthongierung von germ. o¯ und e¯ zu uo und ie (vgl. duo, dien) als Basis für die spätere sog. Einsilberdehnung in Teilen des Ofrk. (vgl. Wagner 1983, 30 u. 58). Zur mhd. Literatur ist auf eine stattliche Zahl von Autoren zu verweisen (Buhl, 1971, 23⫺169), die zumindest biographisch mit Franken in Verbindung gebracht werden können: Wolfram von Eschenbach, Wirnt von Grafenberg, Konrad von Würzburg, Otto von Botenlauben, der Winsbecke/die Winsbeckin, der Tannhäuser, Hugo von Trimberg, Christine Ebner, Konrad von Megenberg u. a. Überwiegend handelt es sich hier um „Epigonen“ der mhd. Klassik, ein literaturwissenschaftlich geprägter Teilepochenbegriff, abwertend ⫺ wie auch das sprachliche Urteil des 19. Jhs.: „verderbte Sprache“, d. h. aber dialektologisch nichts anderes als: mundartliche Merkmale nehmen zu. Deshalb seien für die Problematik der sprachgeschichtlichen Interpretation die Eckpfeiler dieser Entwicklung herausgegriffen: Bei Wolfram findet sich weder ein Widerhall gesprochener ofrk. Mundarten, noch ist er hinsichtlich eines mundartnahen Schreibusus zu interpretieren. Die sprachhistorische Bedeutung liegt vielmehr in einer Literatursprache, die so vorgetragen, aber nicht in der alltäglichen Kommunikation realisiert wurde: ein erster Schritt zu einer Ausgleichssprache als Voraussetzung für die Jahrhunderte späteren schriftsprachlichen Einigungsansätze zu einer Nationalsprache. Wegen der Mittlerrolle Ostfrankens zwischen Mittel- und Oberdeutschem könnte Wolframs Anteil an diesem Ausgleich höher einzuschätzen sein, als der der anderen Protagonisten ⫺ Hartmann von Aue, Gottfried von Straßburg, Walter von der Vogelweide ⫺, ohne die, das ist die wissenschaftsgeschichtliche Relevanz, eine
2771 Rekonstruktion des „klassischen“ Mhd. um 1200 nicht möglich gewesen wäre. Anders Konrad von Megenberg (1309⫺1374; vgl. Steger 1963, 63⫺86 und Steer 1985, Sp. 221⫺ 236). Er gilt, zumindest was das Bair. und Ofrk. begtrifft, als der bedeutendste Vertreter eines metasprachlichen Raisonnements. V. a. im dichtest überlieferten Werk seiner naturkundlichen Schriften, dem sog. Buch der Natur (um 1350, über hundert Handschriften), äußert er sich über Zweck und Adressatenorientierung einer Übersetzung lat. Vorlagen ins Deutsche (Lehre, Exegese, Verständlichkeit als Gegensatz zur gedichteten = erlogenen Literatur) und macht, so daß Steger (1963, 63) eine frühe Art von „Wortgeographie“ erkannte, auf Unterschiede in der Lexik der dt. Mundarten aufmerksam: in ainem däutsch … in dem anderen däutsch; haizent si die gäwläut eteswa; der kranwitbaum haizt in meiner müeterlichen däutsch ain wechalter (vgl. die insges. sieben Wortpaarbetrachtungen bei Steger 1963, 70⫺79). Konrad unterscheidet zwischen Formen, die sich an überregionale Verkehrssprachen anlehnen (z. B. thür., schwäb., bair. und auch ofrk. fegen = mit Wasser putzen) und solchen, die in seinem Herkunftsgebiet (Mäbenberg bei Schwabach/Mittelfranken) geläufig sind (z. B.: varchmuoter/värhermuoter = Mutterschwein). In einzelnen Lautungen und im bäuerlichen Grundwortschatz hat sich in dem Raum, in dem Mäbenberg liegt (Süden des Nürnberger Übergangsraumes) wenig geändert: die Durchdringung von bair., ofrk. und schwäb. Elementen bleibt wichtigstes Merkmal. Dialektologisch ergiebiger als die Dichtung ist die zeitgleiche Gebrauchsliteratur, etwa das Buoch von guoter spıˆse (auch „Würzburger Kochbuch“), um 1350 im Hausbuch Michaels de Leone überliefert (Hayer 1976, 13⫺15). In diesem ältesten dt. Kochbuch finden sich Lemmata, die sich als Kennformen des Wortschatzes im gesamten Ofrk. bis heute erhalten haben, z. B. bresteling/Gartenerdbeere; erbeiz, arbeis/Erbse; geschen, jern, gern/gären; stürze/Deckel eines Gefäßes. Gegenüber der zuletzt geschilderten Zunahme des Dialektalen in Texten wie auch des mundartlichen Selbstbewußtseins folgt im frk. Frühhumanismus ein retardierendes Element: Albrecht von Eyb (um 1460) und Konrad Celtis (um 1500) als Repräsentanten einer Übersetzungsliteratur, d. h. einer Ausgleichsschreibsprache, die europäisch orientiert ist und zur Basis der späteren Nationalsprache beiträgt. Dieses Wechselspiel von
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XVII. Regionalsprachgeschichte
hochsprachlichen Tendenzen und mundartnaher Schreibsprache ist auch in den beiden folgenden Jahrhunderten Kennzeichen der hohen Zeit Nürnbergs; nur, daß sich nun im 16./17. Jh. eine vertikale, soziallinguistische Zuordnung bewerkstelligen läßt: Mundart als stilistisches Medium bei den HandwerkerDichtern (Hans Rosenplüt, Hans Volz, Hans Sachs) in Fasnachtsspielen, Bauernkomödien aber auch darüber hinaus in „lebensnahen“ Sensations-Flugblättern (etwa in der Sammlung Wickiana), dagegen wieder die Tendenz zur Ausgleichssprache in der Humanistentradition (Willibald Pirckheimer, Ulrich von Hutten; auch Albrecht Dürer). Mit „Mundartliteratur“ im heutigen Sinne ⫺ als bewußte Absetzung von der hochsprachlichen Literatur ⫺ hat das lange vor Opitz, Adelung und Gottsched nichts zu tun. Der sprachgeschichtliche Beitrag des Ofrk. im 15. bis 17. Jh. ist auf die Rolle Nürnbergs in seiner wirtschaftlichen, kulturellen, literarischen hohen Zeit reduzierbar. Eine frk. Sprachgeschichte könnte nur wiederholen, was in einer Sprachgeschichte Nürnbergs zu diesem Zeitraum bereits im Detail gesagt ist (vgl. Van der Elst, Artikel 163 dieses Handbuches). An sprachhistorischen Tendenzen seien betont: (a) In der Nürnberger Urkundensprache ist grob Mundartliches von Anfang (13. Jh.) an gemieden. (b) Die Nürnberger Schreibsprache zeichnet sich seit dem 14. Jh. durch Mundartferne aus. (c) Das wirtschaftliche und kulturelle Prestige Nürnbergs im 15./16. Jh. führt zu einem ausgleichenden oberdeutsch-mitteldeutschen Schreibusus, der weit über das knappe reichsstädtische Territorium hinausreicht. (d) Das innerstädtische Schulwesen und die Rolle Nürnbergs als zentral gelegenes Kommunikationszentrum (Buchdruck, Nachrichtenwesen) tragen zu einer weiteren Auseinanderentwicklung von gesprochener Sprache und Schreibsprache bei.
5.
Neuzeitliche Quellen zur gesprochenen Sprache
Wie der Vergleich der in Nürnberg produzierten Literatur mit der Korrespondenz des Ehepaars Paumgartner (Koch 1910 u. 1917) aus dem 16. Jh. zeigt, standen sich hier bereits seit mindestens 500 Jahren eine überregionale nhd. Schriftsprache, eine gesprochene regionale Ausgleichssprache und eine lokale Mundart in einer Triglossiesituation gegenüber. Der weitgereiste Kaufmann Balthasar Paumgartner schreibt, wie Dürer und andere gebildete Nürnberger seiner Zeit, das überregionale, normierte Obd. gedruckter Texte,
während seine Frau Magdalena in einer variantenreichen, deutlich regional geprägten Varietät antwortet, die zwar auch kein Dialekt ist ⫺ die für die Stadtmundart typischen nordbair. Steigdiphthonge fehlen ⫺, die aber fast alle Merkmale aufweist, die das heutige Ofrk. und Nürnbergische gemeinsam haben. Im Kontakt mit Sprechern des Ofrk. hatte Magdalena wohl gelernt, die Regionalismen ihrer Mundart zu erkennen. Andererseits finden sich überall da, wo Ofrk. und Nürnbergisch übereinstimmen, Graphien, die eindeutig auf heute noch gebräuchliche mundartliche Lautungen schließen lassen: zonstirer/ Zahnstocher, kerba/Kirchweih, zugen/gezogen. Magdalena ist sich ihrer unvollständigen hochsprachlichen Kompetenz bewußt, sie empfindet dies als Manko und entschuldigt sich in den Briefen an ihren Mann immer wieder, z. B. und wellst mit meinem gar besen und krumen schreiben und kindichsen vergut haben (Koch 1910, IX). Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg setzt eine bis heute fortgeführte Tradition der Mundartdichtung bzw. des Übersetzens hochsprachlicher Texte in die „Volkssprache“ ein. Zu dieser Zeit muß die Triglossie Mundart/Umgangssprache/Schriftsprache bereits in breiteren Schichten etabliert gewesen sein als zu Lebzeiten der Nürnberger Patrizierin Magdalena Paumgartner. Dies zeigt sich auch in der Argumentation des Altdorfer Theologen Alexandrus Helladius, der sich in seiner 1714 in Nürnberg erschienenen Abhandlung „Status praesens ecclesiae graecae …“ gegen die Übersetzung der griech. Bibel in die moderne griech. Volkssprache wendet. Der griech. Muttersprachler vergleicht die Situation im griech. Sprachgebiet mit derjenigen in Deutschland anhand einiger Beispiele, in denen er einem mundartlichen Text dessen schriftsprachliche Entsprechung gegenüberstellt: Nam quamvis rusticus Germanus dicat: „O harzt mi halt an mohl / daß i mei arms Harz a weng derquick / i weiß a schlechts / daß es außsigt aß wie a gbachni Hultz=Biern / oder a walcka Ratti“ Tamen non ignorat elegantioris linguae sensum, quae ita sonat: „O herzt mich doch einmahl / daß ich mein armes zappelndes Herz ein wenig erquicke / ich weiß wohl / daß es außsieht als wie ein gebackene Holtz=Birn / oder wie ein welcker Rettig“ (Helladius 1714, 109).
Abgesehen von der Information, daß ein „rusticus Germanus“ durchaus auch einen „eleganteren“ schriftsprachlichen Text verstehen könne, ist dies auch eines der frühesten Zeugnisse für die gesprochene Sprache des Nürn-
187. Aspekte einer fränkischen Sprachgeschichte
berger Raums. Dies legt z. B. die Wortform Hultz=Biern nahe, welche die für den Dialekt der Region typische Hebung von gedehntem mhd. o in Einsilbern aufweist (Klepsch 1988, 112). In Kombination mit weiteren Belegen mundartlich-schriftsprachlicher Lautentsprechungen, die sich verstreut in Helladius’ Text finden, läßt sich diese Feststellung erhärten: z. B. hout (Helladius 1714, 125) für die 3. Person Ind. Sg. des Hilfsverbs haben, ein Beleg für die nordbair. Diphthongierung von mhd. aˆ, oder die Wortfolge A brata Lattern eine breite Leiter (Helladius 1714, 126) mit drei Belegen für die Monophthongierung von mhd. ei. In Kombination, d. h. durch Übereinanderprojizieren der Isoglossen dieser Dialektmerkmale, läßt sich die Sprache des „rusticus Germanus“ eindeutig in der östlichen Umgebung von Nürnberg lokalisieren, wo auch die ehemalige Universitätsstadt Altdorf liegt. Andererseits finden sich in den mdal. Textpassagen auch Graphien, die dem heutigen Lautstand im so umrissenen Gebiet widersprechen: Harz für Herz, Rattig für Rettich referieren mit Sicherheit auf die Lautungen [ha(r)ds] bzw. [rad=c¸], veranschaulichen also die Senkung von mhd. e¨ bzw. æ zu [a]. Diese ist heute noch im Unterofrk., nicht aber im Oberofrk. und auch nicht im Nürnberger Raum zu beobachten. Relikte in Ortsnamen, z. B. [se1mag] für den Ort Schönberg östlich von Nürnberg (nach Erhebungen des Sprachatlas von Mittelfranken), legen aber nahe, daß hier in den vergangenen Jahrhunderten ein mdal. Lautwandel stattgefunden haben muß. Der Text des Helladius belegt also einen älteren Zustand des Dialekts und kann im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Ortsnamenforschung als valide Quelle für die gesprochene Sprache der Region angesehen werden. Sprachgeschichtlich ist das Verdienst der Sprachgesellschaften des 17./18. Jhs. zu berücksichtigen, v. a. unter den Aspekten Normierung und Purismus, also auf dem Weg zu einer hd. Gemeinsprache. Deshalb bleiben Rückschlüsse auf eine, etwa im Umfeld des Pegnesischen Blumenordens, in Nürnberg um 1700 gesprochene Sprache die Ausnahme (vgl. Klepsch 1988, 86 f. zu dem Hymenäischen Fest-Gespräch „Des Garrulus SchlafLiedlein auf der Sack-Pfeiffe“, 1673). Anders die frühesten Texte Nürnberger Mundartdichtung, die Friedrich Bock (1928) ediert hat. Hier findet sich z. B. das „Nürnberger Quodlibet“, das 1655 im „Musicalischen Zeitvertreiber“ herausgekommen ist
2773 (Bock 1928, 344). Das Gedicht schildert das Stimmengewirr auf dem Nürnberger Hauptmarkt. Mit etwas Phantasie kann man sich die verschiedenen Akteure vorstellen: Ein Stadtbedienster ruft ⫺ in regionaler Umgangssprache ⫺ die Mittagsstunde aus: Hört zu und laßt euch sagn // die Glocken hat zwölffa gschlagn, eine Bäuerin aus dem ofrk. Umland preist ihre Produkte an: Kaaft guata Milch ihr Weiber // Schöna schmoaltz // guten Kern // Guata Buttermilch. Die Entsprechung mhd. uo zu mdal. [wB] ist typisch für das Oberofrk. der Region um Ansbach, nicht für das Nürnbergische, wo mhd. uo durch den gestürzten Diphthong [ou] vertreten ist. Im heutigen Nürnbergischen lautet die 2. Person Pl. von kaufen [khafd], der durch veranschaulichte Langvokal ist wiederum typisch für das Oberofr. westlich von Nürnberg. Der nächste Sprecher oder die nächste Sprecherin scheint dagegen aus dem Nürnberger Raum zu stammen: Kafft schöna frischa Aar. Der grapho-phonemische Kontrast der beiden Varianten von kauft ist sicherlich kein Zufall, sondern ein Stilmittel. Gemeinsam ist dem Text von Helladius und dem aus dem „Musicalischen Zeitvertreiber“, daß ihre Verfasser nicht aus Eigenkompetenz schöpfen, sondern eine (oder mehrere) strukturell mit der eigenen Muttersprache kontrastierende Varietät imitieren.
Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jhs. wurden Texte verfaßt, deren Autoren mit graphischen Mitteln Kontraste zwischen der eigenen Mundart und der damaligen überregionalen Konvention veranschaulichen. Zu dieser Zeit war die Normierung der dt. Schriftsprache bereits weiter fortgeschritten, die Mundart wurde mehr und mehr als eigenständiges Sprachsystem mit eigener Daseinsberechtigung aufgefaßt. In dieser Zeit entstanden in Nürnberg die ersten konsequent stadtmundartlichen Texte (Grübel 1798), andererseits die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen über den Dialekt der Reichsstadt. Das erst kürzlich wiederentdeckte und edierte Idiotikon von J. Heinrich Häßlein (OswaldMüller 1993) wurde etwa um 1780 verfaßt. Häßlein verzeichnet und etymologisiert darin ca. 1200 Lemmata, die zum größten Teil aus der Stadt Nürnberg stammen, zum kleineren Teil aber durch LV. für „Landvolk“ gekennzeichnet sind. Die letzteren waren Elemente der Mundarten des Landterritoriums der Reichsstadt, das ein Gebiet von ca. 25 mal 25 km östlich Nürnbergs einnahm. Hier nehmen die nordbair. Merkmale des Nürnberger Übergangsdialekts nach Osten hin zu, die ofrk. ab. So ist das bair. Richtungsadverb abi/hinab bei Häßlein mit LV. markiert, ebenso der Pfinztag/Donnerstag, eines von
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XVII. Regionalsprachgeschichte
Kranzmayers „bair. Kennwörtern“ (Kranzmayer 1929, 74⫺81). Der Erretag/Dienstag ist hingegen nicht mit einer solchen Markierung versehen, sondern wird mit der Bemerkung nach der Mundart des Gemeinen Mannes allhier implizit als Element der Stadtmundart gekennzeichnet. Hier deutet sich eine noch heute andauernde Entwicklung an, nämlich das gestaffelte Zurückweichen der bair. Kennwörter nach Südosten. Die Isoglosse Dienstag vs. Ertag verläuft heute etwa 25 km östlich von Nürnberg, die von Donnerstag vs. Pfinztag ca. 50 km südöstlich der Stadt, außerhalb des ehemaligen reichsstädtischen Territoriums. Für das bair. Kennwort Pfeit/ Hemd (vgl. Kranzmayer 1960, §§ 8, 12, 29, 31) gibt es bei Helladius noch einen Beleg mit ofrk. Lautung Pfat, es ist aber weder bei Häßlein noch bei einem der späteren Lexikographen des Ofrk. oder Nürnbergischen vermerkt. Die Texte des Nürnberger Mundartdichters J. Conrad Grübel vom Ende des 18. Jhs. erlauben eine Rekonstruktion der Struktur der historischen Stadtmundart und sind Gegenstand der ersten Nürnberger Mundartgrammatik (Frommann 1857).
6.
Das gegenwärtige Ostfränkische (Forschungsüberblick)
In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. setzt eine intensivere dialektologische Erforschung der ofrk. Mundarten ein. Mit Haupts „Mundart der drei Franken“ (1865) wird erstmals die Lautgeographie zum Thema einer flächendeckenden Beschreibung. Mit der Erhebung des Deutschen Sprachatlas wird die empirische Basis für genauere diatopische Untersuchungen geschaffen, aus der die Forschung bis in die zweite Hälfte des 20. Jhs. schöpft. Hinzu kommen grammatikalische Darstellungen über regionale oder lokale Mundarten, deren Schwerpunkt auf der Lautlehre liegt und die meist etwas ausführlicher die Morphologie, kursorisch auch die Syntax berücksichtigen. Die Tradition solcher Ortsgrammatiken beginnt 1864 mit Bauers Beschreibung der Mundart von Künzelsau im württembergischen Hohenloher Land. Die Nürnberger Ortsgrammatik von Gebhardt (1907), eine umfassende Beschreibung von Laut- und Formenlehre in der Tradition der Leipziger Junggrammatiker, wurde zum Vorbild ähnlicher Darstellungen anderer Ortsmundarten. Die „Grammatik der Nürnberger Mundart“ dokumentiert nachweislich ei-
nen älteren Sprachzustand, sie kann, wie auch die Texte Grübels, Häßleins Idiotikon und die Wenkerbogen aus dem Stadtgebiet als historische Kontrastfolie zum Vergleich mit den Ergebnissen neuerer empirischer Untersuchungen verwendet werden. In den dreißiger Jahren des 20. Jhs. setzte unter der Leitung von Friedrich Maurer an der Universität Erlangen eine neue Methode der empirischen Sprachdatenermittlung ein, nämlich die direkte Erhebung zur mundartlichen Lautlehre durch ausgebildete Sprachwissenschaftler. Beginnend mit der noch nicht sehr überzeugenden Arbeit von Hain (1936) entstand nach 1950, v. a. unter Ernst Schwarz, eine Reihe von direkt erhobenen, regionalen lautgeographischen Untersuchungen, die den größten Teil Mittelfrankens und ein kleineres Areal im südlichen Oberfranken abdecken. Auf Basis dieser Arbeiten, der bis dahin vorhandenen Ortsgrammatiken und der Daten des Deutschen Sprachatlas schuf Hugo Steger (1968) das bis zum heutigen Zeitpunkt aktuelle Standardwerk über die ofrk. Lautgeographie und ihre historischen Grundlagen. Der Vergleich historischer Fakten mit dem Kartenbild der rezenten Lautgeographie erlaubte es Steger, Rückschlüsse auf die Geschichte, v. a. auf die Entstehungsgeschichte der heutigen Mundarträume zu ziehen. So wird z. B. gezeigt, daß die Westgrenze des Nürnberger Raums nicht, wie noch Friedrich Maurer (1934, 475) annahm, im Zuge der Industrialisierung im 19. Jh. entstand, sondern daß sie noch heute mit den Grenzen der Kirchsprengel im Spätmittelalter übereinstimmt und daher spätestens seit dieser Zeit existieren muß (vgl. Steger 1968, 555 ff.). Wie bereits aus dem Titel hervorgeht, beschränkt sich die Darstellung „Sprachraumbildung und Landesgeschichte im östlichen Franken“ jedoch weitgehend auf das Oberofrk. und den Nürnberger Übergangsraum, die Karten stellen nur das Gebiet des Regierungsbezirks Oberfranken und des Ostens von Mittelfranken dar. Der Weißenburger und der Gunzenhäuser Raum werden durch die etwa gleichzeitig erschienene, methodisch vergleichbare Darstellung von Jutta Schödel (1967) abgedeckt. Die letzte Arbeit aus der Serie der lautgeographischen Regionaldarstellungen, Theodor Diegritz’ „Lautgeographie des westlichen Mittelfrankens“ (1971) läßt die bei Steger noch nicht thematisierte Binnengliederung der Mundarten nördlich von Ansbach klarer hervortreten. Für das Unterofrk. sowie für das Oberofrk. süd-
187. Aspekte einer fränkischen Sprachgeschichte
lich von Ansbach und für das Südofrk. des Hohenloher Landes fehlen aber bis dato flächendeckende Darstellungen. Diese Lücke verspricht weitgehend geschlossen zu werden durch die Veröffentlichung der Erhebungen des Bayerischen Sprachatlas. Dieses dialektologische Großprojekt läuft seit 1987. Es ist dezentral in Form von Teilprojekten organisiert, von denen jedes einen oder zwei bayerische Regierungsbezirke bearbeitet. Der Sprachatlas von Nordostbayern unter der Leitung von Robert Hinderling erfaßt Oberfranken und die Oberpfalz, der Sprachatlas von Unterfranken steht unter der Leitung von Norbert Richard Wolf in Würzburg und der Sprachatlas von Mittelfranken unter der von Horst Haider Munske in Erlangen. Ziel des Projektes ist die flächendeckende Dokumentation von Lautung und Grammatik sowie ⫺ auszugsweise ⫺ der Lexik der konservativsten Schicht der rezenten Grundmundart, wie sie nur noch mit Hilfe von alteingesessenen Landwirten, die vor 1935 geboren wurden, erhoben werden kann. Dies geschah durch sprachwissenschaftlich ausgebildete Exploratoren mit direkter Methode anhand eines einheitlichen, etwa 2800 Fragen umfassenden Katalogs. Die Erhebungen sind seit 1997 abgeschlossen, alle Teilprojekte befinden sich derzeit in der Phase der Druckvorbereitung von Atlasbänden, die bis zum Jahr 2003 erscheinen sollen. Die in den vergangenen 150 Jahren entstandenen Beschreibungen gesprochener Sprache in Franken konzentrieren sich auf die Basismundarten, auf eine Sprachschicht, die als die älteste und „unverfälschteste“ angesehen wird. Zwar versucht bereits Gebhardt eine „relative Chronologie“ des Lautwandels vom Mhd. zum aktuellen Lautstand der Nürnberger Mundart, doch muß diese mangels Quellen rein hypothetisch bleiben. Die Grazer Dissertation von Hildegard Eberl (1944) vergleicht die Sprache des Hans Sachs mit derjenigen Grübels und der von Gebhardt dargestellten Stufe, um die diachrone Entwicklung der Mundarten des Nürnberger Raums zu rekonstruieren. Sie kommt zu dem Schluß, daß die nordbair. Elemente im Rückzug seien, während sich ofrk. und mbair. Merkmale nach Osten bzw. Norden hin ausbreiteten. Alfred Klepsch (1988) beobachtet für das Nürnbergische in der Zeit zwischen dem 17. und 19. Jh. ebenfalls eine Ausbreitung ofrk. auf Kosten nordbair. Merkmale. Seither spiele jedoch weniger der Kontakt zwischen den benachbarten Dialekten als derjenige
2775 zwischen Stadtmundart und Standardsprache die Hauptrolle bei der Entstehung einer neuen städtischen Umgangssprache. Anhand schriftlicher und mündlicher Quellen aus drei Jahrhunderten versucht Klepsch (1988, 383⫺ 386) eine absolute Chronologie der Lautwandelvorgänge. Der Vergleich lautlicher Neuerungen in den Mundarten mehrerer unterfränkischer Städte und Dörfer durch Gunther Schunk (1999, 70⫺74) dokumentiert das Entstehen von Regionalsprachen auf dialektaler Basis, die in Zukunft die überkommene kleinkammerige Dialektlandschaft ersetzen werden. Eine weitgehend vollständige Dokumentation der Lexik des Ofrk. strebt das Projekt „Ostfränkisches Wörterbuch“ an. Es wurde bereits 1911 initiiert und wird z. Z. von Eberhard Wagner in Bayreuth geleitet. Das Material liegt derzeit in Form von über zwei Millionen Karteikarten vor. Beobachtungen zu Veränderungen der Lexik des Nürnbergischen werden durch einen Vergleich zwischen den Wörterbüchern von Häßlein und Maas (1992) einerseits und den Wortlisten des Schillingsfürster Jenischen von Edith Knaus (1955, bzw. Nierhaus-Knaus 1973) und Stefanie Fuchs (1996) andererseits möglich. Die rotwelsche Sprachinsel in der Kleinstadt Schillingsfürst im Südwesten Mittelfrankens existiert seit der Mitte des 18. Jhs. Die Sprache stimmt strukturell mit der dortigen ofrk. Mundart überein, enthält aber einen Sonderwortschatz von ca. 500 Lemmata. Einige dieser, heute als spezifisch Rotwelsch angesehenen Wörter wie Spießlein/Fünfer, Münze mit dem Wert 5 oder gewand/gut erscheinen bei Häßlein als Elemente der Nürnberger Stadtmundart, sind aber in jüngerer Zeit für Nürnberg nicht mehr nachzuweisen. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob die städtische Mundart in früherer Zeit Wortschatz aus dem Rotwelschen durch Kontakt der Sprecher mit dem fahrenden Volk entlehnt hat oder ob das Rotwelsche ausgestorbene Mundartwörter bewahrt hat, die somit zu Elementen der Sondersprache wurden. Umgekehrt verhält es sich mit den Jiddismen. Solche fehlen bei Häßlein noch gänzlich, während bei Maas 1992 immerhin 23 Hebraismen gebucht sind, was jedoch wenig im Vergleich zu den 95 Hebraismen im Fürther Mundartwörterbuch von Eugen Berthold (1975) ist. Fürth, das auch als das „Fränkische Jerusalem“ bezeichnet wurde, beherbergte vom 17. bis zum 20. Jh. die größte jüdische Gemeinde auf dem Gebiet
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XVII. Regionalsprachgeschichte
des heutigen Freistaats Bayern, während den Juden in der ehemaligen Reichsstadt Nürnberg die Ansiedlung bis 1851 verboten war. Um die Wende vom 19. auf das 20. Jh. überflügelte die jüdische Gemeinde Nürnbergs aber zahlenmäßig diejenige von Fürth. 1933 lebten in Nürnberg schätzungsweise 9.500 Juden (Rusam 1998, 30 u. 47), in Fürth waren es, wie schon im 19. Jh., etwa 2.500. Der jiddische Lehnwortschatz der Stadtmundarten von Nürnberg und Fürth ist bei den nach 1935 geborenen Nichtjuden deutlich schmaler geworden (vgl. Weinacht 1992, 183), in beiden Städten sind aber neben Allerwelts-Hebraismen wie Massel und Pleite auch heute noch endemische Entlehnungen wie Gschnufri/Antwort, Beachtung aus hebr. tschuwah/ Antwort oder Ischa/Geliebte aus hebr. ischah/ Frau zu hören, die nicht Bestandteil der allgemeinen dt. Umgangssprache sind (vgl. Klepsch 2001 s. v. Geschufe und Ischa). In dem Marktflecken Schopfloch im Südwesten Mittelfrankens ist noch heute ein aus maximal ca. 400 Hebraismen bestehender Sonderwortschatz geläufig, der, eingebettet in die Struktur der Ortsmundart, von den Sprechern als „Lachoudisch“ nach hebr. leschon qodesch/heilige Sprache bezeichnet wird. In Schopfloch lebte im 19. Jh. eine jüdische Minderheit von mehr als 30 % der Ortsbevölkerung.
7.
Schlußbemerkung
Das Ofrk. stellt einen Übergangsraum par excellence dar: im Norden wegen der Auseinandersetzung von Md. und Obd., vom Südwesten bis in den gesamten Osten (zum Schwäb. und Bair.) wegen der Überlappungsgebiete, die flächenmäßig der Größe der Kerngebiete nahekommen. Etwas überspitzt ausgedrückt (Rowley 1990, 396): Als Ofrk. bleibt übrig, was von markanten Nachbarmundarten ausgeklammert werden kann.
8.
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XVII. Regionalsprachgeschichte
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188. Die Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, deutscher und französischer Standardsprache im Elsaß seit dem 16. Jahrhundert 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Allgemeines Die sprachlichen Verhältnisse im Elsaß vom ausgehenden Mittelalter bis 1870 Die Periode 1870⫺1918 Die Periode 1918⫺1939 Die Periode 1940⫺1945 Die Periode 1945⫺1980 Die Entwicklung nach 1980 Ausblick Literatur (in Auswahl)
1.
Allgemeines
Die Entwicklung des Verhältnisses von deutscher und französischer Standardsprache und Mundarten im Elsaß seit dem 16. Jh. läßt sich als historischer Wechsel von einer komplementären Sprachverteilung Deutsch (Dt.)/elsässischer Dialekt (Els.), später abgelöst durch die Kombination Französisch (Frz.)/ Dt./Els., zu einer nach 1945 scharf ausgeprägten sprachlichen Konkurrenzsituation Frz./Els., in der Dt. kaum noch eine soziale Existenz aufweist, verstehen. Dieser Prozeß, der das Els. aus den ihm bisher vorbehaltenen Domänen und aus der Funktion der Sprache der Nähe und der Nichtoffizialität allmählich verdrängt, kann, falls politisch-soziale Gegenkräfte nicht wirksam werden, in einen Sprachersatz einmünden. Durchgreifende massenwirksame Mittel der Sprachpolitik wurden sowohl von frz. wie danach von dt. Seite erst in der 2. Hälfte des 19. Jh. eingesetzt, während die vorausgegangene Periode sich durch eine sehr langsame und behutsame Überlagerung bestimmter Schichten mit dem Frz. auszeichnete, wobei die scharfe Konturierung der ideologischen Voraussetzungen für die spätere Entwicklung zur Zeit der Frz. Revolution zwar die wichtigsten Argumente in den folgenden Auseinandersetzungen lie-
ferte, aber kaum einschneidende Wirkungen auf den tatsächlichen Prozeß hatte. Diese Entwicklung verläuft in einem Raum, dessen Mundartgrenzen im Vergleich zu den im ausgehenden Mittelalter herausgebildeten und durch den Einfluß der Territorien stabilisierten Scheidelinien kaum Abweichungen aufweisen. Leichte Schwankungen der dem Vogesenkamm annähernd folgenden dt.-frz. Sprachgrenze, die nie große Ausmaße annahmen, sind wie z. B. im oberen Breuschtal oder im Lebertal auf wirtschaftliche Entwicklungen oder auf Neubesiedlungen nach Kriegsverwüstungen, vor allem im 30jährigen Krieg, zurückzuführen. Der Rhein hat als politische Scheide seit dem 17. Jh. kaum sprachgrenzbildende Funktion bis ins 19. Jh. Die 1000 Jahre lang weitgehend stabile Sprachgrenze ist dabei, diesen Charakter zu verlieren. Die intern kleinräumig gefächerte Mundartlandschaft ist im N und NW süd-/rheinfränkisch beprägt. Frk. Eigenheiten, die nach S. sich abschwächend ins Nalem. wirken, ⫺ dieser Einfluß kommt mit der Sundgauschranke im Halem. zum Erliegen, ⫺ führen zu einem ‘verfränkischten’ Alem. Nicht die benachbarten rom. Dialekte beeinflußten tiefgehend oder dauerhaft den von der Romania scharf abgegrenzten els. Sprachraum, sondern die diesen überspannende frz. Nationalsprache. Die angesichts des häufigen Wechsels der politischen Verhältnisse erstaunliche Stabilität der Sprachgrenze läßt auf die Gleichwertigkeit der zwei sich hier berührenden großen Kulturkreise schließen. Im folgenden bezeichnen wir als Els. die zahlreichen rhfrk. und alem. Dialektvarianten, die in der els. Sprachlandschaft anzutreffen sind.
2.
Die sprachlichen Verhältnisse im Elsaß vom ausgehenden Mittelalter bis 1870
2.1. Die sprachlichen Verhältnisse im Elsaß bis zur Angliederung an Frankreich Vor der allmählichen, mit dem 30jährigen Krieg beginnenden Eingliederung des Elsaß (E.) in den frz. politischen Bereich unter-
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
scheidet sich das E. von einer vergleichbaren dt. Provinz durch eine vorwiegend durch die geographische Nähe und die Verkehrswege bestimmte größere Präsenz des Frz. Im Mittelalter bleibt das Frz. Privileg von Teilen der Aristokratie und des Klerus, die in Frankreich (F.) studiert haben; seine Funktion ist eine kulturelle: es ermöglicht den Zugang zu der frz. Hofkultur. Die Situation ändert sich kaum bis zur frz. Herrschaft, obwohl die Französischkenntnisse an praktischer Bedeutung und an Breite gewinnen: els. Humanisten studieren in Paris, das Großbürgertum schickt seine Kinder zum längeren Aufenthalt in frz. Schulen oder Familien. Els. Schriftsteller bearbeiten frz. Werke für das dt. Publikum. Bis Mitte des 17. Jh. ist das Frz. aber keineswegs ein allgemeines distinktives Merkmal der els. Bourgeoisie. Das Eindringen des Frz. wird sogar durch zwei Faktoren wesentlich gehindert: das Fehlen eines dem Frz. Vorschub leistenden Hofes und, im Anschluß an die lutherische Reformation, das hartnäkkige Bestreben der Behörden und der protestantischen Geistlichkeit, sich gegen das Frz. als Vehikel des Katholizismus und des Kalvinismus abzuschotten. Der konfessionelle Graben verhindert, daß das orthodox lutherische Straßburg zum Einfallstor des Frz. wird. Während im ausgehenden Mittelalter eine Festlegung der Mundartgrenzen unter dem stabilisierenden Einfluß der Territorien stattfindet, die rom.-dt. Sprachscheidelinie nur unwesentliche Veränderungen aufweist und das Straßburger Urkundenbuch (1266⫺1332) kaum nicht-germ. Namen verzeichnet, gehen die els. Chronisten zum Dt. über. Die els. Städte und Territorien gehören zu den ersten, die, frz. Vorbild folgend, in der Volkssprache urkunden, und das E. liefert neben der Schweiz die ältesten dt. Weistümer. Das sprachliche Selbstbewußtsein des niederen Adels und des Bürgertums, in den Auseinandersetzungen mit den Bischöfen erprobt und gewachsen, und praktische Erwägungen erklären diese Entscheidung. 1369 wird das els. Idiom zum ersten Mal in einem Brief Niklas’ von Basel an Straßburger Priester erwähnt: „Ich hette uch gerne daz alte buechelin gesant; (…) so ist es wol halbes einer sollichen froemden sprochen, die ir nit gelesen kundent, und ich uebete mich selber darane vier tage und naht, umbe daz ich ez uch geschriebe in uwerre elsasser sproche.“ (Le´vy 1929, Bd. 1, 157).
Sprache wird nicht primär als Nationalitätsmerkmal aufgefaßt, zumal die Kirche die
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Volkssprache als Vehikel häretischen Gedankengutes betrachtet. Wenn das Straßburger Domkapitel streng darauf achtet, nur Mitglieder dt. Herkunft aufzunehmen, so ist das kein Zeichen nationaler Feindlichkeit, denn gleichzeitig ist der Franziskanerorden deutlich nach Paris ausgerichtet, und das Studium dort wird ab 1411 Voraussetzung für die Erlangung des Magistertitels. Gottfried von Straßburg, Heinrich der Glichezaere, die els. Minnesänger wie auch der Jude S. Pine (aus F. vertriebene Juden etablierten sich im E.), der den Parzival fortsetzte, zeugen von der kulturellen Mittlerrolle des E. Der zunächst vom Adel, dann von Bürgerkreisen zwecks Erlernung der Nachbarsprache praktizierte Kinderaustausch wird von der Reformation stark beeinträchtigt, aber schließlich von den Lutheranern mit der Gegend von Montbe´liard wieder aufgenommen. In der Frühphase des Buchdrucks gehört das E. zu den führenden Landschaften und trägt, obwohl dem els. Sprachraum in dieser Entwicklung allgemein eine Randstellung zugeordnet wird, in der Phase der Herausbildung der Norm zur Stabilisierung der Formen bei. Der Buchdruck akzentuiert zwar die Trennung zwischen geschriebener und gesprochener Sprache, der frnhd. Schriftdialekt weist aber eine gewisse Nähe zum Dialekt auf, obwohl er nicht mit der Mundart verwechselt werden sollte: extreme Dialektizismen finden sich vor allem in einigen Urkunden (Beyer 1962). Der Drucker Th. Rihel und J. Fischart sind aktiv an orthographiereformerischen Bestrebungen beteiligt, und Straßburg bildet nach Henzen (1954, 103 f.), „am südwestlichen Rande des Hauptgebiets gelegen, einen eigentlichen Angelpunkt nach Süden, Norden und Osten (…), in welchem alem. Schriftdialekt untermischt mit els. Mundart und östlichen Einflüssen, Schriftstellereigenheit und Druckerwillkür, Reformbestrebungen und Gebildetenschliff in eigenartiger Zusammensetzung stufenweise der Klärung entgegen (brodeln).“ Zu vermerken ist die Herausgabe einer großen Anzahl mehrsprachiger Wörterbücher in Straßburg. Am Entstehen des im Frnhd. meist verbreiteten und ausgeschriebenen lat.-dt. und dt.-lat. Wörterbuch des Dasypodius war die Offizin von W. Rihel beteiligt (Hartweg 1995 a). Ders. entschuldigte sich bei seinen angestammten Kunden in Straßburg, daß er 1535 eine Bibel druckt mit Luthers „besunder wörter / und orthographey so meer auf Sachsisch / denn unser hochteutsch gepraucht“. Das
2780 vom Basler Drucker A. Petri seinem Nachdruck der NT-Übersetzung Luthers hinzugefügte Glossar wird im Elsaß übernommen und Veränderungen im Text oder Randglossen als weitere regionale Verständnishilfen verwendet (Hartweg 1983 a, 1984 a, 1988, 1990). Ab 1535 ist in Buchdruck und Kanzlei eine deutliche Abkehr von alem. Besonderheiten (z. B. von den nicht-diphthongierten alten Langvokalen) zu verzeichnen. Nicht nur die Luther-Texte (Bibel, Katechismus und Kirchenlied) wirken in Richtung auf Sprachvereinheitlichung, auch der katholische J. U. Surgant veröffentlicht in seinem Manuale curatorium (1503) Gebete, liturgische Texte, die 10 Gebote und das Vater Unser in dt. und frz. Sprache und warnt vor extremen Dialektizismen. Geiler bezeichnet mit Stolz Brants Sprache als „Ecce enim lingua nostra vernacula theutonica, ea quam cum lacte in Alsatia superioris Germaniae suximus, conscriptum est, depictum quoque imaginibus pro his qui literas legere non noverunt“ (Zarncke 1854, LXXV und 251; Hartweg 1995),
und els. Autoren wie Wimpheling und Pauli bekämpfen die damals herrschende Mode des „schwebisch reden“, z. B. der Herre was sprechen, er was gon, er was wandeln anstatt der Herr sprach, ging, wandelte. In diese Zeit fällt die Diskussion über die politische Zugehörigkeit des linken Rheinufers, die den prominentesten Vertreter des stark national geprägten els. Humanismus, Wimpheling, das Argument der Sprache und der Toponymie gegen Murner anführen läßt und die zur Herausgabe historischer und geographischer Werke führt. Sprachreinigungsbestrebungen sind bei J. Fischart, im 17. Jh. bei Moscherosch und in der 1633 gestifteten Aufrichtigen Tannengesellschaft (Bopp 1998) zu finden. Die Grammatik des Oelinger (1574) bezweckt auch den Underricht der Hochteutschen Spraach, doch die dt. Sprache findet nur langsam und zunächst nur als Hilfsmittel Eingang in das höhere Schulwesen, in den niederen Schulen dagegen erhält sie Auftrieb im Gefolge der Reformation. Zu bemerken ist die Auflage, die der Herzog von Lothringen den Jesuiten bei der Errichtung ihres Kollegs in Bouquenom (Sarre-Union) macht: Deutschunterricht für die Priesterausbildung. Die Reformation bewirkt jedoch nicht nur eine Festigung der überregionalen Sprachform ⫺ u. a. auch durch die frühe Einführung der dt. Messe ⫺, sie bringt auch einen
XVII. Regionalsprachgeschichte
Zustrom frz. Glaubensflüchtlinge, die zunächst gut aufgenommen werden und je nach Schätzung 7 bis 8 % (wahrscheinlich) oder 30 % (von Gegnern übertrieben) der Straßburger Bevölkerung ausmachen. Calvin spricht von einer „ecclesiola gallicana“, aber die Gemeinde stellt einen zweisprachigen „leuffersbott“ ein. 1563 wird die frz. Kirche geschlossen, 1577 die Versammlung in Privathäusern, 1566 die Aufnahme frz. Bürger untersagt, „damit man eyn teutsch Stadt behielte“. Die aufgrund der Zahlen als stark übertrieben zu betrachtende Behauptung ist eher auf den Wunsch nach konfessioneller Abgrenzung zurückzuführen, der auch den aufkommenden, häufig privat organisierten Französischunterricht zu hindern versucht. Dieser bleibt in Straßburg am Gymnasium und an der Akademie in den Ansätzen stekken, obwohl man aus wirtschaftlichen Gründen ausländische Studenten nach Straßburg locken will (50 von 1621⫺1650). Frz. Bücher (Psalmensammlung, Grammatik und 1611 sogar ein zweisprachiger lutherischer, ebenfalls als Sprachlehrbuch gedachter Katechismus) werden in Straßburg gedruckt, und els. Drucker wirken in Paris und Lyon. Französischunterricht findet auch außerhalb von Straßburg statt, wo die Unternehmungen zahlreicher Sprachmeister auf einen Bedarf zu deuten scheinen. Außer den Hugenotten halten sich auch frz. Handwerker und Kaufleute in Straßburg auf. Die Äußerung des Melchior Sebitz „gallica lingua carere non possumus“ (1641), die Straßburger Veröffentlichung mehrerer frz. Grammatiken und Lehrbücher ⫺ hier sind vor allem die Werke des Hugenotten Daniel Martin hervorzuheben ⫺ und die rege Konkurrenz unter den Sprachmeistern deuten auf ein gewisses Eindringen des Frz. Der spätere Ammeister Dietrich fügt seinen Briefen (1643) ein frz., den Damen des Hauses gewidmetes Postskriptum hinzu. Frz. Infiltrate (sabel = sand; sczarmeney = chair menue = Hackfleisch) sind bereits im Niger Abbas festzustellen. Trotz all dieser Zeugnisse aber sind die Äußerungen Wimphelings über die ‘semigalli“ sowie die des Österreichers M. Bernegger (1625) über Straßburg als ‘halbfranzösische Stadt’ nur als Hyperbeln zu verstehen. Die starke Hervorhebung von Französischkenntnissen ist schließlich ein Beweis ihrer Seltenheit, die z. B. 1676 zur Wahl eines Schlesiers zum Stettmeister führt, weil er Frz. kann, und die erklärt, daß 1681 kein Professor der Universität es wagte, den König in
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
‘frz. Sprache anzureden’. Ähnlich selten sind die Französischkenntnisse in Mülhausen zu veranschlagen und dementsprechend noch seltener auf dem flachen Land. In Mülhausen findet sich 1663 kein angesehener Mann mit Französischkenntnissen für eine Abordnung nach Paris, um einen Vertrag mit dem König abzuschließen, und in Hagenau, das seit 50 Jahren frz. Garnisonsstadt ist, scheint der Stadtschreiber allein zum Dolmetschen fähig zu sein. Deshalb haben Zweisprachigkeit oder zumindest Französischkenntnisse die politische Karriere Straßburger Bürger vor und nach 1681 gefördert. 2.2. Das Elsaß und die Sprache des Königs 1648⫺1789 1648 ist ein erstes einschneidendes Datum in der Sprachgeschichte des E., wenn sich zunächst auch nur der Anfang der Weissagung des Colmarer Pfarrherrn J. Klein ⫺ „Wir werden alle frantzösisch, und ob ichs schon nicht erlebe, so werdens meine Kinder erleben, und müssen alle frantzösisch lernen“ (Le´vy 1929, Bd. 1, 263)
⫺ erfüllt. Kriegszerstörungen und Wiederbevölkerungsmaßnahmen bringen leichte areale Veränderungen, doch der politische Wechsel hat zunächst wenig Einfluß auf das Verhältnis zwischen Mundart und Schriftsprache. Doch bald werden erste Zeichen des Rückgangs der dt. Sprache bemerkbar; am offensichtlichsten ist die Verarmung der literarischen Produktion, besonders wenn sie an der Blüte des 16. Jh. gemessen wird. Diese auch jenseits des Rheins bemerkbare Entwicklung ist jedoch ebensosehr auf die Verwüstungen des 30jährigen Krieges wie auf die frz. Präsenz zurückzuführen. Hinsichtlich der Umgangssprache bleiben die Folgen des politischen Wechsels zunächst unbedeutend. In Bischwiller und Straßburg z. B. nimmt die sprachliche Präsenz F.s, die mit den Hugenotten verbunden ist, deren Zahl zurückgeht, eher ab. Allmählich gewinnt aber das Frz. eine gewisse Bedeutung, zunächst in den oberen Schichten der Gesellschaft. Dies gilt z. B. für den Adel und die Offiziere, obwohl die im E. stationierten Truppen häufig aus dt. Söldnerregimenten bestehen. Das Großbürgertum wird langsam zweisprachig und führt seine Unterhaltungen gegebenenfalls frz. Französischkenntnisse werden ausschlaggebend für die Besetzung von höheren Staatsämtern. Die
2781
Vertreter der zentralen Regierung, die häufig aus Innerfrankreich stammen und nur selten des Dt. mächtig sind, und die Offiziere bilden eine zahlenmäßig zwar kleine, rein frankophone Schicht, übernehmen aber gewissermaßen Vorbildfunktion für andere zweisprachige Kreise, die das Frz. bevorzugen. Zugunsten des Frz. wirkt ebenfalls die allgemeine Mode, die Frz. zur gebildeten Sprache Europas aufsteigen läßt. Obwohl die alten Zollgrenzen und die wirtschaftlichen Beziehungen zum Dt. Reich aufrechterhalten werden, gewinnt das Frz. langsam ebenfalls wirtschaftliche Bedeutung. Dies gilt auch für den lokalen Handel in Straßburg, z. B. im Umgang mit frankophoner Kundschaft. In der Gelehrten- und mittleren Bürgerschicht werden die zunächst isolierten Fälle von Französischkenntnissen häufiger. Im allgemeinen jedoch haben das Kleinbürgertum und die breiten Volksschichten keinen Zugang zum Frz. Die Mundart und die dt. Schriftsprache als höhere gebildete Form der Muttersprache herrschen fast ausschließlich in diesen Schichten: „Die Predigten wie die Gebete und Gesänge des religiösen Lebens, die Verhandlungen der städtischen Obrigkeit und der gewöhnlichen Gerichte, das Theater, die Volkslieder, die Kirchen- und Familienchroniken sind immer in mehr oder minder vollkommenem Hochdt. gesprochen, gesungen, geschrieben worden“ (Das Elsaß 1936, Bd. 3, 43).
Das private Geschäftsschrifttum und vorwiegend auch das Zeitungswesen bleiben dt. Gegen Ende der Periode fristen einige zweisprachige Periodika allerdings eine schwierige Existenz. Frz. Bücher werden zahlreicher in Druckgewerbe und Buchhandel, und das E. übernimmt im geistigen Bereich wieder eine verstärkte Mittlerrolle zwischen F. und Deutschland (D.). Bis 1789 dringt die frz. Sprache im E. vor allem in Form einer langsamen Infiltration weiter ein. Amtliche Bestimmungen leisten ihr zwar Vorschub ⫺ im ‘Conseil Souverain d’Alsace’ von Colmar müssen die Angehörigen der dt. Nation die frz. Sprache beherrschen, für die der frz. Nation gilt das Umgekehrte nicht ⫺, von einer konsequenten Sprachpolitik mit einer geplanten Expansion des Frz. kann aber nicht die Rede sein. Die Ansiedlung frz. Kolonisten geschieht im wesentlichen unter militärischem oder religiösem Gesichtspunkt. Die frz. Sprache füllt langsam, aber beharrlich und eher behutsam die Lücke der nicht mehr vorhandenen
2782 deutschsprachigen Staatlichkeit. 1666 ergangene Instruktionen, die Französischunterricht für els. Kinder vorsehen, um sie zunächst mit dieser Sprache ebenso vertraut zu machen wie mit dem Dt. und die Relationen dann zugunsten des Frz. zu verschieben, ohne das Dt. zu verdrängen, bleiben weitgehend Absichtserklärungen ohne Folgen. Nicht viel mehr bewirkt ein Beschluß des Staatsrats (30. 1. 1685), der aber zum ersten Mal die Frage des Zusammenhangs zwischen Sprachgebrauch und politischem Loyalismus aufwirkt. Frz. wird zur Amtssprache und der els. Bevölkerung wird nahegebracht, daß der „Gebrauch der dt. Sprache im Widerspruch zur Zuneigung der Elsässer für den Dienst seiner Majestät“ stehe. Der Straßburger Magistrat weist dieses Argument zurück, da er sich nur zu Treue und Gehorsam verpflichtet fühlt, was den sprachlichen Bereich nicht tangiert. Bescheidene Fortschritte des Frz. sind im kirchlichen Bereich spürbar. Die Einwanderung von Katholiken und die Angliederung der els. Klöster an frz. Ordensprovinzen wirken sich zugunsten des Frz. aus. Der frz. reformierte Gottesdienst bleibt jedoch in Straßburg untersagt, der lutherische deutschsprachige dagegen erhalten! Französischunterricht erscheint auch im Schulplan mittlerer und kleiner Städte. Das protestantische Gymnasium und die Universität bleiben jedoch Hochburgen der dt. Sprache: der mehrmals geplante Französischunterricht wird lange durch Nicht-Besetzung der entsprechenden Stellen hinausgezögert. Vor 1789 sind Lat., Dt. und Frz. Unterrichtssprachen an der protestantischen Universität der Stadt, die für zahlreiche Studenten aus dem Reich, Mittel- und Osteuropa die Rolle einer sprachlich-kulturellen Schleusekammer in Richtung Frankreich spielt. Französischunterricht für Fremde (darunter zahlreiche Adelige) gewinnt daher in Straßburg wirtschaftliche Bedeutung. Das E. bleibt vor 1789 eine weitgehend deutschsprachige Landschaft, und der in Straßburg studierende J. W. Goethe empfindet sie mit Recht als solche. Die Berichte der ‘Intendants’ überschätzen sehr stark die Französischkenntnisse der Bevölkerung. Frz. Reisende bestätigen den Eindruck einer deutschsprachigen Provinz und verwundern sich in ihren Berichten über angetroffene Französischkenntnisse auf dem Land. In den Beschwerdeschriften von 1789 werden sprachliche Probleme vor allem unter dem Aspekt der Dol-
XVII. Regionalsprachgeschichte
metscher- und Übersetzungskosten angeschnitten. In kultureller Hinsicht versinkt das deutschsprachige E. langsam in eine gewisse Abseitigkeit und in den Provinzialismus. Das frz. kulturelle Element bleibt zunächst auf das frz. Theater beschränkt, das durch das Offiziers- und Beamtenpublikum getragen wird und durch Privilegien und Subventionen am Leben erhalten werden muß. Die frz. Sprache wird von einem wachsenden Teil der oberen Schichten als Sprache der Zukunft, die die Teilnahme am Gesamtleben des Staats ermöglicht, das Dt. dagegen als Sprache der Vergangenheit betrachtet. Eine gesellschaftliche Auseinanderentwicklung zeichnet sich in Ansätzen ab: das Frz. wird zum sozial-distinktiven Merkmal, sein Erlernen ist Vorbedingung für die Integration in die höhere Gesellschaft und schließt sie ab. Die Schätzungen eines Zeitgenossen am Vorabend der Frz. Revolution gehen davon aus, daß 1 Elsässer von 300 Frz. kann. Schätzungen, die die eingewanderte Bevölkerung mit einschließen, kommen auf einige Tausende, die Frz. sprechen, und einige Zehntausende, die es verstehen. Bereits 1776 warnt aber J. M. R. Lenz vor den Gefahren der Sprachmischung: „Hüten Sie sich aber, die Werkzeuge (i. e. die „geschliffenen Ausdrücke und Redearten der Franzosen“) zu dem Sprachschatz schlagen zu wollen; hieraus würde ein deutsch-französisch entstehen, das der Reinigkeit beider Sprachen gleich gefährlich werden könnte“ (Lenz 1776, Bd. 2, 318 f.).
2.3. Das Elsaß und die Sprache der Nation Das ‘Ancien Re´gime’ hat mit mildem und kaum wirkungsvollem offiziellem Druck die Sprachverhältnisse im E. sich selber entwikkeln lassen und eine vorsichtige Französisierungspolitik betrieben. Die starke Ausstrahlungskraft der frz. Kultur blieb nicht ohne sprachlichen Einfluß, sie war jedoch nicht verbunden mit dem Versuch der erzwungenen Abkehr vom dt. Kulturraum. Mit der Frz. Revolution und der Ideologie der ‘Re´publique une et indivisible’ (einheitlich und unteilbar), die einen tiefen Einschnitt bedeuten, beginnt eine Periode der Sprachverhältnisse im E., die mit zwei Unterbrechungen (1870⫺ 1918 und 1940⫺1945) eine Entwicklung zeigt, die heute ihren vorläufigen Abschluß findet. Während der absolutistische Herrscherstaat sich weitgehend mit der politischen Loyalität seiner els. Untertanen begnügte, verlangt die Revolution eine gesinnungsmä-
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
ßige, durch die Übernahme der frz. Sprache und die Aufgabe des Dt. zum Ausdruck kommende Entscheidung für die frz. Nation. Da der Staat sich ebenfalls als Träger der geistigen Kultur darstellt, verhärten sich nach einer anfänglichen Phase, in der auf die Übersetzung der frz. Texte gesetzt wird, die Gegensätze zwischen dt. und frz. Kultur im E. Die Republik verlangt von den Elsässern als gleichgestellten Gliedern der Nation nicht nur das rasche Erlernen des Frz., sondern auch die Aufgabe der dt. Art, d. h. also auch der dt. Mundart und Sprache, als Bekenntnis zur Einheit und Unteilbarkeit der Nation. Die von den Jakobinern in F. verfochtene Idee der einheitlichen Sprachnation wird später in D. zur Legitimierung der dt. Ansprüche auf das E. wieder aufgegriffen, wobei allerdings das jakobinische Prinzip „eine Nation, eine Sprache“ in „eine Sprache eine Nation“ umgekehrt wird. F. versuchte seinerseits, vornehmlich durch seine Sprachpolitik in der Schule, diesen Rechtstitel ungültig zu machen. In den Augen der Revolutionäre ist das Dt. als regionales Idiom eine Erinnerung an die Sklaverei des Feudalstaats, ein Hindernis für die effektive Einheit des Landes und die absolute Gleichheit der Bürger. Nur über das Frz. als universal gültige Sprache der Freiheit (Hartweg 1988 c, 1991, 1999) ist der Zugang zu den befreienden Gesetzen möglich. Dt. ist ebenfalls die Sprache des ‘Aberglaubens’ (d. h. der Religion), der den Weg zur Vernunft versperrt. Es ist auch die Sprache des Feindes, dessen Armeen die Grenzen überschritten hatten, so daß der Gebrauch des Dialekts zum Verdachtsmoment wird. Sogar Umsiedlungspläne, die einen ausgedehnten Bevölkerungsaustausch vorsehen, werden erwogen. Die Universität wird als Körperschaft des Ancien Re´gime, als ‘Hydra des Germanismus’, als ‘Hort der Untertänigkeit und des Germanismus in einem freien frz. Land’ geschlossen. Einer Unzahl von Dekreten und Aufrufen der Zentralverwaltung oder der Lokalbehörden folgend, werden Inschriften, Straßenund Ortschaftsnamen französisiert. Frz. wird zur Amtssprache, und die Umgestaltung des Militär-, Zoll-, Klub- und Kultwesens wird sprachlichen Zwecken dienlich gemacht. Die im Schulwesen besonders großen Anstrengungen führen am 29. 12. 1793 zur Verordnung der Einrichtung einer kostenlosen französischsprachigen Schule in jeder Gemeinde des Bas-Rhin. Das Dekret wird einen
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Monat später in den Regionen F.s, in denen ein fremdes Idiom üblich ist, z. T. übernommen. Die fieberhafte, aber weitgehend wirkungslose, gesetzgeberische und propagandistische Aktivität, die darauf folgt, bewirkt nur wenig, da weder die finanziellen Mittel noch ⫺ und dies bleibt der Hauptgrund des Scheiterns dieser Maßnahmen ⫺ das geeignete Lehrpersonal vorhanden sind. Nach den aufeinanderfolgenden Phasen der gemäßigten Forderungen, der verbissenen Kämpfe und schließlich des erschlaffenden Eifers bleiben nur wenige Ergebnisse. Die Berichte am Ende dieser Periode der Überstürzung und des Terrors in der Sprachenfrage weisen eine sprachliche Bilanz auf, die sich nicht sehr von der Situation am Ende des ‘Ancien Re´gime’ unterscheidet. Wesentlich für die weitere Entwicklung bleibt aber die Tatsache, daß zum ersten Mal alle Mittel des Staates zur Propagierung des Frz. eingesetzt wurden und daß im Bereich der Schule Fragen der Methode, des zweisprachigen Unterrichts, der Lehrerausbildung sowie Sanktionen diskutiert wurden. Einen lebhaften Eindruck der rivalisierenden Meinungen dieser Zeit, in der die ersten frz. Ausgaben deutschsprachiger Zeitungen erscheinen, gibt das Bürger-Gespräch über die Abschaffung der Deutschen Sprache bey der Verhandlung der öffentlichen Geschäfte in Strassburg, gehalten den 23. August 1790. 2.4. Die Entwicklung im 19. Jahrhundert bis 1870 Die Reiseberichte, Denkschriften und Untersuchungen des ausgehenden 18. und des beginnenden 19. Jh. liefern z. T. widersprüchliche Angaben über die Sprachverhältnisse im E. Die Schätzungen des Präfekten Laumont (Le´vy 1929, Bd. 2, 87), der alle Wohlhabenden, außerdem ca. die Hälfte der Bevölkerung des Unterelsaß (UE) (einer seiner Nachfolger geht von einem Drittel aus) und drei Viertel der Bevölkerung in Straßburg als des Frz. mächtig ⫺ zumindest für den alltäglichen Gebrauch ⫺ erachtet, sind wahrscheinlich zu hoch gegriffen, da er fast totale Unkenntnis in ländlichen Kantonen feststellt. In seinem Jahrbuch geht S. Bottin (Le´vy 1929, Bd. 2, 88 f.) aus von einem Viertel der Bevölkerung im UE und einem Drittel im Oberelsaß (OE), die Frz. können; es handelt sich um die Gebildeten in den Städten. Eingeheiratete ehemalige Soldaten tragen zum Fortschritt des Frz. bei, doch das allgemeine Idiom der Einwohner ist ein ‘verdorbenes
2784 Dt.’. Man spricht ironisch von einem ‘pontonniers-frz.’, und F. Chr. Laukhard schildert, vielleicht etwas überzogen, die Sprachverhältnisse wie folgt: „Die Sprache der Straßburger ist deutsch, aber das jämmerlichste, abscheulichste Dt., das man hören kann, in der allergröbsten, widerlichsten, abscheulichsten Aussprache (…). Auch Vornehme sprechen so (…). Die Sprache ist hier noch zehnmal gröber als in der Pfalz. Sehr viel frz. wird indes auch geredet, besonders beim Militär. Das sonstige Straßburger Frz. taugt eben nicht viel, und der Akzent ist vollends gar nichts nütze“ (Hartweg 1991, 1993, 416).
In einem J. Grimm zugeschriebenen Artikel des Rheinischen Merkur (Nr. 98, 6. 8. 1814) heißt es: „Fragt man nach der Sprache, die teutsche ist überall die beherrschende, selbst unter den Vornehmen die häusliche, trauliche; dass mehr frz. als vor 50 Jahren gesprochen wird folgt unvermeidlich, besonders aus der alles mischenden, mengenden Revolution“ (Le´vy 1929, Bd. 2, 84).
Weitere Angaben bieten die Wahl dt. Familiennamen durch die Juden (1808) und vor allem das erste bedeutende Lustspiel in Mundart Der Pfingstmontag von J. G. D. Arnold. Die Einheimischen haben Verständnisschwierigkeiten in beiden Hochsprachen, die sie mit der Mundart kontaminieren. Einige Formen deuten auf die unter dem Namen Pastoren- oder Pfarrerdt. bekannte Mischung Hd.-Els. hin. Hd. ist die Sprache der Studenten. Das Zeitungs- und Zeitschriftenwesen ist vorwiegend dt., ein Übergang zum Frz. zeichnet sich langsam in der Wissenschaft ab, alle amtlichen Bekanntmachungen sind zweisprachig. Die Kirchen leisten stillen oder offenen Widerstand gegen das Frz. E. Stoeber, der 1846 erste Proben aus einem els. Idiotikon liefert, proklamiert seine gleichzeitige Treue zu F. und zur dt. Sprache. Es sind nicht nur die napoleonischen Aushebungen und die Einquartierung, die im E. zum Fortschritt des Frz. beitragen. Das Frz. bleibt zwar marginal im Volksschulwesen, setzt sich aber im ersten Drittel des 19. Jh. im Sekundar- und Hochschulwesen durch. Von größter Bedeutung ist die Gründung von F.s erstem Lehrerausbildungsseminar (1810) in Straßburg. Doch 1833, im Jahre von Guizots Volksschulgesetz, wird in manchem Kreis des UE in einem Drittel oder einem Viertel der Schulen kein Französischunterricht erteilt, und wo es ihn gibt, wird nicht selten die für eine tote Sprache gültige Methode angewandt.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Das Gesetz von 1833, das mit anderen Mitteln die Bildungsziele der Revolution wieder aufgreift und eine planmäßige Ausbreitung des Frz. sowie den kulturellen Anschluß bezweckt, erreicht im E. nicht unmittelbar sein Ziel, der els. Bevölkerung ein Mindestmaß frz. Sprachkenntnisse beizubringen. Aber die auf Dauer angelegten Anstrengungen zeitigen allmählich ihre Früchte. In den höheren Schichten und in der Wissenschaft wird gegen 1850 ein gewisses Gleichgewicht zwischen Dt. und Frz. erreicht. Dt. Beobachter berichten vom ‘schlechten’ Hd. der Elsässer und vom Vordringen des Frz. W. Stricker schreibt im Jahr 1847: „In den höheren Schichten der Gesellschaft wird fast ausschließlich frz. gesprochen; die meisten vornehmen Damen verstehen kaum noch den dt. Volksdialekt. In den mittleren Bürgerklassen wird in der Regel dt. gesprochen; doch fängt auch hier das Frz. an um sich zu greifen. In den untern Volksklassen der Städte und bei der gesamten Landbevölkerung ist die Umgangssprache durchgängig die dt. (i. e. die Mundart) (…). Auf die Gefahr hin für paradox zu gelten, sprechen wir unsere Ansicht dahin aus, daß die Elsässer nie das Frz. lernen, höchstens das dt. verlernen werden; die Sprache der Zukunft wird dann ein merkwürdiges Kauderwelsch sein, (…)“ (Le´vy 1929, Bd. 2, 141).
Ein Elsässer, A. Hartmann, notiert für Straßburg (1841): „Die Leute, die auf Bildung hier Anspruch machen wollen, müssen, glaube ich, die dt. Sprache geringschätzen, um nicht einfältig zu erscheinen (…)“ (Le´vy 1929, Bd. 2, 142).
Lavater-Spach trifft die Schwierigkeiten des els. Schriftstellers, wenn er 1839 vom „unselige(n) Schwanken zwischen zwei sich bekämpfenden Sprachen“ (Le´vy 1929, Bd. 2, 144) schreibt. Besonders wichtig für den systematischen Fortschritt des Frz. werden die zahlreichen, in der Juli-Monarchie errichteten Kindergärten. Doch erst ab 1850, nachdem das Falloux-Gesetz eine Neuregelung des Schulwesens gebracht hat, kommt man dem Ziel der Verbreitung des Frz. wesentlich näher. Während die Landbevölkerung und die unteren Schichten sich z. T. sehr hartnäckig gegen eine Sprache wehren, deren Nutzen sie nicht einsehen, ist das in den Sekundarschulen ausgebildete Bürgertum zweisprachig geworden und verläßt z. T. die Mundart. Die wachsende Einwanderung, Militärdienst, Gewerbetätigkeit und Verkehr fordern und fördern das Frz., dessen wirtschaftliche Bedeutung breitere Anerkennung findet. Sein ge-
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sellschaftlicher Wert steigt ebenfalls, denn mit der Schwächung der Beziehungen zu D. und trotz Beibehaltung des Dt. als Kultsprache kommt nur noch Frz. als gehobene Umgangssprache in Betracht. Ab 1849 erscheint regelmäßig die erste von Elsässern redigierte französischsprachige Zeitschrift, die Revue d’Alsace. Die Jahre 1850⫺1870 bilden eine Phase der intensiven und methodischen Propagierung des Frz. Obwohl nicht wenige Lehrer die Unterrichtssprache Frz. nicht oder nur mangelhaft beherrschen, ist die sprachliche Integration durch verstärkte Kontakte zum übrigen F. (Ausbau der Verkehrswege, insbesondere der Eisenbahn, Industrialisierung, Militärdienst) im Fortschreiten begriffen, während die dt. Standardsprache, die praktisch ⫺ außerhalb des religiösen Lebens ⫺ nur in ihrer geschriebenen Form erscheint, langsam zurückgedrängt wird. Die wissenschaftliche und die literarische Produktion in dt. Sprache geht stark zurück, verkümmert bis zur Bedeutungslosigkeit, während die Übersetzung dt. Literatur, die frz. Presse, das frz. Theater und das frz. Buch an Boden gewinnen. Die von den Schulbehörden betriebene Intensivierung des Französischunterrichts bringt eine allmähliche Verdrängung des Dt. als Unterrichtssprache. Diese Entwicklung ruft einen Streit um die geeignete Unterrichtsmethode und einen Kampf um die Erhaltung der dt. Muttersprache ⫺ ‘der Sprache des Herzens’ ⫺ hervor, in welchem die Geistlichkeit aller Konfessionen die Führung übernimmt. Die Kirchen betrachten nämlich das Dt. als das wichtigste Werkzeug für die Erziehung in der Volksschule, das Frz. als notwendige und bedeutsame Ergänzung. Im Kampf mit den Schulbehörden wird das Frz. für die um Seelsorge, Katechismus- und Religionsunterricht besorgte katholische Geistlichkeit nicht selten zur Sprache der Irreligion ⫺ und dies, obwohl katholische Ordensschwestern großen Eifer im Französischunterricht zeigen ⫺, während die Schulbehörden das Dt. zur Sprache des Obskurantismus abstempeln. Ein Plädoyer für ein behutsames Vorgehen liefert der Pfarrer und Ehrendomherr von Straßburg, L. Cazeaux, 1867: Er erhebt sich sowohl gegen die verleumderische Meinung, daß die Verteidigung des Dt. mangelnden Patriotismus bedeute, wie auch gegen die Behauptung, die Elsässer seien unfähig, je die frz. Aussprache zu beherrschen. Wer das Dt. verdrängen wolle, führe zu einem Zustand
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der Halbsprachigkeit im E. und vergreife sich an seiner Moral und Gesittung. (Dazu: Hartweg 1984, 117⫺123). 2.5. Bestandsaufnahme Die für die Zeit vor 1870 nur spärlich vorliegenden Angaben sind unterschiedlich. 1866 kann fast die Hälfte der angehenden Rekruten in Wissembourg kein Wort Frz. Im UE können 1863 36,2 % der Kinder (zwischen 7 und 13 Jahren) Frz. weder sprechen noch schreiben, 16,1 % nur sprechen, im OE können 1864 17,3 % Frz. nicht sprechen und 16 % nicht schreiben (Le´vy 1929, Band 2, 286 f.). Doch mit den zahlreichen Mädchenpensionaten macht das Frz. schnelle Fortschritte. Die überwiegende Mehrheit der Elsässer spricht die Mundart, versteht und liest Hd.; die aktive Kompetenz in dieser Sprache geht aber zurück, so daß die dt. Behörden nach 1870 z. T. Schwierigkeiten haben, überall Honoratioren zu finden, die Dt. in Rede und Schrift vollkommen beherrschen. Die Jugend ist im Frz. am weitesten fortgeschritten. Je weiter die Schul- bzw. Studienzeit zurückliegt, umso weniger Festigkeit hat das Frz. bei den Erwachsenen. Das Großbürgertum ist weitgehend zum Frz. übergegangen. Diese Sprache wird zum äußeren Kennzeichen der sozialen Zugehörigkeit. In den mittleren gebildeten Ständen, bei den Geistlichen, Ärzten, Anwälten und Beamten wechselt Frz., die Sprache der Berufsausbildung (die Pastoren bilden hier z. T. eine Ausnahme), und Dt., das die Ausübung des Berufs verlangt. Das Frz. ist noch häufig unbeholfen, mit dem stets verspotteten und karikierten ‘accent alsacien’ behaftet. Zahlreiche frz. Entlehnungen dringen in die Mundart ein, so daß damalige Beobachter (vgl. Bergmann 1873, 8) bereits um ihr Überleben fürchten. Zwischen dem bedrängten Hd. und der Mundart lebt das ‘Pfarrerditsch’ weiter. Eine Probe davon liefert Ch. Schmidt: „Meine liewen Freinde und Brieder, es ist gu˚t fir eich (…)“ (Schmidt 1896, XVIII).
3.
Die Periode 1870⫺1918
3.1. Die Sprachsituation 1870 Hinsichtlich des Dt. ⫺ Mundart und Standardsprache ⫺ unterschied sich das E. von ähnlich alphabetisierten Gegenden des Dt. Reichs durch eine, von der dt. Verwaltung nach 1870 beklagte, geringere Beherrschung des Dt. in seiner geschriebenen Form. Die
2786 oberen Schichten des städtischen Bürgertums redeten mit Vorliebe, wenn auch nicht ausschließlich, frz. In den freien Berufen, bei den gebildeten mittleren Schichten und Geistlichen, wechselten Frz., Els. und Dt., da die Berufsausbildung zwar auf Frz. erfolgt war, die Berufsausübung aber Dt. und Mundart verlangte. 3.2. Bevölkerungsbewegung und Sprachentwicklung Die intendierte sprachliche ‘Rückkehr zur Natur’ (Treitschke, Reichstagsrede 17. 12. 1874) und die Entfernung des in dieser Perspektive artfremden, aufgezwungenen Frz. unter Berufung auf die gemeinsamen sprachlichen und kulturellen Grundlagen ⫺ die Grenze der Annexion wurde jedoch nicht nur nach sprachlichen sondern auch nach wirtschaftlichen und militärischen Gesichtspunkten gezogen ⫺ und unter Einsatz der Hilfsmittel des modernen Staates stießen auf den in Wahlen bekundeten nationalen Zugehörigkeitswillen der Elsässer, die aus der zwei Jahrhunderte alten, mit F. gemeinsamen Geschichte den Anspruch ableiteten, dem Frz. müßte neben dem Dt. eine Sonderstellung eingeräumt werden. Bei einer sich kaum ändernden Sprachgrenze führten Aus- und Einwanderungsbewegungen zu nicht unbedeutenden Verschiebungen in der Sprachstruktur. Das E. verlor 1871/72 ca. 60⫺70 000 Optanten, die zu einem erheblichen Teil der des Frz. mächtigen Bourgeoisie angehörten, und bis 1910 ca. 350 000 weitere einheimische Einwohner, darunter viele Jugendliche. Dieser Bevölkerungsverlust wurde durch einen Zuwanderungsstrom sog. ‘Altdeutscher’ ausgeglichen (1895: 13,07 % der Bevölkerung im UE, im OE 7,41 %, 1910: über 40 % in Straßburg, Militär inklusive), so daß in einigen Vierteln Straßburgs und in mittleren Städten mit starker Konzentration von Altdeutschen Hd. als gesprochene Sprache erschien. Die Straßburger Universität sowie das altsprachliche Gymnasium blieben jedoch bis 1900 dt. Fremdkörper im E. Während die Ober- und Mittelschichten lange eine Art gesellschaftlicher Segregation praktizierten, führten, besonders in der Arbeiterschaft, zahlreiche ‘Mischehen’ zur sprachlichen Integration in die Mundart. Die amtlichen Sprachstatistiken von 1875 und 1882 beruhen nicht auf individuellen Erhebungen, sondern auf pauschalen, auf Gemeindeebene vorgenommenen Schätzungen, die, auf die Bevölkerungs-
XVII. Regionalsprachgeschichte
zahl projiziert, folgende Werte ergeben (Angaben in Prozent):
Abb. 188.1.: Ergebnisse der sprachlichen Pauschalschätzungen (nach Le´vy 1929, Bd. 2, 333 und 335
Die Angaben von 1900, 1905 und 1910 beziehen sich auf die individuell gestellte Frage nach der ‘Muttersprache’ (keine Unterscheidung Standardsprache/Mundart) und nicht auf den Sprachgebrauch (Angaben in Prozent).
Abb. 188.2.: Ergebnisse der Spracherhebungen 1900⫺1910 (nach Harmsen 1936, 321)
3.3. Die deutsche Sprachpolitik Die dt. Sprachpolitik nach 1870 zeichnete sich durch eine rasche und weitreichende Einführung der dt. Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens aus, die durch mancherlei Übergangsbestimmungen zugunsten des Frz. gemildert wurde. Als Hauptkampfschauplatz der sprachpolitischen Gefechte kann die Schule gelten (Hartweg 1987, 1990 a, 1991 a, 1993 a, 1999). 3.3.1. Amtliche Sprachbestimmungen Die durch das Reichsgesetz vom 31. 3. 1872 nachträglich legalisierte Einführung des Dt. als amtlicher Geschäftssprache sah eine Reihe von durch Verordnungen oder Gesetze geregelten Ausnahmen oder Übersetzungsbestimmungen im Verwaltungs- und Gerichtswesen, besonders im nicht deutschsprachigen Gebiet, vor. Diese Möglichkeiten wurden ab 1889 z. T. aufgehoben oder eingeschränkt. Im Landesausschuß, in den Bezirkstagen und in den Gemeinderäten größerer Städte setzte sich allmählich, trotz anfänglichen Widerstands und sprachlicher Unzulänglichkeit das
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
Hd. durch. Als schikanös wurde die Praxis von Standesbeamten sowie die Polizeiverordnung von 1887 für öffentliche Aufschriften und Ankündigungen empfunden. Die Verfassung für E.-Lothringen von 1911 bestimmte Dt. als amtliche Geschäftssprache der Behörden und öffentlichen Körperschaften, die Regelung der Unterrichtssprache blieb dem Statthalter vorbehalten. In einer späteren Denkschrift erwähnte der Staatssekretär des Innern als einen der Hauptgründe für die Nichterhebung des Reichslandes zu einem selbständigen Bundesstaat die Tatsache, daß man der ‘unzuverlässigen Landesgesetzgebung’ die Regelung der Geschäfts- und Unterrichtssprache nicht überlassen könne. 3.3.2. Die Sprachen und die Schule In der Volksschule (VS) wurde im April 1871 das Frz. durch das Dt. als pflichtmäßige Unterrichtssprache ersetzt und blieb bis 1918 als Lehrgegenstand ausgeschlossen. Die Reichsregierung, die hierin das massenwirksamste Mittel der Eindeutschung sah, vertrat den Standpunkt, daß die religiöse, geistige und sittliche Erziehung der Kinder ausschließlich in der ‘Muttersprache’ erfolgen solle. Übergangsregelungen und Sondermaßnahmen für das rom. Gebiet wurden getroffen. In den frz.- und gemischtsprachigen Landesteilen mit frankophoner Dominanz führten eine sorgfältige Abstufung der zwei Sprachen im Lehrplan und nach Schuljahren, besondere Lehrbücher und speziell ausgebildete Lehrkräfte zu einem befriedigenden Nebeneinander der Sprachen. Der radikale Ausschluß des Frz. in den übrigen Landesteilen löste bei der Bevölkerung Widerspruch und Unzufriedenheit aus, weil diese Sprache als wertvolle und geschätzte Bildungsmöglichkeit galt, an die man gerade Anschluß gefunden hatte. Dabei verwies die Regierung stets auf die neu begründeten und den Bildungsbedürfnissen des gewerblichen Mittelstands entsprechenden Mittelschulen. Der Abgang zahlreicher Lehrer und Schüler nach Innerfrankreich, die Einsetzung altdt. Lehrer und eine besondere nach Ausbruch des Krieges ausgeprägte Beschneidung des frz. Sprachunterrichts charakterisierten das Sekundarschulwesen ebenso wie die großen Fortschritte des Dt. und die Versuche, die Mundart als Hilfsmittel im Unterricht zu nutzen. Eine Rundverfügung vom 5. 3. 1914 bemängelte jedoch die bei Schülern und jüngeren Lehrern „nachlässige Wortwahl und dialektisch beeinflußte Aussprache“. Im Zentrum
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der Auseinandersetzungen stand häufig das Mädchenschulwesen. In höheren Töchterschulen und Mädchenpensionaten, in denen für Kinder über 14 Jahre Frz. als Unterrichtssprache bis 1888 gestattet war, wurden behördliche Bestimmungen ⫺ besonders in katholischen Anstalten ⫺ häufig umgangen. Sie waren beliebt, weil Frz. als Merkmal einer sozial höherstehenden Schicht und als spezifisches Attribut der weiblichen Bildung galt. Die Behörden versuchten durch teilweisen Entzug der Lehrbefugnis der Ordensschwestern, eine strengere Kontrolle des Stundenplans und der Lehrbücher ⫺ dies führte zum Abgang von Schülerinnen nach Innerfrankreich ⫺ und die Errichtung von höheren Mädchenschulen dt. Gepräges diese Situation zu bekämpfen. 3.3.3. Der politische Schulsprachenkampf Mit großer Hartnäckigkeit und besonderer Heftigkeit von 1875 bis 1887 und 1908 bis 1912 wurde ein Kampf um die frz. Sprache in der VS im Landesausschuß bzw. Landtag und in der Presse geführt. Die mit praktischen Argumenten begründeten Anträge wurden von der Regierung abgelehnt, denn sie sah in ihnen eine Bedrohung der kulturpolitischen Stellung des Reichs, den verdeckten Willen, die ‘els. Frage’ offen zu halten und die Annexion als Provisorium erscheinen zu lassen. Die Härte der Polemik fand ihren Höhepunkt im Schlagwortabtausch: Doppelsprachigkeit wurde als Bildungsschwindel auf der einen Seite, Verbot des Frz. als intellektuelle Kretinisierung auf der anderen Seite bezeichnet. Zugunsten des Frz. wurde ein politisches Bündnis zwischen katholischer Kirche, liberalem Bürgertum und Sozialdemokratie erreicht. Die von der Frz. Revolution nur theoretisch postulierte Vermischung von Sprachen- und Nationalfrage wurde hier in die Wirklichkeit umgesetzt. Von dt. Seite wurde behauptet, daß Sprachdualismus moralischen Schaden bedeute, und Doppelsprachigkeit mit Doppelzüngigkeit gleichgesetzt. 3.4.
Die vorhandenen Sprachen und die soziale Schichtung 3.4.1. Die deutsche Sprache Die allgemeine Schulpflicht mit Dt. als Unterrichtssprache, der allgemeine Heeresdienst ⫺ vorwiegend außerhalb des Reichslandes ⫺ und beim städtischen Mittelstand die zunehmende Zeitungslektüre, die wirtschaftliche Notwendigkeit, die starke Ein-
2788 wanderungsbewegung Altdeutscher und die daraus folgenden Mischehen, der bedeutende Anteil der Altdeutschen in Gewerbe, Handel, Verwaltung und Lehrerschaft, der zunehmende Verkehr und die Verbindung mit den rechtsrheinischen Ländern führten allmählich dazu, daß die dt. Standardsprache in fast allen Schichten der Bevölkerung mit ziemlicher Vollkommenheit in der Schrift beherrscht wurde. Auf diese Weise entstand eine Situation, die durchaus mit der anderer sdt. Länder vergleichbar war. Das politische Personal beherrschte ab 1900 und im Unterschied zu 1870 fast ausnahmslos die dt. Sprache und verwandte sie auch in der öffentlichen Rede. Die Kanzelberedsamkeit machte ebenfalls Fortschritte, vor allem verschwand allmählich das sog. Pfarrerdeutsch, das sich noch stark an die Mundart anlehnte. Im literarischen Bereich erlangte das Hd. wieder einige Geltung. 3.4.2. Die elsässische Mundart Infolge des Einflusses von Schule, Verwaltung, Militärdienst und starker Einwanderung von Altdeutschen ist eine gewisse Annäherung der Mundart an die Standardsprache festzustellen. Die von den Autoren des Wörterbuchs der els. Mundarten erwähnte Gefahr einer Verhochdeutschung des Els. ⫺ „die elsässische Mundarten sind unzweifelhaft gerade jetzt im Begriff durch die innige Berührung mit der dt. Schriftsprache ihre Eigenheiten abzuschleifen und zum guten Teil aufzugeben“ (Martin/Lienhart 1899, 1907, Bd. 1, III) ⫺ könnte als seit dem 18. Jh. toposartig bei Dialektlexikographen erscheinende zweckdienliche Behauptung bewertet werden, wenn sie nicht andersweitig, allerdings vom Martin-Schüler E. Stadler, 1910 bestätigt worden wäre. Den durch die „frz. Herrschaft (…) in einer fast wunderbaren Reinheit behütet(en) Dialekt“ sieht er gefährdet, weil „durch die sich nun ergebende Berührung mit den zugewanderten altdeutschen Elementen, durch Schule und öffentliches Leben von der Schriftsprache her unaufhörlich neue fremdartige Elemente in den Dialekt eindrangen und, indem sie sich seinem Lautstand anpaßten, unmerklich die fest gezogenen Grenzen seines Sprachbesitzes verrückten“ (Stadler 1983, 362⫺363). Zu vermerken ist ebenfalls die Verdrängung eines Teils der zahlreichen frz. Entlehnungen (Schmid 1896) durch dem Dialekt phonetisch angepaßte hd. Wörter.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Ganz allgemein läßt sich feststellen, daß die Mundart in der Familie und im täglichen Verkehr die übliche Vehikularsprache blieb. Im Vergleich zur Periode vor 1870 sind die nachfolgenden Veränderungen hinsichtlich ihres Stellenwertes festzustellen: Auf der Bühne und in der Lyrik erringt sie literarischen Rang. Ebenfalls in die politischen Auseinandersetzungen einbezogen, wird sie in Kreisen, die des Frz. mächtig sind, durch diese Sprache als Haussprache verdrängt, in den mittleren Schichten, die nicht mehr genügend Frz. können, wird der Gebrauch des Dialekts als demonstrative oppositionelle Haltung und als Ablehnung des Hd. verstanden und in dieser Funktion auch als ‘Filter gegen die Germanisierung’ von F. aus gewertet. 3.4.3. Die französische Sprache Das Frz., das in den letzten zwei Jahrzehnten vor der Annexion durch die Verallgemeinerung des Schulbesuchs großen Auftrieb erhalten hatte, wurde quantitativ eindeutig durch die Auswanderung zahlreicher Sprecher und seine Verdrängung aus der VS in seinen Positionen geschwächt. Andererseits wurde es in der Oberschicht intensiver praktiziert, sowohl als Kundgebung oppositioneller Haltung als auch mehr denn je als soziales Schibboleth. Es avancierte zur prestigebeladenen vornehmen ‘Sonntagssprache’, zum ‘Hd. des E.’, zum Demonstrationsmittel frz. Gesinnung und Bildung, um dem altdt. Bürgertum gegenüber eine scharfe Trennungslinie zu markieren, dies generell oder durch spontanes Code-Switching aus der Mundart bei Gegenwart Altdeutscher. Durch Privatunterricht, der später durch die Verwaltung eingeschränkt wurde, durch das Lesen frz. Literatur, Zeitschriften und Zeitungen und durch den Besuch frz. Pensionate gelang es dem gehobenen Bürgertum auch nach der 1887 durch den Passzwang erreichten relativen Abschottung, den Kontakt zu F. und zur frz. Kultur nicht abreißen zu lassen. Während demnach in den oberen Schichten das Frz. z. T. die Mundart verdrängte, verlor es in den unteren Schichten an Bedeutung, weil die Familien ohne Unterstützung der Schule nicht in der Lage waren, es am Leben zu erhalten. 3.4.4. Gesellschaftliche Entwicklungen und Sprachenverhältnis Starke Veränderungen in der els. Gesellschaft (1871⫺1914) schlugen sich im sprachlichen Bereich nieder, so die rasche Verstädterung
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und die Besetzung vieler Positionen in Verwaltung und Wirtschaft durch Altdeutsche. Das prägnanteste Merkmal der Gesellschaft, das sich daraus ergab, war die Zweiteilung des Besitz- und Bildungsbürgertums in eine einheimische und in eine altdt. Gruppe. Die erste praktizierte gegenüber der zweiten einen sehr weitgehenden gesellschaftlichen Boykott, wobei die frz. Sprache das sinnfällige Zeichen der Zugehörigkeit bildete. Sie hielt den Kontakt zu F., für das ein Teil der jeweiligen Familien 1871 optiert hatte, während ein anderer im E. blieb, um wirtschaftliche Positionen zu halten. In sprachlicher Hinsicht verfügte diese Gruppe z. T. nur über den dt. Grundwortschatz und gängige Redewendungen, praktizierte häufig das geschilderte Code-Switching oder simulierte totale Unkenntnis der dt. Sprache. Frz. wurde viel ausschließlicher gebraucht als vor 1870, was zu einer Verdrängung der dem Hd. gegenüber als zu ungebildet betrachteten Mundart führte. Dies zog eine Verschärfung der sprachlich-sozialen Segregation nach sich, obwohl diese Gruppe für die städtische Mittelschicht Vorbildfunktion hatte. Die Existenz eines eingewanderten Bürgertums, das nach F. Meinekkes Ausdruck wie in einer ‘Kolonie’ lebte, zwang das els. Bürgertum zusammen mit dem höheren gebildeten Klerus, innerhalb eines Rahmens, in welchem die frühere Durchlässigkeit zwischen Notabelnsystem und Verwaltung verhindert wurde, neue sprachliche und kulturelle Strategien zu entwickeln. Das nationale Bürgertum, das aus der Frz. Revolution seinen ideologisch-universalistischen Anspruch hergeleitet hatte, die ganze Nation zu repräsentieren, hatte dem regionalen Bürgertum in einem zentralistischen Staat kaum eigenständige politische Existenz zugebilligt. Nun mußte sich das els. Bürgertum als selbständige Kraft behaupten: es tat dies durch Intensivierung des frz. Sprachgebrauchs und durch Förderung einer els. Kultur. Beides wirkte, mit dem Merkmal der nationalen Opposition versehen, integrierend für breitere Gesellschaftsschichten. 3.5. Die Sprachen im kulturellen Rahmen 3.5.1. Die Kirchen Für die dt. Behörden sollte die Germanisierung des E. im Bund mit den Kirchen erreicht werden, die in der frz. Zeit ja die dt. Sprache als Schutzwall der Religion verteidigt hatten. Doch der Kulturkampf veranlaßte die katholische Kirche, in das Lager des
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religiösen und nationalen Protests überzuwechseln, die frz. Kultur und Sprache, besonders in ihren Schulen, zu verteidigen und zu fördern, ohne jedoch von ihrem Grundsatz abzuweichen, daß der Religionsunterricht in der (dt.) Muttersprache stattfinden sollte. Die kirchenfeindliche Politik in F., die Annäherung des els. katholischen Verbandwesens an das dt., ein allmählich in D. oder Straßburg an der neu gegründeten katholischen theologischen Fakultät ausgebildeter Klerus führten zwar zu einer gewissen Distanzierung F. gegenüber, hinderten aber die katholische Kirche nicht daran, nach 1914 gegen die verschärften Maßnahmen der Militärbehörden Widerstand zu leisten. Die historischen und kulturellen Bindungen des els. Protestantismus an D. verfestigten sich zwischen 1871 und 1918. 3.5.2. Kulturelle Entwicklungen und Sprachensituation Eine Abschwächung der kulturellen Bindungen an F., der Versuch einiger, den unmittelbaren Anschluß an das dt. Geistesleben zu finden, während andere durch den Ausbau der Dialektliteratur (insb. Lyrik und Theater) der ‘Germanisierung’ zu widerstehen versuchten, Diskussionen über die els. Kultur als Doppelkultur (W. Wittich), der Versuch der Gruppierung um R. Schickele, die Elemente eines ‘geistigen Elsässertums’ zu definieren, eine regelrechte Explosion im Zeitungs- und Zeitschriftenwesen, das Aufblühen der wissenschaftlichen und populär-wissenschaftlichen Heimatforschung und besonders eine rege Aktivität im Bereich der Dialektlexikographie charakterisieren diese Epoche. 3.6. Der Krieg Die, wenn auch nur teilweise erreichte, Befriedung in sprachlicher und psychologischer Hinsicht und die damit verbundenen Ergebnisse wurden zwischen 1914 und 1918 z. T. zunichte gemacht, als die militärischen Behörden trotz der Warnungen und Einwände von seiten der als zu lässig betrachteten zivilen Verwaltung Maßnahmen der sprachlichen Repression ergriffen (z. B. ‘Verordnung betreffend die Beseitigung der äußeren Zeichen frz. Gesinnung’ oder Warnung ‘vor dem öffentlichen Gebrauch der frz. Sprache als Ausdruck der Deutschfeindlichkeit’), die nicht alle wieder rückgängig gemacht werden konnten. So wurde, was in über 40 Jahren eher behutsam vorangetrieben worden war, in wenigen Jahren zerstört, als eine gewalt-
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XVII. Regionalsprachgeschichte
same beschleunigte Germanisierung in Angriff genommen wurde, z. B. bei Personennamen, Inschriften und in der Toponymie, selbst wenn Umsiedlungspläne nicht über das Projektstadium hinauskamen. Nach der Frz. Revolution lieferte die Zeit von 1914 bis 1918 das zweite Beispiel dafür, daß eine gewaltsam erzwungene Beschleunigung der Entwicklung der Sprachverhältnisse in ihr Gegenteil umschlägt. 3.7. Die Sprachsituation 1918 Versucht man eine Bestandsaufnahme am Ende der dt. Periode, so ist zunächst festzustellen, daß durch Schule und Einwanderung von Altdeutschen das Dt. in die früher rein frz. Sprachgebiete vorgedrungen war, obwohl diese weder das rom. Patois noch die frz. Standardsprache aufgaben. Landwirte, Arbeiter, kleine Handwerker und überwiegende Teile der Landbevölkerung sprachen ausschließlich Mundart und schrieben Dt. Die im Handels- und Dienstleistungssektor Berufstätigen verwendeten neben dem Dialekt auch die dt. und z. T. die frz. Standardsprache, untere und mittlere Beamte tendierten zum Hd. Bei hohen els. Beamten und Angehörigen der freien Berufe wurde je nach Lage Frz., Mundart oder Dt. (dies jedoch nie unter sich oder mit Einheimischen) gesprochen. Das Großbürgertum sprach Frz. und hatte in dieser Hinsicht Vorbildfunktion für das städtische mittlere und Kleinbürgertum. Als Hauptfaktoren der Gesamtentwicklung wirkten besonders die Bevölkerungsbewegung, die Mischehen, die ökonomischen Zwänge, die Schule zugunsten des Dt., das soziale Prestige und die politische Willensbekundung zugunsten des Frz.
4.
Die Periode 1918⫺1939
4.1. Statistische Angaben Zwischen 1910 und 1921 ist im E. ein Bevölkerungsverlust von ca. 98 000 Personen zu verzeichnen, der auf Kriegsverluste, Abwan-
derung oder Ausweisung (vorwiegend von Altdeutschen und mit Altdeutschen Verwandten) zurückzuführen ist, trotz einer vor allem aus Beamten bestehenden Einwanderung und einer Rückwanderung von Elsässern aus Innerfrankreich. Da die Volkszählung von 1926 die Frage nach der Umgangssprache (langue usuelle) stellte (Frz., Frz. und Dialekt oder Dt., nur Dialekt, Dialekt und Dt.), die von 1900, 1905, 1910 die nach der Muttersprache (ohne Unterscheidung zwischen Dt. und Dialekt) und die nach 1931 auf den Angaben zu den Sprachkenntnissen beruhte, sind Vergleiche nur beschränkt möglich:
Abb. 188.3: Die Sprachverhältnisse im Elsaß. Ergebnisse der Volkszählung von 1926 (nach Tesnie`res 1931)
In einigen ländlichen Kreisen (StrasbourgCampagne, Erstein, Saverne, Wissembourg) sinkt der Anteil der zweiten Gruppe unter 10 %. In Straßburg steigt er auf ca. 40 % (18 % ⫹ 22,1 %), in Mulhouse auf ca. 29 % (11,7 % ⫹ 17 %). Die Zahl der frz. sprechenden Männer übersteigt leicht die der Frauen. Die Volkszählung von 1931 ergab hinsichtlich der Sprachenkenntnis die dargestellten Daten (vgl. Abb. 188.5). Wenn man die einzelnen Kategorien gruppiert, so ergeben sich respektiv für UE und OE: 50,2 % und 54,6 %, die angeben, Frz. zu beherrschen, 86,1 % und 85,9 % Els., 82,4 % und 77,1 % Dt. Bei der Volkszählung von 1936 sind weitere Fortschritte des Frz. (57,2 % und 61 %) bei großer Stabilität der Els.- (86,6 % und 87,3 %) und Dt.-Kenntnisse (82,7 % und 77,2 %) zu verzeichnen. Die re-
Abb. 188.4: Sprachenzählung 1926 (Umgangssprache) (nach Das Elsaß 1936, Bd. 4, 199)
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
2791
Abb. 188.5: Sprachenzählung 1931 (Sprachenkenntnis) (nach Das Elsaß 1936, Bd. 4, 199)
gionalen Schwankungen entsprechen den bereits erwähnten (UE und OE: Els. ⫹ Frz. ⫹ Dt.: 50,1 % und 49,1 %; Els. ⫹ Frz.: 4,6 % und 9,4 %; Els. ⫹ Dt.: 37,3 % und 33,6 %; nur Els.: 8 % und 7 %) (Hartweg 1987). 4.2. Amtliche Regelung und Praxis Die Änderungen im amtlichen Sprachgebrauch waren nach 1918 in umgekehrter Richtung in vielem denen nach 1871 ähnlich. Nach der dt. ‘Regermanisierungspolitik’ nach 1871 verfolgte F. nach 1918 eine spiegelverkehrte Französisierungspolitik, die zwar stets den politischen Willen der Bevölkerung in den Vordergrund rückte, aber auch von der Auffassung getragen war, man könne dadurch den Rechtsanspruch des potentiellen Gegners auf die Provinz entkräften (Hartweg 1988 a, 1990 a, 1993 a). Die Maßnahmen der ‘Re´inte´gration’, der Wiederangleichung des E. an das übrige F., wurden im sprachlichen Bereich spürbar. Hier stand der Tendenz, die eine sofortige Verschmelzung mit dem Einheitsstaat und eine möglichst restlose Assimilation befürwortete ⫺ einige ihrer Sprecher lebten in der Vorstellung, daß die dt. Sprache 1871 ins E. eingeführt worden war ⫺, das Bestreben, den sprachlichen Besonderheiten Rechnung zu tragen, gegenüber. Das Frz. wurde grundsätzlich als einzige Amtssprache eingeführt, und die Verlautbarungen erfolgten in dieser Sprache. Allerdings fügte das Amtsblatt Bulletin officiel d’Alsace et de Lorraine ab Mai 1919 den Gesetzen und Verordnungen synoptisch eine dt. Übersetzung hinzu. Auf den unteren Ebenen der Verwaltung blieb die Mundart im Verkehr mit dem Publikum erhalten. Die Verfügung für die Standesregister, die Familiennamen in frz. Form einzutragen, wurde nicht streng befolgt; die Vornamen frz. einzutragen entsprach ohnehin dem Sprachgebrauch. Viele Formulare blieben zweisprachig, Versteigerungsanzeigen von Notaren und Gerichtsvollziehern erschienen gelegentlich nur im dt. Text. Notariatsurkunden konnten dt.
aufgesetzt werden, wenn die Beteiligten erklärten, Frz. nicht zu verstehen, und die dt. Beurkundung verlangten. Größere Schwierigkeiten ergaben sich mit Frz. als Gerichtssprache (2. 2. 1919), so daß der Rechtssuchende oder Strafverfolgte häufig auf die Vermittlung eines Dolmetschers angewiesen war. Vor den Kollegialgerichten konnte der Vorsitzende für die Parteivorträge den Gebrauch des Dt. bzw. des Els. zulassen, wenn alle beteiligten Personen erklärten, diese Sprache zu kennen und das Frz. nicht hinreichend zu verstehen. Weitergehende Anordnungen allgemeiner Art konnten für die Kantonalgerichte vom Präsidenten des vorgesetzten Gerichts 1. Instanz erlassen werden. Bei den Schwurgerichten, vor denen die Verhandlungen auf frz. geführt wurden, konnten nur des Frz. mächtige Geschworene herangezogen werden, was einer starken Beschränkung der Auswahl gleichkam. Sie konnten, wenn sie kein Els. beherrschten, den Ausführungen der Angeklagten und Zeugen nur mit Hilfe eines Dolmetschers folgen. Dt. Firmen- und Reklameschilder wurden durch frz. ersetzt. Bei öffentlichen Inschriften brauchten die Behörden kaum einzugreifen, denn im ‘Sprachentaumel’ überboten sich Stadt- und Gemeinderäte in der Umbenennung von Straßennamen, obwohl auch hier, wie bei den Wegweisern, die dt. Aufschriften vielfach neben den frz. belassen wurden. Ortsnamen wurden französisiert, andere der örtlichen Aussprache in der Schrift angepaßt. Hd. war allgemein verpönt, so daß sich z. B. das Straßburger Stadttheater gelegentlich in seinen Programmen mit Mundartübersetzungen behalf. Schwieriger war das Problem der Beamten, die sich aus sprachlichen Gründen zurückgestellt fühlten oder tatsächlich in ihrer Karriere benachteiligt wurden; nur bei der anfänglichen Übernahme els. Beamter aus dem Reichs- und Landesdienst wurde, besonders in den untergeordneten Stellungen, von
2792 bestimmten sprachlichen Erfordernissen abgesehen. Die leitenden Stellungen wurden überwiegend von Binnenfranzosen übernommen, da im allgemeinen Prüfungswesen Frz. eine beherrschende Rolle spielte. Diese erhielten zunächst allein, dann bis 1926 eine höhere Entschädigung (Sprachenzulage) angesichts der mit der Doppelsprachigkeit und dem Sonderregime verbundenen Erschwernisse (1946 zur „Entschädigung für Verwaltungserschwernisse“ umbenannt). Diese als diskriminierend empfundenen Maßnahmen trugen nicht wenig zum sog. els. ‘Unbehagen’ bei. 4.3. Die Sprache im Unterrichtswesen Die wichtigsten Entscheidungen fielen jedoch im schulischen Bereich. Am 15. 1. 1920 wurde Frz. als Unterrichtssprache in allen VS angeordnet. Dt. wurde vom 3. Schuljahr an 3 Stunden pro Woche gestattet, und die 4 Religionsstunden konnten ebenfalls auf dt. erfolgen, solange die Kinder nicht imstande waren, diesem Unterricht auf frz. zu folgen. Das einheimische Lehrpersonal mußte z. T. ‘Praktika’ an innerfrz. Schulen absolvieren, um sich die Lehrbefähigung anzueignen. Lehrpersonal und Schulinspektoren aus Innerfrankreich wurden im E. eingesetzt. Ein heftiger Streit um die offiziell eingeführte ‘direkte Unterrichtsmethode’ (me´thode directe) entbrannte, und das Schlagwort der ‘geopferten Generation’ kursierte. Lehrerorganisationen, aber auch Vertreter anderer beruflicher Verbände warnten vor einer allgemeinen Verschlechterung der Schulausbildung, da die Schüler weder richtig Frz. noch Dt. beherrschten. Weitere Beschwerden und Interventionen der Gewählten führten 1927 zu Konzessionen (2 Stunden pro Woche dt. Leseunterricht ab der 2. Hälfte des 2. Schuljahres), Lockerungen hinsichtlich der ‘direkten Methode’ und Einführung einer obligatorischen Prüfung im Fach Dt. bei der Abschlußprüfung der VS für Kinder der dialektophonen Familien. Die Tradition der Sammlungen von Fehlern, die auf das els. Substrat zurückzuführen waren, wurde fortgesetzt und z. T. zu umfassenderen Lehrwerken erweitert, ohne daß jedoch dadurch eine echte kontrastive Untersuchung erstellt worden wäre (de Dietrich 1917; Clarac 1919; Suiter 1920; Anonym 1924). Um Frz. zu fördern, wurden Fortbildungskurse für die schulentlassene Jugend und Erwachsene eingerichtet bzw. ausgebaut. Im Sekundarschulwesen wurde nach einer kurzen Übergangszeit der Lehrplan der
XVII. Regionalsprachgeschichte
übrigen entsprechenden frz. Lehranstalten übernommen, und an der Universität Straßburg wurde die 1915 von den ‘Confe´rence d’Alsace-Lorraine’ ausgesprochene Empfehlung, Dt. in einigen Fällen als Vorlesungssprache zu behalten, nicht berücksichtigt. 4.4. Medien und Literatur Zwischen 1918 und 1939 blieben die zweiund dt.-sprachigen Blätter im Zeitungswesen stark dominierend, was die Regierung dazu veranlaßte, 1927 per Dekret auf den sog. Fremdsprachenartikel des frz. Presserechts (1895) zurückzugreifen, um 3 Blätter der ‘Heimatbewegung’ zu unterdrücken. Der aufkommende dt. Tonfilm (mit Untertiteln) und der dt. Rundfunk fanden im E. gute Aufnahme. Radio Straßburg bot zweisprachige Ansagen, Nachrichten, Presseschauen, Vorträge und Gesangssendungen sowie Mundartabende. Hinsichtlich der dt. Zeitungssprache im E. kommt D. Magenau (1962) zu folgenden vergleichenden Ergebnissen: Während vor 1870 noch viele frz. Ausdrücke übersetzt wurden, werden sie nach 1918 belassen. Regionale Besonderheiten der Lexik (z. B. Ackerer, Kilbe, Messti) und frz. Bezeichnungen (Paˆtisier, Epicerie usw.), besonders in Lokalmeldungen und Anzeigen, sind zwischen 1870 und 1918 zu finden. Orthographie, Flexion und Wortbildung sind korrekt, die Syntax weist zuweilen Anlehnungen an das frz. Vorbild auf. Die Besonderheiten nehmen 1918 zu: veraltete, landschaftlich bestimmte Wörter, Lehnprägungen, die zwischen Frz. und Dt. vermitteln, und frz. Wörter. Unsicherheiten erscheinen besonders in der Syntax. Die sprachlichen Abweichungen sind besonders stark bei von einheimischen Lokalkorrespondenten verfaßten örtlichen Nachrichten und Meldungen, während die Anzeigen besonders stark mit frz. Fachausdrücken durchsetzt sind. Zwischen Besonderheit und Fehler kann nicht immer unterschieden werden; der Übergang ist fließend. Die dt. Sprache der Zeitschriften, literarischen und wissenschaftlichen Werke zeigt geringere Abweichungen als die Zeitungssprache. Da die sprachlichen Voraussetzungen, am frz. kulturellen Leben teilzunehmen, für viele nicht gegeben waren, Dt. verpönt und zeitweise auf der Bühne untersagt war, griff man häufig behelfsmäßig auf das Mundarttheater zurück, das infolgedessen über seine ursprüngliche Aufgabe hinauswuchs. Die katholische Vereinsbühne insbes. erlebte teils in
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
Mundart, teils in Hd. (wie auch die Gesangsvereine) eine Blütezeit. Nach zeitweiligem Verbot und darauffolgender Reglementierung (besonders der Gastspiele) konnten dt. Opern, Operetten und gesprochene Bühnenwerke in begrenztem Umfang neben den frz. wieder aufgeführt werden. Ab 1933 unterhielt das Straßburger Theater ein deutschsprachiges Ensemble. Im literarischen Bereich sind mehrere dt. und frz. Zeitschriften zu verzeichnen. Die Tradition der Dialektlyrik der Brüder Matthis wurde fortgesetzt. H. Solveen versuchte die von dem in D. lebenden R. Schickele definierte Brückenfunktion des E. weiterzuführen, während ein M. Betz als Übersetzer dt. Literatur nach F. vermittelte. Ein Teil der zwischen 1871 und 1918 im Zuge einer gewissen Anpassung an das Hd. erfolgten (Will 1947, 28) Ersetzung frz. Lehnwörter durch dt. Wortgut, wurde wieder rückgängig gemacht; die sprachlich ausgesprochen konservative Mundartlyrik der Brüder Matthis weist eine relativ hohe Frequenz frz. Entlehnungen mit deutlicher Abgrenzung zum Hd. auf, z. B. Bordrä (portrait), Gü (gouˆt), Barrik (perruque = chevelure), Gossdünn (costume), Schandle (chandelles), Syrik (cirque), Gasque (casque), Bissali (pissenlit) (Matzen 1974). 4.5. Öffentliche Meinung, Parteien und Kirchen und die Sprachenfrage Nach eine kurzen Phase des begeisterten Einsatzes für das Erlernen der frz. Sprache kam die Ernüchterung, und erste Proteste gegen die Nicht-Einhaltung der feierlich gegebenen Versprechungen, die els. Besonderheiten zu respektieren, wurden laut. Während von der einen Seite Dt. zur Fremdsprache abgestempelt wurde, verlangten die Verteidiger der ‘Muttersprache’ die frühere Einführung des Dt. in der VS, seine Verwendung als ‘Hilfsmittel’ im Unterricht und die Erhöhung der ihm gewidmeten Stundenzahl. Während die einen mit der Notwendigkeit der frz. Einheit argumentierten und den Vorwurf des mangelnden Patriotismus erhoben, forderte das Manifest des Heimatbundes (1926), „daß die dt. Sprache im öffentlichen Leben unseres Landes den Rang einnimmt, der ihr als Muttersprache des weitaus größten Teils unseres Volkes und als einer der ersten Kultursprachen der Welt zukommt. In der Schule muß sie Ausgangspunkt und ständiges Unterrichtsmittel und Unterrichtsfach mit abschließender Prüfung sein.“
2793
Doch nicht nur die regionalistischen und später die autonomistischen Parteien, sondern auch die (katholische) els. Volkspartei, die Demokraten und die Kommunisten verlangten die Gleichstellung des Dt. neben dem Frz. Auch die Kirchen setzten sich für das Dt., vor allem im Religionsunterricht, ein, die katholische Kirche mobilisierte ihre Kräfte jedoch erst, als ihr Konkordat und konfessionelle Schule gefährdet schienen (Hartweg 1987 a). In der ‘nationalen’ Abspaltung der els. Volkspartei schließlich wurde nur noch eine rein utilitaristische Auffassung des Deutschunterrichts als Übergangsmaßnahme vertreten. Gegen Ende der hier betrachteten Periode kam es zu einer relativen Befriedung in der Sprachenfrage, nicht zuletzt unter dem Eindruck der aufkommenden nazistischen Gefahr (Hartweg 1988 a). 4.6. Bestandsaufnahme Im Unterschied zur Periode vor 1870 wurde nach 1918 eine systematische Assimilationspolitik im E. unternommen, deren Hauptinstrument die Schule wurde. Während früher die Gewinnung der Oberschicht und der oberen Mittelschichten für die nationale Sprache angestrebt wurde, wurde diesmal der Versuch in Angriff genommen, die ganze Bevölkerung zu erreichen. In der Zeit zwischen 1870 und 1918 hatten große Teile des Mittelstandes, um sich von den ‘Altdeutschen’ abzusondern, den ihr als ungebildet erscheinenden Dialekt zugunsten des Frz. aufgegeben, dadurch die sozialen Trennungslinien durch eine Sprachlinie verschärft und dem Frz. das Kriterium des sozialen Unterscheidungsmerkmals aufgeprägt. Diese Entwicklung verstärkte sich nach 1918, denn die Unterrichtserfolge der Schule, besonders wenn die Praxis des Frz. danach ausblieb, blieben trotz offizieller Erfolgsmeldungen z. T. zumindest unterschiedlich. In dieser Zeit entstand die mehrfache Teilsprachigkeit, die große Teile der unteren Mittelschicht und die Unterschichten der els. Bevölkerung charakterisieren. In dieser Gruppe blieb Els. die gesprochene und Dt. die geschriebene Sprache, wenn Frz. auch, aber vorwiegend nur passiv beherrscht wurde. Im Bericht eines Inspektors des Fortbildungsschulwesens (UE 1930) ist von einer ‘unvollständigen’, nicht korrekten Sprache die Rede: „die Aussprache ist fehlerhaft, es werden falsche Wörter benützt, um einen Gegenstand zu nennen oder einen Gedanken auszudrücken; es wird nach dem dt. Wortlaut übersetzt, der logische Satzbau fehlt“ (Das
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XVII. Regionalsprachgeschichte
Elsaß 1936, Bd. 3, 89). Summarisch faßte ein els. Senator die Praxis der Schule mit den Worten: „Die Kinder lernen heute eine Sprache, die sie nicht verstehen und die Sprache, die sie verstehen, die lernen sie nicht“ (Das Elsaß 1936, Bd. 3, 91).
5.
Die Periode 1940⫺1945
In der Zeit der Gleichschaltung mit dem Reich und der Annexion des E. wurden indirekt wichtige Weichen für die spätere Sprachentwicklung gestellt, die nur als Reaktion auf die Periode 1940⫺45 zu verstehen ist. Nicht ins E. zurückgekehrte Evakuierte, Ausweisungen von ‘Gegnern des Deutschtums’ und Umsiedlungen in das Reich und den Warthegau nach 1942 brachten nur leichte Verschiebungen in der sprachlichen Struktur. Tiefgreifender bestimmten die gewaltsamen und lückenlosen Entwelschungsund Rückdeutschungsmaßnahmen den offiziellen sprachlichen Alltag. 5.1. Die Entwelschung von Land und Leuten Unter dem auf unzähligen Plakaten verkündeten Motto Hinaus mit dem welschen Plunder wurden Maßnahmen getroffen, die den welschen Firnis entfernen sollten. Zahlreiche Verordnungen verboten z. B. unter Androhung von KZ-Haft den als provokatorisch gewerteten Gebrauch der frz. Sprache in der Öffentlichkeit. Frz. wurde aus der Schule verbannt, frz. Bücher aus öffentlichen Büchereien entfernt (⫺ die aus privatem Besitz sollten bei ‘deutschen’ Sonnenwendfeiern verbrannt werden ⫺), frz. Straßennamen und Firmenbezeichnungen wurden übermalt. Frz. sollte aus dem Gottesdienst verschwinden, auf den Grabinschriften, aber auch in den Wohnungen (Diplome, Kalender, Wandsprüche, Mehl-, Salz- und Pfefferbehälter, Warmkalt-Wasserhähne) und in der Toponymie ersetzt werden. Eine Verordnung des Gauleiters (16. 8. 1940) befahl die Entwelschung der Familien- und Vornamen. Um die Reinheit der Mundart wiederherzustellen, sollten als ‘Geschmacksfehler’ empfundene frz. Wörter wie z. B. bonjour, adieu, au revoir, voila`, pardon, trottoir, tram(way), billet usw. ausgemerzt werden, selbst wenn sie in D. gebräuchlich waren, denn im E. galten sie als Parteinahme, die den ‘Französling’ entlarvte.
5.2. Die Rückdeutschung Die Vereinigung der ‘Kultur’- mit der ‘Staatsnation’ und die befohlene Rückbesinnung auf das Deutschtum sollten im Gegensatz zur von 1871 bis 1918 praktizierten ‘Politik der Schwäche’ in wenigen Jahren die ‘sprachliche Einheit’ mit dem Reich herstellen. Die Umschulung der Beamten, besonders des Lehrpersonals, dessen teilweise Ersetzung durch rechtsrheinische Lehrer, die den mangelnden einheimischen Eifer wettmachen und die Germanisierung beschleunigen sollten, die Plakatpropaganda für die dt. Sprache (‘Elsässer, sprecht Eure deutsche Muttersprache’), die Einführung von Sprachkursen für Erwachsene, die Sprachreinigungskampagnen gegen die Fremdwörter ⫺ aber auch der regionale Akzent sollte beseitigt werden ⫺ und vor allem die ‘Wiedereinführung der Muttersprache’ (16. 8. 1940) als Amtssprache und in allen öffentlichen Bereichen waren die Instrumente einer Politik, die zuweilen selbst den Gebrauch der Mundart als ‘stummen (!) Protest’ gegen das Regime wertete. Die Folgen des nazistischen Sprachterrors liegen nicht so sehr in der Verbannung des Frz. für 4⫺5 Schuljahrgänge, als vielmehr in den Maßnahmen, die nach 1945 einen tiefen Einschnitt in die Entwicklung der sprachlichen Situation bewirkten. Dt. wurde nach 1945 nicht nur als Sprache des Feindes, wie 1870, sondern als ‘feindliche’ Sprache betrachtet und behandelt, und das Nicht-Beherrschen des Frz. führte zuweilen zu einem diffusen kollektiven Schuldempfinden; der drastischste und wahrscheinlich folgenträchtigste Einschnitt in der Sprachpolitik nach 1945 aber war die Abschaffung des Deutschunterrichts in der Grundschule, die zunächst nur die Rückgewinnung des von 1940⫺45 verlorenen Terrains bewirken sollte, sich aber zum Dauerzustand etablierte und das Dt. im Schulsystem zur ‘Fremdsprache’ werden ließ.
6.
Die Periode 1945⫺1980
6.1. Sprachkenntnisse Da die vorhandenen Erhebungen auf den ‘erklärten Sprachkenntnissen’ beruhen, sind die vorhandenen Statistiken hinsichtlich des effektiven Grades der Sprachbeherrschung nicht aussagefähig. In der Regel werden sowohl die Kenntnis der dt. Standardsprache als auch die Fertigkeiten im Frz. deutlich überschätzt. Die anläßlich von Volkszählungen gestellten Fragen ergeben:
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
Abb. 188.6: Erhebungen 1946 und 1962: erklärte Sprachkenntnisse (nach I. n. s. e. e. 1956, 13 ff.; 1965, VII ff.)
2795
Abb. 188.8: Sprachkenntnisse und Geschlecht (nach I. n. s. e. e. 1965, VII ff.)
Die Erhebung von 1962 zeigt die Kurve der Französischkenntnisse, die einen Anteil von 43 % der unter 4 Jahre Alten (Sprachgebrauch der Familie) enthält, ein Maximum von 99,4 % zwischen 15 und 19 Jahren (unmittelbare Folge der Schulausbildung) erreicht, sich über 95 % bis 50 Jahre hält und ein allmähliches Abflachen (60 % zwischen 50 und 74 Jahren, 35 % für die über 74 Jahre Alten) aufweist. Ein Stadt-Land-Gefälle ist Abb. 188.9: Sprachkenntnisse und Berufskategorien 1965 (nach I. n. s. e. e. 1965, 28 ff.)
Abb. 188.7: Frz.- und Dialektkenntnisse 1962 (nach I. n. s. e. e. 1965, VII ff.)
ebenso festzustellen wie geschlechtsbedingte Schwankungen und berufsbezogene Unterschiede. Eine in ländlichem Milieu (UE) 1973 unternommene Enqueˆte (106 Haushalte und 106 Personen) ergibt folgende Zahlen (Angaben in Prozent):
Abb. 188.10: Sprachkenntnisse, Alter und Geschlecht (nach Tabouret-Keller/Luckel 1981, 57)
2796 6.2. Amtliche Sprachregelungen Die amtliche Sprache ist Frz.; Dt. oder Els. können bei Gerichtsverhandlungen, Dt. bei Notariatsakten zugelassen werden. Der Gebrauch zweisprachiger Formulare im Steuer-, Kranken- und Sozialversicherungs-, Postund Fernsprechwesen ist allmählich eingestellt worden. Nur das Wahlmaterial wird weiterhin in frz. und dt. Sprache abgefaßt. Der 1945 aufgehobene Deutschunterricht in der VS wurde in den 50er Jahren mit geringem Erfolg wieder fakultativ in den letzten Klassen eingeführt, in den 70er Jahren auf breiterer Basis für die 10- bis 11jährigen (2½ Stunden pro Woche). Dem Dialekt ist neuerdings offiziell ein Platz in der Vorschule (e´cole maternelle) eingeräumt worden. 6.3. Domänenverteilung Eine Umfrage von 1971 lieferte auf die Frage nach der bevorzugten Sprache folgende Antworten:
XVII. Regionalsprachgeschichte
Land, in der Stadt frz. für jüngere und dt. für ältere Gemeindemitglieder die Regel. Die katholische Hierarchie hat ihr Prinizip des Religionsunterrichts und Gottesdienstes in der ‘Muttersprache’ weitgehend zugunsten des Frz. aufgegeben. Versuche einer Revitalisierung des Dialekts im kirchlichen Bereich sind im Gange. Der Anteil der zweisprachigen Ausgaben bei den zwei dominierenden Tageszeitungen ist stark zurückgegangen (z. B. von ca. 63 % auf ca. 30 % zwischen 1965 und 1980 bei den Dernie`res Nouvelles d’Alsace). Die dt. Illustrierten verfügen über einen nicht unbedeutenden Leserstamm. Im regionalen Hörfunk und Fernsehen nehmen dt. und Dialektsendungen einen nicht geringen Platz ein, dt. Sender erreichen vor allem bei Sportreportagen und Unterhaltungsmusiksendungen eine gute Einschaltquote. In der Familie zeichnet sich häufig ein ‘Drei-Generationen-Modell’ ab: Übergang von dialektsprechenden oder zweisprachigen Großeltern (Dialektdominanz) zu zweisprachigen Eltern (Dominanz Frz.) und sporadisch zweisprachigen Kindern, die z. T. nur noch über eine passive Kenntnis des Dialektes verfügen, den sie infolgedessen nicht mehr weitergeben werden können. Folgende Zahlen einer Umfrage von 1979 zeigen diese Tendenzen an:
Abb. 188.11: Sprachgebrauch 1971 (nach Nuss 1971)
Die Ergebnisse einer weiteren Enqueˆte 1976 (En Route Nr. 178) zeigen eine gespaltene sprachliche Kommunikationspraxis der Ehepartner unter sich (Els.) und mit ihren Kindern (Frz.). Die Neigung, die Sprache vom Arbeitsplatz und nur diese an die Kinder weiterzugeben, ist bei Beamten, Angestellten und leitenden Angestellten besonders ausgeprägt. Am Arbeitsplatz und z. T. auch in der Gewerkschaft ist der Sprachgebrauch hierarchisch gesteuert: Els. an der Basis, Frz. an der Spitze oder aus Rücksicht auf frankophone Kollegen. Im sprachlichen Bereich sind die Kirchen in der Regel differenzierter vorgegangen als der Staat, haben sich jedoch, wenn auch behutsam und mit zeitlichem Abstand, der allgemeinen, durch die Schule vorgezeichneten Entwicklung angepaßt. In den protestantischen Kirchen, in denen Dt. einen bedeutenderen Platz behält als in der katholischen, werden zweisprachige Gottesdienste auf dem
Abb. 188.12: Dialektgebrauch 1979 (nach Seligmann 1979, 24; die Zahlen in Klammern betreffen Haushalte els. Herkunft)
Die situative Steuerung erscheint deutlich in folgender Tabelle (Anteil der Haushalte, die angeben, oft oder immer Els. zu sprechen) (vgl. Abb. 188.13). Bei steigendem Öffentlichkeitsgrad sinkt der Anteil des Dialektgebrauchs. Im Bereich der Toponymie haben Umbenennungen zuweilen zu sinnlosen Verwechslungen und teilweise zu einer Banalisierung des toponymischen Reichtums geführt. (Zu diesem Kapitel vgl. grundsätzlich Hartweg 1983 a).
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
2797
Abb. 188.13: Dialektgebrauch 1979 (nach Seligmann 1979, 25)
Abb. 188.14: Frz.-Gebrauch in der Familie (nach Metzger 1980)
6.4. Die französische Sprache im Elsaß 6.4.1. Die Stellung des Französischen Die amtlichen Sprachregelungen und der Einschnitt in der schulischen Praxis sowie das diffuse kollektive Schuldempfinden in der unmittelbaren Nachkriegszeit haben, gekoppelt mit dem durch die Erfahrungen der Zeit zwischen 1940 und 1945 gestärkten Willen der Zugehörigkeit zum frz. Staatsvolk, dem Frz. zur eindeutig dominanten Position verholfen. Die allgemeine Einrichtung von Vorschulklassen und die Praxis vieler Eltern haben dazu beigetragen, daß die frühen Phasen der Sozialisation auf frz. oder zumindest zweisprachig vollzogen werden. Das Argument, daß der Dialekt das Haupthindernis für die Chancengleichheit bzw. den Schulerfolg darstellt und daß Frz. als offizielle Verkehrssprache in Verwaltung, Politik, Schule und Kultur jene Domäne beherrscht, die über sozialen Aufstieg, Prestige und Zugehörigkeit zu den großräumigen Interaktionsnetzen entscheidet, bewegt die Eltern zum Sprachwechsel, weil sie befürchten, daß bei Primärsozialisation im Dialekt ihre Kinder schulischer Diskriminierung ausgesetzt sein könnten. Der utilitaristische Standpunkt scheint dabei jedoch den ‘ästhetischen’ ⫺ man denke dabei jedoch an den in den Nachkriegsjahren gebrauchten Slogan ‘c’est chic de parler franc¸ais’, der die Stigmen ‘bäurisch, ungeschlacht’ des Dialekts unausgesprochen ließ ⫺ verdrängt zu haben. Der starke selektive Charakter des Frz. auf schulischer Ebene und die durch Umfragen wie die von Th. Metzger und Vokabulartests etablierte Korrelation zwischen Wortschatzreichtum und intensiver Praxis des Frz. zu Hause sowie der hohe prozentuale Anteil der in ihrer Familie frz. sprechenden Schüler in den oberen Klassen der Sekundarschulen, d. h. nach vollzogener Auslese, sollten jedoch nicht zur Aufstellung einer monokausalen Relation unter Ausschaltung der übrigen, gewichtigen Indikatoren
der sozialen Selektion führen. Der in Ausweitung begriffene tertiäre Sektor und nicht so sehr die Industrialisierung ist das Einfallstor des Frz. am Arbeitsplatz. Das Anwachsen der nur frz. sprechenden Bevölkerung des E., deren Anteil an der Gesamtbevölkerung von 1946 bis 1979 im UE von 5,2 % auf 23 % und im OE von 5,2 % auf 27 % angestiegen ist, wirkt sich unmittelbar auf die gesprächspartnergesteuerte Sprachwahl aus, was mit der Tatsache in Zusammenhang zu bringen ist, daß eine unbekannte Person zunächst auf frz. angesprochen wird, ein Zeugnis des Willens, den frankophonen Gesprächspartner nicht mit dem Dialekt zu irritieren. Das Frz. spielt übrigens bei dialektophonen Gesprächspartnern mit deutlich unterschiedlichen Mundartvarietäten die Rolle einer Koine, selbst wenn die regionalen Unterschiede die Kommunikation nicht wirklich gefährden. Die von Ladin unternommenen korrelativen Studien (Ladin/Rosenfeld 1979) zeigen, daß der Wohnort die Sprachwahl deutlicher prägt als die Berufskategorie. Der Vorteil des Frz. wird bei der vorwiegend matrilinearen Überlieferung der Sprache noch potenziert durch die Asymmetrie in der Relation Eltern-Kinder ⫺ die Mutter verwendet häufiger die frz. Sprache als der Vater, sie ist überwiegend im zum Frz. neigenden Dienstleistungssektor beschäftigt. In vielen Familien verfolgt vor allem die Frau die schulische Erziehung der Kinder und ist daher dem Sozialprestige der Sprache dieser Einrichtung und dem von ihr ausgehenden Anpassungsdruck stärker ausgesetzt. Die Untersuchungen von Ladin (1982) und Hartweg (1980) zeigen, daß Mädchen in allen Situationen signifikant weniger Els. sprechen als gleichaltrige Jungen. 6.4.2. Besonderheiten des Französischen im Elsaß Nach M. Philipps Einschätzung (Philipp 1978) kann im E. nicht wirklich von einer ‘regionalen Umgangssprache’, einem ‘franc¸ais
2798 re´gional’ gesprochen werden. Diese definitorische Entscheidung wird mit dem Unterschied zwischen Regionalismen einsprachiger Sprecher und unter Mehrsprachigkeitsbedingungen vorkommenden Interferenzen begründet: Die Besonderheiten des els. Frz. sind zwar durch die dt. Mundart bedingt, erscheinen aber auch z. T. bei rein frankophonen Einwohnern des E. und können bei diesen Sprechern als Regionalismen bezeichnet werden, die auf frühere Interferenzen zurückgehen. Allerdings werden weder die von Matzen (1977) noch die umfangreicheren, von Wolf (1983) zusammengetragenen Sammlungen ihren Titeln gerecht; sie setzen eine lange Tradition fort, indem sie die regionalen Germanismen (alsacianismes) aus verschiedenen Sprachbereichen auflisten. Die pädagogisch ausgerichteten Sammlungen (Guillot 1949, Stoeckle 1973, Matzen 1977), deren zurückgehender Umfang von Matzen auf verbesserte Französischkenntnisse zurückgeführt wird, zeichnet sich nicht selten durch fehlende oder mangelhafte Klassifizierung oder Hierarchisierung aus und nennen Interferenzerscheinungen, die keine sind (Kleiber 1984). Die auf das els. Substrat zurückzuführenden, bei den Sprechern sehr unterschiedlich ausgeprägten Interferenzerscheinungen können u. a. als Übertragung des phonologischen Systems des Dialekts auf das Frz. interpretiert werden, z. B. bei den Konsonanten. Auch im Bereich des Wortakzents und der Satzintonation und durch das fehlende Einschätzungsvermögen für die verschiedenen Sprachebenen weist das els. Frz. Charakteristika auf. Als Beispiele seien hier die Ersetzung der Opposition stimmlos/stimmhaft durch stimmlos aspiriert/stimmlos nicht aspiriert im Anlaut ([thon]), tonne : [ton] donne) und die völlige Aufhebung dieser Opposition im Auslaut ([vit] vite: [vi:t] vide; [viƒ] viƒ : [vi:ƒ] vive; [soƒ] chauƒƒe : [so: ƒ] chauve) mit charakteristischer Ersatzdehnung des Vokals ([li:t] laide; [ro:p] robe) aufgeführt. Vor Konsonant wird in der els. Aussprache nicht zwischen stimmlos und stimmhaft (classe, glace [klas]) unterschieden. Im Auslaut werden die Konsonantengruppen pl, pr, tr, tl als Konsonant ⫹ e ⫹ l/r ([liber] libre) ausgesprochen. Weitere Unterschiede sind in der Vokalqualität (z. B. fällt offenes o [c] mit geschlossenem zusammen) und in der Tonhöhe verschiedener Vokale festzustellen. Besonders auffallend ist die starke Akzentuierung der 1. Silbe nach dt. Muster und ein langsamerer Sprechrhythmus. Für die Interferenzen auf
XVII. Regionalsprachgeschichte
syntaktischer Ebene mögen folgende Beispiele stehen: je lui aide (je l’aide ⫺ ich helfe ihm; j’ai pitie´ avec lui (de lui) ⫺ ich habe Mitleid mit ihm; c¸a pleut (il pleut) ⫺ es regnet; tu viens avec? (tu viens avec moi?) ⫺ kommst Du mit? Während der Französischunterricht sich früher stark auf die korrektive Behandlung der Interferenzerscheinungen konzentrierte, versucht man heute (Stoeckle 1982) in der Schule eine spontanere Sprachproduktion zu erreichen, die das häufig spröde erscheinende Frz. von dem künstlichen, gezwungenen Charakter einer reinen Schulsprache befreien soll. In diesem Zusammenhang ist im E. eine verstärkte literarische Tätigkeit in frz. Sprache zu verzeichnen. 6.5. Die deutsche Sprache im Elsaß 6.5.1. Die Stellung der deutschen Sprache Die Maßnahmen der gewaltsamen Rückdeutschung (1940⫺45) erleichterten nach Kriegsende die Verdrängung der dt. Sprache aus der VS und aus dem öffentlichen Bereich, so daß sie ihre soziale Existenz weitgehend eingebüßt hat. In den Sekundarschulen wurde sie zunächst als reine Fremdsprache unterrichtet; erst Ende der 60er Jahre wurden homogene Dialektsprecherklassen eingerichtet und Dialektkenntnisse im Deutschunterricht systematisch berücksichtigt. Der fakultative Deutschunterricht der 50er und 60er Jahre in der VS wurde von Teilen der Lehrerschaft mit ‘nationaler’ und antiklerikaler Argumentation (‘Aufklärung und Vernunft’ versus ‘Reaktion, Religion und Obskurantismus’) abgelehnt. Eine Enqueˆte von 1959 (Europa ethnica 1967) gab Aufschluß über die mangelhafte Durchführung und die schlechten Ergebnisse dieses Unterrichts. Ende der 60er Jahre wurden deshalb Versuche zu freiwilligem Deutschunterricht unternommen, bis schließlich Anfang der 70er Jahre Dt. in den zwei letzten VS-Klassen eingeführt wurde, was 1983/84 79,6 % im UE und 62,8 % im OE der Schüler betraf. Doch volle Stundenzahl, Lehrmaterial und Qualifikation der Lehrer sind nicht immer gewährleistet. Dieser, von den beiden Generalräten finanziell geförderte Unterricht führt nicht selten die Eltern zu einer Entscheidung für Engl. als 1. Fremdsprache in der Sekundarschule, in der Annahme, die aktive Kenntnis der dt. Sprache wäre bereits erreicht. Die Umfrage von 1971 (I.n.s.e.e. 1980) ergibt zwar weiterhin 62,7 % ‘erklärter Deutschkenntnisse’ (75,2 % für els.
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
Haushalte), doch diesen Angaben widersprechen die Schwierigkeiten der Unternehmen, auch im Schriftlichen zweisprachige Arbeitskräfte in allen Stellungen zu finden, wie auch die Unfähigkeit der meisten els., in der BRD oder der Schweiz beschäftigten Arbeitnehmer, in Positionen zu gelangen, die eine schriftliche Beherrschung des Dt. voraussetzen. Deutschkenntnis wird von 92,9 % der Bevölkerung als sehr oder ziemlich nützlich betrachtet, „wenn man im E. wohnt“, in beruflicher Hinsicht von 38,9 % als notwendig oder nützlich eingeschätzt, 84 % sprechen sich für Deutschunterricht in der VS aus. Bei einer möglichen Wahl zwischen Englisch und Dt. in der VS würden sich 55,5 % für Dt., 34,7 % für Englisch entscheiden (I.n.s.e.e. 1980). 6.5.2. Die Besonderheiten der deutschen Sprache im Elsaß Die Verdrängung der dt. Sprache aus den meisten Domänen, ihr literarischer Rückzug in eine idyllisch-konventionelle Heimatdichtung, bevor Schriftsteller wie A. Weckmann oder C. Winter Themen und Formen erneuerten, haben zu ihrer allmählichen Marginalisierung geführt. Die regionale Zeitungssprache bezeichnete der Schweizer Publizist F. R. Allemann als ein „kümmerliches Zwitteridiom (…), ein armselig hilfloses Rudiment aus unbewältigter Grammatik und schiefgeratenem Wortsinn, formlos und scheusälig“ (Allemann 1962, 14). Regionales und veraltetes Wortgut (Ohmt, Trotte, rote Rahnen, Tochtermann, Autler, Jüngling, Knabe, Löschmänner, alsbald, daselbst, künftighin) die Durchsetzung mit frz. Wörtern (besonders im Verwaltungs-, Militär-, Sozial-, Gesundheitsund Schulwesen) sowie zahlreiche Lehnübersetzungen und -bedeutungen, gemischte Zusammensetzungen Adjointposten, Polizeipermanence, Altmaire, Sous-Präfekt, Coiffeurmeister, Occasionsbücher) und eine allgemeine Unsicherheit im Gebrauch der Wörter (z. B. die Verwechslung von Fahrschein und Führerschein, notwendig und nötig) charakterisieren in der Tat das regioniale Dt. des E. (Magenau 1962). Die Untersuchung, die C. Becker-Dombrowski (1981) anhand eines Gesamtkorpus von 168 Seiten Zeitungstext durchgeführt hat, weist 474 Abweichungen vom Schriftdt. auf, die sich auf die Orthographie (2,96 %, z. B. in weiß gekleidet, PrestigeFrage, Schulpersonnal), die Interpunktion (3,16 %, z. B. Anlehnung an die frz. Interpunktion), die Morphologie 5,27 %, z. B.
2799
Transfers des frz. Genus und Einfluß des Els.: der Arbeitsunfall forderte ein Toter; das Ehepaar ließ sich in W. nieder und ihre Ehe …; die Pfarrei wird seine beiden Patrone feiern), die Syntax (20,6 %, z. B. betreffend den Gebrauch reflexiver und nicht reflexiver Verben, des Passivs und der Präpositionalphrase, die Wahl der Konjunktionen, die morphologische Valenz, den Satzbauplan, die Partizipialkonstruktionen), die Lexik (29,32%), die Französismen (13,5 %, z. B. Automobilist, Garagist, Motion (Antrag), Dezisionsfähigkeit (Beschlußfähigkeit), die Semantik und lexikalische Phraseologie (15,82 %, z. B. Lehnübersetzungen (das 3. Alter/le troisie`me aˆge), Lehnbildungen und Lehnschöpfungen) und den Stil (33,97 %) verteilen. Hier wird vor allem unbeholfener veralteter Sprachstil deutlich, der besonders bei den Lokalberichterstattern „von nachlassender Beherrschung der dt. Umgangssprache“ (Becker-Dombrowski 1981, 172) zeugt. Mundartliche Interferenzen werden auf 4,64 % der Abweichungen geschätzt. 6.6. Die elsässische Mundart 6.6.1. Die Stellung des Elsässischen Alter und Wohnort sind entscheidende Faktoren für die Kenntnis des Els. (vgl. Abb. 188.15). Bei der Umfrage von 1979 geben 72 % der befragten Berufstätigen an, häufig oder ziemlich häufig, 28 % selten oder nie Els. am Arbeitsplatz zu sprechen (dazu auch: Denis 1983). Die Beherrschung des Els. wird von 33 % als notwendig, von 29,6 % als nützlich im Beruf bezeichnet. 72,8 % betrachten es als wichtig, daß die Verwaltungsangestellten Els. beherrschen, und 66,6 % befürworten die
Abb. 188.15: Dialekt und Alter (nach Seligmann 1979, 24; die Zahlen in Klammern betreffen die Personen els. Herkunft)
2800 Einführung der Mundart in die Vorschule. Neue Richtlinien der Schulbehörden ermöglichen dem Els. einen bescheidenen Einzug in die Schule, aus welcher es die Sprachreglementierung ⫺ in der Pause, im Schulbus und mit dem Dienstpersonal sollte Frz. gesprochen werden ⫺ verbannt hatte. Die Nichtbeachtung der Sprachvorschriften wurde zwar nicht mehr wie früher mit Bestrafung geahndet, der Dialekt wurde aber seit 1945 im Schulbereich weitgehend nur als Hemmnis, als Unsprache betrachtet. In den letzten Jahren hat er auf verschiedene Ebenen eine Art Rehabilitierung erfahren, deren Tragweite noch nicht abschätzbar ist: In der Vorschule erscheint er in Form von kleinen Gedichten und Zählreimen, in die Sekundarschule ist ein noch sehr vage definiertes Wahlfach ‘Regionale Sprache und Kultur’ eingeführt worden, im Deutschunterricht wird die Dialektgrundlage und in den Lehrwerken die Mundartliteratur berücksichtigt. Diese Entwicklung hat jedoch das Els. nicht völlig von den sozialen Stigmen befreit. Es kann z. B. durchaus als unhöflich empfunden werden, ein Gespräch in der prestigearmen Varietät Dialekt zu beginnen, weil damit implizit eine Rollenzuweisung des Gesprächspartners, seine Einstufung in die Sprecherkategorie ‘des Frz. nicht mächtig’, vorgenommen wird. Was als Ausdrucksversuch der Zugehörigkeit zu einer solidarischen Sprachgemeinschaft beabsichtigt war, kann durchaus als unerwünschtes Eindringen in die Privatsphäre gewertet oder als prestigemindernde soziale Einstufung durch eine Antwort auf frz. abgelehnt werden. Eine nicht repräsentative, jedoch signifikante Befragung der els. Zeitung Le Nouvel Alsacien (1984) ergab zwar, daß nur 11 % der Antwortenden im Dialekt, immerhin 44,5 % in der Geschichte und 26 % in der Lebensart das Hauptunterscheidungsmerkmal des Elsässers im Vergleich zu den übrigen Franzosen sahen, aber für 59 % war Elsässer sein mit Els. sprechen identisch, für 79 % müßte ein Elsässer Els. können, 82 % stellten einen Rückgang der Mundart fest, und 85 % bedauerten diese Entwicklung. Nach der Untersuchung von Ladin (1982, 178 ff.) sehen 88 % der befragten Schüler im Els. ein Element des kulturellen Erbes, daß es sich lohnt weiterzugeben, nur 57 % jedoch im Dialekt einen notwendigen Bestandteil der els. Identität. 44 % der Schüler sind der Auffassung, daß sie den Dialekt weniger gut beherrschen als ihre Eltern (dazu: Veltman 1982, 1983). Mehr als
XVII. Regionalsprachgeschichte
Abb. 188.16: Dialekt und Wohnort, Personen über 15 Jahre (nach I. n. s. e. e. 1980, 142)
50 % vertreten die Ansicht, daß der Übergang vom Els. zum Dt. das Erlernen einer zusätzlichen Sprache bedeutet. Diese empfundene Trennung zwischen Dialekt und Standardsprache und ebenso die prozentual nur geringe Wahrnehmung der Mundartkultur bilden keine besonders zukunftsträchtigen Perspektiven für die Erhaltung des Dialekts. In
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Wunsch der Eltern nach Einführung der Mundart in die Vorschule sind Ergebnisse der Enqueˆte von Cole (1975) zu sehen, in welcher die Frage, bei wem die Hauptverantwortung für die Förderung des Els. liege, gestellt wurde: Addiert man die beiden Zahlen der Antworten ‘Schule’ und ‘Regierung’, so liegt bei allen Altersgruppen die Summe derer, die sich für die staatlichen Instanzen aussprechen, weit über der Zahl der Antworten ‘Eltern’. Was den Dialektgebrauch von Schülern angeht, so lassen sich nach Ladin/Rosenfeld (1979) Minimaldiffusion bei Töchtern leitender Angestellter im Straßburger Stadtraum (5 bis 10 %) und Maximaldiffusion bei Söhnen von Bauern und Arbeitern auf dem Land (80 bis 90 %) gegenüberstellen. Diese Untersuchung erhärtet auch die Annahme, daß Verstädterung und Erweiterung des Dienstleistungssektors, Faktoren, die Mattheier (1980, 142) unter dem Begriff ‘Modernisierung’ zusammenfaßt, zur Verdrängung des Dialekts führen. Die Dimension Wohnort darf jedoch nicht auf die rein statistisch-demographische Größe reduziert werden, denn innerhalb des E. muß die Gesamtentwicklung hinsichtlich des Gebrauchs des Els. ebenfalls nach regionalen Aspekten differenziert werden (Hartweg 1980). 6.6.2. Die Entwicklung des Elsässischen Während die statistisch erfaßbare Zahl nur Auskunft über einen langsamen Rückgang der Dialektsprecher im E. gibt, zeigen die erkennbaren Tendenzen in der Domänenverteilung einen deutlichen Sprachersetzungsprozeß, in welchem der Dialekt im Rahmen einer asymmetrischen Diglossie seine Funktionalität in immer mehr Bereichen einbüßt und durch das Frz. verdrängt wird. Vom Binnendt. isoliert ist das Els. zur dachlosen Mundart ohne sprachliches Hinterland geworden, deren funktionelle Unterlegenheit sie einer, durch keine Kontrollinstanz eingedämmten Flut von Fremdwörtern aussetzt. Frz. spielt häufig die Rolle einer els. Koine, die über die lokalen Dialektvarietäten hinaus für gegenseitige Verständlichkeit sorgt. Die Integration in größere ökonomische Verbände, die Zugehörigkeit zu breiteren kulturellen Interaktionsnetzen, die die kleinräumige Isolierung sprengen, aber auch die wachsende Durchdringung sämtlicher Lebensbereiche mit der Amtssprache und die Verringerung der Sprachkontakte im Dialekt Gleichsprachiger ⫺ aufgrund der größeren Mobili-
2801
tät der Bevölkerung und der wachsenden Zahl des nur frankophonen Teils der els. Bevölkerung ⫺ haben den Dialekt seine frühere Polyfunktionalität und Multidirektionalität verlieren lassen. Durch die frz. Vorschule und den Sprachwechsel der Eltern verliert er das Privileg der zuerst erlernten Sprache, in welcher sich das erste lexikalische Raster bildet. Dadurch entsteht eine Auszehrung, ein Verlust von Ausdrucksfähigkeiten und -dimensionen, der nicht immer durch entsprechende Fertigkeiten kompensiert wird. Die eingeschränkte Kompetenz des Dialektsprechers, die nicht selten als ein dem Dialekt anhaftendes Defizit interpretiert wird, führt dazu, daß diese Sprachvarietät bestimmten Kommunikationsbedürfnissen nicht mehr gerecht werden kann. Der Heteronymieschwund, das Weichen von Bezeichnungen ohne (oder mit verdunkeltem) etymologischen Zusammenhang vor Formen mit großer Verfügbarkeit, die Ersetzung alter oder lokaler Bezeichnungen (Anke, Hübel, ere) durch schriftspracheähnliche (Butter) oder großräumigere Dialektbezeichnungen (Buckel, z’ackere) und die ‘Stadtwörter’ (Bibeleskäs, Galleriewle), die die ländlichen Ausdrücke (Hafekäs, Wurzle) (Beyer 1953⫺56, 59 ff.) verdrängen, führen im Bereich der Lexik zu einer Ausgleichsbewegung, die die Besonderheiten der Reliktgebiete gefährdet, obwohl das Nichtvorhandensein einer dt. und die Dominanz einer nicht-dt. Standardsprache diese Entwicklung verlangsamten. Nach Beyer (1953⫺56, 74 f.) bilden sich drei Typen von ‘Gemeinsprache’ heraus: ein oberels. mit starker alem. Prägung, ein von Straßburg deutlich beeinflußter, durch frk. Besonderheiten gekennzeichnetes niederels. und ein als Bindeglied besonders innovationsfreudiger Typ einer mittleren Zone. Eine Befragung von kompetenten Dialektsprechern (vgl. Hartweg 1983, 1329) führt uns zu der Feststellung von lexikalischer Erosion und Heteronymieschwund, die im Vergleich zum ALEA (Beyer/Matzen 1969, Bothorel-Witz/Philipp/Spindler 1984) und zum DWA, und zwar ungeachtet deren Heteronymenfülle, bei Erwachsenen zu einem Defizit von 12,5 %, bei Jugendlichen von 21,7 % (15,6 % und 30,5 %, wenn man die nicht spontan hervorgebrachten Wörter miteinbezieht) führen. Während bei den Erwachsenen die Alternative ‘bekannt/unbekannt’ dominiert, ist bei den Jugendlichen der Anteil des passiven und damit nicht mehr vermittelbaren Wortschatzes höher. Ganz allgemein sind
2802 die größten Wortschatzlücken in den Sachbereichen ‘Tiere, Pflanzen, Krankheiten, Körperteile, Berufe, Schule und Technik’ festzustellen, im Sachbereich ‘Pflanzen’ (Vergleich mit dem DWA) z. B. ist ein Verlustanteil von respektiv 26,5 % und 46,3 % zu vermelden (passiver Wortschatz gilt als vorhanden), ohne Berücksichtigung des Ersatzes lokaler Bezeichnungen durch großräumige regionale oder standardsprachliche Lexeme, wie z. B. bei den Stichwörtern Rinde, Mohrrübe, Pilz, veredeln und Roggen. Andererseits ist auch der Rückgang von Diminutivformen und ihre Ersetzung durch das vorangestellte Adj. klein zu verzeichnen sowie die Verdrängung von Wörtern wie hurdsle (ein Kind auf dem Rükken tragen) durch umschreibende Sequenzen. Der Entlehnungsprozeß aus dem Frz. wurde nach 1945 mit zunächst noch weitgehender Anpassung der Wörter an das els. phonologische System fortgesetzt (Cre´venatWerner 1993). So kam z. B. bei vielen sachlichen Innovationen (etwa im Bereich des Autos und der elektrischen Haushaltsgeräte) nicht die dt., sondern die frz. Bezeichnung zum Zuge. Später stieg die Zahl der Lehnwörter mit geringer oder fehlender Integration in das phonologische System ins Unermeßliche. Dabei handelt es sich häufig um Augenblicksentlehnungen, die dem lexikalischen Inventar des Sprechers nichts hinzufügen und keiner Bezeichnungsnot entspringen, nicht selten ist ein umgekehrtes Verhältnis von Sprecheralter und Interferenzhäufigkeit festzustellen. Selbst der Grundwortschatz wird von dieser Erscheinung betroffen, obgleich es sich hier häufig um Phänomene auf der Ebene der ‘parole’ handelt, die vom individuellen Verhalten des Sprechers abhängen und die sich nicht immer in der ‘langue’ ablagern. Entlehnungen galten zuweilen als vornehm, da sie kulturelle Anpassung und zumindest eine Teilassimilation dokumentierten, wenn die Sprachfertigkeiten keine rein frz. Sprachpraxis erlaubten. Besonders betroffen sind einige Wortfelder, so z. B. das der Verwandtschaftsbezeichnungen, der Grußund Anredeformeln, der Politik, Behörden, Institutionen, Verwaltungseinrichtungen, des Sozial-, Rechts-, Steuer-, Gesundheits-, Schul-, Eisenbahn-, Post- und Fernmeldewesens, der Wissenschaft, Berufsbezeichnungen, Verkehrsvorschriften, der Anzeigen und Stellenangebote oder der Flora. Bedeutungsverschiebungen sind im Entlehnungsvorgang nicht selten. Zahlreiche Wortbildungen (Kompositionen, Derivationen, Präfigierun-
XVII. Regionalsprachgeschichte
gen), die ein frz. und ein Dialektelement kombinieren, zeugen von der Intensität des Interferenzprozesses. Die phonemisch-phonetische Integration der Interferenzen in das els. System erfolgt kaum noch bei der jüngeren Generation. Die fremden Elemente werden in die morphologische Realisation eingebaut, und nicht selten werden Sätze gebildet, in denen ein mit Dialektprädikatsverb gegründeter Satzplan in den übrigen syntaktischen Positionen mit frz. Lexemen angefüllt wird. Unter dem Druck der lexikalischen Interferenzen ⫺ die vorausgesetzte sprachliche Bikompetenz des Gesprächspartners läßt keine wesentlichen Informationsstörungen entstehen ⫺ erfährt der Dialekt eine Wandlung, bei welcher sein grammatisches System nicht so sehr kontaminiert als vielmehr zerstört wird. Strukturelle Abstände, die zwischen Teilsystemen der zwei konkurrierenden Sprachen bestehen, werden tendenziell durch einen Abbau der morphologischen Kategorien und durch die allmähliche Beseitigung idiomatischer Strukturen im Els. verringert, so daß die Schwelle der Aufnahmebereitschaft immer stärker gesenkt wird. Ersatzformen, z. B. periphrastische Konstrukte, sorgen dafür, daß keine unüberwindbaren Kommunikationhindernisse entstehen. Diese fortschreitende Osmose hat mit der Ausbreitung der frz. Sprachkenntnisse und der Verwendung der Staatssprache in immer zahlreicheren Domänen zu einer Überlagerung des Dialektes geführt, die weit über den Bereich der Fachterminologie hinausgeht und nicht mehr als reine Modeerscheinung gelten kann. Diese Entwicklung mündet in eine Situation der Sprachmischung, die u. a. in den verschiedenen Arten des Code-Switching ihren Ausdruck findet und die trotz zahlreicher Variationen, die von den Gesprächsumständen, den Absichten oder Sprachkenntnissen der Sprecher abhängen, gewisse Regelmäßigkeiten aufweist. Hier sind zu erwähnen: z. B. der Fall des Verkaufsgesprächs zwischen junger Verkäuferin und älterer Kundin mit jeweils symmetrischen mangelnden Fertigkeiten im Els. und Frz., die Situationen, in welchen Zweifel über die Sprachpräferenz des Gesprächspartners bestehen, der Fall, in welchem die Rede satzweise unmittelbar vom Sprecher in die andere Sprache übersetzt wird, die Emphase, wo die frz. Aussage durch eine els. Redewendung oder einen Kraftausdruck unterstrichen wird, das Zitat der Aussage eines Nichtanwesenden, der Gesprächs-
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
partnerwechsel, z. B. in der Familie Els. mit den Großeltern und Frz. mit den Kindern, die Ausfüllung der lexikalischen Lücken und der Versuch, die els. Identität innerhalb einer frz. Rede zu markieren. Das Code-Switching scheint eher ein städtisches Phänomen zu sein und eher der sozialen als der rein instrumentalen Funktion der Sprache bei Gesprächspartnern mit ungleicher Kompetenz in beiden Sprachen zu entsprechen (dazu: GarnerChloros o. J., 20, 21). Obwohl das Phänomen, besonders in kleinbürgerlichen Kreisen, schon früh belegt ist (dazu: Cron 1905, 71⫺ 75), hat es heute als Zeichen der sprachlichen Unsicherheit oder der ‘mehrfachen Teilsprachigkeit’ besonders bei Frauen eine starke Ausdehnung erreicht. Die ständige Praxis der Kodeumschaltung und die von keiner Norminstanz gesteuerte unbegrenzte Mischbarkeit im Wortschatz bewirken bei vielen Sprechern die Fusion zu einem einzigen Repertoire. Diese Mischsprache kann als letzte Stufe der Selbständigkeit vor dem Auflösen des Dialekts in ein anderes Idiom, das über Einheiten mit einem Signifikat und zwei Signifikanten verfügt, betrachtet werden (vgl. Löwe 1890, 269; Hasselmo 1975, 247 ff.; Windisch 1897, 104 und Sˇcˇerba 1925, 12). Der Mischungsgrad läßt sich quantitativ nur schwer bestimmen, da häufig nicht zwischen usuellen und individuellen oder okkasionellen Interferenzen, bei welchen situative und kontextuelle Elemente eine Rolle spielen, zwischen Mischsprache und Mischrede also, entschieden werden kann. Die immer umfangreicher werdenden fremdsprachlichen Kontinua weisen, wie die Tendenz in der Domänenverteilung, auf einen im Gang befindlichen Sprachersetzungsprozeß. 6.6.3. Die Dialektliteratur Neue Formen des Regionalismus haben in den letzten Jahren zu einem gewissen Abbau der negativen Konnotationen des Dialektgebrauchs beigetragen. Der Stellenwert des Els. und damit verbunden das Selbstwertgefühl des Dialektsprechers sind dadurch gestiegen. Die neue els. Literatur, die ‘Deutschtümelei’ oder ‘Blut-und-Boden’-Akzente zurückweist (vgl. Finck 1977, 1978, 1980, 1990, Wackenheim 1993 ff.), hat nicht unwesentlich zum allgemeinen Bewußtwerdungsprozeß beigetragen. Ihr wortgewaltigster Vertreter, A. Weckmann, der sich als ‘Sprachrohr der Mundtoten’ betrachtet, versucht mit dem Einsatz des ‘Dialekts als Waffe’ satirisch-geißelnd, Anpassertum und Nivellierungsten-
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denzen zu entlarven. Gegen jedes Verharren im Mundart-Getto plädiert er für Verwurzelung und Weltoffenheit zugleich und für einen Weg, der „von der Selbstaufgabe zur Konvivialität“ führen soll (Weckmann 1981, 44⫺50). Bei ihm verbinden sich die Selbstbehauptung der els. Besonderheit und der Kampf gegen die Zerstörung der Umwelt auf das Natürlichste. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die Bewegung, die heute die kulturelle Atmosphäre mitbestimmt, nicht nur oder wesentlich von einer dünnen gebildeten Schicht getragen wird, die ohnehin nicht direkt unter der Entfremdung zu leiden hat, da sie über den Schlüssel zur frz. und dt. Kultur verfügt und sich zusätzlich eine dritte ‘regionale’ Kultur aneignen kann. Ob von dieser Bewegung Wirkungen auf den täglichen Sprachgebrauch ausgehen, ist fraglich, selbst beim derzeitigen Erfolg der els. Liedermacher und Protestsänger. Schwierigkeiten tauchen bei der ‘Verschriftlichung’ des Dialekts auf: es stehen sich nicht nur mehrere graphematische Lösungen gegenüber, sondern schwerwiegender ist die Entscheidung bei der Alternative: authentische lokale Mundart oder ‘supralokale’ leichter verständliche Variante des Dialekts. Zu erwähnen ist hier auch der Versuch zweisprachiger Texte (Schittly 1977). Bezeichnend in dieser Hinsicht ist auch das Erscheinen von zwei Mundartgrammatiken (Jung 1984 und Jenny 1984). Der „Aufruf der Dichter, Schriftsteller, Liedermacher und Kulturschaffenden an die els. Gewählten“ (3. 1. 1980) fordert diese dazu auf, „einen offiziellen Status für unsere Regionalsprache in ihren beiden Komponenten zu erwirken: für den Dialekt die gesprochene Sprache und für das Hochdt. seine Schriftsprache“. Für seine Unterzeichner würde „das Verschwinden des Dialekts (…) das Auslöschen unseres kulturellen Erinnerungsvermögens (…) sowie den Zusammenbruch eines der beiden Stützpfeiler der els. Zweisprachigkeit und somit unserer Fähigkeit, uns im europäischen Raum zurechtzufinden“, bedeuten.
7.
Die Entwicklung nach 1980
7.1. Zur Sprecherpopulation Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 1,7 Mill. ergibt eine repräsentative Umfrage nach der Quotenmethode (1998): sprechen regelmäßig. Els. 51 %, gelegentlich 11 %, verstehen aber sprechen nicht 17 %, weder verstehen
2804 noch sprechen 21 %. Die entsprechenden % sind in den Altersgruppen 18⫺24; 22, 15, 24, 39; 25⫺34; 33, 11, 27, 29; 35⫺49: 49, 16, 13, 22; 50⫺64: 67, 8, 13, 12; über 65: 79, 5, 10, 6. Schätzungen von 1995 ergeben 6,5 % (3⫺6 J.) und 14,5 % (6⫺11 J.) Dialektsprecher, was auf eine Verallgemeinerung der familiären Nichtweitergabe des Els. schließen läßt. Bedeutende Schwankungen differenzieren die Sprachpraxis der Erwachsenen (hier: Els. regelmäßig, 1998) nach Schulausbildung (Volksschule: 72 %, Hochschule: 27 %), Wohnort (Dorf: 65 %, über 2000: 39 %), Beruf (Angestellte: 49 %, Führungspers.: 26 %). Bei einer Umfrage von September 2001 (Population: 77 % im E. geboren, 63 % mit zwei dialektophonen Eltern, 9 % mit einem dialektophonen Elternteil, 28 % Nicht-Dialektophonen) sind 64 % der Ansicht, daß der Gebrauch des Els. zurückgeht, 2 %, daß er steigt und 34 %, daß er stabil bleibt. 34 % behaupten, sehr oft els. zu sprechen, 15 % ziemlich oft, 12 % fast nie. 12 % behaupten, els. zu verstehen aber nicht zu sprechen. Die entsprechenden Zahlen einer vergleichbaren Umfrage von 1990 ⫺ zwischen den zwei Volkszählungen von 1990 und 1999 gab es 122 000 Zuwanderer im E. ⫺ sind: 40,4 %; 20,5 %; 9,8 %, 14,6 %; 14,6 %. Sie zeigen eine bedeutenden Rückgang der aktiven Mundartsprecher (60,5 %⫺49 %) und ein Ansteigen der rein Frankophonen (14,6 %⫺27 %) (Rosenblatt 1995, Bonnot 1995, Denis/Veltman 1989, Harnisch 1996, Lösch 1997, Bister-Broosen 1998, Saisons d’Alsace 1996, Hartweg 1988b, 1992). 7.2. Sprachkontakte Elsässisch-FranzösischStandarddeutsch Konformitätsideologie, die stark monoglossisch ausgeprägte, normbetonte, variantenfeindliche frz. Sprachtradition, die im E. kein anerkanntes Regionalfrz. als Umgangssprache sich entfalten ließ, führen zu einem Sprachwertsystem, das häufig zu Sprachunsicherheit führt, da das Muster der frz. Sprachhaltung auf die drei vorhandenen Idiome projiziert wird. Die Interferenz der Diachronie der politisch-militärischen dt.-frz. Antagonismen mit dem synchronischen Konflikt in der Sprachenhierarchie wird weiterhin instrumentalisiert, um ein funktionales Nebeneinander von Els. und Standarddt. zu erschweren und ihre Verwandtschaft zu verwischen. Die nacheinander als Dt., Elsässerdt. und heute als Els. bezeichnete Mundart, die bis ins 20. Jh. in übergreifende dt. Sprachräume eingegliedert war, besteht nur noch infolge
XVII. Regionalsprachgeschichte
der Dachlosigkeit und des mangelnden Sprachkontinuums zum Dt. auf der grundmundartlichen Ebene. Als prestigearme Varietät verleitet sie permanent zur sprachlichen Unterwerfung und leidet überdies unter der Übertragung des frz. Musters ‘richtig/falsch’, das wichtiger wird als die eigentliche Kommunikationskompetenz. Das ohne diastratische Skala von homogenetischen Varietäten existierende Dt. hat weitgehend den Status einer erlernten Fremdsprache, wobei standarddt.-els. Interferenzerscheinungen zu einer gewissen Einschränkung des Status der Dachlosigkeit führen können. Bei grenzüberschreitenden Arbeitspendlern im N/NW des E. scheint diese Situation die Mundartpraxis zu stabilisieren (insges. 70 000); in Richtung Schweiz dagegen führt sie häufig zu Frz.gebrauch, der als positives distinktives Merkmal gewertet wird (Petit 1997; Bister-Broosen 1998). 7.3. Domänenverteilung 7.3.1. Im Bereich der Mündlichkeit Die sprachliche Unterwerfungshaltung, der ein Unbehagen in der eigenen Mundart zugrunde liegt, manifestiert sich sowohl in der Befürchtung einer prestigemindernden soziokulturellen Einstufung wie im Willen der Zugehörigkeit zu einer integrierten, angepaßten Sozialkategorie. Der Mundart werden ⫺ neben dem Muster der frz. Sprachhaltung ⫺ auch unterschwellig häufig Kriterien wie ‘Echtheit, Reinheit’ angelegt, die Els. als statisches, unmodernes Idiom erscheinen lassen und zusätzlich zu Defiziteinschätzung und zögerlichem Gebrauch führen können. Bei der Umfrage von September 2001 meinen 68 %, daß Els.kompetenz im Beruf von Vorteil ist (64 % bei Landwirten und leitenden Angestellten, 84 % bei Angestellten im mittleren Bereich, 55 % bei Arbeitern). Nur 15,5 % der Befragten geben an, Els. an ihre Kinder weiterzugeben (dazu noch 13 % ‘ein wenig’). Die Weitergabequote von 21 % der 35⫺ 49jährigen fällt auf 12,5 % bei den 18⫺ 34jährigen. Das Arbeitermilieu hat die höchste Quote, die gegen Null tendiert, wenn nur ein Elternteil els. spricht. Die Beschleunigung der Nicht-Weitergabe in der Familie verläuft parallel zur fortschreitenden ‘Privatisierung’ des Mundartgebrauchs: 98 % in der Familie, 88 % mit Freunden, 48 % im Berufsleben. Im regionalen Rundfunk/Fernsehen ist Els. an Wochentagen auf wenige Minuten geschrumpft, mit Ausnahme der Radio France
188. Entwicklung des Verhältnisses von Mundart, dt. und frz. Standardsprache im Elsaß
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Alsace Mettelwelle, die auch deutschsprachige Nachrichten bietet. Dt. Sender behalten vorwiegend ältere Hörer/Zuschauer vor allem im Bereich der Unterhaltung (Musik, Mundartbühne) und Sportsendungen. Die els. Vereins- und Amateurbühne erfreut sich großer Beliebtheit. Dt. hält sich, wenn auch abnehmend (besonders im protestantischen) Gottesdienst, wo auch Els.liturgie erprobt wird. Diese Praxis führt allerdings zu Alterssegregation in den Gemeinden.
wähnen. Schwierigkeiten bei der Lehrerausbildung ⫺ ein Spezialinstitut ist in Guebwiller eingerichtet worden ⫺, die negative Auswirkung einer Polemik, die mit dem Argument der ‘Regermanisierung’ des E. operiert sowie die offene Frage des Platzes des Els. erschweren jedoch die Ausdehnung dieser Unterrichtsformen. Els.kurse werden an den Volkshochschulen und auf Vereinsbasis (z. B. Culture et bilinguisme d’Alsace et de Moselle/ Rene´ Schickele-Gesellschaft) angeboten.
7.3.2. Im Bereich der Schriftlichkeit Die fast uneingeschränkte Frz.dominanz erlaubt nur bescheidene els./dt. Nischen, so die zweisprachige (els./frz.) Straßenbeschilderung und das Überleben der zweisprachigen Presseorgane, vor allem im religiös-kirchlichen Bereich (L’Ami du peuple/Der Volksfreund, Le Messager) und bei den zwei Tageszeitungen: die zweisprachigen Ausgaben betragen bei den Dernie`res Nouvelles d’Alsace 1980: 28,7 %, 1984: 23,4 %; 1990: 17,8 %, 1995: 13,5 %, bei L’Alsace 1984: 17,5 %, 1992: ca. 9 %, 1995: 7,8 %.
7.5. Entwicklungen im kulturellen Bereich Die in den 70er und 80er Jahren sehr aktive und grenzüberschreitende Protestsänger- und Liedermacherszene, die zu einem gewissen Abbau der negativen Konnotation des Els.gebrauchs und zur fruchtbaren Verbindung im Kampf gegen die Zerstörung der natürlichen und kulturellen Umwelt beigetragen hat, überlebt mit Rene´ Egles, Roland Engel, Sylvie Reff, im Festival Summerlied und mit Roger Siffer, inzwischen Betreiber einer Kleinkunstbühne. Der große Kabarettist Germain Muller ist ohne Nachfolger geblieben. Andre´ Weckmann, Adrien Finck und Conrad Winter arbeiten weiter in der Perspektive einer ‘Triphonie’, d. h. mit Anwendung der drei vorhandenen Idiome. Claude Vige´e hat mit Schwa`rzi sengessle fla`ckere e´m we´nd dem Els. ein gewaltiges Denkmal gesetzt. Die Mundartbühne bleibt sehr lebendig, krankt aber an einem veralteten, meist schwankartigen Repertoire. Erneuerungsbemühungen mit historisierenden Schauspielen und regionalgeschichtlichem Stoff und vor allem Bearbeitungen großer Autoren (Shakespeare, Molie`re, Goldoni und zeitgenössische Theaterautoren wie B. M. Kolte`s, Th. Bernhard, F. X. Kroetz) und neuerdings ein an Beckett und Ionesco orientiertes Stück (Pflatsch von J. Schmittbiel) suchen Auswege aus dieser Situation. Das The´atre National de Strasbourg (früher Come´die de l’Est) hat sich mit der Aufführung von Übersetzungen deutschsprachiger Autoren (z. B. Dürrenmatt) verdient gemacht, aber erst in den 90er Jahren deutschsprachige Gastspiele bzw. Koproduktionen (mit Übertiteln) in signifikantem Umfang gewagt. 2000 wurde dort eine dramatisierte Bearbeitung von Els.texten von G. Muller (D’r Contades Mensch) aufgeführt. Der dt.-frz. Kultursender ARTE mit Sitz in Straßburg könnte eine stark ausbaufähige Wirkung haben: der 4-teilige Fernsehfilm Les
7.4. Deutsch und Elsässisch in der Schule Die Verhinderungsstrategie von Lehrergewerkschaften und die nur schwach ausgebildete Entwicklung und Anwendung von Kontrastivmethoden führen zu einer äußerst bescheidenen Nutzung des noch vorhandenen Mundartsubstrats (Bothorel-Huck 2001). Mit der abnehmenden Wahl von Dt. als 1. Fremdsprache erfolgt eine weitere Banalisierung der Sprachenlage. Die amtliche Anerkennung von Dt. und Els. als die zwei Varianten einer Regionalsprache Frankreichs bleibt weiterhin umstritten und im Schulbereich nicht einklagbar, zumal Frankreich 1999 die europäische Charta der Regional- oder Minderheitssprachen zwar unterschrieben, aber wegen Widerspruch des Verfassungsrats nicht ratifiziert hat. Als historisch bedeutsamer Schritt kann allerdings der Anfang der 90er Jahre zunächst im privaten (ABCM/Zweisprachigkeit), dann im öffentlichen Schulwesen mit starker Unterstützung der Regionalkörperschaften eingeführte paritäre Unterricht (13 Stunden frz., 13 Stunden dt.) gelten, der auch durch ein Abkommen mit dem Unterrichtsministerium gefördert wird. Diese Unterrichtsform wird 2001 von ca. 10 000 Schülern (unter Einschluß der Klassen mit Dt. als Unterrichtssprache in einigen Fächern) wahrgenommen. Hier ist auch das Wirken des Regionalamtes für die Zweisprachigkeit zu er-
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XVII. Regionalsprachgeschichte
deux Mathilde (dt. und frz. Fassung) bot allerdings ein verzerrtes Bild der Sprachsituation mit minimalem Anteil des Els.
8.
Ausblick
Die das E. charakterisierende asymmetrische Diglossie verbindet zwei Sprachen miteinander, deren frühere komplementäre Verteilung durch eine Konkurrenz in allen Domänen ersetzt wird. Der Funktionsverlust des Dialekts, die Einschränkung seines räumlichen und thematischen Radius und das Zurückgehen seines Öffentlichkeitsgrades führen dazu, daß er für viele Sprecher nur noch in das standardsprachliche Kommunikationsnetz eingebettete Restfunktionen erfüllt. Die besonders deutliche Auszehrung der Lexik, die durch die Abkoppelung von der zur ‘Fremdsprache’ ⫺ wenn auch mit privilegiertem Status ⫺ gewordenen entsprechenden Schriftsprache bewirkt hat, und die Verkümmerung des morphologischen Bestandes sind als Zeichen eines Sprachabbaus zu werten. Die infolgedessen reduzierte Kompetenz des Dialektsprechers wird als Defizit des Dialekts gewertet, der den Kommunikationsanforderungen nicht mehr gerecht wird. Auch leichte Veränderungen in der Struktur des Sprachwertsystems verhindern nicht, daß in vielen Familien das Frz. in der Spracherlernungsphase an Boden gewinnt. Die sprachliche Unsicherheit führt zu einer gewissen ‘Schizoglossie’ (Haugen 1966, 280) und kann letztlich mit dem ‘language suicide’ (Denison 1977) enden, falls die Sprachloyalität keine Abwehrmechanismen entwickelt, die den Akkulturationsprozeß bremsen (vgl. Philipps 1980). Ein gewisser Abbau der Konformitätsideologie, neue Initiativen im Medienbereich (z. B. im öffentlichen und ‘freien’ Rundfunk) und eine verstärkte und differenzierte Textproduktion in der Mundart sowie Neuerungen im schulischen Bereich wirken gegen das Gefühl der ‘Heimatlosigkeit in der Sprache’ (vgl. Schischkoff 1952⫺1953, 65 f.), vermögen jedoch nicht, die zahlreichen Fälle der ‘doppelten Halbsprachigkeit’ (vgl. Hansega˚rd 1968) zu beheben.
9.
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2810
XVII. Regionalsprachgeschichte
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189. Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert 1. 2.
15. 16. 17.
Abgrenzungen. Schwerpunkte Von der germanischen Besiedlung bis zum Aufkommen althochdeutschen Schrifttums Althochdeutsches Schrifttum Frühmittelhochdeutsche Dichtung. Frühe wissenschaftliche Prosa Dichtersprache 1170⫺1300 Rechtstexte im 13.⫺15. Jahrhundert Namen als Zeugnis spätmittelalterlicher Sprachgeschichte Geistliches Prosaschrifttum im 14./15. Jahrhundert Versliteratur 1300⫺1450 Vokabularien als Zeugnis schulischen Wortgebrauchs im 14./15. Jahrhundert Sprachschichten 1350⫺1450 Schreiboffizinen im 14./15. Jahrhundert Literaten der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts Neue Medien. Schreib- und Druckersprache in Heidelberg und Straßburg um 1500 Zum 16.⫺20. Jahrhundert Zusammenfassung Literatur (in Auswahl)
1.
Abgrenzungen. Schwerpunkte
3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.
Geographisch ist das Oberrheingebiet (i. f. Orh., orh. = Oberrhein[isch]), die Ebene von Basel bis Bingen mit ihren Zweigbuchten und Randgebirgen, eine der geschlossensten Landschaften Mitteleuropas. Für den Historiker F. Staab (1975, XI) beginnt das Mittelrheingebiet aber schon etwa bei Worms, für die Sprachwissenschaftler seit Joh. Andreas Schmeller sogar schon an der Grenze zwischen md. und obd. Sprachraum; z. B. erstreckt sich der ‘Mittelrheinische Sprachatlas’ bis zur Südgrenze von Rheinland-Pfalz. Maurer 1942 führte ‘orh.’ als Terminus für die neben der ‘schwäb.’ und der ‘südalem.’ dritte Sprachlandschaft des Gesamtalem. ein, bei Steger/Jakob 1983 ‘Orh.-Alem.’ genannt. Manchmal wird ⫺ sachlich schwer begründbar ⫺
auch das südalem. Hochrhein- und Bodenseegebiet dem Orh. zugeteilt (de Boor 1976).
Der Raum von Basel bis Bingen partizipiert hinsichtlich der dialektalen Substrate an typologisch unterschiedlichen Spracharealen: mit seinem rhfrk. Teil (pfälz., hess.) am Md., im übrigen am Obd., und hier mit seinem sfrk. Teil am Nobd., mit seinem alem. Teil am Wobd. Dieser Artikel nimmt, mit Ausblicken nach Norden, v. a. den obd. Teil in den Blick. Hier lassen sich aufgrund günstiger Quellenund Forschungslage einige Aspekte hervorheben, die für Sprachgeschichte und ihre Rekonstruktion exemplarisch sein könnten. Zeitlich konzentriert sich der Artikel auf das Mittelalter (s. u. 15, Anfang), konzeptionell mehr auf die Anführung von Einzelbeispielen als auf eine (noch verfrühte) Synthese von Ergebnissen, methodisch auf die Analyse separater Quellentypen und ihre Aussagemöglichkeiten insbesondere in diatopischer und diastratischer Hinsicht. Thematisch treten dabei folgende Aspekte hervor, unter denen der Orh. besondere Beachtung verdient: (a) Die rom.-germ. Sprachkontinuität im Frühmittelalter; (b) die Randlage des Orh. als Kontaktzone zur Romania sowie in ihrem Bezug zum gesamtdt. Sprachraum; (c) die Ersetzung lat. durch dt. Schriftlichkeit; (d) die Erfassung von Schichten gesprochener und geschriebener Sprache im Spätmittelalter; (e) der Ausgliederungsprozeß des Orh.-Alem. als einer eigenen Dialekt- und Schreiblandschaft innerhalb des Wobd. und ihre Untergliederung in Einzelregionen; (f) die Interferenz geographisch-verkehrsmäßiger, politisch-territorialer und sprachlicher Räume mit jeweils unterschiedlichen Radien und ihre Auswirkung auf die Sprachgeschichte.
189. Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert
2.
Von der germanischen Besiedlung bis zum Aufkommen althochdeutschen Schrifttums
Nach dem Fall des röm. Limes um 260/70 besetzten die gentes Alamannorum die agri decumates bis an den Rhein. Vorgerm. Flußnamen blieben in der Rheinebene überwiegend erhalten (Greule 1973). Am Stand der dt. Lautverschiebung lassen sich unterschiedliche Phasen der Integration vorgerm. Toponyme ins Alem., etwa diesseits und jenseits des Rheins, ermessen (Pfrattelen/Pratteln/ Bradels < pradella; Boesch 1981, 393 ff.). Unverschobene Fälle in früh germ. besiedelten Gebieten lassen auf Romaneninseln schließen, etwa Ladenburg (Lopo-, Lobodunum) am unteren Neckar. Die Massierung solcher Fälle, die oft auch Merkmale vulgär-lat. und frührom. Lautentwicklungen tragen (Gütsch ‘Kuppe’ < gall. cucutium; Gutt- s. Karte 189.1; Rotsch < *rocca), in Mikrotoponymie
und Appellativwortschatz des mittleren Schwarzwaldes führte zur Entdeckung der ‘Schwarzwaldromania’, deren gallorom. Bevölkerung vielleicht erst im 9./10. Jh. durch das alem. Superstrat absorbiert worden ist (Kleiber/Pfister 1992). Die Ethnogenese der Alemannen ist noch ungeklärt. Es ist wohl mit einem über längere Zeit sich erstreckenden Eindringen und Zusammenwachsen unterschiedlicher Personengruppen vorwiegend elbgermanischer Herkunft im ehemals römischen Gebiet zu rechnen; das Alem. könnte als Ausgleichsprodukt ihrer Dialekte entstanden sein. Besonders nachdem die Alemannen seit 537 in das Merowingerreich einbezogen waren, „konnten sich die von den Franken gezogenen Grenzen allmählich zu Stammes-, Kultur- und Sprachgrenzen entwickeln“ (Geuenich 1997, 92). Offen ist, wie weit das Elsaß während der Agonie des römischen Reichs im 5. Jh. von den Alemannen nur beherrscht oder auch besiedelt wurde, und ob dort seit dem 6. Jh. ein älteres alem. Element von den Franken zurückgedrängt wurde. In diesem Sinne hat Boesch 1981, 245 ff. das auffallende Vorherrschen linksrheinischer -heim-Orte gegenüber rechtsrheinischem -ingen erklärt; im 6./7. Jh. sei alem. -ingen im Elsaß flächendeckend zu -heim „umbenannt“ worden. Nach Geuenich 1997, 88 f. ist jedoch das heutige Nebeneinander der beiden Ortsnamentypen nicht ethnisch, sondern entwicklungsgeschichtlich begründet. ⫺ Zur Frage alem. Relikte in der Pfalz vgl. Post 1990, 55 f. In Unterelsaß, Nord- und Mittelbaden sind in inselhafter Lage „ingväonische“ Relikte konzentriert, die Entsprechungen erst wieder im nordwestgerm. Bereich finden (delben ‘graben’, pfülster ‘Husten’; Toponyme mit klei ‘Lehm’, tung ‘flache Erhebung’, fenn ‘Sumpf’; s. Art. 51, Karte 51.2). Sie sind am ehesten durch Einsiedlung aus den merowingischen Kerngebieten an Niederrhein und Maas im 6.⫺8. Jh. zu erklären (Kleiber 1995).
3.
Karte 189.1: Reliktgebiete von lat.-rom. gutta / gott- (n. Kleiber/Pfister 1992, 97)
2811
Althochdeutsches Schrifttum
Unter dem Aspekt des Sprachkontaktes verdienen die in romana und teudisca lingua (rhfrk.) 842 geschworenen Straßburger Eide Beachtung. Murbach, Straßburg. Weißenburg, Speyer, Worms und Lorsch zählen zu den wichtigsten der insgesamt ca. 25 Zentren ahd. Schrift-
2812 tums (Art. 71, Abb. 71.1), doch bestehen bei vielen Quellen Unsicherheiten bezüglich Entstehungs-/Schreibort und -zeit, Vorlageneinfluß etc. Exemplarisch wird dies durch die Einschätzung der alem.-frk. Mischsprache in ‘Christus und die Samariterin’ illustriert, insofern dafür alle Modelle bemüht wurden: Entstehung im alem.-frk. Übergangsgebiet am Orh., frk. Einfärbung eines alem. Originals oder umgekehrt, Beteiligung mehrerer Schreiber, gemischte Reichenauer Schreibsprache. Reiches lokalisiertes Material und damit einen Fixpunkt orh. Schreibsprache bietet Kloster Weißenburg, u. a. durch das Wirken Otfrids, des ersten namentlich und biographisch faßbaren ahd. Autors. Um 863/71 dichtet er sein Evangelienbuch. Als Sprachtheoretiker begründet er dabei die Notwendigkeit buchfähiger Bibeldichtung in frenkisga zu´ngun mit dem politisch-religiösen Rang des Frankenreichs; er entwirft erstmals Regeln zur orthographischen, grammatischen und poetischen Bewältigung volksprachlicher barbaries. Praktisch verwirklicht er entscheidend den Übergang vom Stabreim zum Endreim, dessen Notwendigkeit er aus der Struktur des Dt. herleitet; er schafft eine Dichtersprache, die germ. Traditionen ebenso integriert, wie sie volkssprachliche Möglichkeiten im Anschluß an die lat. Sprache und Poetik um grammatisch ungewöhnliche Lizenzen erweitert; er profiliert und korrigiert eigenhändig die Orthographie einer srhfrk. Schreibsprache, wodurch manchmal auch eine phonematische Interpretation möglich wird, etwa hinsichtlich der Lenisierung von germ. Kr⬎ / gr / oder der els. Palatalisierung von ahd. uo ⬎ / üe / (Kleiber 2000); er entwickelt für sein Evangelienbuch ein System von Vortragssignalen zur Überwindung der Distanz zwischen schriftlicher und mündlicher Sprache. Für Murbach als bedeutendstem orh.alem. Skriptorium lassen sich weniger Quellen sichern als früher angenommen (vgl. 2VL 1, 12; 272; 299). Gegenüber den auf der Reichenau im 1. Viertel des 9. Jhs. geschriebenen alem. Murbacher Hymnen Nr. I⫺XXI sind die wenig später in Murbach in die Hs. eingetragenen Hymnen XXII⫺XXVI und Glossen mit frk. Graphien durchsetzt ( statt , statt ). Dies scheint typisch für Murbach; teils wirken sich hierin die Herkunftsbereiche der Quellen, teils die Zusammensetzung des Konvents, teils frk.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Schreibgewohnheit (auch aus Gebieten westlich der Vogesen) aus. Mit Personennamenlisten des 8.⫺10. Jhs., die aus verschiedenen Klöstern in Verbrüderungsbücher zusammengetragen wurden, hat Sonderegger 1965 ein dichtes Quellennetz erstellt und auszuwerten begonnen. Karte 189.2 zeigt z. B., daß am Orh. bis Klingenmünster und Hornbach germ. k- vorwiegend geschrieben wird, möglicherweise über Schreibkonventionen hinaus Reflex einer mundartlichen Verschiebung wenigstens bis zur Affrikata in diesem Raum. Die -Insel im Oberelsaß ließe sich mit Schreibeinflüssen aus dem westlichen Nachbargebiet erklären.
ß
Karte 189.2: Germ k- nach Verbrüderungsbüchern im 9.⫺11. Jh. (n. Sonderegger 1965, 173)
Wohl in Lorsch (oder Worms) entstand im 11. Jh. die onomasiologisch angelegte Enzyklopädie ‘Summarium Heinrici’. Mit über 4000 dt. Einträgen ist sie das größte Glossenwerk des dt. Mittelalters, ein Sammelbecken auch orh. Wortschatzes und entstehender dt. Fachlexik, zugleich deren weit ausstrahlendes Verbreitungsmedium im Elementarunterricht (Wirkung z. B. auf Hildegard von Bingen, Herrad von Hohenburg, spätmittelalterliche Vokabularien).
189. Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert
4.
Frühmittelhochdeutsche Dichtung. Frühe wissenschaftliche Prosa
Setzt man als ideale Basis regionalsprachlicher Untersuchungen Entstehung und Überlieferung der Quellen im selben Raume voraus, ist die Lage bei den frühmhd. poetischen Texten am Orh. dürftig. Hier erfüllen am ehesten die ‘Colmarer Fragmente’ diese Voraussetzung. In ihnen ist ⫺ für Colmar? ⫺ die Konkurrenz südlicher und nördlicher Schreib- (p-/b-; starcher/-k-) und Sprachformen (oldir/aber; Reim gan:stan/gen:sten) zu beobachten. Mit dem relativ frei aus dem Latein übersetzten ‘Ahd. Physiologus’ bietet der Orh. ein frühes Zeugnis naturkundlicher Prosa; jedenfalls wird die Hs. aus der 2. Hälfte des 11. Jhs. im Alem. „nahe der südrfrk. Grenze“ lokalisiert (2VL 7, 628), aufgrund frk. Spuren im sonst alem. Text (die freilich auch andere Gründe haben könnten). Weitreichende Bedeutung für die Entwicklung dt. Fachprosa und Terminologie käme dem Orh. zu, wenn die erste dt. Enzyklopädie, der ‘Lucidarius’, statt im Umkreis Heinrichs des Löwen tatsächlich um 1190 im Elsaß entstanden wäre (D. Gottschall/G. Steer: Der dt. ‘L.’, Bd. 1, Tübingen 1994, 114*; vgl. DVLG 69, 1995, 663 f.). Medizinische Fachsprache wird im E. 12./A. 13. Jh. souverän am Orh. übersetzten ‘Speyrer Kräuterbuch’ faßbar (2VL 9, 90 f.). Dagegen ist das ‘St. Trudperter Hohelied’, ältestes Beispiel religiöser Kunstprosa, dem Orh. abzusprechen. Es entstand in Admont.
5.
Dichtersprache 1170⫺1300
Unter den Staufern wird der Südwesten eine der führenden Kulturlandschaften. An der Ausbildung höfischer Dichtung und der in dieser entwickelten und verbreiteten „höfischen Literatursprache“ sind orh. Autoren maßgeblich beteiligt; unter den Lyrikern Friedrich von Hausen (bei Mannheim) am Hofe Barbarossas mit seinen orh. „Schülern“; später Reinmar von Hagenau. Durch sie erfolgt die Aufnahme prov. Minnelyrik und die Prägung entspr. dt. Ausdrucksmittel (fin amors J hohiu minne erstmals bei Friedrich v. H.); unter den Epikern Hartmann von Aue ⫺ vorausgesetzt orh. Herkunft und Mäzene (Zähringer) ⫺ und Gottfried von Straßburg. Hartmann bemüht sich im Laufe seines Œuvres zusehends, zu einer überregional akzeptablen Sprache zu gelangen. Er meidet Reime, die andernorts unrein klingen könnten
2813
(z. B. auf alem. hein ‘heim’, oder auf kam, wegen bair. kom), reduziert den Gebrauch von Varianten (anfangs im Reim gewendet und gewant, später nur gewant), bevorzugt Wörter mit größerer Reichweite (oder statt alem. ald). Seine literarische Ausgleichssprache verhilft Regionalem zu überregionaler Geltung (Zusammenfall von spätahd. Diphthong iu, seinem Umlaut iü und dem Umlaut von uˆ) wie Fremdem zum Eingang in die Region (gewesen neben gesıˆn; huˆsvrouwe ‘Gattin’ statt alem. wirtinne). Wieweit sich die von diesen Autoren beförderten frz. Lehnwörter und -prägungen dem Anschluß an frz. Vorlagen oder an mündliche Hofsprache, europ. Adelskommunikation oder geographischer Nachbarschaft verdanken, ist im einzelnen schwer auszumachen. Noch nach 1192 dichtete freilich der els. Verfasser des ‘Reinhart Fuchs’ in altertümlichregionaler Sprache, evtl. um sich auch sprachlich antihöfisch-parodistisch zu profilieren (cehinzic ‘hundert’, sot ‘Brunnen’, Reim gehandeloˆt:noˆt). Der Hartmann von Aue verpflichtete Konrad Fleck (Elsaß? Basel?) gestattet sich um 1220 keine orh. Eigenheiten, wohl aber dann spätere Autoren, u. a. in Hinblick auf die Interessen städtischer statt höfischer Kreise, so der seit ca. 1258 in Straßburg und Basel tätige Konrad von Würzburg (reben ‘Weinberg’, zıˆstac ‘Dienstag’; Müller 1979, 173). Die handschriftliche Überlieferung läuft dem Sprachanliegen der klassischen Autoren insofern zuwider, als sie u. a. im graphematisch-phonologischen, aber auch im morphologischen Bereich schon im binnenalem. Raum wieder stark divergiert. So hebt sich die ‘Heidelberger Liederhandschrift A’ Ende i 13. Jh. durch els. Merkmale (har ‘her’; truren ‘trauern’) stark von den andern beiden alem. Haupthandschriften ab (Regendanz 1912). Das aus Lachmanns Führungshandschriften gewonnene „Normalmhd.“ zeigt nach Wolf 1989, S. 108 keine orh., sondern eine „auf dem Schwäbischen basierende“ Prägung.
6.
Rechtstexte im 13.⫺15. Jahrhundert
6.1. Als eine der ersten Regionen geht der Orh. seit der Mitte des 13. Jhs. zu volkssprachlicher Verschriftlichung von Rechtsgeschäften über. Straßburg kann mit über 70 dt. Urkunden vor 1265 ⫺ neben Köln mit 36 Stücken ⫺ als Ursprungsort einer dt. Urkundensprache gelten. Anlaß war die Auseinan-
2814 dersetzung einer auf Selbständigkeit bedachten Bürgerschaft mit dem bischöflichen Stadtherrn. (Aus solchen Spannungen ist es auch zu erklären, dass die Inschriften in den südlichen Seitenschiff-Fenstern des Sraßburger Münsters zu den frühesten in dt. Sprache zählen, um 1326/45). Bald darauf zählen auch Freiburg, Basel und einige kleinere orh. Skriptorien zu den führenden Orten dt. Urkundenwesens. Als Grund kommen weniger evtl. Anregungen aus Frankreich in Betracht als eine auf immer weitere Personenkreise ausgreifende Schriftlichkeit und ein (neues) Sicherheitsbedürfnis im Rechtsverkehr (vgl. 6.2). Die Straßburger Urkunden benutzten von Anfang an einen eigenen schreiber- und institutionsübergreifenden Formulartyp, der sich von anderen els. und z. B. auch vom Freiburger Typ unterscheidet, und zeigen Systematisierungsansätze im Bereich der Graphie (z. B. Zirkumflex bei Langvokal), die weitgehend unabhängig vom dialektalen Substrat zu sehen sind (Schulze 1997). Inneralem. hebt sich im 13. Jh. bei den Urkunden auf graphematischer und morphologischer Ebene der Orh. als Zentrum einer „Westgruppe“, die bis tief in die Westschweiz ausstrahlt, von einer „Ostgruppe“ im Schwäb. und (östl.) Südalem. ab. Die Westgruppe schreibt im Anschluß an in literarischen Handschriften entwickelten Usus weniger archaisierend, indem sie z. B. „volle“ Endsilben meidet, selbst bei den fem. Abstrakta auf -i (Boesch 1946). Dabei tritt das Elsaß als eigene Region hervor, etwa durch Ausgleich der Pluralformen von alle oder durch einheitlichen Dentalplural der Verben. Für das 14./15. Jh. bringen diachrone Sondierungen anhand lokaler Urkundenbücher, soweit auf Erstbelege Verlaß ist, schreibsprachliche Überschichtungen von Norden her zutage (Vordringen der Entrundung von mhd. ö, ü, öu, Maurer 1965, 28). Auf lexikalischer Ebene ließen sich an Einzelfällen beobachten: kontinuierliche Geltung frk.-alem. Gegensätze (pferrer/lütpriester); relativ abrupte Umstellungen (z. B. von wirtinne zu eˆlich wirtinne ‘Gattin’ 1310/1330 in Straßburg und Freiburg, in Basel dagegen allmählich zwischen 1287/1380; Kunze 1985); Aufkommen von Neuerungen (Tochtermann für Eidam, Müller 1979). 6.2. Seit 1280 wechselt der Raum vom Orh. bis zur Schweiz als erster auch in der grundherrschaftlichen Güterverwaltung über
XVII. Regionalsprachgeschichte
mischsprachliche lat.-dt. Urbare ganz zum Dt. über, das ab Mitte 14. Jh. die Regel ist. Zusammen mit der Schweiz entwickelt der Orh. auch die ältesten dt. Weistümer. Gründe sind das Vorausgehen dt. Urkunden, ein hoher Anteil von Laien und Frauenklöstern unter den Urbarausstellern sowie eine durch das Weisungsrecht verbesserte Rechtsstellung der Hintersassen. Die Renovationen des St. Blasianischen Amtes Schönau sind conscripte in vulgo propter rusticos clericis infestos (HSS I, S. 13⫺20).
Im HSS wird der Schreibgebrauch von 1280⫺1430 in 114 südwestdt. Urbar-Skriptorien, darunter 55 am Orh. von Worms bis Basel, im Hinblick auf diatopisch variierende Phänomene dokumentiert. In den „Normalschreibungen“ lassen sich übergreifende Konventionen erstmals in aller Deutlichkeit voneinander abgrenzen, in den „Sonderschreibungen“ werden deren Überschneidungszonen und Veränderungstendenzen, aber auch mundartl. Reflexe faßbar. (a) Der frk.-alem. Gegensatz zeigt sich auf ca. 30 der 218 Karten: die nhd. Diphthongierung (noch spärlich) nördl. Worms-Heidelberg, scharf die graphematische Grenze au:ou für mhd. ou südl. Weissenburg-Speyer-Heidelberg, andere Oppositionen in einer breiten Zone um Selz und Murg (geˆn:gaˆn; -mm-:-mb-; Pl. ecker:ackere etc.). ⫺ (b) Staffelbildungen südl. dieser Zone zeigen das Vorrücken von nördlichem Usus nach Süden, besonders im Elsaß (tief:tu´f), teils mit, teils ohne Sundgau (ca. 20 Karten), mit je wechselnden Skriptorien als Vorposten. ⫺ (c) Am häufigsten (über 50 Karten) ist die Konstellation, daß Elsaß und rechter Orh. ab Ortenau mit Nordschwarzwald in frk.(-md.), Breisgau, Markgräflerland und Südschwarzwald hingegen in alem.(-obd.) (s. Karte 189.3) oder südalem. Zusammenhänge eingebunden erscheinen (K. 87), teils auf schreib- (z. B. Zirkumflexgebrauch K. 88; 89 ff.), teils auf sprechsprachlicher Basis (stück:stuck K. 33; der:daz pfad, die:der furt Kunze 1976; Art. 51, Karte 51.6). ⫺ (d) In einigen Fällen treten das Elsaß (Palatalisierung K. 78; 81; qu- statt tw-/zw- K. 172) oder der gesamte mittlere Orh. als Innovations-(Verdumpfung mhd. aˆ > o, K. 41), aber auch als Reliktgebiet hervor (keine Synkope von schwachtonigem e, K. 103 f.). ⫺ (e) Lexikalisch lassen sich in den Urbaren vorwiegend Maß- und topographische Bezeichnungen fassen, durch Lokalisierung am jeweiligen Besitz- (nicht am Schreib-)ort präzise bis hin zur Abgrenzung von Mikroarealen (Kleiber 1979). Neben der Bestätigung der obigen Befunde (a) bis (d) (exemplarisch ebd. K. 4) tritt hier der alem. Orh., u. a. durch wirtschaftlichen Konnex bedingt, besonders deutlich auch als in sich geschlossener Sprachraum hervor, in Verbreitung neuer (Sester, ebd.) wie in Bewahrung alter Wörter (Rebstück; Ablehnung von Heller, HSS K. 4).
189. Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert
2815
schichtlich schon krank, vetter, sonst siech, etter; Müller 1953). Institutionell konventionalisiertes Sprachhandeln beschreibt Grolimund 1992 anhand der Basler Ratsmissiven des 15. Jhs.
7.
Karte 189.3: Normalschreibungen für wgerm. gg in Urbaren 1280⫺1430 (n. HSS K. 192)
Schmidt-Wiegand (zuletzt 1995) zeigte anhand von Weistümern des 13.⫺16. Jhs., wie und warum einzelne Termini am Orh. eindrangen (Morgen statt alem. Juchart als semantisch allgemeiner verwendbares Wort), aber auch von hier weit ausstrahlten (südalem. Steuer setzte sich im Zusammenhang der Ablösung von Natural- durch Geldabgaben als modernes Wort über orh. Städte im 14. Jh. bis zum Main, im 17. Jh. allgemein durch). Ansonsten scheint die Ausstrahlung orh. Neuerungen in dieser Zeit gering. Bezeichnend dafür ist, daß die frz. Lehnübersetzung Großvater/-mutter, am Orh. seit dem 15. Jh. verbreitet, nicht von hier aus ins Nhd. einging (Müller 1979; ähnlich Gründonnerstag). 6.3. Die Basler Stadtsprache ist anhand von Gerichtsprotokollen von 1420⫺1644 erforscht, die nicht nur Einblick in die Gerichtsund Kanzleisprache gewähren, sondern, durch wörtliche Aufnahme von Zeugenaussagen, auch in die gesprochene Sprache, mit soziologischen Differenzierungen (15. Jh. ober-
Namen als Zeugnis spätmittelalterlicher Sprachgeschichte
Auf der Basis des HSS-Materials sind auch einige onomastische Befunde um 1280⫺1430 diatopisch dokumentiert, so die Nordgrenze des Rufnamen-Suffixes -i (Ruodi) oder der alem. Neuerung -heim ⬎ -hein in Ortsnamen, die Südgrenze der von Norden eingedrungenen r-Metathese (Art. 51, Karte 51.5) usw. Hier, auf dialektnaher Ebene, tritt besonders scharf die Schranke an der Nordgrenze von Sundgau und Breisgau hervor, nicht nur als Rückzugsgrenze des Alem. vor frk. Einflüssen, sondern deutlich auch als Vorstoßgrenze südalem. Neuerungen (moos für bruoch, Kunze 1976). Östlicher Einfluß auf den Orh. zeigt sich dialektal erstmals eindeutig bei der Umstrukturierung des Wortfelds nieder/unter, die hier in Ortsnamen ab 14. Jh. auf den rechten, ab 15. Jh. auf den linken Orh. ausgreift (Löffler 1970). ⫺ Anhaltspunkte zur Datierung entsprechender Sprachbewegungen liefern anhand von Belegreihen über mehrere Jh. hinweg diachron angelegte FlurnamenUntersuchungen an einzelnen Orten (Roos 1966 mit Bibliogr.). Beispiele: Frk. rode drängt alem. rüti seit dem 10. Jh. rheinaufwärts, ab 14./15. Jh. wieder rückgängig. Frk. burn gelangt spätestens im 12. Jh. ins Elsaß, von da im 13. Jh. in die Ortenau, ab 15. Jh. rückgängig. Gutturalisierung nd>ng rechtsrh. in Ortenau und Breisgau im 14. Jh., südl. davon, über Basel vermittelt, im 15. Jh., später teilweise rückgängig. Vorübergehende Palatalisierung von mhd. uˆ, ou auch im Markgräflerland 15./16. Jh.; ebd. Ablösung von Bühl durch Hübel 18. Jh. usw.
Eine Auswertung von Familiennamen kann mit diachron-lokalen Sondierungen angegangen werden (Dziuba 1966), aber auch von der erst neuerdings exakt faßbaren räumlichen Verteilung heutiger Namen aus; an ihnen ist der spätmittelalterliche Sprachstand quasi wie an Fossilien abzulesen. Aus Karte 189.4 läßt sich z. B. folgern, daß (1) mhd. küefer für den Böttcher nur im Saargebiet, in der Pfalz und am Orh. galt und erst nachmittelalterlich von hier aus weiter expandierte; (2) daß der Stammvokal bei binder/bender im Mittelalter exakt umgekehrt lautete als in den heu-
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XVII. Regionalsprachgeschichte
Kief(f)er, -üBinder Bender Min: 0.010 % Max: 0.703 % der Einwohner pro 3-stellige PLZ-Bezirke
Koblenz Frankfurt
Mainz
Trier
Würzburg
Heidelb.
Kaiserslautern
Heilbronn Karlsr. Dép. Moselle Stuttg.
Reutlingen
Dép. Bas Rhin
Ulm
Dép. Haut Rhin
Freiburg
Verhältnisse in:
Schweiz
Karte 189.4: Orh. Familiennamen aus dem Böttcher-Beruf, Stand 1996 (n. Kunze 2000, 196)
189. Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert
tigen Dialekten, nämlich rhfrk. und sfrk. -e-, schwäb. aber -i-, daß also die Senkung von mhd. i vor Nasal damals im Schwäb. noch nicht notiert wurde, aber im Rhfrk. und Südfrk., wo sie dann später rückgängig gemacht wurde. So läßt sich aus den Familiennamen z. B. auch postulieren, daß neues Geige(r) mit altem Fiedle(r) seit dem 12. Jh. vom Orh. ausgehend zu konkurrieren begann (Kunze, dtv 2000, 134 f.) Der Orh. zählt, wohl auch aufgrund der frz. Nachbarschaft, bei der Überflügelung der germ. Erb- durch christl. Rufnamen (Johannes setzt sich am Orh. schon seit 1300, östl. des Schwarzwalds erst seit ca. 1380 an die Spitze) und wie beim Übergang zur Zweinamigkeit (in Urkunden orh. Städte spätestens Mitte 13. Jh. die Regel) zu den führenden Regionen (Kunze, dtv 2000, 44, 60).
8.
Geistliches Prosaschrifttum im 14./15. Jahrhundert
Seit dem 14. Jh. wird das Textsortenspektrum in breitem Maße durch geistliche Prosa bereichert. Der Orh. tritt hervor: (1) Als ein Zentrum der Mystik. Hier wird die aus mystischer Erfahrung entwickelte neue Redeweise, Bildlich- und Begrifflichkeit vor allem durch den Eckhart-Schüler Joh. Tauler und die Gottesfreunde (Rulman Merswin) in breiteren Kreisen zum sprachlichen Allgemeingut; auch nl. (Jan van Ruusbroec) und nd. Mystik wird intensiv adaptiert (das Werk Mechthilds von Magdeburg ist nur in orh. Umsetzung von 1345 in Basler Schreibsprache erhalten). ⫺ (2) Als Ausgangs- und Verdichtungsraum einer auf dt. mündig gewordenen Scholastik (z. B. Nikolaus von Straßburg). ⫺ (3) Durch vielfältige geistliche Gebrauchsprosa, in der die Sprache des religiösen Alltags faßbar wird (z. B. ‘Els. Predigten’; ‘St. Georgener Prediger’; die ‘Schwarzwälder Predigten’ entstanden aber im östl. Alem.), besonders durch den enormen Schreibbetrieb der vielen reformierten orh. Dominikanerinnenklöster (erstes dt. Reformkloster: Schönensteinbach/Els. 1397). Möglicherweise trug die frühe Lösung vom Latein am Orh. (vgl. o. 4 und 6) auch dazu bei, daß sich manche Übersetzer geistlicher Literatur schon in der 1. Hälfte des 14. Jhs. gegenüber ihren Vorlagen in Sprache und Übersetzungsstil souveräner verhalten als anderswo (vgl. 2 VL 4, 450⫺63 zur ‘Legenda aurea’; 10, 453 f. zu den ‘Alemannischen Vitas patrum’).
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Für die Laut-, Formen- und Wortgeschichte ist neben Lautgrammatiken (z. B. Berthold 1925 für Texte des Elsäßers Joh. Kreutzer; Schelb 1972 für eine Traktaths. aus dem Breisgau) die vergleichende Auswertung aller Handschriften zweier Erbauungstexte besonders aufschlußreich (‘Die 24 Alten’, Basel um 1383, Besch 1967; ‘Els. Legenda aurea’, Straßburg um 1350, Williams 1990), weil diese beim Abschreiben in Auseinandersetzung mit der Vorlage jeweils dem örtlichen Gebrauch angepaßt wurden und somit den Geltungsbereich und den Grad der Akzeptanz bzw. des Änderungsbedürfnisses sprachlicher Angebote reflektieren. Besch 1967 nimmt den ganzen dt. Sprachraum in den Blick. Dabei tritt am Orh. neben dem md. (rhfrk.) ⫺ obd. (alem.) Gegensatz (ca. 10 von 100 Karten, z. B. u:uo, K. 2, ein siecher:ein sieche, K. 87) auch eine schreibsprachliche Auflösung dieses Gegensatzes hervor, indem sich der Orh. ganz oder überwiegend ⫺ öfter ohne Freiburg ⫺ dem Rfrk. anschließt (ca. 25 Karten, z. B. leren ‘lernen’, K. 51; die zit statt daz zit, K. 75). Dagegen dringen Neuerungen aus dem obd. Osten noch nicht über den Schwarzwald vor (z. B. schl- für sl-, K. 17 ff.; Apokope mit entspr. Folgen für das Flexionssystem, K. 79). Nicht nur Offenheit im Norden, sondern auch Abschluß nach Osten lösen den alem. Orh. aus dem Verband mit dem Gesamtalem. (und -obd.) heraus.
Noch detaillierter vermögen Williams 1990, Kunze 1989 und 1999 anhand der ‘Els. Legenda aurea’ aufgrund dichterer Quellenlage, kompletter Varianten-Registrierung und verfeinerter Interpretationsmethoden die Ausstrahlung, Reichweite, Schichtung, Fluktuation und Veränderung orh. Wortschatzes zu erfassen und zu begründen. (a) Die Wortwahl des Straßburger Ausgangstextes wird in Worms, Mainz und Frankfurt bei ca. 60 Wörtern abgelehnt, im Schwäb. und Südalem. bei je ca. 30, im Bair. bei ca. 50 Wörtern. Die am Orh. im 15. Jh. isolierten Wörter lassen sich teils als alte Regionalismen einordnen (s. Karte 189.5 matschrecke; vgl. Art. 51, Karte 51.4), teils als Relikte einst größerer Wortareale (ebd. ketschen). ⫺ (b) Wenn der Ausgangstext sowohl literatursprachlichüberregionale als auch dialektale Varianten bietet, für ‘Wiese’ z. B. wise und matte, werden erstere im Zuge schriftsprachlichen Ausgleichs weitgehend akzeptiert, nicht selten aber auch vom dialektalen Substrat wieder aufgesogen, in Abschriften für den (klösterlichen) Hausgebrauch naturgemäß häufiger als bei kommerziellen Vervielfältigungen etwa der Lauber-Werkstatt (s. u. 12). ⫺ (c) Es treten Differenzen zwischen Kloster- und Alltagssprache zutage, z. B. wird maget ‘virgo’ konsequent und ausschließlich in Frauenklöstern durch juncvrouwe ersetzt. ⫺ (d) Veraltendes Wortgut wird durch neues
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XVII. Regionalsprachgeschichte
Karte 189.5: Wortaustausch in den Handschriften der ‘Elsäßischen Legenda aurea’ (n. Kunze 1998, z. T. Originalkarte)
abgelöst, z. B. orh. lichnam ‘lebender und toter Körper’ wird in 62 % der 299 Belegstellen durch lip ersetzt, houbet durch kopf, v. a. bei Tieren, aber erst in 2 % der 289 Stellen und nur nördl. von Straßburg. Karte 189.5 zeigt, wie die vom Nieder- und Mittelrhein (besonders in geistlicher Prosa) eingedrungene Konjunktion mer ‘sondern’ im 15. Jh. überall herrscht, aber ihre Ablösung durch sonder(n) nun auf demselben Wege beginnt.
9.
Versliteratur 1300⫺1450
Symptomatisch für dichtersprachlichen Regionalismus ist der Fall der ‘Rappoltsteiner Parzival’-Kompilation durch die Straßburger Bürger C. Wisse und Ph. Colin 1331⫺36. In dem unter ihrer Aufsicht entstandenen Originalmanuskript konvergieren die Teile aus Wolframs ‘Parzival’ und die von Wisse-Colin verfaßten Teile weitgehend in els. Zielsprache. Soweit die Handschriften überhaupt sichere Rückschlüsse erlauben (‘Mai und Beaflor’ galt z. B. aufgrund der Schreibung als bair., hat aber orh. Wortschatz, 2VL 5, 1165; Müller 1979, 133), scheint auch sonst keiner der weltlichen und geistlichen Vers-Autoren auf überregionale sprachliche Reichweite bedacht zu sein.
Beispiele, 14. Jh.: ‘Peter von Staufenberg’, els.; Meister Altswert, els.; ‘Der saelden hort’, wohl Basel, mit südalem. Reimen (erkecken:sprechen) und Wörtern (höustapfel). ⫺ 15. Jh.: Konrad Dangkrotzheim, Hagenau; Heinrich Laufenberg, Freiburg (küng ‘König’, gseit ‘gesagt’, ku´schi ‘Keuschheit’, Reim schar:har ‘her’).
10. Vokabularien als Zeugnis schulischen Wortgebrauchs im 14./15. Jahrhundert Wie das ‘Summarium Heinrici’ (s. o. 3) nehmen auch die spätmittelalterlichen zweisprachigen Vokabularien ihren Ausgang im Südwesten. Auf den nach Wortfeldern organisierten ‘Vocabularius optimus’ von Joh. Kotmann, Luzern um 1328, folgt in Straßburg um 1362 durch Fritsche Closener das erste lat.-dt. Wörterbuch, welches Allgemeinwortschatz alphabetisch organisiert. Jakob Twinger von Königshofen baut es in 3 Redaktionen bis 1408 weiter aus (Kirchert/Klein 1995). Closeners Werk verdankt sich pädagogischen Intentionen im Rahmen eines selbstbewußten volkssprachlichen Programms städtischer Bildungspolitik, wie auch seine Straßburger
189. Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert
Chronik, welche die volkssprachliche Stadtchronistik eröffnet. Die Situation in Straßburg scheint in Rücksicht auf orh. HeteronymenVielfalt Mehrfach-Interpretamente (buttirum: anke oder buttir; insercio: zwigunge oder imphunge oder pflanczunge) eher erfordert zu haben als im Südalem., wie ein Vergleich mit dem ‘Voc. Optimus’ zeigt. Dieser Vergleich bringt neben alem. Gemeinsamkeiten auch viele orh.-südalem. Differenzen zutage (passer: spetzelin / spar; talpa: mulverf / scher). Orh.-schwäb. Oppositionen treten zutage, indem Abschriften jenseits des Schwarzwaldes das von Closener / Twinger Angebotene häufig ersetzen (sinister: lirkes ⬎ links; subula: ale ⬎ sule). Diastratische Aspekte dürfte ein Vergleich mit den ca. 10 orh. Handschriften des gesamtdt. verbreiteten ‘Vocabularius Ex quo’ eröffnen, in denen von außen kommendes Wortgut am Orh. relativ ungestört abgeschrieben, wenn auch vielleicht nicht benutzt wird; ein Weg, auf dem sich künftige Diglossie über die Schulen anbahnt.
11. Sprachschichten 1350⫺1450 Die günstige Quellenlage und -erschließung am Orh. ermöglicht es, durch Kontrastierung diverser Quellentypen verschiedene Sprachschichten zu separieren. Während sich aus den Urbaren der mundartliche Rückzug der p-Affrikata von ursprünglich Worms-Weinheim linksrh. im 14. Jh. bis Speyer, rechtsrh. im 16. Jh. bis Heidelberg erschließen läßt, beginnt sich umgekehrt in Urkunden und literarischen Quellen schon des 13. Jhs. die Tendenz zu restlosem Gebrauch von als schreibsprachlicher Vorgang weit nach Norden hin durchzusetzen (Kleiber 1968). für germ. k erscheint in Urbaren im 14. Jh. noch bis Straßburg, während in anderen Texten die Varianz von schon bis Basel einschließlich zugunsten von ausgeglichen ist. Auf morphematischer Ebene tritt z. B. bei der Ablösung von ze ⫹ Gerundium durch zuo ⫹ Infinitiv in Urbaren eine klare nord-südl. Stufung, in anderen Texten, z. B. Legendaren, eher eine Verwirrungsphase zutage, aus der heraus sich schriftsprachlich ein genereller Trend zum Infinitiv anbahnt. Lexikalisch stimmen die Textsorten (a) manchmal selbst bei kleinen Arealen, wohl aufgrund der Mundart, überein (z. B. Urbare und Legendare bei jensıˆt:jenhalp:enent). Andererseits lassen sich voneinander abheben:
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(b) eine meist konservative (Rechts-)Lexik in Urkunden und verwaltungssprachlichen Teilen der Urbare, (c) eine allgemeine Verkehrslexik in einheimischen Vokabularien, geistlichen und profanen Erzähltexten, (d) Nachbarsprachliches, das am ehesten in von auswärts kommenden Vokabularien toleriert, manchmal auch von Autoren anderer Texte aufgenommen, in deren weiterer Überlieferung zwar von manchen Abschreibern wieder eliminiert wird, sich aber schließlich doch schriftsprachlich durchsetzt. Beispiele: uxor: (b) (eˆlichiu) wirtinne / (a, c) eˆlichez wıˆp; mıˆn, dıˆn, sıˆn wıˆp; gemahel / (d) huˆsvrouwe. ⫺ parrochus: (a, b, c) lu´tpriester / (d) pfarrer. ⫺ pratum: (a, b) matte / (c) auch wise / (d) wise. ⫺ sed: (b) ald(er) / (c, d) oder (Kunze 1985). Bei Vokabularien wie Erbauungstexten zeigt sich der Orh. im 15. Jh. als nehmende, nicht als gebende Region. Die Quote lexikalischer Änderungen scheint ⫺ was aber noch zu untersuchen wäre ⫺ beim Export orh. Texte (Closener/Twinger, ‘Els. Legenda aurea’) ungleich höher als beim Import vergleichbarer Texte aus andern Regionen (‘Voc. Ex quo’; ‘Der Heiligen Leben’).
12. Schreiboffizinen im 14./15. Jahrhundert Die erste Offizin zur Vervielfältigung dt. Literatur betrieb der 1333/37 urkundende Straßburger Stadtschreiber Meister Hesse, doch sind Produkte seiner Werkstatt nicht gesichert (2VL 3, 1196 f.). Der sog. ‘Els. (Straßburger) Werkstatt von 1418’ werden 12⫺16 illustrierte Handschriften mhd. Epik und Gebrauchsliteratur zugeschrieben. Vielleicht von hier angeregt, betrieb etwa 1427⫺67 Diebolt Lauber in Hagenau die damals größte dt. Offizin. In einer Anzeige bot er 46 belletristische, historische, medizinische, juristische, naturkundliche und religiöse Titel an, alle illustriert (hu´bsch gemolt), wovon ca. 70 Handschriften erhalten sind. Hier konvergieren Texte unterschiedlichster zeitlicher, räumlicher und gattungsmäßiger Provenienz bei allen (mindestens 5) Schreibern in einem orh.alem., mit rhfrk. Zügen durchmischten Schriftdialekt (lag / lach; vf / of, geburt / gebort). Die Sprache dieser Offizinen verdiente genauere Untersuchung, weil hier Schrifttum unter prinzipiell anderer, sprachgeschichtlich folgenreicher Perspektive reproduziert wurde als bisher: nicht mehr in Hinblick auf die
2820 sprachliche Kompetenz bekannter Empfänger, sondern auf Vorrat für noch unbekannte Abnehmer.
13. Literaten der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts Die auf den Heidelberger Hof, also auf eine bestimmte Institution und soziale Gruppe hin orientierte Literatur wurde neuerdings zum Gegenstand einiger Fallstudien (Müller 1994, von Bloh 1996). Nl. Romane wurden für den Hof ins Rhfrk. umgesetzt und dieses als Sprache der oberlentschen grannycz (‘oberländischen Grenze’) empfunden, also wohl des md.obd. Übergangsgebietes, eine für literatursprachlichen Regionalismus aufschlußreiche Selbsteinschätzung (‘Malagis’, Vers 22997). Verse und Reime werden zugunsten der Bewahrung von Wort- und Satzgestalt der Vorlagen vernachlässigt. Hier zeigt sich wohl ein neuer Respekt vor diesen sprachlichen Ebenen der Vorlagen, aber auch ein Interesse an der Präsentation extravaganter höfischer Literatursprache (überlange Parataxen; frz. und nl. Fremdwörter). ⫺ Bei der Konzeption pragmatischen Schrifttums (Natur-, Heil-, Kriegskunde) treten Stadien schriftlicher Fachkommunikation in ihrer Entwicklung vor Augen. In Heidelberg, Straßburg, Schlettstadt, Basel wirkten einige der bedeutendsten frühen Humanisten (Sodalitas litteraria Rhenana: Rud. Agricola, Seb. Brant, Joh. von Dalberg, Joh. Reuchlin, Jak. Wimpfeling u. a.). Mit den Humanisten (s. Art. 120) begann eine neue Phase lat.-dt. Zweisprachigkeit. Auf volkssprachlicher Ebene übte Brants ‘Narrenschiff’ (1494) enorme stilprägende Wirkung aus. Zum Zweck der Erneuerung christlichen Lebensverständnisses in allen Ständen verbindet Brant gelehrtes Wissen mit volkstümlicher Sprache und Bildlichkeit und mit dem Medium des Bildes selbst. Er verhilft subliterarischen Redeelementen zu literarischer Dignität und wertet das Dt., gerade auch in seiner bodenständigen Varietät (lingua nostra vernacula theutonica, ea quam cum lacte in Alsatia … suximus: Geiler von Kayersberg, Hess 1971, 100) zum Vehikel von Wahrheit auf: die Narrheit der Welt erkennt sich in ihrer eigenen Sprachwirklichkeit. In der ältesten Gesamtübersetzung des Terenz (Straßburg 1499) verschränken sich die gegenläufigen Tendenzen zur Aufnahme gemeiner red des Volkes und zur Nachahmung des Lateins, die das Dt. gebrochen erscheinen läßt (Socin 1888, 182). In
XVII. Regionalsprachgeschichte Freiburg führt der ‘Spiegel der wahren Rhetoric’ des Stadtschreibers und Druckers Friedrich Riedrer 1493 Humanistengelehrsamkeit mit orh. Kanzleidt. zusammen (2VL 8, 70 f.). Ulrich Zasius berücksichtigt in seinem epochemachenden Stadtrecht von Freiburg bewußt auch die Sprache einfacher Leute (Schiewe 1996, 166).
Unter solchen Aspekten rechtfertigt und praktiziert Geiler von Kaysersberg auch den descensus des Doktors und Theologen in volksnahe Sprache. Doch hält er es für gut, Kindern auch nüw gewonheit oberlendischen Sprechens beizubringen (wo ist mein vater statt wa ist der ette, Socin 1888, 188). Thomas Murner verharrt in all seinen Texten bei der angestammten Mundart (Philipp 1968). Es ist orh. Selbstbewußtsein, das den sog. Orh. Revolutionär um 1500 veranlaßt, ausgehend von der Etymologie alman = ‘alle Mann’, das Dt. (almantz sproch) zur Ursprache der Menschheit zu erklären (Klausmann u. a. 1997, 17).
14. Neue Medien. Schreib- und Druckersprache in Heidelberg und Straßburg um 1500 Bei der Entwicklung neuer Medien spielt der Orh. eine führende Rolle. Hier wurde um 1435 die Technik des Kupferstiches entwikkelt. Von Anfang an ist der Orh. die Region mit den meisten Druckoffizinen: Straßburg 1460, Basel 1468, Speyer 1471, Marienthal/ Hagenau 1474, Heidelberg 1484, Zweibrücken 1487, Hagenau 1489, Kirchheim 1490, Freiburg 1491, Offenburg 1496, Pforzheim 1500 (vgl. Art. 121). In Straßburg druckten Joh. Mentelin 1466 die erste und Hch. Eggestein 1470 die zweite dt. Bibel. In der 1. Hälfte des 16. Jhs. ist Straßburg mit 40 Offizinen in Dtld. führend. In der Druckersprache gelangen, deutlich vom handschriftlichen Betrieb abgehoben, Ausgleichstendenzen in einheimischen wie auswärtigen Werken in hoher Frequenz vor Ort. Unter ihrem Einfluß macht sich ab etwa 1535 die Einwirkung des „Gemeinen Teutsch“ dann auch in den Kanzleien zunehmend bemerkbar. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, an einzelnen Orten handschriftliche und gedruckte Texte sprachlich zu vergleichen. In Heidelberg steht der ‘Spiegel des Regiments’ (1497) des in kurpfälzischem Dienst stehenden Johann von Morschheim in Reimen und Schreibweise der Mundart nahe, wie die anderen Schriften des Hofes (s. o. 13).
189. Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert
Auch die kurpfälzische Kanzlei, die Korrespondenz der Kurfürsten und der Humanisten um Joh. Dalberg verhalten sich, wenigstens im Falle der nhd. Diphthongierung, weitgehend regional-konservativ, während der erste Drucker, Heinrich Knoblochzer (ab 1488), seine schon in Straßburg praktizierte moderne Orthographie einführt (Heidelberger 1979). Die vielfältige Verbreitung der Werke Geilers von Kayersberg ermöglicht exemplarische Einsicht in die damalige Straßburger Stadtsprache (Bauer 1988). Orthographisch folgen die Abschriften der Werke in Klöstern bis Mitte 16. Jh. der dialektbestimmten heimischen Schreibtradition; so auch die Briefe Geilers und der meisten Privat- und Magistratspersonen. Variationsbreite kennzeichnet dagegen die amtlichen Abschriften offizieller Geiler-Texte, etwa der ‘21 Artikel’ von 1501, die teils regionalem Usus folgen, der noch lange in den Kanzleien lebt, teils überregionalen Einfluß verraten. Die ältesten GeilerDrucke, das ‘Totenbüchlein’, sind bei M. Schott 1480/81 traditionell-heimisch, bei H. Knoblochzer 1482 weitgehend modern orientiert (nhd. Diphthonge; Vermeidung von o für mhd. aˆ). Zu Beginn des 16. Jh. zeitigen dann die Interferenzen zwischen angestammtem und fremdem Usus große Vielfalt bei den verschiedenen Offizinen und selbst innerhalb desselben Produktes einer Offizin. So beträgt z. B. der Anteil der Diphthonge für mhd. ˆı, uˆ, iu in Joh. Knoblouchs Drucken von Geilers ‘Text der Passion’ 1506 1,5 %, 1507 89,7 %, 1509 76,6 %. Sein Druck von Geilers ‘Granatapfel’ 1511 kann mit einer strikten Trennung von <ei / ai> für mhd. ˆı/ei als Beispiel für die Adaption des „Gemeinen Teutsch“ stehen.
15. Zum 16.⫺20. Jahrhundert Für die Neuzeit s. Art. 187 (frk.), 188 (Elsaß), 190 (Basel). Bezüglich des restlichen Orh.-Gebiets verdient Erwähnung: (1) Am Beispiel Freiburg, mit vergleichendem Blick auf Basel, hat Schiewe 1996 erstmals detailliert den Wechsel des vielgliedrigen Kommunikationsgefüges einer Universität vom Latein zum Dt. dargestellt. Rechtliche Beziehungen mit der Stadt und dem Landesherrn werden aus pragmatischen Rücksichten von Anfang an (Freiburg 1457; Basel 1460) auf dt. geregelt. Schon seit dem 16. Jh. hat das Dt. in der internen Verwaltung, bei juristischen Gutach-
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ten, in der akademischen Gerichtsbarkeit ect. hohen Anteil. In Basel werden lange vor Thomasius (Leipzig 1687) dt. Vorlesungen gehalten, von Thomas Murner 1518/19, Joh. Oekolampad 1523, Stephan Stör 1524, Paracelsus 1527. Die reformatorisch gesinnten Theologen wollten auch Laien aus der Stadt das Verständnis ermöglichen (Oekolampad las vor wol III hundert burgeren); Paracelsus wollte die lat. transportierte traditionelle Medizin mit volkssprachlichem Alltags- und Erfahrungswissen verbinden. Doch blieben diese dt. Vorlesungen nur eine kurze Episode. Endgültig wurden dt. Kollegs in Freiburg 1784 (Erlaß Josefs II.) und Basel 1818 von seiten des Staats durchgesetzt. Der Sprachwechsel beruhte in erster Linie auf einem Wechsel der Inhalte und Denkstile, verbunden mit einem Funktionswandel der Universität von einer autonomen, zunftmäßigen Verwaltungsstätte überkommenen gelehrten Wissens zu einer gesamtgesellschaftlich nützlichen staatlichen Bildungsanstalt. (2) Der Forschungsstand am Orh. begünstigt den Vergleich historischer Schreib- und rezenter Dialektareale. So läßt sich z. B. die Ausdehnungsfläche des dt. Entrundungsgebietes am südl. Orh. vom 15. Jh. bis heute präzis kartieren (Art. 51, Karte 51.6). In der Lexik lassen sich teils die exakte Erhaltung mittelalterlicher Wortareale nachweisen (Kelter/Trotte, exemplarisch für orh. Areale einer frk. und einer. alem. Winzerlexik), teils deren partielle Verschiebung (Rückzug von Juchart nach Süden), teils deren völlige Ersetzung (‘Heuschrecke’, Klausmann u. a. 1997, K. 13/14.). Die massivste Schreibsprachschranke am gesamten Orh. verläuft im Spätmittelalter am Nordrand des Breisgaus (s.o. 6.2.c). Im rezenten Dialekt verliert sie zusehends ihre areal-scheidende Relevanz zugunsten einer fortschreitenden Integration des südl. in den gesamten Orh. (Schrambke 1994). (3) Metasprachliche Äußerungen zur Sprache am Orh. variieren stark in Terminologie und Abgrenzungen. Am konsequentesten begegnet elsässisch, seit 1369 belegbar (Le´vy 1929, I, 157), durch Autoren wie Joh. Geiler oder Joh. Pauli von rechtsrh. anschließendem schwäb., durch J. Fischart auch von nördl. rheinisch und südl. schweizerisch abgesetzt (DWB II, 410). 1593 teilt der Freiburger Sebastian Helber (‘Teutsches Syllabierbüchlein’, 24) die orh. Druckersprachen aufgrund der Diphthongbehandlung in das Mitter-Teütsche (inklusive Straßburg) und das Höchst-Reinische auf (Basel, Konstanz, Chur). Joh. Leonhard Frisch unterteilt 1741 die alem. Quellen seines ‘Teutsch=lat. WËrter=Buch’ in schwÁbische, schweitzerische und ober=rheinische (f. 3v). Durch Joh. Peter Hebel verbreitet sich für den „Dialekt von den Alpen herab zu beiden Seiten des Oberrheins zwischen den Vogesen und dem Schwarzwald“ die Bezeichnung alem. (Klausmann u. a. 1997, 29). Selbsteinschätzungen heutiger Dialektsprecher behelfen sich außerhalb des Elsaß i. a. im Süden mit alem. oder badisch, im Norden mit badisch bzw. pfälzisch (Ruoff 1992, K. 87).
2822 (4) Unter (3) wurden durch vielfach wechselnde territoriale Zersplitterung des Orh. mitbedingte Unsicherheiten sprachlicher Identitätsfindung deutlich, die zu einem schwächeren regionalsprachlichen Selbstbewußtsein führten als etwa im Schwäb. oder Schweizerdt., besonders in den Städten. Vgl. Heinrich Schreiber 1825: „Die gebildeten Stände bemühen sich, der reinen hochdt. oder Schriftsprache auch im täglichen Leben möglichst nahe zu kommen. Freiburg unterscheidet sich hierin zu seinem Vortheil von den nahen Schweizerstädten“ (Freiburg i. Br. mit seinen Umgebungen, 133). Die ‘Allemannischen Gedichte’ Joh. Peter Hebels von 1803, von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung dt. Mundartliteratur, sind im überfremdeten Karlsruhe nicht zuletzt aus dem Bewußtsein vom schwindenden Verkehrswert des Dialekts entstanden (Kühn 1978).
16. Zusammenfassung Gegensätzliche Faktoren bestimmen die orh. Sprachgeschichte: geographisch-verkehrsmäßige Geschlossenheit und territoriale Zersplitterung, sprachliche Randlage und epochenweise zentrale kulturelle Bedeutung, Teilhabe an unterschiedlichen Dialektarealen und intensive Binnenvernetzung im literarischen Austausch. Die Nachbarschaft zur Romania wirkte sich u. a. bei der Vermittlung von Lehngut, bei der Aufnahme von Impulsen zur Personennamengeschichte und zur Erweiterung des literarischen Gattungsfeldes aus. Beim Übergang vom Latein zur Volkssprache und damit bei der Entfaltung des Spektrums dt. Textsorten und Funktiolekte geht der Orh. immer wieder voran. Die Anlässe sind jeweils verschieden, gemeinsamer Grund ist ein durch die orh. Dichter seit Ende 12. Jh. gefördertes, im Rahmen der besonderen soziologisch-politischen Strukturen der städteund verkehrsreichen Region gedeihendes, in Wechselwirkung mit der Verdichtung schriftlicher Kommunikationsformen wachsendes volkssprachliches Selbstbewußtsein. Als eine der kulturell dominanten Regionen erweist sich der Orh. auch in anderen Hinsichten innovativ, etwa mit Otfrids programmatischem Überwinden volkssprachlicher barbaries, mit der Entwicklung dt. Fachprosa und -terminologie im 11./12. Jh., mit Autoren, die maßgeblich zur Ausbildung der höfischen Literatursprache beitrugen, mit frühen Beispielen souveränen Übersetzungsstils bei geistlicher Gebrauchsprosa, mit dem
XVII. Regionalsprachgeschichte
Beginn volkssprachlicher Stadtchronistik, mit vielfältigen sprachlichen und literarischen Impulsen der Humanistenzeit, in medialer Hinsicht führend durch die frühe Einrichtung von Schreib- und die hohe Dichte von Druckoffizinen. Was aber die Entwicklung der dt. Sprache in den grammatisch-lexikalischen Bereichen angeht, ging vom Orh. fast nur bei den höfischen Autoren eine überregionale Wirkung aus. Sonst ist der Orh. in diesen Bereichen nehmend, kaum gebend. Seit der Eingliederung des Elsaß nach Frankreich verläuft die Sprachgeschichte vollends im Zeichen einer periphären Lage. Typisch dafür ist der Fall des Gengenbacher Benediktiners und Juristen Augustin Dornblüth. Er empfiehlt noch 1755, die dt. Sprachnorm nach den alten Akten des Speyrer Reichskammergerichtes auszurichten, findet aber keine Resonanz.
Dank der günstigen Quellenlage läßt sich der Orh. schon seit Ende 13. Jh. schreiblandschaftlich detailliert charakterisieren (exemplarisch: Kleiber 2001). Während sich innerhalb des Rhfrk. die Rheinebene mit ihren Randgebieten kaum als eigene Sprachregion nach Westen und Osten hin abgrenzen läßt, bildet sie sich innerhalb des Alem. als markanteste eigene Region heraus, in erster Linie aufgrund einer durch die Schwarzwaldbarriere und die Verkehrsströme kanalisierten permanenten „Frankisierung“, welche die vorherrschende Konstante orh. Sprachgeschichte ist. Auch in der heutigen umgangssprachlichen Lexik grenzt sich der Orh. häufiger gegen die Schweiz und das Schwäb. als gegen das Rhfrk. ab (Eichhoff 1977 ff.).
Frk.-alem. Interferenzen zeigen sich schreibsprachlich in diastratisch und diachronisch unterschiedlicher Mischung und Reichweite; diatopisch schlagen sie sich, auch sprechsprachlich, in Form von Staffeln in einer breit gefächerten Übergangszone nieder. Als markanteste Schranke tritt im Mittelalter der Gegensatz zum Südalem. hervor, besonders rechtsrh. an der die alte Gaugrenze Ortenau/ Breisgau verstärkenden Bistumsgrenze Straßburg/Konstanz. Die Fluktuationsradien frk.-alem. Interferenz, aber auch südalem. und genuin orh. Innovationen begünstigten, verbunden mit der Eigenständigkeit städtischer Traditionen, im Spätmittelalter eine erhebliche sprech- und schreibsprachliche Kleinkammerung. Ein territoriales Zentrum fehlte, das kontinuierlich
189. Aspekte einer Sprachgeschichte des Oberrheingebietes bis zum 16. Jahrhundert
2823
eine übergreifende und ausstrahlungsfähige sprachlandschaftliche Konsolidierung hätte ausrichten können.
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2825
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Konrad Kunze, Freiburg i. Br.
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz 1. 2.
7.
Methodische Einleitung Allgemeine sprachgeschichtliche und areallinguistische Voraussetzungen im Rahmen der viersprachigen Schweiz Zur sprachlichen Stellung der deutschen Schweiz in alt- und mittelhochdeutscher Zeit Entwicklung und Umformung der schweizerischen Literaturund Kanzleisprache unter dem Einfluß der neuhochdeutschen Schriftsprache im 16., 17. und 18. Jahrhundert Mundarten und Standardsprache im 19. und 20. Jahrhundert Gegenwart und Zukunft der deutschschweizerischen Sprachsituation Literatur (in Auswahl)
1.
Methodische Einleitung
3. 4.
5. 6.
Die Darstellung einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz bedarf der Besinnung auf die folgenden Geschichtspunkte: (1) Die heutige Schweiz beruht auf der historischen Entstehung und Weiterentwicklung der sog. Alten Eidgenossenschaft, welche sich am Südwestrand des mittelalterlichen deutschsprachigen Reiches durch den antihabsburgischen Zusammenschluss einzelner Orte, d. h. späterer Land- und Stadtkantone auf südalem. Siedlungsgrundlage seit 1291 in verschiedenen Etappen und mit zugewandten Orten (sowie teilw. Untertanengebieten) selbst in den frz. und ital. Nachbargebieten sowie im rätorom. Graubünden allmählich herausgebildet hat und so als Staatenbund bis 1798 ⫺ bei Loslösung vom Dt. Reich faktisch seit dem 16. Jh., staatsrechtlich erst 1648 ⫺ Bestand hatte. Zum heutigen mehrsprachigen Bundesstaat mit 23 gleichberechtigten Kantonen ist es erst nach der napoleonischen
Besetzung (1798/99⫺1813) und demokratischen Erneuerung in der ersten Hälfte des 19. Jh. gekommen (Bundesverfassung von 1848, revidiert 1874 und seither schrittweise, neue Bundesverfassung 1999). (2) Entsprechend der historisch-politischen Entwicklung der Schweiz sind für die Regionalsprachgeschichte grundsätzlich zu berücksichtigen ⫺ die Verankerung in der gesamtdt. Sprachgeschichte, da die alem. Sprachgrundlage der Siedler seit dem Einsetzen einer Verschriftung im 8. und 9. Jh. stets auch Einflüssen vom übrigen dt. Sprachgebiet her, insbesondere in der Neuzeit durch die nhd. Schrift-, Hoch- oder Standardsprache ausgesetzt blieb; ⫺ die Nachbarschaft zum Romanischen nach drei Seiten hin, in welches auch vorrom. Elemente antiker Siedler auf dem Gebiet der Schweiz eingegangen sind; ⫺ die in der Geschichte des Dt. in der Schweiz besonders starke Stellung der alem. Mundarten, in der Schweiz des Schweizerdt., was zu einer ständigen fruchtbaren Auseinandersetzung zwischen Dialekten und verschiedenen Ausprägungen der Schriftsprache geführt hat und weshalb sich vorzüglich schweiz. Germanisten in der Forschung mit diesem für die Gesamtgeschichte des Dt. wichtigen Problem beschäftigt haben (Socin 1888, Henzen 1938, 21954). (3) Es ist deshalb, was die Periodisierung der Regionalsprachgeschichte der dt. Schweiz betrifft, grundsätzlich vom gleichen Grundgerüst ahd., mhd., frnhd. usw. auszugehen, da eine Reduktion auf Kategorien wie altalem., mittelalem. usw., so sinnvoll sie für einzelne Sprachdenkmäler sein mögen, den Blick auf das Gesamtbild des sprachlichen Beziehungsnetzes verdecken würde. Regionalsprachgeschichte darf nie isoliert vom größeren Ganzen betrachtet werden.
Karte 190.1: Die Sprachregionen der Schweiz [reproduziert mit Bewilligung des Bundesamtes für Landestopographie vom 14. 1. 1983]
2826 XVII. Regionalsprachgeschichte
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
2.
Allgemeine sprachgeschichtliche und areallinguistische Voraussetzungen im Rahmen der viersprachigen Schweiz
2.1. Sprachliche Gegenwart als Ergebnis der Sprachberührungsgeschichte seit zwei Jahrtausenden Die sprachliche Situation der Schweiz entspricht ihrer Lage um die Mitte des Alpenmassivs, im Ursprungsgebiet der Ströme Rhein, Rhone, Tessin und Inn, umgeben von verschiedenen großen Völkern und Sprachgruppen, die in ihren Ausläufern sozusagen noch in die Schweiz hineinragen. Die heutige Schweiz mit ihren vier in der erneuerten Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1999 Artikel 4 als Landessprachen, Artikel 70.1 als Amtssprachen bezeichneten, grundsätzlich gleichberechtigten Nationalsprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch ist als ein später Ausdruck komplizierter und vielfältiger Geschichte und Sprachgeschichte zu begreifen. Die heutigen Viersprachenverhältnisse (Karte 190.1 mit den traditionellen, d. h. territorial bis um 1950 etwa so bestehenden, seither durch fortschreitende Migration unstabiler gewordenen Sprachregionen) sind nur ein Ausgleich, ein Ausglätten, aber auch ein Erstarken älterer historischer und sprachlicher Vielschichtigkeit, die es kurz zu betrachten gilt, wenn wir die Sprach- und Volksgemeinschaft der heutigen Schweiz im Berührungsund Übergangsgebiet Dt./Rom. an der äußersten Südwestgrenze des dt. Sprachgebietes überhaupt verstehen und die geschichtliche Entwicklung eines schweiz., bzw. deutschschweiz. wie schweizerdt. Sprachbewußtseins sowie dessen Problematik in der Neuzeit begreifen wollen (Sonderegger 1981, 1990, Duval-Valentin 1982, McRae 1983, Vouga/Hodel 1990, Schläpfer/Bickel 2000 mit weiterer Lit.). Eine Betrachtung der Karte der viersprachigen Schweiz und ihrer Nachbarsprachen (Karte 190.2) zeigt zunächst ein außerordentlich ungleichmäßiges Bild. Die dt. Sprache, dialektologisch gesehen im wesentlichen das Südalem. oder dessen hauptsächliche Raumgröße, das Schweizerdeutsche, ragt wie ein sich trichterförmig verengender Keil von Norden nach Süden bis in und über die Alpen, bis zum Matterhorn und Monte Rosa in das Gesamtgebiet der heutigen Schweiz hinein, durch die südwalserischen ennetbirgi-
2827
schen Sprachkolonien sogar vereinzelt in das ital. Gebiet des Piemont hinaus, und dieses Dt. der Schweizer ist auf drei Seiten von je verschiedenen rom. Sprachen umgeben, denen mehr oder weniger geschlossene Sprachräume zukommen. Im Westen bildet das Frz., von Frankreich in die Schweiz herübergreifend, eine größere territoriale Einheit in Jura, westlichem Mittelland, westlichen Voralpen und westlichen Zentralalpen, sowie im unteren Walliser Rhonetal. Mundartlich gesehen handelt es sich, soweit noch Patois lebendig sind, im wesentlichen um das Frankoprovenzalische, im Nordjura sind es dagegen frz. Dialekte, doch herrscht in den großen Städten der Westschweiz das Hochfranzösische mit einer gewissen regionalen Komponente (Franc¸ais re´gional) sozusagen uneingeschränkt seit Jahrhunderten. Südlich der Alpen im Tessin sowie in den vier zum Kanton Graubünden gehörigen südlichen Talschaften Puschlav, Bergell von Maloja an (auch z. T. in Bivio), Misox und Val Calanca wird die ital. Sprache oder das Lombardische auf der Mundartebene gesprochen, nach Norden deutlich abgegrenzt durch die entscheidenden Paßübergänge wie Gotthard, San Bernardino, Maloja und Berninapaß, während in der walserischen Berggemeinde Bosco-Gurin (einzige deutschsprachige Gemeinde im Kanton Tessin) wie im angrenzenden Pomat (Val Formazza) südlich des San Giacomo-Passes im Piemont (Italien) und auch sonst noch in einigen ennetbirgischen Gemeinden südlich des Monte Rosa-Massivs das archaische Walserdeutsch ursprünglicher Siedler aus dem deutschsprachigen Oberwallis nachlebt, zur Zeit freilich als Sprachinseldialekte durch das Ital. fast völlig überschichtet (vgl. Zürrer 1999, Führer 2002). Auch das Ital. verfügt in der Schweiz über ein größeres, nach Süden ausgerichtetes Sprachgebiet, das sich in Italien breit und mächtig fortsetzt. Völlig anders steht das Rätorom. da, dessen Sprachterritorium heute nicht anders als zerrissen bezeichnet werden kann, aus älterer beachtlicher Verbreitung bis an den Bodensee und in das st. gallische Gasterland (östlich des Zürcher Obersees) sowie in den Kanton Glarus und in Teile der südl. Zentralschweiz hinein stark eingeschränkt, nicht nur von Norden her vom Alem. teilweise überschichtet, sondern zusätzlich durch die spätmittelalterlichen Südwest- und Nordostwalser sozusagen vertikal umfaßt, da diese aus dem deutschsprachigen Oberwallis stammenden Walser ihre südalem. schweizerdt. Sprache ins
Karte 190.2: Das Schweizerdeutsche und seine Nachbarsprachen (Entwurf Prof. St. Sonderegger; graphische Gestaltung Erwin Zimmerli, St. Gallen)
2828 XVII. Regionalsprachgeschichte
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
2829
Abb. 190.1: Der Aufbau der viersprachigen Schweiz
Rheinwald, Safiental, Avers(ertal), nach Obersaxen, Davos und Arosa (und z. T. weiter in Hochlagen des Fürstentums Liechtenstein und Vorarlbergs) getragen haben, um nur die wichtigsten ihrer Höhensiedlungen zu nennen (Karte bei Zinsli 1976). Damit wurde die alte rätorom. Einheit Graubündens aufgelöst, von Norden her durch die Hochalemannen und von Südwesten her durch die höchstalem. Walser aus dem Wallis, so daß wir immer weniger von einem geschlossenen rätorom. Gesamtgebiet sprechen können, während sich auch im Osten der Anschluß zum Ladinischen im seit dem Spätmittelalter verdeutschten Vinschgau innerhalb des Südtirols aufgelöst hat. Dergestalt ist das Rätorom. unter den vier Nationalsprachen der Schweiz heute die einzige Sprache ohne einen direkten sprachgeographischen Anschluß an ein größeres Sprachgebiet im Ausland. Das Rätorom. ist deshalb weitgehend auf sich selbst gestellt, und seine nächsten Verwandten, das Zentralladinische in den Dolomiten und das Friaulische im oberital. Osten liegen fernab von diesem. Als einzige Sprache der Schweiz kommt dem Rätorom. auch keine ausschließliche kantonale Einheit zu, da in dessen
Kerngebiet, dem Kanton Graubünden, auch Dt. (nördlicher Teil und bündnerische Walsersiedlungen) und Ital. (oben genannte vier südliche Talschaften) gesprochen wird. Wenden wir den Blick kurz zurück in die Geschichte der viersprachigen Schweiz seit zwei Jahrtausenden (Sonderegger 1979). Die Schweiz war immer ein Mehr- oder Vielsprachenland (dazu Abb. 190.1: Der Aufbau der viersprachigen Schweiz). Die beiden Grundkomponenten des vorrömischen Altertums auf dem Boden der heutigen Schweiz sind neben einigen schwer zu bestimmenden weiteren alteurop. Sprachträgerschichten die Räter im Osten und die Kelten in Jura, Mittelland und zum Teil auch in den Alpen, ferner in der Leventina (als Lepontier) und im übrigen Tessin. Rät. und Kelt. sind demnach die Grundsprachen des Landes, wie wir sie noch aus vielen Orts- und Landschaftsnamen kennen, und folgerichtig haben sich die Schweizer Humanisten auf die Helvetier als hauptsächliche kelt. Grundlage der Schweiz zurückbesonnen, so wie man auch heute noch von der Confoederatio Helvetica, abgekürzt CH, in der internationalen lat. Bezeichnung der Schweizerischen Eidgenossenschaft im
2830 zwischenstaatlichen postalischen Verkehr oder für die Abkürzung der Automobilkennzeichnung spricht. Durch die seit dem Ende des 1. Jh. v. Chr. eingeleitete Herrschaft und Verwaltung durch die Römer, welche bis um 400 n. Chr. gedauert hat, ist sprachlich die Romanisierung der verschiedenen kelt. und rät. Stämme eingeleitet worden, was zur Herausbildung des Gallorom. oder Frz. im Westen, des Alpinlombardischen oder Ital. im Süden sowie des Rätorom. oder Alpenrom. im Osten geführt hat. Demnach ist die zweite Sprachgrundlage der Schweiz das RömischRom. in seiner Vermischung mit dem älteren Kelt. und Rät. Als dritte Komponente begegnen auf dem Gebiet der heutigen Schweiz die Germanen, die sich in verschiedener Ausformung fassen lassen: (1) Als Alemannen zunächst in der Nordschweiz seit dem 5. und 6. Jh. n. Chr., später bis tief in das alpine Gebiet hinein, die Begründer der heutigen dt. Schweiz, die von Norden her aus dem oberrheinischen Gebiet, aus dem Hegau und von nördlich des Bodensees aus dem Allgäu ihr Sprachgebiet seit 1500 Jahren südwärts in die Schweiz hinein auszudehnen und zu festigen vermochten. Diese Südalemannen sind die eigentlichen Schöpfer der alten Eidgenossenschaft von 1291 bis 1798, während ihre unmittelbaren rom. Nachbargebiete im Westen (Waadt, unteres Wallis) und Süden (Tessin) seit dem 15. und 16. Jh. zunächst als Untertanengebiete eingegliedert wurden, im Südosten aber der alte Freistaat Rätien (Graubünden) mit ihnen verbündet war, im äußersten Nordosten zudem die Fürstabtei und Stadt St. Gallen, im äußersten Westen außerdem die Stadtrepublik Genf. (2) Als früh romanisierte Reste der umgesiedelten, ursprünglich rheinpfälzischen Burgunder im 5. und 6. Jh. in der Westschweiz, besonders im Raum Genf⫺Lausanne (und weiter rhoneabwärts bis Lyon). (3) Als ebenfalls rasch romanisierte Teile der oberital. Langobarden im Südtessin. Dementsprechend hat im ersten Jahrtausend n. Chr. in der Schweiz sowohl eine Germanisierung von Romanen durch die Alemannen in der Nordund Innerschweiz, im Aareraum und bis ins Wallis hinunter stattgefunden, welcher eine Romanisierung von Burgundern in der Westschweiz und von Langobarden in der Südschweiz gegenübersteht.
Demnach ist die Sprachgeschichte der Schweiz keineswegs allein von einer unaufhörlichen Germanisierung bestimmt worden, wie oft unrichtigerweise behauptet wird, sondern es sind daneben auch Romanisierungsvorgänge germ. Sprachträger sowie Reromanisierungsprozesse alem. Vorbrüche in der Westschweiz (so auch im Jura, vgl. Chiffelle 2000) und im Wallis festzustellen. Erst recht
XVII. Regionalsprachgeschichte
stellt die heutige viersprachige Schweiz einen Ausgleich dieser verschiedenen Stammes-, Sprach- und Volksüberschichtungen dar, und jede der heutigen vier Nationalsprachen kann auf eine mindestens 1500jährige Geschichte im Land selbst zurückblicken. Die vier Sprachen der Schweiz sind jedenfalls bedeutend älter als die schweiz. Staatsbildung von 1291. Geschichtlich blieb die alte Eidgenossenschaft von 1291 bis 1798 deutschsprachig bestimmt, wobei sich aber eine schrittweise Ablösung vom Deutschen Reich vollzog, welche im Zeitraum von 1495 bis 1648 stattfand. Nach der einzigen militärischen Unterwerfung der Schweiz durch Napoleon I. von 1798 entstanden nacheinander die Helvetische Einheitsrepublik (1798⫺1803), der Staatenbund der Eidgenossenschaft als Folge der Mediationsakte Napoleons (1803⫺1813), die Eidgenossenschaft der 22 Kantone mit „immerwährender Neutralität“ (1813⫺1815), der föderalistische Staatenbund im Zeitalter von Restauration und Liberalismus (1815⫺1830) sowie von Regeneration und Radikalisierung (1830⫺1847), nach dem internen Sonderbundskrieg der protestantischen gegen die katholischen Kantone, die sich 1845 zu einem Sonderbund zusammengeschlossen hatten, schließlich der schweiz. Bundesstaat seit 1848. Damit war staatsrechtlich auch der Grund zur mehrsprachigen Schweiz gelegt, die mit der dreisprachigen Helvetischen Republik von 1798 offiziell begann und später in der Bundesverfassung von 1848 mit Artikel 109 verankert wurde: „Die drei Hauptsprachen der Schweiz, die deutsche, französische und italienische, sind Nationalsprachen des Bundes“. Die revidierte Bundesverfassung von 1874 übernahm diesen Artikel als Nr. 116 unverändert, bestimmte aber außerdem in Artikel 107, das alle drei Nationalsprachen im Bundesgericht, der höchsten richterlichen Instanz der Schweiz, vertreten sein mußten. Eine Differenzierung des schweiz. bundesstaatlichen Sprachenrechts wurde mit der Anerkennung des Rätorom. durch Volksabstimmung vom 20. Februar 1938 vollzogen, wobei die Bundesverfassung von 1999 in Art. 18 die Sprachenfreiheit gewährleistet und in Art. 70 die Sprachenfrage regelt (Amtsprachen, Förderung der gegenseitigen Verständigung und der sprachlichen Minderheiten). Im übrigen gelten Territorialprinzip (bei nicht streng fixierten Sprachterritorien), kantonale Sprachen- und Schulhoheit sowie Gemeindeautonomie für den Fall eines Sprachwechsels in Sprachgrenzgebieten. Außerdem regeln die
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
zweisprachigen Sprachgrenzkantone Bern, Freiburg und Wallis an der dt.-frz. Sprachgrenze sowie der dreisprachige Kanton Graubünden (mit Dt., Rätorom., Ital.) ihre Sprachfragen in den entsprechenden Kantonsverfassungen einigermaßen. Das liberale Sprachenrecht der Schweiz schützt die sprachlichen Minderheiten auf dem Hintergrund der Anerkennung ihrer Gleichberechtigung bzw. als Amtssprachen des Bundes (Bund bedeutet in der dt. Schweiz ‘zentrale Staatsgewalt, gesamtschweizerisch-staatliche Regierungsgewalt und Verwaltung’). Die wissenschaftliche Diskussion um die Geschichte des schweiz. Sprachenrechts ist seit der ersten Hälfte des 20. Jh. in Gang gekommen (Weilenmann 1925, Müller 1977), während das Sprachenrecht der Bundesverfassung erst seit 1947 systematisch und problemtief zur Darstellung kam (grundlegend Hegnauer 1947, sodann Giere´ 1956, Schäppi 1971, Viletta 1978, Thürer 1984, Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz 1989). 2.2. Zum Sprachstand der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert Eine schweiz. Sprachstatistik gibt es seit hundertvierzig Jahren. Veröffentlicht sind die Ergebnisse auf Grund der eidgenössischen Volkszählungen in Zehnjahresschritten von 1860 bis 2000 durch das Eidgenössische Statistische Amt in Bern, neuerdings Bundesamt für Statistik genannt. Seit 1910 wird in der schweiz. Sprachstatistik außerdem nach Gesamtbevölkerung und Bevölkerung schweiz. Staatsbürgerschaft unterschieden, so daß wir in der Sprachstatistik G- oder Gesamtwerte von S- oder reinen Schweizerwerten unterscheiden können. Eine Analyse der Sprachstatistik von 1860 bis 2000 zeigt den folgenden Befund: Bei der Gesamtbevölkerung der Schweiz bewegt sich der Anteil der dt. Sprache in den Grenzen von höchstens 72,6 % (so 1941) und mindestens 63,6 % (so 1990), während er im 19. und frühen 20. Jh. um 70 % herum gependelt hat. Ein relativer Rückgang ist neuerdings von 1950 bis 1970 und 1990 festzustellen (dagegen 2000 63,7 %). Der Anteil des Frz. hat sich bei der Gesamtbevölkerung seit 1870 langsam von 24 % zu 18,1 % im Jahr 1970 zurückgebildet, liegt aber 1990 und 2000 leicht erhöht bei 19,2 bzw. 20,4 %, während die ital. Sprache starken Schwankungen unterworfen blieb, deren Kulminationspunkte um 1910 und nach 1950 liegen, so dass im Jahre 1970 ein
2831
Anteil von 11,9 % festzustellen war, der sich 2000 auf 6,5 % vermindert hat. Das Rätorom. ging innert 120 Jahren langsam, aber unaufhörlich von 1,7 % auf 0,8 % 1970 und 1980 zurück, der aber 2000 nur noch 0,5 % betrug. Die absoluten Zahlen liegen 1990 bei 4 374 694 Dt., 1 321 695 Frz., 524 116 Ital. und 39 632 Rätorom., während auf andere Sprachen 613 550 oder 8,9 % entfielen, jedenfalls bedeutend mehr, als auf das Rätorom. allein. Etwas anders zeigt sich die Entwicklung der Sprachverhältnisse bei der nur schweiz. Bevölkerung, d. h. bei den Sprachträgern schweiz. Staatszugehörigkeit, die wir seit 1910 verfolgen können. Hier nimmt das Dt. von 1910 bis 1970 langsam, aber kontinuierlich zu, indem es von 72,5 % (1910) auf 74,5 % (1970) gestiegen ist, in den Jahren 1980 und 1990 aber leicht auf 73,5 bzw. 73,4 % zurückfiel, indessen fast drei Viertel der schweiz. Bevölkerung ausmacht, während das Frz. leicht zurückgeht, nämlich von 22,1 % im Jahr 1910 auf 20,1 % in den Jahren 1970 und 1980, 20,5 % 1990. Das Ital. zeigt sich im Gegensatz zu den Gesamtbevölkerungszahlen von 1910 bis 1970 sowie 1990 fast unverändert mit 4 % oder 4,1 %, während für 1980 eine leichte Zunahme auf 4,5 % festzustellen bleibt. Das Rätorom. lässt wiederum einen, hier allerdings um Bruchteile kleineren Rückgang von 1,2 % in den Jahren 1910 bis 1930, auf 1,1 % in den Jahren 1941 und 1950, 1 % in den Jahren 1960 und 1970, auf 0,9 bzw. 0,7 % in den Jahren 1980 und 1990 konstatieren. Die absoluten Zahlen liegen 1990 bei rund 4 Mio. Dt., rund 1 Mio. Frz., rund 225 000 Ital. gegen 40 000 Rätorom., während für weitere Sprachen rund 50 000 Personen registriert werden (anderssprachige Ehefrauen mit Kindern von Schweizern). Wenn wir die aus dem statistischen Material gewonnenen G- und S-Zahlen miteinander vergleichen, konstatieren wir seit 1910 ein starkes Auseinanderfallen der Sprachanteile der Gesamtbevölkerung gegenüber den Schweizern vor allem beim Dt. und beim Ital., was auf die Gastarbeiterzu- und -abwanderung um 1910 und nach dem Zweiten Weltkrieg seit 1945 zurückzuführen ist. Jedenfalls hat das Gastarbeiterproblem in der Schweiz seit 1950 zu einer gewissen Beruhigung in der sonst seit Jahrzehnten einseitigen Sprachbewegung zugunsten des Dt. auf Kosten der rom. Sprachträger geführt. Eine Analyse des Ist-Zustandes der viersprachigen Schweiz zeigt nach den sprachstatistischen
Karte 190.3: Die Kantone der Schweiz und ihre Hauptorte
2832 XVII. Regionalsprachgeschichte
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
2833
Abb. 190.2: Das Sprachformengefüge der viersprachigen Schweiz
Grundlagen und weiteren über diese hinausgehenden Kriterien den folgenden Befund: (1) Quantitativ ist ein völlig ungleiches Verhältnis der vier in der Schweiz gesprochenen Sprachen festzustellen, und selbst wenn wir das Dt. gegenüber der Gesamtromania aufrechnen, bleibt noch ein Ungleichgewicht von zwei Dritteln bis drei Vierteln Dt. (je nach Gesamtbevölkerung oder Schweizern) gegenüber einem Drittel bis einem Viertel Rom. Andererseits wird dieses Ungleichgewicht in den zweisprachigen Kantonen Freiburg und Wallis in der Westschweiz zugunsten eines Übergewichts des Frz. gegenüber dem Dt. auf kantonaler Ebene ausgeglichen, und die Loslösung des praktisch einsprachigfrz. Jura vom übergewichtig deutschsprachigen Kanton Bern durch gesamtschweiz. Volksabstimmung im September 1978 (vollzogen auf 1. 1. 1979) hat in dieser Hinsicht
ebenfalls entschärfend gewirkt (vgl. Karte 190.3). Die Schweiz bestand seit 1815 aus 22 relativ selbständigen Kantonen, seit 1979 besteht sie aus 23 Kantonen, von denen drei in je zwei selbständige Halbkantone aufgegliedert sind (Basel: Stadt und Land; Unterwalden: Obwalden und Nidwalden; Appenzell: Außer- und Inner-Rhoden), so daß insgesamt 26 kantonale Staatsgebilde die Schweizerische Eidgenossenschaft ausmachen. Nach den Sprachverhältnissen sind zu unterscheiden (vgl. Karte 190.3): (a) einsprachige Kantone ⫺ dt. Sprache 14 (mit Einschluß der Halbkantone 17) ⫺ frz. Sprache 4 (Genf, Waadt, Neuenburg, Jura) ⫺ ital. Sprache 1 (Tessin mit einer deutschsprachigen Walsergemeinde) (b) zweisprachige Kantone
2834 ⫺ übergewichtig dt./frz. 1 (Bern) ⫺ übergewichtig frz./dt. 2 (Freiburg, Wallis) (c) dreisprachiger Kanton ⫺ dt.-rätorom.-ital. 1 (Graubünden, mit 1990 dt. 113 611, rätorom. 29 679, ital. 19 190).
Auf der seit rund hundert Jahren recht stabilen dt.-frz. Sprachgrenze liegen die beiden zweisprachigen Städte Biel/Bienne (Kt. Bern, 1990 dt. 27 510, frz. 15 906) und Freiburg im Uechtland/Fribourg (1990 frz. 21 240, dt. 8 288; zum Sprachkontakt in beiden Städten Kolde 1981), während bis zur Gegenwart längs der instabilen dt.-rätorom. Sprachgrenze in Graubünden größere zweisprachige Regionen festzustellen sind. (2) Qualitativ zeigt sich bei jeder der vier Nationalsprachen nach den in den einzelnen Sprachgebieten vorhandenen und bewertbaren Sprachformen Hochsprache oder Schriftsprache, Regionalsprache, Mundarten oder Dialekte ein anderes internes Gewichtungsverhältnis (Abb. 190.2). Das Sprachbild der dt. Schweiz ist durch die stark mundartorientierte Diglossie Schweizerdeutsch/Schriftdeutsch gekennzeichnet, wobei Schweizerdeutsch als uneinheitliche, aber sozial allgemein gültige Umgangssprache neben der schriftlich-halböffentlichen, als sogenanntes Schweizerhochdeutsch offiziell oft auch mündlich verwendeten, mehr oder weniger gut gemeisterten Schriftsprache steht, mit vielen Übergangsformen selbst in der literarischen Form deutschschweiz. Schriftsteller von Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller bis zu Robert Walser und Friedrich Dürrenmatt (vgl. dazu unten Abschnitt 5 und 6). Das umgangssprachlich-sprachbewußtseinsmäßige Übergewicht der in sich sehr verschiedenen Dialekte in der dt. Schweiz mit der dadurch bedingten deutlichen Abgrenzung gegenüber Deutschland relativiert indessen das quantitative Übergewicht der dt. Sprache im Rahmen der viersprachigen Schweiz, so daß man nur bedingt von einer hochsprachlichen Fortsetzung des dt. Sprachblockes in die Schweiz hinein sprechen darf. Das frz. Sprachgebiet der Schweiz dagegen ist viel einseitiger hochsprachlich ausgerichtet, mit einer gewissen Regionalkomponente freilich, während die Dialekte oder Patois auf ländliche Restgebiete und in die folkloristischen Chansons von der Art des Ranz des vaches verwiesen sind (vgl. Knecht bei Schläpfer/ Bickel 2000). Literarisch-sprachkulturell wetteifert die Romandie indessen durchaus mit Paris, und niemand wagte zu behaupten, man
XVII. Regionalsprachgeschichte
könne im Welschland (frz. Schweiz, Romandie) weniger gut Frz. lernen als in Frankreich, wie dies für die dt. Schweiz gegenüber Deutschland für das Hd. gesagt werden muß. Uneinheitlicher müssen die Verhältnisse im ital. Sprachgebiet in Richtung Triglossie beurteilt werden, wo neben den im privaten Bereich noch recht lebensstarken aber wenig angesehenen Stadt- und Landdialekten große Unterschiede nach Regionen und sozialen Schichten bestehen, überlagert von einer seit den 1960er Jahren mehr und mehr italianisierten Koine, welche ursprünglich dialektalen Charakter hatte. So wird das Hochital. durch die lombardische Umgangssprache konkurrenziert, wobei aber deutliche Eigenheiten eines Tessiner Italienischen namhaft gemacht werden können (vgl. Lurati 1976, Lurati bei Schläpfer/Bickel 2000). Schwieriger stellen sich die Verhältnisse beim Rätorom. dar, wo zwei hauptsächliche Schriftsprachformen, das Surselvische des Vorderrheintals und das Ladinische des Engadins, einer Fülle weiterer Mundarten, Schulfibelsprachen für den ersten Unterricht und selbst literarischer Schriftdialekte gegenüberstehen (Liver sowie Arquint bei Schläpfer/Bickel 2000). Seit 1982 wird indessen sprachplanerisch im Rahmen eines wissenschaftlichen Projektes mit pragmatischer Aufarbeitung von Grammatik und Lexik an der Gestaltung einer neuen gesamtbündnerischen Schriftsprache gearbeitet, des sog. Rumantsch Grischun, wofür der Zürcher Romanist Heinrich Schmid Richtlinien im Sinn einer übermundartlichen Ausgleichssprache für den schriftlichen Verkehr nach innen und außen entworfen hat (Schmid 1982). Damit ist das Rätorom. in den letzten zwei Jahrzehnten erstmals zu einer einheitlichen Standardsprache gekommen, wie sie bisher gefehlt hat. Deshalb konnte auch die sprachenrechtliche Anerkennung des Rätorom. als Amtssprache des Bundes im Verkehr mit Personen rätorom. Sprache in der Bundesverfassung 1999 verwirklicht werden. (3) Schulpädagogisch wird man sagen dürfen, daß die dt. Schweiz einen schrittweisen Übergang von den Mundarten zur Schriftoder Hochsprache im Unterricht vollzieht, der indessen nie vollständig wird, da auch die deutschschweiz. Lehrer im Unterricht dem umgangssprachlichen Dialekt des Schweizerdeutschen nie völlig entsagen, während sich die frz. Schweiz in der Schule konsequent und von Anfang an auf die Hochsprache ausrichtet, ebenso die ital. Schweiz. In der räto-
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
rom. Schule ist über die Berücksichtigung der regionalen Idiome bzw. der neuen Standardsprache hinaus ein Sprachwechsel vom Rätorom. zum Dt. zu beobachten, der ebenfalls nicht ganz vollständig ist, da der Pflege der eigentlichen Muttersprache stets ein gewisser Raum erhalten bleibt. Dies führt, zusammen mit den berufsbildenden und allgemein ökonomischen Bedingungen der stark zersplitterten, nicht geschlossen siedelnden rätorom. Sprachgruppe zu einer durchgehenden Zweisprachigkeit der Rätoromanen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zum Dt. bzw. in ihrer teilweisen Einbettung ins Dt. (vgl. Cathomas 1977). Dergestalt ist die innere Lage jeder der vier schweiz. Nationalsprachen völlig anders (vgl. Abb. 190.2). Schließlich darf nicht übersehen werden, daß die viersprachige Schweiz in der Neuzeit und Gegenwart nur mehr ein Phänomen des alpinen Gebirgsraumes darstellt. Den geographischen Naturlandschaften der Schweiz lassen sich die vier Sprachen von Westen nach Osten wie folgt zuordnen (vgl. Karte 190.1): (1) Jura: Frz. und Dt. (2) Mittelland: Frz. und Dt. (im Nordosten bis zum Spätmittelalter auch teilweise Rätorom.) (3) nördliche Voralpen: Frz. und Dt. (im Nordosten bis zum Spätmittelalter auch Rätorom.) (4) Alpen: Frz., Dt., Ital., Rätorom. (5) südliche Voralpen: Ital.
So muß strenggenommen von einer zweisprachigen Schweiz in Jura, Mittelland und nördlichen Voralpen gesprochen werden, während sich die viersprachige Schweiz auf den Alpengürtel vom Genfersee (Lac Le´man) über Wallis, Gotthardraum bis nach Graubünden beschränkt. Die Gefahr einer zukünftigen Entwicklung zu einer nur noch zweieinhalbsprachigen Schweiz (mit Dt., Frz. und ein wenig Ital.) lassen Dörig/Reichenau 1982 in den Abklärungen und Empfehlungen einer Arbeitsgruppe über Zustand und Zukunft des Rätorom. und des Ital. in Graubünden aufleuchten, während Catrina 1983 eine Analyse der Rätoromanen „zwischen Resignation und Aufbruch“ vorgelegt hat (vgl. auch die Kurzdarstellung zur Sprache in Rätoromanisch 1996). Im Kt. Tessin ist ein stärkerer Sprachkontakt mit dem Dt., vor allem durch Tourismus und Migration, festzustellen, ohne in Richtung Bilingualismus zu gehen (Berruto/ Burger 1985). Die Zukunftsprobleme der viersprachigen Schweiz unterzog Sonderegger 1982 einer Faktorenanalyse nach den folgenden Gesichtspunkten: (1) weiterwirkende
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Kraft des schweiz. Föderalismus (staatspolitische Grundgröße), (2) relative Konstanz der Sprachgrenzen (territoriale Größe), (3) demographisches Gleichgewicht innerhalb bestimmter, nicht zu unterschreitender Grenzen (sprachökonomische Größe), (4) gegenseitige Sprachbeherrschung (sprachpädagogisch-didaktische Größe), (5) gegenseitiges kulturelles Verständnis (informativ-bildungspolitische Größe), (6) Opferbereitschaft der sprachlichen Mehrheit, d. h. primär der Deutschschweizer (ethische Verpflichtungsgröße), (7) Wirkungsgrad von Sprachbewußtsein und Durchsetzungsvermögen der heutigen vier Landessprachen (Sprachbewußtseinsgröße), (8) Überwindung eines ethnischen Sprachdenkens (Relativierung der ethnolinguistischen Größe). Diese Faktoren lassen sich zweifellos stützen und fördern, und es entspricht überdies der schweiz. Staatsidee, daß Sprache und Nation keine untrennbare Einheit sind, da die viersprachige Schweiz auf dem Hintergrund einer gemeinsamen jahrhundertelangen Geschichtserfahrung im stets mehrsprachigen Raum rund um die europ. Zentralalpen entstanden ist. 2.3. Die vier schweizerischen Nationalsprachen nach ihren verschiedenen Bewußtseinskriterien Nur kurz können wir auf das Problem der durchaus verschiedenen Bewußtseinskriterien eintreten, wie sie im Gefüge der vier schweiz. Nationalsprachen als „Mittel der Identifikation und Distanzierung“ (Löffler 1998) je einzelsprachlich namhaft zu machen sind. Ein starkes eigenes Schriftsprachbewußtsein zeichnet vor allem die Romandie (frz. Schweiz), etwas weniger auch die ital. Schweiz und mindestens offiziell auch die rätorom. Schweiz, sicher über ihre Sprachkulturträger, aus, während ein solches in der dt. Schweiz (von einzelnen Persönlichkeiten vielleicht abgesehen) so gut wie völlig fehlt. Dies ist der Preis, den die Deutschschweizer ihrer ungebrochenen Mundartzuwendung entrichten. Auch von einer engagierten geistig-kulturellen Anlehnung an die Sprachhaltung des größeren Gesamtsprachgebietes kann in der dt. Schweiz keine Rede sein, da es dem Deutschschweizer seit Jahrhunderten so ziemlich egal ist, was sprachpolitisch, sprachpflegerisch oder sprachkulturell in Bonn, Berlin, Leipzig oder Wien geschieht. Viel eher orientiert er sich ⫺ wie Johann Jacob Bodmer im 18. Jh. ⫺ an ags. oder ⫺ wie die bürgerliche Oberschicht der deutsch-schweiz. Städte seit dem 17. Jh. ⫺ an frz., allenfalls ital. Kulturvorbildern.
2836 Diese westliche Kulturausrichtung ist für die gesamte viersprachige Schweiz charakteristisch. In der Romandie und in den übrigen romanischsprechenden Gebieten gehört eine Ausrichtung nach außen oder einfach auf das Gesamtsprachgebiet ohnehin zu den natürlichen Gegebenheiten des Sprachlebens. Dementsprechend war oder ist auch der politische Anschlußgedanke nach außen zur ethnie franc¸aise oder in der Form des Irredentismus nach Italien hin immer etwa zu spüren, ohne daß dies zu einer wirklichen Gefahr für das schweiz. Staatsganze geworden wäre. Dagegen hat sich die dt. Schweiz, von einer frontistischen Minderheit abgesehen, gegenüber dem nationalsozialistischen Dritten Reich stets bemerkenswert deutlich und geschlossen distanziert. Eine eigene Schriftsprachliteratur von Bedeutung im Gesamtsprachgebiet kommt primär und paradoxerweise vor allem in der dt. Schweiz vor, deren bedeutende Schriftsteller seit alters und bis heute zum Grundbestand der dt. Literatur zählen, während dies von den andern rom. Sprachgebieten, von der diesbezüglichen Sonderstellung des Rätorom. in sich selber einmal abgesehen, strenggenommen kaum oder nur sehr bedingt für Ausnahmefälle gesagt werden kann. Andererseits kommt der Stellung der Mundart im Sprachbewußtsein der dt. und rätorom. Schweiz eine vorrangige Stellung zu, wie diese Gebiete auch eine reiche Mundartliteratur von allgemeiner Bedeutung für die betreffende Sprachgruppe herausgebildet haben, insbesondere die dt. Schweiz, wo jeder Kanton, ja jede Region über ihre bekannten, beliebten und viel gelesenen Mundartschriftsteller verfügt (vgl. unten S. 2866/67 [mit Karte 190.4]). Dies gilt für das allgemeine Bewußtsein nicht in der frz. und nur teilweise in der ital. Schweiz, von nur regionalen Ausnahmen freilich abgesehen. Andererseits übt die dt. Schweiz sozusagen ungewollt, indessen über ihre standardsprachliche Literatur einen nicht unbedeutenden Einfluß auf die sprachliche Weiterentwicklung des Gesamtdeutschen aus, ohne daß dies für die Romandie und das Tessin im Hinblick auf das Gesamtfranzösische und Gesamtitalienische so ohne weiteres nachgewiesen werden kann, obwohl gerade die Relevanz hochsprachlicher Sprachrichtigkeit in der dt. Schweiz kein Erfolgs-, Bildungs- oder Karrierekriterium darstellt, ganz im Gegensatz zur Romandie und etwas weniger ausgeprägt zum ital. Sprachgebiet. Die Offenheit gegenüber den Nachbarsprachen ist in der dt. und in der rätorom.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Schweiz wiederum am größten, während sich die frz. Schweiz hierin aufs empfindlichste zurückhält, was der frz. Gesamtsprachhaltung ⫺ auch etwa gegenüber dem Englisch-Amerikanischen ⫺ entspricht. In der ital. Schweiz darf man von einer eingeschränkten Offenheit gegenüber den Nachbarsprachen sprechen. Das Assimilierungsvermögen wiederum gegenüber Fremden kulminiert in der frz. Schweiz, sie ist der Gegenpol zum demographischen Druck durch eine ständige Migration von der dt. Schweiz her, und auch der ital. Schweiz kommt ein recht beachtliches Assimililerungsvermögen zugute, wie es in der dt. Schweiz ohne schwere Folgen, in der rätorom. Schweiz dagegen nicht ohne Beeinträchtigung der Sprachstellung und Sprachgeltung des Bündnerromanischen fehlt. Von einer gegenseitigen Anlehnung schließlich kann man nur in der ital. Schweiz an das Frz., bis zu einem gewissen Grade über die bedeutende Wirtschafts- und Kulturachse Zürich⫺Tessin auch an das Dt., sowie einseitig vom Rätorom. zum dieses kulturell fördernden wie demographisch und touristisch gleichzeitig auch beeinträchtigenden Dt. reden, während das Dt. oder Schweizerdeutsche und das Frz. in der Schweiz der Gegenwart ohne Anlehnungsbedürfnis innerhalb der Schweiz sozusagen für sich selbst stehen. Es gehört zum Gesamtverständnis der viersprachigen Schweiz, daß diese oft genug auseinanderstrebenden, ja gegensätzlichen Sprachbewußtseinskriterien erkannt und verstanden werden: denn sie sind es, welche in ihrer Nichtgleichgerichtetheit die Vielfalt der vier Nationalsprachen ausmachen und diese auch bis zu einem gewissen Grad als immer wieder verschieden verankertes Netzwerk zusammenhalten (vgl. Sonderegger 1981; zu den Beziehungen der vier Nationalsprachen untereinander Pedretti bei Schläpfer/Bickel 2000). Schließlich wird die viersprachige Schweiz auch dadurch zusammengehalten, daß die dt.-rom. Sprachgrenzen in der Regel weder Kulturgrenzen noch Konfessionsgrenzen, nur selten gleichzeitig auch Kantonsgrenzen (vgl. die zweisprachigen Kantone und den dreisprachigen Kanton Graubünden) sowie nur vereinzelt gleichzeitig auch geographische Naturgrenzen sind (vgl. Winkler 1946, Weiss 1963). Vielmehr erweitern sich die Sprachgrenzen auf dem Gebiet der Schweiz zu breiten gegenseitigen Interferenzbereichen oder Austauschgebieten (Schmid 1956, Sonderegger 1976, 1991, weitere Literatur bei Sonderegger 1962, 61 ff.).
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
2837
Abb. 190.3: Das Schweizerdeutsche zwischen Germanisch und Romanisch
2.4. Südalemannisch, Schweizerhochdeutsch und Romanisch Die dt. Sprache in der Schweiz steht in einem dreifachen Bezugsfeld von (1) sprachgeschichtlich-genealogischer Herkunft aus dem Alem., was die schweizerdt. Mundarten betrifft; (2) schriftsprachlicher Beeinflussung bis Überschichtung durch die nhd. Schriftoder Standardsprache seit dem 16. Jh., was neben der besonders im 19. und 20. Jh. stark zunehmenden Beeinflussung der Dialekte zur Entstehung einer spezifisch schweiz. Form des Nhd., dem sog. Schweizerhochdeutschen, geführt hat; (3) Sprachraumbindung und Interferenz mit den rom. Nachbarsprachen im Umfeld der viersprachigen Schweiz und ihrer weiteren Umgebung (Frankreich, Italien). Diesem dreifachen Bezugsfeld, wie es vereinfacht in Abb. 190.3 dargestellt ist, entsprechen sprachtypologisch im wesentlichen: (1) die altalem. archaischen wie spezifisch alem. neuernden Sprachzüge der schweizerdt. Mundarten (von Norden nach Süden zunehmende oberdt. und alem.-südalem. Reliktstaffelung; weitere, auch neuernde alem. Kennmerkmale wie der n-Schwund vor Reibelaut); (2) Neuerungs- und Umgestaltungsfaktoren in den schweizerdt. Dialekten und selbst im Schweizerhochdeutschen von der nhd. Schrift- oder Standardsprache her; (3) tiefgreifende rom. Einflüsse auf die schweizerdt. Mundarten wie auf das Schweizerhochdeutsche (und von hier aus selbst in die nhd. Literatur- oder Schriftsprache). Seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. ist außerdem mit einem bedeutenden, zumeist direkten Einfluß des Engl. auf das Schweizerdeutsche und Schweizerhochdeutsche zu rechnen, was aus den besonders intensiven Beziehungen der schweiz. Wirtschaft mit dem ags. Sprach-
Abb. 190.4: Die genealogische Einordnung des Schweizerdeutschen in das Germanische
raum (England, ehemalige englische Kolonien, USA) zu erklären ist (dazu Dalcher 1966, 1967, 1986; Fischer 1980). Schweizerdeutsch (Schwizertütsch, -tüütsch) ist die Sammelbezeichnung der auf dem Boden des schweiz. Staatsterritoriums allgemein gesprochenen, in Form der Dialektliteratur seit dem 19. Jh. auch geschriebenen, im einzelnen aber sehr verschiedenen Mundarten. Diese lassen sich wie folgt einteilen (Maurer 1942, Hotzenköcherle 1961, 1984, SDS I⫺VIII 1962⫺1997; vgl. Karte 190.2, Abb. 190.4): (1) Im deutschschweiz. Hauptgebiet (ohne Stadt Basel und ohne Samnaun im Kanton Graubünden) die südalem. Mundarten im Raum der Schweiz, wobei bedacht werden muß, daß dazu dialektgeographisch auch die Mundarten des els. Sundgaus, des südlichen rechtsrheinischen Oberrheingebietes, des Südschwarzwaldes, des Hegaus (alle südlich der sog. Sundgau-Bodenseeschranke von nördlichem k- im Anlaut gegen südliches chim Anlaut [Chind, Chatz, Chuchi für Kind, Katz(e), Küche]) sowie von Vorarlberg und Liechtenstein gehören. Nach der dialektgeo-
2838
XVII. Regionalsprachgeschichte
Abb. 190.5: Die Einteilung des Südalemannischen
graphischen Innengliederung unterscheidet man innerhalb dieses Südalem. (Abb. 190.5): (a) die nördlichen Mundarten des Hochalem., welches auf schweiz. Gebiet trotz bedeutender regionaler Unterschiede so etwas wie den mittelländischen „Normaltypus“ des Schweizerdeutschen in je verschiedener Ausformung wie Nordwestschweizerdeutsch, nördliches Berndeutsch, Aargauermundarten, Zürichdeutsch, Nordostschweizerdeutsch usw. ausmacht; (b) die archaischen südlichen Mundarten des Höchstalem. (oder Bergschweizerdeutschen) im alpinen Gebiet der Schweiz mit durchaus unscharfer Grenzbildung im Bereich der nördlichen Voralpen bzw. quer durch die Innerschweiz oder Zentralschweiz und z. T. in einzelnen Sprachmerkmalen bis weit nach Nordosten (Glarus, vereinzelt Toggenburg, Kanton Appenzell). So haben viele Mundarten der dt. Schweiz zwischen Nord und Süd, wie dies auf Abb. 190.5 symbolisiert ist, sowohl am Halem. wie in einzelnen Zügen am Höchstalem. teil. Eine sekundäre Abspaltung dieser alpinen höchstalem. Mundarten bilden, bedingt durch die Walserwanderungen von alem. Sprachträgern aus dem Wallis südwärts, südostwärts und ostwärts
wie nordostwärts über die Alpen seit dem 12. Jh., die ennetbirgischen Walsermundarten im ital. Piemont (mit Bosco Gurin, Kanton Tessin) und die bündnerischen Walsermundarten (unterteilt in eine Südwest- und eine Nordostgruppe) in Graubünden mit sekundärer nördlicher Ausbreitung bis in die Höhenlagen des Fürstentums Liechtenstein und des Landes Vorarlberg (umfassende Darstellung Zinsli 1976). Ganz allgemein kann von den alpinen höchstalem. Mundarten gesagt werden, daß sie extrem archaische altalem. (bis ahd.) Sprachzüge mit potenziertem rom. Einfluß (aus dem Frankoprovenzalischen, Italienisch-Alpinlombardischen und dem bündnerischen Rätoromanischen) verbinden. (2) Dialektgeographisch nicht zum Südalem. bzw. nicht zum Halem. gehört die Stadtmundart von Basel, welche nach verschiedenen Kennmerkmalen (bes. anl. k-) als Vorbruch des Oberrheinischen (oder Nalem.) zu betrachten ist, was aus der bedeutenden Stellung der Stadt Basel im oberrheinischen Kulturzusammenhang seit spätmittelalterlicher Zeit zu erklären ist. Demnach kommt der Stadt-Basler Mundart innerhalb des Schweizerdeutschen eine nach Norden ausgerichtete oberrheinisch-niederalem. Sonder-
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
stellung zu. Oberrheinische Vorbrüche reichen z. T. auch weiter bis in den Aare-Limmatraum ins Schweizerdeutsche hinein. (3) Als einzige nichtalem. Mundart auf dem Boden der Schweiz ist der Dialekt von Samnaun im Nordostzipfel des Kantons Graubünden zu betrachten. Die ursprünglich rätorom. Gemeinde vollzog den Sprachwechsel zum Dt. erst im 19. Jh., nahm aber die südbair.-tirolische Mundart ihrer nördlichen Umgebung in Österreich an (Gröger 1924).
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Zusammenfassend kann demnach formuliert werden, daß das Schweizerdeutsche keine dialektgeographische Einheit bildet. Es hat in seinen Mundarten vielmehr ⫺ um die Terminologie der Einteilung des Alem. seit Maurer 1942 zu verwenden ⫺ am Oberrheinischen (Basel-Stadt) wie hauptsächlich am Südalem. teil, hierin freilich sowohl am Halem. wie am Höchstalem., wobei neben diesen Nord-Süd-Gegensatz noch ein bedeutender Ost-West-Gegensatz innerhalb der
Abb. 190.6: Abstandskomponenten der alemannischen Mundarten gegenüber der neuhochdeutschen Standardsprache (Dialektlautungen nicht streng phonetisch)
2840 Schweiz (mit nördlicher Fortsetzung im Schwarzwald) tritt. Vom Schwäb. nördlich des Bodensees ist das nordöstliche Halem. der Nordostschweiz (bis zur Limmat im Kt. Zürich) seit dem Spätmittelalter immer wieder beeinflußt worden. Bemerkenswerte alem.-nordgerm. Gemeinsamkeiten besonders im Wortschatz gehen vermutlich auf nordgerm. Zuschüsse im ursprünglich elbgerm. Frühalem. des 2./3. Jh. zurück, soweit nicht beiderseitige Randbewahrung sog. verlorener Wörter anzusetzen ist (Material bei Kolb 1957, vgl. auch Naumann 1998). Auch was das Verhältnis zur nhd. Schriftoder Standardsprache betrifft, zeigen sich innerhalb des Alem. und Schweizerdeutschen mit Bezug auf deren Untergruppen bedeutende Unterschiede, wie sie in Abb. 190.6 zusammengestellt sind. Sie lassen sich insbesondere bei der in den alem. Mundarten stärker durchgeführten zweiten oder hd. Lautverschiebung von k sowie umgekehrt bei der in den alem. Mundarten weitgehend oder völlig fehlenden nhd. Diphthongierung und Monophthongierung feststellen. Als allgemeiner Befund läßt sich formulieren, daß die Sprachsystementfernung der alem. und schweizerdt. Mundarten zur nhd. Standardsprache vom Nordosten (schwäb. Mundarten) über den Nordwesten (oberrhein. Mundarten) nach Süden (Südalem.: Halem., Höchstalem., Walliserdeutsch und z. T. Walserdeutsch) schrittweise zunimmt. So stehen selbst innerhalb des Schweizerdeutschen die nördlichen Mundarten (das Oberrheinische von BaselStadt, ferner das Hochalemannische) mit der durchgeführten Diphthongierung im Hiatus und im absoluten Auslaut der nhd. Schriftsprache näher als die südlichen Mundarten des Höchstalem. im schweiz. Alpengebiet, während die Wallisermundarten (deutschsprachiger Teil des Kantons Wallis) mit ihren z. T. dem Ahd. vergleichbaren Kennmerkmalen (z. B. Erhaltung volltoniger Endsilbenvokale) wie auch teilweise die Walsermundarten der nhd. Standardsprache am meisten fernstehen, was außerdem ihrer geographischen, oft genug isolierten Randlage entspricht. Die Walsermundarten werden von Jäger 1984 sogar als mundartliche „Minderheit“ bezeichnet. Nach Moulton 1941 ist die Bewahrung vieler Altertümlichkeiten der südwestschweizerdt. Mundarten des Höchstalem. dem Einfluß der ihnen benachbarten rom. (frankoprovenzalischen) Dialekte zuzuschreiben. Im übrigen betont auch Hotzenköcherle 1961, 227 mit Bezug auf das Gesamtschweizer-
XVII. Regionalsprachgeschichte
deutsch, „daß die Teilhabe rom. Elemente am Aufbau der schweizerdt. Sprachlandschaft kein peripheres, sondern ein durchaus zentrales, überall ins eigentlich Konstitutive vorstoßendes und in seinen Erscheinungsformen ungemein differenziertes Phänomen ist“ (vgl. auch Hotzenköcherle 1984). Auch darin ist eine Abstandskomponente des Schweizerdeutschen und selbst des Schweizerhochdeutschen gegenüber der nhd. Standardsprache zu sehen. 2.5. Zur Beurteilung der sprachgeschichtlichen Entwicklung des Verhältnisses Mundarten und Standardsprachen in der viersprachigen Schweiz Bei allen vier Nationalsprachen der Schweiz ist für die sprachgeschichtliche Beurteilung grundsätzlich das Auseinanderklaffen der diachronischen Entwicklung der beiden Sprachformen Mundarten und Standardsprachen zu bedenken. Für jede der vier Sprachen Dt., Frz., Ital. und Rätorom. auf dem Gebiet der Schweiz sind die Mundarten der sprachgeschichtliche Ausgangspunkt, während die Schriftsprachen sich ⫺ mit Ausnahme des seit der frühen Neuzeit ohnehin auf den schweiz. Kanton Graubünden beschränkten Rätorom. ⫺ weit außerhalb der schweiz. Sprachgebiete herausgebildet und zunächst entfaltet haben: die nhd. Schriftsprache im ostmd.-obersächs. Raum (mit bair.-österr. donauländischer Öffnung), die frz. Schriftsprache in der Ile de France mit Paris als Mittelpunkt, die ital. Hochsprache seit Dante im toskanischen Raum mit Florenz als Ausgangspunkt. In allen drei Sprachgebieten (dem dt., frz. und ital.) fand seit der Neuzeit eine mehr oder weniger starke Beeinflussung oder sogar Überschichtung durch die Schriftsprache statt. So gibt es strenggenommen in der Sprachgeschichte der dt. Schweiz zwei Entwicklungsstränge, die sich zunehmend gegenseitig beeinflussen (Abb. 190.7): (1) der ungebrochene geschichtliche Entwicklungsstrang der alem. Mundarten vom Altalem. der ahd. und mhd. Zeit bis zu den modernen schweizerdt. Mundarten der Gegenwart und Zukunft; (2) der geschichtlich immer wieder unterbrochene Entwicklungsstrang der Schriftsprachgröße von den ahd. Schreibdialekten über die mhd. Literatursprache auf dem Boden der Schweiz zu den älteren, noch alem. bestimmten schweiz. Schreibsprachformen bis zum Eindringen der nhd. Schriftsprache im Gefolge der Lutherbibel seit den
2841
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
1520er Jahren. Diese letzte, nhd. Sprachperiode hat zur Entstehung des Schweizerhochdeutschen sowie zur weitgehenden Anpassung der schweiz. Schriftsteller, ja überhaupt des öffentlichen Sprachlebens an die nhd. Standardsprache geführt (vgl. unten Abschnitte 4 und 5).
Abb. 190.7: Die deutsche Sprache in der Schweiz in geschichtlicher Sicht
Was die rom. Sprachen der Schweiz betrifft, seien hier wenigstens einige Hinweise vermittelt. In der frz. Schweiz (Romandie) vollzog sich zunächst in den spätmittelalterlichen Kanzleisprachen eine gewisse Ausrichtung nach frz. Zentren, vor allem nach Dijon, während die durchgreifende literatur-, schulund hochsprachliche Französisierung der frankoprov. und nordfrz. Patois seit dem 16. Jh. einsetzte, wobei das Frz. im 17. und 18. Jh. als allgemeine Umgangssprache an die Stelle der Mundarten trat, von ländlichen Randgebieten bis zur Gegenwart abgesehen. Von Bedeutung war dabei der Einfluß der frz. Hugenottenflüchtlinge und der neufrz. reformierten Bibelsprache, neben der allgemeinen Kulturausrichtung nach Frankreich im 17. und 18. Jh. Voran gingen die Städte, unter denen Genf gegen 1750, Lausanne und Neuenburg gegen 1800 ihre Mundarten verdrängt hatten, während die Schulen des 19. und 20. Jh. die Patois als Hindernis für eine gute Beherrschung der frz. Schriftsprache bekämpften (Schüle 1967). In der ital. Schweiz hat das Standarditalienische erst in den letzten Jahrzehnten große Bedeutung gewonnen, während es in der ersten Hälfte des 20. Jhs. und im 19. Jh. nur von einer schmalen Oberschicht verwendet wurde. Dafür hatte die lombardische Umgangssprache (Koine) neben den angestammten Dialekten größere Bedeutung, während das regional gefärbte Ital. (Tessiner Italienisch, italiano regionale)
zur Zeit erstarkt. Jedenfalls ist auch in der ital. Schweiz der Einfluß der Standardsprache zunehmend (Lurati bei Schläpfer/ Bickel 2000). Demgegenüber muß beim Rätorom. von zeitlich verschieden gestaffelten und räumlich gesonderten Standardisierungen vom 16. bis zum 20. Jh. gesprochen werden, so daß mit der Zeit neben den Mundarten vier Schreibidiome (z. T. mit Untergruppen) entstanden, von denen das Ladinische im Engadin und das Surselvische im Vorderrheintal die wichtigsten wurden (vgl. Arquint bei Schläpfer/Bickel 2000). Wie schon oben in Abschnitt 2.2. erwähnt, ist eine neue Phase der gesamtbündnerroman. Verschriftsprachlichung sprachplanerisch durch die Schaffung des Rumantsch Grischun als kommunikative Ausgleichssprache für den schriftlichen Verkehr seit 1982 eingeleitet worden. So darf als jahrhundertealtes Generalthema der viersprachigen Schweiz die Auseinandersetzung der autochthon gewachsenen Mundarten einerseits mit verschiedenen Formen ihrer Verschriftlichung, andererseits mit den sie in der Regel von außen überlagernden Schrift- oder Standardsprachen bezeichnet werden ⫺ und dies unabhängig voneinander in jedem der vier schweiz. Sprachgebiete.
3.
Zur sprachlichen Stellung der deutschen Schweiz in alt- und mittelhochdeutscher Zeit
Auf die besonders bedeutsame Stellung der dt. Schweiz in der gesamtdt. Literaturgeschichte seit ahd. und mhd. Zeit hat erstmals umfassend Wackernagel 1833 hingewiesen, während Bächtold 1892 die erste und bis heute an Materialfülle nicht überholte Gesamtdarstellung der dt. Literatur in der Schweiz vorgelegt hat. Den seitherigen Forschungsstand umreißt der Artikel Schweizerische Literatur von Henzen/Zinsli/Kohlschmidt (1977). Dagegen fehlt eine umfassende Sprachgeschichte der dt. Schweiz (älterer Forschungsstand Bachmann 1908; sprachgeschichtliche Grundlagen Haas bei Schläpfer/Bickel 2000, 17 ff.; sprachgeschichtlicher Überblick Lötscher 1983, 31 ff.). Wir beschränken uns im folgenden vor allem auf die entscheidenden Hinweise zum Problem des Verhältnisses von Mundarten und Schreib- oder Literatursprachen. 3.1. Zur althochdeutschen Schweiz Nach Sonderegger 1963, der diesen Begriff eingeführt hat, ist die ahd. Schweiz eine bestimmte, sprachlich und räumlich faßbare
2842 Größe am Südwestrand des Ahd., sprachund literaturgeschichtlich besonders durch den klösterlichen Überlieferungsort St. Gallen (612 durch den als irisch bezeichneten Glaubensboten Gallus begründete Mönchszelle, 719 durch den Alemannen und ersten Abt Otmar begründetes benediktinisches Kloster, später Fürstabtei, mit bedeutender frühmittelalterlicher Blütezeit vom 9. bis 11. Jh.) geprägt (Sonderegger 1970, 1982, 1999, mit weiterer Literatur). Die ahd. Schweiz zeigt eine Reihe von sprachgeschichtlich relevanten frühalem. Quellen (Namen, Gloßen, Glossare, Urkundenwörter, Texte und Übersetzungen aus dem Lat.), deren systematische Auswertung das Bild einer zunehmenden sprachlichen und siedlungsmäßigen Durchdringung der dt. Schweiz von ihren Anfängen seit dem 5./6. Jh. bis um 1100 ergibt. Hand in Hand damit geht eine fortschreitende Auseinandersetzung mit dem Rom., die etappenweise ablesbar bleibt. Sprachgeschichtlich ist die ahd. Schweiz als älteste faßbare Schicht des Südalem. Ausgangspunkt und Grundlage des heutigen Sprach- und Namengefüges der dt. Schweiz. In dieser Zeit entstehen die ersten dt.-rom. Sprachgrenzstücke in der Schweiz (vgl. Art. 204, 205). Der Schwerpunkt der ahd. Schweiz liegt im Nordteil der heutigen dt. Schweiz. Was das Verhältnis von gesprochener altalem. Mundart und geschriebenem Schriftdialekt (nach lat. Vorbild) betrifft, ergeben die notizartigen Voraufzeichnungen, die sog. Vorakte, zu den älteren lat. Privaturkunden des Klosters St. Gallen wertvolle Hinweise in ihrem ahd. Namenmaterial, wie Sonderegger 1961 nachgewiesen hat. Diese Vorakte aus dem Zeitraum von 750 bis 907 zeigen gegen sechshundert von den nachfolgend kanzleimäßig ausgefertigten Urkunden abweichende oder zusätzliche Namensformen einer altalem.-ahd. Sprechsprache, während sie in den Urkundentexten durch ihre Einbettung in das lat. Formular in der Regel stilisiert, ja oft latinisiert oder auch frankonisiert worden sind (z. B. Vorakt 786 altalem. Tuato, 820 Duado, urkundlich aber 820 Duodini = Genitiv von latinisiertem und frankonisiertem Duodinus; Vorakte 804 nisi Uuinimuntes, urkundlich excepto Winimundo; Vorakt 805 in Uuangun, urkundlich 805 in Wangas, Ortsname Wangen). Daneben zeichnen sich die Vorakte durch viele Assimilationsformen, Nebensilbenabschwächungen, Verschleifungen und Reduktionen von ersten oder zwei-
XVII. Regionalsprachgeschichte
ten Kompositionsgliedern aus (z. B. Vorakt 782 Ragos, Liugos, urkundlich 782 Raatcoz, Liutcoz; Vorakt 797 Erchenhart, urkundlich 797 Erchanhardi; Vorakt 764 signum Albuni, urkundlich 764 ante Albvino tribune), so daß man Indizien dafür gewinnt, daß in der gesprochenen Sprache des 8. und 9. Jh. bis zu zweihundert Jahre früher jene Lauterscheinungen zu wirken beginnen, welche nachgerade das Spahd. des 10. und 11. Jh. charakterisieren. Demgegenüber tendieren die Urkundenreinschriften zur Ausbildung einer Schreibnorm, zur Gleichmäßigkeit und Ausglättung, zum Festhalten an einmal gewonnenen und schriftlich fixierten Formen oder Schreibungen, zur Archaisierung. Entsprechend sind in den Vorakten Primärumlaut um Jahrzehnte früher und die altalem. Medienverschiebung von b, g > p, k/c viel ausgeprägter als in den entsprechenden Urkunden vorhanden. Als erster großer Schöpfer einer altalem.schweizerdt. Schreibsprache darf Notker III. Teutonicus oder der Deutsche von St. Gallen (um 950⫺1022) bezeichnet werden, der als Vater der schweizerdt. Mundarten gelten darf, da mit ihm die breiteste Aufzeichnung des Altalem. (Süd-, Halem. aus ahd. Zeit) gegeben ist (Überblick bei Sonderegger 1970, 79⫺112). Selbst aus der engeren Nordostschweiz des heutigen Kantons St. Gallen stammend, basiert seine schulische, auf ein besseres Verständnis des Lat. ausgerichtete Übersetzungssprache auf genauester phonetischer Beobachtung des Altalem. seiner Zeit, welches er zu einer Schreibsprache, ja eigenen Literatursprache von hoher grammatischer Einheitlichkeit und auf weite Strecken künstlerischer Gestaltung durchgeformt hat. Grundlage dieser schulisch-wissenschaftlichen Schreibsprache ⫺ im Psalter außerdem einer stark rhythmisch gestalteten Bibelsprache ⫺ stellt das Altalem. seiner Herkunft und klösterlichen Umgebung nach Lautstand, Formensystem, sprechsprachlichen Redewendungen, Sprichwörtern und altheimischem Wortschatz dar, was im Vergleich mit den heutigen schweizerdt. (oder auch eingeschränkter nordostschweiz.) Mundarten oft bis in Einzelheiten hinein verfolgt werden kann (Übersicht Abb. 190.8). Eine Ausnahme im Sinn einer überregionalen frk. Schreibsprachausrichtung stellt indessen die Angleichung von Altoberdt. iu an frk. ie dar, welche Notker entgegen der überwiegenden ahd. Sprachtradition seines St. Galler Scriptoriums wie auch im Gegensatz zur heutigen
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
2843
Abb. 190.8: Übereinstimmung sprachlicher Kennmerkmale Notkers des Deutschen mit dem Schweizerdeutschen
nordostschweiz. Mundart auch vor Labial und Guttural vollzieht (Sonderegger 1978, 249⫺251): lıˆeb Adj., Subst. ‘lieb’ (St. Gallen sonst in der Regel ahd. liub, Personenname Liupo, altmundartlich lüüb); tıˆef ‘tief’, tıˆefi f. ‘Tiefe’ (St. Gallen ahd. auch tiuffi f., mundartlich nordostschweiz. tüüf, Tüüfi); flıˆega f. ‘Fliege’ (St. Gallen ahd. auch fliuga, mundartlich nordostschweiz. Flüüge) usw. Neben der altalem. Grundlage und einer gewissen überregionalen frk. Sprachausrichtung bilden natürlich lat. Lehnwörter, Lehnbildungen und lehnsyntaktische Züge (bis zu Partizipialkonstruktionen und der Verwendung des Ak-
kusativs mit Infinitiv), schulisch-lehrhafte Bildungselemente, Formen und Begriffe der Rechtssprache und selbst poetische Merkmale (etwa die oft zu beobachtende Stabreimstilisierung in gehobenen Prosateilen) weitere Bestandteile von Notkers äußerst komplexer Übersetzungssprache, deren volkssprachliche Eigenwertigkeit hoch veranschlagt werden muß, auch wenn nach Notkers Übersetzungshaltung und Intention sein Ahd. nur Mittlerfunktion für das Verständnis des schwierigeren Lat. durch seine Schüler hatte: einerseits ist eine für das Ahd. unverhältnismäßig große Freiheit der Übersetzung nach Wortwahl, Va-
2844 riation und Wortstellung erreicht, andererseits greift Notkers Text auf dem Hintergrund von antiker und frühmittelalterlicher Kommentarliteratur oft durch Zusätze bis zur Abschnittsgröße über die reine Übersetzung zur eigentlich volkssprachlichen Erläuterung weiterer Sachzusammenhänge hinaus. Dank der altalem.-schweizerdt. Grundlage von Notkers Schreibsprache bildet der spätahd. Schriftdialekt des St. Gallers für das Schweizerdeutsche Wörterbuch (Schweizerisches Idiotikon, Bd. I ff., 1881 ff.) einen wichtigen historischen Ausgangspunkt. Direkte Sprachbezüge auf die Volkssprache finden sich bei Notker häufig: sei es allgemein auf das Dt. (in dı´utiskuˆn u. ä.; Ta´ranaˆh mu´gin uuı´r te´utones che´den), sei es auf die ahd. Lautung und Aussprache eines älteren Namens (Boethius Prolog: lat. Theodericus, Odoagrus; ahd. E´neˆr hıˆez in u´nsera uuıˆs oˆtacher. tı´ser hıˆez thioterih; daneben dioterih), sei es auf einen volkskundlich-volkssprachlichen Sachzusammenhang (Martianus Capella II, 8 über die antropofagi oder commessores hominum: Sıˆe e´zent na´htes. te´s sie sı´h ta´ges sca´men mu´gen. a´lso man chıˆt. ta´z o´uh haˆzessa [‘Hexen’] hıˆer in la´nde tuˆen),´ sei es auf verschiedene Arten der Rede (dingchoˆse n. ‘Gerichtsrede’, hoˆh-choˆse ‘prahlerische Rede’) bis hin zu Sprachschichten (dero liuto gechoˆse, e´meze-choˆse ‘Umgangssprache’). So ist es nicht erstaunlich, daß Notker voll von Beispielen gesprochener Sprache des Ahd. ist, wie sie in sprechsprachlichen Kurzsätzen besonders aus dem Unterrichtsgespräch der Schule immer wieder aufleuchten (Sonderegger 1980, 1999a mit Lit.). 3.2. Zur mittelhochdeutschen Schweiz Eine systematische Erforschung der mhd. Sprachverhältnisse auf dem Gebiet der Schweiz steht noch aus. Neben der alem.schweiz. mitbestimmten obd. Literatursprache der bedeutenden mhd. Dichter zeigen sich indessen auch in literarischen Denkmälern aus der Schweiz enger mundartliche Sprachzüge, vereinzelt bei den Schweizer Minnesängern (hrsg. von Bartsch 1886, Schiendorfer 1990), hier besonders beim Zürcher Johannes Hadloub um 1300 (z. B. 6, 10 sıˆ sprach ‘wa ist mıˆn gselle?’; 13, 16 ‘oweˆ lieblıˆch gstellet roˆter munt’; 15, 4 u. ö. Chuonze Personenname; 15, 15 Ruodolf malch sıˆn kuo), deutlicher beim Berner Ulrich Boner gegen die Mitte des 14. Jh., dem Verfasser der Reimfabelsammlung Edelstein (Schoch 1881, Balsiger 1904), bei welchem die drei Sprachschichten Mundart, Kanzleisprache und Lite-
XVII. Regionalsprachgeschichte
ratursprache festzustellen sind. Innerhalb der epischen Dichtung zeichnet sich der Konstanzer Heinrich Wittenwiler in seinem Ring um 1408⫺1410 durch eine bewußte Sprachmischung zwischen halem. höfischer Literatursprache, eng mundartlicher Ausrichtung auf den nordostschweiz. Handlungsraum des mittleren Toggenburgs und auf die Kennzeichnung durch grobe appenzellische Bauernsprache (z. B. Monophthongierung von mhd. ei > ä: fläsch ‘Fleisch’, gäss ‘Geiß’) und überheblich verfremdenden bair. Sprachmerkmalen aus (Keller 1935, Lutz 1990, 419⫺426). Merkmale eines schweiz. Wortschatzes und Formensystems sind sodann in einer anonymen Schweizer Kleinepiksammlung aus dem 15. Jh. (Codex 643 der Stiftsbibliothek St. Gallen, hrsg. v. Fischer 1965) festzustellen, die der Glarner Landschreiber Rudolf Mad in einen Sammelband aufgenommen hat. Vetter 1892 weist für den thurgauischen Kunrat von Ammenhausen (Schachzabelbuch von 1337) und dessen alem. Abschreiber deutliche Mundartentwicklungen nach, z. B. beim beginnenden Ausgleich der Pluralendungen des Normalverbs, der heute mundartlich in der östlichen dt. Schweiz vollständig durchgeführt ist. Raum für die Mundart und Sprechsprache bietet auch das spätmittelalterliche Drama, zumal in den Krämerszenen der Osterspiele, seit seinem ältesten Vertreter auf Schweizer Boden, dem halem. Osterspiel von Muri (aus Zürich) um die Mitte des 13. Jh. (Ranke 1944). Hier begegnen z. B. mundartlichi sprechsprachliche Formen wie self u got (soˆ i helfe iu got), zv˚ zvns (zu˚ ze unsih ‘auf uns zu’), older ‘oder’ (nach Schw. Id. 1, 187 auch älter aargauisch). Mit dem Drama ist überhaupt ein örtlich oft bemerkenswert kontinuierlicher Überlieferungsstrom gegeben, wie z. B. in Luzern, der vom Spätmittelalter bis in die Neuzeit reicht (Literatur zur Sprache des älteren schweiz. Dramas bei Sonderegger 1962, 270⫺274; sprachliche Bemerkungen zu den frühen Schweizerspielen des 14. und 15. Jh. bei Christ-Kutter 1963). Im Spannungsfeld von Mundart, Urkundensprache und Kanzleisprache steht auch die innerschweiz. Engelberger Benediktinerregel aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. (Konzelmann 1919), während die Masse der weiteren spätmittelalterlichen Prosadenkmäler aus der dt. Schweiz mehr oder weniger deutliche Dialektspuren aufweist, die in der Verschriftung oder durch die Überlieferung oft ausgeglichen oder durch nichtalem. Abschreiber
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
nach anderen Landschaften umgeformt sind (vgl. z. B. die Sprachanalyse der Hss. zu Elsbet Stagel, ‘Das Leben der Schwestern zu Töß’ [2. Viertel des 14. Jh.] bei Vetter 1906; zum Passionstraktat des Heinrich von St. Gallen bei Ruh 1940; weitere sprachwissenschaftliche Literatur zu schweiz. religiösen Texten bei Sonderegger 1962, 266⫺268; zum Stifterbuch von Schaffhausen Anfang 14. Jh. in der halem. bis schwäb. Tradition Gallmann 1994). Einen Unterschied nach zwei halem. Schreibtraditionen am selben Ort stellt Nyffenegger 1974 für die Überlieferung des ersten volkssprachlichen geschichtlichen Prosawerkes der dt. Schweiz Nüwe Casus Monasterii Sancti Galli durch Christian Kuchimeister (Cristaˆn der Kuchimaister) aus der Zeit von 1335 ff. fest, wo die eine Hs. Z der älteren städtischen, die andere Hs. V der jüngeren äbtischen Kanzleisprachtradition von St. Gallen im 15. Jh. folgt. Halem.-schweiz. (mit niederalem.-oberrhein. Ablegern) ausgerichtet ist auch die reiche spätmittelalterliche Bibelübersetzung zumal in Zürich, wo es im ersten Viertel des 14. Jh. vermutlich zur ältesten vollständigen dt. Bibelübersetzung durch den Dominikaner Marchwart Biberli (etwa 1265⫺1330) kam (Wallach-Faller 1981; Sonderegger 1998). Von besonderer Bedeutung für die Sprachgeschichte der dt. Schweiz ist die hier außerordentlich früh und reich einsetzende halem. Urkunden- und Kanzleisprache (Literatur bei Sonderegger 1962, 262⫺264; 1997, Boesch 1946, 1968), vereinzelt schon vor der Mitte des 13. Jh., reicher ausgreifend seit der zweiten Hälfte des 13. Jh. und natürlich im 14. und 15. Jh. Seit Brandstetter 1892 für Luzern von 1250 bis 1600 und Boesch 1946 übergreifend erkennt man im Komplex der spmhd. Urkundensprache drei verschiedene Ausrichtungen: (1) eine sog. ahd. oder archaische Richtung mit weitgehend restituierten oder von der altertümlichen Mundart her bewahrten vollen Nebensilbenvokalen, die zudem in der dt. Schweiz der Mundart näher steht, aber im 13. Jh. nicht mehr häufig ist, außer in den abgelegenen Klöstern der Innerschweiz (wie auch in schwäb. Landklöstern); (2) eine modernere, mhd. Richtung mit dem Typus der glatten, uniformierten Sprache in den Nebensilben; daneben rechnet Brandstetter 1892 noch (3) mit einer mundartlichen Richtung (mit vielen Elementen aus der gesprochenen Sprache) und (4) mit einer fremden, d. h. von Fremdeinflüssen aus anderen Kanzleien geprägten Richtung. Boesch 1968 weist darauf hin, daß grundsätzlich Schreibort (mit oft langandauernder Tradition), Sprachschicht (wie
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oben) und Schreiberpersönlichkeit als formende Kraft zu beachten sind. Für die Beurteilung der Sprachschichten und ihres entwicklungsgeschichtlichen Ineinandergreifens bleiben die Erkenntnisse von Boesch 1946, 62 bestimmend: „Reine Mundart wird nirgendwo geschrieben. Aber die Schriftsprachlichkeit nimmt ab, die Mundartlichkeit zu von der «modernen» Richtung über i, u als Unbetontheitsvokal bis hin zur «archaischen» Richtung. In der modernen Richtung geht die Uniformierung oft so weit, daß auch die auslautenden Fem. Abstrakta auf -i durch e wiedergegeben werden; daß die höfische Umgangssprache [des Alemannischen] je so weit gegangen sein wird, darf man füglich bezweifeln.“ Im übrigen lassen sich regionale bis überregionale Schreiblandschaften erkennen, wobei sich in der dt. Schweiz besonders ein Gegensatz zwischen Ost (Bodenseeraum, St. Gallen, Schaffhausen, Zürich) und West (Basel, Aargau, später auch Bern, z. T. Innerschweiz), primär zwischen Basel (und Oberrhein) und Zürich (mit Verbindung weit nach Nordosten) ergibt, was Müller 1960 auf breiter historisch-wortgeographischer Basis untermauert hat. Was die Urkundensprache an einzelnen Orten betrifft, sind neben Luzern (Brandstetter 1890, 1892) nur noch Chur (Ludwig 1989) und St. Gallen genauer erforscht (Schmid 1953, McCormick 1977 unter Betonung der grundsätzlich konservativen Haltung der Urkundensprache in der ersten Hälfte des 14. Jh., obwohl sekundäre wie umgekehrte Schreibungen auch einen Mundartwandel z. B. von mhd. ei > ä¯ erkennen lassen).
Deutlicher als in den Urkunden läßt sich Mundart in den Zeugenaussagen von Gerichtsprotokollen erfassen, wie dies Müller 1953 für die Stadt Basel von 1420 bis 1644 gezeigt hat, wobei sich auch Anhaltspunkte für den Sprachwandel im Spätmittelalter ergeben (Schwund des auslautenden n, n-Verlust vor stimmlosem Reibelaut, Gutturalisierung von nd, Entrundung, Aufkommen der Hiatusdiphthongierung, Ablösung altmundartlicher Wörter durch Einbrüche von Norden her wie von after durch nach, von unz durch bis). Neben den Urkunden und Archivakten dürfen als wichtige Sprachquelle des Südalem. in spätmhd. Zeit noch die sprachgeschichtlich bisher wenig ausgewerteten Glossare oder Vokabulare genannt werden (Übersicht bei Hänger 1972), unter ihnen der Vocabularius Beronensis aus einer Handschrift der Stiftsbibliothek Beromünster aus der Mitte des 15. Jh. (Teilausgabe Brandstetter 1886). Als halem.-schweiz. darf schließlich die oft farbig schillernde Sprache der Schweizer Chronisten seit dem 14./15. Jh. bezeichnet werden, die indessen ihren Höhepunkt im 16. Jh. erreicht (vgl. unten Abschnitt 4). Ins 15. Jh. reicht noch das 1470⫺72 verfasste
2846 halem. Weisse Buch von Sarnen (mit der ältesten Überlieferung der schweiz. Tellsage) von schwieriger Graphematik, aber stilistischer Prägnanz (Studach 1993). So kann zusammenfassend zur sprachlichen Lage der dt. Schweiz in mhd. Zeit das Folgende gesagt werden: (1) Gesprochene Grundschicht bilden die Mundarten, welche regionale Raumbildungen im kleinen (z. B. toggenburgisch-appenzellische Sprachbezüge bei Heinrich Wittenwiler) wie im größeren (z. B. wortgeographische Gegensätze zwischen Zürich und Basel) erkennen lassen. (2) Die hauptsächliche Verschriftung in Urkunden, Akten, Prosa und z. T. selbst in literarischen Denkmälern findet in verschiedenen Formen halem. (oder baslerisch-oberrheinischer) Schreibsprachen, z. T. mit schwäb. Einflüssen statt, welche unter sich recht unterschiedlich sind und außerdem verschiedene Sprach- und Stilschichten aufweisen. Wirkliche Mundart erscheint dabei immer wieder, doch nirgends durchgehend, sondern brockenweise eingestreut oder in der besonderen Färbung bestimmter Sprachformen. Doch steht diese Verschriftungsform dem Sprachsystem nach der Mundart nicht völlig fern, wenn sie oft auch konservativer oder archaischer ist, als die besonders im Spätmittelalter ihre besonderen Kennzeichen ausbildenden Dialekte, vor allem in der Urkundensprache. (3) Daneben hat die dt. Schweiz Anteil an der literarisch durchgeformten mhd. Dichtersprache auf oberdt. Hintergrund, in welcher spezifisch Mundartliches gemieden wird. Aber auch hier sind einzelne Dialektformen möglich, wie z. B. bei den Schweizer Minnesängern oder überhaupt in einzelnen Handschriften mehr regional ausgerichteter Skriptorien oder Schreiber. Die mhd. Sprachtradition reicht in der Schweiz nach Lautstand und Formensystem noch bis zum 15., z. T. 16. Jh. und eine Abgrenzung zum Frnhd. bleibt schwierig (Kriterien, Quellen und Forschung bei Sonderegger 1993). In der Übergangsphase vom Mhd. zum Frnhd. ist auch die Ausformung spezifischer Rechtssprachlandschaften in der Schweiz anzusiedeln, wie sie Garovi 1999 dargestellt hat: mit europäischen Bezügen nach Norden in den südwestdt. Raum (z. B. Weibel ‘Gerichtsdiener’, Weibelhueb ‘Lehen mit Gerichtsplatz’, Juchart ‘Morgen Landes’, Zunft ‘Handwerksgenossenschaft’) bzw. nach Süden in den italien.-rätorom. Raum (z. B. Sust ‘Stapelplatz, Umschlagsplatz’, rom. susta, sosta ‘Hütte u. ä.’, Kaparre, ital. caparra
XVII. Regionalsprachgeschichte
‘Aufgeld, Anzahlung’, Kawertscher, Pl. -en u. ä. ‘Geldwechsler’, mlat.-rom. cavercinus u. ä.).
4.
Entwicklung und Umformung der schweizerischen Literatur- und Kanzleisprache unter dem Einfluß der neuhochdeutschen Schriftsprache im 16., 17. und 18. Jahrhundert
4.1. Voraussetzungen in Humanismus und Reformation Ein neuer Abschnitt in der deutschschweiz. Sprachgeschichte beginnt mit dem 16. Jh., in welchem durch den nun beginnenden Einfluß der Luther-Bibel seit den 1520er Jahren das Verhältnis Mundarten/Schreibsprachen/Schriftsprache um die Größe der werdenden nhd. Schriftsprache vermehrt wird, wobei sich durchaus uneinheitliche Verhältnisse ergeben. Zunächst bleibt die Sprache der Schweizer Chronisten oder Geschichtsschreiber im wesentlichen bis zu ihrem größten stilistischen Gestalter, dem Glarner Aegidius Tschudi (1505⫺1572) altschweiz.-halem. bestimmt (Literatur zur Sprache der Chronisten bei Sonderegger 1962, 264⫺266; zum Berner Diebold Schilling d. Ä. Glatthard 1991; zum Zürcher Gerold Edlibach [1454⫺1530] Keller 1965, zum Aargauer Wernher Schodoler Studer 1983, zum Luzerner Diebold Schilling Studer 1981, zum kathol. Luzerner Reformationschronisten Jörg 1986), ja es lassen sich dabei noch, neben wenigen ausgeprägten Mundartmerkmalen (wie z. B. gesotteß vnd brattes bei Edlibach), typisch mhd. Sprachzüge erkennen (Fehlen der nhd. Diphthongierung und Monophthongierung, volles Ablautgefüge im Stammvokalismus der starken Verben, im wesentlichen bewahrter grammatischer Wechsel, Rückumlaut der schwachen Verben der Klasse 1 usw., vgl. Keller 1965, 142 f.). Daneben ist auch mit Einwirkungen des philologisch-rhetorischen Humanismus zu rechnen (Wehrli 1956, Jörg 1977). Dies gilt indessen nicht mehr für die Gesamtheit der literarischen Sprache der dt. Schweiz im 16. Jh., da sich hier bereits eine gewisse Ausrichtung besonders nach den nhd. Diphthongen ei (< mhd./schweizerdt. ¯ı ), au (< mhd./ schweizerdt. u¯ ) und äu/eu (<mhd./schweizerdt. ü¯) bemerkbar macht, die im einzelnen noch nicht aufgeschlüsselt ist, während die nhd. Monophthongierung von ie > ¯ı, uo > u¯,
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
üe > ü¯ zunächst noch nicht übernommen wird (vgl. auch Henzen 1954, 110⫺114). Es scheint dabei so zu sein, daß sich die Schweizer Dramatik des 16. Jh. mit Rücksicht auf die volksnahen Aufführungen mehr der im wesentlichen auf dem mhd. Lautstand verbliebenen alem.-schweiz. Schreibsprache bedient (so z. B. die Stücke in der Sammlung von Bächtold 1890⫺93, Niklaus Manuels Ablaßkrämer bei Zinsli 1960 [mit deutlichen Mundarteinflüssen], Jos Murer bei Racine 1970, Das Spiel von den alten und jungen Eidgenossen ed. Christ-Kutter 1963 [mit sprachlichen Anmerkungen], Das Luzerner Spiel vom Klugen Knecht bei Wuhrmann 1975, Das Luzerner Osterspiel bei Wyss 1967; dagegen fast ausnahmslos diphthongierend Rudolf Gwalthers Nabal in der Übersetzung durch den Schaffhauser Sebastian Grübel 1559; weitere Bemerkungen zur sog. Landspraach in den schweiz. Dramen bei Haas 1989), während die gelehrte Prosa- und Wissenschaftsliteratur sich mindestens in der Nordschweiz (Basel, Schaffhausen, Zürich, St. Gallen) früher dem vokalischen Lautstand der nhd. Schriftsprache Luthers anzugleichen bereit ist. (So etwa Josua Maaler, Die Teütsch spraach, Dictionarium Germanicolatinum novum. Zürich 1561 [hrsg. von de Smet 1971], mit nhd. Diphthongierung, aber ohne nhd. Monophthongierung). Eine systematische Kurzbeschreibung der altschweiz.-alem. Schreibsprache des 16. Jh. vermittelt auf Grund des Dreikönigsspiels des Solothurners Hanns Wagner (Ioannes Carpentarius) von 1561 Kully 1982, II, 13⫺56, der auch mundartliche Einsprengsel („dem Versmaß zuliebe oder zur Erreichung reiner Reime“) nachweisen kann (z. B. Uerston/kon für *verstan/*kommen, uernen/bescheen für *vernemen/*beschehen). Das lat.-dt. Unterrichtsbüchlein Sylvula formularum quotidiani sermonis …, Basel 1562, des im aargauischen Brugg wirkenden Zürcher Gelehrten und Schulmannes Conradus Clauserus mit seinen halem.-zürcherischen Sprachzügen hat Glaser 1999 erstmals linguistisch untersucht. Geradezu repräsentativ für den allmählichen Angleichungsprozeß der deutschschweiz. Schreibsprache an die mit Luther erstarkende nhd. Schriftsprache im 16. Jh. ist der über weite internationale Beziehungen verfügende und lange an der Universität Wien wirksam gewesene St. Galler Humanist, Bürgermeister und Reformator Joachim von Watt, genannt Vadianus (1484⫺1551), dessen freilich zunächst ungedruckte dt. historischen
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Schriften sich in eine ältere Gruppe (große oder ältere Chronik der st. gallischen Äbte) aus den 1520er Jahren (mit Überarbeitungen bis um 1530/31) in altalem.-schweiz. Lautstand und in eine jüngere Gruppe (kleinere Chronik der Äbte und weitere Schriften) aus den 1540er Jahren mit mehr oder weniger dem Lautstand Luthers und den diphthongierenden (besonders der kaiserlichen) Kanzleien angeglichener Sprache einteilen lassen (vgl. Götzinger 1875⫺79). Oft finden sich in der jüngeren Gruppe der Vadianischen Schriften darüber hinaus unechte, hyperkorrekte Diphthonge aus vermeintlich richtiger, aber in Wirklichkeit falscher Umsetzung des Alem. in das Nhd., aus denen freilich wiederum Rückschlüsse auf den mundartlichen Sprachstand des St. Gallers gezogen werden können: braunst für brunst ‘Feuersbrunst’, mundartlich bru¯schd), ein für in (mundartlich i), keunftig für künftig (mundartlich chü¯ftig), schwaum für schwum (mundartlich schwu¯m ‘Schwamm’, vgl. Schw. Id. IX, 1874). Demgegenüber transponiert Vadians Kopist, der St. Galler Stadtschreiber Wolfgang Fechter, in seinen Abschriften die jüngere Chronik wieder in die altalem.-schweiz. Sprache zurück, während der aus Bruchsal stammende, aber in der Landschaft Zürich tätige Johannes Stumpf (1500⫺1577/78), der maßgebliche halboffizielle Chronist der alten Eidgenossenschaft, in seiner weitverbreiteten Schweizerchronik von 1548 (Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, landen und Völckeren Chronick, Zürich) sich (im Gegensatz zu seiner gegen zwanzig Jahre älteren Biographie Zwinglis und anderen reformatorischen Schriften) bereits der an das Nhd. angeglichenen Schweizersprache bedient, wie er auch Vorlagen der jüngeren Schriften Vadians in der gleichen Sprachform benützt hat. Nun gibt es in der Vadian-Überlieferung einige Partien, die ⫺ wenn auch mit bedeutenden kompositorischen Abweichungen ⫺ in beiden Sprachformen, der alem.-schweiz. Schreibsprache und der dem Nhd. teilweise angeglichenen Fassung überliefert sind. Neben den Unterschieden in der nhd. Diphthongierung (z. B. ältere Fassung „Zu˚ diser zit … undernomend sich die von Tüfen, ain kilchen zu buwen …“; jüngere Fassung „Diser zeit ward die kirch zu˚ Tüfen in Appenzell gebauwen …“) lassen sich auch Veränderungen in der Lautform einzelner Wörter (kilche zu kirch) oder an anderer Stelle im Tempusgebrauch (mundartnahes Perfekt zu Präteritum) registrieren (z. B. ältere Fassung „… zu˚
2848 herbstzit hat abt Uolrich einen wechsel troffen mit dem bischof von Costenz“; jüngere Fassung „Abt Uolrich traf einen wechsel mit dem bischof und stift zu˚ Costenz“). Auch der St. Galler Theologe Christoph Schappeler (1472⫺1551) verwendet in seinen Augsburger Drucken seit 1523 eine dem Nhd. Luthers angeglichene Sprachform (Textprobe Götze 1976, 92⫺96). Nach Jörg 1976 vollzieht sich der Schwund des Präteritums in der älteren schweizerdt. Sprache gestaffelt von Norden nach Süden im Verlaufe des 16. und frühen 17. Jh., mit Relikten bis ins 19. Jh. Von geradezu signalhafter Bedeutung für den schrittweisen Sprachwechsel von der altalem.-schweiz. Schreibsprache in Richtung nhd. Schriftsprache (zunächst der lutherischen Bibelübersetzung) sind die Veränderungstendenzen in der Zürcher Bibelübersetzung seit 1524 (dazu Sonderegger 1998). Ausgangspunkt der Rezeption des Luther-Textes seit 1522 sind zunächst die Luther-Nachdrucke durch Adam Petri (NT) und Thomas Wolf (NT und AT 1. Teil) in Basel von 1523, denen zum Verständnis des omd. Textes obd.-schweiz. bestimmte Glossare „Die außlendigen wörter auff vnser teutsch angezeygt“ (Petri 1523 und später), „Ettlicher wörtter erklärung oder außlegung … auff vnser hochteutsch“ (Wolf 1523 nach Petri erweitert) beigegeben wurden, welche in weiteren baslerischen und obd. Luther-Ausgaben bis 1538 nachgedruckt worden sind. 1524 erschien Luthers NT auch in Zürich in drei Ausgaben, während die erste Zürcher Bibel von 1524 bis 1529 unter der Obhut der Zürcher Prädikanten (mit Huldrych Zwingli und Leo Jud neben anderen Bearbeitern) erschien. Diese Zürcher Bibel folgte zunächst Luthers Text, soweit dieser bereits herausgekommen war, aber in alemannisierter schweiz. Sprachform, während die beiden letzten Teile des AT (Propheten und Apokryphen) 1529 in selbständiger schweiz. Verdeutschung (unter Beizug der Wormser Propheten von 1527) vorgelegt wurden. Aber schon die folgenden Ausgaben von 1527⫺1529 sowie die beiden ersten Zürcher Vollbibeln von 1530 und 1531 gleichen sich wieder mehr der Luther-Sprache mit durchgeführter Diphthongierung (aber nicht durchgeführter Monophthongierung von ie [Graphem ], uo [Graphem ] und üe [Graphem e ] an, während sich in den späteren Ausgaben des 16. Jh. weitere Anpassungen ergeben. So steht die Zürcher Bibel des 16. Jh. zwischen von allem Anfang an vorhandener
XVII. Regionalsprachgeschichte
Anpassung (und z. T. direkter Übernahme) des Luther-Textes und bedeutender eigener schweiz. Sprachausrichtung (Merkmale bei Sonderegger 1988), ohne eine Einheit zu sein noch eine solche zu bleiben. Denn es gehört zum Wesen der Zürcher Bibel, daß sie sprachlich viel anpassungsfähiger blieb, als die nach Luthers Tod für Jahrhunderte weitgehend erstarrte Luther-Bibel. In diesem Sinne hat sich die Zürcher Bibel der nachlutherischen Zeit immer mehr den Erfordernissen der nhd. Schriftsprache angeglichen, auch wenn sich dieser Vorgang nicht geradlinig, sondern bisweilen wieder mit Rückgriffen auf das Alem.-Schweizerische vollzog. Von Mundart kann man in der Zürcher Bibel des 16. Jh. deshalb nicht sprechen, da deren Sprachkorpus aus den folgenden vier Komponenten besteht: (1) rezipierter, z. T. stark alemannisierter, z. T. unveränderter LutherText; (2) eigene, in der Regel kollektive Übersetzungsleistung der Zürcher Prädikanten (als Änderung gegenüber Luther oder im AT z. T. selbständig, weil gegenüber Luther zeitlich voraus); (3) der prädominante Einfluß des philologisch hochbegabten Zürcher Reformators Huldrych Zwingli, dessen stark schweiz.-alem. bestimmte Übersetzungsleistung aus vielen Bibelzitaten sowie aus einer selbständigen Psalmenübersetzung von 1525 (die aber nicht gedruckt wurde, ihre Spuren indessen in der Zürcher Bibel hinterlassen hat) beurteilt werden kann (vgl. Schenker 1977, Himmighöfer 1995); (4) von Luther unabhängige, allgemein ausgerichtete Verneuhochdeutschung aus der Rücksichtnahme gegenüber der erstarkenden nhd. Schriftsprache in nachlutherischer Zeit heraus. Mundartlich beeinflußt sind dabei nur die Komponenten 2 und 3. (Vgl. auch die Gesichtspunkte bei Kettler 2001). Dergestalt beginnt sich die sprachliche Entwicklung in der Schweiz des 16. Jh. mehr aufzufächern als je vorher (vgl. Abb. 190.9): neben die den Mundarten noch näher stehende, weitgehend ungebrochene Tradition der altalem.-schweiz. Schreibsprachen mit regionalen Unterschieden in Literatur, Geschichtsschreibung, Aktenwesen und Reformation (außerhalb der Zürcher Bibel, etwa in Zwinglis Schriften) tritt die zwischen Schweizerisch und dem Nhd. Luthers in mannigfacher Brechung vermittelnde Sprache der Zürcher Bibel, welche mit ähnlichen Anpassungssprachformen des späten Vadian (vgl. oben) und weiteren hier nicht zu behandelnden Beispielen (Leo Juds verneuhochdeut-
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
2849
Abb. 190.9: Die historische Entwicklung der Sprachformen zwischen Mundarten und Hochsprache in der deutschen Schweiz
2850 sche Drucke seiner ursprünglich altalem.schweiz. Übersetzungen von Schriften des Erasmus von Rotterdam, Bezzel 1980; Conrad Geßners Mischsprachform im Fischbüchlein von 1556, ed. Peters 1974) zur allmählichen Entstehung des Schweizerhochdeutschen führt. Jedenfalls muß die erste Phase des später, besonders im 18. Jh. so wichtig gewordenen Schweizerhochdeutschen in dieser ersten Angleichung der altalem.-schweiz. Schreibsprachen an das Nhd. der Luther-Zeit gesehen werden: ist doch Schweizerhochdeutsch zunächst als schweiz. Schriftsprache unter Anlehnung bis gemäßigter Übernahme des Nhd. seit dem 16. Jh. zu verstehen, als Zwischensprachform nicht primär zwischen Mundart und nhd. Schriftsprache, sondern entstehungsgeschichtlich betrachtet zwischen älterer alem.-schweiz. Schreibsprache und erstarkender nhd. Bibel- und Literatursprache. Die bedeutendste ältere Form dieses Schweizerhochdeutschen stellt die Sprache der Zürcher Bibel seit 1522 dar, in deren durchaus uneinheitlichem Gefüge die Anpassungselemente in Richtung Nhd. mit der Zeit mehr und mehr überwiegen, ohne daß ⫺ wie im nd. Gebiet ⫺ die Luther-Sprache einfach voll und ganz übernommen wurde. Nachdem die altalem.-schweiz. Schreibsprache literarischer Prägung nach ihren letzten großen Ausformungen vor allem in der Dramatik des 16. Jh., beim gestaltungsgewaltigen Geschichtsschreiber Aegidius Tschudi im 16. Jh. und beim Luzerner Stadtschreiber und Dramaturgen Renward Cysat (1545⫺1614) wie auch in weiteren Literaturdenkmälern im Verlauf des 17. Jh. allmählich versiegte und mehr und mehr einem zwar schweiz. ausgerichteten Nhd. Platz machen mußte, kam es in der Folge erst recht zu einer Erstarkung des literarischen Schweizerhochdeutschen, das nun neben den erst vereinzelt im 17. und 18. Jh. (Suter 1949), verstärkt aber erst seit dem frühen 19. Jh. literarisch in Form der Dialektdichtung allgemein verschrifteten Mundarten die einzige wirkungsvolle Entgegensetzung schweiz. Sprachform gegenüber dem Nhd. blieb (vgl. Abb. 190.9). Dies hängt freilich auch mit der Ausbildung eines schweiz. Sprachbewußtseins in der frühen Neuzeit zusammen (vgl. Abschnitt 4.2.). Wie sehr die altalem.-schweiz. Schreibsprache selbst eines Aegidius Tschudi im 18. Jh. als erneuerungsbedürftig betrachtet wurde, erhärtet der Vorbericht von Johann Jacob Gallati, selbst wie Tschudi ein Glarner, zur erstmaligen Druckausgabe der Gallia Comata, Konstanz 1758, worin
XVII. Regionalsprachgeschichte Tschudis „bey jetziger Welt nicht nach jedermans Gust seyende Schreib=Art“ zwar nicht vollständig „nach heutig=hochgestigener teutschen Sprach= Kunst eingerichtet“ wurde, aber in „diser Edition der Mittel-Strassen“ gefolgt wurde, die der Herausgeber wie folgt charakterisiert: „nemlichen die alte Composition, Stylum ⫺ und Wörter des Authoris getreülich abcopiren ⫺ selbige aber nach heutiger Orthographie schreiben lassen, damit das Werck desto freudiger gelesen ⫺ und von denen Hoch= Teutschen, welchen die alt=Schweizerische redens= und schreibens=Art sehr unverständlich vorzukommen pfleget, eben so wohl ⫺ als von denen Aydgenossen desto leichter verstanden werden möge“ [usw.]. Eine Ausnahme hat Gallati nur bei den von Tschudi zitierten urkundlichen oder chronikalischen Quellen sowie bei den alten Eigennamen gemacht, wo „die alte Schreib=Art gantz genau beybehalten“ wird. Anders verfährt Johann Rudolf Iselin, der in seiner editio princeps von Tschudis Chronicon Helveticum von 1734⫺36 den Text in der altalem.-schweiz. Sprache des Autors vermittelt (kritische Edition durch Bernhard Stettler, Basel 1968⫺2001, Glossar dazu von Koch 2001).
4.2. Zur Entstehung eines schweizerischen Sprachbewußtseins seit der frühen Neuzeit Die Wurzeln eines sprachlichen Eigenbewußtseins der Schweiz liegen im schweiz. Humanismus, wo erstmals die sprachliche Sonderstellung der Schweiz erkannt wird: einerseits wird man der alten, auch auf dem Boden der Schweiz ⫺ zumal in St. Gallen ⫺ greifbaren älteren dt. Sprachquellen seit der Zeit Karls des Großen gewahr, andererseits beginnt man die recht deutlichen lautlichen und lexikologischen Unterschiede zur werdenden nhd. Schriftsprache, insbesondere Martin Luthers, geistig zu realisieren und vereinzelt auch schon darzustellen. Schließlich bricht auch im schweiz. Humanismus eine von den antiken Schriftquellen her aufgerollte historisch-topographische Landesbeschreibung auf, wie sie den dt. Humanismus überhaupt kennzeichnet, in der Schweiz jedoch zusätzlich auf die Beobachtung der zwei- oder mehrsprachigen Regionen und des Sprachwechsels der Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit ausgerichtet bleibt (Joachim von Watt, genannt Vadianus; Aegidius Tschudi). Das aufbrechende humanistische Eigenbewußtsein der Schweizer ⫺ ob es sich um Angehörige der Alten dreizehnörtigen Eidgenossenschaft seit 1513 oder der dieser zugewandten Orte handelt ⫺ läßt sich an verschiedenen sprachlichen Kriterien messen (dazu Sonderegger 1982a). So bleibt namengeschichtlich
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
im 16. Jh. eine Verfestigung der Gesamtbezeichnung Schweiz, Schweizerland u. ä. für die Alte Eidgenossenschaft, ja übergreifender mehr oder weniger für das gesamte Gebiet südlich des Rheins vom Bodensee bis Basel hin zu den Alpen festzustellen. Das etappenweise Ausgreifen der Bezeichnung des alten Ortes und Kantons Schwiz (heute Schwyz), mit früher nhd. Diphthongierung Schweiz (seit einer Urkunde Ludwigs des Baiern von 1315 in Sweitz), für das größere Gebiet der alten Eidgenossenschaft hat Oechsli 1916/17 umsichtig aus den Quellen dargestellt. Durch die militärischen Siege der alten, weitgehend bäuerlichen Eidgenossenschaft gegen die österreichischen Ritterheere im 14. und 15. Jh. wurde der Name Schwyzer, Schweizer ⫺ so nach dem wichtigsten Ort des geschichtlich-geographischen Ursprungsgebiets der späteren Schweiz ⫺ europäisch bekannt. Er wurde schon Mitte des 14. Jh. in österreichischen Quellen auf sämtliche Eidgenossen übertragen. In der Schweiz selbst ist er allerdings offenbar noch im 16. Jh. als relativ neu empfunden worden, wie aus mehreren Stellen bei Aegidius Tschudi („das gantz land so man jetz Schwitzerland nempt“, Urschrift zum Chronicon Helveticum nach 1550, ferner Gallia comata [Druck erst 1758] öfter) und bei Joachim von Watt (Vadianus) („alles land, so ietzmal das Schweitzerland genent wird“, Geschichte der fränkischen Könige 1545) hervorgeht (Nachweise bei Sonderegger 1982a). Daneben erscheint Schweytzerland als lexikographisches Stichwort mit der Erklärung Heluetia bereits in Josua Maalers Die Teütsch spraach, dem ersten gedruckten dt.lat., d. h. vom Dt. ausgehenden Wörterbuch (Zürich 1561, 367v). Da die Schweizer Humanisten, allen voran Aegidius Tschudi (vgl. Sonderegger 2002), im Gegensatz zu Beatus Rhenanus im allgemeinen noch der Ansicht waren, die alten Helvetier hätten Dt. (oder Germ.) gesprochen bzw. die Gallier und Germanen seien einer Sprache gewesen (ausführlich Tschudi, Gallia comata [Druck 1758], 246⫺252), konnte sich der im schweiz. Humanismus begründete Helvetismus auch sprachwissenschaftlich durchaus auf das Dt. und dessen helvetische Eigenarten ausrichten. So heißt es noch in Jacob Grassers Schweitzerischem Heldenbuch, Basel 1624, 10: „Also das heutiges Tags drey Sprachen / alß Teutsch / so der alten Helvetier Mu˚ttersprach / Jtaliänisch vnd Frantzösisch / jnerhalb gemeiner Eydgenoßschafft gebraucht werden.“ Für die Ausbildung eines schweiz. Sprachbewußt-
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seins war sodann die Erkenntnis der sprachgeschichtlichen Bedeutung älterer Quellen aus dem Gebiet der dt. Schweiz von Bedeutung, wie sie vor allem Joachim von Watt (Vadianus, 1484⫺1551) und Melchior Goldast (1576/78⫺1653, besonders Alamannicarum rerum scriptores aliquot vetusti, Frankfurt a. M. 1606, 2. Auflage 1661, 3. Auflage 1730; vgl. Sonderegger 1982 mit Literatur) ausgezeichnet hat. Als sprachwissenschaftlich-kontrastiv dürfen die frühen Ansätze zur Beschreibung der Schweizersprache im Gegensatz zum nördlicheren Deutschland ⫺ besonders in Schwaben ⫺ oder als schweiz. Erklärung zum Verständnis der Lutherbibel bezeichnet werden. Sie beginnen beim Aargauer Niklaus von Wyle (um 1410⫺nach 1478), der sich als Stadtschreiber u. a. in Eßlingen in seinem Werk Translationen 1477, 2. Ausg. 1478 mit den verschiedenen, von seiner ursprünglichen schweiz. Schreibart abweichenden Schreibtraditionen in Schwaben auseinandersetzt (z. B. „Jch bin bürtig von bremgarten vß dem ergËw: vnd hab mich anefangs als Jch herus in swa˘ben kam grosses flysses gebruchet dz jch gewonte zeschriben ai für ei“ [usw.]; Müller, Quellenschriften 1882, 16). Bereits kontrastive lautliche Beobachtungen vermittelt der in Basel tätige Lehrmeister Johannes Kolroß (um 1487⫺1558/60) in seinem Enchiridion das ist HandbÈchlin tütscher Orthographi, Basel 1530 (und schon Encheridion 1529), welcher den Unterschied zwischen eigenem ¯ı, u¯ gegenüber den nhd. Diphthongen wahrnimmt: z. B. „Doch so würt zu˚ meermalen dz lang y an vil enden für ey geschryben …“; „Es würt aber ouch in Schwaben/vnd sunst an vilen orten das au gebrucht/da an ettlichen enden allein das u geschryben wirt“ (mit Beispielen; Müller, Quellenschriften 1882, 69⫺70). Solche Beobachtungen setzen sich auch bei Aegidius Tschudi um die Mitte des 16. Jh. fort, welcher die schweiz. Sprache lingua Helvetica oder der Heluetier tütsch (schon 1538, Die uralt warhafftig alpisch Rhetia) nennt (Trümpy 1955). Systematischer sind die beispielreichen kontrastiven Vergleiche zwischen Schwäb. und Helvetisch beim Zürcher Universalgelehrten und Sprachforscher Conrad Gessner (1516⫺ 1565) in seinem Werk Mithridates, De differentiis linguarum, Zürich 1555, die Trümpy 1955 gewürdigt hat. Aber über diesen Gegensatz Schweizerisch/Schwäb. (und auch Bair.) hinaus konstatiert Gessner kontrastiv vergleichend Gemeinsamkeiten des Dt. in der Schweiz mit dem Nl. wie mit dem Nsächs.
2852 und Skand., woraus der gelehrte Zürcher schließt, die alten Schweizer seien nordgerm. Abstammung, von den Goten und Schweden nämlich. Lexikalisch kontrastiv verfahren die bereits oben in Abschnitt 4.1 genannten obd. Bibelglossare baslerischen Ursprungs seit 1523 zu den Nachdrucken der Luther-Bibel, welche bis zu zweihundert von der Sprachform Luthers abweichende Lemmata verzeichnen, oft mit verschiedenen Varianten des Obd.Schweizerischen (z. B. Luther Khan: schweiz.oberdt. kleinschiff, nachen, weidling; Luther Lappen: schweiz.-obd. stuck, pletz, lump; Luther Zygenfell: schweiz.-obd. geyßfell, kitzenfell). In Ansätzen wird seit dem 16. Jh. auch die multilinguale Sonderstellung der Schweiz reflektiert, mit Ausblicken auf den Sprachwechsel in einzelnen Sprachregionen: so etwa bei Joachim von Watt, der Tschudis Ansicht vom dt.-germ. Ursprung der Helvetier nicht teilt, sondern die Alemannen als Grundlage der schweiz. Eidgenossenschaft nimmt, nachdem sie die Helvetier vertrieben hätten und zur Verdeutschung des ursprünglich weiter verbreiteten Rätorom. beigetragen haben. Für Tschudi sind dagegen die Alemannen ein gall.-germ.-rätisches Mischvolk (vgl. Sonderegger 1982 a, dort Nachweise). Einsichten in die geschichtliche Mehrsprachigkeit der Schweiz eröffnete fast allen Schweizer Humanisten ihr lebhaftes namenkundliches Interesse. Die Entstehung eines schweiz. Sprachbewußtseins im 16. Jh. läßt sich demnach grundsätzlich aus fünf Komponenten begreifen, welche alle je einem besonderen linguistischen Erkenntnisprozeß mit Bezug auf die Sonderstellung des Dt. in der Schweiz entsprechen (Abb. 190.10: (1) die sprachgenealogisch-nationale Komponente eines germ.-dt. Helvetismus, (2) die sprachhistorisch-überlieferungsgeschichtliche Komponente der Einsicht in die auf dem Boden der Schweiz besonders alten Sprachquellen des Dt., (3) die kontrastiv-nationale Komponente gegenüber dem nördlicheren Dt., (4) die kontrastiv-vergleichende Komponente im Rahmen weiterer germ. Sprachen und (5) ansatzweise die multilinguale Komponente mit ersten Einsichten in die geschichtliche Mehrsprachigkeit der Schweiz. Dementsprechend erscheinen seit dem 16. Jh. verschiedene neue Namen für das Dt. in der Schweiz (Belege bei Trümpy 1955, Sonderegger 1982a) wie Eydgenossische sprach, der Helvetier Tütsch, Schweizerisch (letzter Beleg Zimmerische Chronik), während der Luzerner Renward Cysat (1545⫺
XVII. Regionalsprachgeschichte
1614) Helvetisch, Schwytzerisch, unsere (eydtgenoßische) Landtsprach verwendet, welche letztere er ausdrücklich wie folgt umschreibt: „vnsere tütsche sprach, sonderlich wie wir die hie jn der Eydtgenoßschafft gebruchent“, wobei in der schweiz. Sprache mehr Wörter aus anderen fremden Sprachen entlehnt seien (Sonderegger 1982 a). Trotz der vom Übergang des 16. zum 17. Jh., besonders dann im 17. und abschließend im 18. Jh. vollzogenen Übernahme der nhd. Schriftsprache in Literatur und Kanzleiwesen der dt. Schweiz hat sich das einmal ausgebildete schweiz. Sprachbewußtsein erhalten, ja es ist im 18. Jh. noch bedeutend verstärkt worden (vgl. unter Abschnitt 4.4). Von außen her betrachtet gehört eine schweiz. bestimmte Sprache allmählich auch dem gesamtdt. sprachlichen Bewußtsein nach zum festen Bestand des Dt., sei es nach Mundarten oder Kanzleisprachen. Dies ist zweifellos neben der tatsächlichen Beobachtung der Sprachverhältnisse den Auswirkungen des schweiz. Humanismus zuzuschreiben. So nennt der aus dem schwäb.-bair. Grenzgebiet stammende Freiburger Lehrer und Notar Sebastian Helber in seinem Teutschen Syllabierbüchlein, Freiburg i. Br. 1593, als Untergruppe des „Gemeinen Ober- oder Hoch Teütschen“ auch „Höchst Reinisch … die, so vor jetzigen jaren gehalten haben in Drucken die Sprach der Eidgenossen, der Walliser etc. …“ (Josten 1976, 96). Von Bedeutung für die Dialekteinteilung des Dt. im 17. und 18. Jh. wurde die Aufgliederung des Oberpfälzer Kritikers Caspar Scioppius oder Schoppe aus dem Jahr 1626, wo unter insgesamt sechs Dialekten der schweiz. ebenfalls besonders erscheint, wobei ausdrücklich vermerkt wird, er sei einst beinahe von allen Alemannen gebraucht worden, heute verwendeten ihn aber nur noch die Schweizer (Helvetii), und er sei der reichste und reinste unter allen obd. Dialekten (Nachweise Pfeiffer 1866, Socin 1888, 325⫺328; Trümpy 1955, 88; Josten 1976, 78 f.; Sonderegger 1982 a). Justus Georg Schottelius führt in seiner Ausführlichen Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache von 1663 die „Schweitzerische Mundart“ unter seinen neun Gruppen des „Hochteutschen“ auf (S. 152⫺154) und „Schweizerisch“ erscheint auch in Johann Bödikers Grundsäzen der Teutschen Sprache von 1690 (und später) als Untergruppe des „Oberteutschen“, d. h. der hd. Mundarten (zuletzt 1746, 351). Damit hat sich die Sprache der Schweizer ihren festen Platz im Ge-
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190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
1. Sprachgenealogisch-nationale Komponente: Deutsch als Sprache der alten Helvetier wie der alten Germanen
geographischräumliche Abgrenzung: Schweizerland u. ä.
3. Kontrastiv-nationale Komponente: schweizerisches Deutsch in der Abgrenzung gegen das nördlichere Deutsch (bes. gegenüber dem Schwäbischen und gegenüber Luther)
2. Sprachhistorisch-überlieferungsgeschichtliche Komponente: besonderer Wert der altschweizerischen (ahd.) Sprachquellen für das Deutsche
Sonderstellung des Deutschen in der Schweiz: Komponenten der Sprachbewußtseinsbildung im schweizerischen Humanismus des 16. Jh. und im 17. Jh.
4. Kontrastiv-vergleichende Komponente: schweizerisches Deutsch in Verbindung zum Niederländischen und selbst zum Skandinavischen
sprachliche Neubezeichnung: lingua Helvetica, der Helvetier tütsch, Schweizerisch u. ä.
5. Multilinguale Komponente: Erkenntnis der (geschichtlichen) Mehrsprachigkeit der Schweiz
Abb. 190.10: Die Entstehung eines schweizerischen Sprachbewußtseins in der frühen Neuzeit
füge der in älterer Zeit stark bewußtseinsgebundenen Einteilung des Dt. erobert, und von nun an häufen sich die vielen positiven Zeugnisse zum Dt. der Schweizer etwa bei Leibniz, Klopstock und Herder, denen gegenüber die negativen Zeugnisse (etwa in Grimmelshausens Teutschem Michel, Cap. XI) deutlich in der Minderzahl sind (Zeugnisse bei Socin 1888, Trümpy 1955). Jedenfalls ist seit dem 17. Jh. der Eigenwert des schweiz. Dt. allgemein bekannt, so daß es im 18. Jh. erst recht zu einer schweiz. Sprachrenaissance und Rückbesinnung auf den Wert der eigenen Regionalsprache kommen konnte, wofür vor allem der Zürcher Dichter-Gelehrte und Übersetzer Johann Jacob Bodmer (1698⫺ 1783) steht (vgl. unten Abschnitt 4.4). Terminologisch bleibt noch festzuhalten, daß der Ausdruck Schweizerdeutsch um 1750 aufgekommen sein dürfte, jedenfalls begegnet er seit 1749, in der schweiz. Lautform Schwyzer Dütsch u. ä. seit 1808 (Trümpy 1955, 24). Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger brauchen im Mahler der Sitten 1746 (Zürich, II, 401) den Ausdruck „unsere schweizerische Mundart“, meinen damit aber vor allem die schweiz. gefärbte Regional- und Literatursprache. Neue Einsichten in die hi-
storische und zeitgenössische Mehrsprachigkeit der Schweiz vermittelt der Berner Albrecht von Haller 1758 aus Anlaß einer Rezension über Bertrands Recherches sur les langues anciennes et modernes de la Suisse, et principalement du pays de Vaud (Genf 1758) unter dem Titel „Ueber die Sprachen in Helvetien“ (Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst, I, Bern 1787, 167⫺169). 4.3. Die Aufnahme der neuhochdeutschen Schriftsprache in den Kanzleien der schweizerischen Städte Das Phänomen des Übergangs der schweiz. Stadtkanzleien zur nhd. Schriftsprache ist für Basel (Teildarstellung Gessler 1888), Bern (Erni 1949), Luzern (Brandstetter 1892), Schaffhausen (Wanner 1931), Zürich (Zollinger 1920), St. Gallen (Sager 1949) und Glarus (Teildarstellung Zopfi 1946) untersucht worden. Dabei zeigt sich überall eine vor allem nach sprachlichen Kennmerkmalen, z. T. auch nach Quellen und Schreiberpersönlichkeiten sehr gestaffelte Aufnahme der nhd. Sprachform, die zeitlich meist in bestimmte Perioden besonders intensiver Neuerung gegliedert ist und vom Ende des 16. Jh. bis ge-
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XVII. Regionalsprachgeschichte
gen das Ende des 18. Jh. reicht. Der entscheidende Durchbruch zum Nhd. als Schriftsprache vollzog sich schwergewichtig zwischen 1580 und 1650, wobei die staatsrechtliche Loslösung der Schweiz vom Deutschen Reich 1648 keinen gegenteiligen Einfluss hatte (Glatthard 1986). In Zürich kann dafür die Führungsrolle der Zürcher Bibelausgaben zwischen 1597 und 1722 nachgewiesen werden, nachdem die Zürcher Bibel schon im 16. Jh. das sprachlich fortschrittlichste Buch geworden war und sich auch später, ⫺ nach mehr schweiz. Ausrichtung in der ersten Hälfte des 17. Jh. (Socin 1888, 318 f.) ⫺ besonders in der Revision von 1665⫺67, dem Nhd. anzupassen wußte. Auch für Schaffhausen, wo der Übergang sich hauptsächlich im 17. Jh. vollzieht, ist mit bibelsprachlichen Einflüssen, allerdings von der dort seit um
Basel
1630 fast ausschließlichen Geltung der Luther-Bibel her, zu rechnen. An der Spitze der Entwicklung zur nhd. Kanzleisprache stehen Basel, St. Gallen und Schaffhausen, während Bern und die Innerschweiz (Luzern) nachhinken. Eine Übersicht nach den entscheidenden Kennmerkmalen der nhd. Schriftsprache zeigt das in Abb. 190.11 vermittelte, aber stark vereinfachte Bild (überarbeitet nach Sager 1949, 123 f., ergänzt um die Ergebnisse bei Erni 1949). Die Zahlenangaben sind Richtwerte der abgeschlossenen Entwicklung, wobei Ausnahmen in Richtung der älteren altschweiz. Kanzleisprachen vereinzelt immer wieder ⫺ je nach Schreiber, Drukker, Textsorte ⫺ beobachtet werden können. Außerdem verläuft die Entwicklung in verschiedenen Textsorten oder Quellengruppen nicht genau gleich: Wanner 1931 stellt z. B.
St. Gallen
Schaffhausen
Zürich
Bern
Luzern
1590
1600
1600
1630
1690
1605
1600⫺ 1610
1680
um 1630⫺ um 1670
1700 ff.
Aufgabe des Gerundiums auf -nd, -ndt zugunsten des Infinitivs auf -n
nach 1600
1599/ 1620
1600⫺ 1670
1614⫺1625
3. Pl. -end > -en
1620
1650
1700
ca. 1735
sölich > solch, welich > welch
1610
1660
1680
wuchen > wochen
1670
1650
1700
gegen 1750
pitt > bitt etc.
1670
1670
1720
um 1750
nit, nüt > nicht
1670
1730
1750
1730
under > unter
1740
1760
1770
gegen 1800
ampt > amt etc.
1740
1685
1750
1750 ff.
1710
1730
graphemat. kaum zu beurteilen
1750 ff.
Endung -e bei Substantiven (sach > sache etc.)
1765
1790
1760
um 1790
1785
-nuß > -niß
1765
1775
1770
gegen 1800
1770 ff.
wüssen > wissen, zwüschen > zwischen
1780
1780
1780
2. Hälfte 18. Jh.
schwöster > schwester
1780
1760
1765
2. Hälfte 18. Jh.
Fem. Abstr. i- > -e (lengi > lenge) nhd. Diphthongierung
nhd. Monophthongierung
1590⫺ 1600
1620
Glarus
1660
1710
1780
Abb. 190.11: Der Übergang zur nhd. Schriftsprache in den städtischen Kanzleien der deutschen Schweiz
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
für Schaffhausen bedeutende Unterschiede zwischen im ganzen fortschrittlicheren Missiven und konservativeren Ratsbüchern fest, was in der Regel einen Zeitunterschied von einem halben Jahrhundert ausmacht. Für Bern ergeben sich im Verlauf der Zeit wechselnde Unterschiede zwischen zunächst moderneren privaten Schreibern und Drucken gegenüber der konservativeren Kanzlei und dem obrigkeitlichen Druckwesen um 1600, welches Verhältnis sich zwischen 1640 und 1670 umkehrt, um im 18. Jh. wieder das alte Gefälle zu erreichen, mit recht zögerndem mehr oder weniger vollständigen Anschluß der Kanzlei an die nhd. Schriftsprache seit 1750 (Erni 1949, 128 f.). So muß von einer fast zweihundertjährigen Zweisprachform der bernischen Drucke gesprochen werden, ohne daß der 1683/84 in Bern offiziell eingeführten Piscator-Bibel in der Luther nachgebildeten nhd. Schriftsprache ein entscheidender Einfluß zukam. Für St. Gallen, wo schon durch den 1528 erschienenen Katechismus sowie über die Reformatoren Vadian und Johannes Kessler Spuren zu Luther zu sehen sind, unterscheidet Sager 1949 drei Etappen der Sprachangleichung in der Kanzlei: eine erste Durchbruchsetappe von ca. 1590 bis 1610, eine zweite Neuerungsetappe von 1664 bis 1699 (Reformepoche unter Gerichts- und Stadtschreiber Hans Jakob Zörnlin d. Ä.) und eine Abschlußetappe von ca. 1760⫺1800 mit der Preisgabe der letzten Reste der alten Kanzleisprache. Was aber bei aller Angleichung der städtischen Kanzleien an die nhd. Schriftsprache in der dt. Schweiz erhalten blieb, waren die Mundarten in ihrer archaisch-südalem. Ausrichtung. Sie sind durch die neue Form der Schriftsprache weder überdeckt noch entscheidend umgestaltet worden. 4.4. Die älteren deutschschweizerischen Schriftsteller des 17. und 18. Jh. in ihrem Verhältnis zur neuhochdeutschen Schriftsprache Zeigte sich bei den schweiz. Kanzleisprachen ein sehr allmählicher, schrittweiser Übergang zur nhd. Schriftnorm, so erscheint die literarische Sprache der Schweizer Schriftsteller bereits im 17. Jh. viel durchgehender dem Nhd. verpflichtet, etwas weniger dem noch stärker regionalen Wortschatz als der Lautund Formgebung nach, obwohl sich auch der literarische Wortschatz der Schweizer schon im 17. Jh. dem Luther-Wortgebrauch mehr zu öffnen beginnt (Bachmann 1909). Eine
2855
nhd., gemeindt. Ausrichtung vertritt der Basler Notar und Gerichtsschreiber Johann Rudolf Sattler bereits 1607 in seinem rasch verbreiteten Werk Teutsche Orthographey und Phraseologey (Basel 1607 und zwei weitere Aufl. bis 1610, 4. Aufl. 1631), obwohl er von einer liberalen Sprachhaltung geprägt ist, wenn er betont „Es wirdt aber hierzu niemand verbunden [nämlich sich nach den besten Kanzleien und Büchern auszurichten]: sonder es stehet zu eines jeden freyen willen / im reden vnnd schreiben Teutscher Sprach / zu folgen wem er will“ (S. 7). Auch betont er die Vielheit der dt. Dialekte. Indessen ist sein Lehrbuch nach der Sprache der großen Kanzleien und Rechtsbücher Deutschlands, und nicht nach der alem.-schweiz. Tradition ausgerichtet, wie denn auch seine Sprache ein nur bedingt schweiz. Nhd. vertritt (mit Ausnahme von Regional- oder im Nhd. bereits veralteten Wörtern in seinem bedeutenden Synonymenverzeichnis S. 73⫺410; dazu Socin 1888, 316 f.). In Zürich wirkte als Reformorthograph des 17. Jh. Pfarrer Johann Wilhelm Simler (1605⫺1672), dessen Teutsche Gedichte (Zürich 1648 und spätere Auflagen 1653, 1663, 1688) in der Nachfolge von Martin Opitz die Anpassung an die nhd. Schriftsprache deutlich erweisen (Moser 1924). Er wurde auch in Deutschland beachtet, während der Zürcher Dekan Georg Müller von Thalwil über ihn ausrief „O schöne Schreibensart, lehrreicher Reden Blum’,/Wodurch zur Sonnen steigt der teutschen Sprache Ruhm!“ (Baechtold 1892, 455). Auch der St. Galler Dramatiker Josua Wetter (1622⫺ 1656) steht in der nhd. Sprachtradition, allerdings noch etwas weniger als der in Deutschland weit herumgekommene Toggenburger Johannes Grob (1643⫺1697), bekannt geworden als bedeutender Epigrammatiker nach der Richtung Logaus. Demgegenüber erscheint der Berner Geistliche Hans Rudolph Rebmann (Ampelander, 1566⫺1605) in seinem Lehrgedicht Gastmal und Gespräch zweyer Bergen, deß Niesens und Stockhorns, Bern 1606, in seiner literarischen Sprache noch ungelenker und mundartnäher (z. B. „Der Tag nunmehr gekühlet hat, Dieweil die Sonn’ fast undergat“, Baechtold 1892, 452; vgl. auch Forster 1942, 64 f.). Die reine Mundart scheint im 17. Jh. in der dt. Schweiz bereits eine mehr abschließende, vertrauliche, familiäre Funktion gehabt zu haben, jedenfalls steht sie einem weltmännischen Gebaren im Wege, wie aus einer Äußerung des schon früh in Mundart schreibenden schwärmeri-
2856 schen Zürcher Predigers und Sprachforschers Jakob Redinger (1619⫺1688) von 1656 hervorgeht, daß „etlich naswise irer mu˚tersprach sich schämend, und wan sie nur äin wenig ussert lands gesin, mit der frömden ussprach prangend“ (Trümpy 1955, 102). Redinger hat sich im 17. Jh. als einziger in Zürich intensiv mit der eigenen Mundart beschäftigt und vergeblich um eine Aufwertung des Dialekts bemüht (vgl. die Monographie Schader 1985, bes. S. 95 ff.). Andererseits verwendet der Zuger Barockdichter Johann Kaspar Weißenbach 1672 in einem Drama innerhalb einer volkstümlichen Einlage die Mundart als Ausdruck naiver Herzlichkeit, die er in einem Brief einer zugerischen Ehefrau an ihren Mann im eidgenössischen Feldlager in der Westschweiz zum Ausdruck kommen läßt, dessen Anfang so lautet: „Nun grüetzty Gott, härtzliebä Hüdeli [Kosename, etwa ‘du lieber Lump’], my Heini, du weist ä goppel [< Gottwell ‘sicher, bei Gott’] afig [< anfangig ‘nachgerade’] wohl wie ih’s meini.“ (von Greyerz 1924, 14). Daneben muß noch die außerordentliche Fremdwortoffenheit der älteren dt. Sprache in der Schweiz erwähnt werden. Sie zeichnet einerseits ⫺ im Gefolge des Söldnerwesens mit den reichen Erfahrungen von Schweizern besonders in Frankreich und Italien ⫺ bereits die Sprache der Chronisten des 15. und 16. Jh. sowie der Lit. und Rechtsquellen des 16. und 17. Jh. aus (reiches Material bei Berner-Hürbin 1974, Rash 1989), andererseits stellt sie wegen der engen Verbindungen zur Romania hin (frz. und ital. Untertanengebiete der alten Eidgenossenschaft in der West- und Südschweiz, kulturelle und wirtschaftliche Verbindungen zu Frankreich und Italien) ein Kennmerkmal auch des Schweizerhochdeutschen des 17. und 18. Jh. (wie bis zur Gegenwart, vgl. Schilling 1970) dar. Dies betrifft vor allem die gelehrte Prosa von der Art eines Gotthard Heidegger in Zürich, dessen 1698 erschienene Mythoscopia Romantica oder Discours Von den so benanten Romans von frz., aber auch lat. Fremdwörtern geradezu strotzt. Beispiel aus dem Vorbericht: „Ich habe namlich die Ard / daß / wann ich jemandem particuliere Freundschafts=Neigung widme / meine meiste Caressen bestehen in einem freymüthig=bezeugenden Unwillen / so oft ich übel=stehende Manieren und Inclinationen an meinen Freund gewahre.“
Diese frz. Ausrichtung wurde dadurch begünstigt, daß die Umgangssprache der gebildeten Städter ⫺ zumal gegenüber Fremden ⫺
XVII. Regionalsprachgeschichte
nicht das Hd., wohl aber das Frz. war (Zeugnisse für das 18. Jh. bei Trümpy 1955, 102 ff.), wie sich auch der Briefverkehr innerhalb der Schweiz noch vorwiegend in dieser Sprache vollzog. Die entscheidende Neubelebung eines dt.schweizerischen wie schweizerdt. Sprachbewußtseins brachte das 18. Jh., in welchem sich die bewußtseinsgeschichtliche Lage im Hinblick auf ein nationales schweizerisches Sprachverständnis insofern aktualisierte, als sich die deutschsprachigen Schweizer Schriftsteller mit dem zunächst einigermaßen anerkannten Anspruch Gottscheds und seiner Schule auf die allgemein an Geltung zunehmende nhd. Sprachnorm obersächs. Ausrichtung konfrontiert sahen, die es im Zusammenhang mit den neuartigen poetologischen Bemühungen der Zürcher Johann Jacob Bodmer (1698⫺1783) und Johann Jacob Breitinger (1701⫺1776) aus eigenen Wurzeln zu überwinden galt (literarische Zusammenhänge bei Crüger 1884, Baechtold 1892, Ermatinger 1933; literatursprachliche bei Blakkall 1966). Wir beschränken uns hier auf die sprachlichen Gesichtspunkte, stellt doch der sogenannte Zürcher Literaturstreit zwischen Bodmer/Breitinger und Gottsched seit 1740 gleichzeitig eine eminent sprachbezogene Auseinandersetzung dar (dazu Rohner 1984, Sonderegger 1995). Ausgangspunkt für Bodmers Beschäftigung mit den Geisteswissenschaften sind Geschichte und Sittenkunde, die er im Hinblick auf eine Verbesserung wie auf das tiefere Verständnis der Gegenwart fruchtbar machen will. Darin liegt ein erzieherischer Impetus, der sich bis zum Staatlichen und Politischen erstreckt. Jedenfalls ist der junge Bodmer als Förderer der Schweizergeschichte zu sehen, die er als Herausgeber wie als Verfasser kritisch-programmatischer Beiträge voranzubringen bemüht war. Dabei spielte die kulturgeschichtliche Betrachtungsweise bereits eine große Rolle. Literarisch entscheidend für Bodmer ist sodann, wie allgemein bekannt ist, seine Rezeption der englischen Literatur (Spectator, Milton) geworden. Daraus resultiert nicht nur ein neues Verständnis der Poesie (mit entsprechenden, besonders durch Breitinger formulierten poetologischen Forderungen), sondern auch eine neue poetische Sprachauffassung (Bedeutung der Sprache für die dichterischen Gemälde, sogenannte Machtwörter von Gehalt und Wucht, Notwendigkeit sprachlicher Neubildungen, lebendige Gemütssprache, vgl. Ermatinger
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
1933). Beides führt zur literarisch-poetologischen wie sprachlichen Auseinandersetzung mit Gottsched. Wichtig ist dabei die Unterstützung durch den Berner Pietisten und Sprachgelehrten Samuel König (1670⫺1750), der Bodmer in seiner nach und nach verstärkten schweizerischen Sprachhaltung unterstützt, wenn er ihm 1742 u. a. schreibt: „Wie weit eine Provinz sich nach der andern von der sie nicht dependiret sich in der Sprache richten soll, wäre meines Erachtens eine schöne Materie zu untersuchen, welche niemand besser als Ihr, mein Herr, abhandeln könntet … Jch kann einmal keinen tüchtigen Grund finden, warum der MeißnerDialekt herrschen soll, warum andere Provinzen nicht sollen berechtiget seyn, den ihrigen auch zu poliren ⫺ Unser Dialekt ist tönender … [usw.]“ (Leonhard Meister [anonym], Litterarische Pamphlete … nebst Briefen an Bodmern, Zürich 1781, 53 f.).
Es geht also um die Erneuerung der Literatursprache auf dem Hintergrund des schweiz. Dialektes, somit um die regionale Selbständigkeit der dt. Hochsprache. Dabei läßt sich eine eminent sprachpragmatische Haltung bei Bodmer nachweisen, welche die Sprache ⫺ im Gegensatz zu Gottscheds verabsolutierter Normvorstellung ⫺ als stets mit der sie gebrauchenden Gesellschaft verbunden sieht („Ich heisse Sprache den Gebrauch der in einer Societet regiert, ihre Begriffe mit bestimmten Worten zu bemerken, und denselben Worten eine gewisse Construction oder Ordnung zu geben“, Rohner 1984, 45), wobei auch die Freiheit eines persönlichen Sprachstils hervorgehoben wird. Läßt sich auch Bodmer zunächst durch die Leipziger ⫺ vor allem durch den gegenüber Gottsched liberaleren Johann Chistoph Clauder ⫺ noch sprachlich korrigieren (dazu detailliert Hildebrand 1909 und Schmitter 1913), entwickelt er bereits jetzt ein Gefühl für das Mundartlich-Regionale, wie es nach und nach zu einer Grundkomponente seiner Sprachauffassung wird. Gegenüber Gottsched betont er den historischen Vorsprung der Schweizer, welche in ihrer Sprache Wörter aus dem 11. und 12. Jh. kennten, die den Sachsen nicht zur Verfügung stünden. Damit wird eine historische Dimension eröffnet, die Bodmer aus seiner Beschäftigung mit der mhd. Literatur und Sprache unmittelbar zum eigentlichen Durchbruch eines schweiz. Sprachgefühls führt. Vom Richtebrief der Burger von Zürich (Anfang 14. Jh.), zu dem er ein Glossar veröffentlicht, gelangt er als Herausgeber und z. T. Übersetzer zur großen
2857
mhd. Literatur vor allem der Minnesänger und der Heldenepik, aus der er poetologische wie rein sprachliche Argumente im Kampf gegen Gottsched gewinnt. Bodmers Interesse für das Mhd. ist dabei nicht nur antiquarisch zu verstehen, sondern es ist wiederum sprachpragmatisch auf die Erneuerung und Fruchtbarmachung für die Sprache seiner Gegenwart ausgerichtet (dazu ein Glossar Bodmers „Reste von der Sprache der Alemannen und Franken in ihrem heutigen Gebrauch“ von 1757 bei Haas 1994, 540 f.). Von hier aus ließ sich sein Anspruch auf eine schweiz. gefärbte Literatur- oder Schriftsprache (Buchsprache) begründen. In seinem Alterswerk finden sich einige bedeutende Aufsätze zur Geschichte der dt. Sprache nach Epochen und zu allgemeinen Sprachfragen, die z. T. erst postum gedruckt worden sind (Teilnachdruck bei Rohner 1984, 129 ff.). Durch die schon früh erhobene Forderung nach einer Grammatik der älteren dt. Sprache und durch seine Bemühungen um mundartliche Glossare wie um solche älterer Sprachstufen ist Bodmer neben Herder zu einem wichtigen Wegbereiter des sprachhistorischen Denkens und für die Schweiz zum Erneuerer des sprachnationalen Bewußtseins auf geschichtlichem wie mundartlich-regionalem Hintergrund geworden (vgl. Art. 27). Damit wurde im späten 18. Jh. und seit dem 19. Jh. der Weg für die weitere sprachliche Entwicklung der Schweiz nach zwei Seiten hin freigemacht: im weiteren Anteil der dt. Schweiz an der hochsprachlichen oder auch schweizerhochdt. geschriebenen Literatur, ledig der Hemmungen, wie sie noch im frühen 18. Jh. vorhanden gewesen waren, aus schweiz. Selbstverständnis auch in Sachen nhd. Literatursprache heraus; im zusätzlich zurückgewonnenen Anteil an einer durch die Wirkung Johann Peter Hebels seit 1803 (Allemannische Gedichte) gewaltig potenzierten Mundartdichtung, deren Verwirklichung eines regionalen, ja nationalen Sprachbewußtseins bedurfte. So kommt es nicht zuletzt aber auch nicht allein durch Bodmers Einfluß in der dt. Schweiz des 18. Jh. bereits zu verschiedenen Mundartglossaren oder Idiotika (vgl. Trümpy 1955, 120⫺149; Haas 1994, 540 ff.), unter ihnen das Idioticon Rauracum des ersten Germanisten an der Universität Basel, Johann Jakob Spreng (1699⫺1768) von ca. 1760 (vgl. Socin 1888, 396). Jedenfalls ist die Schweiz nach Trümpy 1955, 136 in Friedrich Carl Fuldas Versuch einer allgemeinen teutschen Idiotikensammlung, Berlin und Stettin
2858 1788, bereits mit rund 450 Beiträgen vertreten. Bodmer hat aber auch, mit Johann Caspar Lavater (1741⫺1801) zusammen, das mundartlich bestimmte Volksliedinteresse belebt (vgl. Geiger 1911). Schließlich ist der frühe schweiz. Mundartdichter Martin Usteri (1763⫺1827), der zwar eine schriftsprachlich bestimmte Halbmundart schrieb (Suter 1901), der Bodmerschen Schule zuzurechnen (Mörikofer 1861, 526 f.). Zwischen poetischem Fühlen auf mundartlichem Hintergrund und schriftsprachlicher Verwirklichung nach der nhd. Sprachnorm steht auch der bernische Naturdichter, Arzt und Universalgelehrte Albrecht von Haller (1708⫺1777), der von 1736 bis 1753 als Professor für Anatomie, Botanik und Chirurgie in Göttingen wirkte und danach in bernischen Staatsdiensten stand. Seit 1732 gab er in elf immer wieder erneuerten Ausgaben bis 1777 seine Gedichte (Versuch Schweizerischer Gedichten, Versuch von Schweizerischen Gedichten, Versuch Schweizerischer Gedichte [so seit der 3. Ausgabe von 1743]) heraus (Biographie und Edition von Ludwig Hirzel, 1882; über Hallers Sprache Käslin 1892, Zagajewski 1909, vgl. auch Socin 1888, 391 ff.), unter ihnen Die Alpen von 1729. Bedingt durch Kritik an seiner schweiz. Sprachform suchte Haller seine Gedichte schon seit der zweiten Auflage von 1734 wie auch später sprachlich gemäßigt nach der nhd. Schriftsprache (besonders was das Formensystem betraf) zu verbessern. So schreibt er in der Vorrede zur 2. Aufl. von 1734 „An sehr vielen Orten haben einige teutsche Kenner Sprachfehler gefunden, die desto tadelwürdiger sind, jemehr die Poesie ihre Zierde in der Reinigkeit suchet. Diese fehlhaften Worte, so viel ich deren erkennen können, habe ich zu ersezen getrachtet“ (Hirzel 1882, 243).
Die Vorrede zur 3. Aufl. von 1743 weist auf Wortschatz- und Geschlechtsunterschiede seiner Sprache gegenüber der osächs. Norm hin. In der Vorrede zur 4. Aufl. von 1748 formuliert er: „Diejenigen [Fehler], die man mir vorgerükt, sind mehrentheils Sprachfehler. Aber ich bin ein Schweizer, die deutsche Sprache ist mir fremd, und die Wahl der Wörter war mir fast unbekannt. Der Ueberfluß der Ausdrücke fehlte mir völlig, und die schweren Begriffe, die ich einzukleiden hatte, machten die Sprache für mich noch enger [usw.]“ (Hirzel 1882, 249).
Nach anfänglicher Zustimmung durch Gottsched zog sich Haller indessen wie die Zür-
XVII. Regionalsprachgeschichte
cher Bodmer und Breitinger das Mißfallen des Leipziger Literatur- und Sprachkritikers zu, der ihm verdeckt „Schnitzer wider die Sprache“ durch „die harte und rauhe Mundart seines Vaterlandes“ vorwarf (Hirzel 1882, CCII), ohne daß dies Hallers Ruhm auf die Dauer zu beeinträchtigen vermocht hätte. Die „Abkehr von einer formalistischen Sprachform und die Entwicklung eines persönlichen Stils“ (Blackall 1966, 209) haben auch Haller bei all seiner stark schweizerhochdt. bestimmten Sprachform zum Durchbruch verholfen. Der Geist der Freiheit, den Haller in seinem Gedicht Die Alpen beschwört, erscheint bei Bodmer wiederum als Hintergrund schweizerischer Sprachfreiheit: „Die Schweiz ist durch ihre Unabhängigkeit, ihre besondere Staatsverfassung, und selbst durch ihre Lebensart von Deutschland so weit abgesondert, daß ihre Mundart von den Veränderungen, die in andern Provinzen in der Sprache vorgegangen, desto weniger gelitten hat“ (Johann Jacob Bodmer [anonym], Anleitung zur Erlernung der deutschen Sprache. Für die Realschulen. Zürich 1773, 49).
Auf dem Hintergrund dieser gegenüber der nhd., besonders osächs. Sprachnorm immerhin gemäßigt gehandhabten, poetisch indessen weiter ausgreifenden schweiz. Sprachfreiheit ist die deutschschweizerische Literatursprache des 18. Jh. zu verstehen. Sie reicht von hochliterarischen Formen eines Salomon Gessner (1730⫺1788) oder Johann Heinrich Füssli (1741⫺1825) bis zur packenden Schweizerprosa Ulrich Bräkers (1735⫺1798), des Verfassers u. a. der Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg (hrsg. von J. H. Füssli, Zürich 1789), wozu es im Vorbericht des zürcherischen Herausgebers heißt: „Zu einem Gloßar der häufig zum Vorschein kommenden Provinzialausdrücke fand’ ich bey allernächst eintretender Messe die Zeit nicht mehr. Einige der unverständlichsten jedoch sind in Noten bemerkt. Die übrigen nachzuholen wird sich schon Gelegenheit finden.“ So wird Bräkers „O, ich möchte noch brieggen darob!“ mit der Anmerkung versehen: „So ein Mittelding zwischen Wainen und Heulen, so wie’s etwa, nebst den Kindern ⫺ noch die erträglicheren Weibsschälke thun.“ (Neudruck der Originalausgabe bei Winkler, Die Fundgrube 7, München 1965, 67). Allerdings hat der Zürcher Verleger Johann Heinrich Füssli Bräkers im Ms. verlorene Lebensgeschichte sprachlich (vor allem stilistisch)
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
überarbeitet, wie dies aus der Teiledition der Tagebücher durch denselben Verleger (Tagebuch des Armen Mannes im Tockenburg, Zürich 1792) hervorgeht, wo ein Vergleich mit den erhaltenen Originalen möglich ist (Wiesmann 1978). Dabei ergeben sich auch Änderungen in Richtung nhd. Schriftsprache, während Bräker mehr Anleihen an die Mundart macht. Einen Sonderfall hingegen stellt des Luzerners Franz Alois Schumachers (1703⫺1784) Volksschauspiel Isaac in verfremdender bair. (Landsberger) Mundart im Rahmen der literarischen Parodie dar, wie Haas 1975 gezeigt hat. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jh. kann von einer eigentlichen dt. Schweizerbegeisterung gesprochen werden (Ziehen 1922), welche mit dem Alpenerlebnis in der deutschen Literatur (Weiss 1933) und mit den zunehmenden Reisebeschreibungen ⫺ allen voran Johann Gottfried Ebel, Schilderung der Gebirgsvölker der Schweitz, Leipzig 1798⫺1802 (vgl. Faessler 1983) ⫺ gekoppelt ist. Dabei ergeben sich auch sprachliche Bezüge, hat doch Ebel seiner Anleitung, auf die nützlichste und genußreichste Art die Schweiz zu bereisen, Zürich 1793, sogar ein kurzgefaßtes Verzeichnis schweizerdt. Mundartausdrücke mit hd. Übersetzung beigegeben (I, Zürich 1804, 223⫺235; 3. Aufl. 1809, 251⫺264 bei Haas 1994, 551⫺556). Nachhaltig wirkten das positive Urteil Johann Gottfried Herders über die Sprache der Schweizer, welche „den Kern der Deutschen Sprache mehr unter sich erhalten haben“ und deren „Sprache auch der alten deutschen Einfalt treuer geblieben“ ist (1769, in der Edition von Suphan Bd. 2, 1877, 41), was Franz Joseph Stalder 1806 in seinem Versuch eines Schweizerischen Idiotikon im Vorbericht nebst einer ähnlichen Äußerung aus Friedrich Carl Fuldas Sammlung und Abstammung germanischer Wurzelwörter (Halle 1776, 5) wiederaufnimmt. Selbst der aus Halle stammende Göttinger Orientalist und Bibelübersetzer Johann David Michaelis, ein enger Freund Lessings, stellt 1790 der „sanften und feinen Büchersprache“ des Nhd. seiner Zeit die „härtere, kräftige, auch selbst in der Grammatik von unserer abgehende Oberdeutsche Sprache“, nämlich „die Schweitzersprache“ entgegen (Vorrede zur Übersetzung des Neuen Testaments, Zweiter Theil, Göttingen 1790, 9). In der Schweiz selbst hat der Geschichtsschreiber Johannes von Müller in seiner Rezension des ersten Teils von Christoph Heinrich Myller, Sammlung Teutscher Gedichte (Berlin 1782⫺1784), in den Göttin-
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gischen Gelehrten Anzeigen 1783 die Nähe der Nibelungen-Sprache zum alpinen Schweizerdeutsch hervorgehoben (GGA 1783, 353), was 1812 August Wilhelm Schlegel ebenfalls bemerkt (Deutsches Museum II, Wien 1812, 5). Zur allgemeinen Verbreitung einer stark schweizerisch getönten Sprache trug schließlich Johann Caspar Lavaters (1741⫺1801) Sammlung von Gesängen unter dem Titel Schweizerlieder von 1767 (weitere Auflagen 1767, 1768, 1775, 1789, 1796) bei, die vom Komponisten Heinrich Egli um einen zweiten Teil vermehrt worden ist: denn es gehörte zum Ritual der 1761 gegründeten Helvetischen Gesellschaft, solche Lieder mit mundartnahen Ausdrücken zu singen (Im Hof 1981). Lavater sagt dazu: „Ein Schweizerliederdichter wird sich also nicht fragen müssen, ist dieser und jener einzele [sic!] Ausdruck hochdeutsch?, versteht ihn der Gelehrte in Leipzig, in Berlin …“, da es allein um den patriotischen Geist solcher Volkspoesie gehe (Nachweis Im Hof 1981, 208, 214). Dabei vermied Lavater freilich den reinen Dialekt, der ihm angesichts der kantonalen Unterschiede wie im Hinblick auf die Würde und Erhabenheit des Stoffes seiner patriotischen Lieder untauglich, d. h. von komischer und pöbelhafter Wirkung, schien (Geiger 1911, 25, 38 f.). Dennoch hielt die Mundart mit Johann Karl Stephan Glutz von Solothurn, dem Innerschweizer Joseph Ineichen und anderen seit den 1760er bzw. 1780er Jahren allmählich Einzug in das deutschschweiz. Volkslied, welches sich dann als Dialektlied besonders im 19. Jh. aufs reichste entfaltet hat (Geiger 1911, von Greyerz 1927). Burdach 1925 spricht ⫺ ohne auf die Schweizer einzugehen ⫺ von „universellen, nationalen und landschaftlichen Trieben der dt. Schriftsprache im Zeitalter Gottscheds“. Die Schweizer, könnte man sagen, verfahren poetisch universell ⫺ sie sind auch die ersten, welche Klopstocks Bedeutung für die Erneuerung der dt. Dichtersprache erkennen, von ihnen geht im wesentlichen die Rezeption der engl. Poesie aus ⫺, sie verbleiben indessen schriftsprachlich gemäßigt national der Form nach, voll schweizerisch erfüllt was patriotische Einstellung und Sprachbewußtsein betrifft, landschaftlich ausgerichtet in ihrer frühen Zuneigung zur Mundart und in der Förderung von Dialektsammlungen, Idiotika und Mundartdichtung, ja von schweiz. Volkspoesie überhaupt. Mit der sprachkritischen und literarischen Tätigkeit der Schweizer des 18. Jh. wurde der Grund zur bleibenden
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Stufe 4:
Stufe 5:
XVII. Regionalsprachgeschichte Entstehung eines gesamtschweizerdeutschen nationalen Sprachbewußtseins auf dem Hintergrund der Mundarten in der ersten Hälfte des 19. Jh.: Begründung einer schweizerdt. Dialektologie durch Franz Joseph Stalder (1757⫺1833), Grundlegung einer kontrastiven Betrachtungsweise Mundarten/Schriftsprache durch Johann Caspar Mörikofer (1799⫺1877). Erste Kampfphase um die Erhaltung und Sammlung der schweizerdt. Mundarten im Rahmen einer pessimistischen Grundstimmung und der Prognose ihres baldigen Untergangs in der zweiten Hälfte des 19. Jh. und im 20. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg (1914⫺1918): Begründung und Publikationsbeginn des Schweizerischen Idiotikons 1862/1881 ff., verschiedene Analysen zum Sprachstand der dt. und mehrsprachigen Schweiz, Entfaltung der junggrammatischen Dialektologie seit Jost Winteler (1846⫺1929). Postulat einer scharfen Trennung von Schriftsprache und Mundarten mit sprachpflegerischen Bemühungen um beide Bereiche in der ersten Hälfte des 20. Jh.: Gründung des Deutschschweizerischen Sprachvereins 1904, pädagogische Sprachpflege durch Otto von Greyerz (1863⫺ 1940), Tendenzen zur Verteidigung der dt. Sprache in der Schweiz gegenüber dem prestigestarken Französischen. Zweite Kampfphase um die Erhaltung und Festigung des Schweizerdeutschen im Rahmen der geistigen Landesverteidigung unter Abgrenzung gegenüber dem nationalsozialistischen Dritten Reich 1933⫺1945: verstärkte Mundartpflege, Versuch zur Schaffung einer alem. Schriftsprache durch Emil Baer 1936, Gründung des Bundes Schwyzertütsch durch Eugen Dieth (1893⫺1956) und andere 1938. Allgemeine Anerkennung eines gleichberechtigten, aber im einzelnen verschieden strukturierten Verhältnisses Mundarten/nhd. Standardsprache in der zweiten Hälfte des 20. Jh. bei allgemein gestärkter Stellung der schweizerdt. Dialekte (sog. Mundartwelle seit den 1960er Jahren), die sich jedoch zunehmend in gesamtschweizerdt. Umgangssprachformen einfinden und außerdem stark von außen beeinflußt sind (nhd. Standardsprache, romanische Nachbarsprachen, Englisch-Amerikanisch). Ausrichtung der Forschung auf die umfassende sprachgeographische Darstellung der alten Grundmundarten (Sprachatlas der deutschen Schweiz 1962⫺1997), auf die Schaffung von regionalen allgemeinverständlichen Dialektgrammatiken und Mundartwörterbüchern sowie auf die kontrastive Dialektologie.
Abb. 190.12: Die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses Mundarten/Standardsprache in der deutschen Schweiz des 19. und 20. Jh.
Zweisprachformigkeit der dt. Schweiz nach Mundarten und Schriftsprache gelegt, wobei diese Zweisprachformigkeit auf der Schriftsprachebene um die literarische und kanzleiamtliche Form des Schweizerhochdeutschen ergänzt worden ist (vgl. Abb. 190.9). Damit war auch die Ablehnung einer allgemeinen dt. Gemeinsprache durch die Schweizer verbunden (vgl. Kaiser 1930, 365). Einen direkten Vergleich zwischen Schweizerdt. und ält. Nhd. gestattet das anonym 1788 erschienene Gespräch über den Türkenkrieg Aes Gspräch … übärä jezigä Dürggächrieg iddär liebä Schwizer Muotersproch mit daneben stehender hochsprachlicher Fassung vermutlich aus Luzern (ed. Haas 1974). Mundartlichnationaler Hintergrund und schriftsprachlich-literarische Erfüllung in einer Sprachform, welche selbst in ihrer weitgehenden Angleichung an die allgemeine nhd. Schriftsprache noch als etwas Eigenes empfunden werden konnte, dies zeichnet die sprachliche Lage der dt. Schweiz im 18. Jh. aus.
5.
Mundarten und Standardsprache im 19. und 20. Jahrhundert
Die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses Mundarten/Standardsprache im 19. und 20. Jh. läßt sich in fünf Stufen gliedern, denen bestimmte forschungsgeschichtliche Ereignisse, insbesondere dialektologische Studien und sprachpflegerische Bemühungen zugeordnet sind (dazu Abb. 190.12). Für die dialektologische Forschungsgeschichte sei auf Sonderegger 1962 und 1968 verwiesen, allgem. Gesichtspunkte bei Henzen 1954. Stufe 1: Entstehung eines gesamtschweizerdt. nationalen Sprachbewußtseins auf dem Hintergrund der Mundarten in der ersten Hälfte des 19. Jh. Während die führenden Sprach- und Literaturkritiker sowie die Schriftsteller der dt. Schweiz des 18. Jh. ihr vertieftes schweiz. Sprachbewußtsein nicht unmittelbar aus den Mundarten, sondern aus dem durch sie neu gerechtfertigten schweiz.-regionalsprachlichen Anteil an der auch ihnen zukommen-
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
den nhd. Schrift- oder Buchsprache sowie aus dem zumal durch Bodmer neu erkannten schweiz. Sprachgeschichtsbewußtsein schöpften ⫺ unter Mundart wurde in der Regel im Gegensatz zum Provinzialdialekt die schweiz. gefärbte Literatursprache verstanden ⫺, ergab sich im 19. Jh. nach Forschung, literarischem Schaffen und allgemeiner Besinnung eine verstärkte Hinwendung zu den Dialekten, ohne daß dabei der Anteil von schweiz. Schriftstellern an der hochsprachlichen Literatur zurückging. Zunächst erfolgte die Begründung einer schweizerdt. Dialektologie durch den Luzerner Geistlichen Franz Joseph Stalder (1757⫺1833), der als Pfarrer und Dekan im ländlichen Entlebuch (Kanton Luzern) wirkte und von volkskundlichen Studien ausging, diese aber mit der Zeit um dialektvergleichende Arbeiten ergänzte (Studer 1954). Stalders Versuch eines Schweizerischen Idiotikon mit etymologischen Bemerkungen untermischt, Bd. I⫺II, Aarau 1806⫺1812 (2., hs. vermehrte Fassung von 1832 ed. Bigler 1994), sowie seine imponierende mundartkundliche Gesamtschau des Schweizerdeutschen unter dem Titel Die Landessprachen der Schweiz oder Schweizerische Dialektologie, mit kritischen Sprachbemerkungen beleuchtet, Aarau 1819, bilden nicht nur die Grundlage für die Kenntnis der gesamtschweizerdt. Dialektverhältnisse im 19. Jh., sie stehen auch am Anfang einer wissenschaftlichen Mundartforschung des Dt. überhaupt, so daß sie selbst von Jacob Grimm immer wieder herangezogen worden sind. Neben der erstmals dargestellten Fülle und Verschiedenheit der schweizerdt. Mundarten kommen in Stalders Werk ⫺ besonders von 1819 ⫺ auch sprachhistorische Gesichtpunkte durch den Rückgriff auf Notker von St. Gallen zum Tragen, wobei er sich auf den gelehrten Leonz Füglistaller (1768⫺1840) stützen konnte, der als St. Galler Gewährsmann für Jacob Grimms Deutsche Grammatik (1819/22⫺1837) bezeichnet werden darf (Studer 1952, Sonderegger 1982, 93⫺101). In der Einleitung zur Dialektologie von 1819 umreißt Stalder die sprachliche Lage der dt. Schweiz und des Deutschschweizers nach Sprachgebrauch der Heimat (= Mundart) und Fremde (= Schweizerhochdeutsch) wie folgt (S. 9): „So stark sonst in den meisten Ländern deutscher Zunge die Mundart des Gebildeten von der Mundart des Volkes absticht, so waltelt doch bei uns, d. h. in den Städten sowohl als in den Dörfern, eine und dieselbe Sprache, nämlich die Volkssprache, so daß zwischen der Sprechart des höchsten Staatsbe-
2861
amten und geringsten Taglöhners selten ein merklicher Unterschied verspüret wird. [usw.]“
Eine bedeutende Vertiefung solcher früher Einsichten in die besondere sprachliche Lage der dt. Schweiz ergab sich über die erste kontrastive Darstellung Mundarten/Schriftsprache nach allgemeinen Gesichtspunkten durch den Thurgauer Historiker und Theologen Johann Caspar Mörikofer (1799⫺1877), dessen zunächst anonym erschienene Schrift Die Schweizerische Mundart im Verhältniß zur hochdeutschen Schriftsprache, aus dem Gesichtspunkte der Landesbeschaffenheit, der Sprache, des Unterrichtes, der Nationalität und der Literatur, Frauenfeld 1838 (2. Aufl. Bern 1864), u. a. die übergreifende Bedeutung des Schweizerdeutschen als Umgangssprache aller Stände unterstreicht und in der eminent nationalen Bedeutung der Mundart für die dt. Schweiz gipfelt (vgl. Henzen 1938). Über den Unterschied betreffend die Stellung der Mundart zwischen der Schweiz und Deutschland schreibt Mörikofer (S. 12⫺13): „In Deutschland freilich hat sich mit der Mundart schon der Begriff des Niedrigen und Gemeinen verbunden, und es weicht daher dieselbe immer mehr aus den Kreisen der Gebildeten zurück, daher es denn auch nicht an Vorwurf und Spott fehlt, über die, wie es ihnen dünkt, unfeine und ungebildete Sprachweise in Oberdeutschland und namentlich in der Schweiz. Die Mundart der Schweiz ist sonst unter dem allgemeinen Namen der alemannischen bekannt und erstreckt sich als solche über die Gränzen derselben hinaus, indem gegen Osten das Gebiet der Allgauer Alpen, gegen Norden der Breisgau zwischen dem Rhein und dem Schwarzwalde, und zum Theil auch der Sundgau und das Elsaß zu ihrem Kreise gehören. Allein wir sprechen gleichwohl von einer schweizerischen Mundart zur besondern Unterscheidung von der alemannischen, weil diese sich aus den Städten und den höhern Kreisen eben so wohl entfernt hat, als im übrigen Deutschland; während sie dagegen in der Schweiz fortdauernd die Umgangssprache aller Stände geblieben und somit ein größeres nationelles Interesse hat, als jede andere deutsche Mundart. Daher auch der Schweizer vor sich selbst und dem deutschen Publikum von seiner Sprachweise muß Rechenschaft geben können, welches wir des Nähern versuchen wollen, indem wir die vorausgeschickten Gedanken auf die Schweiz anwenden.“
Sodann betont Mörikofer die sprachschöpferische Leistung der Mundart, die Lebendigkeit der Volkssprache und ihre Sicherheit, um dann die nationale Bedeutung des Dialektes herauszuarbeiten, nicht ohne die deutschschweiz. Diglossie entschieden zu bejahen (u. a. S. 40⫺42).
2862 Wie sehr der Mundartgebrauch aller Stände in der dt. Schweiz mit dem demokratischen Staatsgedanken des 19. Jh. zusammenhängt, geht aus den zwei Eigenschaften hervor, welche Mörikofer dem Dialekt zubilligt: nationale Abgrenzung nach außen gegenüber Deutschland und föderalistische Vielheit nach innen, nämlich innerhalb der dt. Schweiz selbst. Demgegenüber ist die nhd. Schriftsprache „bei keinem deutschen Volksstamme Sache der Überlieferung eines eigenthümlichen Besitzes; sondern sie ist ein Ergebniß allgemeiner Entwickelung und wissenschaftlicher Bildung …“ (S. 43). Folgerichtig behandelt Mörikofer im letzten Kapitel VI. seiner Schrift „Die schweizerische Eigenthümlichkeit in der Literatur“ die schriftsprachliche neben der (damit übrigens erstmalig im Umriß dargestellten) Dialektliteratur seit den in der Schweiz besonders fruchtbaren Nachwirkungen Johann Peter Hebels. Insgesamt steht Mörikofer für die erste umfassende Darstellung der deutsch-schweiz. Diglossie, die seither grundsätzlich trotz einiger späterer Versuche zu ihrer Überwindung nach der einen oder anderen Seite hin unangefochten blieb. Nicht zuletzt auf diesem allgemeinen Hintergrund sind Jacob Grimms Urteile über die Volkssprache der Schweiz und ihr Verhältnis zur Schriftsprache zu sehen, aus denen neben der hohen Wertschätzung der altertümlichen alem.-schweiz. Mundarten die uneingeschränkte Anerkennung des von der nhd. Schriftsprache in manchen Zügen abweichenden literarischen und amtlichen Schweizerhochdeutschen hervorgeht. So heißt es in einer Anmerkung zum Kapitel über die nl. Vokale im ersten Teil der dritten Ausgabe von Jacob Grimms Deutscher Grammatik (Göttingen 1840, 305): „die Schweiz, politisch weit gründlicher geschieden von Deutschland, als es Belgien und Holland ist, schreibt mit gutem fug hochdeutsch, ohne eifersucht auf einzelne vorzüge ihrer heimatlichen mundart. alle deutschen cantone erlassen ihre ordnungen hochdeutsch und in Basel, Zürich, Bern werden ausgezeichnete deutsche werke verfaßt.“
Differenzierter betont Jacob Grimm in der Vorrede zum Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, Bd. I (Leipzig 1854, XVII): „diese [schweizerische volkssprache] ist mehr als bloszer dialect, wie es schon aus der freiheit des volks sich begreifen läszt; noch nie hat sie sich des rechtes begeben selbständig aufzutreten und in die schriftsprache einzuflieszen, die freilich aus dem
XVII. Regionalsprachgeschichte übrigen Deutschland mächtiger zu ihr vordringt. von jeher sind aus der Schweiz wirksame bücher hervor gegangen, denen ein theil ihres reizes schwände, wenn die leisere oder stärkere zuthat aus der heimischen sprache fehlte; einem lebenden schriftsteller, bei dem sie entschieden vorwaltet, Jeremias Gotthelf (Bitzius) kommen an sprachgewalt und eindruck in der lesewelt heute wenig andre gleich. in den folgenden bänden des wörterbuchs wird man ihn öfter zugezogen finden und es ist zu wünschen, dasz seine kräftige ausdrucksweise dadurch weitere verbreitung erlange.“
Mit Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius, 1797⫺ 1854) ist freilich eine literarische Persönlichkeit der dt. Schweiz angesprochen, deren Sprachform eine Sonderstellung zwischen literarischer Schriftsprache und berndt. Mundart einnimmt (vgl. Abb. 190.9). Gotthelf schreibt zwar einen standardsprachlichen Grundtext, der aber weit mehr als bei den hd. schreibenden Schriftstellern der dt. Schweiz des 19. und 20. Jh. immer wieder mundartlich gefärbt, ja auf weite Strecken ⫺ besonders in den Partien spontan gesprochener Sprache ⫺ um einen fast rein mundartlichen Zusatztext vermehrt wird. So treten neben Schriftsprache und Schweizerhochdeutsch eigentliche Mundartbrocken, Mundartsätze, Mundartpartien (z. B. „Ih ha doch nüt gwüßt, das ih dr zleid ta hätt …; U de wei mr öppe mitenangere rede, we me öppe well afa“), die meist der Charakterisierung bestimmter Personen dienen oder eine intime Gefühlsregung zum Ausdruck bringen (Reber 1967, 97⫺104, mit Beispielen; zur kunstvollen kontrastiven Verwendung von bernischer Stadtsprache und emmentalischer Landsprache Baumgartner 1940, 58⫺66). Aber auch die bernische Offenheit gegenüber Fremdwörtern aus dem Frz. zeichnet Gotthelf aus (Reber 1967, 104⫺ 107). So konnten Gotthelfs Erzählungen noch im 20. Jh. nach dem zweiten Weltkrieg durch Ernst Balzli zu wirkungsvollen Mundarthörspielen umgeschrieben werden, wenn sich dagegen auch Kritik (vor allem durch den Literaturwissenschaftler Walter Muschg, Professor an der Universität Basel) erhob. In Gotthelfs Erstlingsschrift Die Rotentaler Herren (hrsg. von Hans Bloesch 1941) findet sich der bedeutungsvolle Passus (S. 19): „So erzählte Hans. Freilich erzählte er es besser, als es hier gegeben ist, denn er erzählte es in kräftigem, klassischen Berndeutsch, das besser klingt und besser malt als das verflachte Hochdeutsch.“ Im Anschluß an die Berliner Gesamtausgabe 1856⫺1858 erschien 1858 ein Bändchen Erklärung der schwierigern dialek-
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
tischen Ausdrücke in Jeremias Gotthelf (Albert Bitzius) gesammelten Schriften durch dessen Schwiegersohn Albert von Rütte, das gegen zweitausend Mundartwörter erläutert. Schweizerisch-Mundartliches im Gewand des Schweizerhochdeutschen findet sich auch da und dort bei verschiedenen Schriftstellern des späten 18. und 19. Jh. (dazu Frühe 1913), nicht zuletzt bei Johann Heinrich Pestalozzi (1746⫺1827). Im weitverbreiteten erzieherischen Volksbuch Lienhard und Gertrud (1781⫺1785) äußert sich der Verfasser wie folgt dazu (1, 7; Frühe 1913, 14): „Diese Geschichte ist schweizerisch. Die Szene davon ist in der Schweiz und ihre Helden sind Schweizer. Man hat deshalben die schweizerischen Namen beibehalten und sogar schweizerische Provinzialworte, wie z. B. verschupfen, welches den Fall bedeutet, da ein Mensch von einem Orte zum anderen mit einer Art von Drucke und von Verachtung verstoßen wird.“
Doch gibt es auch andere Stimmen zum Mundartproblem im frühen 19. Jh. So postulierte beispielsweise der Basler Karl Rudolf Hagenbach 1828 anders als Mörikofer die Annäherung der Mundart an die vermehrt als gesprochene Sprache anzuwendende Schriftsprache, wodurch eine Verfeinerung der Mundart erreicht werden könne. Dieser Gedanke hat sich in der dt. Schweiz freilich nicht durchgesetzt, obwohl der Einfluß der nhd. Schriftsprache durch ihren stärkeren öffentlichen Gebrauch im 19. Jh. auf die Mundarten ohne Zweifel zugenommen hat, wie dies u. a. Tappolet 1901 festgestellt hat (vgl. unten Stufe 2). Aber die Tatsache, daß selbst eine Persönlichkeit von hervorragender hochsprachlicher Bildung wie der Basler Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818⫺1897) Gedichte in alem. Mundart schrieb und auch veröffentlicht hat (E Hämpfeli Lieder, Basel 1853), erweist erst recht die sprachliche Doppelexistenz des Deutschschweizers bis hinauf in die vornehmsten Schichten stadtbürgerlicher Gesellschaft und gebildeten Universitätslebens. Differenzierter muß Gottfried Kellers (1819⫺1890) Verhältnis zur Mundart seiner zürcherischen Heimat wie der dt. Schweiz beurteilt werden, wie Suter 1932 umsichtig dargestellt hat. Seinem Landsmann Gotthelf wirft Keller vor, er schreibe „ohne Grund ganze Perioden in Bernerdeutsch, anstatt es bei den eigentümlichsten und kräftigsten Provinzialismen bewenden zu lassen“. (a. a. O. 6). Für sich stellt er den brieflich an Theodor
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Storm gerichteten Grundsatz auf, man möge „selber in seinem Hause alle möglichen Dialekte … sprechen, aber schreiben nur in der einen und allgemeinen Sprache, wenn man sich dieser einmal gewidmet hat“. (a. a. O. S. 8). So ist bei dem lediglich in einem Gedicht, dem satirischen Lied vom Mutz die reine Mundart schreibenden, sonst aber standardsprachlich ausgerichteten Gottfried Keller zwischen dessen Verhältnis zur Mundart als Literatursprache ⫺ was er ablehnt ⫺ und seinem durchaus positiven Verhältnis zum Dialekt als solchem zu unterscheiden. Dadurch wird es verständlich, daß sich selbst bei Keller bisweilen eine mundartliche Färbung der Erzählsprache findet, die oft zur Trägerin des schweiz. Lokalkolorits wird. „Satzfügungen, die auf die Mundart zurückgehen, erscheinen zuerst etwa unbeabsichtigt, während sie später öfter die Absicht des Dichters erkennen lassen“ (Suter 1932, 158). Seiner dichterischen Intention nach hat Keller jedenfalls die Mundart nicht verwendet, wenn sie ihn hintergründig auch mehr mitbestimmt haben mochte, als ihm selbst bewußt war. So konnte er um 1900 zum Vorbild für die hochsprachliche Sprachbeherrschung in der dt. Schweiz werden, wie dies der zürcherische Kantonsschulprofessor K. Schnorf betonte (1908, 39): „Gottfried Kellers Sprache verdient es also wohl, den Deutschschweizern als leuchtendes Vorbild hingestellt zu werden. Wir dürfen nicht ruhen, bis wir die deutsche Gemeinsprache in Wort und Schrift wenigstens so weit beherrschen als es jedem einzelnen von uns, je nach seiner Begabung und Stellung, überhaupt nur möglich ist.“ Dagegen ist Kellers literarische Namengebung stark schweizerisch, ja selbst altschweizerisch ausgerichtet (Bleiker 1960). Stufe 2: Erste Kampfphase um die Erhaltung und Sammlung der schweizerdt. Mundarten im Rahmen einer pessimistischen Grundstimmung und der Prognose ihres baldigen Untergangs in der zweiten Hälfte des 19. Jh. und im 20. Jh. bis zum Ersten Weltkrieg (1914⫺1918). Die noch durchaus optimistische Beurteilung über Bestand und Zukunft der schweizerdt. Dialekte in der ersten Hälfte des 19. Jh. machte nach der Jahrhundertmitte, im Gefolge zunehmender Industrialisierung sowie damit verbundener Migration (auch von Deutschland her), vermehrt schriftsprachlicher Ausrichtung im Schulsystem und bedeutender Einwirkung der allgemeinen dt. Literatursprache ⫺ welche auch durch Gott-
2864 fried Keller, Conrad Ferdinand Meyer und andere Schweizer Schriftsteller gefördert wurde ⫺ einer pessimistischen Grundstimmung Platz, welche den nahe bevorstehenden Untergang der schweizerdt. Dialekte bzw. deren vollständige Überlagerung durch die nhd. Hochsprache mindestens in den Städten prognostizierte. Gleichzeitig verstärkte sich im schweiz. Bundesstaat seit 1848 das Prestige des Frz. ganz gewaltig. So heißt es am Anfang des Aufrufes betreffend Sammlung eines Schweizerdeutschen Wörterbuches von 1862 von Friedrich Staub (Haas 1981, 19): „Es ist eine ebenso unläugbare als wehmüthig stimmende Thatsache, über welche wohl schon Jeder von uns sich Gedanken zu machen Veranlassung hatte, daß unsere nationalen Eigenthümlichkeiten, auf die wir uns so gerne und mit Recht Etwas zu Guthe thaten, eine nach der andern abbröckeln und dem gleichmachenden und verschleifenden Zuge der Zeit anheimfallen“, wobei, wie dann ausgeführt wird, insbesondere die Mundarten betroffen sind. „Aber auf keinem Boden schleicht das Verderbniß so heimlich und darum so sicher, wie auf dem unserer Mundarten“ (usw.). Sodann wird, ohne „den Segen einer einheitlichen Sprache, eines Gemeingutes sämmtlicher deutschen Völkerschaften“ und „die Ueberlegenheit der jetzigen deutschen Schriftsprache“ zu verkennen, der nationale Wert der Dialekte für die dt. Schweiz hervorgehoben.
Dieser Aufruf hatte alsbald fruchtbare Folgen, indem sich viele Informanten aus allen Teilen der dt. Schweiz dem Werk zur Verfügung stellten, unter ihnen der sprachbegabte Innerschweizer Geistliche Jakob Joseph Matthys (1802⫺1866), der sogleich ein Wörterbuch und eine Grammatik seiner Nidwaldner Mundart verfasste (letztere hrsg. bei Baumer 1985). Demgegenüber beschränkte sich der vom Altertumsforscher Ferdinand Keller und vom Germanisten Ludwig Ettmüller unterzeichnete Aufruf der Antiquarischen Gesellschaft von Zürich aus dem Jahr 1845 für ein schweizerisches Idiotikon auf die sachlichaltalem. Gesichtspunkte im Rahmen der Altertumskunde (Text bei Haas 1981, 14 f.). Der Schaffhauser Johannes Meyer meint in seinem Deutschen Sprachbuch für höhere allemannische Volksschulen von 1866 über die Mundart der Stadt Schaffhausen, sie verschlechtere sich durch das eindringende Hochdeutsch von Jahrzehnt zu Jahrzehnt (Schwarzenbach 1969, 403). G. A. Seiler richtet sich in seinem Werk Die Basler Mundart 1879 beschwörend an die Lehrer, indem er einen „alle Abweichungen der heimischen
XVII. Regionalsprachgeschichte
Mundart vom Hochdeutschen“ beobachtenden Unterricht fordert (S. XI und XII): „nur ein solcher Unterricht endlich wird die Mundart vor Verflachung und Entartung und schliesslichem Untergange bewahren. Der Schule heiligste Pflicht aber ist, zur Bewahrung unsrer nationalen Eigenthümlichkeit eines unsrer köstlichsten Güter, die Muttersprache, vor schmählichem Untergang zu erretten und den altehrwürdigen ererbten Schatz unsern Nachkommen rein und unverfälscht zu überliefern.“
Höhepunkt des Mundartpessimismus stellt die Schrift von Ernst Tappolet, Ueber den Stand der Mundarten in der deutschen und französischen Schweiz, Zürich 1901, dar. Im Anschluß an die Schilderung der hochsprachlichen Französisierung in der Westschweiz seit dem 17. Jh. weist Tappolet auf die starke Überfremdung der dt. Schweiz, besonders ihrer nördlichen Städte Basel (35,73 % Ausländer), Zürich (29,12 %), Schaffhausen (28,80 %) und St. Gallen (27,40 %) durch Deutsche hin, um dann den raschen Untergang des Schweizerdeutschen vorauszusagen: „Voraussichtlich wird es Zürich beschieden sein, die erste hochdeutsch redende Schweizerstadt zu werden. Ihrem „schlechten“ Beispele werden die andern bald folgen, die grossen voran, und dann die kleinern, Basel, St. Gallen, Winterthur u. s. w. Bern wird eine gute Weile nachher doch auch mitmachen.“ [usw.]. Was in der frz. sprechenden Schweiz Tatsache geworden war, müßte nach Tappolet auch in der dt. Schweiz eintreffen: die völlige Verdrängung der Mundarten durch die Schriftsprache über die Städte mit nachfolgender sozialer Sprachbarriere. Gestützt wird Tappolets Ansicht von feinen Beobachtungen zum schriftsprachlich beeinflußten Mundartwandel in Zürich und Basel (z. B. Ersatz von ankx e, lism e, gaum e durch put er, schtrick e, hü et e). Zu einem ähnlichen Urteil wie Tappolet kommt auch Heinrich Morf (1901, 59). Im übrigen reichen ähnliche pessimistische Beurteilungen bis in die 1930er Jahre. Sie haben wie schon bei Tappolet zu wenig scharf zwischen zwar der Schriftsprache angepaßter Mundart in ihrer ständigen Veränderung und wirklichem Mundartersatz durch die Schriftsprache geschieden, wobei letzterer sich nur auf bestimmte Bereiche (Offizierssprache in der Armee vor dem Zweiten Weltkrieg) und exklusiv literarische Kreise (meist im Umkreis von Deutschen oder Auslandschweizern) beschränkte (vgl. Schwarzenbach 1969, 125⫺128).
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
Inzwischen hatten die Dialekte der dt. Schweiz durch die Begründung des Schweizerischen Idiotikons 1862 und dessen baldigem Publikationsbeginn seit 1881 aus nationalen und antiquarischen Anfängen heraus (zunächst unter der Leitung von Friedrich Staub und Ludwig Tobler, von 1896 bis 1934 unter der Leitung von Albert Bachmann, dem Herausgeber der Beiträge zur schweizerdeutschen Grammatik 1910⫺1941, 20 Bd.; vgl. Haas 1981, Sonderegger 1982 b) sowie durch die aufstrebende junggrammatische Dialektologie seit Jost Wintelers bahnbrechender synchronisch-lautphysiologischer Darstellung von 1876 Die Kerenzer Mundart des Kantons Glarus in ihren Grundzügen dargestellt von der Forschung her einen breiten geistigen Rückhalt gewonnen. Viele bedeutende Persönlichkeiten des akademisch-geistigen Lebens der dt. Schweiz des späten 19. und des 20. Jh. haben mit einer dialektologischen Dissertation begonnen, unter ihnen der Altgermanist Andreas Heusler, der Literaturwissenschaftler und Kulturschriftsteller Karl Schmid und der Diplomat Karl Stucki, um nur einige zu nennen (Nachweise Sonderegger 1962). Daneben beschäftigten sich auch viele Schweizer Gelehrte aus nichtgermanistischen Fächern in der ersten Hälfte des 20. Jh. intensiv mit dem Schweizerdeutschen, wie z. B. der Indogermanist und Gräzist Eduard Schwyzer, der Indogermanist und Indologe Albert Debrunner, der Anglist Eugen Dieth, die Romanisten Ernst Tappolet und Jakob Jud (Nachweise Sonderegger 1962). Schließlich darf noch der breit gefächerten Dialektliteratur gedacht werden, die sich in der dt. Schweiz seit dem 19. Jh. in nahezu allen Regionen, vor allem im schweiz. Mittelland ⫺ die Städte miteingeschlossen ⫺ entfaltet hat (vgl. Karte 190.4). Besonders im Kt. Bern entstand zwischen 1890 und 1914 eine starke Mundart- oder Berndt.-Bewegung in Verbindung mit Folklorismus und populärer Sprachpflege (Ris 1987). Zu einer literaturgeschichtlichen Darstellung der zürcherischen Dialektdichtung kam es bereits 1889 durch J. C. Heer, allgemeiner der alemannischen Mundartdichtung seit Johann Peter Hebel durch Trenkle 1881. Der angesehene literarische Lesezirkel Hottingen veröffentlichte 1896 den Sammelband Aus allen Gauen, Dichtungen in den Schweizerischen Mundarten, dem 1915 die ebenfalls viersprachige, mit Farbtafeln (nach F. Meyer, Costumes suisses, Zürich 1835) ausgestattete Anthologie Schwyzerländli, Mundarten und Trachten in Lied und
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Bild folgte. Eine umfassende Sammlung von Dialektliteratur aus allen Kantonen veranstaltete Otto Sutermeister in fünfzig Heften von 1882⫺90 (Schwizer-Dütsch, Sammlung deutschschweizerischer Mundart-Literatur, Zürich); ihm ist auch die erste rein mundartliche Sammlung von Sprichwörtern zu verdanken (Sutermeister 1869). Was das Schulwesen betrifft, forderte der in Aarau als Schulmann wirkende Dialektologe Jost Winteler 1896 in der Vortragsschrift Ueber Volkslied und Mundart die vermehrte Berücksichtigung von Mundartlied im Schulunterricht, was er mit Erwägungen zum Wert des Dialektes für die geistige Selbständigkeit und politische Unabhängigkeit der Schweizer überhaupt verband (Winteler 1896). Stufe 3: Postulat einer scharfen Trennung von Schriftsprache und Mundarten mit sprachpflegerischen Bemühungen um beide Bereiche in der ersten Hälfte des 20. Jh. Die diesbezüglichen Tendenzen und Ereignisse sind neuerdings erstmals in der gut dokumentierten Darstellung von Weber 1984 aufgearbeitet worden. Zunächst ist davon auszugehen, daß im Gefolge des europäischen Sprachnationalismus, insbesondere der politischen wie kriegerischen Auseinandersetzung zwischen dem wilhelminischen Deutschen Reich und Frankreich (dt.-franz. Krieg 1870/71, Erster Weltkrieg zwischen den Zentralmächten und der Entente) auch die Schweiz von sprachnationalen Regungen erfaßt wurde. So kam es zu einer eigentlichen Sprachenfrage zwischen Dt. und Welsch im jungen schweizerischen Bundesstaat (Müller 1977), während des Ersten Weltkrieges sogar zu einer gewissen geistigen Spaltung zwischen der deutschsprachigen Schweiz und der Romandie, was zu verschiedenen Streitschriften um die Jahrhundertwende und nach 1900 geführt hat (Dokumentation bei Sonderegger, Bibliographie 1962, 61⫺87; Müller 1977, 198⫺212; Weber 1984, 219⫺240), mit Nachwirkungen bis in die 1950er und 1970er Jahre: besonders Zemmrich 1894, Hunziker 1898, Steiger 1917, 1930, verschiedene kämpferische Schriften und Aufsätze des deutschschweiz. Pfarrers in Sitten/Sion (Wallis) Eduard Blocher (1870⫺1942) gegen eine Verwelschung der Schweiz, abschließend Blocher 1923 (Nachweis bei Weber 1984, 221⫺222), Nachwirkungen noch bei Zopfi 1956 sowie in der Auseinandersetzung um die Loslösung des (mit Ausnahme der Gemeinde Ederswiler rein französischsprachigen) Kantons Jura aus dem Nordwestteil des Kantons Bern auf den
Karte 190.4: Mundartliteratur der deutschen Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert (repräsentative Auswahl)
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190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
2867
Die Ortsangaben beziehen sich auf die verwendete Herkunftsmundart Johann Peter Hebel, Hausen im Wiesental (Baden), 1760⫺1826 Aargau: Adolf Frey, Gontenschwil, 1855⫺1920 Sophie Hämmerli-Marti, Lenzburg, 1868⫺1942 Paul Haller, Rein bei Brugg, 1882⫺1920 Robert Stäger, Wohlen, 1902⫺1981 Josef Villiger, Dietwil, 1910⫺1992 Appenzell-Außerrhoden: Heinrich Altherr, Gais, 1909⫺1993 Julius Ammann, Trogen, 1882⫺1962 Jakob Hartmann, ‘Chemifeger Bodemaa’, Wienacht, 1876⫺1956 Johannes Merz, Herisau, 1776⫺1840 Walter Rotach, Herisau, 1872⫺1928 Appenzell-Innerrhoden: Andreas Anton Räss, Steinegg bei Appenzell, 1893⫺1972 Basel-Land: Traugott Meyer, Wenslingen, 1895⫺1959 Basel-Stadt: Theobald Baerwart, Kleinbasel, 1872⫺1942 Felix Burckhardt, ‘Blasius’, Basel, 1906⫺1984 Hans Krattiger, Riehen, geb. 1914 Fritz Liebrich, Basel, 1879⫺1936 Theodor Meyer-Merian, Basel, 1818⫺1867 Bern: Emil Balmer, Laupen/Bern, 1890⫺1966 Ernst Balzli, Bolligen, 1902⫺1959 Gertrud Burkhalter, Berner Seeland, 1911⫺ 2000 Ernst Eggimann, Bern/Langnau, geb. 1936 Walter Eschler, Zweisimmen, 1909⫺1997 Simon Gfeller, Trachselwald/Lützelflüh, 1868⫺ 1943 Jeremias Gotthelf, eigentl. Albert Bitzius, Lützelflüh, 1797⫺1854 Karl Grunder, Hammegg/Emmental, 1880⫺ 1963 Gottlieb Jakob Kuhn, Bern, 1775⫺1849 Maria Lauber, Frutigen, 1891⫺1973 Carl Albert Loosli, Emmental, 1877⫺1959 Kurt Marti, Bern, geb. 1921 Mani Matter, Bern, 1936⫺1972 Albert Meyer, Buttenried/Bern, 1893⫺1962 Albert Streich, Brienz, 1897⫺1960 Rudolf von Tavel, Bern, 1866⫺1934 Hans Zulliger, Mett bei Biel, 1893⫺1963 Glarus: Cosmus Freuler, Glarus, 1780⫺1838 Kaspar Freuler, Glarus, 1887⫺1969 Caspar Streiff, Hinterland/Glarus, 1853⫺1917 Georg Thürer, Mittelland, 1908⫺2000 Graubünden: Josef Hug, Untervaz, 1903⫺1985 Johann Josef Jörger, Vals, 1860⫺1933 Hans Valär, Davos, 1871⫺1947
Luzern: Theodor Bucher, ‘Zyböri’, Luzern, 1868⫺1935 Agnes von Segesser, Luzern, 1884⫺1964 Josef Zihlmann, ‘Seppi a de Wiggere’, Gettnau, 1914⫺1990 St. Gallen: Frida Hilty-Gröbly, St. Gallen, 1893⫺1957 Jakob Kuratli, Wartau, 1899⫺1981 Johann Jakob Rütlinger, Wildhaus, 1790⫺1856 Alois Senti, Flums, geb. 1930 Clara Wettach, St. Gallen, 1888⫺1979 Schaffhausen: Albert Bächtold, Wilchingen, 1891⫺1981 Schwyz: Paul Kamer, Schwyz, 1919⫺1999 Meinrad Lienert, Einsiedeln, 1865⫺1933 Solothurn: Ernst Burren, Bettlach geb. 1944 Albin Fringeli, Bärschwil/Schwarzbubenland, 1899⫺ 1993 Dieter Fringeli, Schwarzbubenland, 1942⫺1999 Beat Jäggi, Fulenbach, 1915⫺1989 Josef Reinhart, Rüttenen bei Solothurn, 1875⫺ 1957 Franz Josef Schild, Grenchen, 1821⫺1889 Thurgau: Fritz Enderlin, Kesswil, 1883⫺1971 Alfred Huggenberger, Gerlikon bei Frauenfeld, 1867⫺1960 Ernst Nägeli, Mittelthurgau, geb. 1908 Unterwalden/Nidwalden: Walter Käslin, Beckenried, 1919⫺1999 Josef von Matt, Stans, 1901⫺1988 Josef Konrad Scheuber, Ennetbürgen, 1905⫺1990 Unterwalden/Obwalden: Julian Dillier, Kerns, 1922⫺2001 Hedwig Egger-von Moos, Kerns, 1880⫺1965 Uri: Ruedi Geisser, Schächental, geb. 1938 Wallis: Ludwig Imesch, Bürchen, 1913⫺1996 Hannes Taugwalder, Zermatt, geb. 1910 Zürich: Jacques M. Baechtold, ‘Häxebränz’, Zürich, 1887⫺ 1984 Wilhelm August Corrodi, Winterthur, 1826⫺1885 Barbara Egli, Oberland, geb. 1918 Albert Ehrismann, Zürich, 1908⫺1998 Ernst Eschmann, Richterswil, 1886⫺1953 Rudolf Hägni, Stäfa, 1888⫺1956 Otto Schaufelberger, Oberland, 1901⫺1987 Eduard Schönenberger, Fischenthal/Wetzwil, 1843⫺ 1898 Jakob Senn, Fischenthal, 1824⫺1879 Jakob Stutz, Isikon-Hittnau, 1801⫺1877 Johann Martin Usteri, Zürich, 1763⫺1827 Traugott Vogel, Zürich, 1894⫺1975
Liste zu Karte 190.4 (ausgearbeitet von H.-P. Schifferle, aktualisiert durch die Redaktion des Schweizerdt. Wörterbuchs)
2868 1. 1. 1979 (umfassend zur Vorgeschichte Schwander 1971, sprachpolitische Fragen bei Bärtschi 1966). Über alle sprachpolitischen Wogen hinaus hat sich in der Schweiz indessen eine liberale Ausgleichshaltung in der Sprachenfrage durchgesetzt. Sie wurde wissenschaftlich durch Jakob Zimmerlis umfassende dreibändige, die Sprachenlage auf beiden Seiten würdigende und auch historisch ausgreifende Darstellung der dt.-frz. Sprachgrenze in der Schweiz vorbereitet (Zimmerli 1891⫺1899), durch Morf 1901 um ausgleichende schweizerisch-nationale Gesichtspunkte im Sinne des Verständnisses eines deutsch-romanischen Vaterlandes untermauert und knapp ein halbes Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges durch den Dichter (und Nobelpreisträger von 1919) Carl Spitteler ⫺ dessen Sprache selbst schweizerische Züge aufweist (Steiger 1915, Senn 1959) ⫺ in seiner Zürcher Rede vom 14. Dezember 1914 unter dem Titel Unser Schweizer Standpunkt zum Ausdruck eines allgemeineren schweizerischen Bewußtseins auf dem Hintergrund von Neutralität und Mehrsprachenstaat durchgeformt. Dabei ist es seither trotz gelegentlichen mehr regionalen und sprachgrenzbedingten Auseinandersetzungen geblieben, mindestens gesamtschweizerisch gesehen. Der 1904 gegründete Deutschschweizerische Sprachverein (DSSV, dazu Steiger 1944, Weber 1984), 1994 umbenannt zu Schweiz. Verein für dt. Sprache (SVDS), war freilich in seinen Anfängen und auch später nie frei von sprachpolitischen Zielen (Wahrung des territorialen Besitzstandes der dt. Sprache, Erhaltung der Zahl der Deutschsprachigen in der Schweiz, gebührende Berücksichtigung des Deutschen durch die Behörden), doch hat sich seine Tätigkeit im Verlauf der Jahrzehnte und besonders auch in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs auf eine sprachpflegerische Balancierung zwischen Schriftsprache und Mundarten bei bewußter Pflege von beiden Sprachformen ausgerichtet, durchaus in Verbindung mit der vom Allgemeinen Deutschen Sprachverein her übernommenen z. T. recht puristischen Sprachreinigung von „unnötigen“ Fremdwörtern, die jedoch insgesamt behutsam und deshalb auch recht erfolgreich über Schule und Korrespondenz bis in die deutschschweizerische Amtssprache hinein wirkte, ohne dem Schweizerhochdeutschen seine typische Färbung durch (vor allem rom., neuerdings auch engl.) Fremdwörter völlig nehmen zu können. Die Forderung nach möglichster
XVII. Regionalsprachgeschichte
Trennung der beiden Sprachformen Hochdeutsch (Schriftsprache) und Schweizerdeutsch (Mundarten) nach verschiedenen Anwendungszonen vertrat im Schoße des DSSV vor allem der Berner Universitätsprofessor und Sprachpädagoge Otto von Greyerz (1863⫺1940) neben dem Zürcher Gymnasiallehrer August Steiger (Obmann von 1942 bis 1952): sie führte von der Greyerz’schen Verwirklichung der Mundart als Grundlage des Deutschunterrichtes (von Greyerz 1900a) über die kontrastive Sprachschulung Mundart/Schriftsprache (von Greyerz 1900, 1922) bis zur immer wieder erneuten Standortbestimmung in Sachen Sprachformen in der dt. Schweiz, wobei sich das Schwergewicht insgesamt mehr der Schrift- oder Hochsprachpflege zugewandt hat (vgl. Schweizerdeutsch und Hd. 1938). Noch der Basler Germanist Emil Steiner formulierte 1938 als Devise: „Kein Schweizer-Schriftdeutsch, kein Schweizer Parlaments-Deutsch, kein verballhorntes Deutsch, sondern Liebe zur Mundart und eine reine deutsche Schriftsprache!“ Damit war freilich die Gefahr eines völligen Auseinanderklaffens des Sprachlebens in der dt. Schweiz verbunden. Jedenfalls sah der DSSV in der Schriftsprachpflege innerhalb der dt. Schweiz stets eine wichtige und notwendige Aufgabe, nicht zuletzt aus einer Mittlerrolle zwischen Bürger und Staat heraus, was schließlich auf Grund eines Postulates von Nationalrat Alfons Müller-Marzohl (Germanist, Schulmann und Politiker in Luzern) im Jahre 1966 zur Schaffung einer Sprachstelle beim Bund (in Bern) geführt hat. Die schweizerhochdeutsche Amtssprache fand bereits durch Hugentobler 1920 und 1927 ihre wissenschaftliche Darstellung wie Pflege im Sinne von Richtlinien. Die grundsätzliche Anerkennung beider Sprachformen, d. h. des öffentlichen und literarischen Hd. und der Mundarten in der dt. Schweiz ließ sodann auch die Mundartdichtung in der ersten Hälfte des 20. Jh. ⫺ übrigens nicht erst seit 1933 ⫺ ganz außerordentlich entfalten und bis in die Schulbücher hinein rasch vertreten, wie ein Blick auf die Karte 190.4 verdeutlichen mag. Damit sind dichterische Äußerungen über die nationale Kraft des Dialektes verbunden, wie die folgende des repräsentativen Stadtberner Erzählers Rudolf von Tavel (1866⫺1934), der in seinem Werk Ring i der Chetti, E Läbesgschicht, Bern 1931, S. 175 über das Berndeutsche aus der Sicht einer Welschen schreibt:
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz „Ah, cet affreux langage“! Ja, es tönt ruuch i üsnen Ohre, das isch wahr, aber grad das isch o ein vo ihrne forces, Frou vo Buebebärg! Es git gwüß uf der ganze wyte Wält e keis Volk, so sech under sich so guet versteit, wo so dütlech und so vo Härz zu Härz mitenandere cha rede, ohni daß di Frömde’s verstande. Das het se zsäme, das macht se zu mene Volk.“
Dennoch blieb der öffentliche Mundartgebrauch vor den 1930er Jahren noch stark zurück und erfüllte sich vor allem in den Kategorien Mundart und Heimat, Mundart und Natur, Mundart als Sprache der Bauern, d. h. in einer Art abschließenden sprachlichen Heimatschutzes (Schwarzenbach 1969, 131⫺ 136). Rückblickend meint der Publizist Adolf Guggenbühl 1967 über die Zeit vor dem Einsetzen der verstärkten Mundartbewegung der 1930er Jahre (vgl. unten Stufe 4) sogar (S. 247) „Unsere schweizerdeutsche Muttersprache hat sich von der Mißachtung aus der Zeit der Überfremdung vor 1914 nie mehr völlig erholt“, während der rätische Sprachgelehrte Robert von Planta in einer Artikelfolge in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17.⫺ 19. Juni 1931 „Vom Daseinskampf des Schweizerdeutschen“ im Sinne eines Mahnrufes spricht (Schwarzenbach 1969, 137). Damit wird allerdings mehr die Lage im gebildeten Bürgertum angesprochen, als die Stellung der Mundart im Volksganzen. Stufe 4: Zweite Kampfphase um die Erhaltung und Festigung des Schweizerdeutschen im Rahmen der geistigen Landesverteidigung unter Abgrenzung gegenüber dem nationalsozialistischen Dritten Reich 1933 bis 1945. Die nationialsozialistische Machtergreifung von 1933 und ihre außenpolitischen Folgen im Sinne des „Zusammenschlusses aller Deutschen“ (d. h. Deutschsprachigen, so formuliert im Parteiprogramm der NSDAP von 1927) führte in der dt. Schweiz zu sich im Verlauf der 1930er Jahre verstärkenden sprachpolitischen Abwehrreaktionen bei bedeutender Rückbesinnung auf die mundartliche Grundlage des Schweizerdeutschen, dessen Stellung zwar selbst innerhalb des DSSV nie angefochten war (zur wiss. Dialektologie bes. in Zürich vgl. Bichsel 2001). Deshalb muß ⫺ auch im Hinblick auf die breite Mundartgrundlage seit dem 19. Jh. (vgl. oben Stufe 1 über Mörikofer 21864) und die reiche Entfaltung der Mundartliteratur schon vor 1933 ⫺ die Formulierung Hermann Bausingers zurückgewiesen werden, „daß es ohne Hitler diese umfassende Schweizer Standardsprache [gemeint: schweizerdt. Umgangs-
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sprache] wahrscheinlich nicht gäbe“ (Bausinger 1972, 33). In der seit 1933 folgenden Kampfphase um Erhaltung und Festigung des Schweizerdeutschen sind zwei Hauptrichtungen zu unterscheiden: eine gemäßigte und eine ungemäßigte Richtung. Die gemäßigte Richtung bemühte sich um eine Stärkung der Mundart vor allem im öffentlichen Gebrauch unter Beibehaltung der hd. Schriftsprache, wenn auch die besonderen Züge des Schweizerhochdeutschen dabei zum Zug kommen durften. Die ungemäßigte Richtung wollte das Schweizerdeutsche durch die Schaffung einer alem.-schweizerdt. Einheitssprache als neue Schriftsprache etablieren und damit eine sprachliche Trennung der dt. Schweiz vom gesamtdt. Sprachgebiet vollziehen. In diesem Sinne wirkte der Theologe und Orientalist Emil Baer, dessen 1936 in Zürich erschienenes Buch Alemannisch, Die Rettung der eidgenössischen Seele vor allem die Ausweitung des Gebrauches der alem. Sprache mündlich und schriftlich über das Medium einer im Anschluß an die altschweizerische Literatursprache seit Zwingli zu schaffenden mundartnahen aber einheitlichen neuen Schriftsprache forderte, deren Sprachsystem Baer allerdings nicht zu entwerfen vermochte (vgl. die Würdigung bei Weber 1984, 112⫺115). Im allgemeinen wurden Baers Vorschläge trotz der latenten nationalsozialistischen Bedrohung der Schweiz abgelehnt, da sich die führenden geistigen Kräfte der dt. Schweiz nicht voreilig von der schrift- und literatursprachlichen Bindung mit dem übrigen dt. Sprachgebiet lösen wollten. Auch mußte die Fülle ganz verschiedener schweizerdt. Mundarten und die Schranke der viersprachigen Schweiz gegen Baer wirken. Immerhin kam es unter Baers Einfluß 1937 zur Gründung der SchwizerSprach-Biwegig. Zu den Vorkämpfern der gemäßigten Richtung gehörten vor allem der Publizist und Herausgeber des Schweizerspiegels Adolf Guggenbühl (1896⫺1971) und der Zürcher Anglist und Phonetiker Eugen Dieth (1893⫺1956), Professor an der Universität Zürich. Beiden ging es um praktisch verwirklichbare Anliegen, insbesondere um mehr Mundart zu sprechen (vermehrter öffentlicher Sprachgebrauch), besser Mundart zu sprechen (dialektale Sprachpflege) und Mundart allgemein und doch differenziert schreiben zu können (Entwicklung einer schweizerdt. Dialektschrift, Pionierleistung von Dieth), vgl. Guggenbühl 1937 (rückblickend auch 1967, 247 ff.), Dieth 1938
2870 (21986) Schwyzertütschi Dialäktschrift, Leitfaden einer einheitlichen Schreibweise für alle Dialekte (zum Problem i. a. Lerch 1971). Diese Bestrebungen waren erfolgreich und führten 1938 zur Gründung des Bundes Schwyzertütsch (BST, vgl. Weber 1984, 116 ff.), seit 1990 Verein Schweizerdeutsch genannt, aus dessen Kreisen seither eine Fülle von praktischen Sprachlehren (Baur 1939 und später), allgemein verständlichen Grammatiken und Wörterbüchern hervorgingen, während sich die Mundartschriftsteller seither in der Regel an die Diethsche Schreibung hielten, wenn auch zum Teil in modifizierter Form. Die vom BST wie zum Teil auch vom DSSV getragene Mundartbewegung der 1930er und 1940er Jahre (mit Fortführung der Bestrebungen bis zur Gegenwart) sah die Förderung und Erhaltenswürdigkeit des Schweizerdeutschen vor allem in den Gesichtspunkten Mundarten als Ausdruck des schweizerischen Nationalcharakters, Mundart als geistige Heimat, stilistische Vorzüge der Mundart, sittliche Vorzüge der Mundart (Wahrheitsgehalt), Mundartenvielfalt als Stütze des schweizerischen Föderalismus, Mundart als Umgangssprache aller Schichten (demokratischer Wert), Mundart als Abgrenzung gegen außen (außenpolitischer Wert gegenüber dem Dritten Reich) (vgl. Weber 1984, 88⫺110). Auf diesem Hintergrund hat sich auch die Mundartpflege in der Schule weiterentwickelt (zum Problem Weber 1984, 122 ff.). „Wesen und Würde der Mundart“ ⫺ um den Titel einer Schrift des Dichtergelehrten Georg Thürer (1908⫺2000) von 1944 zu verwenden ⫺ blieb aber nicht der alleinherrschende Gesichtspunkt des Sprachlebens der Schweiz in der Vorkriegs- und Kriegszeit bis 1945. Vielmehr haben sich bedeutende Schweizer Schriftsteller wie Gelehrte gleichzeitig in das „Lob der deutschen Sprache“ eingefunden, wie der kleine Sammelband der Ansprachen von sechs Schweizer Autoren heißt, die sich am 6. März 1941 in Zürich der Öffentlichkeit in Schriftsprache und Mundart stellten (Traugott Vogel, Georg Thürer, Albin Zollinger, Erwin Jaeckle, Fritz Ernst, Emil Staiger). Mundart und Schriftsprache auch hier, oder wie es der Literaturwissenschaftler Emil Staiger im Hinblick auf Gottfried Kellers Meisterschaft betonte: „Drum haben wir aus Überzeugung heute die deutsche Sprache gelobt, unsere Mundart wie die Sprache Goethes, das Deutsch Martin Luthers wie das des «Grünen Heinrich». Und wir glauben, gerade so dem Sinn und Geist der besten Schweizer aller Zeiten treu zu sein.“ (Lob der deutschen
XVII. Regionalsprachgeschichte
Sprache 1941, 51). Dank solcher maßvoller Gegenbesinnung wurden die Bemühungen um das Schweizerdeutsche weder geschmälert noch die Verbindungen zum übrigen dt. Sprachgebiet ⫺ aus dem sich übrigens viele auch literarisch tätige Emigranten in die Schweiz begeben hatten ⫺ allzusehr abgebrochen. Dadurch konnte, wie schon im 18. Jh. mit Bodmer und im 19. Jh. mit Jeremias Gotthelf, auch das Schweizerhochdeutsche wieder erstarken, nachdem es im Rahmen einer allzu scharfen Trennung von Mundart und Schriftsprache kurz vor der Jahrhundertwende und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jh. prestigemäßig eher in den Hintergrund gedrängt worden war, wogegen sich bereits Blümner 1892 aus Anlaß von Wustmanns Allerhand Sprachdummheiten (erstmals 1892) gewandt hatte. Stufe 5: Allgemeine Anerkennung eines gleichberechtigten, aber im einzelnen verschieden strukturierten Verhältnisses Mundarten/neuhochdeutsche Standardsprache in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine umfassende Darstellung zur Stellung der Mundart in der deutschsprachigen Schweiz des 20. Jh. hat Schwarzenbach 1969 vorgelegt und diese selbst geschichtlich bis zurück in das 19. Jh. vertieft, für den Sprachgebrauch der Gegenwart außerdem auf Grund verschiedener eigener Erhebungen zum Sprachgebrauch in Kirche, öffentlicher Rede, Armee, Presse und Literatur, Bühne, Film und Radio analysiert. Zusammenfassend formuliert Schwarzenbach u. a. (417⫺ 418): „Allen in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jh. geäußerten Befürchtungen zum Trotz hat das Schweizerdeutsche seine Stellung als allgemeine Umgangssprache und als Sprache weiter Bereiche des öffentlichen Lebens in den letzten Jahrzehnten nicht nur behauptet, sondern sogar erweitert … Regionale Unterschiede in der Einstellung zur Mundart ⫺ im ersten Drittel des Jh. wohl noch leichter erkennbar, aber nie von größerer Bedeutung ⫺ gleichen sich heute zusehends aus. Besonders mundartfreundlich sind noch immer die Gebiete des Alten Bern, während das Schriftdeutsche in den nordostschweizerischen Grenzkantonen, vor allem aber im deutschsprachigen Oberwallis in der öffentlichen Rede breiteren Raum beansprucht … Läßt man eine Betrachtung der beiden Formen des Deutschen in der Schweiz von der Aufgabenteilung nach schweizerdeutscher Umgangssprache einerseits, neuhochdeutscher Schreibsprache anderseits ausgehen, so stellt man fest, daß wir ⫺ wenn auch ein beachtlichs Mundartschrifttum vorliegt ⫺ wohl ohne geschriebenes Schweizerdeutsch, nicht aber ohne gesprochene Formen des Schriftdeutschen auskämen,
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz die längst einen festen Platz im Sprachgebrauch beanspruchen: als Lese- und Unterrichtssprache, als Sprache der Kanzel und des Vortrags, des Schauspielers und ⫺ teilweise ⫺ des Radiosprechers, ferner als vermittelnde Sprache im Verkehr mit den übrigen Teilen des deutschen Sprachgebiets und im Umgang mit Fremden. Im Bereich der öffentlichen Rede hat sie dabei teils ältere lokale Rednersprachen abgelöst, teils aber auch herkömmliche Anwendungsgebiete der Mundart in einer Weise beschnitten, die diese ⫺ wie anderwärts im deutschen Sprachgebiet ⫺ in die Privatsphäre oder noch weiter hätte zurückdrängen können. Wenn sich das Schweizerdeutsche behaupten konnte, ja in der Kirche, im Ratssaal und in der Armee einen Teil seiner früheren Bedeutung zurückgewonnen hat, so lassen sich dafür sowohl außersprachliche als innersprachliche Gründe anführen.“
Dabei hat die allgemeine Anerkennung eines grundsätzlich gleichberechtigten Verhältnisses Mundarten/nhd. Standardsprache zur praktischen Aufhebung einer scharfen Grenze
2871
sowohl im Anwendungsbereich der beiden Sprachformen als auch in der Reinheit ihrer Verwirklichung geführt, was Schwarzenbach als „Freiheit des Übergriffs in die andere Sprachform“ bezeichnet (419 f.). Damit stellt sich erst recht die Frage, was eigentlich Mundart noch sei in der deutschen Schweiz der zweiten Hälfte des 20. Jh. Der Schriftsteller und germanistische Hochschulprofessor Adolf Muschg sagt darüber (1980, 170): „Unsere Dialekte unterliegen, ihrem oberflächlichen Vormarsch zum Trotz, einer weitgehenden hochdeutschen Unterwanderung, die nicht nur ihre geographische Vielfalt, sondern auch ihre strukturelle Eigenart reduziert hat ⫺ es bleibt unter dem Einfluß deutscher Medien, des Fernsehens, aber auch des Boulevard-Slangs oder der TeenagerIdiome fast nur noch die phonetische Spezialität übrig. Ich kenne viele Schweizer, deren Mundart psychologisch bereits transponiertes Hochdeutsch ist.“
Abb. 190.13: Hauptunterschiede in den Vokalsystemen zwischen der nhd. Standardsprache und den schweizerdeutschen Mundarten
2872 Von der sprachwissenschaftlichen Forschung aus gesehen wird man differenzierter urteilen müssen: neben die alten dörflichen, z. T. selbst städtischen (auch stadtschichtspezifischen) Grundmundarten, wie sie rückblickend auf die erste Jahrhunderthälfte in ihrer Verbindung zur alten, archaischen Sachkultur noch der Sprachatlas der deutschen Schweiz 1962⫺1997 (SDS) und die damit im Zusammenhang stehenden regionalen Darstellungen (Literatur bei Sonderegger 1962, 243⫺258 sowie in den einzelnen Bänden des SDS 1963 ff., mit Bezug auf den Sprachwandel vor allem Haas 1978) erkennen lassen, sind neue Erscheinungsformen wie konglomerative Ortsmundart, Ausgleichsmundart, Mischmundart sowie stärker standardsprachlich beeinflußt Anpassungsmundart und Halbmundart getreten, welche teilweise überlagert werden von einer Art überregionaler, aber doch noch mehr dem Bereich Mundart zuzuordnender deutschschweizerischen Umgangssprache (Strübin 1976, zum Problem auch Ruoff 1973; Schwarzenbach 1969). Dies ist vor allem die Folge des gewaltigen Umschichtungsprozesses der schweizerischen Bevölkerung durch Migration (Landflucht, Anziehungskraft städtischer Agglomerationen) und Sektorenwechsel der Erwerbstätigen (1980: Sektor 1, Land- und Forstwirtschaft, 6 % der Erwerbstätigen; Sektor 2, Industrie, Handwerk, Baugewerbe 39 %; Sektor 3, Dienstleistungen 55 %; demgegenüber waren 1900 noch 33 % der Gesamtbevölkerung bzw. ca. 45 % der Erwerbstätigen dem besonders mundarttragenden Sektor 1 zuzurechnen). Neuere Untersuchungen über den Sprachwandel von Ortsmundarten zeigen den Zerfall der alten Grundmundarten und ihren Übergang in neue Orts- und Regionaldialekte (z. B. Wolfensberger 1967), wobei auch soziale Schichtunterschiede eine gewisse, doch eher eingeschränktere Rolle spielen (Bigler 1979, 209⫺214). Indessen haben die schweizerdt. Mundarten selbst bei standardsprachlicher Beeinflussung einen Großteil ihrer Kennmerkmale, gerade auch in syntaktischer Hinsicht (Glaser 1996), bis heute bewahrt, was aus ihrer allgemein wirksamen Umsetzungskraft hervorgeht: jeder Deutschschweizer kann die nhd. Standardsprache in (sprachpflegerisch betrachtet eine mehr oder weniger „gute“) Mundart umsetzen. Dies beruht auf den kontrastiven Sprachmerkmalen des Schweizerdeutschen gegenüber der nhd. Standardsprache (Abb. 190.13, 190.14), welche den muttersprachlich Schweizerdeutsch-
XVII. Regionalsprachgeschichte
Sprechenden mehr oder weniger bewußt sind, jedenfalls ihre Sprachkompetenz teilweise mitbestimmen. Dabei ergibt sich ein einseitiges Gefälle von lautlich-grammatisch im Prinzip richtiger Umsetzung von der Standardsprache in die (zwar oft von dieser beeinflußten) Mundart, während die Umsetzung von der Mundart in die (oft nur ungenügend beherrschte) Schriftsprache nicht voll der standardsprachlichen Norm entspricht, sondern ⫺ wie schon im älteren Schweizerhochdeutsch seit dem 16. Jh. ⫺ von hyperkorrekten oder halbmundartlichen Bildungen durchzogen ist. Nach Strübin 1976, welcher die Herausbildung einer deutschschweizerischen Umgangssprache als Phänomen einer ausgesprochenen Umbruchsituation des Schweizerdeutschen deutet, geht es bei dieser neuen, überregionalen Sprachform um die Frage: „Mit welchen Mitteln wird die deutschschweizerische Umgangssprache [über die Möglichkeiten der herkömmlichen Mundarten hinaus] den heutigen Lebensverhältnissen angepaßt?“ Vier Erscheinungen geben nach Strübin dem Schweizerdeutschen dabei ein neues Gesicht: 1. der Ausgleich der Lokalund Regionalmundarten, 2. die Übernahme einer internationalisierten technischen Sachsprache, 3. die Hinwendung zu einer „gebildeten“, hochdeutsch getönten höheren Verkehrssprache, 4. der „Trend“ zu einer gefühlsbetonten mittleren und niederen Verkehrssprache, zum Slang. So entsteht mehr und mehr eine Sprachform, welche zwar mundartliches schweizerisches Aussehen hat, aber nicht ausschließlich einzelnen Orts- oder Regionaldialekten zugewiesen werden kann, sondern eine gesamtdeutschschweiz. Umgangssprache repräsentiert. Temperierte Mundarten (z. B. Decki ‘Zimmerdecke’ statt regionales Bühni, Dili oder Dechi), standardsprachlich ausgerichteter Sachwortschatz in allen Bereichen neuzeitlicher Technik, Wörter der allgemeinen dt. Umgangssprache (z. B. standardisierte Monatsnamen anstelle der alten mundartllichen wie Februar für Hornig, April für Abrille, August für Augschte; z. B. Zaa(n)fleisch für mundartlich Bilgere) und bildhafter Slang (Manager-, Jugend-, Vulgärsprache) bilden so eine neue überregionale Grundlage dieses Umformungsprozesses, welcher zwar nicht einfach zum Standarddeutsch aber doch mehr in dessen Nähe führt, ohne daß dabei mundartliche Kennmerkmale völlig verloren gingen ⫺ vielmehr bestimmen sie weitgehend im Sinne eines Umsetzungsprozesses das Lautbild auch die-
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
ser Umgangssprache oder leben in abgeschwächter Form darin nach (so auch Schimpfwörter für Personen, Lötscher 1993; z. T. auch Grußformeln, wie sie Hauser 1998 vom 17. Jh. bis zur mehr allgem. umgangssprachlichen Gegenwart dargestellt hat). Außerdem versuchen neuere Dialektwörterbücher für den praktischen Gebrauch auch die mundartliche Gegenwartssprache einzufangen (Trüb 1979). Von einer neuen Mundartwelle darf in der dt. Schweiz seit den 1960er Jahren gesprochen werden: sie ist besonders von Bern ausgegangen und etablierte sich als modern mundart in der Mundartlyrik (u. a. Kurt Marti) sowie in Chansons deutlich in einer Vereinigung von nostalgischen und progressiv-kritischen Strömungen (vgl. Dillier 1978, Ris 1980). Damit wurde das althergebrachte, mehr heimatlich ausgerichtete Mundartschrifttum durch eine zusätzliche literarische Form von allgemeiner, z. T. gesamtdeutscher Ausstrahlung überlagert. Angesichts der allgemein verstärkten Stellung der Mundart im öffentlichen Leben wie in den elektronischen Medien der deutschen Schweiz der letzten Jahrzehnte stellt sich die Frage, ob das Schweizerdeutsche mehr als ein Dialekt (oder die Summe von Dialekten auf dem Gebiet der deutschen Schweiz) sei. Nach Kloss 1978 wird Schwyzertütsch als Ausbaudialekt eingestuft, d. h. als Dialekt, dessen Verwendung stärker ausgebaut ist als die eines „normalen“ Dialektes, woraus sich eine Ausbausprache entwickeln könnte (nach Ris 1980 ist das Schweizerdeutsche eindeutig auf dem Weg dazu, zurückhaltender beurteilt Kloss 1978 die Situation, vgl. auch Haas 1981 a, 1998 unter Betonung der gut funktionierenden Diglossie als Gegengewicht, verschiedene weitere Standpunkte bei Baur 1983, 37⫺41, Sieber/Sitta 1984). Nach Ris 1980 (mit weiterer Literatur) steht der Dialekt in der deutschen Schweiz „in einem dreifachen Spannungsfeld und muß entsprechend auf drei Bezugspunkte hin definiert werden“: 1. dem innerdialektalen (in verschiedener Bewußtseinsausprägung), 2. dem der schweizerischen Norm der deutschen Einheitssprache (Schweizerhochdeutsch), 3. dem der bundesrepublikanischen Norm der deutschen Einheitssprache (neuerdings über das dt. und durch die Übernahme vieler großer Unterhaltungssendungen auch über das deutschschweizerische Fernsehen allgemein ausgestrahlt). Dabei ist die Rhein- oder Landesgrenze zwischen der Schweiz und der BRD
2873
„noch mehr zu einer pragmatischen Sprachgrenze geworden, indem die soziale und die pragmatische Reichweite der Mundart auf beiden Seiten nun höchst verschieden ist“ (Ris 1980a). Schifferle 1995 unterstreicht die binnenschweiz. Orientierung im dialektalen Sprachgebrauch im NO-Aargau gegenüber der hochdt. Orientierung im zwar ebenfalls alem. Südbaden (Waldshut). Inzwischen mehren sich aber auch die Stimmen, welche zur vermehrten Pflege der Hoch- oder Standardsprache in der dt. Schweiz aufrufen, besonders in der Schule (umsichtig Sitta 1979, zum Problem auch Stirnemann 1980, Weber 1984). Um die dt. Standardsprache in der Schweiz allzu besorgte Kreise (unter ihnen der Basler Germanist Louis Wiesmann) haben 1982 sogar einen „Verein für die Pflege der deutschen Hochsprache“ gegründet, der 1996 wieder aufgelöst wurde. Jedenfalls ist zur Zeit erneut eine intensive öffentliche Diskussion um das gegenseitige Verhältnis der beiden Sprachformen Dialekt und Standardsprache in der dt. Schweiz im Gange (vgl. vor allem die Diskussion in der vom DSSV bzw. SVDS herausgegebenen Zeitschrift «Sprachspiegel» sowie im Sammelband Vouga/Hodel 1990). Neue Forschungsergebnisse innerhalb der sog. medialen Diglossie (Sieber/Sitta 1986, 20 f.) betr. das Spannungsverhältnis zwischen weitgehend gesprochener Mundart und v. a. geschriebener Standardsprache betreffen die folgenden Bereiche: (1) Spracheinstellung und Mentalität. So die auseinanderklaffenden Einstellungen junger Deutschund Welschschweizer zu beiden Sprachformen (Schläpfer/Gutzwiller/Schmid 1991). Besondere Probleme ergeben sich sodann für Deutsche in der Deutschschweiz, da auch diese in die Diglossie-Situation hineingestellt sind, welche unterschiedlich gemeistert wird und meist auch eine beachtliche Sprachbarriere erkennen lässt, die sich mit Mentalitätsunterschieden verbindet (umfassend Koller 1992). (2) Öffentliche Reden und Verhandlungen auf Grund einer Sammlung von Tonbandaufnahmen (Schwarzenbach 1987), wo zwischen umgangssprachlichem Spontanduktus und einer eng an schriftsprachliche Muster angelehnte ‘Rednermundart’ mit funktionstüchtigen Übergangsformen zwischen spontaner und schriftgemässer Syntax unterschieden werden kann. In der damit vergleichbaren politischen Sprache ist seit den 1970er Jahren die Mundart zusammen mit soziolektischen Merkmalen für Kernsätze und Blickfangüberschriften bis hinein in die Namengebung für Behörden, Gesellschaftsschichten u. ä. im Vormarsch (Ris 1992).
2874
XVII. Regionalsprachgeschichte
Sprachliches Teilsystem
Abweichungsbereich
Lautsystem:
Vokalismus
sehr umfangreich sowohl im Vokalinventar (vgl. Abb. 190.13) als auch in der Vokalverteilung im Wortschatz (Beispiele bei gleichen Lexemen: andere Verteilung von Kürze und Länge; schweizerdt. Diphthonge /ie/, /üe/, /ue/ = hochsprachlich /i¯/, /ü¯, /u¯/; schweizerdt. Monophthonge /i¯/, /ü¯/, /u¯/ = hochsprachlich oft /ai˛/, /oi˛, /au˛/).
Konsonantismus
weniger augenfällig, am größten im Bereich der Opposition, Verteilung und Realisierung der Fortes p, t, k und der Lenes b, d, g (im Schweizerdt. nur stimmlose Lenes b, d, g; eingeschränkte Auslautverhärtung; keine Aspiration von p, t, k; zudem Verschiebung von k zu kχ oder ch vgl. Abb. 190.6 und 190.8); erhaltene Funktion konsonantischer Längen (gelängte Konsonanten oder Geminaten) sowie Fehlen des stimmhaften Frikativs s [z].
Substantivdeklination
häufigere progressive Flexionssteuerung durch vorangestellte Begleiter; häufigere Umlautflexion im Plural; bis auf wenige Relikte abgebaute Endungsflexion.
Formensystem: Wortbildung
Syntax:
breitere Vertretung sowie andere sprachpsychologische Geltung des Diminutivs; vielfältige Diminutivsuffixe (vor allem im Bergschweizerdt.): -li, -i, -ji, -ti, -si (-tschi); spezifische Wortbildungselemente, z. B. -ete (Hampflete ‘eine Hand voll’, Chogete ‘eine lästige, mühevolle Sache’, Suechete ‘eine Sucherei’, Lismete ‘eine Strickarbeit’) und -ele (päschele ‘sich unnütz, ergebnislos zu schaffen machen, scheinbar arbeiten’, gvätterle ‘sich spielerisch beschäftigen’). Konjunktionensystem
eingeschränkt
Genussystem
zahlreiche Wörter mit abweichendem Geschlecht, z. T. Mehrgeschlechtigkeit und regional bedingtes Schwanken
Parataxe/Hypotaxe
mehr parataktisch (Hauptsatzstil)
Relativsatz
kein Relativpronomen, dafür Relativpartikel wo
Tempussystem
Präsens/Perfekt/Ultraperfekt (passe´ surcompose´), kein Präteritum; Futur wird umschrieben, die standardsprachliche Futurbildung mit werden drückt im Schweizerdt. die Vermutung aus; Passiv und Partizip Präsens sind untervertreten (meist nur in Umsetzungsmundart, außer in bestimmten Wendungen, normalerweise Umschreibung); Partizip Präsens jedoch in den Gebirgsmundarten
Wortstellung
freier und sprachgeographisch deutlich strukturiert
Modussystem
breitere Verwendung des Konjunktivs mit vielfältigen Formen und Funktionien
Stilistik:
Elemente gesprochener Sprache sind häufiger (z. B. Rhythmik, Emphase, Interjektionen, Fluchworte, Ellipsen, Fehlen der Prädikation); genauere Richtungs- und Ortsangaben (reiche Palette von Adverbien der Richtungsangabe, z. B. über obe, hine füre, z under obsi, obe n abe, une n ufe und von der Standardsprache abweichender Präpositionalgebrauch, z. B. uf Züri, z Basel)
Lexikon:
stark abweichend, in der Umsetzungs- oder Halbmundart der Standardsprache angenähert; stärker regionalisiert; oft abweichende Bedeutung gleichlautender Wörter (z. B. laufe(n) ‘gehen’, springe(n) ‘laufen’, schmecke(n)/schmöcke(n) ‘riechen’)
Graphemik:
nicht normativ, sondern nur teilweise in empfehlendem Sinn geregelt (Dieth’sches und andere Dialektschriftsysteme)
Abb. 190.14: Abweichungsbereiche des Schweizerdeutschen von der nhd. Standardsprache
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz (3) Schriftlichkeit im Alltag, untersucht in einem größeren Industriebetrieb (Häcki Buhofer 1985), wobei auf theoretischem Hintergrund gezeigt werden kann, daß standardsprachliche Schreibtätigkeiten als selbstverständliche Notwendigkeiten erscheinen und die schriftsprachliche Form dabei eher als Erleichterung empfunden wird, da die Verschriftung des Dialekts als schwieriger vorgestellt bleibt. (4) Diglossieprobleme in der Schule (v. a. Sieber/ Sitta 1986, 1988), nicht ohne Ratschläge für deren Bewältigung. Damit verbindet sich die Frage nach dem Spracherwerb des Standarddt. durch Dialektsprecher-Kinder (Schneider 1998), die in der modernen Welt der elektronischen Medien viel früher auf dem Weg zum Hochdt. sind, als bisher angenommen (Häcki Buhofer/Burger 1998, vgl. auch Burger/Häcki Buhofer 1994), was in der Schule nur ungenügend beachtet wird. (5) Verwendung von Mundart und Standardsprache in Radio (Ramseier 1988) und Fernsehen (diskursanalytisch Linke 1985), wobei diese Medien „Sprecher und Hörer in beiden Sprachformen gleichermaßen herausfordern“ (Ramseier 576) und zur Sprachfähigkeit beitragen. (6) Verwendung von Mundart und Standardsprache im predigtintensiven reformierten Gottesdienst (Rüegger/Schläpfer/Stolz 1996), bei größeren landschaftlichen Unterschieden. (7) Kommunikationskultur im Rahmen sozialer Netze (Werlen 1992 für ein Berner Stadtquartier).
Von besonderer Bedeutung für das eigenständige Sprachleben der dt. Schweiz ist neben der unangefochtenen Stellung der Mundarten als Umgangssprache wie als zusätzliche Möglichkeit literarischer Gestaltung in Form der Dialektliteratur die breit ausgestaltete und neuerdings intensiver erforschte Sprachform des Schweizerhochdeutschen (Forschungsliteratur bis 1959 bzw. 1982 bei Sonderegger 1962, 302⫺309, Börlin 1987, 178⫺183), an welcher jeder Deutschschweizer seit seiner Schulzeit teilhat (vgl. Abb. 190.9). Literarisch und nichtliterarisch gesehen steht jeder deutschschreibende Schweizer, ob Schriftsteller oder nicht im Spannungsverhältnis von Mundart als sprechsprachlicher Grundlage und nhd. Standardsprache, die er teils mündlich und vorwiegend schriftlich zu bewältigen hat. Daraus resultiert, nicht zuletzt mitbestimmt durch die bereits jahrhundertelange Tradition einer sich zwar ebenfalls wandelnden geschriebenen schweiz. bestimmten Sprachform, immer wieder das mit Recht so genannte Schweizerhochdeutsche: unnachahmliches Kolorit schweizerisch mitgeformter nhd. Standardsprache in allen sprachlichen Teilsystemen, was bis zu einem gewissen Grad selbst in der Duden-Grammatik der
2875
zweiten Hälfte des 20. Jh. angesichts des bedeutenden Beitrages der Schweizer Schriftsteller zur gesamtdt. Literatur als Lizenz oder als schweiz. Norm anerkannt ist. Dabei bleibt zu unterstreichen, daß Dt. in der Schweiz als nationale Varietät der plurizentrischen Sprache Dt. in Europa zu gelten hat (Ammon 1995, Bickel 2000). Für die Aussprache des Hd. in der Schweiz hat Boesch 1957 eine Wegleitung verfaßt, welche eine Anpassung der von der Mundart her mitbestimmten Sprechgewohnheiten vertritt, die sich im ganzen gesehen durchgesetzt hat (zu regionalen Varianten wie neuerer Lit. überhaupt Siebenhaar 1994). Die Besonderheiten der dt. Schriftsprache in der Schweiz hat Kaiser 1969⫺1970 nach Wortgut, Wortgebrauch, Wortbildung und Satzbildung untersucht, als „schweizerische Variante des Hochdeutschen“ Panizzolo 1982. Abweichungen des Schweizerhochdeutschen ergeben sich vor allem im Wortschatz (Fenske 1973), hier u. a. durch die bedeutende Aufnahme rom. (besonders frz.) aber auch engl. Wortgutes (frz. Schilling 1970, engl. Dalcher 1966, 1967, 1986, Fischer 1980), in der Wortbildung (vgl. Henzen 1963) sowie in der Syntax gesprochener Sprache (z. B. Stirnemann 1980 allgemein, Rohrer 1973 zum Konjunktiv). Eine umfassende kontrastive Analyse Schweizerdt./Schweizerhochdt./nhd. Standardsprache fehlt noch, doch sind Bausteine dazu u. a. durch Schenker 1975 (am Beispiel eines doppelsprachformigen Textes des Mundartschriftstellers Josef Reinhart), Gelhaus 1972 (Rektion der Präpositionen trotz, während und wegen in der schweiz. Schriftsprache der Gegenwart) und Oglesby 1992 (Mechanismen der Interferenz, untersucht im Raum Luzern) erarbeitet worden, für die Phraseologie durch Burger/Buhofer/Sialm (und Mitarbeiter) 1982, für den Wortschatz (rund 4000 Artikel) durch Meyer 1989 (vgl. auch Bickel 2000 mit Ausblick auf das Projekt „Wb. der nationalen Varianten der dt. Standardsprache“ unter Ltg. v. Ulrich Ammon, Univ. Duisburg). Die Sprache des Schweizer Schriftstellers Max Frisch hat Schenker 1969 in ihrer Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache nach den Kategorien gesprochen/geschrieben, konkret/abstrakt, gewöhnlich/gehoben, kollektiv/individuell, unbewußt/bewußt und grammatisch/stilistisch untersucht. Was die Gesetzessprache betrifft, hat Oplatka-Steinlin 1971 die Unterschiede des schweizerhochdt. mitbestimmten Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) gegenüber der logisch streng durchkomponierten nhd. Standardsprache im Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) herausgearbeitet, wobei sich besonders Abweichungen in der Befehlsintensität (stärker im BGB), in der Satzlänge und Satzstruktur (kürzer und einfacher im ZGB) sowie in der Stilistik (allgemein verständliche Sprache des ZGB, ausgeformte Juristensprache im BGB) ergaben. In der deutschschweiz. Jägersprache zeigen sich nach der Untersuchung durch Ott 1970 gemeinsame fachsprachliche Züge
2876
XVII. Regionalsprachgeschichte
mit der dt. Weidmannssprache, an die man sich seit dem 19. Jh. und in der Gegenwart mehr und mehr angleicht, während die Jägersprache der älteren Generation noch viele schweizerdt. Eigenschaften aufweist, die auch geschichtlich verankert sind.
6.
Gegenwart und Zukunft der deutschschweizerischen Sprachsituation
Als Leitlinien setzt Rash 1998 in ihrer englischen Überblicksanalyse zur sprachlichen Lage der Schweiz multilingualism, diglossia und variation. Darum kreisen i. w. auch alle neueren Untersuchungen, und sie sind auch für die Sprachgeschichte bestimmend. Gegenwartsanalysen (z. T. verbunden mit geschichtlichen Ausblicken) vermitteln seit den 1980er Jahren verschiedene Sammelbände (zur Diglossie vgl. oben im Abschnitt 5): (1) Zur Viersprachenlage der Schweiz nach gesamtschweiz. wie einzelsprachlichen Fragen (Zustand und Zukunft … 1989, Vouga/Hodel 1990, Bickel/Schläpfer 1994, Schläpfer/Bickel 2000), zur bes. Sprachsituation in den Alpen (über die Schweiz hinaus Werlen 1998), zur linguist. Auswirkung der Binnenwanderung von Sprachgebiet zu Sprachgebiet (Lüdi/Py 1994), neue Analysen der zweisprachigen Kantone Wallis und Freiburg (Windisch 1994) bzw. Bern (Werlen 2000, auch geschichtlich), zur ungleichen Feminisierung der Sprachen Elmiger/Wyss 2000. (2) Allgemein zur Sprach- und Literatursituation der dt. Schweiz Löffler 1986. (3) Zur politischen Sprache und Kommunikation in der Schweiz Eisner/Fux 1992. (4) Zum Schweizerdt. im besonderen Le Schwyzertütsch, 5e langue nationale? 1981.
Daraus geht u. a. hervor, dass sich die schweizerdt. Mundarten auch in der Gegenwart stark und vielfältig behaupten, ja für die Kommunikation neuartig fruchtbar werden (z. T. mit Standarddt. oder Soziolekten durchmischt), ohne zu einem einheitlichen „Nationaldialekt“ (vgl. Haas 1978a) zu werden, wenn auch für „Identifizierung mit der Schweiz und ihren Werten und Abgrenzung von Deutschland, den Deutschen und deren Sprache“ der Dialekt eine „nationale und sprachpolitische Grundfunktion“ ausübt (Koller 1999, 165, vgl. auch Koller 2000). Die überregionale Form einer allgemeineren schweizerdt. Umgangssprache gewinnt indessen ⫺ zwar nicht ausschließlich, sondern als die Dialekte mit neuen Sprachelementen verbindende Zusatzschicht ⫺ an Bedeutung (zum Problem Christen 1995, 1998). Ausgangssprachform
des Deutschschweizers bleibt so eine mehr oder weniger regional gebundene Mundart, erweitert um Züge einer allgemeineren überregionalen schweizerdt. Umgangssprache. Zusatzsprachform bildet das Schweizerhochdeutsche und gradweise verschieden (je nach Bildung) das Standarddeutsche, welches vor allem das Schweizerhochdeutsche, aber auch die Dialekte zur Zeit stärker mitbestimmt (vgl. Abb. 190.9). Somit steht die Sprachsituation der dt. Schweiz der Gegenwart und nahen Zukunft in einer doppelseitigen Erweiterung: auf der dialektalen Seite in Richtung allgemein überregionaler Umgangssprache ohne totalen z. T. aber auch mit partiellem Verlust der Regional- oder Ortsdialekte, vor allem ⫺ außer in abgelegenen Gebieten ⫺ der alten Grundmundarten (insofern Ausbausprache ohne spezifische Einheitlichkeit), auf der standardsprachlichen Seite in der breiten Skala von mundartnahem Schweizerhochdeutsch und mundartferner Hochsprache. Es gehört aber zur Sprachkompetenz der Deutschschweizer, daß der Anteil an beiden Sprachformen gesichert bleibt, ohne daß diese i. a. in einer strenger normierten Ausformung gebraucht werden. Die sich zwar behauptenden Mundarten befinden sich zweifellos in einer Umbruchsituation (vgl. etwa Siebenhaar 2000 zum Sprachwandel und zur Sprachvariation des mittelländischen Stadtdialektes von Aarau zwischen Zürcher und Berner Mundartraum). Die oft geäußerte Meinung, der Dialekt sei in der deutschen Schweiz zu sehr im Vormarsch und die nhd. Standardsprache trete allzusehr zurück, muß ständig neu überprüft werden, vor allem auch nach den entsprechenden Verwendungsformen. Jedenfalls kann man dem entgegenhalten, daß gerade in den letzten Jahren neben den bereits etablierten großen Schriftstellern ⫺ wir nennen nur Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt als besonders erfolgreiche Schriftsteller von gesamtdeutscher, ja weltliterarischer Wirkung ⫺ eine beachtliche Zahl junger schweizerischer literarischer Talente hervorgetreten ist, die sich des standardsprachlichen Deutschen bedienen ⫺ natürlich mit dem Kolorit des Schweizerischen darin, was oft gerade den besonderen sprachlichen Reiz ihrer Werke ausmacht. Jeder Schweizer Schriftsteller dt. Sprache lebt aus dem Spannungsverhältnis von Mundart und literarischer Schriftsprache. Sodann verbietet die Rücksicht auf die viersprachige Schweiz mit ihren frz., ital. und rätorom. Anteilen dem Deutschschweizer i. d. R. eine extreme
2877
190. Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz
Mundartausrichtung schon innerhalb der Schweiz. So kann von einem Mundartvormarsch in eidgenössischen, gesamtschweizerischen Kommissionen auf dem Gebiet von Politik und Kultur überhaupt keine Rede sein: da spricht doch jeder in seiner Hochsprache, um vom anderen auf Dt. oder Frz. oder allenfalls Ital. ⫺ vielleicht auch bald in der neuen Schriftsprachgröße des Rumantsch Grischun, welches seit 1982 intensiv geschaffen wird ⫺ verstanden zu werden. Schließlich ist das Hd. Zeitungssprache, Verwaltungssprache, Schriftsprache für den „Normalfall“, ob sie besser oder schlechter gemeistert wird. Daß sie immer wieder in irgendeiner, oft sehr schweizerisch bestimmten Form gemeistert worden ist, das ist die große Leistung des literarischen und auch wissenschaftlichen Anteils der dt. Schweiz am Gesamtdeutschen. Daran in der Gegenwart und für die Zukunft zu zweifeln, besteht kein wirklicher Grund. Hingegen müssen abschließend noch die folgenden Punkte unterstrichen werden: (1) Es gibt für den Deutschschweizer nur eine Muttersprache, das Deutsche, auch wenn diese aus zwei recht verschiedenen Sprachformen in ihrer gegenwärtigen Erweiterung (Dialekt/schweizerdt. Umgangssprache und Schweizerhochdt./nhd. Standardsprache) besteht. Jedenfalls ist die Standardsprache keine Fremdsprache, da der Deutschschweizer hin- und herüber umsetzen kann, wenn sie auch eine relativ fremde Sprachform darstellt, die nach ihrer grammatischen Norm in der Schule gelernt werden muß. (2) Die Sprachbeherrschung des Dt. in der dt. Schweiz muß differenziert aufgebaut werden, nach Mundart und Standardsprache oder Fachsprache oder Sprache der allgemeinen, über das Schweizerdeutsche hinausgehenden Kommunikation. Dies ist die besondere Aufgabe der Schule: das Spontane der mundartlichen Umgangssprache erkennen und das Notwendige der standardsprachlichen Bildungssprache nicht vernachlässigen (dazu wegweisend Sieber/Sitta 1988). (3) Es gibt in Europa ähnliche, ja noch schwierigere Sprachverhältnisse, die bewältigt werden müssen, und oft genug handelt es sich dabei um wirkliche Fremdsprachen, die nebeneinander stehen. Da sind die Deutschschweizer noch in einer recht komfortablen Situation, die sowohl nationale Abgrenzung durch die Dialekte wie gemäßigten Anschluß nach außen durch die schweizerisch mitbestimmte Standardsprache ermöglicht. Der nüchterne Pragmatismus des zwar sehr heimatverbundenen Schweizers läßt ihn i. a. weder zum nationalistischen Eiferer oder engstirnigen Abkapsler noch zum deutschtümelnden Sprachverbesserer werden. Weder Geschichte noch Zukunft der dt. Sprache werden von der Schweiz aus gemacht: aber der ge-
schichtlich erstaunlich große Anteil der Schweiz an der dt. Gesamtsprache ist durch eine spezifisch schweizerische Sprach- und Kulturleistung seit tausend Jahren möglich geworden, und so wird die sprachliche Zukunft der dt. Schweiz in ihrem so lebendigen Doppelgrund von eigener Mundart im Wandel und schweizerisch mitbestimmter Standardsprache in ihrer ständigen Weiterentwicklung primär von der Schweiz aus bestimmt, mindestens solange die Schweiz als selbständiges Staatsgebilde und viersprachiges Land rund um die europäischen Zentralalpen bestehen bleibt.
7.
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Stefan Sonderegger, Zürich
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
2889
191. Aspekte einer Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Die Region Periodisierung Die vorbairische Zeit Die Baiern Externe Sprachgeschichte vom 8.⫺16. Jahrhundert Interne Sprachgeschichte Literatur (in Auswahl)
1.
Die Region
Das Verhältnis der Regionalsprachgeschichte zur nationalen Sprachgeschichte verstehe ich analog zu dem der Landesgeschichte zur Staatengeschichte. Daraus ergibt sich die Pflicht, soweit immer nur möglich die sozialen und kulturellen Bedingungen des Sprachgebrauchs und die daraus resultierende sprachliche Variation darzustellen. Regionalsprachgeschichte darf nicht teleologisch, mit dem Blick z. B. auf die Ausbildung einer überdachenden Gemeinsprache ausgerichtet sein, sondern sie muß darzustellen versuchen, was für das Sprachleben der Region jeweils relevant war. Wie für die Landesgeschichte ist die Definition von Region ein wichtiges, aber schwieriges Problem. Hier soll, in Anlehnung an die historische Dialektgeographie, gelten, daß eine Sprachregion eine solche sei, innerhalb derer eine intensivere Binnenkommunikation besteht als zu Ansprechpartnern außerhalb der Region und innerhalb derer die Texte und sprachlichen Äußerungen daher relativ einheitliche Sprachformen aufweisen, die sich in ihrer Kombinatorik ihrerseits relativ deutlich von denen benachbarter Regionen abheben (Reiffenstein 1995a, 328 f.). Die Region des Bayerisch-Österreichischen (oder des Bairischen) ist bis in die Gegenwart eine der kompaktesten des dt. Sprachgebietes. Die Anfänge dieser Region liegen zusammen mit der Ethnogenese der Baiern im 6. Jh.; zur Römerzeit verlief die Grenze zwischen den Provinzen Raetien und Noricum an Eisack, Brenner und den Inn abwärts noch mitten durch das heutige Gebiet. Ausgangsland ist das Herzogtum der Agilolfinger. Schon für die Zeit Herzog Theodos (um 700) sprechen die Salzburger Güterverzeichnisse von der regio Bawariorum (Bawariae), Ende des 8. Jhs. die Wessobrunner Glossen (Gl. III 610, 18) vom peigiro lant ‘Land der Baiern’ (Spindler I, 1981, 353 [Prinz]). Im Nordosten, Osten und Süden hatten und haben die Baiern nichtgerm. Nachbarn (Tschechen, Slowaken, Awaren/Magyaren, Slowenen, Ro-
manen; nur bis 568 im Osten, danach im Süden die sprachlich nah verwandten Langobarden, die aber bereits im 9. Jh. in der rom. Bevölkerung Oberitaliens aufgingen). Über Jahrhunderte bestand vor allem im Süden eine zweisprachige Zone mit Baiern und Slowenen bzw. Rätoromanen (Ladinern); Reste davon haben sich in Südkärnten und in Südtirol bis heute erhalten. Die Westgrenze am Lech, später vom Arlberg bis zum Fichtelgebirge, ist von Anfang an erstaunlich stabil (Spindler I, 1981, 103 [Reindel]). Lediglich Nürnberg und sein Umland, von Hause aus bair., gewinnt eine Eigenstellung zwischen Bair. und Ofrk. (zur Sprachgeschichte Nürnbergs vgl. Art. 163). Die Ausweitung des bair. Siedlungsgebietes über die Enns nach Osten bis an die Grenze Pannoniens und über die Alpen nach Süden änderte nichts an der relativen Homogenität der Region und auch nichts an den Nachbarschaften. Als im Zug der Territorialisierung des Hochund Spätmittelalters das Herzogtum Österreich aus dem bair. Herzogtum herausgelöst wurde (Privilegium minus, 1156), als Kärnten, die Steiermark, Tirol, das Land Salzburg entstanden, als Bayern in mehrere Teilherzogtümer geteilt wurde, förderte dies zwar ⫺ zusammen mit anderen Faktoren ⫺ die sprachliche Binnendifferenzierung, löste aber die bair. Sprachregion nicht auf. Ich unterscheide in diesem Artikel orthographisch zwischen bairisch (für das Sprachgebiet, mit Einschluß von Österreich [ohne Vorarlberg] und von Südtirol) und bayerisch (für die jeweilige Staatlichkeit des Herzogtums, Kurfürstentums, Königreiches oder Freistaates Bayern). Bayer.-öst. und bair. verwende ich synonym.
2.
Periodisierung
Die zeitliche Gliederung der bair. Sprachgeschichte kann sich prinzipiell an die der dt. Sprachgeschichte anlehnen. Um bewußt zu machen, daß Sprachgeschichte in unserer Region natürlich nicht erst mit dem Auftreten der Baiern beginnt, stelle ich einen Abschnitt über die vorbair. Zeit voran. Die Geschichte des älteren Bayer.-Öst. bis ins 16. Jh. gliedere ich in: 1) Altbairisch (8.⫺11. Jh., Ahd.): Das Anfangsdatum ergibt sich aus der im späten 8. Jh., gut 250 Jahre nach der Ethnogenese, einsetzenden Überlieferung, das Enddatum aus der weitgehenden Ersetzung der ahd. Endungsvokale (a, u/o, i) durch mhd. e. Aus der externen Sprachgeschichte lassen sich die Daten stützen durch das Ende des agilolfingischen Herzogtums (788 Absetzung Tassilos
2890 III.) und die völlige Eingliederung Bayerns in das Reich Karls des Großen einerseits und durch tiefgreifende Veränderungen der Sozial- und Wirtschaftsstruktur seit dem 11./ 12. Jh. andererseits (starker Schub des Bevölkerungswachstums, Ausbildung des Bauerntums, Anfänge des Städtewesens, erste Ansätze zur Territorialisierung). 2) Bairisch im Hoch- und Spätmittelalter (12.⫺14. Jh., Mhd.): Die Volkssprache erfährt in dieser Phase eine starke Ausweitung ihrer Anwendungsbereiche und gleichzeitig eine Ausdifferenzierung diastratischer und diatopischer Varietäten. Im 11./12. Jh. beginnt im Bair. die Diphthongierung langer Hochzungenvokale (ıˆ, uˆ, üˆ), die hier spätestens Mitte des 14. Jhs. überall durchgeführt ist. Sprachextern ist die Periode durch positive Entwicklungen charakterisiert: Bevölkerungswachstum, intensive und extensive Ausweitung des Siedelraumes, günstige Entwicklung in Landwirtschaft, Gewerbe und Handel, kulturelle Blütezeit. Die Territorialisierung führt zu Ländern, die ihr Eigengepräge bis in die Gegenwart bewahrt haben. Der Aufschwung des Hochmittelalters endet in der ersten Hälfte des 14. Jhs., innere und äußere Katastrophen (Hunger, Naturkatastrophen, die Pest, Judenpogrome) führen seit der Mitte des 14. Jhs. zu einer Krise. 3) Südostoberdeutsche Schreibsprachen (14.⫺16. Jh., älteres Frühnhd.): Von der Geschichte der Sprachsysteme her läßt sich eine befriedigende Abgrenzung des Frühnhd. vom Mhd. nicht vornehmen (so auch Reichmann 1988, 126). Einerseits reicht die (ohnehin hauptsächlich auf literarische Handschriften beschränkte) Orientierung an der tendenziell überregionalen mhd. Literatursprache kaum über das 13. Jh. hinaus. Auch die wichtige Ausweitung des Textsortenspektrums auf volkssprachliche Fachliteratur beginnt nicht erst im 14., sondern schon in der 1. Hälfte des 13. Jhs. (von früheren Vorläufern abgesehen). Andererseits halten sich „mittelalterliche“ Züge des Dt. vor allem im obd. Sprachgebiet (nicht nur in Bayern und Österreich) bis weit ins 15. Jh. Auch die explosive Vermehrung der Handschriftenproduktion (sowohl der volkssprl. wie der lat.) durch die Verwendung von Papier anstelle des teuren Pergaments (erste dt. Papiermühle in Nürnberg 1389) setzte erst im 15. Jh. voll ein. Auch bei regionaler Beschränkung ist die Vielschichtigkeit und oft Widersprüchlichkeit dieser beiden Jahrhunderte nicht auf einen Nenner zu bringen. ⫺ Die Periodengrenze in der ersten
XVII. Regionalsprachgeschichte
Hälfte des 16. Jhs. findet ihre Begründung darin, daß ab diesem Zeitpunkt der dominante Einfluß des Ostobd. auf die Sprachentwicklung des Dt. für Jahrhunderte erlischt. Der Schwerpunkt verlagert sich vom Südosten ins Ostmd. und nach dem Norden. Im Schreibsystem werden bair. Charakteristika allmählich zurückgedrängt (z. B. p-, ch-, ai durch b-, k-, ei), finden Schreibungen Eingang, die im Widerspruch zum bair. phonologischen System stehen (o für u vor Nasal, Dehnungs-h). Daß Bayern und Österreich Bollwerke der alten Kirche werden (Konzil von Trient 1545⫺1563, Gegenreformation; Augsburger Religionsfriede 1555), hatte starken Einfluß auch auf die Sprachgeschichte.
3.
Vorbairische Zeit
3.1. Vorrömisch Die Sprachgeschichte unserer Region beginnt natürlich nicht erst mit dem Auftreten der Baiern im 6. Jh. Bodenfunde bezeugen die Anwesenheit von Menschen bis in die Steinzeit zurück, in Glücksfällen haben sogar Menschen selbst Jahrtausende „überlebt“ (der „Mann im Eis“ aus den Ötztaler Alpen), die Prähistoriker können Kultur- und Siedlungsschichten abheben. Von den Sprachen wissen wir für sehr lange Zeit gar nichts. Die am weitesten zurückreichenden Zeugnisse liefern topographische Namen, vornehmlich Flußnamen, die trotz mehrfachem Sprachwechsel so weit bewahrt blieben, daß ihre linguistische Interpretation in vielen Fällen die Rekonstruktion einer Ausgangsform erlaubt. Besonders eindrucksvoll hat sich die Existenz eines Systems „alteuropäischer Gewässernamen“ (GewN) ergeben, das zwar nicht eine bestimmte „alteurop.“ Sprache erweist, wohl aber in eine idg. Sprachschicht vor den historischen Einzelsprachen (Kelt., Germ., Ital. usw.) zurückreicht, die etwa der Urnenfelderkultur (Bronzezeit) zugeordnet werden könnte (Krahe 1964; Schmid 1995; Greule Art. 221, 224). Das Material reicht aus, um Lautstrukturen und ein Inventar von Suffixen und lexikalischen Wurzeln (vor allem ‘Wasserwörter’ ) erkennen zu lassen. Fast alle Namen der größeren Flüsse unseres Gebietes gehören hierher, z. B. Donau; Isar, Isen (Bay.): *is-; Inn, Enns : *en-/on-; Ager (OÖ.), Aist (OÖ.), Eger (Böhmen): *ag-; Alm (mehrf.), Lavant (Kä.): *albh- usw. (für Österreich vgl. Wiesinger 1994, 59 f.). Auch einige mehrfach auftretende ON sind dieser Sprachschicht zuzuweisen, z. B. Kall-
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit münz, Kell-, Kehl-, Kollmitz u. ä. in Bayern, Schwaben und Österreich (zuletzt Wiesinger 1985, 339 ff.) oder Ableitungen mit dem Suffix -usinus in Tirol (Bergisel, Lüsens, Salusens; Finsterwalder 1990, 148 f.; Ölberg 1971, 56).
Obwohl sprachliche Verschiedenheiten erkennbar sind (z. B. auffallendes f- für idg. bhin einigen Tiroler ON; Ölberg 1971, 54 ff.; Anreiter 1997), reicht dies kaum aus, um Sprachen innerhalb dieser idg. Sprachschicht zu identifizieren. Zuordnungen idg. ON in der Oberpfalz zu den Naristen/Varisten (Schwarz 1969) oder in Tirol zu den Breonen (Ölberg 1971, 56 f.; Anreiter 1997) bleiben daher hypothetisch. Offen bleibt auch die Frage nach möglichen nichtidg. Substraten in dieser Schicht „voreinzelsprachlich-idg.“ ON. Die Versuche Theo Vennemanns, eine voridg. baskische Sprachschicht zu ermitteln, sind unzureichend gesichert (vgl. auch Schmid 1998, 21 ff.). Historisch viel besser greifbar und identifizierbar sind die Kelten, die seit etwa dem 5. oder 4. Jh. v. Chr. in ganz Mitteleuropa und auch in unserer Region siedelten. Ihre sprachliche Hinterlassenschaft ist allerdings weniger dominant und eindeutig faßbar, als man es erwarten würde. Zwar kennt man einige eindeutig keltische Merkmale (z. B. idg. p > ø, r > ri, Bewahrung von o u. a.), aber wo solche Kriterien nicht anwendbar sind, ist eine sichere Entscheidung zwischen Kelt. und Vorkelt. oft nicht möglich. Ein verläßlicheres Zeugnis geben einige kelt. Wörter wie: glan (Glan in Salzburg und Kärnten, Glonn zweimal in Bayern), kambos (Cham Opf., Kamp NÖ u. a., vgl. auch Kempten), brig (Prien Bay., vgl. Bregenz), -bona (Radasbona ‘Regensburg’, Vindebona ‘Wien’, Pongau Sbg.) u. a.; auch Bildungen auf -acum, die freilich bis in die Römerzeit produktiv blieben, begegnen mehrfach (wenn auch viel seltener als in Westdeutschland), z. B. Epfach Bay., Lorch OÖ, Morzg (930 Morzaga) Sbg., Toblach, Luttach Südtir., Villach Kä. Andere für die Kelten typische ON-Wörter sind hier selten und z. T. nur in antiken, später abgekommenen ON erhalten, z. B. -dunum (nur Camboduno/Kempten Schwaben; dazu wahrscheinlich 776 Askituna, 834 Eskitunam/ Eschenau OÖ [Finsterwalder 1990, 74; ANB 335]), -durum (Boiodurum/Beider[wies] bei Passau, Sorvioduro ‘Straubing’), -magos (Comagenis/Kaumberg NÖ [Wiesinger 1990, 287 f.], Gabromagus OÖ [Schwarz 1969, 418]).
Wo intensivere Analysen vorliegen, gewinnt man den Eindruck eines langen Nebeneinanders vorkelt. und kelt. Siedlung (so für Tirol, Ölberg 1965. Anreiter 1996; vgl. auch Schwarz 1969, 462 f.). Jedenfalls gibt es, auch
2891
in der Nachbarschaft kelt. ON, ältere Namen, die keine Spuren einer Keltisierung erkennen lassen, z. B. neben dem mehrfach vorkommenden kelt. FlußN. La(a)ber, l. und r. zur Donau, der sicher vorkelt. FlußN. Pfatter (mit p- und a; Schwarz 1969, 428, 436 f.). Gelegentlich scheint ein älterer FlußN. durch einen jüngeren kelt. auf den Oberlauf des Flusses abgedrängt zu sein (zwei Beispiele aus NÖ bei Wiesinger 1990, 284 ff.). Weder in vorkelt. noch in kelt. Zeit wird die später bair. Region als Raumeinheit greifbar. Was an ON-Typen hier faßbar wird, hat Parallelen in großen Bereichen Europas. 3.2. Romanisch Nach dem Alpenfeldzug des Jahres 15 v. Chr. wurde das Gebiet südl. der Donau und westl. von Pannonien dem Römischen Reich einverleibt. Östl. von Inn und Ziller war schon im 2. Jh. v. Chr. das kelt. Königreich Noricum entstanden, das sich bald danach durch einen Freundschaftsvertrag enger mit Rom verband. Während die westl. Stämme (Vindeliker, Genaunen, Breunen) den Römern heftigen Widerstand leisteten, ergab sich Noricum, ausgenommen die Ambisonten im Pinzgau, offensichtlich ohne Gegenwehr. Nach etwa 60-jähriger Okkupationszeit hob Rom den Status des eroberten Landes zu dem von Provinzen, Noricum und Raetien. In einem halben Jahrtausend wurden die beiden Provinzen in ihrer Siedlungsstruktur (Städte, Dörfer, Gutshöfe), in Wirtschaft, Handel, Verkehrswesen (Straßen), Kultur und durch militärische Absicherung (Grenzkastelle entlang der Donau) fest ins Römische Reich integriert. Etwa bis ins 2. Jh. v. Chr. reichen auch schriftliche Nachrichten über unsere Region in antiken Quellen zurück. Direkte Zeugnisse über die Sprachverhältnisse fehlen freilich nach wie vor. Weiterhin sind wir auf die Interpretation von Namen, neben den ON jetzt auch Personennamen (PN), angewiesen. Die alten vorröm. Orts- und Gewässernamen wurden, in latinisierter Form (Endungen), weitgehend beibehalten (von völligen Neugründungen wie [civitas] Augusta Vindelicum/Augsburg oder Castra Batava/Passau abgesehen). Die röm. Namenbildung wird vor allem an zahlreichen ON kleinerer Siedlungen (Dörfer, Weiler), an Praediennamen vor allem in Südtirol, an Flur- und Almnamen, seltener an Bachnamen greifbar. Wann der allmähliche Sprachwechsel der einheimischen kelt. ⫺ und z. T. vielleicht noch vorkelt. ⫺ Bevölkerung zum Lat.-Rom. vollzogen war, wissen wir nicht. Die sy-
2892 stematische Urbanisierung des Landes seit dem 1. Jh. wird den Vorgang jedenfalls beschleunigt haben. An Grabinschriften läßt sich ablesen, daß spätestens im 3. Jh. an die Stelle der bis dahin noch häufigen kelt. PN ausschließlich lat. treten (Heger 1980, 49; Spindler I 1981, 83 [Kellner]). Die Vita Severini des Eugippius berichtet für die 2. Hälfte des 5. Jhs. von Kontakten des Heiligen zu Fürsten verschiedener germ. Stämme (vor allem der benachbarten Rugier und plündernd einfallender Alemannen). Von einheimischen Kelten ist jedoch nirgends die Rede, die Bewohner Noricums werden ausschließlich als Romani bezeichnet. Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt die Romanisierung der einheimischen Bevölkerung von Rätien und Noricum (vermutlich: längst) abgeschlossen. Allerdings besteht ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der materiellen Hinterlassenschaft zwischen Noricum und Osträtien: während sich „ostwärts des Inn die Entwicklung vom norischen Königreich über eine lose Angliederung zur römischen Provinzialverwaltung ungebrochen“ fortsetzt, weist die „relative Fundleere in Ostraetien“, das „Verschwinden aller Zeugnisse einheimischer Bevölkerung“, auf einen Kontinuitätsbruch (Spindler I 1981, 70 f. [Kellner], Heger 1974, 76).
Mit dem kelt. Königreich und der röm. Provinz Noricum kommt es in unserem Gebiet erstmals zur Bildung einer großen Region, die immerhin mehr als ein halbes Jahrtausend Bestand hatte. Den Übergang in die Baiernzeit hat Noricum als Raumeinheit allerdings nicht überlebt. Die Baiern, darin besteht zwischen Rätien und Noricum kein Unterschied, haben seit dem 6. Jh. die vorhandenen ON, gleichgültig welcher sprachlichen Herkunft, ausschließlich in rom. Sprachformen vorgefunden (Wiesinger 1990, 261 f., 294 f.). Dies läßt sich aus den Lautstrukturen der eingedeutschten ON zweifelsfrei erweisen. Seit dem 1. Jh. erwuchs den beiden römischen Provinzen eine unruhige und meist bedrohliche Nachbarschaft durch wechselnde germ. Stämme nördl. der Donau, Hermunduren, Juthungen, Thüringer in Nordbayern, Markomannen in Böhmen, ostgerm. Stämme (Rugier, Heruler) im nördl. Niederösterreich nach dem Zusammenbruch des Hunnenreiches nach 454/455. Germ. Einfälle machten vor allem Rätien unsicher. Die Markomannenkriege des 2. Jhs. richteten Verwüstungen bis tief ins Alpenvorland an. Alemannische und thüringische Vorstöße richteten sich zur Zeit Severins gegen Passau und andere Donaukastelle, sogar bis nach Binnennoricum (Teurnia). Andererseits bestanden aber an der Donaugrenze auch friedliche Kontakte zu den germ. Nachbarn. Die Vita Severini zeich-
XVII. Regionalsprachgeschichte
net ein lebendiges Bild solcher freilich nicht konfliktfreier Beziehungen zu den Rugiern; sie berichtet sogar von erfolgreichen Verhandlungen Severins mit dem alem. König Gibuld (c. 19). Archäologische Forschungen der letzten Jahrzehnte ergaben ein differenziertes Bild des 4. und vor allem des 5. Jhs.: zunehmend taten germ. Söldner ganz unterschiedlicher Herkunft (Alemannen, sonstige Elbgermanen, Goten u. a.) Dienst im röm. Heer und wurden mit ihren Familien vor allem in der Umgebung der Donaukastelle Rätiens, aber auch im Binnenland seßhaft (Böhme 1988, 23 ff.). Über die Sprachverhältnisse unter diesen Bedingungen wissen wir nichts. Notwendig muß es bei den germ. Söldnern, z. T. aber auch bei Romanen zur Zweisprachigkeit, bei länger in Rätien siedelnden Germanen wohl auch zur völligen Romanisierung gekommen sein. 3.3. Slawisch Etwa zur gleichen Zeit, in der die Baiern nach Osten und Süden zu expandieren begannen, drangen nördlich und südlich der Alpen Slawen nach Westen vor, donauaufwärts bis gegen Linz, drau- und muraufwärts bis ins Pustertal. Ende des 6. und Anfang des 7. Jhs. kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Baiern und Slawen im Drautal bei Lienz. Im 7. Jh. entstand an Drau, Mur und Enns das slaw. Fürstentum der Karantanen, „die älteste frühmittelalterliche Staatlichkeit des Raums, … die älteste frühmittelalterliche Stammesbildung, die den ältesten bis heute lebendigen Volksnamen hervorbrachte“ (Wolfram 1995a, 301), die heutigen öst. Bundesländer Kärnten, Steiermark (ohne den Osten) und darüber hinaus (Osttirol, Lungau, Ennspongau) umfassend. Es blieb freilich auch die einzige slaw. Stammesbildung von Dauer im Frankenreich südlich von Böhmen. Im späten 7. und im 8. Jh. wurden Slawen im Donauraum bis zur Krems mit dem Wein-, Wald- und Mühlviertel und in der östl. Oberpfalz bis zur Naab seßhaft, ohne daß es zu eigenen Stammesbildungen gekommen wäre. Z. T., so vor allem in der Opf., wurden Slawen auch von frk. und bair. Grundherren angesiedelt (Schwarz 1960, 372 ff. u. ö.). Im Stiftungsbrief Tassilos III. für Kremsmünster (777) werden auch 30 Slawen bei Steyr unter ihrem iopan (slaw. zˇupan ‘Supan’, HRG 5, 84 ff.; ältester Beleg überhaupt) genannt, über die das Kloster die Grundherrschaft gewinnt (Wolfram 1995, 366 f.). Noch 1110 sind dort in Hausmanning
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
bei Kirchberg Slawen nachweisbar; im 12. Jh. macht eine Liubozta sclava uxor Laztei (= Vlastei) eine Schenkung in Sippach bei Kremsmünster an das Stift St. Florian (Kronsteiner 1975, 197). Freilich waren die Beziehungen zwischen Baiern und Slawen vor allem im 8. Jh. nicht nur friedlich, wie die Schwierigkeiten der Salzburger Karantanenmission bis zu Tassilos Sieg 772 und die zweimalige Zerstörung der Maximilianszelle in Pongau (Bischofshofen) durch „benachbarte Slawen“ (ca. 730 und 820) zeigen. Die Westgrenze des slaw. Siedlungsgebietes wird etwa durch die Maximilianszelle (Salzachtal, ca. 711/712) und durch die tassilonischen Missionsklöster Innichen (769) und Kremsmünster (777) abgesteckt. Das verläßlichste Zeugnis für die Ausbreitung des slaw. Siedlungsgebietes liefern die slaw. ON. Auch die Chronologie der slaw. Siedlung kann sich z. T. auf die sprachhistorische Interpretation linguistischer Kriterien von ON stützen (Wiesinger 1994, 68 f.). Die Interpretation der slaw. ON-Landschaft erlaubt auch einige Einsichten in die dortigen Sprachverhältnisse vor dem Einsetzen der allmählichen Baiwarisierung (darüber s. u. 4.3.2.). Die slaw. Neusiedler haben von der rom. Vorbevölkerung die (vorrom.) Namen der größeren Flüsse übernommen, z. B. Donau, March, Mur, Drau, Enns, Steyr usw. Darüber hinaus fehlen Zeugnisse slaw.-rom. Kontakte. Das slaw. Siedlungsgebiet weist nur ganz wenige vorslaw. Siedlungsnamen auf, sei es, weil die Siedlungskontinuität tatsächlich nur mehr sehr schwach war (was für Kärnten wenig wahrscheinlich ist), sei es, weil die neuen Siedler auf Kontinuität und Kontakte mit der rom. Vorbevölkerung wenig Wert legten, d. h. weil diese Kontakte nicht friedlich waren. Die Namen unzähliger kleinerer Gewässer sind slaw. gebildet, z. B. Liesing/Les(s)ach (slaw. lezъ ‘Wald’), Palten/Fladnitz (slaw. *balta/blato ‘Sumpf’), Sierning (slaw. crnъ ‘schwarz’), Feistritz (slaw. bystrъ ‘schnell’) usw., z. T. auch als Ableitung mit slaw. -ica aus alten Flußnamen für Nebenflüsse der Steyr (Steyrling, ca. 1160 Stirnich), Ybbs (Ybbsitz), Mur (Mürz, Muritzen) und Gail (Gailitzen). Auf (ost-) germ.-slaw. Sprachkontakte verweisen einige FlußN. in Niederösterreich nördl. der Donau: Pulkau (1055) < slaw. *Pъlkava < germ. *Fulkahwa ‘Gewässer, an dem eine große Menge Volkes wohnt’; auch Thaya und Zaya sind germ. Namen in slaw. Vermittlung (Wiesinger 1985, 343 ff.). ⫺ Der langen Abhängigkeit von den Awaren verdanˇ upan und ken die Slawen u. a. die Dignitätstitel Z ban, die in Hof- und Familiennamen (Suppan) bzw.
2893
in ON (Fohnsdorf Stmk., 1104 Phanisdorf; Fan(n)ing in Kärnten und im Lungau, 11./12. Jh. Uanich) weiterleben; Zeugnisse awarischer Siedlung in Karantanien sind diese mit slaw. Lehnwörtern gebildeten Namen nicht.
4.
Die Baiern
4.1. Ethnogenese Als jüngster vordt. Stamm scheinen in der 1. Hälfte des 6. Jhs. südl. der Donau und östl. des Lechs die Baiern erstmals in literarischen Quellen (Jordanes-Cassiodor, Venantius Fortunatus) auf. Ihre Ethnogenese ist seit über 150 Jahren bis in die jüngste Zeit Gegenstand sehr kontroverser Hypothesen gewesen (Menke 1990; in der Beurteilung sprachwissenschaftlicher Probleme nicht frei von Mißverständnissen). Die Interpretation archäologischer Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte läßt die Grundzüge dieser Stammesbildung heute aber doch recht gut erkennen (Fischer/Geisler 1988). Abzurücken ist von der älteren Vorstellung einer einmaligen Landnahme durch einen geschlossenen Stammesverband, vergleichbar dem Zug der Langobarden nach Oberitalien (568), sei es aus Böhmen, aus Pannonien oder von sonstwo. Vielmehr dürfte die Stammesbildung aus einer Vielzahl ethnischer Gruppen (Colluvies gentium, Wolfram 1995a, 283) um und nach 500 im Lande selbst vor sich gegangen sein. Den Gräberfeldern südl. der Donau zwischen Neuberg und Straubing, aber auch im Inneren Bayerns (Altenerding, bei München u. a.) ist zu entnehmen, daß seit dem 4. Jh. zunehmend Germanen verschiedener (hauptsächlich elb-, aber auch ostgerm.) Herkunft auf dem Boden Rätiens (Raetia II) seßhaft wurden. Besonders wichtig ist die elbgerm. Prˇesˇt’ovice (Südwestböhmen)/Friedenhain (nördl. von Straubing)-Gruppe, deren charakteristische Keramik im 5. Jh. beiderseits des Bayerischen und des Böhmerwaldes nachweisbar ist; die Verbindung der beiden Siedlungsgebiete stellt vor allem die ChamFurther Senke her. Noch im 5. Jh. findet sich die Hinterlassenschaft von Angehörigen dieser Gruppe auch südl. der Donau (Böhme 1988, 34 f.; Fischer 1988, 41 f.). Es erscheint plausibel, daß diese Leute als *Baia(haim)wari, als ‘Leute aus Böhmen’ bezeichnet werden konnten (zum Baiern-Namen zuletzt Rosenfeld 1987, 1313 ff.). Die politischen Rahmenbedingungen dafür, daß sich aus dem Völkergemenge auf
2894 dem Boden des östlichen Rätien ein neuer Stamm mit eigenem Herrschaftsanspruch ausbilden konnte, werden in den Konstellationen des frühen 6. Jhs. gesucht (Reindel 1988, 60; Wolfram 1995 a, 283 f.): anders als sein Gegenspieler Odoakar, der ab 476 die römische Präsenz in den Provinzen Noricum und Rätien preisgab, erhob der Ostgotenkönig Theoderich der Große (493⫺526) ausdrücklich Anspruch auf das „Glacis“ Italiens zwischen Alpen und Donau. Ihm mußte an einer politischen Ordnung und Stabilisierung in dem Land zwischen Italien und seinem Bündnispartner Thüringen gelegen sein, nicht zum geringsten gegen die Begehrlichkeit der merowingischen Franken, die den Alemannen eben eine verheerende Niederlage zugefügt hatten (und die 531 das Thüringerreich vernichten sollten). Das Kerngebiet der Stammesbildung wird südl. der Donau etwa zwischen Kelheim, Regensburg und Straubing vermutet, den „Traditionskern“ haben offenbar die „Leute aus Böhmen“ gebildet, wahrscheinlich weniger an Zahl als an Ansehen und Durchsetzungskraft dominant. Ihr Name Baiawari (in den ältesten lat. Bezeugungen Bai(o)baros, Baio(v)arii u. ä., Rosenfeld 1987, 1313) wurde bald auf den ganzen neuen Stamm übertragen, in dem die unterschiedlichen germ. Gruppen zusammen mit den regional, vor allem um Passau-Künzing, südl. von Regensburg und am Nordrand der Alpen im Walgau, am Inn und im Salzburger Becken, nicht unerheblichen Resten der rom. Bevölkerung bald zu einer neuen Einheit integriert wurden. Der dominierende Anteil elbgerm. Gruppen (Alemannen, Thüringer, Prˇesˇt’ovice-Friedenhain-Gruppe, evt. böhmische Langobarden [Wolfram 1995a, 285]), quantitativ wie nach ihrem Prestige, macht es ohne weiteres verständlich, daß das Bair. eine elbgerm. Sprache ist. Ob die bair. genealogiae (Wolfram 1995a, 286 ff.) noch eine Erinnerung an die ursprüngliche ethnische Vielfalt bewahren, ist, von der unzweifelhaft rom. genealogia de Albina bei Salzburg abgesehen, unentscheidbar. Die Bildung des Baiernstammes ist neben der der Franken die einzige germ. Ethnogenese auf reichsröm. Boden. Diese Hypothese der Entstehung der Baiern trägt der Etymologie des Baiernnamens Rechnung, der im Erstglied (Bestimmungswort) ebenso den früh ins Germ. entlehnten Namen der kelt. Boier (lat. Boii) enthält wie *Bai(a)haim, ahd. Beˆhaim, lat. Boiohaemum ‘Böhmen’. Da der Name der Boier oder ein Land Baia aber mehrere Anknüpfungen erlaubt (z. B. die deserta Boiorum in Westpanno-
XVII. Regionalsprachgeschichte nien), brachte erst der archäologische Nachweis der Prˇesˇt’ovice-Friedenhain-Gruppe den Ausschlag für Böhmen. Baiawari ist als Klammerform von *Baiahaimwari aufzufassen. Das Zweitglied (Grundwort) *-warjoz, lat. -varii war bei der Bildung germ. Völkernamen sehr produktiv (z. B. Angri-, Amsi-, Chasuvarii usw.; vgl. zuletzt Wagner 1993, 1 ff.).
4.2. Geschichte und Siedlungsraum (6.⫺8. Jahrhundert) Nach dem Zusammenbruch der ostgot. Herrschaft in Italien gelangte Baiern unter frk. Oberhoheit. König Theudebert (533/34⫺547/ 48) schrieb nach Konstantinopel, seine Herrschaft erstrecke sich von der Donau und der Grenze Pannoniens bis an die Küste des Ozeans; das schließt Baiern ein, auch wenn es nicht eigens erwähnt ist. Der erste namentlich bekannte Baiernherzog Garibald erhält um 555 aus der Hand Chlotars die langob. Prinzessin Walderada (Tochter des Langobardenkönigs Wacho) zur Frau, von der dieser sich auf kirchlichen Druck hin hatte trennen müssen (Walderada war Witwe seines Neffen und Vorgängers Theudebald). Mit Garibald beginnt die über 200-jährige Geschichte der Agilolfinger in Baiern. Sie ist geprägt durch „ihre Königsnähe und den erstaunlich großen Radius ihres Aktionskreises“ (Jarnut nach Störmer 1988, 141). Paulus Diaconus nennt Garibald unus ex suis (sc. des Königs Chlotar; Hist. Langobard. I 21), das heißt Ebenbürtigkeit ebenso wie Abhängigkeit. Die Mutter des letzten Agilolfingers Tassilo III. war eine Schwester Pippins. Besonders eng waren die politischen und die Heiratsverbindungen zwischen den Agilolfingern und dem langob. Königshaus, von Garibald über dessen Tochter Theodelinde (Frau der langob. Könige Authari und Agilulf) bis zu Tassilo III. (Schwiegersohn des letzten langob. Königs Desiderius). Von 653 bis 712 waren alle langob. Könige Agilolfinger (Nachfahren von Theodelindes Bruder Gundoald). Es ist kein Zufall, daß die Selbständigkeit des langob. Königreiches und die relative Eigenständigkeit des bair. Herzogtums der Agilolfinger bald nacheinander (774 bzw. 788/794) dem Imperialismus Karls des Großen zum Opfer fielen.
Das Siedlungsgebiet des neuen Stammes muß sich rasch ausgeweitet haben. Ohne stärkere Schübe germ. Bevölkerungsgruppen über die Donau im 6. Jh. ist das schwer denkbar. Spätestens seit der Mitte des 6. Jhs. dürfte der Lech bair. Westgrenze gewesen sein. Ende des 6. Jhs. waren die Baiern in heftige und verlustreiche Kämpfe mit den Slawen im Pustertal zwischen Innichen und Lienz verwickelt. Seit dem späten 7. Jh. sind die Baiern Nachbarn der Langobarden im Raum um Bozen
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
und Meran und wohl auch im unteren Vinschgau. Hier wie im Pustertal (Innichen) besaß das Bistum Freising starke Positionen. Um Bruneck im Pustertal fällt eine Gruppe von ON mit PN der agilolfingischen Herzogssippe auf (Geschichte Tirols 1990, 1, 237 ff. [Haider]). Kurz vor 700 schenkte Hzg. Theodo dem Wormser Missionsbischof Rupert die verfallene (?) Stadt Iuvavum; da ihr Name aber bereits durch Salzburg (und der FlußN Ivarus durch Salzach) ersetzt ist, müssen Baiern auch hier schon geraume Zeit gesiedelt haben. Auf seinem Weg von Regensburg hatte sich Rupert bei Lauriacum/Lorch (an der Ennsmündung) nach Süden gewandt; man darf annehmen, daß hier slaw. Siedlungsgebiet seinem Weg nach Osten ein Ende gesetzt hatte. Die von Rupert im Zusammenwirken mit den Romanen de Albina Anfang des 8. Jhs. in Pongau (Bischofshofen) gegründete Maximilianszelle wurde ca. 730 und noch 820 von „benachbarten“ Slawen (Karantanen aus dem Enns-/Fritztal?) zerstört. 743 wandte sich der von den Awaren bedrängte Fürst Boruth von Karantanien an Hzg. Odilo um Hilfe, die gewährt wurde ⫺ um den Preis der frk., de facto der bair. Oberhoheit. Die definitive Eingliederung des Landes erfolgte nach dem gefeierten Sieg Tassilos über die Slawen 772; er war die Voraussetzung für die erfolgreiche Salzburger Karantanenmission. Die Osterweiterung über die Enns donauabwärts bis ins Wiener Becken schließlich war erst das Ergebnis der Awarenkriege Karls des Großen 791⫺796. Baiern um 800 war ein mehrsprachiges Gebiet vor allem in einer mehr oder weniger breiten Mischzone an seinen Grenzen im Norden, Osten und Süden und mit einigen nichtgerm. Minderheiten im Binnenland. Wieder geben ON das zuverlässigste Zeugnis über die Sprachverhältnisse und Siedlungsprozesse. Leitform der ältesten bair. Siedlungsschicht des 6.⫺8. Jhs. ist die ON-Bildung auf -ingen (seit dem 13. Jh. bair. nur mehr -ing), abgeleitet von PN (vgl. Art. 222). ON dieses Bildungstyps füllen Altbaiern südl. der Donau, Oberösterreich bis zum Traunviertel und den sbg. Flachgau; die Südgrenze des geschlossenen Verbreitungsgebietes verläuft etwa vom Traunsee über Salzburg und weiter am Nordrand der Kalkalpen nach Bad Tölz-Schongau. Inneralpine Inseln früher -ing-ON sind das Saalfeldener Becken (Pinzgau), das tir. Oberinntal um Telfs (von Innsbruck [Hötting] bis Haiming) und weit vorgeschoben das Pustertal um Bruneck mit einer Häufung von Agilolfingernamen (Finsterwalder 1990, 7 f. u. ö.). Die anderen alten Bildungstypen (-heim, -stetten, -wang/-weng u. a.) treten quantita-
2895
tiv hinter den -ing-ON deutlich zurück (von den in den Salzburger Güterverzeichnissen von ca. 790/ 800 genannten gut 200 Siedlungen tragen 46 -ingON, aber nur 6 solche auf -heim, 8 auf -wang, 3 auf -stetten und immerhin 17 auf -dorf). Die zahlreichen -ing-ON in Niederösterreich reichen nicht über das 9. Jh., d. h. nicht über Karls Awarenkriege zurück (Ernst 1989, 85 ff.). In der Oberpfalz häufen sich -ing-ON um Regensburg, vor allem südl. der Donau, und im Becken von Cham an der Further Senke; nach Norden hin, etwa bis Amberg, nehmen sie rasch ab (Schwarz 1960, 55 ff.).
4.3. Mehrsprachigkeit und Eindeutschung 4.3.1. Auf Grund der Lautveränderungen, die ON nichtdt. Herkunft im Prozeß ihrer Eindeutschung erfahren haben, lassen sich auch ungefähre chronologische Aussagen machen. An der Donau vom Altmühltal bis Lorch haben Baiern die vorgerm.-rom. Namen natürlich früh übernommen, wie die Durchführung der 2. Lautverschiebung (Tenuesverschiebung, 6./7. Jh.) erweist: Pfünz bei Eichstätt (*Pontena), Winzer bei Kelheim, Regensburg und Deggendorf (ad vinitores) Künzing/Quintanis, Passau/Batavis, Linz/Lentia, Lorch/Lauriacum. Aber vergleichbare Namensformen gibt es auch am Südrand des alten bair. Siedlungsgebietes: (Leonhards-)pfunzen bei Rosenheim/ Pontena, Langkampfen bei Kufstein (*landae campus, Finsterwalder 1990, 77; zweifelnd Anreiter 1996, 66 ff.), Kuchl bei Hallein/Cuculle; an der alten Straße über Scharnitz und den Seefelder Sattel in das Inntal und über den Brenner nach Brixen und von da ins Pustertal liegen Zirl/Teriolis, der historische Name Nurihtal/Norica vallis für das Eisacktal (gegen Vonficht 1979) und Innichen(*Indica). Die etwas jüngere Medienverschiebung (8. Jh.) zeigen die ON Wilten bei Innsbruck/Veldidena, das Wipptal (Wipitina < rom. *Vibidenu < Vipitenum) und Brixen/Brixina (901 Prihsna). Bemerkenswert ist, daß zwar vereinzelt, aber unzweifelhaft Zeugnisse früher bair. Präsenz auch östl. der Enns, vor allem um Melk und im Tullnerfeld auftreten: Erlauf/Arelape (*Er-el-apa), Loich (*Leuka) und einige andere Namen, die ⫺ ohne slaw. Vermittlung ⫺ im 7. und 8. Jh. direkt von der keltorom. Vorbevölkerung übernommen sein müssen (Wiesinger 1990, 283 ff.). Entweder hat es auch schon vor den Awarenkriegen hier vereinzelte bair. Siedlungen gegeben oder es waren vorbair. (elbgerm.) Germanen, die die vordt. Namen an die Baiern vermittelt haben. Einigen ON-Schreibungen im älteren Salzburger Güterverzeichnis (Notitia Arnonis) mit unverschobenem Konsonatismus (Mallakinga/Malching, Deorlekingas/Tyrlaching, Diupstadum/Tiefstadt, Hulthusir/Holzhausen, dazu in den Freisinger Traditionen 804 Modrikingun/Mietraching und sonst Lauppiom/Laufenau) ist, wohl zurecht, ihr sprachgeschichtlicher Aussagewert abgesprochen worden; es
2896 wird sich um „partielle graphische Latinisierungen ganz regelmäßiger altbaier. ON“ handeln (Wagner 1991, 174; anders Schwarz 1927, 249 ff.; Finsterwalder 1990, 71 ff.).
Nicht minder eindeutig wie die Zeugnisse früher bair. Siedlung sprechen die ON für ein jahrhundertelanges Fortbestehen rom.-bair. Kontakte. Da sind zunächst die zahlreichen MischON zu nennen, die die Beteiligung rom. Grundherren oder Siedlungspatrone bei der Gründung neuer Siedlungen erweisen, d. h. bair. ON-Bildungen mit rom. PN als Ableitungsbasis oder Bestimmungswort, z. B. Prüfening bei Regensburg (PN Probinus), Marzling bei Freising (PN Marcellus), Liefering bei Salzburg (PN Liberio), Flaurling bei Zirl (PN Florinus), Irschenberg, -hausen, Irrsdorf (PN Ursus), Maxlrain (813 Mahsminreini, PN Maximo), Sensau (807 Senatesauua, kelt. PN Senatus) usw. (Puchner 1972; Schwarz 1970, 872 ff., Register 934 ff.). Solche MischON finden sich fast überall in Altbayern, gehäuft an der Donau östl. von Ingolstadt und südl. von Regensburg, an der Isar um Freising und am Inn um Rosenheim. An den Römerstraßen von Salzburg nach Linz und nach Augsburg liegen sie bis zum Atter- bzw. Chiemsee neben Walchen-Namen (See-, Straßwalchen, Walchen; Traunwalchen). Zur Bestätigung notieren die Salzburger Güterverzeichnisse dort mehrere Schenkungen von Romani tributales an die Salzburger Kirche (Reiffenstein 1996, 1000). Das Zusammenleben von Baiern und Walchen (richtiger: von dt.- und rom.-sprachigen Baiern) in der Stadt Regensburg bezeugt dort die Wahlenstraße (1138 inter Latinos; Schwarz 1950, 59).
Über die Dauer der bair.-rom. Mehrsprachigkeit in Baiern geben die Lautformen der eingedeutschten vordt. ON Aufschlüsse. Dabei sind sowohl die jeweiligen phonologischen Strukturen des Rom. wie des Bair. und die daraus sich ergebenden Substitutionsregeln für die Übernahme rom. Wörter ins Bair. zu beachten (Wiesinger 1990, 293 ff.). Wie die Durchführung der 2. Lautverschiebung einen terminus ante quem liefert (gestuft 6.⫺Mitte 8. Jh., vgl. Schwarz 1927, 277, Haubrichs 1987, 1353 ff.), so ihr Unterbleiben einen solchen post quem. Entsprechende Namensformen begegnen vor allem südl. des alten bair. Siedlungsgebietes, im Walgau (763 Uualhogoi) Partenkirchen (3. Jh. Part(h)ano), in Tirol die -apa-Namen Vomp bei Schwaz (ca. 930 Fonapa) und Voldöpp/Valepp bei Rattenberg (1078 Wlteppe, Ölberg 1971, 52 f.; vgl. dagegen oben 4.2.
XVII. Regionalsprachgeschichte Erlauf!), in Südtirol Eppan (*Appianum ⫺ mit Primärumlaut des 8. Jhs.), Terlan (*Taurilianum) u. v. a., am Südrand des alten bair. Sundergaues (= Südgau) im Inntal um Rosenheim ⫺ Kufstein Ebbs (788 Episas; mit Lautverschiebung hingegen der GewN Ipf bei Lorch an der Donau, *Epia, Wiesinger 1990, 273 f.), der Bergname Madron und der Almname Tauron (Finsterwalder 1961, 36 ff., 44 ff.), und schließlich um Salzburg Muntigl (Monticulus), Gamp (Campus), Gois (Colles) usw. Ein schönes Beispiel für das Nebeneinander früher und später Eindeutschung ist Kuchl (in den Güterverzeichnissen nebeneinander Cucullos, -as und Chuchil) und die Gugela´nalm (Cuculana alpis) ‘Kuchler Alm’. Aber auch viel weiter nördlich finden sich (freilich nur vereinzelte) Hinweise auf ein längeres Weiterleben des Rom.: der ON Prüfening bei Regensburg (zum PN Probinus) kann wegen des ahd. v für rom. -b- (-v-) erst im 9. Jh. eingedeutscht worden sein (zur Lautchronologie Wiesinger 1990, 298); selbstverständlich blieb auch anlautendes punverschoben.
Weitere Kriterien erlauben chronologische Aussagen auch über das 9. Jh. herauf: Die Akzentverlegung auf die erste Silbe, die bei Eindeutschung ab etwa dem 11. Jh. unterbleibt, und die Diphthongierung langer Hochzungenvokale (ıˆ, uˆ, üˆ) ab dem 12. Jh. Während in den ON Zirl (Teriolis) und Kuchl (Cuculle) der Initialakzent gilt, blieb in Tiro´l bei Meran (*Tiralis) und Gugela´n die romanische Betonung bewahrt. Das gleiche Verhältnis besteht zwischen Te´renten im Pustertal und Torre´nn bei Golling im Salzburger Becken (Torrrente), bei E´ppan und Mera´n usw. Für die relativ spät eingedeutschten Teile Tirols (Inntal von Schwaz bis Innsbruck, Westtirol ab Imst, Vinschgau, Eisacktal ab Brixen) hat K. Finsterwalder in mehreren Untersuchungen zeigen können, daß die Sprachschichtung soziale Schlüsse erlaubt: die Namen der Hauptorte haben Initialakzent, jene der kleineren Siedlungen und die Menge der Flurnamen bewahren die rom. Betonung (die i, u der rom. Suffixe sind allerdings weit überwiegend diphthongiert), d. h. während die Bevölkerung in den Hauptorten (längst) dt. (geworden) war, blieb die bäuerliche Bevölkerung bis ins 11./12. Jh. und länger romanisch. Um Imst (*Umı´ste, engadin. d’Uma´ist) liegen Arze´in, Saxe´in, Platte´in usw., zu Ta´rrenz (Torrentes?) gehört die Alpe Tarrenta´n, Stadtteile von La´ndeck (hochmittelalterlicher Burgenname) heißen Angeda´ir, Perje´nn und Perfu´chs usw. (Finsterwalder 1990, 825, 835 ff.; 853 ff., 858; 43 ff.). Ähnlich stellen sich die Verhältnisse im Salzburger Becken dar: Neben den anfangsbetonten Namen der Hauptsiedlungen (Kuchl, Adnet [Atanate], Anif [Anaua] und Morzg [*Mortiacum]) stehen Viga´un (Figun, vicone), Marzo´ll, Fuschl (Lacusculus/Labusculo), Gnigl (*Glanicula), Gneis
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit (Gnälls, canalis), Torre´nn, Gugela´n u. a. mit Endbetonung (Reiffenstein 1991a, 47; 1996, 1004).
Die Analyse der ON ergibt also für die Nordabdachung der Alpen und für Tirol ein rom.bair. Neben- und Miteinanderleben vom 6./8. bis ins 10./12. Jh., am Westrand Tirols (Oberinntal und oberer Vinschgau) und in Osttirol (Iseltal mit den Seitentälern) noch lange darüber hinaus. Historische Zeugnisse dafür sind selten, fehlen aber nicht. Für das 8. Jh. sind Romanen zahlreich zu belegen, als Zinspflichtige in den Salzburger Güterverzeichnissen und als Mönche und Missionare im Verbrüderungsbuch von St. Peter und bei der Karantanenmission. 827/28 führte der Sterzinger Großgrundbesitzer Quartinus, nationis Noricorum et Pregnariorum (= Breonorum), ein Tauschgeschäft (reichen Grundbesitz und zahlreiche Hörige mit rom. PN) mit Innichen durch ⫺ unter Beachtung bair. Rechtsbräuche („Ohrenziehen“, HRG 3, 1229) durch die rom. Zeugen (Geschichte Tirols 1990, 1, 304 [Riedmann]). Bemerkenswert ist, daß solche Zeugnisse vereinzelt noch viel später begegnen. Um 1070 schenken zwei „romani proseliti, quos nos parscalchos dicimus“, ein Gut an das Kl. Ebersberg (Puchner 1951, 22 f.; in der Nähe der Ort Sensau, s. o., südl. des Chiemsees der Flurname Tauro´n [mit Endbetonung!]; Finsterwalder 1961, 44 ff. und 40, A. 12). Ein Jh. später, 1162, werden in Absam bei Innsbruck Unfreie mit typisch rom. PN (Badillus, Vivianus, Solvangnus [in ladin. Lautform]) genannt (Finsterwalder 1990, 694). Für Nauders am Reschenpaß reichen die Zeugnisse gar bis ins 16. Jh.; 1570 beklagt der Bündner Ulrich Campbell, daß dort viele vom „Rätischen“ zum Dt. überwechselten (Finsterwalder 1990, 890 f.).
4.3.2. Die slaw.-bair. Zweisprachigkeit östl. der Enns und südl. der Tauern reicht zwar nicht bis ins 6. Jh. zurück, währte aber regional auch bis ins Spätmittelalter und ist in Südkärnten bis heute lebendig. Der älteste bair. Lautwandel, der für die Datierung eingedeutschter slaw. ON herangezogen werden kann, ist die Medienverschiebung b, d > p, t (spätes 8. Jh.). Kein ON slaw. Herkunft hat die Tenuesverschiebung mitgemacht, ganz wenige den Primärumlaut (a > e; einige [fragliche] Beispiele aus Franken bei Schwarz 1960, 202). Einige ON sind noch vor der Durchführung früher slaw. Veränderungen übernommen worden, nämlich vor der Liquidenmetathese (talt usw. > tlat usw.) und vor dem Übergang von slaw. a > o, beide etwa im ausgehenden 8./frühen 9. Jh. (Wiesinger 1985a, 18 ff.). ON, die diese Veränderungen nicht aufweisen, sind also noch im 8. oder im frühen 9. Jh. eingedeutscht worden.
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Die wenigen Beispiele solcher früher bair.-slaw. Sprachkontakte liegen an Enns und Steyr, an der Pyhrnstraße nach Leoben und im Donautal bis Krems und ins Tullnerfeld. Das für die GewN-Bildung häufig verwendete slaw. *balta/blato ‘Sumpf’ (vgl. ANB 61, 364 ff.) ergab bei Eindeutschung vor der Liquidenmetathese und vor Abschluß der ahd. Medienverschiebung Palt(en). Tatsächlich heißt so ein Seitenbach der Steyr, ein Nebenfluß der Enns (vom Schoberpaß nach Admont) und ein Dorf bei Göttweig. Ein wichtiger Beleg frühen bair.-slaw. Zusammenlebens ist der Fluß- und Ortsname Pielach bei Melk, schon 811 in Avaria (!) … Bielaha fluvius (ANB 98); zugrunde liegt das in slaw. GewN häufige bela ‘weiß’ (vgl. im Lungau Fell, in Kärnten mehrfach Vellach), hier verbunden mit dem ahd. Grundwort -aha ‘Ache’. Medienverschiebung, Diphthongierung des slaw. e > ahd. e¯2 > ie und urkundliche Bezeugung erweisen das Alter dieses MischON. Die wenigen Belege mit erhaltenem a für gemeinslaw. o bestätigen geographisch das schon bisher gewonnene Bild: Tobra bei Perg OÖ (1114 Tabaraha, zu slaw. dobrъ ‘gut’), Garsten bei Steyr (985 Garstina, zu slaw. gora, mit Sekundärumlaut) und immerhin auch in Kärnten Hochosterwitz bei St. Veit (860 Astaruuiza zu slaw. ostrъ ‘scharf, spitz’; Wiesinger 1985a, 23).
Da es nach der Medienverschiebung b > ahd. p im Ahd. keinen dem slaw. b genau entsprechenden Laut mehr gab, wurde bei Eindeutschungen ab dem 9. Jh. slaw. b durch (im 8. Jh. sth. gewordenes) ahd. f/v substituiert. Dies betrifft eine große Anzahl von ON im ganzen ehemals slaw. Siedlungsgebiet Österreichs. Erst jüngere Eindeutschungen ab dem 11./12. Jh. ersetzen das slaw. b wieder durch b oder w. In einigen Entlehnungen spätestens des 9. Jhs. wurde slaw. e durch e¯2 substituiert und zu ie diphthongiert, vgl. Pielach (s. o.), Liesing bei Wien (zu slaw. lesъ ‘Wald’) und Friesach (zu breza ‘Birke’); die Menge der ON mit slaw. e hat im Dt. e (Vellach, s. o., Les(s)ach, Fresen/Freßnitz). Eine zeitliche Obergrenze, die nur mit wenigen ON überschritten wird, ist die Diphthongierung von ˆı, uˆ, üˆ (12. Jh.). Die überaus produktiven slaw. Suffixbildungen auf -ice (-ov-ice) und -ica zeigen in der Überlieferung zunächst überwiegend (gesprochen [-ikh]), das seit dem 14. Jh. häufig durch das dt. Suffix -ing ersetzt wurde (z. B. Sierning mehrfach in Ober- und Niederösterreich, z. B. 777 Sirnicha, zu slaw. crnъ ‘schwarz’; Mandling bei Radstadt, 1140 Maenlich; Gröbming, 1139 Grebnich; Mödling, Steyrling, Liesing usw.). Jüngere Entlehnungen zeigen die Wirkung der slaw. Palatalisierung k > c ([tz]), z. B. in Kärnten Sirnitz, Flattnitz, Reifnitz usw.
2898 Gelegentlich läßt sich die slaw. Entwicklung an der Überlieferung verfolgen, z. B. Laßnitz (1114 Laznika, 1290 Laeznicz, Kranzmayer 1956/58, 2, 137), Traning im Lungau (1252 Travnik, 1321 Draenitz; durchgesetzt hat sich die ältere Entlehnung), häufiger an etymologisch identischen ON in verschiedenen Gebieten, z. B. Sierning/Sirnitz (s. o.), Lassing (Schuster 1989/94, 2, 454)/Laßnitz (s. o.), Reifling an der Enns/Reifnitz am Wörthersee (s. u.), Pleißling bei Radstadt, Pleißing bei Melk (Schuster 1989/94, 1, 290)/Pleißnitz im Lungau (Reiffenstein 1991, 1810) usw. An solchen etymologisch identischen ON läßt sich öfter eine mehrfache Schichtung sowohl der slaw. Entwicklung wie der Eindeutschung ablesen, so z. B. in den Weiterentwicklungen von slaw. *Rybnika ‘Fischbach’; 1082 Rubinicha (mit älterem slaw. u für y) ist noch im 8. Jh. eingedeutscht, heute Raming bei Steyr und an der Enns (1287 Raubnich); ennsaufwärts liegen Kleinund Großreifling (1313 Refnich, 1530 Reiffling), mit -f- für -b- (9.⫺11. Jh.; Wiesinger 1985, 347); die jüngste Entlehnungsform liegt in Reifnitz in Kärnten vor (888 Viscaha [!], 977 Ribniza [slow. Form], 1171 Riueniz; Kranzmayer 1956/58, 2, 176), mit -ika > -ica (10.⫺12. Jh.). Alle drei ON haben die mhd. Diphthongierung ˆı, uˆ > ei, au (12. Jh.) mitgemacht.
Die ON vermitteln auch für das ehemals slaw. Siedlungsgebiet Österreichs das Bild einer langen Zweisprachigkeit vom ausgehenden 8. bis ins 12./13. Jh. Die Lautformen der ON lassen deutlich eine fortschreitende Germanisierung vom Donautal aus nach Norden und Süden erkennen. In Kärnten setzt die Masse der Eindeutschungen nicht vor dem 9./ 10. Jh. ein. Vor dem Beginn der Diphthongierung von mhd. ˆı, uˆ, üˆ ist die Eindeutschung der ON im wesentlichen abgeschlossen, vereinzelte Ausnahmen liegen im südl. Kärnten und im nördl. Waldviertel vor (Wistritz, ein Bach östl. von Klagenfurt, Fistritz bei GroßSieghards [Wiesinger 1985a, 26], aus dem häufigen slaw. GewN *Bystrica, der sonst im Bair. Feistritz [sehr häufig] ergibt). Zeugnisse des Miteinanders, d. h. einer länger währenden Zweisprachigkeit sind Entlehnungen des gleichen Namens zu verschiedenen Zeiten (z. B. liegt Palt bei Göttweig, s. o., an der Fladnitz! Vgl. auch o. Laßnitz, Traning) oder Entlehnungen verschiedener Zeitstufen in enger Nachbarschaft (Schiefling, 1249 Schevulich [-ice > -ich > -ing] neben Reifnitz, s. o., in noch heute gemischtsprachigem Gebiet) und zahlreiche MischON mit slaw. PN (z. B. Fahndorf NÖ, 1110 Vogendorf, 1208 Vowendorf, zu slaw. *Bogъ, Voidersdorf im Lungau, 1242 Voydansdorf, zu Bogodan, Fohnsdorf Stm., 1104 ff. Phanisdorf, F- und Pfannsdorf Kä., 1267 Vansdorf, beide zu Ban usw.). Be-
XVII. Regionalsprachgeschichte
sonders deutlich wird die Rolle eines slaw. Siedlungspatrons in einem Beleg von 993: tres mansos regales in loco, ubi Gluzo Sclauus habitare et diruere cepit … vulgari lingua (= dt.!) nuncupant Gluzengisazi (seit 1120 nur Gluze, 1184 Glivsce, heute Gleiß bei Waidhofen a. d. Ybbs; ANB 418). Die lebendige Zweisprachigkeit wird schließlich auch in Übersetzungsdubletten faßbar, wenn ein Nebenfluß der Schwarza (Suuarzaha) den bedeutungsgleichen slaw. Namen Sierning (Sirnikke) führt oder wenn umgekehrt der Oberlauf der Feistritz bei Aspang Trattenbach (Dretenpach, zu mhd. dräte ‘schnell’) heißt (beides südl. von Wr. Neustadt; Wiesinger 1986, 23). Gelegentlich sind sogar der dt. und der slaw. Name nebeneinander überliefert: 1048 Rotenmannun (Rottenmann bei Admont) … in valle pagoque Palta situm, Sclavonice etiam Cirminah (zu slaw. crminъ ‘rot’) nominatum (ANB 199 f.; vgl. auch o. dt. Viscaha und slow. Ribniza für Reifnitz). Der Eindeutschungsprozeß muß nach Ausweis der ON in Ober- und Niederösterreich etwa im Verlauf des 11., im oberen Ennstal und südlich der Alpen im 12. Jh. im wesentlichen zum Abschluß gelangt sein (zum oberen Ennstal Reiffenstein 1998, 431). Daraus ist allerdings nicht zu folgern, daß danach die slaw. Sprache verklungen war. In urkundlicher Überlieferung treten slaw. PN in Nieder- und Oberösterreich noch bis ins 12., im Süden bis ins 13./14. Jh. auf (Kronsteiner 1975, 114). Das Weiterbestehen slaw. Siedlungen beweisen auch nicht ganz seltene Winden- und Windisch-ON in OÖ, NÖ und in der Steiermark (Winden, Windberg, Feldwinden; Windisch(en)dorf, -berg [bei Leoben, 1320 mons sclavicus], Winnersdorf, Windigsteig [1281 Windistei ‘wind. Thaya’], Windischgarsten usw.; Kronsteiner 1975, 88, 197 f.; Schuster 1989/94, 3, 449 ff.). Daß die urkundliche Überlieferung dieser ON erst im 12./13. Jh. einsetzt, mag z. T. daraus resultieren, daß es sich überwiegend um unbedeutende und oft abgelegene Ortschaften handelt, wahrscheinlich aber auch daraus, daß slaw. Dörfer erst bei zunehmender Vereinzelung als solche benennenswert wurden. In diesem Sinn ist auch zu verstehen, daß in Kärnten solche ON (z. B. Windischberg, -bach, Windische Höhe, Kranzmayer 1956/58, 2, 246) selten und erst neuzeitlich sind. Das Bild der slaw.-dt. ON der Oberpfalz zeigt wesentliche Parallelen zu dem von Österreich (Schwarz 1960, 176⫺384). Seit dem 8. Jh. erfolgte der bair. Landesausbau
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
nördl. der Donau. Gleichzeitig siedelten auch Slawen, die von Osten (Böhmen) über den Böhmerwald und von Norden (Vogtland, Thüringen) über das Fichtelgebirge vorrückten. Die dt. und die slaw. Siedlung ist offenbar als friedliches Miteinander erfolgt. ON slaw. Ursprungs reichen im äußersten Fall bis an die Naab, in der Mehrzahl bleiben sie weiter östlich (Schwarz 1960, Karte 13). Die älteste Eindeutschungsform weist der ON Perschen bei Nabburg (12. Jh. Persin) auf, mit b > p und vor der Liquidenmetathese eingedeutscht (vgl. den GewN Perschling NÖ, aber nicht zu *berza/breza ‘Birke’, sondern zu slaw. *berg ‘Ufer’ gestellt; Schwarz 1960, 185). Einige ON im sowohl dt. wie slaw. altbesiedelten Chamer Becken weisen d > t auf (Schwarz 1960, 180 f.). Die obere Zeitgrenze der Eindeutschungen ist auch hier etwa das 12. Jh. Die Diphthongierung von ˆı, uˆ, üˆ ist überall durchgeführt (Schwarz 1960, 296 ff.). Die engen Beziehungen zwischen bair. und slaw. Siedlern wird auch in der Oberpfalz durch zahlreiche MischON mit dt. Grundwort (sehr häufig -dorf) und einem slaw. PN erwiesen (Schwarz 1960, 324 ff.). Solche mit *-reut (-richt, -rode, -ried, z. B. Mallersricht, Radansreuth, Lesmannsried) sind wohl erst in der Rodungszeit entstanden. E. Schwarz (1960, 330 f.) rechnet auch damit, daß manchen MischON rein slaw. ON vorausgegangen sind, was sich freilich nicht belegen läßt. Die Winden-, Windisch-ON liegen außerhalb, westl. des Verbreitungsgebietes der ON slaw. Ursprungs; die so bezeichneten Siedlungen wurden offenbar von Haus aus in bereits dt.-sprachigem Gebiet angelegt. Solche planmässigen Ansiedlungen von Winden konnten gelegentlich sehr früh erfolgen, so in Nabin im Bayer. Wald (westl. Deggendorf; dort auch Wühn, 1240 Winden), schon 863 von Kg. Ludwig an Niederaltaich geschenkt (villam Nabauuinida; Schwarz 1960, 342, 355). Sonst begegnen die Winden-ON in den Urkunden nur ganz vereinzelt vor dem 12. Jh., der Zeit des intensivierten Siedlungsausbaus (z. B. Appertszwing, 1031 Abbatisuuinidun nördl. von Regensburg; anders in Mainfranken, wo Windheim bei Hammelburg, 791 Winithoheim u. a. schon sehr früh bezeugt sind; Schwarz 1960, 336 ff.). 4.3.3. Mehrsprachigkeit bei den frühen Baiern galt nicht nur in Bezug auf die altansässige rom. Bevölkerung und auf die mit ihnen in Konkurrenz oder in Nachbarschaft landnehmenden und siedelnden Slawen, son-
2899
dern auch in Bezug auf die verschiedenen germ. Gruppen, aus denen sich der neue Stamm im 6. Jh. bildete. Diese sprachliche Variation wird anfangs, besonders zwischen Angehörigen elbgerm. Stämme („böhmische“ Germ., Alemannen, Thüringer u. a.), auf dialektaler Ebene gelegen sein und die Kommunikation kaum behindert haben. Auch im Umgang mit den langob. Nachbarn wird es sprachlich keine Probleme gegeben haben. Zur Sprache ostgerm. Gruppen (Rugier, Heruler, Goten) bestanden deutlichere Unterschiede, und sie wurden ausgeprägter, seit das Bair., zusammen mit dem Alem., seit dem 6. Jh. tiefgreifende Veränderungen (2. Lautverschiebung, i-Umlaut, Morphologie) erfuhr. Zeugnisse für bair.-ostgerm. Sprachkontakte sind selten, ihre Interpretation schwieriger und auch weniger sicher als die der bair.-rom. und bair.-slaw. Kontakte. Ostgerm. Herkunft wird für die Flußnamen Pulkau, Thaya und Zaya angenommen, aber sie gelangten über slaw. Vermittlung zu den Baiern (s. o. 3.3.). Den Namen der Wachau könnten die Baiern direkt von zurückgebliebenen Rugiern übernommen haben (germ. *wanh- > *wa¯h-, an. va´ ‘Krümmung’; Wiesinger 1985, 345). Das bair. Wort Maut, 837 quod lingua Theodisca muta vocatur ‘Zoll, Wegabgabe’ ist sicher aus got. mota (in der spätgot. Form *muta) entlehnt. Da die Entlehnung ins Bair. nicht vor ca. 700 erfolgt sein kann (-t- wurde nicht von der 2. Lautverschiebung erfaßt; vgl. dagegen das Erbwort muozze, Muoz ‘Mahllohn’, bair. seit 15. Jh.; Schmeller 1872/77, 1, 1678 f.), muß das Handelswort an der mittleren Donau lange in germ. Mund lebendig geblieben sein, wo es auch die Slawen (akslaw. myto ‘Lohn, Geschenk’, slow. mito ‘Bestechungsgeld’) und über die Bernsteinstraße auch die Skandinavier (anord. mu´ta ‘Bestechungsgeld’) kennengelernt haben. Die Baiern könnten zwar got.* muta auch durch slaw. Vermittlung (vor u > y, s. o. 4.3.2. Raming) erhalten haben, andere Indizien (s. o. Wachau; PN Rüediger mit erhaltenem Fugenvokal und Umlaut, gegen bair. Ruodger; Wiesinger 1986a, 123) machen aber durchaus ostgerm.(-rugisch)-bair. Kontakte an der Donau wahrscheinlich. Der Bedeutungswandel zu ‘Zoll’ (durch „Institutionalisierung“ der älteren „Gunstgeschenke“) erfolgte vermutlich unter dem Einfluß der karoling. Handelsorganisation des 9. Jhs.; frühestens ab dem 9. Jh. sind auch die Maut-Orte (Mautern, Mauthausen, Mauterndorf) entstanden (Wiesinger 1986a, 108 ff., bes. 119 ff.).
Es ist wahrscheinlich, daß in dem neuen Stamm der Baiern auch nichtelbgerm. Volkssplitter aufgegangen sind. An der Sprache der Baiern, wie sie seit dem ausgehenden 8. Jh. faßbar wird, ist das freilich nicht nachzuweisen. Wohl aber gibt es ein paar Namen, die
2900 Erinnerungen bewahren. Obwohl die Herrschaft der Rugier nördl. der Donau im 5. Jh. kaum länger als eine Generation dauerte, kennt noch der langob. Geschichtsschreiber Paulus Diaconus (8. Jh.) für jenes Gebiet, das die Langobarden nach 487 in Besitz nahmen, den Namen Rugiland, quae Latino eloquio Rugorum patria dicitur (Hist. Lang. I, 19). Und sogar die Raffelstetter Zollordnung (903/06) spricht noch von slaw. Händlern, qui de Rugis uel de Baemanis mercandi causa exeunt (Wiesinger 1986 a, 123; Wolfram 1995, 57). Der Name der Skiren, deren Königssippe Odoakar entstammte, die aber schon im 5. Jh. in Auseinandersetzungen mit den Goten aufgerieben wurden, lebt in einigen bayer. ON weiter (Scheyern bei Pfaffenhofen/Ilm, 1080 Scira, ferner Scheuer(n) bei Regensburg und Rosenheim; Schwarz 1950, 70). Die ON sind analog zu beurteilen wie die Walchenund Winden-ON, d. h. sie bezeichnen SkirenDörfer. Einen wie auch immer gearteten Kontakt zu Goten setzen auch die bair. Wochentagsnamen Ergetag, Er(ch)- ‘Dienstag’, Pfinztag ‘Donnerstag’ und ahd.-bair. pherintag ‘Rüsttag; Freitag’ (nur in Glossen belegt) voraus. Diesen Wörtern liegen unzweifelhaft Teilübersetzungen von gr. Areos heme´ra ‘Tag des Ares’, pe´mpte heme´ra ‘fünfter Tag’ und paraskeye ‘Rüsttag’ zugrunde, die am plausibelsten den Goten zuzutrauen sind (got. *arjausdags, *pintadags, *pareinsdags). Die Baiern müssen sie früh, vor der 2. Lautverschiebung (p- > pf-, t > z, 6./7. Jh.), übernommen haben. Die Vermittlung kann entweder durch Fernkontakte oder durch ostgerm. oder jedenfalls ostgerm. geprägte Siedlergruppen (wie z. B. die Skiren) erfolgt sein. Für die erste Möglichkeit hat man an eine (historisch nicht erweisbare; Schäferdiek 1982, 239 ff.) got.-arianische Mission von der unteren Donau her (zuletzt Stutz 1980) oder an Einflüsse aus dem Ostgotenreich Theoderichs über die Alpen gedacht. Da diese Wochentagsnamen nur im Bair. vorkommen, denkt Wiesinger (1985b, 184 ff.) an „ältere Beziehungen zwischen Goten und ‘Praebajuwaren’ “ (187), z. B. an Rugier (oder Skiren). Offen bleibt freilich, warum die Baiern an Stelle der sonst im West- und Nordgerm. üblichen Übersetzungen von lat. Martis bzw. Jovis dies durch *Teiwa- bzw. Thunra- (anord. tysdagr, engl. Tuesday, ahd.-alem. Ziestag, Zistag; anord. po´rsdagr, engl. Thursday, ahd. donrestag) die griech.-got. Wörter übernahmen. Für andere got. Lehnwörter im Bair., die auch das Alem. kennt (oder im Mit-
XVII. Regionalsprachgeschichte
telalter kannte), liegt Beeinflussung durch die Goten in Italien nahe, z. B. für Dult (ahd. tuld(i) ‘(kirchliches) Fest’ < got. dulps) oder Pfaffe (ahd. pfaffo ‘Geistlicher’ < got. papa, griech. papas). Ausdrücklich festzuhalten ist, daß das Bair., von solchen minimalen Spuren im Lexikon abgesehen, keinerlei Anzeichen ostgerm. Interferenz aufweist.
5.
Externe Sprachgeschichte vom 8.⫺16. Jahrhundert
5.1. Zeitübergreifende Aspekte 5.1.1. Siedlungsraum Nach den Siegen Tassilos über die Karantanen und Karls des Großen über die Awaren begann seit dem 9. Jh. die systematische Einbeziehung des slaw. Siedlungsgebietes östl. der Enns und südl. der Tauern unter frk.bair. Herrschaft. Die Eindeutschung, im 10. Jh. unterbrochen durch die Einfälle der Ungarn, kann im 12. Jh. bis an die heutige dt. Sprachgrenze im Osten im wesentlichen als abgeschlossen gelten. Die Oststeiermark wird erst seit dem 10. Jh. bair. besiedelt, Südkärnten bewahrt die dt.-slow. Zweisprachigkeit bis in die Neuzeit. Vereinzelt seit dem 12., vor allem seit dem 13. Jh. griff bair. Siedlung über den Böhmerwald und nach Südmähren aus und drängte die dt.-tschech. Sprachgrenze nach Norden (Schwarz 1965/ 66, I, 352 ff., II, 129 ff.). Im Süden reichen bair. Siedlungsvorstöße über den Brenner ins Pustertal schon ins 6., bis ins Bozener Becken und bis Meran in die 2. Hälfte des 7. Jhs. zurück. Zum Abschluß gelangte der Eindeutschungsprozeß in Tirol freilich erst im 11., 12./13., in einigen Gebieten (Vinschgau, Osttirol u. a.) erst im 13./14. Jh., mit Ausläufern bis ins 16. Jh. (Geschichte Tirols 1990, 1, Karte 394 [Riedmann]). In Kals in Osttirol zeigen die Orts- und FlurN Überlagerungen von Rom., Slaw. und Dt. Seit dem 13. Jh. entstanden bair. Sprachinseln in und um Budweis, Brünn und Wischau sowie in Slowenien und in Oberitalien, im 14. Jh. jene der Gottschee (Kocˇevje, Slowenien). Bauern aus der Oberpfalz waren zusammen mit Bergleuten aus dem Erzgebirge an der Bildung der Iglauer Sprachinsel (Jihlava) in Ostböhmen im 13. Jh. beteiligt. Bis um 1100 reicht die Entstehung der Sette und Tredici Comuni („Zimbern“) weit im Süden, im Bergland nördlich von Verona, zurück; nach dem Ausweis ihrer Mundart kamen die Siedler aus
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
dem südwestl. Oberbayern (Lech) und Westtirol (Wiesinger 1983, 908 ff.). Eine kaum weniger intensive und nachhaltige Ausweitung des Siedlungsraumes erfolgte nicht nach außen, sondern nach innen durch die Binnenkolonisation des 12.⫺14. Jhs. Die großen Waldgebiete nördl. der Donau, von der Oberpfalz bis ins niederöst. Waldviertel, wurden durch Rodung und durch die Anlage neuer Dörfer erschlossen, inneralpin wurde die Obergrenze der Dauersiedlungen bis an die Grenze der Almregion (Schwaighöfe) hinaufgetrieben. Zahllose einschlägige Orts- und FlurN (-reut, -reit, -richt, -schlag, -brand, -schwend usw.; Schwaig-) geben Zeugnis dieser grundherrschaftlich straff organisierten Siedlungsbewegung. Der zweite Entwicklungsschub jener Jahrhunderte, die Weiterentwicklung der alten und vor allem die Gründung zahlreicher neuer Städte, haben das Siedlungsbild von Bayern und Österreich weniger stark geprägt als das z. B. im deutschen Westen der Fall war. Die wenigen alten Städte waren durchwegs Bischofsstädte mit spätantiken Wurzeln (Regensburg, Passau, Salzburg). Einzig Regensburg erreichte einen Rang, der mit dem rhein. Städte vergleichbar war. Die beiden bedeutendsten Wirtschaftszentren im Südosten des Reiches, die alte Bischofsstadt Augsburg und die Reichsstadt Nürnberg, liegen außerhalb der Region an ihrem Westrand. Die Mehrzahl der im 12. und 13. Jh. neu entstandenen Städte und Märkte sind landesherrliche Gründungen und blieben fest ins System der Landesherrschaft eingebunden. Dies gilt auch für die beiden späteren Metropolen Wien (babenbergische Residenz seit 1156) und München (1158 durch einen Gewaltakt Heinrichs des Löwen gegründet). Eine nicht geringe Rolle spielte in vielen kleineren Städten das Ackerbürgertum. Wirtschaftsstrategisch war die Region nach Italien, donauabwärts nach dem Osten und nach Böhmen hin orientiert. Von den Alpenübergängen besaß allein der Brenner europäischen Rang. Daneben spielen aber auch die anderen Alpenübergänge (der „obere“ Weg über den Reschen, der Radstädter Tauern [Regensburger Venedighandel über Salzburg], die Pyhrnstraße und später, nach dem Aufstieg Wiens, der Semmering) eine wichtige Rolle. Die wichtigsten Exportgüter waren Salz (Gewinnung bis ins 12. Jh. allein in Reichenhall, dann als salzburgische Konkurrenz in Hallein, seit dem 13./14. Jh. als habsburgische Antwort im Salzkammergut und in Hall
2901
in Tirol) und das steirische Eisen, erst seit dem ausgehenden Mittelalter Silber (allen voran durch die Fugger in Schwaz). 5.1.2. Überlieferung (Quellen) Die Zeugnisse, die uns Kenntnis der bair. Sprache und ihrer Veränderungen vermitteln, sind handschriftlich, seit dem ausgehenden 15. Jh. auch im Druck überliefert. Schreiben ist im gesamten Zeitraum eine Kulturtechnik, die von der Kirche dominiert wurde. Allein die Kirche konnte die literarische Kontinuität von der Spätantike ins Mittelalter sichern. Dies bedingt die Dominanz des Lateinischen, der „Vatersprache“ (sermo patrius, W. von den Steinen) des Mittelalters und die Dominanz kirchlich-geistlicher Thematik. Dies bedingt ferner, daß in der Frühzeit bis um ca. 1200 Schreiben an nur wenige überwiegend monastische Zentren gebunden bleibt. Erst seit dem 12. Jh. konnte sich neben der geistlichen Literatur auch volkssprl. Fachschrifttum und eine laikale Dichtung etablieren. Und erst seit dem späten 13. Jh. läßt sich aus der Überlieferung ein einigermaßen flächendeckendes Bild der Sprachregion ablesen. Die ältesten überlieferten Zeugnisse der Volkssprache sind Orts- und PersonenN sowie einige (meist rechtliche) termini technici in lat. Kontext (z. B. Salzburger Güterverzeichnisse, Freisinger Traditionen und sonstige Urkunden, Verbrüderungsbuch von St. Peter/Salzburg, Lex Bajuvariorum) und Glossen (vor allem aus St. Emmeram/Regensburg, Freising, Tegernsee und Salzburg), die bis ins ausgehende 8. Jh. zurückreichen. Um etwa 800 beginnt auch die Überlieferung selbständiger kirchlicher Gebrauchstexte, immer Übersetzungen aus dem Lat. (Exhortatio ad plebem christianam, Freisinger Paternoster, Beichten, Gebete, später Predigten, Psalmenübersetzung usw.). Im Zusammenhang mit der Salzburger Karantanenmission sind wohl auch die ältesten altslow. Texte entstanden (Übersetzung des sog. altbair. Gebetes samt Beichte; aufgezeichnet in Freising im 10. Jh.: Freisinger Denkmäler). Der einzige frühe Großtext aus Bayern, Willirams von Ebersberg Übersetzung und Paraphrase des Hohen Liedes, ist in der frk. Sprache seines Autors verfaßt. Drei bedeutende Sammelhandschriften aus dem späten 12. Jh./um 1200 überliefern Bibeldichtung, die z. T. wahrscheinlich seit der Mitte des 11. Jhs. im Südosten (Kärnten, Steiermark?) entstanden ist. Mit der Melker Inkluse Ava begegnet uns hier die erste in dt. Sprache dichtende Frau. Im 12. Jh. war Regensburg (der Welfenhof?) die wichtigste Pflegestätte der vorhöfischen Epik; zweifelsfrei bair. ist von den (wahrscheinlich) hier entstandenen Wer-
2902 ken freilich nur die Kaiserchronik. Immer noch handelt es sich um Geistlichendichtung.
Im 13. Jh., vor allem seit der Mitte des Jhs., gewinnt die Überlieferung erheblich an Breite und an Vielfalt. Der Volkssprache öffnen sich neue Textsorten, auch solche, die bisher ausschließlich dem Lat. vorbehalten waren. Neben die weiter gepflegte Literatur der Klöster und der Geistlichen (Übersetzungsprosa wie Dichtung) trat, wenn auch später und weniger prominent als im Südwesten, höfische Epik und als bayer.-öst. Besonderheit die Heldenepik (Nibelungenlied, Dietrichepik), ferner Kleinepik (Stricker) und spezifische Formen der Lyrik (die frühe donauländische Lyrik; Neidhart). Der Babenbergerhof in Wien entwickelte sich zu einem bedeutenden literarischen Zentrum. Literarische Landschaften wie z. B. die Steiermark (Ulrich von Liechtenstein u. a.) werden faßbar. Sprachgeschichtlich besonders bedeutsam ist der zunehmend breiter werdende Strom an Sachprosa (Rechtslit., Naturkunde [Konrad von Megenberg], Artes-Lit. usw.). Ein besonderer Stellenwert kommt den volkssprachlichen Urkunden zu, die meist eindeutig lokalisier- und datierbar sind. Sie erlauben mit einem relativ dichten Ortsnetz erstmals einen Einblick in die sprachgeographischen Verhältnisse des 13. Jhs. Zwar setzt das volkssprachliche Urkundenwesen im Südosten erst etwas später als im Südwesten in voller Breite ein (von 1248 bis 1285 nur knapp 100 Urkunden), im letzten Jahrzehnt des 13. Jhs. erreicht es aber einen Anteil von über 40 % aller dt.-sprachigen Urkunden. Insgesamt stammt ein Drittel dieser knapp 4500 Urkunden des 13. Jhs. (Corp.) aus Bayern und Österreich. An der Spitze der Urkundsorte stehen Wien, Salzburg und Regensburg. Zwar ist der Anteil der Kirche (Bischöfe, Klöster) immer noch beträchtlich, die weltliche Seite (Landesherren, Städte, Adel, aber auch Stadtbürger und Handwerker) steht ihr aber nun nicht mehr nach. Neben die Urkunden treten vor allem seit dem 14. Jh. als volkssprachliche Zeugnisse des Sozial- und Wirtschaftslebens Urbare, Weistümer und ähnliche Zeugnisse wie z. B. das Inventar der beweglichen Habe des Eberhard von Rain bei Straubing (ca. 1376; Piendl 1969, 193 ff.) und das einzigartige Runtingerbuch, Hauptbuch (Rechnungsbuch, Kaufverträge, Verhandlungsprotokolle, Familienchronik usw.) des Regensburger Fernhandelshauses der Runtinger von 1383⫺1407 (VL2 8, 392 ff.).
XVII. Regionalsprachgeschichte
Wichtig ist an der Sachprosa, daß in ihr nicht nur bis dahin nicht oder kaum verschriftete Sachbereiche bezeugt werden, sondern z. T. auch eine dem Alltag nähere Sprache. Dies gilt auch für nicht wenige Texte der „schönen“ Literatur des Spätmittelalters, z. B. für viele Lieder Oswalds von Wolkenstein und für die seit dem 14. und 15. Jh. blühende Chronistik und Historiographie (neben den großen Werken ein so bemerkenswerter Text wie die Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin, Wien ca. 1450). Alltagssprache dringt auch in die im 15./Anfang des 16. Jhs. in Tirol (Bozen, Sterzing) überaus lebendige Tradition der Passionsspiele ein. Alltagssprache heißt freilich in keinem Fall Sprache der sozialen Unterschicht. Träger der literarischen Überlieferung bleiben der (grundherrschaftliche) Adel, das wohlhabende Stadtbürgertum, (theologisch gebildete) Gelehrte wie Johannes Hartlieb u. v. a. und natürlich weiterhin die Kirche mit einer vor allem im 15. Jh. explosionsartig anschwellenden Übersetzungsliteratur; vor allem die Melker Reform der öst. und bayer. Benediktinerklöster (1418 ff.) bewirkte einen starken Schub dt. geistl. Texte in den reformierten Klöstern, zum nicht geringen Teil von solchen aus der Wiener Schule. Der weit überwiegende Teil der Überlieferung des Mittelalters ist nur in Abschriften enthalten. Autographen sind überaus selten. Ein vereinzeltes frühes Beispiel ist Otlohs Gebet (11. Jh.). Erst im 15. Jh. kommt es etwas häufiger vor, daß Übersetzer und Schreiber geistl. Texte identisch sind (z. B. Heinrich Haller in der Kartause Schnals oder Wolfgang Walcher, Abt von St. Peter/Salzburg; vgl. VL2 3, 415 ff.; 10, 603 ff.). Rüdiger den Hinkhofer, Autor des Märes vom „Schlegel“ (überliefert in Kleinepik-Hss. des 14. und 15. Jhs.), fassen wir in einer von ihm geschriebenen Urkunde (Corp. Nr. 768, um 1286) als Regensburger Berufsschreiber (Fischer 1968, 182 ff.). Die Abschriften sind von den Originalen durch einen zeitlichen Abstand von bis zu mehreren Jahrhunderten getrennt und bieten in der Regel den Sprachstand ihrer Niederschrift, nicht den des Originals. Das gleiche gilt für den Dialekt. Bald nach 800 wurden z. B. in Mondsee Texte der sog. ahd. Isidorgruppe, um 900 in Freising die Evangelienharmonie Otfrids von Weissenburg aus dem Frk. ins Bair. umgesetzt. Im Hoch- und Spätmittelalter verhielt es sich nicht anders. Eine regionale Einordnung vieler Texte ist nur über die Bestimmung ihres
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
Dialekts möglich, was die Gefahr von Zirkelschlüssen einschließt. Dies alles ist bei der sprachhistorischen Beurteilung der Texte zu beachten. Eine Rolle spielt weiter der unterschiedliche Ausbildungsstand der Schreiber. Versierte Schreiber orientierten sich strenger an den Normen der regionalen Schreibsprachen als weniger gebildete, bei denen Interferenzen aus gesprochener Sprache häufiger unterlaufen. Bestimmte Dialektformen begegnen nur bei fremdsprachigen Schreibern (z. B. für mhd. ei, oˆ in Moaser, Bohassener ‘Maiser, Bozener’; Finsterwalder 1978, 122, 126). 5.1.3. Volkssprache und Latein Die Geschichte des Dt. ist von seinen Anfängen bis mindestens ins 18. Jh. von dem Verhältnis zum Lat. der Kirche, der Verwaltung und der Wissenschaft intensiv mitgeprägt. Der Südosten macht da keine Ausnahme, seit der katholischen Gegenreformation ist hier die Position des Lat. noch stärker als in den protestantischen Regionen. Erst 1681 überstieg die dt.-sprachige Buchproduktion im dt. Sprachgebiet erstmals die lat. (Tschirch 1969, II, 244). Für Bayern und Österreich liegen keine Zahlen vor, aber man wird mit der Vermutung kaum fehlgehen, daß hier der Vorsprung des Lat. noch größer war und noch länger anhielt als in den protestantischen Gebieten. Die gesamte europ. Schriftkultur seit dem Frühmittelalter baute auf der spätantiken römischen Tradition auf. Mit Hilfe des lat. Alphabets erfolgte die Verschriftung der Volkssprachen, Glossen und Interlinearversionen halfen bei der Aneignung lat. Texte, Übersetzungen machten lat. Texte auch den Laien zugänglich. Die Aneignung des Christentums verlangte die sprachliche Bewältigung einer Fülle neuer Begriffe, teils durch Entlehnung der lat. Bezeichnung (z. B. ahd. altari < altarium, evangelio < evangelium, engil < angelus, fill(e)ol < filiolus ‘Patenkind’ usw.), teils durch Übersetzung, oft Glied für Glied (z. B. gewizzeni oder gawizzida < conscientia ‘Gewissen; Einsicht’, guatkundida ‘Frohbotschaft, Evangelium’, boto ‘Bote, Engel’ usw.). Es gibt in diesem ahd. Lexikon Besonderheiten einer süddt. Kirchensprache (z. B. korunga < temptatio ‘Versuchung’, suonatag(o) < dies iudicii ‘Tag des jüngsten Gerichtes’, ganada für gratia ‘Gnade’, wih für sanctus ‘heilig’ u. a.), nicht aber solche der bair. Kirchenprovinz. In den Ordensgemeinschaften ist mit einer lebendigen Zweisprachigkeit und auch mit der Ausbildung
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eines gemischtsprachigen „Fachjargons“ (Grabmeyer 1976, 371) zu rechnen. Es gibt gute Gründe für die Annahme, die Mischprosa Notkers des Dt. und Willirams von Ebersberg und die „lat. Einschiebsel“ in verschiedenen frühmhd. geistl. Gedichten hätten ihre Basis in einem solchen Fachjargon (für Williram: Grabmeyer 1976; für die Frau Ava: Stein 1976). Lat. Grundtext, lat. poetische Paraphrase, dt. Übersetzung des Grundtextes und dt.-lat. Prosaparaphrase in dreispaltiger handschriftlicher Darbietung machen Willirams Hohes Lied zu einem eindrucksvollen Beispiel der zweisprachigen Synthese. Früh setzten freilich Bemühungen ein, die lat. Elemente in volkssprl. Texten zu verdeutschen und damit auch für Laien rezipierbar zu machen (noch im 11. Jh. Glossierung von Notkers Psalter in St. Gallen und völlige Tilgung der lat. Elemente der Mischsprache im „Wiener Notker“ aus Wessobrunn; ähnliche Bearbeitungen erfuhr auch Willirams Hohe Lied-Paraphrase, allerdings auch die Übersetzung ins Lat.). Seit dem 13. Jh. gibt es Übersetzungstexte in dieser Form der Mischprosa zwar nicht mehr, im Schulbereich bleiben vielfältige Formen des Mit- und Ineinanders von Lat. und Dt. aber bis ins 16. Jh. lebendig, „die Schultext-Übersetzungen (z. B. Cato, Facetus usw. I. R.) erweisen ein vielgestaltig ausgebautes Feld der Zweisprachigkeit im Lebensbereich des Litteratus“ (Henkel, 1988, 209 und passim). Auch in den breit überlieferten Vokabularien des Spätmittelalters bilden die lat. Lemmata den Ordnungsund Bezugsrahmen.
Die Übersetzungstätigkeit (geistl.-erbauliche Texte, Megenbergs Buch der Natur, Artes-Literatur) nahm im 14. und vor allem im 15. Jh. erhebliche Ausmaße an. Die Zielrichtung jedenfalls auch auf ein Laienpublikum steht jetzt außer Zweifel; viele Übersetzungen besitzen lebenspraktische Bedeutung. In der Regel ist in den Übersetzungen der gelehrte „Apparat“ (Quellennachweise u. ä.) aus Rücksicht auf die einfältigen (d. h. die Laien) gestrichen (Weinmayer 1982, 55 ff.; Ott 1983, 36 f.). Ein wichtiges Zentrum solcher popularisierenden Übersetzung bildete im späten 14. und in der 1. Hälfte des 15. Jhs. die Wiener Schule, ein Kreis gelehrter Theologen in enger Verbindung mit dem Herzogshof und der Wiener Universität. Kontroverse Übersetzungsstile mit unterschieldichem Rezipientenbezug (verbum e verbo, sensus de sensu; vgl. Art. 156. 4.2.) wurden einerseits mit der zu erhaltenden Dignität des lat. Originals, andererseits mit der Verständlichkeit für ein nichtgelehrtes Publikum gerechtfertigt. Die Diskussion wird auch im Kreis der Frühhumanisten weitergeführt (Gregor Heimburg, Niklas von Wyle, Sebastian Brant⫺Heinrich Steinhöwel). Wenn man von den bewußt lateinna-
2904 hen Übersetzungen absieht, ist die Tatsache bemerkenswert, daß der Einfluß des Lat. auf die Syntax des Dt. bis ins 16. Jh. überraschend gering geblieben ist (für das Ahd. Eroms 1997, 7 ff.; für die dt. Urkunden des 13. Jhs. Schulze 1975; für das Frühnhd. Ebert 1986). Erst seit dem 16. Jh. wird lat. Einfluß auch auf die Syntax, vor allem auf dem Weg über die Kanzleisprachen, deutlicher greifbar. 5.1.4. Variation und Varietäten Daß es in unserer Region im Darstellungszeitraum Variation innerhalb des Sprachgebrauchs gegeben hat, steht außer Zweifel. Die Quellen verdecken allerdings mehr als sie freigeben. Es gibt nur Überlieferung geschriebener Sprache, mündlicher Sprachgebrauch kann nur indirekt erschlossen werden. Schreiben war Reservat einer sehr schmalen lateinisch gebildeten Oberschicht, und nur die Schreibsprache dieser Oberschicht ist uns direkt zugänglich. Erst seit dem 14./15. Jh. eröffneten die ‘deutschen Schulen’ in größeren Städten dem aufstrebenden Bürgertum einen Weg zum Schreiben und Lesen der Muttersprache auch außerhalb des geistlichen Schulwesens (Henkel 1988, 179 ff.; Hartweg/ Wegera 1989, 52 ff.). Dennoch machte der Anteil der Schreibkundigen noch um 1500 weniger als 5 % der Bevölkerung aus (Polenz 1991, 131). Von der Sprache der restlichen 95 % besitzen wir keine direkten Zeugnisse. Zwar sind schon seit dem 13., deutlicher seit dem 14. Jh. Unterschiede zwischen den überlandschaftlichen dialektal neutralen Schreibsprachen prominenterer Kanzleien (z. B. Regensburg, Wien, Salzburg, Herzöge, Bischöfe) einerseits und stärker regional gebundenen dialektalen Ausprägungen andererseits gut greifbar, aber sie erlauben über die allgemeine Unterscheidung zwischen einer dialektnäheren und einer neutral-bair., „herrensprachlichen“ Schreibform (Wiesinger 1971, 377 ff.; ders. 1996, 48 ff.) doch nur recht begrenzte Einsichten in die soziale Variation des Sprachgebrauchs (vgl. für Regensburg Reiffenstein 1980). Ähnliches gilt auch für die sprachgeographische Variation. Wichtige phonologische Veränderungen wie die Diphthongierung der hohen Langvokale seit dem 12. Jh. (sog. nhd. Diphthongierung) lassen sich in ihrer geographischen Verbreitung und Durchsetzung durch Direktanzeigen gut verfolgen. Es gibt in der Überlieferung (vor allem der ON; dazu Reiffenstein 1995) auch immer wieder Einzelkriterien, die sich, meist unter Zuhilfenahme heutiger Dialektverhältnisse, regionial ein-
XVII. Regionalsprachgeschichte
grenzen lassen. Wichtige Ergebnisse sind auch der Reimanalyse hoch- und spätmittelalterlicher Reimpaardichtungen zu verdanken (Kranzmayer 1950; Wiesinger 1991). In historischer Rekonstruktion läßt sich auf diese Weise die Entstehung der modernen Dialektlandschaft im 13. und 14. Jh. in groben Umrissen erkennen. Für keine mittelalterliche Handschrift aber ist allein auf Grund der Sprache die genauere Herkunftsheimat erschließbar. Verwertbare metasprachliche Äußerungen über die Sprachvariation gibt es bis ins 16. Jh. nicht. Die Charakterisierung dt. Dialekte im ‘Renner’ Hugos von Trimberg (z. B. die Beire si (sc. ir wörter) zezerrent, …, Oesterrıˆch si schrenket, Stıˆrlant si baz lenket, Kernte ein teil si senket, V. 22267 ff.) ist phonetisch nicht umsetzbar. Erst Aventin thematisiert, mit Aussprachehinweisen, den Unterschied zwischen Stadt und Land (s. u. 5.4.3.). Geschriebene Sprache bildet zu keiner Zeit die gesprochene Sprache direkt ab. Lediglich den weniger gut ausgebildeten Schreibern unterlaufen häufiger „Fehler“, d. h. Interferenzen aus ihrem Dialekt. Prinzipiell zeichnet geschriebene Sprache immer eine von der gesprochenen Sprache abgehobene Eigengesetzlichkeit aus. Seit der Ausweitung der Lesefähigkeit im späten 14. und vor allem im 15. Jh., seit der ‘Literaturexplosion’ und der ‘Verschriftung des Lebens’ gewinnt Schriftsprachlichkeit eine neue Qualität, die dann vom Buchdruck aufgenommen und weiterentwickelt wird (vgl. Art. 121). Gesprochene Sprache wird auch in bestimmten Textsorten (von den Zaubersprüchen und den Kasseler Glossen über Predigten bis zu den Spieltexten des Spätmittelalters) sowie in Redepassagen epischer Texte faßbar (vgl. Art. 78 und 97). In der Regel handelt es sich dabei aber um stilisierte, literarisch vermittelte gesprochene Sprache.
Über die Form der sprachlichen Kommunikation mit den auch in unserem Raum seit dem 10. Jh. nachweisbaren Juden wissen wir leider nichts. Literarische Zeugnisse (eines frühen Jiddischen?) aus der Zeit um 1300 (Cambridger Hs., VL2 1, 1169 f. [Röll]) stammen aus dem Wmd., die ältesten Judeneide aus Erfurt und Görlitz sind mhd. In der Zollordnung von Raffelstetten (östl. von Linz, 903⫺906) ist ausdrücklich von Iudei et ceteri mercatores die Rede und zwei der 41 rechtskundigen Weistumsgeber (nobiles) tragen hebräische Namen (Ysac, Salaman; Lohrmann 1982, 287). Eine beträchtliche Zahl von Juden-ON (Judendorf, -burg, -hof, -statt usw.) in Österreich (NÖ, OÖ, Steier-
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit mark, Kärnten, Salzburg), aber auch von Magdeburg bis Passau, entlang wichtiger Handelswege, hat man plausibel als Transportstationen jüdischer Fernhändler interpretiert. Die ältesten Bezeugungen dieser Juden-Orte reichen bis ins späte 11. Jh. zurück (Wenninger 1985, 197 ff.). Eine jüdische Gemeinde gab es in Regensburg seit dem 10. Jh., solche in öst. Städten (Friesach, Graz, Judenburg, Völkermarkt [1105⫺26 forum Judeorum], Salzburg, Krems, Wien, Wr. Neustadt usw.) seit dem 12. und 13. Jh. Trotz wiederholter gewaltsamer Unterbrechungen bestanden die meisten Gemeinden bis ins ausgehende 15. Jh., in Regensburg bis 1519, in Wien nach ihrer Vernichtung 1420/21 bis 1670 (Lohrmann 1982, 75). Die Juden spielten vor allem im Geldwesen eine für das Wirtschaftsleben bedeutende Rolle, die sich auch in volkssprl. Urkunden niedergeschlagen hat.
5.1.5. Außenbeziehungen und Außenwirkungen Keine dt. Sprachregion besitzt so lange Außengrenzen zu nichtdt. Gebieten wie die bair. Im Norden verläuft die dt.-tschech. Sprachgrenze etwa von Hof (vor 1945 von Karlsbad/Karlovy Vary) bis zur Thaya südl. von Lundenburg/Brˇeclav, daran schließt sich im Osten bis Preßburg/Bratislava die zum Slowak. und bis nördl. Radkersburg die zum Magy. an. Im Süden grenzt das Bair. bis etwa zum Wurzenpaß an das Slow. und dann bis zur Silvretta an rom. Sprachen (Friulan., Ladin., Italien., Bündnerrom.). Zu allen Nachbarn bestanden von Anfang an rege Beziehungen, die sich sowohl auf die dt. wie auf die nichtdt. Sprachen auswirkten. Die Spuren davon haben sich vor allem im Namen- und im Wortschatz bis heute erhalten. In den seit dem 7./8. Jh. eingedeutschten Gebieten zeugt davon die große Zahl von ON slaw. und rom. Herkunft (s. o. 4.3.1., 4.3.2.). Bei den Lehnwörtern sind Reliktwörter, „die beim Sprachwechsel von Gruppen aus der indominanten in die dominante Kontaktsprache übergetreten sind“ (Art. 69, 1. Aufl., Abs. 2.1.1), von den Lehnwörtern aus kulturellem Kontakt zu unterscheiden (so schon Lessiak 1910, 279). Aus den Gebieten der bair.-slaw. Beziehungen sind aus der ersten Gruppe z. B. ostöst. Beier ‘Quecke’ (WBÖ 2, 845 ff., DWA 17; tschech. py´r, slow. pı´r) und Umurke ‘Gurke’ (DWA 17; slaw. *o˛gurek, Steinhauser 1962, 35), kärnt. Köse ‘Heuharpfe’ (Lessiak 1910, 282, slow. koˆza ‘Ziege; Schragen’), Jauk ‘Südwind’ (slow. ju´g ‘Süden’), Jause ‘Vesperbrot’ (slow. ju´zˇina ‘Mittagessen’, zu ju´g; Lessiak 1910, 281, Steinhauser 1962, 86 ff.; erst seit dem 16. Jh. von Wien aus weiter verbreitet) und viele andere zu nennen. Zur zweiten Gruppe dürften, als Bezeichnungen technischer Neuerungen, Anze ‘Ga-
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beldeichsel’ (tschech. slow. ojnice; DWA 8, Steinhauser 1962, 91 f.; Erstbeleg eunzwagen in Wolframs Willehalm 275, 16), bayer. Wajer (woia, woua, woara) ‘Leitseil’ (tschech. vajirˇ; Schmeller 1872, 2, 823, Kranzmayer 1944, 28) und vielleicht Arl ‘einfacher Pflug’ (slaw. *ordlo? Wiesinger 1985b, 167 ff., BWB 1, 559 f.) gehören. Über das ganze Gebiet von Bayern und Österreich mit Böhmen und Schlesien hat sich das schon ahd. belegte Kren ‘Meerrettich’ (tschech. krˇen, Steinhauser 1962, 36 f.) ausgebreitet.
Ein sehr frühes Zeugnis bair.-rom. Sprachkontakte sind die von einem Baiern um 800 in Regensburg aufgezeichneten Kasseler Glossen und Gespräche, die in der z. T. rom. Lautform ihrer Lemmata deutlich Romanen (die Regensburger Walen?) als Adressaten erkennen lassen (Penzl 1985). Am nachhaltigsten ausgewirkt hat sich der bair.-rom. Kontakt freilich an der Südgrenze, in Tirol (zu allen folgenden Beispielen Schneider 1963). Rom. vermittelt sind die z. T. obd. verbreiteten vorröm. „Alpenwörter“ wie Brente ‘Gefäß’ (WBÖ 3, 893 ff.), Zi(e)ger ‘Käse, Quark’, Dachse ‘Nadelzweig, -baum’ (WBÖ 4, 52 ff.), häufiger nur inneralpin, bes. tir. wie Troie ‘Viehweg’, Teie ‘Sennhütte’ (WBÖ 4, 1348 ff.) u. a. Auch die rom. Lehnwörter sind z. T. weit über Tirol hinaus verbreitet (bes. südwestdt.) wie Torkel ‘Kelter’ (lat. torcula), Multer ‘Holzgefäß, Backtrog’ (lat. mulctra, DWA 12), Marende ‘Vesperbrot’ (lat. merenda), Arre, H- ‘Angeld’ (mlat. arrha, WBÖ 1, 352 f., BWB 1, 591 f.), andere bleiben auf Tirol begrenzt wie Wal ‘Bewässerungskanal’ (lat. aquale) oder Granten ‘Preiselbeeren’ (lat. *granita, lad. grane´tas, sekundär in Österreich weit verbreitet, DWA 10).
Wesentlich stärker noch als der Einfluß der Nachbarsprachen auf das Bair. war umgekehrt jener des Dt. über die Sprachgrenzen im Osten und Süden. Das West-Ostgefälle, dem auch das Dt. seinerseits unterlag (Frz.Dt.), war voll wirksam (vgl. Art. 207 [1. Aufl., 1, 901]). Was das Ungar., Slow. und Ladin. anlangt, stammen die dt. Lehnwörter des Mittelalters (nur von diesen ist hier die Rede) weit überwiegend aus dem Bair. (vgl. Art. 206; 207 [1. Aufl. 1, 902], Lessiak 1910, 277 ff.; Kuen 1978, Craffonara 1997, 1391 ff.). Auf das Tschech. haben auch andere dt. Regionen, vor allem die omd., eingewirkt; der Anteil des Bair. steht aber im Mittelalter obenan, z. B. kla´sˇter ‘Koster’, truhla ‘Truhe’, truhla´rˇ ‘Tischler’; nach Österreich weisen mähr. Wörter wie trachtyr ‘Trichter’, ke´l ‘Kohl’ (Trost 1977, 29, 30). Unter den dt. Lehnwörtern, gegen die Johannes Hus polemisierte, ist jedenfalls knedlı´k ‘Knödel’ bair. vermittelt (Trost 1965, 23; vgl. noch Havra´-
2906 nek 1965). Die Hussitenkriege setzten dem dt. Einfluß auf das Tschech. zeitweilig ein Ende. ⫺ Groß ist der Anteil dt. Lehnwörter im Slow. Älteste Entlehnungen reichen bis ins 8. Jh. zurück; nicht wenige Wörter wurden mehrfach übernommen und spiegeln in ihrer Lautgestalt genau die dt. Entwicklungen wider, z. B. sˇ´ıpa ⫺ sˇˆıba ⫺ sˇaˆjba ‘Scheibe’, puˆtla ⫺ pajtel ‘Beutel’ u. a. (Striedter-Temps 1963, XI f.; Kranzmayer 1944, 8 ff.). Ein Gutteil der slow. Handwerkerbezeichnungen stammt aus dem Dt. (Lessiak 1910, 277). Valvasor berichtet im 17. Jh., es gebe in der Krain neben dem Slow. („die rechte crainerische“) und dem Dt. auch eine „aus der Crainerisch- und Teutschen unter einander gemengte“ Mischsprache (nach Striedter-Temps 1963, X). ⫺ Der dt. Spracheinfluß auf Ungarn begann, als der ungar. König Stefan 996 die bair. Herzogstochter Gisela heiratete, und er blieb das ganze Mittelalter hindurch überwiegend einseitig (Art. 206). Bis heute bewahrt die magy. Orthographie mit <s> für den Lautwert [s] die sch-artige Aussprache des mhd.-bair. s. ⫺ Die Einflußnahme des Bair. auf das Dolomitenladin. reicht bis in die Zeit der ersten Kontakte im 7./8. Jh. zurück. Besonders stark ausgeprägt ist dieser Einfluß in Gröden (ca. 13 % dt. Lehnwörter, davon ca. 14 % vor dem 13. Jh. übernommen) und im Gadertal, bedeutend schwächer im Friaulischen (Kuen 1978, 39 f.). ⫺ Neben den direkten Lehnwörtern weisen alle Kontaktsprachen auch Lehnbildungen nach dt. Vorbildern auf. Einflüsse auf Morphologie, Wortbildung und Syntax (Wortstellung) sind sehr viel geringer und meist schwierig nachweisbar, solche auf die phonologischen Systeme sehr fraglich (zum Tschech. vgl. Lamprecht 1965). 5.2. Altbairisch (8.⫺11. Jahrhundert) Zeugnisse der Volkssprache aus ahd. Zeit (Namen, Glossen, Texte) sind aus Baiern nur aus wenigen vornehmlich klösterlichen Schreibstuben überliefert: St. Emmeram-Regensburg, Freising, Tegernsee, Mondsee, Salzburg, Passau, vielleicht Wessobrunn. Die Sprache dieser Zeugnisse unterscheidet sich phonologisch, morphologisch und lexikalisch deutlich vom Ahd. frk. Quellen (aus Fulda, Würzburg, Lorsch, Weissenburg u. a.), jedoch nur wenig und nur graduell vom Altalem. (in reicher Überlieferung aus St. Gallen, der Reichenau und Murbach), und zwar umso weniger, je weiter wir zeitlich zurückgehen. Bair. und Alem. vertreten gemeinsam den Typ des Obd., der vor allem durch die vollständige
XVII. Regionalsprachgeschichte
Durchführung der 2. Lautverschiebung (p/ pp, t/tt, k/kk > f(ff)/pf, z(zz)/tz, hh(ch)/kh; b, d, g > p, t, k) charakterisiert ist. In der Morphologie ist die Endung -in für GDSg. schw. MN gegen frk. -en wichtig, da sie Umlaut bewirkte (z. B. nemin, henin, sonategin ‘des Namens, Hahnes, beim Jüngsten Gericht’). Gemeinsamkeiten prägen auch den religiösen und den Rechtswortschatz, z. B. mit pfaffo ‘Geistlicher, Pfarrer’, tuld(i), dult ‘(kirchliches) Fest, Dult’, mit Prägungen der süddt. Kirchensprache gegen ags. beeinflußte im Frk. wie der wiho atum gegen der heilago geist ‘spiritus sanctus’, armherz gegen miltherzi ‘misericors’, ganada gegen geba ‘gratia’ usw.; aus der Rechtssprache ist vor allem suona, suonen ‘Urteil; richten, verurteilen’ gegen älteres tuom, tuomen und gegen jüngeres frk. irteilen, urteili zu nennen (dazu suonotag(o) gegen tuomtag ‘dies iudicii’; einer älteren, got. beeinflußten (?) Schicht gehört das singuläre stuatago im Muspilli an). Zu beachten ist freilich, daß unsere Kenntnis des bair. Wortschatzes durch die Eigenart der Überlieferung (fast nur kirchliche Textsorten) stark eingeschränkt ist. Weite Bereiche des Wortschatzes, die im Altbair. vorhanden gewesen sein müssen, sind erst seit dem Spätmittelalter überliefert (z. B. die bair. Wochentagsnamen Ertag und Pfinztag). Frühe Unterschiede zwischen dem Bair. und dem Alem. bestehen vor allem im Vokalismus. Generell sind im Bair. altertümlichere Sprachverhältnisse bewahrt, z. B. undiphthongiertes germ. o¯, z. T. oo (coot, alem. guat,, ofrk. guot ‘gut’, kascof ‘schuf’), daneben allerdings auch häufig oa; altes au (calaupa, frk. gilouba ‘Glaube’); nichtumgelautetes a (radia, frk. reda ‘Rede’). Für das Alem. und Südrhfrk. (Otfrid) sind vor allem die ua für germ. o¯ typisch. Im Konsonantismus kennzeichnet das Bair. die konsequentere Durchführung der Medienverschiebung auch bei b, g, in frühen Texten auch im Inlaut (kepo ‘Geber’, manake ‘viele’, almahtico ‘allmächtiger’). Bis zum Ausgang des 9. Jhs. hat freilich auch das Bair. die meisten dieser Altertümlichkeiten aufgegeben und die „gemeinahd.“ Formen übernommen, vermutlich unter frk. Druck. Das Alem. war diesem frk. Einfluß aber jedenfalls stärker und früher ausgesetzt als das Bair. Darin besteht zu Beginn der Überlieferung der wichtigste Unterschied zwischen dem Bair. und dem Alem. (vgl. auch Bergmann/Götz 1998). Vennemann 1989, 21 hält Bair. und Alem. des 8. und 9. Jhs. für „ein dialektal noch kaum differenziertes Oberdeutsch“ (23: „Altbairisch ist Altalemannisch“, mit problematischen Folgerungen für die Ethnogenese der Baiern). Da auch das Langob. in einigen Punkten mit dem Bair. und Alem. übereinstimmt (vor allem im Konsonantismus: Lautverschiebung), ist
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit es naheliegend, für die obd. Gemeinsamkeiten die gemeinsame elbgerm. Grundlage verantwortlich zu machen. Den Abstand des Bair. vom Frk. kann man gut ablesen an den Mondseer Fragmenten (um 810), in denen der Text des südrhfrk. (lothr.?) ahd. Isidor „mehr oder weniger konsequent durch bair. Sprachformen und Schreibungen ersetzt“ wurde (Matzel, VL2 1, 297); auch die Freisinger Abschrift von Otfrids Evangelienharmonie (um 900) wurde baiwarisiert, bewahrt aber viele Charakteristika des südrhfrk. Originals.
Der bayer.-agilolfingischen Eigenständigkeit hat Karl der Gr. ein Ende gesetzt. Aber das bayer. Eigenbewußtsein hat die Katastrophe von 788 überstanden. Bayern wird auch weiterhin als provincia bezeichnet (Spindler 1981, 1, 352 f. [Prinz]). Ein wir-Bewußtsein des Stammes kommt auch in auffällig frühen und mehrfachen Nennungen des eigenen Volksund Landesnamens zum Ausdruck (z. B. peigira, -ai-, peigiro lant Gl. 3, 13, 5; 610, 1.18.19). Die geographischen Glossen der Wessobrunner Hs. (Hs. des Wess. Hymnus) steuern dazu eine stolze, linguistisch freilich unzutreffende Etymologie des eigenen Namens bei: Baucveri … coronati viri (‘gekrönte Männer’) vocantur (Wagner 1987, 524 ff.). Karl der Gr. hat der politischen Bedeutung Bayerns durch die Errichtung eines eigenen bayer. Metropolitanbezirks (798 Erhebung Salzburgs zum Erzbistum) Rechnung getragen. Damit kamen alte Pläne der Agilolfinger (Theodo, Odilo, 716, 739) unter veränderten Vorzeichen doch noch zur Verwirklichung ⫺ wenn auch nicht als eine Rom direkt unterstellte Landeskirche. Die Träger der christlichen Mission in Baiern kamen, wie wahrscheinlich die Agilolfinger selbst, aus (West)Franken: Emmeram (in Regensburg), Rupert (in Salzburg), Korbinian (in Freising) und der historisch gut gesicherte Ire Virgil (in Salzburg). Irische Missionare spielten hier wie bei den Alem. eine wichtige Rolle. Ir. Einflüsse auf die religiöse Sprache (Stützung einer bereits vorhandenen ⫺ got. beeinflußten? ⫺ Terminologie?) sind freilich nicht erweisbar. Immerhin aber gibt es volkssprl. Texte wie die altbair. Beichte und das St. Emmeramer Gebet, die abseits von frk.-karolingischen Traditionen stehen und älter als diese sein dürften; ihr prominenter Platz in der bair. Kirche wird dadurch erwiesen, daß sie den slaw. Freisinger Denkmälern als Vorlage dienten (zuletzt Gusmani 1987). Auch der in Freisinger Hss. des frühen 9. Jhs. überlieferte volkssprl. Priestereid, Oboedienzeid des Neupriesters vor seinem Bischof, ist ein einzigar-
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tiges Beispiel einer eigenständigen kirchlichen Praxis (VL2 7, 827 f.). Bemerkenswert ist auch, daß die einzigen Denkmäler einer christlichen Stabreimdichtung, der Wessobrunner Hymnus und das Muspilli, aus Baiern stammen; freilich ist umstritten, ob sie Zeugnisse heimischer Eigenentwicklung oder ags. Einflüsse sind. Jedenfalls aber stammt das in Fulda aufgezeichnete Hildebrandslied aus Baiern, des weiteren vielleicht aus dem Got.-Langobardischen. Sprachliche Traditionen der heroischen Poesie blieben im Südosten ⫺ und ähnlich auch im as. Norden ⫺ lebendiger bewahrt als anderswo, und sie werden im Hochmittelalter wieder faßbar in der Heldenepik und in der donauländischen Lyrik. Auch der Priestereid enthält übrigens alliterierende Rechtsformeln. Frühe Belege gibt es aus Baiern auch für das mlat. diutiscus ‘volkssprachlich.’ (vgl. Art. 156), aber darin liegt nichts spezifisch Bair. Die allmähliche Entwicklung des Adj. zum Sprachnamen (und vor allem jene des im späten 9. Jh. neu aufkommenden teutonicus) im Ostfrankenreich Ludwigs des Dt. weist gerade über Baiern hinaus. Die zentrale Position, die Baiern und insbesondere Regensburg in der Politik Ludwigs spielte, hat übrigens in der Überlieferung volkssprl. Zeugnisse erstaunlich wenig greifbaren Niederschlag gefunden (Muspilli?, Psalm 138?), im Gegensatz zur rhfrk. Evangelienharmonie Otfrids und vielleicht zum as. Heliand.
Im 10. und 11. Jh. fließen neue Quellen spärlicher, manche Texte wohl dieser Zeit (die z. T. umfangreichen Glaubens- und Beichtformulare) sind erst im 12. Jh. überliefert. Aber die Glossierungstätigkeit hält unvermindert an und führt gerade in diesen Jahrhunderten zu großen Glossenkompilationen (Tegernsee Clm 18140, Clm 19440; Salzburg Vind. 2732; Mondsee Vind. 2723). An der Schwelle von der ahd. zur mhd. Periode steht in Baiern mit dem gelehrten St. Emmeramer Mönch Otloh der erste namentlich bekannte bair. Autor eines volkssprachlichen Textes, eines auch in mehreren lat. Fassungen erhaltenen Gebetes (nach 1067). Die Sprache von Otlohs (autograph überliefertem!) Gebet und jene der ungefähr zeitgleich entstandenen altdt. (Wiener) Genesis, des ersten bedeutenden Werkes der frühmhd. geistl. Dichtung, zeigt zweierlei: Einerseits sind Ausgleichsprozesse innerhalb der ahd. Dialekte deutlich vorangeschritten; Archaismen, die das Bair. des 9. Jhs. kennzeichneten, wurden zum Großteil abgebaut (jetzt z. B. durchgehend uo, ie für germ. o, e¯2; ou, ei für nichtmonophthongiertes germ. au, ai; inlautend b [nur
2908 mehr selten p], g für germ. b, g; überwiegend geblieben ist hingegen anlautendes p sowie ch, kh für germ. k). Ob der Ausgleich auch tatsächlich in der gesprochenen Sprache erfolgte oder ob nur orthographische Anpassungen vorgenommen wurden (z. B. bei ou, ei), läßt sich nicht entscheiden. Andererseits sind die Unterschiede des Bair. nicht nur zum Frk., sondern auch zum Alem. jetzt schärfer ausgeprägt, wie ein Vergleich von Otlohs Gebet mit Texten Notkers des Dt. leicht erkennbar macht. Am auffälligsten an Otlohs Schreibsprache ist der teilweise Kollaps der alten Flexionsendungen. Zwar sind manche vollen Endungen noch recht gut bewahrt (z. B. -o für die 1. P. Sg.st.V., -un in den obliquen Kasus der schw. F) und es erfolgte kein Zusammenfall der alten vollen Vokale in e, wohl aber sind die verschiedenen Vokalzeichen teilweise beliebig austauschbar. In der Inf.-endung -en (schw.V. I, III) steht a, e, i, in -on (schw.V. II) o, e, a, in -an (st.V.) a, e, o; für die 2. P. Sg. Opt. Präs. stehen nebeneinander bidenchist, -est, -ast, gilazzast, -est, im GSg. st. MN. steht -es neben -as, -is (z. B. 6 uppigas unta unrehtes odo unsubras, 61 minas libes), im GDSg. schw.MN das alte bair. -in neben -en, -on, -un (z. B. 26 des leidigin uiantes, 24 des heiligun geistes; 50 in dinemo nemin [mit Umlaut!], 18 minemo lihnamon) usw. (Vogt 1876, 262 ff.). Schon im älteren Bair. wurde in unbetonten Silben a gelegentlich auch dort geschrieben, wo es historisch nicht berechtigt ist. Bei Otloh (in sonst keinem Text so kraß) ist diese Entwicklung so weit getrieben, daß alte Flexionsklassen (z. B. die drei Kl. der schw.V., im Inf. st.schw.V.) nicht mehr unterschieden werden.
Damit weist Otloh deutlich auf die Verhältnisse des Mhd. voraus, auch wenn seine Sprache mit den vielen verschiedenen Endungsvokalen noch gut ahd. aussieht. Ähnliche Sprachverhältnisse hat Vogt 1876, 231 ff. aus dem Reimgebrauch der altdt. Genesis zu erweisen versucht (relativiert von Dollmayr 1903, 56 ff.). Die Hs. (Wien 2721; Schneider 1987, 44: letztes V. 12. Jh.) bewahrt zwar Altertümliches ihrer Vorlage, gehört sprachlich aber doch ins 12. Jh. Ob es im Bair. der ahd. Zeit dialektale Verschiedenheiten gegeben hat, läßt sich der Überlieferung nicht entnehmen. Zwar gibt es natürlich Variation, aber sie läßt sich nicht im Hinblick auf die späteren Dialekte interpretieren. Weite Gebiete (Oberpfalz, Österreich östl. der Enns und südl. von Salzburg) weisen überhaupt noch keine volkssprl. Überlieferung (von ON und PN abgesehen) auf. Bair. kennen wir bis ins 11./12. Jh. nur als punktuell überlieferte Schreibsprache in kirchlicher Bindung.
XVII. Regionalsprachgeschichte
5.3. Bairisch im Hoch- und Spätmittelalter (12.⫺14. Jahrhundert) 5.3.1. Die Epoche vom 11. bis zum 13. Jh. ist in Europa gekennzeichnet durch Aufbrüche in allen Lebensbereichen. Es ist eine Zeit starken Bevölkerungswachstums und einer daraus resultierenden Siedlungsintensivierung, wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs und der Lockerung alter Bindungen und Abhängigkeiten. Die geburtsständische Gesellschaftsordnung (frei⫺unfrei) wird zunehmend durchlässig und durch neue funktionale und berufsständische Hierarchien (milites ⫺ cives ⫺ rustici) ersetzt oder doch bedrängt. Das seßhafte, „schollengebundene“ Bauerntum formiert sich erst jetzt als eigener Stand (ahd. gibuˆr ‘Hausgenosse, „Nachbar“ ’ ist erstmals im Summarium Heinrici [11. Jh.] für rusticus bezeugt [Ahd. Wb. 1, 1519 f.; Wenskus 1975; Rösener 1987, 19 ff.]); nicht wenige Bauern stiegen im 13. Jh. zu beträchtlichem Wohlstand auf und entfalteten ein entsprechendes Selbstbewußtsein (vgl. die polemische Schilderung solcher Verhältnisse aus der Sicht des Adels in der Geschichte von Helmbrecht). Dem Bauerntum steht der Adel mit Einschluß der Ministerialen als durch den Kriegsdienst definierter Stand („Rittertum“) gegenüber, der in den Kreuzzügen religiöse Weihen erhielt (miles Christianus). Seit dem 12./13. Jh. wird das städtische Bürgertum (Kaufleute, Gewerbe) ein wichtiger sozialer Faktor. Dies alles bewirkte einen neuen Stellenwert von „Welt“ und ein neues Selbstwertgefühl des Laientums. Daß diese erste Emanzipation aus kirchlicher Bevormundung mit einer vertieften Religiosität einherging, ist kein Widerspruch. Die Kirche selbst führte tiefgreifende Reformen durch, neue Orden mit starken religiösen Ausstrahlungen weit über den klösterlichen Bereich hinaus (noch im 11. Jh. die Augustiner-Chorherren, im 12. Jh. die Zisterzienser, im 13. Jh. die Bettelorden) formierten sich. Laien konnten auch innerhalb der Orden ihren Platz finden (Reklusen, Konversen), unter denen nur die Melker Inkluse Ava genannt sei. Auf politischer Ebene ist der bedeutendste Prozeß dieser Jahrhunderte in Deutschland die Territorialisierung, die Ausbildung von geschlossenen Flächenstaaten mit eigener Rechtshoheit unter dem Dach des machtloser werdenden „Reiches“. Auch den Königen, die ja gleichzeitig Landesfürsten waren, ging oft genug Territorialpolitik vor Reichspolitik. Innerhalb des alten Stammesherzogtums Baiern ist der älteste und wichtigste Territo-
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
rialisierungsprozeß die Erhebung der karolingischen Ostmark zum Herzogtum Österreich (Privilegium minus, 1156). Seit 1180 gelang den Wittesbachern in dem nun stark verkleinerten Gebiet ihres Herzogtums der Ausbau der Landeshoheit, die, trotz mehrfacher Teilungen zwischen dem 13. und 15. Jh., schließlich doch Bestand haben sollte. Welches politische Gewicht dem Südosten innerhalb des Reiches zukam, zeigt die Geschichte der Habsburger seit 1273 und die Tatsache, daß sich im Ringen um die Königswürde im 14. Jh. der bayer. Herzog Ludwig und der öst. Herzog Friedrich der Schöne einander gegenüberstanden. Auf dem Boden des heutigen Österreich entstanden neben dem ins Frühmittelalter zurückreichenden Herzogtum Kärnten im 12. Jh. aus der Karantanischen Mark das Herzogtum Steiermark, im 13. Jh. das Land Tirol und, als einziges geistliches Territorium, das Land Salzburg. Alle diese Länder bestehen, in ihrem Kernbestand unverändert, als öst. Bundesländer bis heute weiter. Territorialisierung ist ein Prozeß der Regionalisierung. Unter diesem Aspekt kann man auch andere Phänomene wie die Welle der Neugründungen von Städten und Märkten, die Ausbildung des Dorfes und der Gemeinde als Rechtskörper sehen. Die neuen Städte fungierten in Bayern wie in Österreich als wichtige Stützpunkte landesfürstlicher Macht (das Städtewesen in Bayern als „ein Stück dynastischer Territorialpolitik vor allem des herzoglichen Hauses“, Spindler 1988, II, 581 [Volkert]). Wie die Landesfürsten ihre bisherige Mobilität einschränkten und die Verwaltungstätigkeit in festen Residenzen (Landeshauptstädten) konzentrierten, so wurden nun auch die Adeligen insgesamt in Stammburgen inmitten ihrer Besitzungen seßhaft und begannen, den Namen dieser Burg als Beinamen zu führen (Entstehung der Familiennamen). Neidhart (von Reuental?) gibt dem Verlangen nach Sicherheit und Geborgenheit in der sich jetzt auch rechtlich konstituierenden dörflichen Umwelt Ausdruck, wenn er (oder sein lyrisches Ich) sich in seinem Kreuzlied SL 11, 7, 7 aus dem Hl. Land hin heim ze lande ‘zurück ins Heimatland’ wünscht und aus den Erfahrungen der Kreuzfahrt den desillusionierten Schluß zieht (11, 11, 7): nindert waere baz ein man dan heime in sıˆner pharre ‘nirgendwo lebt man besser als daheim in der eigenen Pfarre’. Die Rahmenbedingungen dafür sollten Landfriedensgesetze des 13. und 14. Jhs. sichern, was
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ihnen freilich nur in Grenzen gelang (HRG 2, 1451 ff., bes. 1460 ff.). Im 14. Jh. erschöpfte sich der Aufschwung des 12. und 13. Jhs. und führte in der Mitte des Jhs. zu einer tiefen wirtschaftlichen Krise, die durch Naturereignisse (Mißernten, Pest) noch verschärft wurde. Die Siedlungsexpansion kam um 1300 im wesentlichen zum Erliegen, Hungersnöte und Pest führten zu drastischen Bevölkerungseinbrüchen, die die dichter bewohnten Siedlungen (Städte) zwar am stärksten betrafen, die sich aber auch auf dem Land einschneidend auswirkten (Wüstungsprozesse). Am nachhaltigsten traf es die Siedlungen in Extremlagen (Hochsiedlungen und solche auf schlechten Böden), die zugunsten freigewordener Siedlungen in günstigeren Lagen aufgegeben wurden. Das bewirkte insbesondere in den inneralpinen Rodungsgebieten eine dauernde Rücknahme der Siedlungsobergrenze und der Siedlungsverdichtung von 1300 (für das Land Salzburg vgl. Klein 1965, 33⫺ 113). Aufs ganze gesehen dürften aber die Auswirkungen des „großen Sterbens“ und der Agrarkrise in Bayern und Österreich weniger gravierend gewesen sein als in anderen Gebieten Deutschlands (vgl. die Verbreitungsskizze der Wüstungen bei Rösener 1987, 256). Auf längere Sicht machte der Verzicht auf ungünstige Siedlungslagen und die Zusammenlegung von Klein- und Kleinstbetrieben zu ertragsfähigeren den Weg für eine positivere Entwicklung frei.
5.3.2. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Prozesse des 12.⫺14. Jhs. hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die Entwicklung des Bair. Es erfuhr durch Siedlung und durch die allmähliche Germanisierung Anderssprachiger eine weitere geographische Ausweitung. Die jungen Siedlungsgebiete an der Donau und im Kolonisationsgebiet der Diözese Salzburg (Kärnten, Steiermark) wurden rasch zu Trägern neuer literarischer Entwicklungen (überliefert in den drei geistlichen Sammelhandschriften aus der Zeit um 1200). Vor allem aber gewann die Volkssprache Anwendungsbereiche hinzu, die bisher entweder gar nicht oder nur durch das Lat. besetzt waren. Die höfische Laienkultur des Hochmittelalters brachte eine neue weltliche Literatur hervor, deren Zentren zwar im Westen und Südwesten lagen, die aber auch im Südosten ein kräftiges Eigenleben entwickelte (Heldenepik, donauländische Lyrik, Kleinepik). Recht, Verwaltung und Wirtschaft drängten auf Verschriftlichung, und daran entfiel seit der Mitte des 13. Jhs. ein rasch wachsender Anteil auf die Volkssprache. Für einen immer
2910 größer werdenden Teil der privatrechtlichen Urkunden, für die Landfriedensgesetze, Landesordnungen und Stadtrechte, für Rechtskodifikationen (Rechtsbücher) und für private Aufzeichnungen wurde nun neben und statt des Lat. das Dt. verwendet (als ältestes Beispiel einige dt. Eintragungen im Codex Falkensteinensis von 1166/96 [VL2 1, 1292 f. (Schmidt-Wiegand)], aus dem späten 14. Jh. das Vrbarpuˆchel des Niederbayern Erhart Rainer [Piendl 1969, 193 ff.] und das Regensburger Runtingerbuch). Seit dem 14. Jh. (Johannes von Viktring, Aventin, und so bis ins 18. Jh., z. B. Schottelius 1663, 18; Parnassus Boicus 2, 1724, 193) wird tradiert, bereits König Rudolf habe verfügt, „Edikte und Privilegien in dt. Sprache zu publizieren“ (Wilhelm in Corp. 2, XXVII). Dafür gibt es zwar keine Beweise, wahr ist aber, daß Rudolf eine nicht geringe Zahl dt. Urkunden erlassen hat (z. B. den Bayer. Landfrieden von 1281, Stadtrechte u. a.; Vgl. WMU, Schreiborteverzeichnis 109). Darüber hinaus berichtet Ottokar in der steir. Reimchronik (V. 13032 ff.), Rudolf habe auf dem Augsburger Hoftag von 1275 das Plädoyer von Bischof Wernhart von Seckau für Kg. Ottokar von Böhmen nicht akzeptiert, da er es lat. vorgetragen habe: des rıˆches leienfursten könnten das nicht verstehen (V. 13118, sie sæzen vor dem rıˆch als toˆren unde stumben); diese hätten lebhaft zugestimmt: ‘herre kunic, ir sult uns frıˆen unser alte gewonheit’ (V. 13142 f.). Die Reichskanzlei urkundete zuerst unter Ludwig dem Bayern (1314⫺47) in dt. Sprache (HRG 5, 594).
Für die Lebenspraxis der Laien (aber natürlich auch der Klöster) entstand volkssprl. Fachliteratur von der Human- und Veterinärmedizin über Stein-, Kräuter- und Arzneibücher bis zu Obstkultur- und Kochbüchern, mit fließenden Grenzen zu Zauber- und Segenssprüchen (frühe Texte bei Wilhelm 1960, z. B. Nr. V, X⫺XII, XV, XIX, XX, XXII). Der religiösen Unterweisung und Erbauung dienten wie schon bisher Gebete, Predigtsammlungen und der immer breiter werdende Strom volkssprl. katechetisch-aszetischer Literatur. Natürlich ist all diese Schriftlichkeit eingebettet in lat. Traditionen (Urkundenformular), in lat. Gelehrsamkeit (Artes-Literatur) und Theologie, aber es entwickelte sich rasch ein breites Spektrum von bloßer Übersetzung bis hin zu eigenständigen Formen, in die auch Elemente des mündlichen Sprechens (Rechtssprache; die Predigten Bertholds von Regensburg) Eingang fanden. In den Texten seit dem 13. Jh. wird dialektgeographische Variation auch innerhalb des Bair. wenigstens ansatzweise greifbar. Vor allem ist es jetzt möglich, von den rezenten
XVII. Regionalsprachgeschichte
Dialekten rückschließend und unter Zuhilfenahme von „Fehlschreibungen“ die Ausbildung von regionalen Dialekten zu rekonstruieren. Wenn Versuche, die Entstehung bestimmter Dialektmerkmale zu datieren, immer wieder auf das 13. und 14. Jh. führen, dann ist das gewiß kein Zufall. Die Territorialisierung und Regionalisierung, die zunehmende Ortsgebundenheit auch der Oberschichten schuf die dafür erforderlichen Rahmenbedingungen. Direkte und indirekte Dialektanzeigen weisen natürlich in erster Linie die eher dialektal gebundenen Zeugnisse von weniger versierten Schreibern auf. Recht deutlich abgehoben davon stehen daneben Hss. und Urkunden aus prominenten Kanzleien mit einer „neutral-bair.“ Schreibsprache mit überregionaler Tendenz („Herrensprache“, zuletzt Wiesinger 1996, 48 ff.). 5.3.2.1. Die wichtigste phonologische Veränderung, deren Durchführung und Verbreitung sich an der Überlieferung gut ablesen läßt, ist die Diphthongierung der langen Hochzungenvokale ˆı, uˆ, üˆ/iü zu ei, au, äu/eu (zıˆt, huˆs, hiuser/liute > zeit, haus, häuser/ läut(e), -eu-). Die ältesten Spuren weisen noch ins 11. Jh. (Wessobrunner Predigten; Schatz 1907, 20 f.). Die frühesten ON-Schreibungen mit Diphthonganzeigen stammen aus der 1. Hälfte des 12. Jhs. (11./12. Jh. Troˇn Traun OÖ, 1106 Eıˆtwiggi Eitweg Kä., 1125 Proˇnoˇge Braunau OÖ, 1120/30 Moˇzlich Meisling ˇ rolfismunistiure Aurolzmünster OÖ, NÖ, 1130 O 1137/38 Pielstain Peilstein, 1140/60 Poˇirbach Peuerbach OÖ, 1142/47 Poˇren Michaelbeuern Sbg., 1147 Toˇnisperc Deinsberg Kä. usw.; alle Belege aus dem ANB); sie werden um die Mitte des 12. Jhs. häufiger. Die meisten Belege (nach ANB 1, A-M) stammen aus Ober- und Niederösterreich, wenige aus Kärnten und der Steiermark und nur vereinzelte aus Salzburg und Tirol. Auch aus Bayern dürfte es aus dem 12. Jh. nur wenige Diphthong-Belege geben (z. B. 1159 Loˇterhouen Lauterhofen Opf., 1173 Ceidlarn Zeitlarn b. Regensburg, 1182/83 Stroˇbingin Straubing; Reitzenstein 1986 s. v.). In volkssprl. Texten des 12. Jhs. treten die neuen Digraphen noch sehr sporadisch auf, vor allem in einigen geistlichen Texten aus Seckau (Steer 1983, 26 f.; die Hs. B der St. Lambrechter [r. Seckauer] Gebete [UB Graz 1550] mit fast durchgehenden Diphthongen stammt allerdings nicht aus dem 12., sondern aus dem 13. Jh., vgl. VL2 5, 511 [Masser]), vereinzelt auch in der Vorauer Hs. (Schneider 1987, 40 f.). Die frühen Schreibungen sind noch unsicher und e ambivalent: für mhd. ˆı begegnet , für uˆ , ebenso auch für üˆ, so lange der Umlaut noch nicht bezeichnet wurde (die nicht seltene Schreibung kommt, auch in
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit der selben Hs., für mhd. uo, uˆ, ou, aber auch für u und sogar für das Zahlzeichen v vor; ich habe diese Schreibungen, entgegen dem sonst üblichen Brauch, nicht berücksichtigt, ohne daß dadurch die Beleglage nach Zeit und Verbreitung der Diphthongierung nennenswert modifiziert würde).
Ein gutes Bild des Schreibusus gewinnt man an Hand der dt. Urkunden des 13. Jhs. (aus der zweiten Hälfte, weit überwiegend aus dem letzten Viertel des Jhs.). Weitgehend durchgeführt erscheint die Diphthongierung in den Urkunden aus Niederösterreich, der Steiermark und Kärnten; die Kanzleien in Bayern und Salzburg verhielten sich wesentlich konservativer, Tiroler und westbayer. Urkunden weisen noch fast keine Digraphen auf. Im allgemeinen sind Digraphenschreibungen für mhd. uˆ häufiger als jene für mhd. ˆı (z. B. im Verhältnis 80⫺100 % : 30⫺50 %); vor allem in den Kleinwörtern min, sin, bi, seltener auch bei uf, uz hielten sich die Monographen recht fest. Im ganzen setzten sich die neuen Digraphen im Verlauf der zweiten Hälfte des 13. Jhs. zwar immer mehr durch, aber es gibt Texte mit 100 % Digraphen schon sehr früh (z. B. gleich die älteste bair. Urkunde Corp. Nr. 10 aus Friedersbach bei Zwettl NÖ von 1248), und ebenso solche mit keinen oder wenig Digraphen aus dem späten 13. Jh. (z. B. Corp. Nr. 2679, 2680 aus Pielenhofen Opf. bzw. Fürstenfeld OB von 1297). Das Stadtrecht von Amberg von 1294 (Corp. Nr. 1914) hat fast 100 % Digraphen, eine ein Jahr danach im benachbarten Kloster Kastl geschriebene Urkunde (Corp. Nr. 2159) keinen einzigen (Schulze 1967, 147 ff.).
Bei der Ausbreitung der Digraphen handelte es sich, jedenfalls im Bair., um einen schreibsprachlichen Prozeß, bei dem die öst. Kanzleien (mit Einschluß der steir. und kärnt.) die Vorreiter waren. Nach Ausweis von ONSchreibungen auch in der Opf. (s. o. Lauterhofen, Zeitlarn) müssen sich hingegen die neuen Diphthonge, vielleicht abgesehen von unbetonten Kleinwörtern, bis Ende des 12. Jhs. in der gesprochenen Sprache im gesamten Bair. (vielleicht mit Ausnahme von West- und Südtirol) durchgesetzt haben. Neben der geographischen Variation (Österreich mit der Steiermark und Kärnten⫺Salzburg, Bayern, Tirol) spielt für den Gebrauch der Digraphe das Niveau der Schreibstuben eine wichtige Rolle. Höherstehende Kanzleien wie jene der Stadt Regensburg oder die bischöflichen Kanzleien verhielten sich konservativer als die Schreiber von Einzelurkunden, die auch sonst sprechsprachlichen Formen breiteren Raum gaben.
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Ein gutes Beispiel dafür unter vielen ist die Urkunde einer Frau von Lewenek für den Dt. Orden in Regensburg (Corp. 758 von 1285) mit Digraphen, b- für w-(beil, Hartbeig), we- für be- (weleib), sogar mit dem mdal. ir für er (irbeaigen, im WMU für erbe mit Abl. und Komp. [fast 5000 Bel.] der einzige Bel. mit i-!) u. a. (Reiffenstein 1980, 208 f.).
Soweit die Urkundenschreiber die neuen Diphthonge bezeichneten, schrieben sie e <ei>, selten für ˆı, für uˆ und <ev, eu, æv, aw>, selten für ü, iü. Die literarischen Hss. des 13. Jhs. zeigen teils ein ähnliches Bild wie die Urkunden, teils aber ein offenkundiges Bemühen um eine konservative, relativ überregionale Orthographie (Schneider 1987, 220). Daß dies für Hss. aus der 1. Hälfte des 13. Jhs. gilt (z. B. Clm 4660, Carmina Burana, SGall. 857, Nibelungen B, aus Südtirol? Schneider 1987, 130 ff.), verwundert nicht, daß aber auch niederöst. Hss. wie die Stricker-Hs. A (Wien 2705, Schneider 1987, 177 f., ca. 1260/70), die Riedegger Hs. (Berlin mgf 1026, Schneider 1987, 226 ff.) oder der Cgm 44 (Ulrich von Liechtenstein, Schneider 1987, 230 f.) aus dem ausgehenden 13. Jh. nur wenige Digraphe aufweisen, steht in krassem Widerspruch zum gleichzeitigen Kanzleischreibgebrauch. Freilich lassen sich nicht alle Schreiber literarischer Hss. von diesem Bemühen um eine konservative Orthographie leiten, so etwa der Admonter Schreiber des Cgm 16 (Rudolf von Ems u. a., 1284;) oder jener von Gundackers von Judenburg ‘Christi Hort’ (Wien 15225, letztes Viertel 13. Jh., Steiermark; Schneider 1987, 214 ff.), die dem Usus ihrer Zeit folgten. Es gilt als opinio communis, daß der Ursprungsherd der Diphthongierung in Kärnten und der Steiermark (Lindgren 1961, 20: „auf der österr. Alpensüdseite“) zu suchen sei (Bürgisser 1988, 54 ff., mit Lit.). Der Überlieferungsbefund reicht für eine solche Lokalisierung m. E. nicht aus. Dem öst. Donauraum kommt mindestens die gleiche Priorität und jedenfalls das größere Gewicht zu. Wenn überhaupt mit einem Ausstrahlungsherd der Diphthongierung zu rechnen ist, dann liegt er gewiß im Territorium der babenbergischen Herzöge mit seiner aufstrebenden Metropole Wien und nicht in der steir. oder kärnt. Peripherie, die sich zudem ihrerseits zunehmend auf Wien hin orientierte (Reiffenstein 2000 a). 5.3.2.2. Eine eigene Entwicklung erfuhr im Bair. der alte Diphthong iu. Im normalisier-
2912 ten Mhd. steht sowohl für den Diphthong iu wie für den Umlaut von uˆ mit dem angenommenen Lautwert [ü:], nach alem. Sprachgebrauch ( für den Umlaut von uˆ zuerst bei Notker). Das Bair. (zusammen mit dem Schwäb.) unterscheidet jedoch zwischen umgelautetem iü (z. B. in liute, diutsch) und nichtumgelautetem iu (z. B. in niuwe, ziuge). Nur umgelautetes iü fiel mit dem Umlaut von uˆ in einem Langvokal zusammen und wurde von der Diphthongierung erfaßt. Nichtumgelautetes iu blieb hingegen ein Diphthong eigener Qualität, außerhalb der Reihe ei, au, äu ([ai, au, oü]). In den Urkunden des 13. Jhs. wird diese Unterscheidung zunächst vor allem in bayer. Texten auch graphisch ausgedrückt, vor allem durch , seltener durch u. ä., später und seltener auch in öst.; z. B. Corp. 46 (Regensburg 1259) driv, gvtiv, sinev : lavten; 130 (Regensburg 1269) div, gebivtet, frivnde : he˚vser, hævser; 747 (St. Paul im Lav. 1285) allev dev, gezevge : lævt; 758 (Regensburg 1285) frevnt, allev, zeug : Tautschen, biderlawt; 2598 (Klosterneuburg 1297) dev, gezeugen, Neunczigistem : welæuchten, læute; 216 (Freising 1274) div, gezivge : Lev˚te; 534 ˚ : (Weilheim OB 1282) div, disiv, gezivch, getriw levte; 627 (St. Veit Kä. 1284) geziuˆge, beidiuˆ : leu˚te; 2575 (Steingaden OB 1297) div, nivnzig : lvten usw. Zwar werden die beiden Phoneme in vielen Urkunden (in ca. 40 % der Stichprobe) nicht unterschieden (dann meist einheitlich ev, selten iv) und ist auch die Verteilung von Umlaut und Nichtumlaut nicht ganz einheitlich (vereinzelt æu auch in getriuwelich, niuwelich, niunzic, vgl. WMU s. v.), aber die Tendenz zur graphischen Unterscheidung ist doch ganz deutlich.
Da sich im Lauf des 13. Jhs. die Schreibung eu für nichtumgelautetes iu allmählich durchsetzt, muß sich die Lautqualität des Diphthongen verändert haben (> [eu, eo]; in den rezenten Dialekten [eo, oi, ui]). ON wie Leukental, Leogang, Leoben haben diese Entwicklungsstufe in der Schreibung bewahrt (mdal. Aussprache mit [-oi-]). Mit der Diphthongierung hat die Veränderung von iu nichts zu tun. 5.3.2.3. Der aus ˆı entstandene Diphthong ei ist mit dem alten ei (< frühahd. ai) nicht zusammengefallen (daher fehlen auch entsprechende Reimbindungen). Schon etwas vor dem Auftauchen der neuen Digraphen kommt im Bair. für mhd. ei die Graphie ai (wieder?) auf (stain, zwai, brait usw.). Sie bleibt bis ins 18. Jh. ein Kennzeichen bair. (und schwäb.) Texte.
XVII. Regionalsprachgeschichte Das Vorkommen von ai korreliert recht deutlich mit der Bezeichnung der neuen Diphthonge: wo zeit, weit, mein geschrieben wird, dort steht auch meist brait, gesait ‘gesagt’, stain usw., wo noch die Monographen vorherrschen (zit usw.), da bleibt man auch meist bei ei für den alten Diphthongen; die graphemische Opposition ist, ähnlich der von eu : æu, einseitig aufhebbar, d. h. für mhd. ei kann auch ei geschrieben werden, nicht aber ai für mhd. ˆı (zum Konzept der einseitig aufhebbaren Opposition vgl. Moser 1977, 58). Mhd. ei (bair. ai) hat sich im 13. Jh. zu [oa] entwickelt. In der Schreibung findet das allerdings so gut wie keinen Niederschlag; die Ausnahme bildet eine Bozener Urkunde eines ital. (Tridentiner) Kanzlisten von 1224: in domo Concii Moasari (Stolz 1927⫺34, 3/2, 3, Nr. 14 [5, Nr. 23 Berchtoldus Maisarius, ON Mais bei Meran]). Der Lautwert [oa] für wird auch durch inverse Schreibungen für /uo ⫹ Nasal/ (zu [oa] gesenkt) und für /oˆ / (sbair. > [oa]) bestätigt: 1298 Chaincii ‘Kunz’, 1321 Jays ‘Jos(t)’ (< Jodocus), häufiger im 15./16. Jh. (Reiffenstein 1995, 301).
Die neuen Diphthonge aus mhd. uˆ, üˆ werden in der Schreibung meist nicht von den Entsprechungen für mhd. ou, öu unterschieden (gelegentlich begegnet daher auch vch ‘ouch’). Auch die Entwicklungen in der gesprochenen Sprache waren hier weniger einheitlich als bei ei/ai. In den konservativeren rezenten Dialekten bleiben die beiden Phoneme allerdings meist geschieden (zur Entwicklung von mhd. ou, öu s. u. 5.3.2.4.). 5.3.2.4. Ein wichtiges Merkmal des Gesamtbair. ist die Entwicklung des Sekundärumlautes mhd. ä (mit æ, dem Umlaut von aˆ, der mit ä zusammenfiel). Im 12. Jh. setzen, zunächst noch vereinzelt, æSchreibungen ein, z. B. 1127 Pæpingin ‘Pabing’, Pfaefingen ‘Pfaffing’, in der Vorauer Hs. bræhten, geslæhte, tægelich usw. Daneben steht weiterhin a (d. h. Nichtbezeichnung des Umlautes) und auch e, das sonst die Reflexe von mhd. e, e¨, eˆ bezeichnet. Signifikant ist die Unterscheidung von ä, æ (graphisch u. ä.) von den anderen e-Lauten, die in den bair. Mundarten, im Gegensatz zu den alem. und frk. Nachbarmundarten, bis heute gilt. Auch hier besteht allerdings graphemisch eine einseitig aufhebbare Opposition: für ä kann zwar neben auch <e> geschrieben werden, nicht aber usw. für e, e¨, eˆ (Löfstedt 1944, 48 ff.; Reiffenstein 1995, 301 f.).
Als Lautwert des Sekundärumlautes ist zunächst [ä] anzusetzen, das seit dem 12./13. Jh. zu „hellem“, überoffenen [a] gesenkt wurde (keine Entpalatalisierung, so Löfstedt 1944, 49, oder gar Rückgängigmachung des Umlautes!). Lediglich einige alte südl. Sprachin-
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
seln (zimbrische Dialekte, Eggental, Zarz in Slowenien) sind von dieser Neuerung nicht erfaßt worden (dort /ä, æ/ als [i] erhalten). Bezeugt wird der Lautwert [a] durch inverse Schreibungen für /ou, öu/: da sich diese Diphthonge (und regional auch [ai] < ˆı, üˆ, ei < egi) im 13. Jh. ebenfalls zu [a] entwickelten, konnte usw. auch zur Bezeichnung dieser Phoneme verwendet werden, selten auch umgekehrt <ev, ei> für ä, z. B. 1289 Meusendorf, 1296 Maessendorf Massendorf NÖ (zu slaw. *Mojisˇ PN), 1208 Vowendorf 1214 Vewendorf, 1354 Vaendorf Fahndorf NÖ (zu slaw. Boj, Bogъ PN), 1136 Friheim, 1348 Freyhaim, 1393 Fräheim Fraham OÖ u. ö. (Reiffenstein 1995, 302); umgekehrt 1170 Flandorf, 1258 Flewendorf Flandorf NÖ (zu Flano PN), 1209 Wemprichesdorf, 1230 Weinprichsdorf Wampersdorf NÖ (zu Wäntrich PN) (Schuster 1994, 29 f. mit weiteren Beisp.), 1270 Monteuz Matatz Südtir. (-atsch < rom. -aciu; Finsterwalder 1978, 126).
5.3.2.5. Die Bezeichnung der Umlaute mhd. ö, ü, æ, üe, vereinzelt schon bei Otloh, im 12. Jh. aber noch ganz sporadisch, nimmt seit dem 13. Jh. zu, ist aber zunächst noch sehr ambivalent und bleibt bis ins 16. Jh. unsystematisch. Kennzeichnend vor allem für das Mbair. ist nicht nur für den Umlaut von /o, oˆ/, sondern auch für nichtumgelautetes oˆ z. B. in groˆz, loˆnen, koˆr(herre), noˆt(durft, -numft), noˆtic, toˆt u. a., selten auch für o vor r, h in dorf, korn, morgen-, tohter, aber auch vereinzelt in got[eshuˆs]), vgl. WMU s. v. Zweifellos markiert die von [o] abweichende palatovelare Lautqualität des oˆ, deren Reflexe sich in den Dialekten bis heute bewahrt haben (in den konservativsten Dialekten immer noch in palatalisierten Varianten), und zwar als Diphthonge vom Typ sbair. oa, nord- und westmbair. ou, im oö. Kernland (und relikthaft in NÖ) eo, oi. In den Hss. finden diese dialektalen Diphthonge praktisch keinen direkten Niederschlag, abgesehen von einigen südtir. Urkunden von ital. Schreibern (z. B. 1242 Oberpoazen, 1249/63 Noanarius, 1229 Sroater [1200 Srotare]; Stolz 1927⫺34, 3/2, 5, Nr. 21, 170, Nr. 8, 10, Nr. 48, 4, Nr. 15, 2, Nr. 4). Lediglich eine von Wien ausstrahlende oberschichtige Neuerung, der Zusammenfall von /a, aˆ/ und /oˆ/ in [a˚, c], findet seit dem späten 13. Jh. breiteren Eingang in die Schrift ( ‘groß, Not, Tod’), vor allem in öst. Hss. (Kranzmayer 1950, 80 und Anm. 71).
Die Entrundung der ö-, ü-Laute, die seit dem 13. Jh. erfolgte, findet in den Hss. erst seit dem 14. Jh. einen eher geringen Niederschlag (z. B. 1297 GastÁvn, 1326 Kastaeun, 1303 Kastein, 1346 Gastein Gastein Sbg.; vgl. auch Wiesinger 1996, 62 f.).
2913
5.3.2.6. Im 13. Jh. erfuhren mhd. a, aˆ im Bair. wie in anderen dt. Mundarten (nicht im Alem., dort nur aˆ) eine Hebung („Verdumpfung“) zu [c, o]; lediglich die im 12. Jh. begründeten zimbrischen Sprachinseln haben diesen Lautwandel nicht mitgemacht. Die bair. Schreibsprache bezeichnet diese veränderte Lautqualität im allgemeinen nicht. Vielmehr wird zum graphischen Zeichen für den Lautwert [c] (das überoffene [a] wird durch bezeichnet, s. o.). Wenn dennoch Schreibungen wie pforrer, wogner, weıˆnochten, ochzigsten, monet (hingegen fast nur an(e) ‘ohne’) nicht ganz selten sind, dann verweisen sie deutlich auf mdal. Interferenz. Daß vor allem in Mittel- und nordbair. Mundarten die Entsprechungen von mhd. a und aˆ auch nach der Dehnung von a qualitativ weitgehend geschieden blieben (aˆ > mbair. [o], nbair. [cu]), ist der schriftlichen Überlieferung nicht zu entnehmen (bessere Aufschlüsse erlauben Reimuntersuchungen, vgl. Wiesinger 1996, 70 ff.). Dies ist im Hinblick darauf bemerkenswert, daß die graphische Bezeichnung der gleichen Diphthongierung von aˆ > [cu] im Schwäb. ein Kennmerkmal schwäb. v Texte ist (). Hingegen wird der regionale (und umgangssprachliche) Zusammenfall von o und a vor r häufig bezeichnet (margen, sarig, darf ‘morgen, Sorge, Dorf’ usw.).
5.3.2.7. Im Nebentonvokalismus setzte sich die Schwächungstendenz fort, die im Spätahd./Frühmhd. zum weitgehenden Zusammenfall der unbetonten Vokale in e geführt hatte, und bewirkte nun die völlige Tilgung dieser Vokale. Ausgangsherd der Apokope (Lindgren 1953) und der Synkope (z. B. Corp. 10: vergich an disem prif, leut, pruk, chirch, diser sach gib ich usw.; gwer(schaft), gwizzen, gotshaus usw.; vgl. WMU) ist seit dem frühen 13. Jh. das Mbair., von wo sie sich seit dem 14. Jh. ins Ofrk. und Schwäb.Alem., später bis ins Mfrk. ausbreiteten. Trotz zeitlicher und (eingeschränkter) dialektgeographischer Parallelen zur Diphthongierung bestehen sicher keine kausalen Zusammenhänge zwischen diesem Lautwandel und der Apokope. Konservative sbair. Mdaa. haben sich ihr bis heute widersetzt. Von früh an gibt es auch hyperkorrekte Schreibungen („falsche“ Restitutionen), in denen sowohl Unsicherheit wie Normbewußtsein zum Ausdruck kommt (Corp. 10, 32 an ovf den tode nicht). Manche dieser epithetischen -e wurden später feste Konvention, so im Imp. und in der 1.3.P.Ind. Prät. st.V., wo sie vor allem im 16.⫺18. Jh. Teil der obd. Norm wurden (z. B. Corp. 938, 8 ich
2914 gabe, 31 dv der preife (!) gescriben warde; 2667, 15 als er starbe; vgl. Lindgren 1953, 203 f.). Im gesamten Bair. hat sich -ære (z. B. in burgære, munzære, unterschieden von -er z. B. in vater) gut erhalten. Die mundartnahe Regensburger Urkunde Corp. 600 erweckt allerdings den Verdacht, daß häufig auch nur „Papierform“ gewesen ist: zu Beginn des Textes steht in konservativer Orthographie Albreht der wagenær, ein paar Zeilen weiter aber die sprechsprl. Form wogner. Mit der Schwächung des vortonigen e- im Präfix er- hängt wahrscheinlich auch die Entstehung von der- zusammen. Die plausibelste Erklärung ist jedenfalls die einer phonetischen Stützung des silbischen r (Zungenspitzen-[r]) durch d- (Ahlde´n 1953, 138 ff.). Nach ganz vereinzelten Vorläufern im 12. Jh. werden die Belege in der zweiten Hälfte des 13. Jhs. etwas zahlreicher, z. B. derbarmen, dersehen, derzücken u. a. in literarischen Hss. des 13. Jhs. (Ahlde´n 8 ff.). Auch die Urkunden des 13. Jhs. enthalten einige Belege (Erstbeleg in einer Urkunde aus Judenburg 1286, Corp. 840, 37 dertailen, ferner Corp. 1617, 13 Kl. Engelthal shol ir der vollet werden, 3044, 14 an sente Panthaleons tage, do di juden zv Babenberch [Bamberg] wurden derslagen usw.). Häufig begegnet der- vom 14. bis ins 16. Jh. Ausgangsgebiet ist zweifellos das Bair. (vielleicht das Sbair.?), von wo sich der- ins Ofrk. und Md. ausbreitete. Auffällig sind einige Belege aus dem Schwäb. (Corp. 2050, 2399 Augsburg, 3308 Ulm, 3300, 1444 Württ.), wo der- später nicht mehr üblich ist. Im Bair. hat das Präfix mdal. und umgangssprl. seinen festen Platz bis heute (WBÖ 4, 1732 ff.).
5.3.2.8. Über die Dehnung der alten Kurzvokale in offener Silbe lassen sich der schriftlichen Überlieferung keine hinreichend brauchbaren Informationen abgewinnen. Zwar ist zuzugeben, daß die von den Schreibern verwendeten Akzente (vor allemˆ) Vokallänge anzeigen konnten. Lessiak (1908, 45 f. u. ö.) hat auf solche Schreibungen in Kärntner Urkunden des 12. Jhs. hingewiesen, die Dehnung vor allem von Kurzvokal vor r nahezulegen scheinen. Aber diese Akzente stehen zu selten und zu unsystematisch, als daß aus ihnen ohne fundierte Untersuchungen zuverlässige Schlüsse gezogen werden dürften; zudem erscheinen sie gelegentlich auch dort, wo sicher Kürze vorliegt (z. B. Chraˆft Lessiak 1908, 247; mit praˆnte Uminsky 1975, 165, in der gleichen Regensburger Urkunde Corp. 3527 vereinzelt auch über Endungs-e, phenningeˆ, schillingeˆ, nicht aber über den alten Langvokalen). Die seltenen Akzentschreibungen reichen nicht aus, um die Hypothese einer frühen Dehnung im (Süd-?)
XVII. Regionalsprachgeschichte
Bair. und der dadurch bewirkten Diphthongierung (als phonologischen Schubs) zu tragen (so Penzl 1974, 355; skeptisch dazu auch Bürgisser 1988, 10 f. mit Lit.). Wichtig ist, daß in den meisten bair. Mundarten auch nach der Dehnung die qualitativen Unterschiede zwischen den gedehnten und den etymologisch langen e-, o-, a-Lauten bewahrt blieben. 5.3.2.9. Im letzten Viertel des 13. Jhs. treten in bair. Urkunden Sproßvokale in Konsonantenverbindungen mit r, l auf, z. B. im Landfrieden von 1281 (Corp. 475): chirichgeriht, scherigen, porige Bürgen, voligen, dvrih, pvrigschaft, bevilicht befiehlt, pvrig, herwerigen herbergen, e vor vorihten aus Furcht, fvrichtet, dvrichvart. Als Hauptverbreitungsgebiet läßt sich deutlich das Mbair. von Wien bis Niederbayern ausmachen. Im Sbair. (Steiermark, Kärnten, Tirol) einerseits wie in Regensburg andererseits sind Sproßvokale selten, in der Überlieferung der ON begegnen sie vor allem im 14./ 15. Jh. (z. B. -perig), außerhalb des Bair. fehlen sie im 13. Jh. fast völlig. Zum alten Verbreitungsgebiet stimmt, daß Sproßvokale auch in den rezenten Dialekten auf mbair. Gebiete beschränkt bleiben (besonders in Teilen Oberösterreichs und im sbg. Flachgau). Ob die spätmhd. Sproßvokale eine direkte Fortsetzung der unter durchaus gleichartigen Bedingungen entstandenen ahd. Sproßvokale darstellen, muß offen bleiben. Zwar kennt sie die Überlieferung des 12. Jhs. nicht mehr und ist an die Stelle der alten -a-, -ujetzt einheitlich -i- (-e-) getreten. Aber das beweist noch nicht, daß die Sproßvokale nicht in den Dialekten weitergelebt und im 13. Jh. wieder neu in die Schrift eingedrungen sein können.
5.3.2.10. Andere Lautwandelprozesse treten in der Überlieferung seltener auf und waren in ihrer Geltung wahrscheinlich immer dialektal gebunden (wie oben schon die Reflexe für mhd. oˆ). Aus dem Vokalismus sind z. B. Dehnungen und Diphthongierungen von mhd. i anzuführen, am häue figsten vor r (ier, mier, -ı- WMU 2, 90 wier), vor h (geschieht u. ä. WMU 1, 666, Corp. 2702, viech Corp. 67), selten vor d, t (schiedung Bürgisser 1988, 95, Corp. 1071) und Nasalen (z. B. iem Corp. 288, 625). Diese Diphthonge werden auch durch den Reimgebrauch mbair. Dichter erwiesen (Kranzmayer 1950, 86; Wiesinger 1996, 98). In rezenten mbair. Mdaa. sind sie z. T. bis heute bewahrt (Kranzmayer 1956, 40 ff.).
Im Konsonantismus ist die wichtigste Veränderung die Schwächung der nichtgeminierten postvokalischen Fortisverschlußlaute (Konsonantenlenierung; Reiffenstein 2002 a) im
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
Mittel- und Nordbair. Ihre Anfänge liegen im 12. Jh. In die Schreibung drang sie nur ausnahmsweise ein, am ehesten in ON und in etymologisch undurchsichtigen Wörtern. Frühe Belege sind 1130 Badingen (1122⫺47 Battingen Pading b. Vöcklabruck OÖ (zum PN Bato, AdNB 1, 59), 1230/40 Widintal (147/67 Witintal) Weidental b. Lamprechtshausen (Sbg.), einige Male midichen ‘Mittwoch’ für mitichen, eine gekürzte Form von mittewoche (Corp. 869, 1941, N425, wohl nur zufällig alle Sbg., sonst noch Augsburg und Reutlingen; WMU s. v.), friderichi sadelchneht Corp. 2727, 2728 (aber friderich satelchneht Corp. 2744), Raidenhaslach Raitenhaslach Corp. 3310. Im 15. Jh. begegnen solche Schreibungen etwas häufiger (Reiffenstein 1995, 302), „phonetische“ Schreibungen wie Ränsches neben Rötensches Rettenschöß (U. Inntal; Finsterwalder 1978, 120 f.) bleiben aber die Ausnahme. Die in den modernen Mundarten mit der Lenierung gekoppelten Quantitätsverhältnisse (Dehnung vor Lenis, Kürzung vor erhaltener Fortis aus Geminate, z. B. we:da, muada ‘Wetter, Mutter’; schlcffm, schtrcssn ‘schlafen, Straße’ fanden in der Schreibung höchstens ansatzweise Ausdruck (Wiesinger 1996, 148 ff.). Weitere Konsonantenschwächungen im Mittelund Nordbair. sind in der Überlieferung überwiegend nur ausnahmsweise zu belegen. Besonders auffallend ist das hinsichtlich der Liquidenvokalisierung (ein später Beleg: 1247 Chralspach [zu slaw. kral], 1506 Croißbach, umgedeutet zu Krois ‘Krebs’, heute Groißbach NÖ; Schuster 1990, 2, 160). Im Nord- und Westmittelbair. ist, wie in anderen dt. Mdaa., -h- in der Lautgruppe -ht geschwunden ([kne:d, nc:d, liamessn] ‘Knecht, Nacht Lichtmeß’), heute freilich, von ned ‘nicht’ abgesehen, so nur noch in Restgebieten nachweisbar (Kranzmayer 1956, 92; Reiffenstein 1960, 474 f.). In den Urkunden des 13. Jhs. finden sich Spuren dieses Schwundes sehr selten (chnet(t)e Corp. 989 Raitenhaslach OB, 1475 Regensburg/Mühldorf, verschrieben chente 1033 Altenhohenau OB; lithmesse 2159 Kastl Opf.), häufiger alem. Ein deutliches Indiz für den h-Schwund sind inverse Schreibungen für -ried ‘Rodung’ in ca. 50 opf. ON (zwischen Nürnberg und Weiden) mit hyperkorrekter Restitution des -cht: Ermersricht, Etzenricht, Halmesricht usw. Die ältesten Belege dieser Schreibung stammen aus dem 12. Jh., z. B. 1129 fu˚rhenriht Fürnried (Schwarz 1960, 133 f.; Reiffenstein 1995, 302; zu vergleichbaren appellativischen Bildungen wie Feicht ‘Vitus’, knichtl ‘Knüttel’ usw. vgl. Kranzmayer 1956, 92; Reiffenstein 1960, 474). Nur aus den rezenten Mundarten (Opf.) und aus „falschen“ Rückbildungen läßt sich der zweifellos alte Schwund von -h- in der Lautgruppe hs erschließen
2915
(Kranzmayer 1956, 92 f.). Die schon spätahd. Nebenform wahs, wähse (mdal. [waks]) neben etymologisch richtigem was ‘scharf’ (schon bei Williram, in den Windberger Ps., vgl. Lexer 3, 700; Schmeller 2, 839 f.) gehört hierher. Die Schwelle zu den Schreibsprachen hat der h-Schwund vor t, s ebenso wie die Konsonantenlenierung im Bair. nirgends überschritten.
Deutliche Spuren hat die Schwächung (Spirantisierung) des zwischenvokalischen -bund die Entwicklung des anlt. w- hinterlassen. Während im Anlaut für mhd. b weiterhin die pSchreibung überwog, hatte sich im Inlaut schon seit dem 11. Jh. wieder durchgesetzt. Seit dem 13. Jh. findet sich dafür nicht ganz selten , z. B. awer, awent, beleiwen, piderwe usw. für aber, aˆbent, belıˆben, biderbe, in manchen Wörtern auch in der Kompositions- oder Ableitungsfuge, vor allem in erwære, -ig, fvrwaz, gewurt, herwerg, Vollständig durchgeführt erscheint der Ersatz von -b- durch -w- z. B. in Corp. 3062 (Zwettl 1298): lewent, (ge)hawen, -halwen, (aufge)gewen, erwen ‘Erben’, lowe wir, selwer, Liewenberch, ower-chelner ‘Ober-’, ewenung ‘Ebnung, Schlichtung’,. Komplementär dazu begegnet für -w-, z. B. in ebig, ebichlichen, gerv˚becliche, in geruebter gewer ‘in unbehelligtem Besitz’, gevnrv˚eben ‘behelligen’ usw. Auch die für w- im inneren Morphemanlaut e (antbverten, ebenbeyhtag ‘Neujahrstag’, erberben, gebinnen, gegenburtig, geberft usw.) könnten als inverse Schreibungen und nicht als Direktanzeigen zu verstehen sein. Diese Erklärung ist aber bei den etwas jüngeren Schreibungen mit im absoluten Anlaut (z. B. basser, belcher, bildprÁt z. B. bei Oswald von Wolkenstein Hs. c; Weinhold 1867, 124) nicht möglich. Da auch alle alten bair. Sprachinseln von Budweis, Mähren und der Slowakei bis nach Oberitalien (Zips, Dt. Pilsen, Zarz, Gottschee, Zimbern u. a.) b für w sprechen/sprachen, hat man mit E. Schwarz (1934, 353 ff.; vgl. auch Schwarz 1950, 100 ff.; Schwarz 1957, 191 f.) mit einem bair. Lautwandel von w > b zu rechnen (so auch Hutterer 1991, 51 f. gegen Kranzmayer 1956, 74 f., der die b für fremdsprachige Substitutionen hielt). Das Bestehen einer Anlautopposition /b- : p-/ wird auch dadurch erwiesen, daß im vortonigen Präfix be- und in einigen „Kirchenwörtern“ (Bischof, Bibel, benedeien, Hl.-Namen wie Barbara, Balthasar, Benedikt) <w-> für b- geschrieben werden konnte, z. B. weleiben, wenant, welæuchten, werait usw., wischof (Corp. 690. 1572. 2430), Warbara, Walthasar usw. (Weinhold 1867, 140). Da es nur einen ererbten labialen Verschlußlaut gab () und da anlt. w- offenbar als [b] o. ä. ausgesprochen wurde, konnte diese sth. Entsprechung entweder mit dem ambivalenten oder mit <w> bezeichnet werden. In der Weiterentwicklung wurde [b] freilich überwiegend (seit dem 16. Jh.?) durch bilabiales [w] ersetzt (außer in den Sprachinseln, s. o.). Belege für die <w/b>-Vertauschung finden
2916 sich im ganzen bair. Sprachgebiet, gehäuft im Mbair. Allerdings steht überall neben und neben auch , entsprechend auch in den meisten rezenten Mundarten. Nur in PN hält sich W- besser (Warwa, Wawi u. ä. Barbara, Waltha´user Balthasar, Wenedikt Benedikt, WBÖ 2, 313 f., 152 f., 999 f.; zu be- vgl. ebda 745 ff.).
5.3.2.11. In der Flexionsmorphologie verhält sich das Bair. im ganzen konservativ. In der Pron.- und Adj.-Flexion ist -iu ( u. ä.) gut erhalten (ähnlich wie im Alem.), gelegentlich über den ursprünglichen Gebrauch (Instr.Sg. MN, N.Sg.F, NA.Pl.N) hinaus auch in den A.Sg.F und in den NA.Pl.MF eingedrungen. Fast nur im Bair. ist der Instr. diu in festen Präp.-Ausdrücken (mit alliu diu, naˆch diu u. ä.) in den Urkunden des 13. Jhs. bewahrt, z. B. mit ellev dev, daz ich da han (WMU 1, 389 f.). Bis in die rezenten Mundarten sind Verbindungen mit dem Instr. von wer lebendig geblieben, vor allem ze wiu ‘warum’ (mdal. [tswoi, tswe]; Schmeller 2, 826). Gelegentliche Fehlschreibungen mit -en statt -em für den D.Sg. MN (z. B. Corp. 758 tun chunt an dissen brif) weisen auf den später sehr häufigen Zusammenfall der beiden Endungen in -en voraus. Eine interessante Reaktion auf diesen Zusammenfall ist die hyperkorrekte Übertragung der Pronominalendung -em in die schw. Substantivflexion: z. B. Corp. 1938 von vnserem herrem, 621 zu rehtem aigem, 627 dem schenchem, 1735 dem herzogem, auch bei PN N189 Dieterichem, 3211 Friderichem usw. Besonders häufig ist der Titel herm vor PN (vgl. auch Reiffenstein 1980, 206. 208. Anm. 6; Bürgisser 1988, 128 f.). Nach dem WMU finden sich Belege weit überwiegend im Bair., selten in Augsburg und im Alem.
In der Verbalflexion bewahrt das Bair. gut den Vokalwechsel im Ind. Präs. der st.V. (Sg. wirfe, -st, -t- Pl. werfen, -t, -ent; ziuhe ⫺ ziehen usw.) und den Dreiformenplural im Ind. Präs. (machen, -(e)t, -ent), gegenüber Vereinfachungen im Md. und im Alem. Eine Kennform des Bair. ist -und(e) im Part. Präs. (prinnunde, weinunde, seit dem 12. Jh., Weinhold 1867, 294, 311), die aus der 2. Kl. schw.V. (ahd. -oˆnti) auf alle anderen Verbklassen übertragen wurde. ⫺ Schließlich ist im 13. Jh. der pluralische Gebrauch der alten Dual-Pron. der 2. P. ez, enk ‘ihr, euch’ aufgekommen. Die frühesten Belege finden sich bei dem Wiener Jans Enikel Ende des 13. Jhs. (selten und meist noch in deutlich dualischer Funktion, z. B. Weltchr. V. 2024 ez beidiu, Fürstenbuch V. 1943 zwischen
XVII. Regionalsprachgeschichte enk beiden; Hss des 14. Jhs.) und in der steir. Reimchronik Ottokars (z. B. V. 52073 ff. spraˆchen zuo den kristen: ‘ez wænet enc hie fristen / enkern got Jesum: / der mac enc dhein frum / mit sıˆner helf gesıˆn; Hss. des 15. Jhs.). Es ist denkbar, daß der Zusammenfall von ir und er in unbetonter Stellung (mcchtar ‘macht ihr / er’) die Voraussetzung dafür schuf, daß das Dualpronomen die Pluralfunktion übernahm (Homonymenflucht, so Kranzmayer 1954, 252 ff.). Der Gerbrauch von eß, enk muß immer dialektal gebunden gewesen sein; in literarischen Hss. und in Urkunden (Erstbeleg 1314, Schmeller 1, 110) kommen diese Formen sehr selten vor (neben Enikel und Ottokar vereinzelt beim Teichner, bei Vintler u. a.; die weitaus meisten Belege bietet die baiwarisierte „Mischsprache“ [so Ruh 1984, 344] von Wittenweilers Ring! Fehlt hingegen z. B. bei Oswald von Wolkenstein). Im schriftlichen Gebrauch ist überall ir, iuch die Regel, in manchen sbair. Mdaa galt es noch bis ins 20. Jh. als Höflichkeitsform. Auch der dualische Gebrauch von ahd. *ez, *enk muß auf die Dialekte beschränkt gewesen sein; anders ist jedenfalls das völlige Fehlen in der Überlieferung nicht verständlich.
Seit dem 14. Jh. hat sich das pluralische eß, enk in der gesprochenen Sprache im gesamten bair. Sprachraum durchgesetzt und ist zu einer der wichtigsten bair. Kennformen geworden. In den Mundarten ist es bis heute lebendig. 5.3.2.12. Die Regionalisierung macht sich natürlich auch im Wortschatz bemerkbar, nicht zuletzt in der Zunahme von Komposita mit lant-, landes- (z. B. landesgewonheit, -site, -reht usw.), besonders bair., z. B. landesherre, -schirm, lantschirm, -schrıˆbære, -teidinc u. a. Unterschiede zwischen Österreich (NÖ, Steiermark, Kärnten) und dem übrigen bair. Gebiet treten jetzt deutlicher zutage. Die alten bair. Wochentagsnamen (s. o. 4.3.3.) Ertag ‘Dienstag’ (er-, eri-, erch-; älteste Belege erg- Corp. 109 aus St. Georgenberg/ Tirol 1267 und bei Berthold von Regensburg 54, 16; Belege schon aus dem 12. Jh. jetzt bei Wiesinger 1999, 505 f.) und Pfinztag ‘Donnerstag’ werden erst jetzt greifbar. Sie gelten im gesamten bair. Gebiet. Für den Mittwoch ist vor allem im Mbair. Mitich(en) verbreitet. Auch einige kirchliche Festtage tragen Bezeichnungen, die ausschließlich oder weit überwiegend aus dem Bair. belegt sind, so der Ebenweihtag ‘Neujahrstag’, der Berchttag ‘Epiphanie, Dreikönigstag’ (nur bair.; Corp. N340 aus Kärnten belegtes perchteltag ist heute noch die spezifisch kärnt. Wortform) und der Antlaßtag ‘Gründonnerstag’. Lediglich antlaztac ist schon im Vorauer Moses
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
(12. Jh.; Diemer 57, 2) belegt, die anderen Wörter seit der 2. Hälfte des 13. Jhs. Häufig halten sich im Bair. alte Wörter, die anderswo untergegangen sind. Ich zeige das an den Beispielen Leit ‘(Obst-)Wein’ und Kone ‘Ehefrau’. Beide gemeingerm. Wörter sind im Ahd. ohne erkennbare regionale Einschränkung gut bezeugt (daß sie außer in Glossen in bair. Texten nicht belegt sind, kann nur Zufall sein). Die weitere Entwicklung verläuft landschaftlich unterschiedlich. Das Simplex lıˆt, leit ist nur noch vereinzelt im 12. und 13. Jh. (Krone) in md. und bair. Texten verwendet und verschwindet dann aus dem Gebrauch. Hingegen leben im Bair. mehrere Komposita mit leit- bis in die Neuzeit, z. T. bis heute weiter. Schon in ahd. Glossen kommt litgebe ‘tabernarius, Schenkwirt’, vor (in zwei Wiener Hss. des 12. und 13. Jhs.). Seit dem späten 13. Jh. (Seifrid Helbling, Helmbrecht usw.) ist leitgeb, später auch Leut-, reich bezeugt. Als FamN lebt Leitgeb, -eu- bis heute fort. Seit dem 15. Jh. gibt es auch das V. (ver)leitgeben ‘ausschenken’, das Schmeller (1, 1535 f.) noch aus dem 19. Jh. bucht (mit Übertragung nicht nur auf Bier, sondern auch auf die Ausgabe anderer Lebensmittel wie Mehl, Fleisch, Bockwürste!). Zum Leitgeben gehört das lıˆthuˆs, Leithaus ‘Schenke, Gasthaus’. Bezeugt ist das Wort seit dem späten 13. Jh. (Helbling, Teichner usw.; in den Urkunden des 13. Jhs. vor allem aus Augsburg, aber auch aus Bayern und OÖ); als Name von Wirtshäusern in Bayern und Schwaben war es, umgedeutet zum Leuthaus, noch im 19. Jh. üblich (Schmeller 1, 1536). Schließlich spielt das lıˆt die namengebende Rolle beim lıˆtkouf, Lei(t)kauf „was bey einem Kaufe außer dem … Kaufpreis, gleichsam zur Befestigung des abgeschlossenen Handels, vom Käufer noch besonders gegeben und sehr oft gemeinschaftlich vertrunken oder verschmauset wird“ (Schmeller 1, 1536; vgl. Weinkauf DWB 14, 1, 1, 944 ff.). Der Rechtsterminus ist zuerst in einer Admonter Urkunde von 1160 belegt (HRG 2, 1843), in den volkssprl. Urkunden gut 100 Jahre später (WMU 2, 1146: zwei Augsburger Belege, sonst ausschließlich solche aus dem Mbair.). Verbreitungsgebiet ist das gesamte Bair. mit Ausstrahlung nach Böhmen, Mähren und ins Omd. In bair. Dialekten sind Wort und Sache z. T. bis heute üblich. Kone ist auch mhd. noch kein typisch bair. Wort, aber es hält sich vor allem hier gut. In den Urkunden des 13. Jhs. sind das Wort und seine Komposita (eˆkone, koneliute, konman, -vrouwe) zwar selten, aber nur bair. belegt. Charakteristisch für die hdt. Bedeutungsentwicklung ist die frühe Einengung auf ‘Ehefrau’. Von da wird verständlich, daß sich mit kone die Bedeutung ‘Ehe’ schlechthin verbindet, so in den Ableitungen konlich und konschaft, und daß dann neben konvrouwe auch konliute und konman (schon in ahd. Vergilglossen quenaman) gebildet werden konnte. Späte-
2917
stens im 17. Jh. dürften Simplex und Komposita im Bair. außer Gebrauch gekommen sein. Nach der Beleglage ist auch eni(n)kel, -lıˆn ‘Enkel’ (die nhd. Wortform seit Luther) von Hause aus ein bair.-schwäb. Wort; in Tirol ist resthaft noch die Nebenform Anach, Änich erhalten (vgl. den Tir. FamN Anich, Finsterwalder 1978, 179; Schatz 1955, 24, WBÖ 1, 229). Neben Enkel verwendet Luther noch das nd. Wort Kindeskind (Trübner 2, 191 f.). ⫺ Eine interessante bair. Neubildung des 12. Jhs. ist die Wortform bischolf, p- ‘Bischof’. Es handelt sich dabei, in Anlehnung an PN auf -(w)olf, um einen Wortbildungstyp, wie er seit Notker mehrfach zur Personenbezeichnung verwendet wurde (in Notkers Martianus Capella nahtolf und willolf ‘Gott der Nacht, der Zustimmung’, beim Notker-Glossator rıˆcholf ‘der Reiche’, bei Boner 80, 23 Wanolf Triegolfs bruoder ist, ähnlich in Brants Narrenschiff, Ginolf ‘Gähner’ bei Meister Altswert [Schmeller 1, 67]; Henzen 1965, 169). Vermutlich handelt es sich bei diesen Wörtern um adhoc-Bildungen. Appellativ ist hingegen ammolf ‘Erzieher, Pflegevater’ in den Gesta Romanorum (Cgm 54) und bei Heinrich von Neustadt. Bischolf ist im gesamten Bair. vom 12. Jh. (Benediktbeurer Glauben und Beichte III; Vorauer Hs.: Jg. Judith, Frau Ava, Leben Jesu; Bonus) bis Ende des 15. Jhs. (Regensburger Inschrift, Schmid 1959, Nr. 59, 7) reichlich belegt, freilich überall neben bischof, p-. In den Urkunden, besonders häufig in solchen aus Salzburg, ist bischolf eine typisch bair. Kennform (die wenigen nichtbair. Stücke mit bischolf im Corp. [814, 815, 964, 1276, 2435] sind alle von Kg. Rudolf ausgestellt, 1276 ist eine Streitbeilegung zwischen Salzburg und Österreich). In mehreren ON Pischelsdorf in NÖ, OÖ und Sbg (schon 1108 Piscoluistorph; ANB 1, 106 f.) blieb die alte Form bis heute erhalten (Reiffenstein/Mauser 1999).
Naturgemäß enthalten die Urkunden eine Fülle von Rechtswörtern. Nicht wenige davon sind spezifisch bair., einige auch nur öst. Schon die inziht ‘Anklage, Beschuldigung’ ist seit dem Ahd. ein obd., vornehmlich bair. Wort (vor allem in bair. Glossen, daneben bei Notker und in Gottfrids Tristan), so ausschließlich in den Urkunden des 13. Jhs. (z. B. im Bayer. Landfrieden von 1281, in den Stadtrechten von Amberg, Nabburg und Passau). ⫺ Das Inwärtseigen (inwertez eigen) ‘hinsichtlich der Verfügungsfreiheit beschränktes Eigen der Ministerialen’ (HRG 2, 412 f.) ist zwar als Rechtsinstitut des Hochmittelalters kein bair. Spezifikum, wohl aber als Terminus. Auch die Hofmark ‘Hofbezirk’ begegnet nur in bair. Rechtsquellen. Insbesonders die Landfriedens- und Stadtrechte des 13. Jhs. vermitteln mit ihren reich differenzierten strafrechtlichen Bestimmungen ein lebendiges Bild der sozialrechtlichen Verhältnisse, z. B. mit der Unterscheidung verschiedener Verwundungen. Nur
2918 in bair. Stadtrechten begegnen z. B. die Rechtstere mini maul-, mævlslac‘ Maulschelle’, pævlslac, chnvttelslac, von denen die bogendiv wunde ‘blutende Wunde’ (Stadtrecht München, Corp. 1975) und die leme ‘Lähmung’ hinsichtlich des Strafausmaßes unterschieden werden. Im Bayer. Landfrieden (Corp. 475) wird das verbal formuliert: swer den andern rovffet oder in an daz movl sleht oder im einen pævl sleht oder in mit chnÈtteln sleht, daz er in niht wndet, zahlt eine bestimmte Bußleistung, ausgenommen ob ein man oder ein frowe ir ehalten (‘Dienstboten’) slahent an (außer) mezzersleg vnd swertessleg vnd an wnden (S. 416, Z. 19 ff.). Das Wiener Stadtrecht von 1296 enthält bemerkenswerte Privilegien für die Einrichtung von Schulen unter der Oberleitung des schulmaister(s) datz Sant Stephan der Pfarrechirchen und verleiht dem maister u. a. Gerichtshoheit über seine Schüler an (außer) daz da get an den tot vnd an di lem. Wenn ein Schüler, der vnder dem pesem ist (der Disziplinargewalt des Lehrers untersteht), einen Mitschüler bestiehlt, daz sol der maister rihten mit starchen pesem slegen; weitere Regelungen betreffen das Waffentragen (swert oder mezzer) und das Geldspiel in der tabern (Corp. 2345, S. 453, Z. 23 ff.).
Einige Rechtswörter sind auf Österreich beschränkt. Für den ‘Bürgen’ war in Bayern (mit Tirol? Einige Male in Sbg. und OÖ) das gemeindt. Wort bürge (häufiger borge, -anSt.) üblich, in Österreich mit Salzburg und Oberösterreich jedoch bürgel (ahd. burgil, Nomen ag. auf -il). Für ein ‘Pfand’ kennen nur öst. Urkunden das Wort ebentiure (ebentewer u. ä.). 5.3.3. Das 12.⫺14. Jh. ist in der Geschichte des Bair. die entscheidend prägende Zeit. Erst in diesen Jahrhunderten gewinnt das Bair. eine vom Schwäb.-Alem. deutlich abgesetzte unverwechselbare Physiognomie (wie umgekehrt auch das Schwäb. und Alem.) und eine beträchtliche Ausstrahlungskraft. Die Sprachstrukturen des Bair. sind sowohl durch Progressivität wie durch Konservativität charakterisiert. Als progressiv und veränderungsfreudig erweist sich vor allem das Mbair. von Wien bis Regensburg. Wichtige Neuerungen, auch über Baiern hinaus, lassen sich hier zuerst fassen und sind, mindestens auf der Ebene der Schrift, von hier ausgestrahlt (Apokope der unbetonten -e, Diphthongierung der langen Hochzungenvokale, der- für er-). Einflüsse von außen auf die Sprachstrukturen des Bair. spielen eine ganze geringe Rolle. Sowohl die Dehnung alter Kurzvokale wie die Lenierung der Fortisverschlußlaute folgten im Bair. eigenen Regeln. Beide Neuerungen sind nicht als Ausstrahlungen der zuerst im Nfrk. nachweisbaren
XVII. Regionalsprachgeschichte Dehnung bzw. der md. Konsonantenlenierung zu interpretieren. E. Ska´la (1970, 99 ff.) hat in der Regensburger Urkundensprache des 13. Jhs. md. Einflüsse und damit Ansätze zu einem überregionalen Ausgleich schon im 13. Jh. erkennen wollen. Sein Hauptargument sind Monophthongschreibungen für mhd. ie, uo, d. h. Schreibung durch Monographen (100 f.). Dem ist aber entgegenzuhalten, daß an Stelle der Normalorthographie (nur selten ) häufig nur geschrieben, d. h. das Diakritikum ˚ weggelassen wird, und zwar nicht nur in Regensburg, sondern überall im Obd. (für das Alem. vgl. Boesch 1946, 119). Dazu paßt, daß für mhd. ie sehr viel seltener vorkommt; hier ist die Normale schreibung, jene mit übergeschriebenem e ), das auch wegbleiben konnte, viel seltener. M. E. reichen die Monographen nicht aus, omd. Schreibeinfluß in Regensburg zu postulieren (so auch Bürgisser 1988, 90 ff., der außerdem auch die Möglichkeit hyperkorrekter Schreibungen aufgrund dialektaler Sekundärdiphthonge erwägt, und Harnisch 2002, 191 ff). Noch in der Kanzleisprache Maximilians I. wird die Opposition u : ue graphisch oft nicht ausgedrückt, im Gegensatz zu jener von i : ie, ohne daß dafür lautliche Gründe ausschlaggebend gewesen wären (Moser 1977, 94 ff., 242 f.).
Im Hoch- und Spätmittelalter müssen sich die Grundzüge der späteren Dialektdifferenzierungen innerhalb des Bair. herausgebildet haben. Die schriftliche Überlieferung läßt davon freilich immer noch wenig erkennen. Immerhin lassen sich viele von der „Normalform“ abweichende Schreibungen mit rezenten Dialektformen verbinden. Deutlicher hebt sich der mbair. Zentralraum vom konservativen Süden (vor allem Tirol) ab, zunehmend deutlicher auch Österreich (im damaligen Sinn: ohne Salzburg und Tirol) von Bayern. Nach wie vor überwiegt aber der Eindruck eines geschlossenen bair. Sprachgebietes. Dieser Eindruck wird nicht zuletzt auch dadurch vermittelt, daß sich seit dem 14. Jh. eine bair. Schreibsprache auf mbair. Basis herausbildet, die nicht nur den schriftlichen, sondern wahrscheinlich auch den mündlichen Sprachgebrauch der sozial gehobenen und vor allem der schreibkundigen, literarisch gebildeten Schicht widerspiegelt („Herrensprache“). Mundartnähere Schriftzeugnisse unterscheiden sich davon meist deutlich. Im Laufe unseres Zeitraumes fand schließlich die Entwicklung des bair. Sprachgebietes zu einer einsprachigen Region, durch Absorbierung nichtdt. Siedlergruppen im Binnengebiet, ihren Abschluß. Zweisprachig bleiben nur die Ränder im Norden, Osten und Süden. Das kommt für Kärnten sehr schön darin
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
zum Ausdruck, daß sich Ulrich von Liechtenstein (in der Rolle der Frau Venus) auf seiner Fahrt von Mestre nach Österreich von dem Herzog von Kärnten an der Kärntner Grenze bei Thörl mit dem slow. Gruß „buge waz primi, gralva Venus“ willkommen heißen läßt (Frauendienst Str. 592). 5.4. Südostoberdeutsche Schreibsprachen (14.⫺16. Jh.). 5.4.1. Durch das Privilegium minus (1156) waren die babenbergischen Markgrafen zu Herren eines zunächst noch recht kleinen Herzogtums Österreich geworden (etwa das heutige NÖ). Aber das Gebiet bot bei weitem günstigere Entwicklungsmöglichkeiten als das wittelsbachische Herzogtum Baiern. Tatsächlich wurde das babenbergische Territorium noch im 12. Jh. verdoppelt, als der durch die Georgenberger Handfeste (1186) geregelte Erbfall des Herzogtums Steiermark an die Babenberger in Kraft trat (1192). Der glänzende Aufstieg fand mit dem Tod Friedrichs des Streitbaren, des letzten Babenbergers, 1246 zwar ein jähes Ende, Österreich und die Steiermark wurden zum Spielball böhmischer und ungarischer Interessen. Dem setzte aber der erste habsburgische König, Rudolf I., ein Ende, indem er 1282 seine Söhne mit den beiden Herzogtümern belehnte und damit die Basis der habsburgischen Hausmacht in den Südosten und nicht in den Aargau verlegte. Daß die Wittelsbacher mit den Habsburgern zunächst durchaus mithalten konnten, zeigt der politische Erfolg Kaiser Ludwigs des Bayern (nach der Doppelwahl Ludwigs und des Habsburgers Friedrich 1314), freilich des einzigen dt. Königs dieses Geschlechts (wenn man von der Episode Karls VII., 1742⫺1745, absieht). Ihm gelang, neben anderen bedeutenden Erweiterungen (Brandenburg, Holland), auf etwas gewaltsame Weise die Erwerbung Tirols (Ehe seines Sohnes Ludwig mit der Erbin Margarete Maultasch von Tirol 1342) und damit des wichtigen Südweges nach Italien. Seine Nachfolger waren aber nicht stark genug, das Erbe halten zu können. Schon gut zwanzig Jahre später ging Tirol an den öst. Herzog Rudolf IV. 1363 wieder verloren. Damit hatte sich das Kräfteverhältnis innerhalb des bayer.-öst. Raumes endgültig zugunsten Österreichs verschoben. Tirol bildete die in ihrer Bedeutung kaum überschätzbare Brücke zwischen den „Erblanden“ und dem alten habsburgischen Hausbesitz im Südwesten, einen wichtigen Baustein für das „Haus
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Österreich“ (Niederstätter 1996, 135 ff.) und seinen Aufstieg zur europäischen Großmacht. Nach dem Aussterben der Luxemburger ging die dt. Krone an den öst. Herzog Albrecht V. (als König A. II.); sie sollte dem Haus bis zum Ende des Reiches 1806 nicht mehr verloren gehen. Mit dem luxemburgischen Erbe traten für Albrecht Böhmen und Ungarn ins Blickfeld, Kaiser Maximilian erweiterte die Hausmacht bis nach Burgund, Spanien und die Niederlande. Habsburg hatte damit den engeren Rahmen des alten, ethnisch und sprachlich dominant dt. Österreich (und auch des alten Reiches) entscheidend gesprengt, was bei der Geschichte des Dt. in Österreich seit dem 16. Jh. mit zu bedenken ist. Hier kann es außer Betracht bleiben. Der Antagonismus zwischen Bayern und Österreich, grundgelegt mit der Erhebung der Mark zum Herzogtum, durchzieht die Beziehungen der beiden Nachbarn unterschiedlich einschneidend, aber durchgehend bis ins 19. Jh. und steht gleichzeitig in Spannung mit den vielen Gemeinsamkeiten, die sie verbinden. Der wirtschaftliche Höhenflug des 13. Jhs. war im 14. Jh. in eine tiefe Krise geraten (s. o. 5.3.1.). Aber „aus der Krise erwuchs der Aufschwung“ (Sandgruber 1995, 53). An die Stelle der Expansion trat die Intensivierung und Spezialisierung, in der Landwirtschaft in Österreich z. B. auf den Weinbau. Der Wüstungsprozeß führte zur Siedlungskonzentration und zur „Verdorfung“. Genossenschaftlich organisierte Gemeinden begannen sich zu formieren, die der Herrschaft mit gewachsenem Selbstbewußtsein gegenübertraten. Die Welle der Städtegründungen kam zwar fast zum Stillstand, aber sie wurde fortgesetzt durch zahlreiche Neugründungen der für die ländliche Struktur typischen Märkte (Verdreifachung ihrer Zahl in Österreich von 1300 bis ins 16. Jh., Sandgruber 1995, 65). Die Reichsstadt Regensburg hatte ihre Blüte in der Mitte des 14. Jhs. Die Finanzkraft ihrer führenden Familien sicherte ihr die Unabhängigkeit von Herzog und Bischof. Die exzeptionelle Stellung der Stadt verhinderte aber auch ihre Integration in das Umland. Seit dem ausgehenden 14. Jh. begann aus inneren (Dominanz des Transithandels, Fehlen eigener Gewerbeproduktion) und äußeren Gründen (Verlagerung des Handelsschwerpunktes von Venedig nach Genua) Stagnation und Abstieg. Regensburg mußte seine führende Rolle als Fernhandelsstadt an Nürnberg und Augsburg abtreten und sich 1485 unter den Schutz des bayer. Herzogs stellen (Spindler III, 1971, 1423 ff.). ⫺ Wien erfuhr unter den Babenbergern einen steilen Aufstieg (einwoh-
2920 nerstärkste dt. Stadt nach Köln), der im 13. Jh. vorübergehend in der Reichsunmittelbarkeit gipfelte (HRG 5, 1379 f.). In der Folge von Bürgerunruhen setzte Kg. Rudolf dem 1288 ein Ende und unterstellte die Stadt der habsburgischen Landesherrschaft (Stadtrecht von 1296, Corp. 2345). Als Residenz- und seit dem späten 14. Jh. als Universitätsstadt prosperierte Wien bis ins 15. Jh. und strahlte auf sein Umland aus, wenn es auch hinter Prag zurückstand. 1469 gelang Ks. Friedrich III. die der Bedeutung der Stadt längst angemessene Errichtung des Bistums (mit sehr kleinem Diözesangebiet; gleichzeitig mit Wiener Neustadt). Erst Ende des 15. Jhs. geriet Wien politisch und wirtschaftlich in eine tiefe Krise (Abwesenheit von Kaiser und Hof, Verlust des Stapelrechtes, Belagerung und Eroberung durch Matthias Corvinus 1485). 1526 erließ Ferdinand I. nach einem ständischen Putschversuch eine Stadtordnung, „die die bis dahin vorhandene politische Selbständigkeit der Stadt beseitigte“ (HRG 5, 1382). In Bayern standen die Residenzstädte München und Landshut obenan, in zweiter Linie Ingolstadt und Straubing. Salzburg, Sitz des Metropoliten (seit 1529 Primas Germaniae), nahm eine zentrale Stellung im Salzhandel ein und partizipierte an dem florierenden Regensburger Handel mit Venedig (und an dessen Verfall). In Österreich erfuhren Wiener Neustadt vor allem durch Friedrich III. und Innsbruck durch Maximilian I. starke Förderung. Die meisten anderen Städte gelangten über lokale Bedeutung kaum hinaus. Von größeren Märkten unterschieden sie sich zwar in ihrer Rechtsstellung, oft aber nicht hinsichtlich ihrer Einwohnerzahl und der wirtschaftlichen Kraft. Schwaz, der Zentralort des Tiroler (und für einige Jahrzehnte des europäischen) Kupfer- und Silberbergbaues im 15./16. Jh., war 1312 ein Dorf mit 200 Einwohnern; um 1500 soll der Markt (seit 1326, Stadt erst seit 1899!) um die 15000 Einwohner gezählt haben (dreimal so viel wie Innsbruck; nach Wien zweitgrößte Stadt in Österreich; Sandgruber 1995, 65 f.).
Die soziale Struktur der Städte war von den gleichen Gegensätzen geprägt wie die der Gesellschaft außerhalb der Städte, mit dem Unterschied, daß die soziale Position durch die Finanzkraft definiert wurde, nicht durch Geburt. Einer schmalen Oberschicht wohlhabender Bürger (vornehmlich Kaufleute, in Tirol Wirte), die die Funktionen der Selbstverwaltung (Rat, Bürgermeister) wahrnahmen, standen die Handwerker gegenüber, die um Mitbestimmung kämpften („Äußerer Rat“). Die Angehörigen der besitzlosen Unterschicht (Gesellen, Dienstboten, Tagelöhner, Bettler usw.) besaßen kein Bürgerrecht und waren vom politischen Leben ausgeschlossen. Auch andere Sozialgruppen (Adelige, der Hof, Geistlichkeit, Universitätsangehörige, Juden) standen in der Stadt unter Sonder-
XVII. Regionalsprachgeschichte
recht. Naturgemäß traten soziale Spannungen in den größeren, reichen Städten (Wien, Regensburg, München), in denen es zur Ausbildung eines Patriziats („Erbbürger“) kam, schärfer hervor als in den vielen Mittel- und Kleinstädten mit z. T. unscharfen Grenzen zum „Land“ (Ackerbürger). Das 14.⫺16. Jh. ist eine Blütezeit des alpinien Bergbaues. Um 1420 setzte der systematische Abbau der Silber- und Kupfervorkommen in Tirol ein, der das Land in ein regelrechtes Bergbaufieber versetzte. In wenigen Jahrzehnten stieg Schwaz, der Vorort des Tiroler Bergbaues, zu europäischem Rang auf. Auswärtige (sächsische, böhmische) Bergleute kamen in großer Zahl nach Tirol. Den großen Gewinn machten vor allem auswärtige Gewerken, voran die Augsburger Fugger, die Maximilians Großmachtpolitik finanzierten. Der reiche Segen war freilich nach gut einem Jahrhundert wieder zu Ende. Auch der Goldbergbau in den Tauern brachte raschen, aber kurzen Reichtum. Weniger spektakulär, aber stetig und ertragreich verlief die Entwicklung im Salzbergbau. Neben die Saline Reichenhall, die seit dem Frühmittelalter den gesamten Südosten mit Salz versorgte, trat seit dem 13. Jh. der salzburgische Salzbergbau in Hallein, der die ältere Konkurrentin rasch überflügelte, seit dem 15. Jh. aber seinerseits durch die Konkurrenz der habsburgischen Salinen Aussee, Hallstatt und Hall in Tirol von seinen Absatzmärkten in Österreich und Böhmen verdrängt wurde. Eisen wurde in den Alpentälern im Kleinabbau vielerorts gewonnen. Große und andauernde Bedeutung erlangte aber nur der steirische Erzberg und das oberpfälzische Montangebiet um Amberg⫺Sulzbach. Handel und Gewerbe florierten in vielen Städten und Märkten in Österreich und Bayern. Nach dem Niedergang von Regensburg konnte aber keine einzige Stadt mit Handelsplätzen wie Nürnberg, Augsburg oder Ulm mithalten. Weiten Zuzug hatten die Messen in Bozen und Linz, aber die Versuche, die Münchener Jakobi-Dult zu einer Messe mit überregionalem Einzugsbereich auszubauen, scheiterten (Spindler II, 1988, 771 [Schremmer]). Gut ausgebaut war das Transportwesen, vor allem über die Alpen, das den anrainenden Bauern Möglichkeiten für Nebenerwerb bot (Rodwesen). Die wichtigeren Straßen (über den Brenner, den Radstädter Tauern, den Reschen) wurden zwar im 15./16. Jh. verbessert, waren aber immer noch so schlecht, daß sie nur für kleine Wagen (Anz-
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
wagen) befahrbar waren. Über die höheren Gebirgspässe spielte der Saumverkehr eine wichtige Rolle, auf den Flüssen die Schiffahrt (flußaufwärts kraftraubend für Menschen und Pferde). Jegliche Art des Transports war personal- und zeitaufwendig, förderte aber den zwischenmenschlichen Verkehr und die Kommunikation über die Kleinräume hinweg. Das 15. Jh. ist von Spannungen auf allen Ebenen erfüllt, die sich im 16. Jh. mit voller Heftigkeit entluden. Die religiösen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Konfliktpotentiale sind dabei schwer voneinander zu scheiden. Während die Konzilsbewegung (Konstanz, Basel) nicht imstande war, die Probleme der Kirche zu lösen, verliehen die Kastler und vor allem die Melker Reform (im Zusammenwirken mit der Wiener Universität und den Landesherren) den öst. und bayer. Benediktinerklöstern nachhaltige Impulse. Die Hussitenkriege fügten den an Böhmen und Mähren angrenzenden Teilen von Österreich und Bayern schwere Schäden zu, deren Auswirkungen am härtesten die bäuerliche Bevölkerung trafen. Seit 1469 fielen die Türken brennend und plündernd in Krain und in die Südsteiermark (Slowenien) ein, bald danach auch in Südkärnten und bis ins Murund Ennstal. Die Leidtragenden waren wieder vor allem die Bauern in den offenen Dörfern, während die Burgen und die bewehrten Städte widerstehen konnten. Da der Landesherr die Schutzfunktion für seine Untertanen nicht wahrnehmen konnte, schlossen sich Bauern und z. T. Handwerker und Lohnarbeiter im Ennstal und in Kärnten zu Bünden zusammen, die die Landesverteidigung selbst in die Hand nehmen wollten, wofür sie weitgehende Reformen verlangten (bäuerliche und bürgerliche Gemeinde unmittelbar unter dem Landesherrn als Basis des Staates usw.). Beim ersten Zusammentreffen mit den Türken 1478 erlitt ein Aufgebot des Kärntner Bundes freilich eine verheerende Niederlage (Niederstätter 1996, 127 f.). ⫺ 1477 überzog der ungarische König Matthias Corvinus Niederösterreich mit Krieg und eroberte 1485 Wien. Mit seinem Tod 1490 endete das Zwischenspiel, nicht aber die Krise Wiens. Die Bevölkerung blieb, vor allem auf dem Lande, in den militärischen Auseinandersetzungen weitgehend ungeschützt und wurde zudem durch zusätzliche Steuern (z. B. Türkensteuer) belastet. Der wirtschaftliche Druck, die wachsende Rechtsunsicherheit durch ständig hinaufgesetzte Forderungen der Grundherren und das gleichzeitig wach-
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sende Selbstbewußtsein der Bauern verschärften die sozialen Gegensätze zwischen dem „gemeinen“ Mann auf der einen und dem Adel und dem wohlhabenden Bürgertum auf der anderen Seite; sie entluden sich schließlich in den Unruhen des 15. und 16. Jhs. Auch in den Städten gab es immer Anlaß für innere und für Konflikte des nach mehr Autonomie strebenden Bürgertums mit den landesherrlichen oder geistlichen Stadtherren. Letztlich wurden die Freiheitsbestrebungen sowohl der Bauern wie der Städte meist blutig niedergeschlagen und führten zur Straffung (Modernisierung) des Staatsapparates (Verwaltung), zur Stärkung der Landesherren und zur politischen Ausschaltung der Bauern und der Städte. Die Bauernunruhen erfaßten vor allem die alpinen Gebiete, kaum zufällig am frühesten im geistlichen Fürstentum Salzburg (1462); Kärnten und die Steiermark folgten im Zusammenhang mit den Türkeneinfällen. 1525/ 26 konnte ein Aufgebot von Salzburger Bauern zusammen mit Gasteiner Gewerken und Bergleuten vor Schladming Erfolge erzielen und sogar die Stadt Salzburg einnehmen (der Erzbischof mußte sich in seine Festung Hohensalzburg zurückziehen). Auch in Tirol, wo die Lage der Bauern erheblich besser war als anderswo (Vertretung im Landtag seit Mitte des 15. Jhs.), kam es nach dem Tod Maximilians I. zu Unruhen, 1525 zur Erhebung. In Nieder- und Oberösterreich und in Bayern ist es, von lokalen Ereignissen abgesehen, im Verhältnis zwischen den Bauern und ihren Obrigkeiten im großen und ganzen ruhig geblieben. Anlaß der Unruhen waren überall erhöhte Steuerforderungen, Klagen über willkürlich erhöhte Dienstleistungen (Robot), über rücksichtslose Beamten und über neue ungewohnte Rechtsvorschriften (römisches Recht). An der Spitze der Forderungskataloge stand das Verlangen nach der Verkündigung des reinen Evangeliums ohne menschliches Beiwerk und nach freier Priesterwahl (und -abwahl) durch die Gemeinden ⫺ der Einfluß der Reformation liegt ganz offen. Erst danach kamen die (im ganzen eher maßvollen) wirtschaftlichen Forderungen und vor allem jene nach der Wiederherstellung des alten Rechts. Weit über die gemäßigten Forderungen (Meraner Artikel, 24 Artikel gemeiner Landschaft Salzburg) ging Michael Gaismairs, des Tiroler Anführers und eines der wenigen politischen Köpfe der Bauernbewegung, Tiroler Landesordnung hinaus (1526 im Graubündener Exil geschrieben). In den religiösen
2922 Forderungen von Zwingli beeinflußt, verbindet dieser Entwurf moderne Konzepte (Landwirtschaft, Fürsorgewesen) mit radikaler und z. T. reaktionärer Utopie (Grundlegung des autarken Staates Tirol in den Dorfgemeinden, Abschaffung der Städte und des Handels, Verstaatlichung des Gewerbes und des Bergbaus usw.).
Daß angesichts der sozialen und religiösen Erregung und einer verbreiteten Unzufriedenheit mit Institutionen der Kirche die Reformation auf aufnahmebereiten Boden fiel, ist nicht verwunderlich. Sie fand nicht nur in den Städten, bei vielen Welt- und Ordensgeistlichen und bei den Bergknappen rasch Zuspruch, sondern auch beim Adel und in der bäuerlichen Bevölkerung, vor allem im Gebirge. Die bayer. Herzöge und der Ingolstädter Theologe Johannes Eck widersetzten sich ihr rasch und entschieden, ebenso in Österreich Ferdinand I. Immerhin gab es in Bayern einige Todesurteile (München, Wasserburg, Schärding; Spindler 2, 1988, 710). In Wien wurde 1524 der angesehene Bürger Caspar Tauber als Ketzer hingerichtet (vgl. die anonyme Flugschrift Eyn warhafftig geschicht 1525, Simon 1980, 327 ff.). Aber für Ferdinand stellten zunächst die Türken die gefährlichere Bedrohung dar als der Protestantismus. Mit voller Härte wurde gegen die vornehmlich aus den unteren Schichten rekrutierten Täufer vorgegangen, die auch beim Adel und bei den Ständen keinen Rückhalt fanden; unter der Führung des Tirolers Jakob Hutter wichen sie 1529 nach Südmähren aus (Hutterer). 5.4.2. Wichtige Impulse gingen von den Universitäten aus. Schon 1365 gelang Herzog Rudolf IV. die Gründung einer Universität in Wien, der ältesten im dt. Sprachgebiet. Wie in vielem anderen eiferte Rudolf damit dem Vorbild seines Schwiegervaters Karls IV. in Prag nach. Bemerkenswert ist, daß der Stiftbrief der Universität in lat. und in dt. Sprache ausgefertigt wurde (Lhotsky 1965, 33). Allerdings blieb die Universität zwei Jahrzehnte lang praktisch auf die Artistenfakultät beschränkt, da der Papst zunächst die Bestätigung einer theologischen Fakultät verweigerte. Die Blütezeit begann 1384 nicht zum geringsten dadurch, daß namhafte Pariser Professoren, an ihrer Spitze Heinrich von Langenstein, für Wien gewonnen werden konnten. Im Umkreis von Universität und Hof entstanden bedeutende Übersetzungen geistlicher Werke, die durch die Melker Reform (seit 1418) weite Verbreitung erfuhren
XVII. Regionalsprachgeschichte
(Leopold von Wien, Heinrich von Langenstein, Nikolaus von Dinkelsbühl, Thomas Peuntner, Ulrich von Pottenstein u. a., „Wiener Schule“). Die Universität Wien nahm im 15. Jh. eine führende Position im dt. Süden ein. Ende des Jahrhunderts öffnete sie sich zögernd dem Humanismus (Berufung Konrad Celtis’ 1497). ⫺ Die bayer. Landesuniversität Ingolstadt wurde fast 100 Jahre später, 1472, gegründet (Herzog Albrechts IV. Plan einer Regensburger Universität wurde nicht verwirklicht [Spindler III, 1971, 1431]). Die Frühzeit der Universität stand unter dem Zeichen des Humanismus (Konrad Celtis), seit der Reformation wurde sie zum süddt. Vorort des alten Glaubens (seit 1520 mit dem profilierten Theologen Johannes Eck [1537 Bibelübersetzung], seit 1550/70 mit dem Einzug der Jesuiten). Das 15. Jh. ist die Epoche der „LiteraturExplosion“ (Kuhn 1980, 78), der lateinischen freilich nicht minder als der volkssprachlichen Produktion. Im Medium der volkssprachlichen Schriftlichkeit bildete sich nun eine neue Öffentlichkeit, die es bis dahin nur auf Latein und sozial eng begrenzt gegeben hatte. Eine offenere Gesellschaft und neue materielle und technische Möglichkeiten waren für die Entstehung dieser Öffentlichkeit ebenso Voraussetzung wie eine Folge der Bedürfnisse danach. Seit dem 14. Jh. trat allmählich das billigere Papier an die Stelle des Pergaments als Beschreibstoff. Etwa gleichzeitig ermöglichte die Lesebrille gerade auch älteren Menschen vermehrtes Lesen. Die Notwendigkeit, mehr Texte rascher und mit geringerem Repräsentativitätsanspruch herzustellen, führte zur Ablösung der kalligraphischen Schönschrift (Textura) durch kursivere Schriftformen (Bastarda). Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern war eine fast logische Konsequenz aus den gegebenen Bedürfnissen, erwies sich aber in ihren Auswirkungen als ein qualitativer Sprung von größter Bedeutung. Allerdings profitierte davon zunächst der Buchmarkt mit lateinischen Büchern weit mehr als jener mit deutschen Texten; erst die Reformation bereitete da allmählich einen Umschwung vor, der aber erst im 17. Jh. ein Überwiegen der volkssprachlichen Produktion über die lat. bewirkte. An der Expansion der Handschriftenproduktion hatte unsere Region gemeinsam mit dem alem. Südwesten führenden Anteil. Adelige und städtische Bedürfnisse nach verstärkter Teilnahme an schriftlicher Kommunika-
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
tion, am literarischen Leben und am Konsum von Büchern werden immer greifbarer. Die Rezeption reicht von höfischer und geistlicherbaulicher Literatur über die Rechtsbücher und didaktische Werke bis zur Human- und Veterinärmedizin, zum Obstbau und zu Kochbüchern, zeitlich vom Hochmittelalter bis zur Gegenwart. Vor allem in Bayern erfuhr die volkssprachliche Geschichtsschreibung, im 16. Jh. gipfelnd in Aventin, einen starken Aufschwung. Ein gutes Bild laikaler Rezeption eines volkssprachlichen Großtextes vermittelt die breite Überlieferung des Buches der Natur von Konrad von Megenberg (ca. 1350; Hayer 1998, 432 ff.). Eindeutig dominieren Adel und Bürgertum, vielfältige Gebrauchshinweise lassen die lebenspraktische Funktion des Textes erkennen. Bibliotheksverzeichnisse privater Sammlungen erlauben Einblicke in die Leseinteressen. Noch aus dem 14. Jh. stammt das Inventar der Bibliothek des Erhard Rainer von Schambach (Piendl 1969, 205 f.), aus dem 15. Jh. der Ehrenbrief des Müncheners Jakob Püterich von Reichertshausen (VL2 7, 918 ff. [Grubmüller]) und Bibliotheksverzeichnisse von Elsbeth Volkensdorfer (bei St. Florian, OÖ) und den Grafen von Ortenburg (Fechter 1935, 37); bedeutendere Bibliotheken besaßen die niederbayer. Trenbacher (Steer 1981, 249⫺259) und vor allem der Südtiroler Anton von Annenberg (mit geschätzten 250⫺300 Hss. [?] und Inkunabeln stand sie Maximilians Ambraser Bibliothek [das Verzeichnis von ca. 1520 nennt 329 Titel] wenig nach; Neuhauser 1980, 94 ff.; Gottlieb 1900, 90 ff.).
In den Klöstern spielte, gerade auch in der volkssprachlichen geistlichen Literatur, die Universität Wien und die Melker Reform eine bedeutende Rolle („Wiener Schule“), auch über Bayern und Österreich hinaus nach Schwaben. Die Bemühungen der Melker Reform um die Verbesserung des klösterlichen Schulbetriebs (mit Einbeziehung der Volkssprache) lassen sich an der Überlieferung der Donat-Übersetzungen im 15. Jh. ablesen (Schnell 1987, 218 ff.). ⫺ Auch der Einsatz von Papier für die Buchherstellung erfolgte in Bayern und Österreich nicht später als anderswo. Allerdings mußte das Papier aus Italien, seit dem 15. Jh. aus Nürnberg (erste Papiermühle in Deutschland 1389) und Südwestdeutschland (Ravensburg 1393) bezogen werden. Die ersten Papiermühlen in Österreich entstanden erst rund 80 Jahre später (St. Pölten vor 1469, Baden bei Wien 1498). Hier wie dann vor allem bei der Ver-
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breitung des Buchdrucks wirkte sich die wirtschaftliche Schwäche der Städte in Bayern und Österreich hemmend aus. Während es vor 1480 in Südwestdeutschland und der Schweiz schon in mehr als einem Dutzend Städten z. T. bedeutende Druckereien gab (Straßburg, Basel, Augsburg, Nürnberg), entstanden in Bayern die ersten Druckereien erst zwischen 1480 und 1485 (Passau, München, Ingolstadt und Regensburg). In Österreich besaß vor 1500 gar nur Wien (1482) eine Druckerei; 1501 folgten Schrattenthal bei Pulkau (NÖ) und Schwaz in Tirol (vgl. Art. 121; Niederstätter 1996, 381). Kein einziger dieser Druckorte kam auch nur annähernd an die Bedeutung von Augsburg oder Nürnberg heran; sie dienten lediglich dem lokalen Markt. Seit der Mitte des 14. Jhs. drängten laikale Schichten immer stärker zum Schreiben und Lesen. Die Schulen standen freilich noch überwiegend unter geistlicher Leitung (Domschulen, Pfarrschulen), ihr Bildungsziel war das Lateinische. Auch die prominenteren städtischen Schulen wie die berühmte Schule bei St. Stephan in Wien (seit dem 12. Jh.? Im Stadtrecht von 1296 aus landesfürstlicher in städtische Obhut übergegangen, Lhotsky 1965, 26 ff.) oder die Ratsschulen in München und Landshut (seit 1300 bzw. 1450; Spindler 2, 1988, 810) waren Lateinschulen. Die Muttersprache hatte dort nur dienende Funktion (Henkel 1988, 183 ff.). Allerdings forderten auch die Humanisten die Verwendung des Dt. als Hilfssprache im Lateinunterricht, so in Wien Ulrich Eberhardi und Bernhard Perger, in Ingolstadt Georg Hauer (Müller 1882, 249; Lhotsky 1965, 174 f.). Aventin machte in seiner Grammatica omnium utilissima (1512) ausgiebig Gebrauch vom Dt. (Müller 1882, 49 ff.; zur älteren Donat-Übersetzung s. o.). Vorangegangen war man damit allerdings in Norddeutschland und in den Niederlanden. Schulmeister sind seit dem 14. Jh. allenthalben, auch in kleineren Orten (Märkten) bezeugt. Daneben entstanden seit dem 15. Jh. „deutsche“ Schulen, die die Bedürfnisse der Handel und Gewerbe treibenden Bürger befriedigen sollten. Daß die meisten Berichte darüber wieder aus Nord- und Westdeutschland stammen (Müller 1882, 315 ff.), wird nicht nur überlieferungsbedingter Zufall sein. Aus Straubing erfahren wir um 1481 von einer dt. Schule, aber auch von der Weigerung der Stadt, dem Schulmeister Bernhard Hirschfelder die Einbürgerung zu gewähren
2924 (Müller 1882, 322 und Anm. 48; VL2 4, 50 [Keil]). Eine Stadt wie Salzburg besaß um 1500 zwar altehrwürdige geistliche Schulen (Domschule, Petersschule), aber keine städtische. Immerhin ist es aber eine bayer. Hs., die uns einen ersten Einblick in den Unterricht an solchen Schulen gibt, der Cgm 216 (entstanden 1476 bis 1482) von Kristoff Hueber Teutscher Schuelmaister ze egkenfeldn (Rechktor deodunicorum [= teutonicorum!], Müller 1882, 329 f.) mit einer Leselehre (Modus legendi), einer Rethorica volgaris und diversen didaktisch-moralischen und sonstigen „lebenspraktischen“ Kleintexten (die Haupttexte der Hs., das bayer. Land- und ein Lehnsrecht, und einiges andere stehen jedoch nicht in Zusammenhang mit dem Schulunterricht). Der Modus legendi besteht aus einer Tabelle der Buchstaben und Listen ihrer Kombinierbarkeit in dt. Wörtern (in bair. Lautung), die Rhetorik enthält Verzeichnisse von Titeln, Anrede- und Grußformeln u. ä. (Müller 1882, 9 ff., 368 ff.). Christoph Hueber war Schulmeister in Eggenfelden, Landshut und Dingolfing (Niederbayern) und vielleicht Stadtschreiber in Landshut (VL2 4, 210 f.). Wesentlich gelehrter war der aus dem (damals) salzburgischen Tittmoning stammende und an der Universität Ingolstadt ausgebildete Jurist Ortholph Fuchsperger, der in Altötting, Mondsee und Passau tätig war (u. a. als Latein- und Rhetoriklehrer) und für seinen Neffen eine dt. „Leeßkonst“ verfaßte, die er 1542 auf Bitten befreundeter Lehrer (in Passau, Grieskirchen, Ranshofen und Burghausen) sowie mehrerer Passauer Bürger in Ingolstadt drucken ließ (Müller 1882, 166 ff., 410 ff.). Von dem Passauer Hans Krachenberger, Rat und Protonotar Friedrichs III. und Maximilians, der an der Berufung Konrad Coltis’ nach Wien (1497) maßgeblich beteiligt war, wird überliefert, er habe an einer dt. Grammatik gearbeitet, sie aber nicht fertigstellen können (Müller 1882, 310 f.; Jellinek 1913, 60). Der große bayer. Geschichtsschreiber Johannes Aventin, Schüler Celtis’ in Ingolstadt, stellte seiner Bayerischen Chronik (1526) ein Kapitel über „die alten teutschen näm“ voraus, das einige Anmerkungen über die Aussprache der Buchstaben im Dt. (samt Angaben zur Variation) enthält (Turmair 1883, 16 ff.).
Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben der Muttersprache mußte man sich aber schon viel früher haben aneignen können, sei es in der Elementarstufe einer Lateinschule, in einer Schreibschule oder durch Hauslehrer. Direkte Aussagen dazu fehlen zwar. Es wird aber notwendig vorausgesetzt durch Zeugnisse wie die Überlieferung des Buches der Natur (s. o.), durch private Aufzeichnungen wie das Urbarbuch und Inventar des Erhard Rainer von Schambach von 1376 (Piendl
XVII. Regionalsprachgeschichte
1969, 205 f.) oder das Handlungsbuch der Regensburger Fernhandelskaufleute Runtinger (1383⫺1407), in dem Reisen nach Venedig, Prag usw. und Ausgaben und Einnahmen genau verzeichnet sind (Bastian 1935) oder durch Randeintragungen wie jene der Ursch von Strass geporene Überäckerin zum Sichhartstain (Sighartstein bei Neumarkt, Sbg), die 1482, im Todesjahr ihres Mannes, in ihr Gebetsbuch zu einem Gebet über die sieben Worte Christi am Kreuz hinzufügte: got erparm dich über unss arm sünder und sünderin (St. Peter a IV 6, Hayer 1982, 49). Einblick in die Geschäftskorrespondenz eines Handwerkers geben kürzlich aufgefundene Fragmente von Briefen an den Salzburger Seidennähter Hans Goldfuß aus der Mitte des 15. Jhs. (Krissl 1990, 351 ff.). Freilich darf nicht übersehen werden, daß wir in all diesen Zeugnissen Lesebedürfnisse und schriftliche Kommunikationsgewohnheiten lediglich der sozialen Oberschicht zu fassen bekommen, des Adels, der patrizischen Bürgerschicht, deren kulturelle Bedürfnisse und Ansprüche sich an denen des Adels orientierten, und wohlhabender Handwerker. Die Sprache von ca. 95 % der Bevölkerung bleibt uns auch in diesem Zeitraum unzugänglich. 5.4.3. Im 14. Jh. liegt in der sprachlichen Entwicklung unserer Region keine Zäsur. Die Verhältnisse, die sich bis etwa 1300 ausgebildet hatten, blieben im Grunde bis in die Mitte des 16. Jhs. bestehen oder entwickelten sich kontinuierlich weiter (vor allem die Abschwächungen und Koartikulationsphänomene [Assimilationen] im Bereich der unbetonten Silben). Die bayer.-öst. Schreibsprache, die schon in der ersten Hälfte des 14. Jhs. deutliche Konturen gewonnen hatte, konsolidierte sich weiter und erreichte ein unter den Bedingungen volkssprachlicher Schriftlichkeit im Spätmittelalter erstaunlich hohes Maß an Ausgeglichenheit. Das gilt vor allem für den gehobeneren Sprachgebrauch („Herrensprache“), der in der Überlieferung von Großtexten bis ins 16. Jh. hinein den größten Teil der Schriftlichkeit abdeckt. Die Variantenvielfalt, die im 14. Jh. noch beträchtlich war, wurde im Lauf des 15. Jhs. stark eingeschränkt (Wiesinger 1996; Masarˇ´ık 1985; Tarvainen 1968; Thornton 1962, u. a.). Die Diphthongierung von mhd. ˆı, uˆ üˆ ist nun vollständig durchgeführt, das Zeicheninventar ei, au, eu (ey, av, aw, ev, ew) ist ziemlich fest; die Unter-
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit scheidung eu : äu/eü für mhd. iu : iü wird noch gelegentlich beachtet, hat sich aber nicht durchgesetzt. Hingegen wird für mhd. ei bis ins 16. Jh. fast durchgehend verwendet (ebenso im Schwäb.). Die Unterscheidung von i : ie ist voll intakt, jene von u : uo konsequenter bezeichnet als früher (u/v : ue/ve/u˚). Die Sonderbezeichnung von mhd. oˆ (z. T. von o vor r, h) durch im Westbair. und durch im Ostbair. wird in der gehobenen Schreibsprache gemieden und erfolgt auch sonst unsystematisch. Die Umlaute ü, ö bleiben nach wie vor häufig unbezeichnet, hingegen mehren sich direkte und indirekte (hyperkorrekte) Anzeigen der Umlautentrundung (z. B. leit, freiden, wieten ‘:Leute, Freuden, wüten’; gepürg, häwrat ‘Gebirge, Heirat’, Tarvainen 1968, 93 f.). An die Stelle der pron. und adj. Formen auf mhd. -iu (deu/ dew, allev usw.) treten seit Ende des 15. Jhs. die/ di, -e (Tauber 1993, 85 f.). Auch -und für die Part.endung -ende wird um diese Zeit seltener (Tauber 1993, 41), während sich das Wortbildungssuffix -nus ‘-nis’ bis ins 18. Jh. hält. Für b- und k wird weitgehend , bzw. u. ä. geschrieben (gelegentlich steht -kh- auch für etymologisch -gg- in prukhen, glokhen, indirektes Inidiz für die Konsonantenlenierung). Erst seit dem 16. Jh. wird b- bzw. k-, -ck(-) häufiger. Die b/ w-Vertauschung wird in gehobener Schreibsprache tendenziell gemieden, ist aber in vielen Texten reichlich zu belegen. Seit der Mitte des 15. Jhs. wird, als Folge des Wandels -mb(-) > -m(-) (zimber > zimer), vor allem im Auslaut häufig hyperkorrekt <mb> für m geschrieben (neben etymologisch berechtigtem vmb auch -tumb, haimb, zimblich, niemband usw.). Ende des 15. Jhs. kommt für t- auf (thuen, that, thu˚mb ‘Dom’ usw.). Vor allem für mhd. eˆ, aber auch für e¨ wird häufig, aber unsystematisch <ee> geschrieben (z. B. ee ‘Ehe, Gesetz’, geen, seer; heer ‘her’ u. a.; kommt hingegen erst später auf).
Seit dem ausgehenden 15. Jh. dringen aus dem Md. Formen mit o für u vor n ein, z. B. besonder, sonst, sonn(e), from(m) usw., z. T. auch vor r (antwort(en), forcht; Tauber 1993, 77 ff.). Das aus der md. Orthographie stammende Dehnungs-h wird im Bair. erst seit der Mitte des 16. Jhs. übernommen. Vorher findet sich h nur ganz vereinzelt, z. B. ehe, ehre, Ihenen; häufiger steht es in der 1537 in Ingolstadt erschienenen Bibelübersetzung von Johann Eck, fast durchgehend jhn, jhm, jhr u. a.; die Sprache Ecks ist aber schwäb. (Augsburg?), auch in einem ebenfalls in Ingolstadt verlegten Schreiben an die Stadt Konstanz von 1526 (Reichmann/Wegera 1988, 39 ff.).
Die Schreibsprache der königlichen und kaiserlichen Kanzlei nahm, nach dem Prager Zwischenspiel unter den Luxemburgern, vor allem unter Maximilian I. ein zunehmend bair. Gepräge an, wie es, auf älterer Entwick-
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lungsstufe, schon unter den frühen Habsburgern und unter Ludwig IV. bestanden hatte. Daß unter Friedrich III. neben „bair.“ Stükken auch viele Briefe (an mittel- und norddt. Empfänger) mit deutlichen md. Sprachmerkmalen die Kanzlei verließen, erklärt Noordijk (1925, 73 ff.) damit, daß Friedrich Personal aus der Kanzlei Sigismunde übernommen hatte. Bemerkenswert ist die Entwicklung des Schreibusus unter Maximilian (Moser 1977). Zunächst (ca. 1486⫺1490) noch relativ instabil (25⫺50 % undiphthongierte ˆı, z. B. ziten, rich, sin, rinisch usw.; Moser 1977, 199), setzten sich seit 1490 einige typisch bair. Charakteristika immer stärker durch, so die (partiell natürlich immer vorhandene) Unterscheidung ei : ai, u : ue, die Bezeichnung des Sekundärumlautes durch e´, a´ und die Negationspartikel nit ‘nicht’. Dem steht allerdings gegenüber, daß andere Charakteristika wie p-, kh-/kch-ch- zugunsten von b-, k- stark zurückgedrängt wurden, die b/w-Vertauschung fast völlig fehlt und daß md. Merkmale wie die Senkung von u > o, vor allem vor n, Eingang gefunden haben (sonder, sonne, son, konig neben sunder usw.). Am Ende der Entwicklung (1518) stand ein ausgewogenes, einfaches graphemisches System auf bair. Grundlage, das für überregionale Geltung gut geeignet war. Luther und Fabian Frangk beriefen sich nicht ohne Grund auf dieses Vorbild (Moser 1977, 283 ff.).
Seit dem 14. Jh. gibt es auch vereinzelte Zeugnisse für ein metasprachliches Bewußtsein der bair. Schreibsprache. Zu einer Urkunde von 1363 notierte eine gleichzeitige Hand, daz nach der gewonheit dez land ze Payrn an manigen stetten ain lindes b gesetzet ist fÈr ain zwivalt w, und gelegentlich umgekehrt (Jellinek 1913, 39). Niclas von Wyle polemisierte 1478 dagegen, daß in vnsers landes tu´tsche (d. h. in das Schwäb.) von auswärts modische Neuerungen eindringen, so statt der Dativrektion der Präp. zwu´schen neuerdings Ësterrychesch der Gen. (Wyle 1861, 351; tatsächlich war der Gen. bei zwischen weiter verbreitet, vgl. DWB 16, 1322). Die erste genaue Gliederung der regionalen Drucksprachen findet sich erst in Sebastian Helbers „Syllabierbüchlein“ (1593) mit der Unterteilung des Hochdt. in die Mitter Teu´tsche, … die Donawische, die … HËchst Reinische (Helber 1882, 24); das Donauische umfaßt neben dem Bayer.-Öst. (mit der Opf.) auf Grund des Kriteriums der Diphthongschreibung ( für ei) auch das Schwäb. Die Gliederung gilt im Grunde auch schon für das 14./ 15. Jh. Wenn hingegen seit dem 14. Jh. vor allem in Übersetzungen von gemeinem teutsch (Erstbeleg in der Übersetzung von
2926 Durandus’ Rationale, Wien 1384; vgl. Art. 157, 4.4.; Steer 1981, 595) gesprochen wird, dann ist damit nicht eine sich ausbildendende (ost-)obd. Gemeinsprache (eine Antizipation von Helbers Donauisch) gemeint, sondern ein allgemeinverständliches, einfaches Dt. im Gegensatz zu einer am Latein orientierten elaborierteren Gelehrtensprache. Lokal gebundene Texte, private Aufzeichnungen und dgl. heben sich von der gehobenen Schreibsprache mehr oder weniger deutlich ab. Die dialektalen und sprechsprachlichen Merkmale, die dabei faßbar werden, gehen aber wie auch bisher schon über sehr allgemeine Charakteristika des Bair. wie die Apo- und Synkope von e (auch in der Endung -en, z. B. gebn, sagn) oder die Umlautentrundung höchstens ausnahmsweise hinaus. Das gilt z. B. auch für die Hss. der Tiroler Passionsspiele, in deren z. T. derben Szenen man am ehesten die Wiedergabe gesprochener Mundart erwarten dürfte; selbst ein so typisches und damals zweifellos geläufiges Merkmal wie das Pron. es ‘ihr’ findet sich nur gelegentlich (Wackernell 1897, 529; Wiesinger 1996a, 86). Ergiebiger hinsichtlich dialektaler Interferenzen ist das Regensburger Runtingerbuch (Bastian 1935): Häufig begegnet die mbair. Hebung von e > i vor r (auffirttag S. 5. 8. 10 usw., virttigung 18. 20, rechtvirttig 24, zirung 46. 49. 77. u. ö., zirum(b) 419. 120 u. ö., verzirt 48. 58. 86, irbrecht 20, dem hirzogen 28, weinpir 51, irchtag 78 [sonst eri(ch)tag]; mehrfach auch bei Andreas von Regensburg; vgl. Tarvainen 1968, 89; auch Weinhold 1867, 33 f.; Tauber 1993, 32). Nordbair. ist g- für j- in all gar ‘alle Jahre’ 11. Bemerkenswert ist das sonst in Nürnberg belegte ofrk.-nordbair. under ‘unser’ 4. 19. 52 u. ö. (vgl. Weinhold 1867, 152), bemerkenswert auch die Bewahrung der st. Fl. von fart: z. B. auf der vert (firtt) 48. 50, zwo fertt 230 (Reiffenstein 2002).
Viel deutlicher sind freilich die Signale, die auf einen fortschreitenden sprachlichen Ausgleich weisen. So finden sich in den meisten sbair. Texten einige Erscheinungen, die sich als mbair. (Wiener) „herrensprachlicher“ Einfluß deuten lassen, und zwar sowohl im Schreib- wie im Reimgebrauch (Wiesinger 1996, 199 ff.; 1996a, 89). Ausgleichsprozesse wird es auch in gesprochener Sprache gegeben haben. In den Städten und Märkten kamen Händler und Kaufleute aus den unterschiedlichsten Gegenden zusammen. In die Bergbaugebiete (Schwaz u. a.) kamen Tausende omd. Bergleute. In Wien hielten sich Gelehrte und Studenten aus vielen dt. Regionen (Schwaben, Meißen, Hessen, Rheinlande
XVII. Regionalsprachgeschichte
usw.: Heinrich von Mügeln, Heinrich von Langenstein, Nikolaus von Dinkelsbühl, Wyle, Steinhöwel usw.) oft für mehrere Jahre auf. Der Moselfranke Nikolaus von Kues war als Visitator auch in Oberdeutschland tätig und seit 1450 Bischof von Brixen. Der Sachse Johann von Staupitz, Generalvikar der dt. Augustiner-Eremiten und Mentor Luthers, war seit 1511 wiederholt in Salzburg, predigte erfolgreich in der Stadtpfarrkirche und im Dom und wurde schließlich Abt von St. Peter (1522⫺24). Wie die Kommunikation zwischen den Einheimischen einer- und den Gästen und Zugezogenen andererseits vor sich ging, darüber fehlen Zeugnisse. Jedenfalls konnte sie weder im lokalen Dialekt noch gar im Latein der Gelehrten erfolgen. Beide Seiten werden auf ihre auffallendsten (kommunikationshindernden) Dialektmerkmale verzichtet haben. Spuren nichtbair. Interferenzen sind weder in der Überlieferung noch in der Entwicklung der Dialekte erkennbar (z. B. in den rein bair. Nachschriften von Staupitz’ Salzburger Predigten; die Schreibsprache von Nichtbaiern in Wien wie den Schwaben Michael Behaim oder Hans Hierszmann, der einen interessanten Bericht über die Krankheit und den Tod seines Herren, des öst. Herzogs Albrecht VI. verfaßte, ist hingegen deutlich als nichtbair. identifizierbar. Über sozial verteilte Ausspracheunterschiede zwischen den paurn und den Bürgern in stetten berichtet als erster Aventin in seiner Baier. Chronik (1526), z. B. hier o, dort a für a, allerdings mit der Einschränkung, daß gemainiklich disen ersten puechstaben die Baiern also aussprechen, das er meˆr dem o gleich ist dan dem rechten a, so die Schwaben und Walhen reden (Aventin 1883, 16 f., ähnlich 33). Er bietet auch eines der ganz seltenen Zeugnisse für den nordbair. „gestürzten“ Diphthong [ou], wenn er zu u˚ anmerkt, der gemain Baier auf dem land sprichts grob auß, das man peˆd puechstaben hört: kou; die in steten denen das u lang, verschlahen’s o, das laut wie e: kue kuo ku˚ (30); er gibt mit kou die ländliche Aussprache seiner Heimat Abensberg wieder. Zu p heißt es, hat gar ein klaine underschaid von b, wird eins für das ander genomen (30). Auch in Huebers Modus legendi liest man (Müller 1882, 10), p wirt auff teutsch (d. h. auf bair.!) genomenn fur das b von pessers vnd lautters thans (Tones) wegen, Exm pin purger. Aber nach Rechte (!) kunst sol man schreibn bin burger ⫺ d. h. ein phonologischer Unterschied besteht nicht, wohl aber das Wissen über schreibsprachliche Korrektheit (in Anlehnung an den sonstigen dt. Schreibusus), ähnlich zu Assimilationsformen soltu magstu : aber kunstlich d sol man schreibn solt dw magst du (10).
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
2927
Dt. ist im Verlauf des Spätmittelalters zu einer ausdrucksfähigen Sprache geworden, die den verschiedenen funktionalen Anforderungen gerecht werden konnte. In den Übersetzungen herrschte das Bemühen um ein gemeinverständliches, syntaktisch einfaches Dt. vor ⫺ nach dem gemainen laüf dewtscher sprach nach des lanndes gewonhait (Ulrich von Pottenstein, vgl. Art. 157, 4.2.). Man konnte es aber auch anders, in enger Anlehnung an das Lat. nach der ordenunge der schrifte der Vorlage (so in der Wiener Übersetzung des Wilhelm Durandus); Pottenstein nannte das die aignew dewtsch, als daz die gelerten wissen. Ulrich Fuetrer konnte der Marotte seines herzoglichen Auftraggebers Albrecht IV. von München genügen und das „Buch der Abenteuer“ in der komplizierten Titurelstrophe dichten. Neben eher handwerklich verfaßten Reimpaardichtungen (z. B. auch den vielen Spieltexten) stehen die bedeutenden Gedichte Oswalds von Wolkenstein usw. Viele Texte zeichnen sich durch eine der gesprochenen Sprache nahe Unmittelbarkeit aus, so die sehr lebendigen Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin oder die nüchternere Denkschrift Jörg Kazmairs über die Münchener Unruhen 1397⫺1403 (Maschek 1936, 212 ff.; VL2 4, 1085 ff.). Gleiches gilt für die (in unserer Region nicht sehr zahlreich erhaltenen) Privatbriefe. Eine gegenläufige Entwicklung nahm die Sprache der Kanzleien. Zeichneten sich die Urkunden des 13. Jhs. noch durch eine vom Latein wenig abhängige sprachliche Gestaltung aus, so sind Kanzleitexte seit dem 15. Jh. durch hohe Formelhaftigkeit und Unübersichtlichkeit charakterisiert, die weniger durch syntaktische Komplexität als durch Doppel- und Mehrfachausdrücke und durch zahlreiche eingeschobene Appositionen verursacht ist. Gegen diese Entwicklung polemisierte Aventin in der Vorrede zu seiner Baier. Chronik:
mügen vom latein ⫺ was ihm vorzüglich gelungen ist (Turmair 1883, 5 f.).
unser redner und schreiber, voraus so auch latein künnen, biegen, krümpen unser sprach in reden, in schreiben, vermengens felschens mit zerbrochen lateinischen worten, machens mit grossen umbschwaifen unverstendig ziehens gar von irer auf die lateinisch art mit schreiben und reden, das doch nit sein sol, wan ein ietliche sprach hat ir aigne breuch und besunder aigenschaft. Er selbst bediene sich des alten lautern gewönlichen iederman verstendigen teutsches […], so im gemainen brauch ist, in den alten sprüchen, wolgesetzten reimen und sprichworten gefunden wirt und ie dannocht nit zue weit als vil müglich ist und die art der sprachen erleiden
Lediglich die Wochentagsnamen Erchtag und Pfinztag ‘Dienstag, Donnerstag’ reichen bis in die Frühzeit des Bair. zurück. Natürlich charakterisieren in ihrer spezifischen Kombination auch solche Merkmale das Bair., die nicht auf diese Region beschränkt sind, so die Bewahrung der Diphthonge mhd. ie, uo, üe, die Unterscheidung von mhd. iu : iü und von mhd. e (Primärumlaut) : e¨ ([betn, bessa : bitn, issn] ‘Betten, besser : beten, essen’, regional allerdings auch im Bair. z. T. vermengt) oder Neuentwicklungen wie die He-
In einigen Texten, die der Reformation nahe stehen, z. B. in der Einleitung zu dem Bericht über die Hinrichtung des Wiener Bürgers Caspar Tauber 1524 (Simon 1980, 333 f.) oder in der Einleitung zu den 24 Artikeln gemeiner Landschaft Salzburg (1525; Hollaender 1931, 79 ff.), ist ein neuer Ton religiöser Sprache wahrzunehmen. 5.5. Dialekte und Dialektgeographie Die geschriebene und gedruckte Überlieferung des Bair. spiegelt nicht die ländlichen Dialekte wider. Soweit sie überhaupt auf gesprochene Sprache bezogen werden kann, reflektiert sie einen gehobenen Sprachgebrauch des Adels und der Gebildeten. Die rezenten Dialekte haben z. T. viel altertümlichere Formen und Strukturen bewahrt, die in der schriftlichen Überlieferung nicht sichtbar werden. Über die historischen Dialekte erfahren wir bestenfalls über Fehlschreibungen und durch Interpretation des Reimgebrauchs, die ersten phonetisch verwertbaren Informationen erst durch Aventin (s. o. 5.4.3.). Mit Hilfe der rezenten Dialekte und ihrer geographischen Verteilung lassen sich die Grundstrukturen der historischen Dialektgeographie dennoch einigermaßen zuverlässig rekonstruieren (Kranzmayer 1956). Wir kommen damit allerdings in der Regel nicht über das 12./13. Jh. zurück. Es ist gewiß kein Zufall, daß sich in dieser Zeit auch jene Merkmale herausgebildet haben, mit deren Hilfe das Gesamtbair. von seinen Nachbardialekten abgegrenzt werden kann: 1. [ca, ci] für ai < mhd. ei ([hcas, brcad] ‘heiß, breit’; nordbair. noch durchgehend, mbair. resthaft unterschieden in ein- und mehrsilbigen Wörtern: [hcas : hcisarig] ‘heiß : heiserig’); 2. [a] für den Sekundärumlaut ä und für æ ([naxt, kha:s] ‘Nächte, Käse’, vgl. 5.3.2.4.); 3. Pron. eß, enk ‘ihr, euch’ (5.3.2.11.).
2928
XVII. Regionalsprachgeschichte
Konsonantenlenierung p, t, kch > [b-/-w-, d, g-/gh-/ -k- (aus der Geminata ckch)], z. B. in [bi:da, we:wa, we:da, gni:c¸d, ghua, sdika] ‘Peter, Weber, Wetter, Knecht, Kuh, Stecken’, z. T. -b, -d, -g > Ø in [wai, bua, föi, gnua, grua] ‘Weib, Bub, Feld, genug, Krug’ (vgl. 5.3.2.10.). Liquidenvokalisierung 1 > [i], r > [a] in postvokalischer Position, z. B. [wcid, hoits; biag, jca] ‘Wald, Holz; Berg, Jahr’ (i, e wurden bei der l-Vokalisierung vielfältig verändert, z. B. [fi:, fü:, fei, fui; ste:n, stö:n, stein, stoin] ‘viel; stellen’; auch die Resultate der r-Vokalisierung sind regional sehr unterschiedlich). Schwund des auslautenden, z. T. inlautenden ch (< ch, h), z. B. [bc:, lo:; braua, möia; ri:, tsi:a] ‘Bach, Loch; brauchen, melken; Reh, Zehe’. Schwund des auslautenden -n in [wain, braun] ‘Wein, braun’. Das Resultat von Schwächungsprozessen sind schließlich auch Apo- und Synkope (5.3.2.7.) und die (z. T. jüngere und regional gestuft verbreitete) Vokalisierung der Endung -en nach Nasalen und nach velaren und labialen Frikativen, z. B. [re:na, nema, lai(c¸)a, steka (< stekxa), o:fa, slcffa] ‘rennen, nehmen, leihen, Stecken, Ofen, schlafen’. Im Zusammenhang mit der -e-Apokope entwikkelte sich die mbair. Einsilberdehnung (Kranzmayer 1956, § 34k): alte Einsilber mit Fortisausgang (z. B. kopf, sack, schuz, tisch) wurden gedehnt und der Konsonant leniert ([gho:bf, sc:g, su:s, di:s]), im ursprünglich zweisilbigen Pl. blieben hingegen Kürze und Fortis erhalten ([ghepf, sek, siß, diss]).
her Stufe war die Reihenparallelität allerdings durch die palatale Färbung von oˆ [öe u. ä.] gestört, die in archaischen sbair. Dialekten (z. B. Osttirol, Ahrntal, Ötztal) noch bewahrt ist. Die gleiche Entwicklung von eˆ, oˆ gilt auch im Ostschwäb. und in Westbayern. Das Nordbair. (Opf.; Rowley 1989, 417 ff.) teilt mit dem Mbair. die konsonantische Grundstruktur (ohne die l-Vokalisierung) und die Einsilberdehnung. Spezifisch ist jedoch ein geordnetes System steigender Diphthonge für mhd. ie, uo, üe (Rowley 2000) sowie für die alten Langvokale aˆ und eˆ, oˆ, œ : [leib, ghou, meid; bla˚usn, -cu-; snii, rcud, biis] ‘lieb, Kuh, müde; blasen; Schnee, rot, böse’. In der schriftlichen Überlieferung haben diese Diphthonge keine sicher identifizierbaren Spuren hinterlassen. Die nördl. Opf. etwa oberhalb von Amberg weist einige Übereinstimmungen mit dem Ofrk. auf, am auffallendsten die fallenden Diphthonge für gedehntes mhd. e, o in [rian, uafn] ‘reden, Ofen’. Nürnberg geht in vielfacher Hinsicht (z. B. mit dem Diphthongsystem) mit dem Nordbair. zusammen, während Regensburg vermutlich schon früh eine mbair. Insel in nordbair. Umland bildete (Zehetner 2002). Etwas jünger als die Nord-Süd-Dreigliederung dürfte die Gliederung in Ost- und Westbair. sein. Außer Bayern gehören das westl. Oberösterreich, Salzburg (ohne den ursprünglich kärntischen Lungau), Oberkärnten und Tirol zum Westen. Zweifellos alt ist der Schwund des -h in -ht, -hs, der vor allem im Nordbair. und in einigen mbair. Rückzugsgebieten erhalten ist (vgl. 5.3.2.10.). Alt ist sicher auch der Wandel von s- > h-, am besten erhalten in Formen von sein, z. B. [han(d), hend; hats, haits] ‘sind, seid’ vom Nordbair. bis Osttirol (da hent ‘sind’ auch in der Gottschee galt, die nach 1325 von Osttirol und Oberkärnten aus besiedelt wurde, wird der Wandel jedenfalls vor 1300 erfolgt sein; Reiffenstein 1960, 474 ff.). Andere Erscheinungen sind nur westmbair. Dabei handelt es sich um altbayer. Sprachgut, das auch (Teile von) Salzburg erfaßt hat.
Das Sbair. (Alpenbair.) hat die Schwächungen nicht durchgeführt, in den konservativen Dialekten bis heute auch die Apo- und Synkope nicht oder nur zum Teil. Besonders ohrenfällig ist die Bewahrung der Affrikate [kx]. Darüber hinaus ist sein wichtigstes Charakteristikum die Entwicklung der mhd. eˆ, œ, oˆ > [ia, ca], z. B. (sia, pias, rcat] ‘See, böse, rot’, die sich seit dem 13. Jh. belegen läßt. Auf frü-
Besonders aufschlußreich ist die Entwicklung von mhd. oˆ. Wie den œ-, oe-, Ë-Schreibungen seit dem 13. Jh. zu entnehmen ist, muß oˆ im Mbair. und im Sbair. palatovelar ausgesprochen worden sein. Dieses *[ø:] war die Grundlage von Diphthongen, von [œe] im Sbair. (weiter zu [ca]), von *[œü] o. ä. im Mbair.; darauf sind jedenfalls die rezenten Lautungen [io, ci, œi, ä] u. ä. in Oberösterreich und in verstreuten Restgebieten in Bayern und in Niederösterreich (nördl. Waldviertel) zurückzuführen. In
bung („Verdumpfung“) von mhd. a, aˆ und die Umlautentrundung. Die Binnengliederung in die drei Hauptdialekte muß sich ebenfalls in dieser Zeit ausgebildet haben. Der neuerungsfreudigste Dialekt war immer das Mbair. (Donau-IsarBair.) zwischen Wien und München (Krems ⫺ Linz ⫺ Passau ⫺ Straubing ⫺ Regensburg ⫺ Landshut ⫺ Freising). Die wichtigsten Neuerungen hatten vermutlich im städtischen Sprachgebrauch ihren Ursprung. Daneben wies das Mbair. wichtige Konservativismen auf, die heute vielfach durch jüngere Formen überdeckt, in Rückzugsgebieten (vor allem am Nord- und Südrand) aber noch nachweisbar sind. Das Mbair. ist vor allem durch verschiedene Schwächungsprozesse charakterisiert:
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit Bayern setzte sich (nur schwach palatalisiertes) [cu] durch, das die älteren, palatalisierten Diphthonge bis auf Reste verdrängte. Da [cu] auch in den tir. Gerichten Kitzbühel und St. Johann gesprochen wird, die bis 1504 bayer. waren, ist damit ein terminus ante quem für dessen Ausbreitung gegeben. Auch das Vordringen der bayer. Lautung über Salzburg entlang der Fernstraßen ins Salzkammergut und entlang der Tauernstraße ins Ennstal läßt sich mit dem Regensburger Venedighandel im 14./ 15. Jh. gut verbinden (Reiffenstein 1960, 476 ff.). In der Umgangssprache Wiens muß sich oˆ spätestens im 13. Jh. zu [c:] entwickelt haben, wie den häufigen -Schreibungen und entsprechenden Reimen zu entnehmen ist. Dieses [c:] gilt zwar heute in Wien nicht mehr, hat sich aber über ganz Niederösterreich ausgebreitet und dürfte, geographisch davon getrennt, auch von Salzburg übernommen (und später z. T. durch das bayer. [cu] ersetzt) worden sein (in Teilen des Pon- und Pinzgaues noch erhalten).
Die heutige Verteilung der Entsprechungen für mhd. oˆ und ihre erschließbare Geschichte läßt deutlich die territoriale Gliederung und die Einflußbereiche Österreichs und der bayer. Herzogtümer und die Zwischenstellung Oberösterreichs und Salzburgs im Spätmittelalter erkennen. Viele andere Erscheinungen (z. B. die Vokalisierung von -en > -a nach f in [o:fa] ‘Ofen’ in Ostösterreich und Bayern gegen [o:fn] in Oberösterreich und Salzburg) bestätigen dieses Bild. Auf die weitere und vielfach ins Mittelalter zurückreichende Binnengliederung (z. B. Kärnten, Steiermark, Tirol, östl. Niederbayern) kann hier nicht eingegangen werden. Lediglich auf die breite westtirol.-westbayer. Übergangszone zum Alem.-Schwäb. sei hingewiesen (Wiesinger 1989, 482 ff. mit Lit.). Der dominante Ausstrahlungsherd im Osten war Wien, das stark auf sein unmittelbares Umland (vor allem Niederösterreich) einwirkte. Auf der Ebene der gehobenen Umgangssprache („Herrensprache“) wird sein Einfluß bis nach Tirol gereicht haben, freilich ohne daß die Dialekte davon tangiert wurden. Eine Kennlautung des heutigen Wienerischen ist [a] für mhd. ei ([ha:s] ‘heiß’), die sich auch in den mbair. Umgangssprachen Österreichs zunehmend durchsetzt. Kranzmayer (1956, § 20g2) hielt dieses [a] für eine Folge der „Verschweizerung“ des Wiener Hofes unter den ersten Habsburgern Rudolf und Albrecht Ende des 13. Jhs. Tatsächlich gilt (heute) in der Nordostschweiz (Thurgau, Appenzell, z. T. St. Gallen) [a, ä] für mhd. ei. Aber die Habsburg liegt nicht im Thurgau, sondern im Aargau, wo [ay] für ei gilt, und es ist völlig unerwiesen, daß Rudolf sein Gefolge aus der „Ostschweiz“ mit-
2929
brachte (so Kranzmayer). Die habsburgischen Besitzungen reichten von den Vogesen bis zum Bodensee. Gegen hohes Alter des wienerischen [a] spricht vor allem, daß sich die Lautung dialektal nicht über die engste Umgebung Wiens ausgebreitet hat ⫺ in krassem Gegensatz z. B. zu dem ursprünglich ebenfalls wienerischen [c] für mhd. oˆ. Auch die schreibsprachlichen Zeugnisse sind selten und allesamt unsicher. Viel plausibler ist m. E. Pfalz’ (1944, 49 ff.) Erklärung, [a] stamme aus der mittelmährischen Verkehrssprache des 16. Jhs., einer Ausgleichssprache mit bair. und md. Zügen (anders Wiesinger 2001).
Bayern verfügte über keinen so eindeutigen Zentralort. Neben München standen Landshut, Passau und Ingolstadt zunächst durchaus gleichrangig. Genaueres werden die im Entstehen begriffenen Bayer. Sprachatlanten zu Tage fördern. Sicher ist, daß Regensburg nicht trotz, sondern wohl gerade wegen seiner überregionalen Bedeutung nicht raumbildend wirken konnte. Es blieb, auch dialektgeographisch, gewissermaßen außerhalb des Landes Bayern. Allenfalls hat es dazu beigetragen, nordbair. Merkmale nach Norden abzudrängen und durch mbair. zu ersetzen. Aber auch da dürfte der Einfluß von Straubing, Bogen und Cham ausschlaggebender gewesen sein. Nürnberg, ursprünglich bair. (z. B. für ei, gestürzte Diphthonge), scheidet im 15. Jh. aus dem Bair. aus und nimmt eine Mittelposition zwischen Bair. und Ofrk. ein („Nürnberger Raum“).
6.
Interne Sprachgeschichte
6.1. Phonologie 6.1.1. Vokalismus Im einzelnen ist zu Tab. 191.1 anzumerken: 1. Strukturelles Merkmal des Bair. ist die Trennung des Sekundärumlautes ä, æ von den anderen e-Lauten. Hingegen sind e¨ unter Dehnung und e regional mbair. und sbair. z. T. zusammengefallen (strikte Trennung bis heute in einem größeren steir.-sbg.-tir. Gebiet). Im Mbair. sind eˆ und e¨ zusammengefallen. 2. Unumgelautetes iu bleibt (außer in der nördl. Opf.) von iü getrennt. Letzteres fällt mit üˆ und nach der Entrundung mit ˆı > ei zusammen. 3. Umlautbezeichnungen ( für ü, œ) treten vereinzelt im 11. Jh. auf, werden aber bis ins 16. Jh. unsystematisch angewendet. Der Umlaut von u wird durch kk (ck), gg, pf, tz und gelegentlich sonst verhindert ([lukh, brukn, hupfn, nutzn] ‘Lücke, Brücke, hüpfen, nützen’). Hingegen beruht [a] für ä nicht auf Umlauthinderung, sondern auf Senkung. Es bleibt von a (> [c]) strikt geschieden.
2930
XVII. Regionalsprachgeschichte
Tab. 191.1: vorahd. i e¨ a
u o
800 i1 e¨2 e3
u4 o5
¯ı e¯2 a¯ ¯ı7 e¯8 ⬍ae, e⬎
a6
ai u¯9 o¯10 ⬍ao, o, oo⬎
a¯11
1100 i1 (ü4a⬍ui⬎) e3 (ö5a⬍oi⬎) e¨2 (ä6a) a6
u4 o5
¯ı7 e¯8
eu iu eo au
u¯ o¯
(ü¯9a, 15a) (oe10a)
(æ11a)
ie12 ⬍e, ea, ie⬎ uo14 ⬍o, oo, oa, uo⬎ iu15 eo16 ai13 ⬍ai, ei⬎ au17 ⬍au, ou⬎
u¯9 o¯10
ie12, 16 (üe14a) uo14 (iü15a ⫽ ü9a) iu15 ei13 (öü17a) ou17
ie12 (1)
I üe14a
a¯1
1300 i1 e3 e¨2 eˆ8
kurz/lang I ü4a u4 I ö5a o5(11) a6, 11 [c]
ei7 I aü9a ⫽ 15a (17a) ⬍ei, ie, i⬎ ai13 [oi/oa]
I œ10a oˆ10 ä6a, 11a [a] (17, 7, 9, 17a) ⬍ä, æ, (e)⬎
Schreibsprache 1500 i1 (12/16) ü4a (14a) e2, 3, 8 (6a, 11a) ö5a, 10∞ ä6a, 11a ⬍ä, e⬎ Dialekte um 1500: nordbair. i1, 4a u4 e3, 5a o5 (e¨2) a6 [c] ä6a, 11a [a]
u4, 14, 4a o5, 10, (6, 11) a6, 11 (5, 10)
ie12, (1) ei7 (17a) ai13
ei12, 14a eˆi8, 10a, (11a) ai7, 9a, 17a, (15) (ia3 oi13
mbair. i1, 4a e3, 5a, (2) e¨2, 8, 10a [i] ä6a, 11a, 17, (7, 9a, 17a; 9)
u4 o5, (11) a6, (11) [c] [a]
sbair. i1, 4∞ u4 ([ü]) e3, 5a, (2) o5 ([ö]) e¨2, 8, 10a a6, (11) [c] ä6a, 11a, 17 (17a) [a]
ie12, 14a oi13 ai7, 9a, 17a ie12, 14∞ eˆa8, 10∞ ai7, 9a, (17a)
üe14a
uo14(4) ⬍u, u˚, uo⬎ eu15 ⬍iu, eu⬎ au9, 17 ⬍ou, au, u˚, u⬎
ue14, 14a eu9a, 15, 17a au9 ⫽ 17
ou14 oˆu10, 11 au9, 17 (eu15) ua5) oa13 ue14 oa13 eu15 [eo, ui, oi] oe10, [öü, öo] au9, (17) ue14 [üe] øa10 J oa13 eu15 [ui, oi] au9
Ausgangspunkt der obigen Systeme ist das vorahd. Phonemsystem (*). Die Indizierung der Phoneme (fett gedruckt, Allophone normal) erfolgt nach dem Stand von ca. 800 (die Monophthongierung von germ. ai, au unter bestimmten Bedingungen [r, w, h; Dentale] und die Diphthongierung von e¯2 ist praktisch abgeschlossen, die Diphthongierung von o¯ ist im Gang; der Primärumlaut von a ⬎ e ist durchgeführt). Indexziffern mit a bezeichnen Umlaute. Historische Schreibungen (⬍ ⬎) werden nur dann mitgeteilt, wenn sie stärker variieren, Lautungen ([ ]) nur gelegentlich.
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit 4. Mhd. i wird vor allem mbair., z. T. nordbair. vor h, z. T. vor d, t und Nasalen und auch sbair. vor r zu ie gedehnt (sieht, vieh; schiedung; iem, ien; wier), seltener u vor n zu uo (duonren ‘donnern’). 5. Auch nach der Dehnung bleiben die historischen Langvokale qualitativ überwiegend von den Kurzvokalen getrennt, ˆı, uˆ werden diphthongiert, eˆ, oˆ erfahren Sonderentwicklungen (lediglich mbair. fällt eˆ mit e¨ zusammen). Nur æ und ä fallen überall sowie aˆ und a im Sbair. und z. T. im Mbair. zusammen (älter dort Zusammenfall von aˆ mit o oder, wie im Nordbair., Entwicklung zu [a˚u, cu]). 6. Mhd. o und a sind vor r, wie frühe Reime und Schreibungen (<sarg, margen> ‘Sorge, morgen’) erweisen, weithin in [c] zusammengefallen (nicht so z. T. noch heute in den Mundarten). Z. T. ist vor allem mbair. o vor h, r zu oˆ gedehnt worden (häufig die Schreibung tachter ‘Tochter’). 7. Nordbair. Kennmerkmale sind die „gestürzten“ Diphthonge für ie, uo und offene Diphthonge ([ii, cu]) für eˆ, oˆ, die in der Überlieferung aber keinerlei Niederschlag fanden. Wenn die Entwicklung von /ie, uo/⬎ [ei, ou] über eine monophthongische Zwischenstufe [i6, w6] etwa im 12. Jh. erfolgte (so zuletzt überzeugend Rowley 2000), dann liegt hier eine bemerkenswerte, alte Gemeinsamkeit mit dem Ostfrk. voraus. Nördl. von Weiden wurde wie im angrenzenden Ofrk. gedehntes e, o > [ia, ua]. Im größeren Nordteil sind iu und iü in [ai] zusammengefallen. 8. Mbair. ist vor allem die Entwicklung von oˆ charakteristisch. Auszugehen ist, wie für das Sbair., von einer palatovelaren Lautqualität, die zu verschiedenen rezenten Diphthongen ([io, ci, ii] u. ä.) geführt hat. Von Wien aus wurden im Ostmbair. diese Diphthonge durch „herrensprachliches“ [c] () überlagert, im Westmbair. wurde (nordbair.?-) mbair. [cu] generalisiert. Eine Altertümlichkeit gegenüber dem Sbair. stellen Sonderentwicklungen von aˆ dar (> [o:, cu]). Nur mehr in Resten ist die früher wahrscheinlich allgemeine mbair. nordbair. Entwicklung von [ai, au] > [a] erhalten (z. B. [san, fraham, lad, manhard; assi, affi] ‘sein, Freiham, legt < leit < legit, Meinhard < Megin-; aushin, aufhin’); lediglich für mhd. ou gilt überwiegend (auch sbair.) [a], z. B. in kaffm, la:b usw. ‘kaufen, Laub’. Die vielfältigen Vokalentwicklungen mit vokalisiertem l, r können hier nicht dargestellt werden. In der schriftlichen Überlieferung ist lediglich die Hebung von er > ir etwas häufiger bezeichnet worden. In der Entwicklung der Vorderzungenvokale vor (mit) vokalisiertem l besteht ein deutlicher Unterschied zwischen Ostmbair. (> [ö, ü]) und Westmbair. (> [ei, ui] u. ä.). Vor Nasal wurde ie, uo zu [ean, oan] gesenkt ([deanst, doan] ‘Dienst, tun’). 9. Sbair. Kennmerkmal sind [ia, ca] für eˆ, oˆ. Nach der Entrundung muß, wie alle altertümlichen Mundarten erweisen, Palatalisierung aller Hinterzungenvokale eingetreten sein, die von den verkehrsoffeneren Mundarten aus wieder rückgängig gemacht wurde. Dabei wurde [öe] < oˆ zu [ca] und fiel mit der Entsprechung für ei zusammen.
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6.1.2. Konsonantismus 1. Die 2. Lautverschiebung ist im Bair. in allen Positionen voll durchgeführt, auch in -rk, -lk (march, kalch). Die LV beseitigte zunächst die Sonoritätsopposition sth. : stl. (b : p), die aber durch die ahd. Lenisierung der Frikative f, p (> d!), s wieder eine begrenzte Geltung erhielt. Durch die Verschiebung von p > ff erhielt die Opposition Simplex : Geminate (später Lenis : Fortis) eine erhebliche Stärkung; sie blieb bair. im Prinzip auch nach Langvokal (der mbair. gekürzt wird: [slcffm, strcssn] ‘schlafen, Straße’) bewahrt. Eine Störung der Reihe ergibt sich durch p > d, das als einziger sth. Verschlußlaut in Opposition zu t steht, während die orthographische Unterscheidung von und phonologisch unerheblich bleibt (stl. Verschluß, lenis bis fortis). t und die Geminaten pp, tt, kk sind unaspieriert. Eine neue Reihe bilden die Affrikaten. 2. Anlautendes h- vor Konsonant (hw-, hrusw.) verstummte bair. schon in frühahd. Zeit. Der Labiovelar kw- verlor seit spätahd. Zeit die labiale Komponente (Schatz 1907, 94). Die Lautqualität des folgenden Vokals konnte dabei labialisiert werden (queman > khumen, -o-, quena > kone usw.; dialektal z. T. bis heute kemmen, kimt; quedan > keden). Die Lautgruppe tw- (< dw-, pw-: twerch, twahen) wurde seit dem 14. Jh. z. T. durch kw- oder zw- ersetzt, blieb z. T. aber auch lange erhalten (Reiffenstein 1963, 338 ff.). 3. Die mhd. Auslautverhärtung veränderte in erster Linie -g, das mit -kch zusammenfiel ( usw.). Sbair. sind diese Affrikaten z. T. bis heute bewahrt. 4. Die mbair. nordbair. Konsonantenlenierung, die orthographisch fast nur in Fehlschreibungen faßbar wird, war nach der 2. LV die zweite tiefgreifende Umgestaltung des Konsonantensystems. Im An- und Auslaut fallen d : t und g : kch vor Konsonant (Gras, Glas, Gnade : Krug, Klee, Knecht) zusammen und bilden mit b eine Reihe. Lediglich vor Vokal bleibt kch- als gh- erhalten ([ghua] ‘Kuh’]. Inlautend fällt auch d : t zusammen (Leder : Wetter); Relikte weisen auf eine ursprüngliche Trennung in t > d : d > I > r ([fuada : bruara] ‘Futter : Bruder (verbreitet bei der Assimilation an -en: [gne:dn : re:’n] ‘kneten : reden’). -b, -d, -g schwinden z. T. im Auslaut und werden generell an -en assimiliert zu [-m, -n, -ng). Die alten Geminaten und kch bleiben im In- und im sekundären Auslaut als Fortes erhalten ([supm, hitn, brukn, stekn] ‘Suppe, Hütte, Brücke, Stecken’, [ro:g : rek] ‘Rock : Röcke’). Durch den Zusammenfall von gg3a und kch6a wird die Affrikatenreihe inkomplett. Der Verlust der Affrizierung/Aspirierung von kch muß nach der Vokalisierung von -en nach Velarfrikativ ([mccha] ‘machen’) > -a erfolgt sein, da strikt zwischen [brukn] und [stika] (< stikchen) unterschieden wird. 5. h verstummte mbair. und nordbair. im Auslaut (gemeinsam mit h < hh), z. T. im Inlaut. Sbair. wird h im In- und Auslaut zum Frikativ. Schreib-
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XVII. Regionalsprachgeschichte
Tab. 191.2: Anlaut: vorahd. b1 d2 p4 t5 f7 p8 w11 m13
1400 p1 b(1), 11 pf4 f7 m13
s9
g3 k6 h10 j12
n14 r15 l16
t2 d8 z5 s9
g3, (12) kh6 h10 j12
n14 r15 l16
Inlaut: vorahd. b1 d2 bb1a dd2a p4 t5 pp4a tt5a f7 p8 s9 ff7a pp8a ss9a w11 m(m)13 n(n)14 r15 l16
g3 gg3a k6 kk6a h10 hh10a j12
1400 b1, 11 pp1a pf4a f7 ff4, 7a (w1, 11) m(m)13
800 p1 pf4 f7 w11 m13
m-/nbair. b1 (b(1), 11) bf4 f7 (w(1), 11) m13
t2 d8 z5 s9 n14 r15 l16
d2, 8 ds5 s9 n14 r15 l16
800 p1 t2 (b1) d8 pp1a tt2a, 8a pf4a tz5a f7 s9 ff4, 7a zz5 ss9a w11 m(m)13 n(n)14 r15 l16
g3, (12) kk3a kch6a h10 hh6, 10a
n(n)14 r(l)15 l(l)16
Auslaut: voradh. b1 d2 p4 t5 pp4a tt5a f7 p8 s9 w11 m13 n14 r15 l16
g3 k6 kk6a h10
b1 pp1a pf4a f7 ff4, 7a (w1, 11) m(m)13
800 p1
1100 p1 (b1) pf4 f7 w11 m13
t2 d8 z5 s9
g3 kch (kh)6 h10 j12
n14 r15 l16
Dialekte um 1500 sbair. g3, (6, 9) p1 t2 b(1), 11 d8 gh6 pf4 z5 h19 f7 s9 j12 weiter wie m-/bair.
k3⫹ g3 kch6 h10 j12
1100 k3 (g3) kk3a kch6a h10 hh6, 10a j12 (⬎ I, O)
t2 b1 d8 pp1a tt2a, 8a pf4a tz5a f7 s9 ff4, 7a zz5 ss9a w11 m(m)13 n(n)14 r15 l16
g3, (12) kk3a kch6a h10 hh6, 10a (j12⬎I, O)
Dialekte um 1500 sbair.
m-/nbair. t2 d8 tt2a, 8a tz5a s9 ss5, 9a
k3 (g3) kch6 h10 j12
d2, 8 g3 (12) tt2a, 8a kk3a, 6a tz5a s9 h10 ss5, 9a hh6, 10a (I8) n(n)14 r/a/O15, (8) l/i/O16
t2 d8 pf4a tz5a f7, 4 z5 s9 (w11 ⬎ o, u) m13 n14 r15 l16
k3 (g3) kch6a h10, 6
b1, 11 pp1a pf4a f7 ff4, 7a w1, 11 m(m)13
t2 d8 tt2a, 8a tz5a s9 ss5, 9a
g3 (12) kk3a, 6a kch6a h10 hh6, 10
n(n)14 r(r)15 l(l)16
1100 (p1) t2 b1 d8 pf4a tz5a f7, 4 z5 s9 (w11 ⬎ o, O) m13 n14 r15 l16
g3 kch6a, 3 h10, 6
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
2933
Tab. 191.2: (Fortsetzung) 1400 p(p)1a* b1, 11* pf4a f4, 7 (ff4 m13
t(t)2, 2a* d8 tz5a s5, 9 ss5, 9a n14 r15 l16
k(k)3a* g3 (3a*) kh6a, 3 ch6, 10 ch6)
m-/nbair. p1a* b1, 11* pf4a f4, 7 ff4* m13
Dialekte um 1500 sbair. t2a* k3a*, 6a* p1, 1a* d2, 8 g3, 6a b1*, 11* tz5a pf4a s5, 9 (9a) (ch6, 10 ⬎ O) f4, 7 ss5*, 9a* ch6* m13 n14* (⬍ nn), Vn14 a, O15 i, O16
t2, 2a* d8 tz5a s5, 9, 9a
k3a* g3* kh6a, 3 ch6, 10
n14, 14* (⬍ nn), (Vn14) r15 l16
Anmerkung: Indexziffern mit a bezeichnen Geminaten; * bezeichnet sekundären Auslaut (nach Apokope). k3⫹ ⫽ gg im Anlaut (sbair., ursprünglich vielleicht gemeinbair.; Kranzmayer 1956, § 37 a). Vor historischer Geminate (Fortis) gilt auch nach der Dehnung Kurzvokal (außer mbair. nordbair. bei Einsilberdehnung).
sprachlich überwiegt im Inlaut -h- (sehen), aber vor allem seit dem 15. Jh. ist auch -ch- häufig (<sechen, bevelchen, hoche, siechstu> usw.; Tauber 1993, 142 f.). Auslautend (auch im sekundären Auslaut) dominiert ( usw.). In den Lautgruppen ht, hs schwand westmbair. und nordbair. das -h-; dieser Schwund blieb aber immer dialektal und fand in der Schreibsprache kaum Niederschlag. 6. Nordbair. ist der Übergang von j- > g([ga˚ua, gung] ‘Jahr, jung’), sonst nur vor i ( ‘jiht, spricht’) und nach r, l ( < *Giljus < Ägidius). Häufig erscheint -g- als Hiatustilger, wahrscheinlich meist nur graphisch (<eiger> ‘Eier’). 7. Der Sibilant z(z) fiel seit dem 13. Jh. mit s(s) zusammen. Konservative Schreiber halten aber z. T. noch bis ins 14./15. Jh. mehr oder weniger korrekt an der Unterscheidung fest. Seit dem 15. Jh. unterscheiden einige Texte zwischen das (Art., Pron.) und daß, daz (Konj.; Reiffenstein 2000). Für das Prät.-Präs. skulan ‘sollen’ wird solen vereinzelt seit dem 12. Jh. geschrieben; seit dem 13. Jh. gehen s- und sch-Formen nebeneinander, sch- hält sich aber bis ins 15. Jh. gut und wird für das Nordbair. („Ob. Nab“) noch von Schmeller bezeugt (Tauber 1993, 141). 8. Der Schwund von -n unter Nasalierung des vorhergehenden Vokals (Wain, braun ‘Wein, braun’) dürfte gemeinbair. gewesen sein (Kranzmayer 1956, § 46c), fand in der Überlieferung aber nur geringen Niederschlag. Im Sbair. wurde -n weitgehend wieder restituiert. -nn im sekundären Auslaut blieb erhalten (Wean, sun ‘Wien < Wienne, Sonne’). Nach u trat gelegentlich Labialisierung ein, relativ häufig belegt in -um für -ung (Tauber 1993, 146; Kranzmayer 1956, § 23a4.5), Gutturalisierung von -nn- vor allem in gewingen ‘gewinnen’ (Tauber 1993, 145; noch nicht in den Urk. des 13. Jhs.). Die Lautgruppe mb blieb im allgemeinen als mp erhalten (krump, Kampel), wurde in einigen
Wörtern aber durch (md.) m ersetzt (Zimmer, um). Die häufige Schreibung -mb für -m (-tumb, -samb usw.) ist ein nur schreibsprachliches Phänomen.
6.2. Morphologie 6.2.1. Nebentonvokalismus In den Endungen zeigen sich früh Unsicherheiten in der Bezeichnung der Vokale. Im Bair. besteht eine recht deutliche Tendenz zur Ausweitung von a. Seit dem 10. Jh. wird i, e häufiger, das seit dem 12. Jh. weitgehend durch generelles e ersetzt wird. Besser bewahrt blieb bis um 1200 das stammbildende oˆ der schw.V. II (z. B. im Prät.: suochot usw.), das Suffix -ære (, daneben Zusammenfall mit -er; ähnlich auch -bære) und vor allem das pron.-adj. -iu (<eu, ew>) bis ins 14., z. T. bis ins 15. Jh. In Wortbildungssuffixen blieb der Vokal im allgemeinen unverändert. Seit dem 13. Jh. wurde das Inventar der Flexionsendungen durch die Apound Synkope radikal verkleinert. Auch in den Präfixen ga-, far-, za ist a in frühahd. Zeit ein Charakteristikum des Bair. Seit dem 10. Jh. erfolgt auch hier die Abschwächung zu ge-, gi- usw. Die Synkope des -e- wird in der Überlieferung eher wortweise faßbar (gnade, glauben, gleich; bleiben; überall daneben ge-, be-). Sie gilt im Sbair. überwiegend bis heute nicht (Wiesinger 1989, 63 ff.). 6.2.2. Nominal- und Pronominalflexion Die wichtigste, allerdings nicht nur bair. Besonderheit der ahd. Zeit ist -in im GDSg. schw.MN (Subst. und Adj.) und der dadurch
2934 bewirkte Stammsilbenumlaut (in ON bewahrt). Die Apo- und Synkope seit dem 12./13. Jh. hatte eine radikale Einschränkung der Kasusund Numerusmarkierung am Substantiv zur Folge. Im 15. Jh. hat das zu einem System mit lediglich drei Flexiven geführt: -es (; nach (mit) t häufig , z. B. gotz, landtz usw.) für GSg. st.MN; -(e)n für DPl. st. MNF, z. T. für den GPl. st.F (alte oˆ-St.) und für alle Kasus der schw. MNF mit Ausnahme des NSg. MNF und ASg. N (vereinzelt aber auch da -en, z. B. willen und vor allem bei F: kerzen, kirchen, lukchen, reben usw.; seit dem 17. Jh. generalisiert); -er für den Pl. einiger st.N, deren ursprünglicher Bestand jedoch noch wenig erweitert war (überwiegend noch Pl. wort, kind, ort, land usw., daneben etwas häufiger güeter, glider u. a.; nach dem WMU -er im 13. Jh. vor allem alem. md.). Ohne Flexiv blieben NADSg. NAGPl. st. MN, NAGDSg. NAD(G)Pl. st.F und NSg. schw. MF, NASg. schw. N.
Bei den alten i-St. und bei den N mit -er-Pl. trat im Pl., soweit möglich, Umlaut ein (gest, kreft; Übertragung des Umlautes auf andere Subst. noch selten, z. B. vereinzelt täg, ärzt). In der gesprochenen Sprache kam mbair. nordbair. zur Numerusdifferenzierung noch die Opposition Langvokal ⫹ Lenis (Sg.) : Kurzvokal ⫹ Fortis (Pl.) hinzu, die aber nur eine kleine Gruppe st. Subst. betraf (Einsilber mit ursprünglicher Geminate, Affrikate oder sk im Auslaut). Wichtig an dem Entwicklungsstand um ca. 1500 ist, daß das System zwar weder die Funktion der Kasus- noch die der Numerusdifferenzierung in befriedigender Weise wahrnehmen konnte, daß aber Tendenzen zu einer Neuordnung (Numerusdifferenzierung) noch kaum erkennbar sind. Die Ursachen des Systemzusammenbruchs liegen eindeutig im lautlichen Bereich. Von den nominalen Wortbildungssuffixen ist -nuss/-nüss als bair. Kennform bis ins 18. Jh. hervorzuheben. Die Mängel des Nominalsystems wurden z. T. durch das Pronominalsystem (Artikel, Dem.-Pron. st. Adj., dessen Flexion zur Hauptsache der pron. Flexion entnommen ist) ausgeglichen, das sich seit dem Mhd. nicht prinzipiell verändert hatte. Wichtigstes Merkmal des Bair. (und des Alem.) ist die Beibehaltung von -iu (<eu>) für den NSg. F. und NAPl. N bis ins 14., in Resten bis ins 15. Jh. (dev/dew, seu u. ä. neben die/di, sei, si; durchgehend > ie, e im Md.). Nur im Bair. hat sich auch der erstarrte Instr. diu erhalten (WMU 1, 389). Vor
XVII. Regionalsprachgeschichte allem bei den Pron. und vereinzelt in der Adj.-Flexion wurde -iu allerdings auch auf den ASg. F und NAPl. MF (mhd. die ) übertragen (wie bei di(e) im Md.; WMU s. v. der, er). Auch nach der Abschwächung der Adj.-Endung -eu > -e blieb der alte Unterschied im allgemeinen aufrecht, da dieses -e im Gegensatz zum älteren -e im ASg. F und NAPl. MF nicht apokopiert wurde (z. B. Kottannerin ir verpargnew weishait, ain alte fraw, ettliche slos : ettleich grafen, zwo erber frawn usw.). Synkopen in -en, -es nach n, s führten allerdings auch in der pron. und adj. Flexion zu Endungsverlusten, z. B. einen, grosses > ein, gross. In gesprochener Sprache wurde mindestens seit dem 13. Jh. -em zu [n] abgeschwächt, was oft auch in die Schreibung Eingang fand, gelegentlich auch in „falschen“ mSchreibungen für -n. Nur aus den Urkunden des 13. Jhs. ist mir die Übertragung des pron. m in den DSg. schw. MN bekannt ( ‘Herrn’ usw.; s. o. 5.3.2.11.). Seit dem 15. Jh. finden sich auch in bair. Texten erweiterte Formen für den DPl. (denen, ine[n]), zunächst nur in pron. Gebrauch. Noch sehr selten sind später häufige kanzleisprachliche „Restitutionsformen“ wie deme, ime. ⫺ Bair. Charakteristikum bis ins 18. Jh. ist die Superlativform -ist (eltist, minnist usw.).
6.2.3. Verbalflexion Die Verbalflexion weist im Bair. wenig Besonderheiten gegenüber den anderen dt. Regionen auf. Für die Entwicklung der Vokale in unbetonten Silben gilt das in 6.2.1. Gesagte. Nur oˆ der schw. V. II hielt sich etwas länger (bis ins 12./13. Jh.). Seit dem 13. Jh. verhält sich das Bair. im Vergleich zu den Nachbarregionen insofern konservativ, als es verschiedene Neuerungen nicht mitmachte. Die st. V. II-V behielten im ganzen Sg. Präs. Ind. i bzw. iu, eu bei (dialektal bis heute), während im Md. die 1.P. nach dem Pl. ausgeglichen wurde (ich sich : ich sehe). Der Dreiformenpl. im Präs. Ind. (-en/-et/-ent) blieb (ebenfalls bis heute) im größeren Teil des Bair. erhalten. Lediglich das Nordbair., Westbayern und Tirol gehen zum Zweiformenpl. (-en/-et/-en) über (wie Ofrk. und Md.), der freilich im 15. Jh. auch in die Schreibsprache eindringt; -ent- Formen für die 3. P. begegnen aber noch im 16. Jh. Scharf ist die Grenze zum Schwäb. mit Einheitspl. (-ent). Syn- und Apokope führten vor allem bei den schw. V. zu Endungsverlusten und zum Zusammenfall verschiedener Personalformen, z. B. legt 3. P. Sg. 2. P. Pl. Präs., 1. 3. P. Sg. 2. P. Pl. Prät., rat 1. 3. P. Sg. 2. P. Pl. Präs., geret ‘geredet’ usw. Das Präfix ge- wurde mbair. vor Explosiva getilgt (assimiliert), z. B. <poten, tan, kaufft> ‘geboten, getan, gekauft’.
191. Sprachgeschichte des Bayerisch-Österreichischen bis zum Beginn der frühen Neuzeit
Der „Rückumlaut“ bei schw. V. wurde im Part. Prät. nach dem Präs. ausgeglichen (z. B. genen(n)t). Schreibsprachlich ist epithetisches -e in der 1. 3. P. Ind. Prät. st. V. (sahe, warde usw.), sei es in Analogie zu den schw. V. oder als hyperkorrekte Reaktion auf die Apokope. Vereinzelt begegnen solche Formen seit dem 13. Jh., zur „Norm“ werden sie aber erst im 17. Jh. Im Part. Präs. und im Prät. der schw. V. haben sich Formen der schw. V. II durchgesetzt: der typisch bair. Form -und(e) (vom 12.⫺18. Jh., Weinhold 1867, 294, 311; dialektal heute [-at] u. ä., Wiesinger 1989, 52 ff.) liegt -oˆnti zugrunde. Auch [-at] für den Konj. Prät. (in der Funktion eines Irrealis) in den rezenten Dialekten kann nur auf -oˆti zurückgehen. Diese Formen lassen sich zwar frnhd. noch nicht belegen, wohl aber für den Ind. Prät. bei Kurzmann (Wiesinger 1992, 375) und in den Denkwürdigkeiten der Kottannerin (dort geschieden von für den Konj. Prät., z. B. wessat 13, 11 u. ö., stellat 22, 25 : wesset, -iet 13, 37 u. ö., stelliet 13, 5. 22, 1 [aber 20, 18 stellat Konj.]), freilich neben den „normalen“ synkopierten Formen (z. B. westen). Nur in Westtirol liegt, wie im angrenzenden Alem., den dialektalen Formen der 1. P. Präs. Ind. mehrsilbiger schw. V. die Endung -oˆn/-eˆn der schw. V. II, III zugrunde (Schatz 1897, 174). Von besonderen Verbformen sei lediglich hiet(e) für das Prät. von haˆn angeführt, das seit dem 12. Jh. vor allem für das Mbair. charakteristisch ist (und herrensprachlich darüber hinausgreift). ⫺ Die Suffigierung des Pron. es ‘ihr’ an die 2. P. Pl. (heute allgemein umgangssprachlich) wurde in der Überlieferung als bäuerlich-dialektal gemieden, ebenso wie das Pron. selbst. Daß es diese Suffigierung aber seit dem 14. Jh. gab, belegt ausgerechnet Wittenwilers Ring e (6769 machtz nit lang, 6807 ır seits der ain)! 6.3. Syntax Ob in der syntaktischen Entwicklung von spezifisch bair. Prozessen und Phänomenen gesprochen werden kann, muß ich offen lassen. Obd. Charakteristika wie der Schwund des Prät. und seine Ersetzung durch ein analytisches Perfekt oder die Ausbildung eines Irrealis auf -et, -at werden erst seit dem 16. Jh. faßbar. Auch die heute für die mbair. und nordbair. Dialekte charakteristische Möglichkeit, die inchoative Aktionsart analytisch durch werden ⫹ Part. Präs. auszudrücken (z. B. er ist rennend [re:nad] worden ‘Er hat zu laufen begonnen’, das Heu ist bren-
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nend [bre:nad] worden ‘das Heu hat zu brennen begonnen’, es wird regnend [re:ngad] ‘es beginnt zu regnen’) hat zwar Entsprechungen seit dem Ahd. (ohne sprachgeographischen Schwerpunkt), bleibt in der Überlieferung aber sporadisch (Saltveit 1962). Viele Texte vor allem des 14. und 15. Jhs. weisen deutlich sprechsprachliche syntaktische Merkmale auf (zu Kurzmann vgl. Wiesinger 1992, 379 ff.), z. B. die anaphorische Wiederaufnahme des Subjekts (häufig bei der Kottannerin, z. B. 19, 28 ff. … meiner frawn gnad, die get … Die fraw, die antburt mir … der krieg der dewcht mich … die zwo, die bei ir waren, die kunden nicht usw.). Aber auch das ist natürlich nicht spezifisch bair. Typisch obd. ist heute der ausgedehnte Gebrauch des best. Art. vor PN (der Hans, die Maier; standardsprachlich vor allem bei Künstlernamen: die Wessely). Wenn sich dies gehäuft in einer Regensburger Handwerkerurkunde von 1283 findet (der Albrecht, der rvger, der heinrich usw., Corp. 600), dann entspricht das wohl dem sozialen Milieu der Urkundsparteien. Im allgemeinen spielt dieser Sprachgebrauch in der Schreibsprache aber keine große Rolle. In den beiden autobiographischen Texten von Jörg Kazmair (Maschek 1936, 212 ff.) und der Kottannerin ist eine soziale Differenzierung recht deutlich erkennbar: bei Kazmair werden den Namen von Bürgern oft Art. vorangesetzt (vor allem den Familiennamen, d. h. Übernamen der Pöschl, der Chrel, der Lang, aber auch der Ulrich Tichtl, der Tichtl, der Ruedolf, der Ulrich Ebner usw., öfter freilich ohne Art.), auch dem Namen eines ministerialen Gegenspielers Herzog Ernsts (der Waldekher, vgl. Spindler 2, 1988, 568), den Namen der bayer. Herzöge aber nie. Ähnlich verfährt die Kottannerin; lediglich Angehörige des Personals werden mit Art. genannt (die Dachpekchinn, die Subenlinderinn, die Margret, der Vinsterlein, der Kottanne¨r), die Namen der Adeligen und der ungar. Magnaten (z. B. (herr) Lasla wan ‘Banus Ladislaus’) bleiben immer ohne Art. In gleicher Weise wird auch in der internen Korrespondenz der Kanzlei Maximilians I. verfahren (neben „normalem“ ir kay. Mt. heißt es allerdings gelegentlich auch die kay. Mt. Moser 1977, 2, 95 ff.). ⫺ Allgemein obd. seit dem 14. Jh. ist auch die tun-Periphrase (Reichmann/Wegera 1998, 312; z. B. Moser 1977, 2, 116 E.g. thue ich auch anzaign, das und die häufige Schlußformel thu mich … beuelhen u. ä.).
2936
XVII. Regionalsprachgeschichte
Im übrigen gelten die allgemeinen Entwicklungstendenzen des Satzbaues und der Wortstellung.
Craffonara, Lois, Ladinien. In: Hans Goebl u. a. (Hrsg.), Kontaktlinguistik. 2. Bd. Berlin 1997, 1383⫺1398. (HSK 12, 2).
7.
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2942
XVII. Regionalsprachgeschichte
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Ingo Reiffenstein, Salzburg
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Einführung Die Region Periodisierung Oberdeutsche Literatursprache (1550⫺1750) Bayerisch und Hochdeutsch (1750⫺1950) Ausblick (seit 1950) Literatur (in Auswahl)
1.
Einführung
Das Bairische war bis ins 16. Jh. eine regionale Varietät des Dt. neben den anderen dt. Regiolekten. Sie alle waren von keiner Leitvarietät überdacht. Das heißt nicht, daß es keine gegenseitigen Beeinflussungen gegeben hätte, aber es heißt, daß es keine Norm über den Regionalsprachen gab, der zu genügen irgend ein Sprecher oder Schreiber des Dt. sich genötigt gefühlt hätte. Dies begann sich seit der ersten Hälfte des 16. Jhs. zu ändern. Als erster formulierte der Schlesier Fabian Frangk (1531) das Ziel einer Gemeinsprache
über den Landsprachen mit jren misbreuchen (vgl. Art. 157, 3.2.2.); später nennt Schottelius (1663) dieses Ziel Lingua ipsa Germanica. Bis zu seiner Erreichung sollten zwar noch gut 200 Jahre vergehen, aber die Forderung war gestellt, und vor allem der protestantische Raum machte sie sich zu eigen. Seit dem 17. Jh. verschob sich die Bedeutung des Begriffes hochdeutsch (-teutsch); war er bis dahin ein ausschließlich sprachgeographischer Begriff (hochdt. versus niederdt.), so trat nun die axiomatische, normative Bedeutung ‘dt. Hochsprache’ hinzu. Materiell war dieses Hd. vor allem auf das Omd. gegründet, ideologisch wurde es, wenigstens bis ins 17. Jh., in die Nachfolge der Sprache Luthers gestellt. Im obd. Süden war in der Sprache der kaiserlichen Kanzlei Maximilians ein Ausgleich in hohem Maße erreicht worden (vgl. Art. 191, 5.4.3.). Diese Sprache war nicht weniger Hochsprache als das auf omd. Basis sich all-
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit
mählich ausbildende Hd.; Interferenzen aus den gesprochenen Dialekten spielten, vor allem in der Druckersprache, eine geringe Rolle. Insofern ist sie durchaus überdachende Leitvarietät über den Dialekten. Von der Grundlage der bair. Schreib- und Druckersprache des frühen 16. Jhs. her entwickelte sich die Literatursprache im katholischen Süden kontinuierlich weiter. Die veränderte Verteilung der Gewichte zwischen Obd. und Md. kommt freilich darin zum Ausdruck, daß manche Anpassungen an den omd. Schreibgebrauch (z. B. Dehnungs-h u. a.) vorgenommen und daß gleichzeitig aus dem omd. Schreibusus einige obd. Formen (z. B. ai) wieder zurückgedrängt wurden. Die Unterschiedlichkeit blieb jedoch deutlich ausgeprägt und wurde seit dem 17. Jh. konfessionell verschärft. Von einer „Überdachung“ der obd. Literatursprache durch das Hd. kann jedenfalls keine Rede sein, umso weniger als sich katholische Buchdrucker auch schwäb., ofrk. und wmd. Provenienz (bis Köln) an der obd. Literatursprache orientierten. Vielmehr standen sich eine md.protestantische und eine obd.-katholische Leitvarietät prinzipiell gleichberechtigt gegenüber, wenn auch der omd. Variante in mehrfacher Hinsicht (z. B. Quantität und Textsortenvielfalt der Druckproduktion) ein Übergewicht zukam. Eine Heraushebung und Sonderbehandlung Bayerns innerhalb des Obd. findet eine hinreichende Begründung darin, daß der wittelsbachische Staat durch 200 Jahre im katholischen Deutschland eine unangefochtene Vormachtposition einnahm. Spätestens seit dem 18. Jh. geriet das Obd. zunehmend in eine Defensivstellung gegenüber dem sich nun festigenden Hd. In der zweiten Hälfte des 18. Jhs. schlossen sich Bayern und Österreich rasch und im ganzen ohne Widerstände dem neuen Hd. an. Seither gibt es im schriftlichen Sprachgebrauch nur mehr eine dt. Leitvarietät. Erst von da an ist bayer. Sprachgeschichte im wesentlichen eine Geschichte der Pragmatik von dt. Hochsprache und bayer. Dialekten.
2.
Die Region
Der folgenden Darstellung wird der bair. Anteil des heutigen Freistaates Bayern zugrundegelegt, d. h. die beiden Regierungsbezirke Ober- und Niederbayern und die Oberpfalz mit angrenzenden Gebieten (West-
2943
grenze Lech ⫺ Weißenburg ⫺ Hersbruck ⫺ Selb, vgl. BWB 1, XXX ff.). Diese Region besitzt eine erstaunliche historische Kontinuität: nach mehreren Teilungen im 13. und 14. Jh. gelang Herzog Albrecht IV. 1505 die Vereinigung der altbayer. Teilherzogtümer, 1628 konnte Kurfürst Maximilian I. die Oberpfalz zurückgewinnen (die noch bestehenden Enklaven Pfalz-Neuburg und Sulzbach waren in der Hand der pfälzischen Wittelsbacher). Der Preis für Kaiser Maximilians Hilfe im Landshuter Erbfolgestreit 1504/1505, der die Einigung Altbayerns brachte, war die Abtretung der Landgerichte Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg an Tirol, die trotz jahrhundertelanger Bemühungen nicht rückgängig gemacht werden konnte. 1779 ging im Bayer. Erbfolgekrieg das Innviertel an Österreich verloren. Wiederholte bayer. Versuche, nach Osten ausgreifend Oberöst. zu erwerben, blieben ohne Erfolg. Hingegen konnte Bayern seit 1803 durch die Säkularisierung geistlicher Fürstentümer und durch Mediatisierungen (als Kompensation für den Verlust der linksrheinischen Pfalz an Frankreich) und durch die kluge Politik Montgelas’ sein Staatsgebiet wesentlich vergrößern (Franken, Bayer. Schwaben) und sich die vielen Enklaven (Reichsstädte, Reichsrittertümer) einverleiben. Die neuen Gebiete wurden erstaunlich rasch in das neue Königreich Bayern (1806) integriert. Von geringfügigen Korrekturen und vom Verlust der Pfalz abgesehen, hat der 1814/15 bestätigte Gebietsstand seine Kontinuität bis heute bewahrt. Die Sprachgeschichte der neubayer. Regionen ist nicht Gegenstand dieser Darstellung (vgl. dazu die Art. 163, 187). Wohl aber werden sprachliche Auswirkungen der neuen staatlichen Identität Bayerns auf die Sprachverhältnisse in Altbayern zur Sprache kommen.
Die großen Gebietsgewinne der napoleonischen Kriege (1805 Tirol, 1810 Erzstift Salzburg, Innviertel) konnten nicht gehalten werden; lediglich der altsalzburgische Rupertiwinkel links der Salzach (Laufen, Tittmoning) verblieb bei Bayern. ⫺ Das Erzstift Salzburg, bis 1816 selbständiges geistliches Fürstentum, stand politisch immer zwischen Bayern und Österreich, wirtschaftlich, kulturell und sprachlich war es lange Zeit jedoch deutlich stärker nach dem Westen als nach dem Osten (Wien) ausgerichtet. Soweit nötig, ist Salzburg daher hier mit einbezogen.
3.
Periodisierung
Eine zeitliche Gliederung der fast fünf Jahrhunderte von der ersten Hälfte des 16. Jhs. bis zur Gegenwart ergibt sich aus äußeren
2944 und inneren Kriterien problemlos. Die politischen, die geistes- und sozialgeschichtlichen und die sprachlichen Entwicklungen stehen in diesem Zeitraum in einer erstaunlich hohen Koinzidenz. 1) Obd. Literatursprache (1550⫺1750): Die zwei Jahrhunderte sind die Zeit der unbestrittenen Vormachtstellung Bayerns im katholischen Deutschland, beginnend mit dem Regierungsantritt Herzog Albrechts V. (1550⫺1579) und dem Augsburger Religionsfrieden (1555), kulminierend in der langen Regierungszeit des ersten bayer. Kurfürsten Maximilians I. (1598⫺1651) und endend in tiefer Niedergeschlagenheit (Friede von Füssen 1745) und in ernüchterter Beschränkung auf die Möglichkeiten eines Mittelstaates durch Kurfürst Max III. Josef (1745⫺1777). Sprachlich findet das katholische Bayern seine Ausdrucksform in der obd. Literatursprache, die erst etwa ab der Mitte des 18. Jhs. durch das neue Hd. omd. Prägung abgelöst wird. Während es in der dt. Sprachgeschichte üblich ist, die Grenze zwischen Frnhd. und Nhd. in der Mitte des 17. Jhs. anzusetzen, gibt es in der Sprachgeschichte Bayerns ⫺ und ebenso Österreichs ⫺ diese Epochengrenze nicht. Sie liegt eindeutig gut 100 Jahre später. 2) Bayer. und Hd. (1750⫺1950): Nach dem endgültigen Scheitern der Versuche wittelsbachischer Großmachtpolitik ordnete sich Bayern nach den napoleonischen Kriegen den Bestrebungen zur nationalen dt. Integration bei möglichster Wahrung der eigenen Souveränität ein. Die kleindt. Lösung von Bismarcks Dt. Reich entsprach zwar nicht den bayer. Hoffnungen, wurde aber von Bayern mitgetragen. Den Endpunkt dieser Integration bildete freilich der Verlust jeglicher Eigenstaatlichkeit im Dritten Reich und die Katastrophe des 2. Weltkrieges. Sprachgeschichtlich ist die Periode von 1750 bis 1950 in Bayern ein Teil der Geschichte des Hd. Die gesprochene Sprache ist allerdings weiterhin stark regional geprägt, nicht nur auf dialektaler und umgangssprachlicher Ebene, sondern auch in der Hochsprache. In manchen Textsorten vor allem der schönen Literatur wirkt die Diktion der gesprochenen Sprache auch auf geschriebene Hochsprache ein. Die Verteilung von Hochsprache und Mundart stimmt mit dem obd. Sprachgebrauchsmodell überein. 3) Gegenwart (seit 1950): 1945 markiert in der dt. Geschichte eine tiefe Zäsur, so natürlich auch in der bayer. Umso bemerkenswer-
XVII. Regionalsprachgeschichte
ter ist es, daß beim Neubeginn nach der NSHerrschaft und dem Zweiten Weltkrieg der politische Wille der bayerischen Bevölkerung und seiner Politiker stark genug war, den Freistaat in seinem fast ungeschmälerten Umfang als Glied einer föderativen Bundesrepublik wieder erstehen zu lassen. Die Mitte des 20. Jhs. markiert aber auch und vor allem einen tiefen sozialgeschichtlichen Einschnitt. Ein noch vor 100 Jahren überwiegend agrarisches Land wie Bayern mit wenigen großen Städten mußte die Umschichtung der Gesellschaft besonders heftig treffen. Jahrhunderte alte geschlossene Kommunikationsräume wurden aufgebrochen. Zu einer massiven Bevölkerungskonzentration kam es in der Ballungsregion München. In den ersten Jahren nach 1945 mußte Bayern einen besonders hohen Anteil an Flüchtlingen und Heimatvertriebenen (Sudetendeutsche, Schlesier u. v. a.) aufnehmen und integrieren. Von den Veränderungen war besonders Oberbayern mit München betroffen, in geringerem Ausmaß Niederbayern und die Oberpfalz. Verliefen und verlaufen die Entwicklungen auf der Ebene der Hochsprache und der geschriebenen Sprache in Bayern parallel zu den allgemeinen dt. Entwicklungen, so hat der mündliche Sprachgebrauch z. T. tiefgreifende und regionsspezifische Veränderungen erfahren. Sowohl die Entwicklungen im Bereich der Hochsprache wie jene im mündlichen Sprachgebrauch rechtfertigen die Ansetzung einer Periodengrenze um 1950.
4.
Oberdeutsche Literatursprache (1550⫺1750)
4.1. Geschichte 4.1.1. Die beiden Jahrhunderte von Herzog Albrecht V. bis zu Kurfürst Max III. Josef sind in Bayern eine Periode unverbrüchlich katholischer Politik. Bayern hatte schon unter Herzog Wilhelm IV. (1508⫺1550) und seinem Kanzler Leonhard von Eck als Antwort auf die Reformation eindeutig Position für die alte Kirche bezogen. Die Weichen für eine konsequent konfessionelle Machtpolitik und ein absolutistisches Staatssystem hat sein Sohn Albrecht V. (1550⫺1579) gelegt. Zunächst hatte, vor allem im Adel und in den Städten, der Protestantismus auch in Bayern breite Zustimmung erfahren, zumal es um den inneren Zustand der alten Kirche schlecht bestellt war. Erst als Albrecht, nach Ansätzen schon unter seinem Vater, seit 1556
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit
die Jesuiten nach Bayern holte (Ingolstadt, Dillingen, München) und als seit 1563/64 die Beschlüsse des Konzils von Trient energisch durchgesetzt wurden, begann die streng katholische Politik rasch Früchte zu tragen. Träger der Gegenreformation und der religiösen Erneuerung waren die Herzöge und der Jesuitenorden, der rasch im gesamten Bereich der Religion und der geistigen und materiellen Kultur (Schulen und Universitäten, Literatur, Theater, Kirchenbau) die bestimmende, wirkungsmächtige Rolle spielte. Da die alte Geistlichkeit, von den Bischöfen bis zu den Klöstern, im Glaubenseifer den Landesherren deutlich nachstand, war die fast logische Konsequenz die Ausbildung eines straffen, von Rom notgedrungen tolerierten Staatskirchensystems (Bischofsbestellungen). In der Konsequenz und im Erfolg der katholischen Politik waren die bayer. Herzöge auch ihrem mächtigeren katholischen Nachbarn, dem Kaiser, deutlich überlegen. Ein auch staatspolitisch höchst bedeutender Erfolg gelang 1583 mit der Besetzung des erzbischöflichen Stuhles von Köln durch den Bruder des Herzogs. Die altbayer. Wittelsbacher konnten diese Position, die dem Haus auch eine Kurstimme sicherte, als eine Art Sekundogenitur in ununterbrochener Folge bis 1761 halten. Der Höhepunkt der bayer. Politik, in der das Herzogtum einen nicht unbedeutenden Platz im europäischen Kräftespiel einzunehmen vermochte, lag in der Regierungszeit Maximilians I. (1598⫺1651), des bedeutendsten Wittelsbachers seit Kaiser Ludwig IV. Innenpolitisch herrschte Maximilian unter weitgehender Ausschaltung der Landstände unumschränkt (seit 1612 berief er den Landtag nicht mehr ein), legte die Grundlagen für einen modernen Verwaltungsstaat und ordnete die zerrütteten Finanzen. Der Absolutismus seiner Machtausübung war getragen von einem hohen, religiös fundierten Pflichtgefühl („Aliis lucendo consumor“, Hubensteiner 1997, 239). Der Herzog trug im Dreißigjährigen Krieg an der Spitze der Liga die Hauptverantwortung für die katholische Sache. Sein Land litt schwer unter mehrmaligen Besetzungen mit Verwüstungen, Mord und Brandschatzung, unter den Einquartierungen der Soldateska von Freund und Feind, unter hohen finanziellen Belastungen und unter Pest und Hunger. Aber der Staat Bayern stand nach dem langen Ringen letztlich gestärkt und vergrößert da: 1623 erhielt Bayern die langersehnte Kurwürde, die dem pfälzi-
2945
schen Widersacher, dem Winterkönig Friedrich, aberkannt worden war; 1628 konnte Maximilian die Oberpfalz zurückgewinnen (die er sogleich mit harten Maßnahmen rekatholisieren ließ; Breuer 1998, 188); und obwohl er von seinem Vater ein hochverschuldetes Land übernommen hatte, ging Bayern aus dem Krieg ohne Schulden hervor. Nach dem Friedensschluß (1648) konnte, begünstigt durch eine dreißigjährige Friedenszeit unter Kurfürst Ferdinand Maria (1651⫺ 1679), zügig mit dem Wiederaufbau des zerstörten Landes begonnen werden. Das barocke Jahrhundert nach dem großen Krieg war eine Zeit fürstlicher absolutistischer Prachtentfaltung, einer bedeutenden Hofkultur vor allem in der Residenzstadt München, hochfliegender Pläne, permanenter Finanznot und Verschuldung des Staates und schließlich eine Zeit mittelmäßiger Fürsten. Bayer. Kurfürsten waren mit den Töchtern der führenden europäischen Dynastien verheiratet, mehrfach mit solchen aus dem habsburgischen Kaiserhaus. In den Türkenkriegen vor Wien und in Ungarn (1683, 1688) holte sich Max Emanuel Lorbeeren, seine bayer. Truppen aber hohe Verluste. Der Versuch, in die erste Reihe aufzusteigen, machte die dafür zu schmale Machtbasis der Wittelsbacher deutlich, trotz dem erfolgreichen Ausgreifen des Hauses nach dem Nordwesten (Erzbistum Köln, Bistümer Münster, Hildesheim, Paderborn u. a., Herzogtümer Jülich und Berg, Niederlande). Der Traum von der Kaiserkrone ging zwar für ein paar Jahre in Erfüllung (Karl VII., 1742⫺1745), aber er blieb ohne reale Bedeutung und endete in tiefer Ernüchterung (Friede von Füssen 1745). Wieder hatten Land und Volk in Krieg und Besetzungen (Spanischer und Österr. Erbfolgekrieg) einen hohen Preis für die ehrgeizige Politik diesmal weniger verantwortungsvoller Fürsten zu zahlen. Mehr als einmal stand die Existenz des Staates auf dem Spiel. Dennoch hat gerade in diesem barocken Jahrhundert die Erziehungsarbeit der Kirche reiche Früchte getragen in einer breiten, sinnenfreudigen barocken Volkskultur und in einer lebendigen, fest verankerten Volksfrömmigkeit. Und gerade in dieser Zeit kam es in dem Volksaufstand von 1705 gegen die drückende öst. Besatzung nicht nur zu einem Ausbruch der Verzweiflung, sondern auch zu einem ersten kräftigen Lebenszeichen bayer. Patriotismus und der Loyalität zum angestammten Haus, für Landesherren freilich, denen „ein Heustadel in Belgien mehr wert war als in
2946 Bayern eine ganze Stadt“ (Hubensteiner 1997, 271) oder die gar bereit waren, Bayern gegen die Niederlande oder gegen Neapel und Sizilien einzutauschen; der Aufstand wurde in der Sendlinger Blutweihnacht von den Kaiserlichen brutal niedergemetzelt. Außenpolitisch konnte Bayern nur im Bündnis mit Mächtigeren agieren, mit oder gegen Österreich, vor dessen Begehrlichkeiten man immer auf der Hut sein mußte, häufiger mit Frankreich. Unter Max III. Josef (1745⫺1777), dem Letzten der altbayer. Wittelsbacher, ging eine alte Zeit zu Ende und kamen neue Kräfte zum Durchbruch (katholische Aufklärung, Bayer. Akademie der Wissenschaften 1759, Aufhebung des Jesuitenordens 1773). In diesen Jahren erschien im Auftrag der jungen Akademie und des Kurfürsten die „Anleitung zur deutschen Sprachkunst“ von Heinrich Braun (München 1765), die eine Brücke schlug zwischen der alten obd. Literatursprache und dem neuen gottschedischen Hd., freilich mit eindeutiger Präferenz für das Neue. 4.1.2. Die Wirtschafts- und Sozialstruktur Bayerns ist bis zum Ende des 18. Jhs. geprägt durch das in den Grundzügen unveränderte Weiterbestehen spätmittelalterlicher Strukturen. Dieser konservative Grundzug gewährleistete zwar ein relativ hohes Maß an Stabilität, aber er trug auch deutliche Züge der Stagnation. Die Bevölkerungszahl entwickelte sich nach den Verlusten des Spätmittelalters im ganzen 16. Jh. positiv, begann dann aber wieder zu stagnieren und erfuhr im 17. Jh. durch Kriege, Seuchen (immer wieder die Pest) und Hungersnöte einen drastischen Einbruch (um ca. ein Viertel der Bevölkerung), der erst Mitte des 18. Jhs. wieder ausgeglichen werden konnte. Bayern war von den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges zwar regional unterschiedlich, im ganzen aber stark betroffen. Bis zum Ende des 18. Jhs. war die Mortalität sehr hoch, der Tod allgegenwärtig. Bayern war ein weit überwiegend agrarisches Land. Die Bauern, ca. 80 % der Bevölkerung, trugen die finanzielle Hauptlast (Landsteuer) des Staates. Aber sie lebten nach wie vor in Abhängigkeit von weltlichen oder geistlichen Grundherren (noch „im 18. Jh. besaßen etwa 90 % […] Haus und Hof nicht zu freiem Eigen, sondern in Leihe“, Spindler II, 642 [D. Albrecht]) und waren, anders als z. B. in Tirol, von jeglicher politischer Mitwirkung ausgeschlossen, von be-
XVII. Regionalsprachgeschichte
grenzten Möglichkeiten in der Gemeindeverwaltung abgesehen. Freilich waren sie sunst frei, wie Aventin schrieb, die personale Leibeigenschaft war längst und weit überwiegend in eine dingliche umgewandelt, überall galt praktisch die Erblichkeit der Bauerngüter. Aber verhaßte Verpflichtungen wie das Scharwerk blieben lange bestehen, die Lasten stiegen und die Kriegsgreuel trafen das flache Land besonders hart. Der Bauer blieb der „arme mann“, d. h. politisch rechtlos (Spindler II, 742). Wenn Aventin, auch kaum unvoreingenommen, noch sagen konnte, der Bauer sitzt tag und nacht bei dem wein, schreit singt tanzt kart spilt (Turmair 1883, 42), dann traf das für die langen Notzeiten sicher nicht mehr zu. Vor allem überdeckt das pauschale Urteil die bestehenden sozialen Unterschiede, die sich seit dem 16. Jh. deutlich verschärften. Sowohl auf dem Land wie in den Märkten und Städten nahmen die am Rand der Armut lebenden Unterschichten zu, wurde die Mittel- und Oberschicht schmäler. Die dem Landesherren gegenüberstehenden „Landstände“ (die die Steuern bewilligten, sonst politisch zunehmend wenig mitzureden hatten) setzten sich lediglich aus Adel, Prälaten und Bürgern (Städten) zusammen. Der in vieler Hinsicht privilegierte Adel, 1 % der Bevölkerung, stellte im Landtag 50 % der Sitze (Spindler II, 640).
Die Weiterentwicklung der handwerklichen Gewerbe wurde vor allem durch die weiterbestehende starre Zunftorganisation behindert. Auf dem flachen Land bestand daneben ein zunftfreies Söldnergewerbe der Grundherren, das überwiegend in Kleinstbetrieben organisiert war, die eine Familie nur kümmerlich ernähren konnten, im Durchschnitt schlechter als ein Bauerngut. Insgesamt war allerdings die Gewerbedichte höher als in anderen Gebieten Deutschlands (Spindler II, 790 f. [E. Schremmer]). Der Handel befriedigte die Binnenbedürfnisse, wobei der Unterschied zwischen den Städten und den größeren Marktorten meist wenig ins Gewicht fiel. Einen bayer. Fernhandel gab es ebenso wenig wie einen Stand der Großkaufleute. Die merkantilistischen Versuche der Landesherren um den Aufbau von Manufakturen führten erst seit der 2. Hälfte des 18. Jhs. zu bescheidenen Erfolgen (z. B. Nymphenburger Porzellan). Dennoch wird die wirtschaftliche Situation Bayerns in dieser Zeit nicht negativ beurteilt (Spindler II, 754 ff., 776 ff.). Zwar fehlen Konzentrationen und Hochleistungen (wie in Nürnberg oder Augsburg), aber die dezentralisierte Wirtschaftsstruktur war auch weniger krisenanfällig. Die wirtschaftliche Basis der Staatsfinanzen lag in den Erträgen aus einer funktionierenden Landwirtschaft und aus
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit
2947
dem Salzmonopol (Reichenhall, Berchtesgaden, Vertrieb auf dem Wasserweg [Salzach, Inn] auch für das Salzburger Salz).
des 18. Jhs. überzeichnet worden sein (vgl. Raab 1984, 33), entspricht im ganzen aber sicherlich der Realität.
4.1.3. Kulturell brachte die Epoche für Bayern eine Blütezeit der Hofkultur mit bedeutenden Leistungen vor allem im Bereich der Architektur und der bildenden Künste, des Hof- und Schultheaters und der Musik. Charakteristisch ist wieder das enge Zusammenwirken der Landesherren und der katholischen Kirche mit einem erheblichen Anteil der Jesuiten sowie, nicht zuletzt durch sie vermittelt, der starke Einfluß romanischer (vor allem italienischer, daneben spanischer) Künstler, was dieser Kultur europäische Dimension verlieh. Auch im Hinblick darauf meint Hubensteiner (1997, 244), unter Maximilian sei „die Münchener Residenz ein Schwerpunkt der katholischen Welt (gewesen) wie nur noch Rom oder der spanische Escorial“. Seit der Wiederaufbauzeit nach dem Dreißigjährigen Krieg erfaßte diese Kultur im Kirchenbau, im Volksbrauchtum, Wallfahrtswesen, in Prozessionen und im Theater das ganze Land und verlieh Bayern jenes barock-katholische Gepräge, das es z. T. bis heute auszeichnet. Um das Schulwesen, vor allem um die deutschen Schulen (Elementarschulen), war es im ganzen Zeitraum schlecht bestellt (Breuer 1979, 115 ff; Tauber 1993, 207 ff.). Die Lehrer waren so schlecht ausgebildet und motiviert wie bezahlt. Vornehmstes Ziel der dt. Schulen war die religiöse Bildung; die Visitatoren hatten die Kenntnis von Canisius’ Katechismus zu überwachen und darauf zu sehen, daß nur katholische Lehrbücher verwendet wurden. Maximilians Interesse galt dem Ausbau des höheren Schulwesens unter jesuitischer Leitung, was aber in der zweiten Hälfte des 17. Jhs. zu einer „Überfüllung des Landes mit Absolventen einer Gelehrtenschule“ (Lurz, nach Breuer 1979, 120), zu Niveauverlust und gleichzeitig zu einem Facharbeitermangel führte. In den Lateinschulen und Gymnasien war die Pflege der Muttersprache höchstens ein untergeordneter Gegenstand (nicht anders allerdings auch in den evangelischen Sächsischen Fürsten- und Landesschulen: Grosse 1999; vgl. auch Raab 1984, 22). Die Bildungskluft zwischen den Städten und dem flachen Land verschärfte sich eher. Das Bild vom tristen Zustand der Schulen mag in der kritischen Sicht durch die jesuitenfeindliche Aufklärung in der 2. Hälfte
4.2. Quellen Die Volkssprache hatte sich seit dem ausgehenden 15. Jh. mündlich wie schriftlich in allen Lebensbereichen außer an den Universitäten fest etabliert. Daneben behauptete das Lat. seine Position und erhielt seit dem Humanismus und seiner Orientierung an den klassischen Leitbildern einen neuen mächtigen Auftrieb. Diese neue Latinität wurde als sprachlicher Ausdruck katholischer Universalität auch von den Jesuiten gepflegt und gefördert. Dabei ergab sich eine recht deutliche soziologische Aufteilung: in den hohen Textgattungen, im Schultheater, in der für den Hof bestimmten Lyrik nach klassischen Mustern und selbstverständlich im gelehrten und theologischen Schrifttum, dominierte Lat., in „volkstümlichen“ Texten, in Predigten, Erbauungsschriften und Kirchenliedern, die Volkssprache; hier gaben die Jesuiten, dort die Kapuziner den Ton an (Newald 1951, 99). Auch die Literatur diente in den zwei Jahrhunderten von 1550⫺1750 in Bayern mehr als anderswo der großen Aufgabe der katholischen Reform und der Gegenreformation, erfolgreich unterstützt durch eine streng gehandhabte Zensur, die die Einfuhr von protestantischen Büchern weitgehend verhindern konnte. Das höhere Schulwesen und die Universitäten lagen fast ausschließlich in den Händen der Jesuiten; hier herrschte das Lat. Die drei bedeutendsten Schriftsteller der Zeit Maximilians, der Dramatiker Jakob Bidermann (1578⫺1639), der Lyriker Jakob Balde (1604⫺1668) und der Prediger Jeremias Drexel (1581⫺1638), waren Mitglieder dieses Ordens und schrieben (fast) ausschließlich lat. Allerdings fanden Bidermann und Drexel in dem aus Braunau stammenden Joachim Meichel (1590⫺1637) einen zuverlässigen und wirkungssicheren Übersetzer, wie den Übersetzungen überhaupt nach wie vor ein wichtiger Platz zukommt, neben solchen aus dem Lat. jetzt auch aus den rom. Volkssprachen (Span., Ital., Frz.). Literatur in der Volkssprache diente zu allererst der Glaubensunterweisung und dem kirchlichen Leben in Predigten, Erbauungsschriften, Legenden und Kirchenliedern. Nach dem Dreißigjährigen Krieg spielte die Predigt der Kapuziner eine wichtige, aber nicht die alleinige Rolle. Das Wirken der Benediktiner erfuhr durch
2948 die Salzburger Universität (seit 1622) starke Impulse. Weltliche Literatur tritt daneben deutlich in den Hintergrund. Selbst in dem durch Aegidius Albertinus aus dem Span. des Mateo Aleman übersetzten ersten dt. Schelmenroman (Der Landstörzer Gusman von Alfarache oder Picaro, München 1615) liegt der Akzent auf Reue und Bekehrung. Die Historiographie in der Volkssprache ist nur noch anfangs mit dem Stammen-Buch des Wiguleus Hundt (1585/86) vertreten. Die bedeutende Geschichtsschreibung unter Maximilian bediente sich ausschließlich des gelehrten Lat. Sprachgeschichtlich wichtige Quellen sind (oft ungedruckte) informelle Texte wie Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, Reisebücher u. ä., ferner die für Bayern typischen Mirakelbücher und Votivtafeln. Sprachlich stark regional gebunden sind Verlassenschaftsinventare (vgl. z. B. Kasparek/Gebhard 1962, 205 ff.). Texte im Dialekt, meist zur Erzielung komischer Effekte, gibt es seit dem späten 17. Jh. (BB II, 1194 ff.). Fasnachtspiele hat der Regensburger Schreinermeister Stefan Egl verfaßt (1. H. 17. Jh.; BB II, 1184 ff.). Einen Zugang zu den meist schwer zugänglichen literarischen Quellen (im weiten Sinn) eröffnen die Bde. der Bayer. Bibliothek (BB I, II; zur Literaturgeschichite vgl. H. Pörnbacher in Spindler II, 978 ff.; Breuer 1979; 1986).
An der Grammatikographie des Dt. war Bayern bis ins 18. Jh. fast nicht beteiligt. Am nächsten steht die in Augsburg entstandene und 1573 gedruckte Grammatik des Thüringers Laurentius Albertus, der in Würzburg zum Katholizismus übergetreten war. Nach Ausweis seiner Sprache stammte Sebastian Helber, der Autor des 1593 in Freiburg/ Schweiz erschienen Teutschen Syllabierbüchleins, aus dem bayer.-öst. Sprachgebiet (Jellinek 1910, 182 ff., ders. 1913, 55). Im evangelischen Regensburg erschien 1687 eine dt. Grammatik von J. L. Prasch (s. u.). Erst im Zusammenhang mit den volkspädagogischen Intentionen der katholischen Aufklärung im 18. Jh. regte sich auch auf katholischer Seite theoretisches Interesse an der Muttersprache. Der Münchener Augustiner Gelasius Hieber veröffentlichte 1723⫺1725 im „Parnassus Boicus“ mehrere Abhandlungen über die hochteutsche Helden= Sprach (s. u. 4.3.2.). Eine eigene Rolle spielte die Reichsstadt Regensburg. Als Stadt des Immerwährenden Reichstages nach dem Dreißigjährigen Krieg erlebte ihr Geistesleben noch einmal eine späte Blüte, der erst die napoleonischen Kriege, das Ende des Reiches und der Selbständigkeit der Reichsstadt (Inbesitznahme durch Bayern 1810) ein Ende setzten. In Re-
XVII. Regionalsprachgeschichte
gensburg hatte die evangelische Gemeinde eine starke Position vor allem im Rat; seit 1651 konnten Katholiken in Regensburg kein Bürgerrecht mehr erwerben. Die Stadt besaß in dem evang. Gymnasium Poeticum eine bedeutende Bildungsstätte (daneben seit 1589 ein Jesuitengymnasium; Spindler III, 1971, 1435). Zahlreiche öst. Protestanten ließen sich in Regensburg nieder. Hier entstand weltliche Dichtung, für die sonst in Bayern offenbar kein Platz war, so Johann Beers „Prinz Adimantus“ (1678) oder Wolfgang Helmhard von Hohbergs „Georgica curiosa“ (1682), gedruckt allerdings in Halle bzw. Nürnberg. Hier veröffentlichte der gelehrte Johann Ludwig Prasch, ebenfalls einer im 16. Jh eingewanderten öst. Familie entstammend (Dünninger 1954, 187), der seiner Stadt auch als Bürgermeister diente, lat. und dt. Gedichte, eine durch die Lektüre des Schottelius’ angeregte „Neue, kurtz- und deutliche Sprachkunst“ (1687; Jellinek 1913, 186 f.; Tauber 1993, 219 ff; Götz 1997) und das älteste bayer. Idiotikon (Glossarium Bavaricum, 1689; Götz 2002). All diese Werke, nicht nur die außerhalb von Bayern gedruckten, sind dadurch charakterisiert, daß sie auch sprachlich zur bayer. Tradition in Distanz stehen (vgl. auch Tauber 1993, 271 f.). Prasch z. B. hält zwar an der obd. Unterscheidung von i : ie fest, weil „man schreiben soll / wie man redet“ (1687, Vorwort Aiiiv), aber typisch obd. Schreibungen wie „Stain/für Stein/ Gemain/für Gemein/ u. d. g. sind grobe Grölze vilmehr/ als Worte zu nennen“ (8), und so in vielen anderen Fällen; umgekehrt hält er in md. Weise meist an <eu> der 2.3.P.Sg.Ind. Präs. der st.V.II fest (du betreugest, beutst usw., 81 ff.). Für dieses moderne Hd. wirbt auch der Lausitzer Christoph Zippelius, 1712⫺1747 Rektor des Gymnasium poeticum (Reinhardstöttner 1899, I ff.). 4.3. Sprache und Orthographie 4.3.1. Das 16. Jh.: Die Mitte des 16. Jhs. stellt in der Geschichte des Bayer. keine scharfe Zäsur dar. Die Kontinuität der bayer. Schreibsprache auf dem Stand, den sie Anfang des 16. Jhs. erreicht hatte (am prominentesten vertreten in der Sprache der kaiserlichen Kanzlei Maximilians I.), reißt nicht ab. Wohl aber verschwinden um diese Zeit einige orthographische Merkmale, die schon Anfang des 16. Jhs. seltener zu werden begannen, fast völlig aus der Sprache der Drucke und werden einige Sprachmerkmale nun offenbar als dialektal eingestuft und da-
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit
her in geschriebener und vor allem in gedruckter Sprache gemieden. Zur ersten Gruppe gehören und für /b, k/ (Berg, bitten; Kern, Acker, Vol(c)k statt perg usw., khern, ackher usw.); der konsequente und alleinige Gebrauch von ä zur Bezeichnung des Sekundärumlautes und von mhd. œ (teils dafür e, z. B. were, schwer, häufig paradigmatisch-"etymologisches“ ä, z. B. gänzlich, Kält, Gläser usw.); die w/b-Vertauschung (nicht mehr wedäuten, beib ‘bedeuten, Weib’). Zur zweiten Gruppe gehört die Aufgabe von der- für er- (vgl. Art. 191, 5.3.2.7.); die Ersetzung der diphthongierten Suffixe -leich, -ein (güldein), -reich, -weig (Heinreich, Ludweig) durch -lich usw.; die Ersetzung der 3.P. Pl.Ind. Präs. -ent durch -en (Zweiformen-Pl. anstatt des älteren Dreiformen-Pl.); des Part. Präs. -und durch -end. Erst recht fehlen jetzt Formen, die schon früher als dialektal stigmatisiert waren (z. B. ir für er in kirzen, hirt ‘Kerze, hart’, vgl. Art. 191, 5.4.3.; das Pers.Pron. es/enk u. a.).
Gleichzeitig etablieren sich einige aus der omd. Orthographie übernommene Schreibungen jetzt fest. Schon in der Kanzleisprache Kaiser Maximilians waren o, ö für mhd. u, ü vor Nasal häufig, z. B. sonder, Sonn(e), fromm, König usw. Seit der Mitte des 16. Jhs. setzen sie sich überwiegend durch (vgl. Tauber 1993, 77 ff.), gelegentlich über die spätere Norm hinaus (z. B. Konst, konfftig) ⫺ gegen die gesprochene Sprache, die am alten u festhält. Auch mhd.-obd. kumen (aus ahd. queman) wird durch kom(m)en abgelöst. Neu ist das Dehnungs-h, das vor der Jahrhundertmitte nur vereinzelt auftritt. Es wird vor allem zwischen Vokal und folgendem r, m, n und zunächst vor allem in einsilbigen Wörtern gesetzt (mehr, Ehr [vgl. Albertus 1895, 28; eer honor, hodie dicimus ehr], jahr, jhr, jhm, jhn, Lohn, gehn usw., ferner Eh(e), Rueh, müh(e) u. a.), seltener nach r (Rhumb, Rhät); bis Anfang des 17. Jhs. finden sich auch Schreibungen wie meher, mher, jhe, jha u. a. (V. Moser 1929, 1.1, § 29, 2). Schon im späten 15. Jh. kommt th-Schreibung in thuen, thail, rath usw. auf (Art. 191, 5.4.3.), die sich jetzt breit durchsetzt. Seit der Mitte des 16. Jhs. beginnt sich auch die Großschreibung der Satzanfänge, Eigennamen, Titel u. ä. zur allgemeinen SubstantivGroßschreibung allmählich auszuweiten (vgl. auch Wiesinger 1999, 262 ff.). Keine Entlehnung aus dem Omd. sind ö- Schreibungen für e (vor allem Primärumlaut: hör, mör, erwöhlen, wöllen, frömd ‘Heer, Meer, erwählen, wollen, fremd’ u. a.), die bis ins 15. Jh. zurückreichen, seit dem 16. Jh. aber häufiger werden; die Unterscheidung von mör und mehr dient offenkundig zur Bezeichnung der phonologischen Opposition [e] : [i] (Voraussetzung war die Entrundung von ö > e). Jedenfalls seit der Mitte des 16. Jhs. wird auch der Umlaut von o, u ziemlich konsequent durch bezeichnet (abgesehen natürlich von den
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Fällen mit Umlauthinderung wie Stuck, Rucken, hupfen usw.); häufigere Ausnahmen sind vber, vbel ‘über, übel’ (vgl. V. Moser 1929, 1.1, 25, später häufig mit Umlautentrundung yber, ybrig).
Die Sprache der bayer. Drucke ist im 16. Jh. uneinheitlich. Das hat vor allem darin seinen Grund, daß die bayer. Buchdrucker zunächst von auswärts kamen und ihre orthographischen Konventionen mitbrachten (z. B. A. Weissenhorn in Ingolstadt aus Augsburg, A. Berg in München aus Nürnberg; V. Moser 1982, 171 f.; Breuer 1979, 97 ff.), daß bayer. Autoren in Augsburg und Dillingen verlegt wurden und wohl auch darin, daß auswärtige Theologen und Gelehrte in Bayern wirkten, z. B. die Schwaben Adam Walasser, Martin Eisengrein, Conrad Vetter, Georg Stengel (abgesehen von dem Dreigestirn Bidermann, Drexel, Balde, die aber überwiegend lat. publizierten), der Thüringer Johann Engerd, der Unterfranke Johann Nas, der Brandenburger Procop von Templin, die Niederländer J. L. Boscius und Ägidius Albertinus u. a. Neben Texten mit einer ausgeprägt obd. Orthographie (z. B. Ph. Dobereiner, Historia von S. Mechtilde, Dillingen 1574; Georg Mayr [evang. Schulmeister in Augsburg!], Sprüchwörter, Augsburg 1567; BB I, 928 ff., 969 ff.) stehen solche, in denen bayer. Merkmale gemieden werden (z. B. keine für ei, keine , aber md. für Dehnungs-i; z. B. J. Engerd, S. Salvator zu Bettbrunn, Ingolstadt 1584; Abraham Schädlin, Rosengärtlein, München 1607; BB I, 865 ff., 981 ff.). Die Ingolstädter Buchdrucker, vor allem A. und S. Weissenhorn, verwenden gelegentlich für mhd. e¨, hailig, gaist [statt bayer. heilig, geist] oder -lin der Augsburger Druckersprache (vgl. V. Moser 1929, 1.1, 120; 171, Anm. 1 [auch die Belege für hailig, gaist bei Traube 1993, 99 stammen überwiegend aus Ingolstädter Drucken]).
Ein deutlicher Unterschied besteht zwischen der Orthographie der gedruckten und der handschriftlichen Zeugnisse (vgl. auch V. Moser 1929, 1.1, 2). Im handschriftlichen Gebrauch hält die Kontinuität zur bayer. Schreibsprache der ersten Hälfte des 16. Jhs. fast ungebrochen und erheblich länger an als im Druck, und zwar nicht nur in informellen, privaten Texten. Aufschlußreich ist der Vergleich eines Briefes von Ägidius Albertinus an Herzog Maximilian I. von 1614 (BB II, 319 f.) mit seinem etwa gleichzeitig entstandenen „Landstörtzer Gusman“ (München: Niclas Heinrich 1615; BB II, 13 ff.; Schöne 1968, 1079 ff.). Der gebürtige Niederländer Albertinus gilt als einer der Begründer der volkssprachlichen Barockliteratur in Bayern. Obwohl er in der Vorrede zur HofSchul (München 1600; BB II, 11 ff.) Bedenken in Bezug auf seine schriftstellerische Arbeit trägt, weil „ich inn der Hochteutschen Sprachen nit dermassen versiert noch abgeführt bin/
2950 daß ich daher ein groß Lob zuerjagen mir ertrau˚men lassen dörffte“ (S. 12, 51 ff.), ist er im Gebrauch des Obd. völlig sicher (nfrk. Interferenz ist vielleicht die obd. ganz singuläre Verwendung der -er-Endung nach best.Art./Dem.Pron. BB II, 11, 24 diser fürtreflicher vnnd herrlicher Man; vgl. Gr. d. Frnhd. VI, 165 f., bes. 229 f.). Sein Brief trägt alle Züge der obd.-bayer. Orthographie (mehrheitlich , Apokope, fast durchgehend , z. B. khan, Khindt, Ruckhen, einmal sogar pitte usw.). Auch die Sprache des Landstörtzers vertritt natürlich den Typus der obd. Literatursprache. In der Orthographie fehlen aber einige auffallende Merkmale (nur ganz vereinzelt , keine , wie überall in der Druckersprache nur ). Daß Albertinus’ Brief kein Einzelfall ist, bestätigen Beobachtungen V. Mosers (1982, 531 f.) zu Johann Nas und z. B. das hochformelle „Treuherzige vätterliche lehrstuckh“ des Kurfürsten Maximilian I. an seinen Sohn Ferdinand Maria von 1650 (ein Jahr vor seinem Tod; BB II, 336 ff.). Maximilian schreibt weit überwiegend , fast durchgehend , einmal sogar (Z.54 den Prennendten Kerzen), öfter für -h- (anbevolchne Landt, beschechen, schmechliche wortt) und selbstverständlich alle anderen Charakteristika der obd. Literatursprache; Dehnungs-h fehlen in einigen Wörtern, in denen sie in den Drucken üblich sind (Ime, Ire, Ine, gebürend, merernthails, aber mehr). Ein ähnliches Bild zeigen die nur handschriftlich überlieferten Lieder des Baumburger Chorherren Johann Albert Poyssl von Loifling (1622⫺1690; BB II, 494 ff.).
Der Unterschied zwischen gedruckten und handgeschriebenen Texten ist sicher nicht gravierend und zudem auf die Orthographie beschränkt, aber er bleibt doch auffallend genug. Er läßt sich, auslaufend, bis über die Mitte des 18. Jhs. verfolgen, z. B. in Briefen des aus Bayern stammenden St. Galler Bibliothekars P. Pius Kolb oder des Innsbrukker Historikers Anton Roschmann (Reiffenstein 1992; 1997). Die Besonderheiten der handschriftlichen Orthographie reflektieren zwar insofern Nähe zur gesprochenen Sprache, als phonologische Unterschiede systematischer graphemisch ausgedrückt werden, sie haben aber nichts mit dialektalen Interferenzen zu tun. Wie sprechsprachliche Interferenzen aussehen, läßt sich z. B. einem Brief der Kurfürstin Maria Anna von 1649 entnehmen (Gemahlin Maximilians, Tochter Ks. Ferdinands II.; BB II 335 f.): schreiwen, geschriwen, mehrmals p- (pis dato, pey, pald, die pueben), Part. Prät. kocht, gangen, komben) u. a., auch gut hundert Jahre später den Briefen von Mozarts Mutter (Reiffenstein 1993, 365 ff.). Bäuerliche Mundart wird erst in Texten seit dem späten 17. Jh. zitiert.
4.3.2. Obd. Literatursprache: Im 17. Jh. konsolidiert sich eine Druckersprache mit deut-
XVII. Regionalsprachgeschichte
lich obd.-bayer. Gepräge, die man als obd. Literatursprache bezeichnen kann. Sie wird nicht nur von den Druckern in Bayern und Österreich (dominierend München, Ingolstadt, Wien, etwas später Salzburg, Innsbruck) verwendet, sondern ebenso auch in Schwaben (Augsburg, Dillingen). Dies ist genau jenes Gebiet, für das Sebastian Helber (1593) die „Donauische“ Druckersprache ausweist. Lediglich die Oberpfalz (Amberg) steht ferner. Typische Beispiele für diese Sprache sind das Catholische Gesangbüchlein (München: Anna Bergin 1613), die Übersetzungen des Joachim Meichel (J. Bidermann, Cenodoxus; Jeremias Drexel, Predigten; Jakob Keller, Lobred für Hzg. Maximilian; München: Cornelius Leysser 1635, 1630 bzw. Nicolaus Heinrich 1621), die Lyrik von Johannes K(h)uen (München: Lucas Straub 1650, 1655, Joh. Jäcklin 1659) und die Harpffen Dauids (Psalter) von Albert Graf Curtz (Augsburg: V. Apergin 1659), aber auch Drucke aus Dillingen (Wolfgang Rauscher, Predigten, bei J. C. Bencard 1689/95) oder Salzburg (Abraham a Santa Clara, Predigten; Andreas Strobl, Predigten, beide bei Melchior Haan 1684, 1696/98. BB II, 30 ff., 52 ff.; 77 ff.; 107 ff.; 330 ff.; 204 ff.; 223 ff.; 241 ff.; 605 ff.; Schöne 1968, 324 ff.; 107 ff.; 110 ff.).
Leitformen dieser Sprache (vgl. auch Breuer 1979, 54 ff., 60 ff.; Wiesinger 1995, 348 ff.) sind in der Orthographie ⫺ häufige für mhd. ei, uo, üe; seit dem späten 17. Jh. zunehmend seltener; ⫺ für Dehnungs-i (dise, geschriben, ligen usw., Meidung des md. ie; wohl aber liecht usw.); ⫺ Doppelschreibung von e, a, o (Weeg u. a.) ⫺ häufige Entrundung vor allem von ü, üe (Direktanzeigen wie Hitten, sieß, Bicher und hyperkorrekte Schreibungen wie würckung, hülff, leucht usw.); ⫺ meist Umlautlosigkeit vor ck, tz, pf und in vielen anderen Fällen (Brucken, Rucken, nutzlich, hupfen; Burger, traumen, laugnen, Erkantnuß usw.); ⫺ Apokope beim Substantiv, selten beim Verb (gnad, Ehr, täg, Räth; ich hab); Synkope (Gschicht, redt usw.). In der Morphologie ⫺ die Generalisierung von -en der schw. Flexion auch im NSg. bei Fem. vor allem der ehem. oˆDeklination (Kirchen, Seiten, Erden, Glocken usw., daneben auch endungslos Kirch, Erd); ⫺ Pl.-Bildung durch Umlaut (Täg) und mit -er (auch Stainer, Bether, Hembder ‘Steine, Betten, Hemden’ u. v. a.);
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit ⫺ Bewahrung von -i- in der 1.P.Sg. Ind.Präs. der st.V. III⫺V (ich wird, nimb, sich lis, gib); ⫺ die alten Formen im Sg.Ind.Präs. der st.V.II (zeucht, scheust ‘zieht, schießt’) werden hingegen seit dem 17. Jh. nach den Pl.-Formen ausgeglichen (ziecht, schiesst) ⫺ gegen den eigenen Dialekt und ⫺ vor allem? ⫺ gegen das Omd. (Gr.d.Frnhd. IV, 436 f.). ⫺ die Wortbildungssuffixe -nuß (erkantnuß, Zeugnus) und -ist für den Superlativ (gnedigist, wenigist, herrlichist).
Eine wichtige syntaktische Kennform der obd. Literatursprache seit dem frühen 17. Jh. (Äg. Albertinus) ist der Gebrauch der st. Adj.-Flexion nach best. Art. im NAPl. (seine liebe Freunde, die treuiste Diener; Gr.d.Frnhd. VI, 177 f.). Auch die tun-Periphrase ist häufig, vor allem in der Dichtung (z. B. Curtz, BB II, 223 ff. Thuet … hangen, brangen, durchziehen, erhellen, mir thuet … belieben, thuet außbreiten, … mich trösten thuet, thuest du … begiessen, thuet … fliessen, thut … erfrewen, thue … greiffen, schlagen). An Wortformen seien genannt nit, sein(d/t), dörfen, befel(c)hen, Befelch, wann, dann ‘nicht, sind, dürfen, befehlen, Befehl, wenn denn’. Dazu kommen Merkmale, die im 16. und 17. Jh. auch sonst weit verbreitet waren wie z. B. für -m im Wort- und Silbenauslaut (haimb, -thumb, nemblich usw.), die Pron.-Formen j(h)me, j(h)ne, deme (Gr.d. Frnhd. VII, 94 ff., 207 ff.), die erweiterte Form denen für den Dat. Pl. des best. Art. auch in attribut. Gebrauch (in denen Landen, denen Götteren) oder -e in der 1.3.P.Sg. Ind. Prät. der st. Verben (sahe, befalhe, bande, lieffe; Gr.d.Frnhd. IV, 111 ff.). Syntaktisch steht die obd. Literatursprache in deutlicher Nähe zur Kanzleisprache mit langen, hypotaktisch gegliederten Perioden, kanzleisprachlichen Konj. (derohalben, -wegen, (in-, aller)massen, sintemahlen usw.) und Adv. (allbereit, (an-, biß-)hero, anheut, -noch, -itzt, -heims usw.), afiniten Konstruktionen und Unterdrückung des Subj.Pron. ich, häufigen Antithesen (nit allain …, sonder/als), Parallelismen und variierenden Wiederholungen usw. (Reiffenstein 1992, 486 ff.). Hieber tadelt ausdrücklich, „wann in einer Rede kein Adversativum / oder Expletivum / oder Caussale […] anzetreffen“ (PB 1724, 305). Stilistisch ist die katholische Barockdichtung vor allem durch den romanischen Manierismus (Konzeptualismus) geprägt (Breuer 1998, 190; aber besteht darin ein Gegensatz zum evangelischen Barock?). Die Rhetorik muß sich allerdings der „Ziel-
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bestimmung“ unterordnen, daß „volkssprachliche Literatur eine Literatur für alle Stände zu sein habe, für Litterati wie für Illitterati“, die „Verständlichkeit für alle“ gewährleisten müsse (Breuer 1998, 190 f.). Charakteristisch für den Stil der obd. Literatursprache ist auch der reichliche Gebrauch von Fremdwörtern, auch in gebundener Rede (z. B. bei Kuen BB II, 210 ff. Solennitet, Audientz, resoluirt ‘befreit, erlöst’, Controfehe, passiren / salutiren, Ordinantz ‘Ordnung, Anweisung’, einlosiert/deputiert usw.). Dieser Wortgebrauch hat allerdings nichts mit der „Misch-Mascherei“ des 17. Jhs. zu tun, sondern steht in älterer Tradition (vgl. z. B. Hans Sachs). Charakteristisch ist auch der fließende Übergang zwischen der Volkssprache und lat. Wörtern und Zitaten; dazu gehört auch, daß lat. Wörter auch in volkssprachlichem Kontext meist lat. flektiert werden. Dies beweist gleichzeitig, daß diese katholische Literatur nicht „volkstümlich“ in einem romantischen Verstand ist, sondern sich an ein Publikum wendet, das jedenfalls eine (jesuitische!) Lateinschule besucht hat. Die obd. Literatursprache ist die Sprache der katholischen Literatur und Kultur Süddeutschlands, in der Bayern eine führende Rolle spielte. Sie prägt dort das Bild vom Anfang des 17. bis weit ins 18. Jh. hinein. Noch die ersten gelehrten Zeitschriften der katholischen Aufklärung (Nutz- und Lust-erwekkende Gesellschaft der Vertrauten Nachbarn am Isarstrom [„Isargesellen“], 1702, Parnassus Boicus, 1722⫺1740) oder die Freysingische Chronica von Karl Meichelbeck (Freising 1724) bedienen sich dieser Sprache, wenn auch in einer dem sich ausbildenden „Hochdt.“ leicht angenäherten Form (zur Sprache des PB vgl. Birlo 1908; Reiffenstein 1988). Es liegt nahe, daß die Ausbildung dieses Sprachtypus ein Ergebnis der systematischen Bildungsarbeit der Jesuiten und ihrer konsequenten Förderung durch Herzog (seit 1623 Kurfürst) Maximilian I. ist (V. Moser 1982, 78; 172), für die z. B. die massenhafte und professionelle Verbreitung der zahlreichen Schriften von J. Drexel in lat. Sprache, aber kaum weniger auch in dt. Übersetzung eindrucksvoll Zeugnis ablegt (Breuer 1979, 123 ff.). Seit dem 17. Jh. ist die Konfessionalisierung des Sprachgebrauchs im Obd. an den Texten deutlich ablesbar. In schwäb. Drucken des 16. Jhs. macht es sprachlich noch keinen Unterschied, ob der Autor katholisch oder evangelisch ist; durchgehend herrscht der obd. Typus des 16. Jhs. vor (z. B. Ph. Dobe-
2952 reiner, Dillingen 1574, BB I, 928 ff. ⫺ S. Birk/ A. Diether, Augsburg 1550, G. Mayr, Augsburg 1567, BB I, 958 ff., 969 f.). Im 17. Jh. hingegen setzen sich evangel. Autoren von der obd. Literatursprache deutlich ab (z. B. N. Rauner, G. Spitzel, beide Augsburg 1670, 1687, G. Zeaeman, Kempten 1620; BB II, 615 ff., 619 ff., 648 ff.). Das gleiche gilt in Regensburg schon für die evangel. Episteln der Magdalena Haymairin (1568; BB II, 1 f.), während der von dem „Bischoffl. Regenspurg. Hoff-Buchdr. J. E. Raith“ 1687 gedruckte „Marianische Schnee-Berg“ von J. G. Seidenbusch oder die „Grab-Statt“ von A. Widl, Amberg 1701, die obd. Literatursprache vertreten (BB II, 583 ff., 958 ff.; der von J. Z. Seidel in Regensburg 1716 verlegte „Einfältige … Bauern-Prediger“ von P. Taller [BB II, 500 ff.] weist zwar obd. Diktion, allerdings kaum Spuren der obd. Orthographie auf). Daß die obd. Literatursprache im 17. Jh. die Position einer katholischen Leitvarietät auch außerhalb ihres unmittelbaren Geltungsbereiches einnehmen konnte, zeigt sich darin, daß ihre „sprachliche[n] einflüsse sich […] bis im äußersten nord-(Köln) und südwesten (Freiburg i.Schw.) bemerkbar machen“ (V. Moser 1982, 172; ebda. 75 ff. über im hsl. Schreibgebrauch Friedrichs von Spee; zu rhein. und westfäl. Hexenprozeßakten des 17. Jhs. vgl. Macha 1998). Eine jesuitische Denkschrift von 1622 stellt fest, daß man im ganzen Rheinland bis Neuß und Düsseldorf und sogar in Westfalen Prediger mit obd. Sprache (dialectus Superioris Germaniae) bevorzuge; konkret wird allerdings der Dialekt von Mainz und Speyer genannt (Breuer 1979, 46; 1998, 185 f.). Freilich herrscht hinsichtlich der Schreibformen eine beträchtliche Variationsbreite, z. B. im Gebrauch von oder der Synkope; immer überwiegt die Diphthonganzeigen , ebenso die Bezeichnung der Umlaute die Fälle mit Entrundungsanzeigen. Ziemlich fest ist hingegen die „richtige“ Unterscheidung von i : ie, die Umlautlosigkeit unter bestimmten Bedingungen, die Substantivapokope und die Charakteristika in Morphologie und Wortbildung. Trotz der Abschottung gegen literarische Einflüsse aus dem protestantisch-omd. Bereich war eine gewisse Permissivität nicht zu vermeiden. So wies die Leseaussprache deutliche Abweichungen von der gesprochenen Sprache auf, wie Grimmelshausen von seinem öst. Wirt berichtet, der sich im Gespräch mit ihm oder anderen Hochdeutschen dazu „zwang /
XVII. Regionalsprachgeschichte
alles Orthographice` außzusprechen“ (1976, 43). Auch im Reimgebrauch schlägt z. T. diese Leseaussprache durch. Durchwegs werden, überwiegend gegen die dialektale Aussprache, mhd. e : e¨, sehr häufig auch : ä, œ miteinander verbunden, ebenso o : oˆ (z. B. bei Curtz BB II, 223: Gnadenzelt : bstellt, Höld : Welt, verkehren : beschwären; Gott : Not; bei anderen schär : her, Herr : schwer, gescheh: gäch, mehr : wär usw.). Bemerkenswert ist, daß nicht ganz selten auch ei : ai reimen können (z. B. wieder bei Curtz Reyen : schreyen, erfrewen; seyn : gstain, rein; Frewd : leyd, schaid; außbreiten : seiten); die beiden orthographisch (und natürlich sprechsprachlich) tendenziell getrennten Diphthonge konnten lesesprachlich also zusammenfallen. Keine Reimbindungen hingegen gibt es bei i : ie (außer vor r), u : uo. Charakteristischer sind allerdings die zahlreichen Reime, die sprechsprachlich bedingt sind, häufig auch gegen die jeweilige Schreibform (z. B. Bitt : nicht [statt nit], zu : frühe [st. frueh], Sonne : vergunne, vmb : komb, kombt : stundt [st. Sunne, kum(b), kumbt], heut [st. heint] : scheint usw.). Durchgehend sind die auf Umlautentrundung basierenden Reime (Hütten : bitten, verkünden : finden, Lieb : trüb, grünen : dienen, fliessen : büssen, hör : mehr, Seel : frewden-Oel u. v. a.).
Metasprachliche Äußerungen, die die sprachliche Situation unter konfessionellen Gesichtspunkten bewerten, werden erst im 18. Jh. eindeutiger und schärfer, aber es gibt sie immerhin von Anfang an. Der aus dem Thüringer Wald stammende und zum Katholizismus übergetretene Grammatiker Laurentius Albertus (1573) wehrt sich im Zusammenhang mit seiner Polemik gegen die Übersetzung der Bibel in die Volkssprache (gemeint ist natürlich nur die lutherische) dagegen, daß diese „stammelnden Barbaren“ (balbi illi Barbari) „uns reineren Deutschen (nos puriores Germanos) die Natur und Eigenart unserer Sprache lehren wollten, obwohl sie selbst von ihrem rechten Gebrauch und der richtigen Aussprache weit entfernt seien“ (cum ipsi a vero eius usu et pronunciatione remotissime absint, Albertus 1895, 14). Dennoch kann Albertus nicht als Zeuge für eine regionalsprachliche Position verwendet werden. Die Sprache, die er seiner Grammatik zugrunde legt, bezeichnet er als „intelligibile […] omnibus superioris Germaniae populis“, als Druckorte dieser Sprache gibt er neben den obd. auch Mainz, Frankfurt und Wittenberg an. Sein „Oberländisch“ schließt auch Rhenani, Franci, Misnenses, Silesij, Thuringi mit ein, ist also Hd. (1895, 39; s. auch o. die Jesuiten-Denkschrift von 1622). Im Zusammenhang mit dialektalen Verschiedenheiten nennt er die Meißner „populus nempe cultissimus“, die ihre Sprache „cum elegantia et suavitate efferunt“ (40).
Die obd. Position vertritt nachdrücklich Albert Curtz in seiner Vorrede zu den Harpffen
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit
Davids (1659). Seine Arbeit „geschicht auff Ansuchen / vnd dann zu Geistlichem Nutz / vnnd Trost deß Oesterreichischen / Bayrvnnd Schwäbischen Frawn-Zimmer: dahero hat man sich der in disen Landen üblichen Sprach gebrauchen müssen.“ (Gegen Opitz’ Poetik:) „Waiß wol daß einem gelehrten Meißner / oder beredten Maintzer schwer / vnd übelständig fallen solle / die Wort wie sie in disen Reim-Zeilen begriffen seynd / zuvertrucken. Es hat aber bey vorgemelten Orten dise Art zu reden / so weit überhand genommen“, daß er sie verwenden müsse, „als vnformlich dise weiß in Meissen / oder an dem obern Rhein lauten mag.“ (Und gegen die Sprachgesellschaften:) er bediene sich „keines weegs der newgeteutschten / vnd an etlichen Orten eingeführten Worten […], mit welchen die Einfalt deß heiligen Lieds nichts zu schaffen hat. Ist auch ohne daß zweiffelhafftig / ob diser newe frucht-bringende Baum / in dem richtig teutschen Garten gedultet werden wolle? Dergleichen auffgemutzte / vnnd frembd-kündige Wort gehören zu Auffzügen / Schawspilen / und Tantzereyen“, aber nicht in geistliche Lyrik (Breuer 1979, 52 nach der Ausgabe Augsburg 1669). Hier ist nun ausdrücklich von der obd. Literatursprache die Rede. Und die Abgrenzung erfolgt nicht nur vom Meißnischen, sondern auch von den Bestrebungen der Fruchtbringenden Gesellschaft und der modernen Poetik. Der wichtigste theoretische Beitrag zur obd. Literatursprache stammt von dem Münchener Augustiner-Eremiten Gelasius Hieber (BBHS 4, 313 ff.) und ist 1723⫺25 im „Parnassus Boicus“ erschienen. Diese gelehrte Zeitschrift, 1722 von den Pollinger Augustiner-Chorherren als Ersatz und gleichzeitig als Vorläufer für eine noch nicht zustande gekommene Akademie begründet, ist ein bedeutendes Zeugnis der katholischen Aufklärung in Bayern und in unserem Zusammenhang vor allem deshalb von Interesse, weil sie programmatisch zu einer Zeit „in der teutschen Sprach“ (1723, 5) publiziert wurde, zu der die Organe der Akademien in lat. oder frz. Sprache erschienen. In fünf Beiträgen behandelt Hieber zunächst den Ursprung der Sprache und die Geschichte des „Hochteutschen“ („eine rauche vnd harte Sprach“ wird kontinuierlich verbessert und „politer“ durch 500-jährigen „Umbgang mit den Römern“ und durch Taten und Verordnungen der Kaiser Karl d. Gr., Rudolf I. und Maximilian I. (PB 1723, 24 ff., hauptsächlich nach den gleichen Quellen wie
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Schottelius, aber unabhängig von diesem); „den höchsten Gipfel ihrer Vollkommenheit / Zierde / Mannhafftigkeit vnd Reinigkeit“ sieht er in der Mitte des 17. Jhs. in der Kanzleisprache des Kurfürsten Maximilian erreicht (1724, 193). Im 18. Jh. beginnt nun „dise vnsre Teutsche Helden=Sprach […] mehr ab= als aufzunehmen“ (194), und zwar wegen dreier „Unformbe“: 1) wegen der alamodischen „Misch=Mascherey“ (198; keineswegs ist H. aber Purist; zumal „denen Gelehrten“ läßt er „eine besondre Befreyungs=Gnad“ angedeihen); 2) wegen der „gezwungen Red= oder Schreib=Art“ (199 ff.; Polemik gegen orthographische Spitzfindigkeiten der Sprachgesellschaften, gegen „gezwungene“ d. h. gekünstelte [DWB 4/I, 4, 7269] Wortbildungen und Lehnwortübersetzungen); 3) wegen der Tendenz, eine Regionalsprache („Land=läuffige Mutter=Sprach“) als Norm des Hd. zu etablieren (203 ff.). Das gilt zwar ausdrücklich für alle dt. Dialekte, auch für die obd., die Polemik richtet sich aber natürlich primär gegen Luther, der „keine andere Absicht gehabt / als seiner Ober= Sächsischen Teutschen Sprach die universal Monarchi in dem Hoch=Teutschen einzuraumen / wie dann ihme seine Lands=Leuthe in solcher Meynung noch heut zu Tag nachahmen / ja was vnverträglich wohl gar auch ein vnd andere auß vns Catholischen“ (204 f.). Das wahre Hd. besteht aber „in keiner eintzigen landläuffigen Sprach nit“ (206), „sonder in der Red= vnd Schreib=Art der Gelehrten / welche Kenner / Meister / vnd Besitzer seyn diß vnsrer mannhafften / körnig= vnd zierlich=klingenden Teutschen Mutter=Zungen“ (207). Dies aber ist genau die Position von Justus Georg Schottelius, und zwar in der Formulierung durch Johann Bödiker, dem er die Einteilung der dt. Dialekte und die Definition des Hd. (in der Fassung durch J. L. Frisch 1723) fast wörtlich entnommen hat (196 f. ⫺ Bödiker 1746, 350 f.; Reiffenstein 1988, 31 ff.). Auch der Abriß der Grammatik (385 ff., 480 ff.) ist zur Hauptsache ein Extrakt aus Bödikers „Grundsätzen“ (Reiffenstein 1988, 34 ff.). 1736 erschienen in der Neuen Folge des PB „Einige Anmerckungen über die Teutsche Sprach“ (67 ff.) von Hiebers Mitbruder Agnellus Kandler (BBHS 5, 80 f.). K. bestätigt Hiebers Position, sieht aber bei der Verwirklichung der Hochsprache (=Sprache der Gelehrten) das Problem, daß auch jeder Gelehrte „etwas von seiner angebohrnen Mutter= Sprach mit unterlauffen lasset“ (69), weshalb das Hd. „annoch auf keinen vesten und unbeweglichen Fuß gesetzet“. Das gelte auch für die Sprachgesellschaften, deren Tätigkeit prinzipiell positiv bewertet wird (so auch von Hieber). Seine Hoffnung setzte er in eine mit der entsprechenden Authorität ausgestattete kaiserliche Akademie, wie sie der kaiserliche Rat C. G. Heraeus (BBHS 4, 220 f.), wohl im Auftrag Leibniz’, in Wien vorgeschlagen hatte (Reiffenstein 1988, 40 ff.). Bis zur Entscheidung einer solchen Akademie könne man es den „Catholischen“ nicht verdenken, wenn sie „entzwischen die Recht=Schreib=Kunst denen Cantzley=Schreibern und Buchdruckern gleichsam preyß geben“ (73).
2954 Hieber und Kandler vertraten keine regionalistische Position. Wie Schottelius und Bödiker forderten sie ein Hd. auf überregionaler Basis. Von daher wiesen sie den Anspruch der Meißner zurück. Natürlich steht dahinter (auch) der konfessionelle Gegensatz, aber er wird nicht in den Vordergrund gestellt. Von einer ausdrücklichen Zuordnung der obd. Literatursprache zur katholischen Sache ist nirgends die Rede, lediglich davon, daß sie unter dem Kurfürsten Maximilian I. ihre Blütezeit erlebt hatte. Wenn man sich mit der Grammatik des Dt. beschäftigen wollte, kam man freilich um die Benützung protestantischer Bücher nicht herum, so der in München und Ingolstadt als Sprachlehrer tätige Spanier Johannes Angelus a Sumaran in seinem „Thesaurus fundamentalis quinque linguarum“ (Ingolstadt 1626) die Grammatik des Clajus (Jellinek 1913, 78) und Hieber die „Grundsätze“ Bödikers, beide freilich ohne Namensnennung ihrer Quellen. Wichtig ist der stilistische und poetologische Gegensatz zwischen Obd. und Md. Ideal der Obd. ist eine hochrhetorische, an der Kanzleisprache und am Lat. geschulte, periodenreiche Sprache, deren Qualität „Mannhafftigkeit“ als „Merckzeichen der Wahrheit“ (PB 1724, 302) ist. „Lieblich= und Zärtlichkeit“, wie sie „zu allerhand artigen Stucken / als Gedicht / Roman / Schertz=Schriften etc. sonders bequem ist“, spricht Kandler der „Ober Sächsische[n] Provincial=Zung“ gar nicht ab; aber „die Lieblichkeit [ist] eben kein eignes Merckmahl und Kennzeichen der wahren teutschen Sprach / als welche jederzeit für eine Helden=Sprach / für eine ernsthaffte Sprach vilmehr deß donnernden GOttes gegen den Adam / als der schmeichlenden Schlangen gegen der Eva gehalten worden“ (PB NF 1, 1736, 75 f.; vgl. auch 1724, 304). Genau dieselbe Position vertritt noch 1755, nun schon anachronistisch, der Gengenbacher Benediktiner Augustin Dornblüth. Der Innsbrucker Jesuit Ignaz Weitenauer nennt diese Sprachauffassung leicht ironisch die „gestrenge“ (im Gegensatz zur „gelinden“ der Omd.; Weitenauer 1764, 13 ff.). Scharf polemisieren Hieber wie Kandler dagegen, daß auch Katholiken sich immer mehr den osächs. Einflüssen öffnen. Für Hieber ist es „vnverträglich […] / wann sie ein dergleichen Protestantisches Lufft=Wort erschnappen / sich / weiß nit / wie breit zu machen suchen“ (PB 1724, 204). „Jene Catholische Schreiber und Buchdrucker […] / welche blindhin alles nachmahlen und nachaffen /
XVII. Regionalsprachgeschichte
was sie in einem Sächsischen Buch lesen und aufklauben“, sollten sich dessen bewußt sein, daß „solche Schreib=Art mehrmahlen kein andere Brunn=Quell / als die Lutherische Bibel / und keinen tiefferen Grund hat als des Luthers Willkuhr“ (Kandler, PB 1736, 74). Aus dem Bistum Würzburg wird berichtet, die Bevölkerung habe auf den hd. sprechenden „jüngeren aufgeklärten Klerus“ mit Abwehr und dem Mißtrauen reagiert, sie seien lutherisch gesinnt (Raab 1984, 32). Man darf annehmen, daß das in Altbayern nicht anders war. Zeugnisse sind mir nicht bekannt. Breiten Widerstand gab es gegen die brauchtumsfeindliche Haltung der katholischen Aufklärung und sicher auch gegen ihr Hd. Aus Wien berichtet F. Nicolai von einer ähnlichen Erfahrung J. von Sonnenfels’: seine Bewerbung bei einem „Mann von Ansehen“ sei mit der Begründung abgelehnt worden: „der Herr ist wohl gar ein Lutheraner ⫺ wenigstens ist es des Herrn sein Deutsch. […] Der Herr ist in meine Kanzley zu gescheid!“ (Raab 1984, 22). Ein eigenartiges Phänomen ist die konfessionelle Ideologisierung eines phonologischen Befundes, nämlich der Apokope des auslautenden -e (vgl. auch Breuer 1979, 48 ff.). Die Anfänge der Apokope reichen weit zurück. Im 16. Jh. ist sie im Bayer. beim Subst. weitgehend durchgeführt, beim Verb vor allem in der 1.P.Sg.Präs.Ind. (vgl. Art. 191). Die Poetik Martin Opitz’ (1624, 32 ff.; Burdach 1925, 40 ff.) beschränkte die Anwendung der Apokope auf fest geregelte Fälle (Hiatus, Versende) und machte sie damit zu einer Normabweichung. Da die Mehrzahl der katholischen Dichter diese Regel nicht akzeptierten, ergab sich ein wichtiger konfessionell bedingter poetologischer Gegensatz (Breuer 1979, 51 ff.). Die obd. Grammatiken aus der 2. Hälfte des 16. Jhs. (Albertus, Ölinger) weisen die Apokope, im Gegensatz zu Clajus, in ihren Paradigmen und Wortbeispielen fast ausnahmslos auf, thematisieren sie aber nicht. Allerdings sagt Albertus (1895, 98) im Zusammenhang mit der Feststellung, alle einfachen Verba seien in der 1.P.Ind.Präs. Monosyllabica (ich red, ler, streit), daß ihnen aus rhythmischen Gründen und in gehobener Rede e hinzugefügt werden könne (ich Rede usw.); einem gespreizt klingenden Beispielsatz mit vielen -e (aber ohne Subst.) wird die „normale“ Lesart (in communi quotidianoque vsu, simpliciter leguntur) ohne -e gegenübergestellt. Grimmelshausen tadelt im „Teutschen Michel“ (1673) „dieselbige / welche nimmermehr ein recht Teutsch Wort mit einer Silben außsprechen / sondern dem E dermassen gewogen seyn / daß sie es immerzu hinden anflicken […] auß Hoffart: und der Meinung / sie machen es vil besser“ (1976, 39 f.). Als Beweis dafür, daß die deutschen „Stammwörter“ überwiegend einsilbig
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit sind, führt er auch apokopierte Formen an (z. B. Henn, Aendt ‘Ente’, Katz, Waitz, Linß, Erbß, Bohn, Saam u. a.; 57 f.). Er plädiert auch für synkopierte Schreibformen wie bittr, Mangl, gwesn, bschimpfft, btrogn usw. Von einer konfessionellen Begründung für die Apokope oder ihre Ablehnung ist auch hier so wenig die Rede wie bei Albertus. Auch G. Hieber verwendet die Apokope reichlich, wie alle Beiträger des PB (zum Subst. vgl. Birlo 1908, 34 ff.), geht aber auf das Phänomen selbst und auf den Gegensatz zum Omd. mit keinem Wort ein. P. Augustin Dornblüth, der in seinen Observationes (1755) Gottsched und das Sächs. scharf und grob attackierte und starrköpfig die Linie der obd. Literatursprache verteidigte, polemisierte auch gegen das „e Saxonum“, das er als charakteristisch für die affektierte und ausgekünstelte „Rede und Schreib-Art“ der Sachsen sieht (265 f.). Gottsched wolle „die teutsche Sprach in allen Stucken vergalliziren“, wenn er Feminina „nach Art der Franzosen mit einem angeflickten e“ versehen wolle (268). Von „lutherischem e“ ist nicht die Rede. Der Widerspruch auch von katholischer Seite ließ dennoch nicht lange auf sich warten. P. Ignaz Weitenauer S. J. (1764, 24) fragt: „Woher entspringet doch dieser unversöhnliche Haß wider das unglückliche E? […] Was hat immermehr die Glaubenslehre mit dem E zu thun?“. Hier paßt auch eine Bemerkung L. v. Westenrieders über die Situation zur Jh.-Mitte her: „Man fürchtete sich vor jedem ungewöhnlichen Laut, und argwöhnte überall ein verborgenes Gift“ (BB III, 537). Wie Weitenauer steht auch Heinrich Braun eindeutig auf der Seite des modernen Hd., bemüht sich aber aus pädagogischen Gründen um einen vermittelnden Standpunkt. Seine „Anleitung zur dt. Sprachkunst“ (1765; s. u. 5.3.) enthält ein umfangreiches Kapitel „Von dem E“ (61 ff.), in dem unter Berufung auf die vorlutherische Bibelübersetzung (mit bewahrten -e) dagegen argumentiert wird, die Erhaltung des -e „wäre eine lutherische Schreib= und Redensart“ (61). Er rechnet zwar nicht damit, „daß diese Redensart in unseren Gegenden eingeführt werde“ (d. h. in die gesprochene Sprache), erhofft es aber wenigstens für die „Schreibart“ (62). Braun unterscheidet „ein überflüssiges / ein nothwendiges / und ein zierliches e […] das Zierliche ist willkührlich“ (63), d. h. er toleriert für den obd. Schreibgebrauch die Apokope, obgleich die Formen mit -e für „zierlicher“ gelten; in langen Listen von Achs, Aeher, Ahl bis Woll, Zeug, Zierd, Zung und von bang, behend bis zäh stellt er den apokopierten Formen solche mit -e (Achse usw.) alternativ gegenüber. Auch „der Dativ in e scheint einigen gezwungen, oder gar zugekünstelt, oder […] affectirt zu seyn“ (71; vgl. o. Dornblüth!). Daß der Widerstand gegen das -e groß war, läßt sich auch Leopold Mozarts Korrespondenz mit dem Augsburger Buchdrucker Lotter 1755 entnehmen, wo er hin und her überlegt, ob es in seiner „Violinschule“ heißen solle von dem Tact oder musikal. Zeitmaaß oder Tacte … Zeitmaße: „dieses letztere liess mir sehr gezwungen“ („wenn
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zweene solche Ablative zusammen kommen, so lässt es halt einmal lächerlich“ ⫺ obwohl er sich sonst sehr bemüht, Gottscheds Regeln zu beachten; Reiffenstein 1992, 482).
Daß Sprache auch konfessionell instrumentalisiert wurde, ist nicht zu bezweifeln. Der Begriff „lutherisches e“ ist mir im zeitgenössischen Schrifttum aber nicht untergekommen, sondern zuerst bei F. Kluge (1904, 194), mit dem Hinweis „wie jene Zeit es benannte“ ⫺ aber ohne Beleg. Ist es abwegig, den Terminus selber als Zeugnis des antikatholischen Kulturkampfes Ende des 19. Jhs. zu bewerten? Schon im 18. Jh. war die protestantische Kritik am rückständigen Obd. der Mönche im Ton aggressiver und überheblicher als die katholische Abwehr (von dem polternden Dornblüth abgesehen), von Litzel/Megalissus bis zu Friedrich Nicolai. 4.3.3. Gesprochene Sprache, Mundart: Über die mündliche Kommunikation und über die bäuerlichen Mundarten erfahren wir in jenen zwei Jahrhunderten einer ausgebildeten Schreib- und Druckersprache wenig. Daß die hsl. Orthographie bis ins 18. Jh. konservativer ist und dem phonologischen System der gesprochenen Sprache nähersteht als jene des Buchdrucks, wurde schon (4.3.1.) besprochen. Natürlich gibt es sprechsprachliche/ mundartliche Interferenzen, die von dem sozialen Stand und der Bildung des/der Schreiber/in abhängig sind (vgl. Texte von Frauen: neben dem Brief von Kfn. Maria Anna [s. o.] z. B. das Tagebuch der Äbtissin Maria Magd. Haidenbucher von Frauenchiemsee und die Offenbarungen der Anna Maria Lindmayr; BB II, 897 ff., 1218 ff.). Eine interessante Quelle für die Wort- und Dialektgeographie sind bäuerliche Verlassenschaftsinventare, die z. B. von Kasparek/Gebhard (1962; ferner Lahnsteiner 1959; Gröchenig 1974) zugänglich gemacht wurden. Sie listen die Gerätschaften, Vorräte und den Viehbestand offenbar ziemlich genau in ihren lokalen Bezeichnungen auf (z. B. Sengst : Sänns, Äden : ögn, Goppen, Kollöffel, khirzen, preder usw. ‘Sense, Egge, Joppe, Kochlöffel, Kerze, Bretter’). Insgesamt aber bleibt auch diese Varianz auf der Ebene der Schriftsprache. Das wird ganz deutlich, wenn man solche Texte mit verschrifteter Mundart, wie sie seit dem späten 17. Jh. belegt ist, vergleicht. Auch im Obd. ist seit dem 16. Jh. ein Wandel des „Sprachwertsystems“ (Mattheier) vor sich gegangenen, allerdings nicht ein horizontaler Wandel, eine Verlagerung des obd. zu
2956 einem omd. Zentrum (Moser 1987, 397), sondern ein horizontaler Wandel hin zur Ausformung einer Hochsprache über den Dialekten. Das hochsprachliche, normative Sprachbewußtsein äußert sich in einer deutlicheren Distanzierung der Gebildeten von den bäuerlichen Dialekten. Entsprechende Anmerkungen von L. Albertus beziehen sich zwar in erster Linie auf den Schreibgebrauch, setzen sich aber gleichzeitig von der Aussprache der „inculti et agrestes indigenae nostri“ ab (1895, 35). So heißt es z. B. „diphthongum ö vel oi qua Boij, ut plurimum vtuntur, sola tamen pronunciatione, namque scriptam non vidimus, als Noi / id est, new novus“ (34 f.) oder „Non communiter recepta est ua, sed ex ijs saltem auditur, qui u simplex pure non possunt efferre, ut simpliciores et incultiores solet, pro fuß / enim dicunt fuas pes“ (35). Wenn „Papierreime“ gegen die mundartliche Aussprache häufiger werden, ist das auch ein Indikator für eine tendenziell graphieorientierte Leseaussprache, die Grimmelshausen ausdrücklich bezeugt (orthographice sprechen, s. o. 4.3.1.). Das geht zwar keinesfalls so weit wie im evangelischen Omd. (Moser 1987; Polenz 1986), aber die Ansätze hiezu gibt es auch hier. Vor allem aber wird der Unterschied zwischen Dialekt und Hochsprache und gleichzeitig ihr Abstand voneinander daran sichtbar, daß seit dem späten 17. Jh. Texte im bäuerlichen Dialekt verfaßt werden ⫺ zur Belustigung eines höfischen oder städtischen, schrift- und literaturkundigen Publikums, dessen eigene gesprochene Sprache sich freilich vom Dialekt nicht allzu sehr unterschieden haben dürfte. Da gibt es z. B. Gedichte über bäuerliche Kirchbesuche in den Residenzstädten Landshut und Salzburg oder ein Namenstagsgedicht auf den Prior von St. Emmeram und vor allem Spieltexte, in denen sozial niedriges Personal (Bauern, Dörfler, Küchenpersonal) Dialekt spricht. Auch in die Interludien des Benediktinertheaters, das an der Universität Salzburg seine Hauptpflegestätte hatte, drang zu dieser Zeit nicht nur die dt. Sprache, sondern auch der Dialekt ein (Boberski 1978, 128, 138 ff.; z. B. BB II, 540 ff. [W. Rinswerger]). Sprache dient hier überall der Rollentypisierung. Hier herrscht häufig ein Bemühen um eine möglichst phonetische Wiedergabe des Dialekts vor (z. B. nordbair. gestürzte Diphthonge ou, ej, Assimilationen, Abschwächungen usw.). Die meisten dieser Texte sind ungedruckt geblieben. Ein Flugblatt mit einem Gedicht auf den Sieg über die Türken in Ofen (Budapest) 1686 bildet da eher die Ausnahme (vgl. BB II, 1184⫺1206; 370 ff. [Opernlibretto Genovefa]; Prinz von Arkadien; BB III, 1033 ff. usw.). Es ist kein
XVII. Regionalsprachgeschichte Zufall, daß in eben dieser Zeit auch das „Glossarium Bavaricum“ von J. L. Prasch erschien (1689; s. o. 4.2.).
In all diesen Texten wird die Mundart von außen gesehen, als interessantes neues Medium oder als Gegenstand gelehrten Interesses. Die Masse derer, die (nur) den Dialekt sprachen, war von dieser wie von aller anderen „schönen“ Literatur ausgeschlossen. Dialektliteratur, die für die einfachen, nicht gebildeten Leute geschrieben war und im Volk lebte, ist erst seit der Mitte des 18. Jhs. belegt (M. Sturm, F. Joly u. a.). Die Literaturgattungen, die von allen, Gebildeten wie Ungebildeten, regelmäßig konsumiert wurden, waren die sonn- und festtäglichen Predigten und die geistlichen und weltlichen Spiele (Passion, Weihnachtsspiele usw., „Volksschauspiel“). Das Verdikt der Aufklärung hat diese Literatur zu Unrecht für lange Zeit in die Vergessenheit verbannt. Man kann die Predigt als eine Form der Massenkommunikation verstehen, die in einer raffiniert stilisierten, aber dennoch allen verständlichen Sprache erfolgte. Die Strukturprinzipien der katholischen Barockpredigt waren Spannung und Steigerung, Vergleich, rhetorische Frage und argumentativer Dialog, ihre wichtigsten Stilmittel Bildhaftigkeit, Metaphorik und Wortwitz, oft derb, oft spitzfindig, nicht immer geglückt, aber immer wirkungssicher. Des Aufpassers gegen den Kirchenschlaf (MoserRath 1964, 5) bedurfte es da nicht. Dafür sorgten auch die zu bestimmten Gelegenheiten in die Predigten eingebauten Predigtmärlein (vor allem Ostermärl; vgl. Moser-Rath 1964; Böck 1953). Freilich schafft die Predigt wie jede Massenkommunikation eine Einwegkommunikation, aber sie hat zweifellos auch die aktive Sprachkompetenz der rezipierenden Zuhörer stark geprägt, bis hin zum Wiener Volkstheater. Natürlich gab es gute und schlechte Prediger, aber die Fülle der Predigtbücher des 17. und 18. Jhs. hält ein gutes Niveau. Abraham a Santa Clara war eine herausragende Erscheinung, aber kein Ausnahmefall. Daß es auch trockene, „papierene“ Predigten in unbeholfener Sprache gibt, beeinträchtigt das Bild wenig. Die in den Predigtsammlungen enthaltenen Texte sind nicht unmittelbare Wiedergaben der tatsächlich gehaltenen Predigten (Welzig 1984, 1, 18), aber nur sie können uns einen Zugang dazu vermitteln. Adressaten der Predigtbücher waren vermutlich in höherem Maße die in der Seelsorge tätigen Pfarrer
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit
als die Laien. Für Haus- und Erbauungsbücher gab es jedenfalls auf dem flachen Land noch kein hinreichendes Publikum. Unter den von Kasparek/Gebhard hrsg. 21 niederbayer. bäuerlichen Verlassenschaftsinventaren, die jeden Löffel und Teller verzeichnen, weist nur jenes eines Schmiedes (1693) „1 Winckhl Cästl, darinen etlich alte Biecher“ und das eines Krämers (1722) „1 Bettbuech“ aus (1962, 213, 216). Die Erbabhandlung der sehr wohlhabenden Seninger-Wirtin in Bramberg (Oberpinzgau, 1732; Lahnsteiner 1959) verzeichnet zwar nicht wenige Landschaftsund Heiligenbilder, aber kein einziges Buch. „Gebetbücher, Andachtsbücher und Hauspostillen“ werden in den Inventaren erst nach der Mitte des 18. Jhs. häufiger genannt (Kasparek/Gebhard 1962, 201).
Die Wirkung der Predigten beruhte also in erster Linie auf dem gesprochenen, nicht auf dem gedruckten Wort. Sie ist vielfach bezeugt. Die katholische Barockkultur war mit Architektur und Liturgie, mit Festen, Prozessionen, mit Theater und Musik eine Kultur des Schauens und Hörens. Daß dazu auch das Hören des gesprochenen Wortes gehörte, beweisen die Predigten. Die reichgestalteten barocken Kanzeln, die nach den Altären den katholischen Kirchenraum dominieren, sind dafür ein sichtbares Zeichen. Im Theater verbinden sich Schauen und Hören. Die Tradition der mittelalterlichen geistlichen Spiele wurde in den protestantischen Ländern abgebrochen, lebte aber im katholischen Süden weiter oder wurde seit dem 17. Jh. wiederbelebt. Im Vordergrund stand freilich das lat. Schuldrama der Jesuiten (München, Wien u. a.) und, vor allem seit dem 17. Jh., der Benediktiner (Salzburg). Dt. waren da nur die Periochen und seit dem späten 17. Jh. die Interludien. Bei Hof dominierte in München wie in Wien und Salzburg das italienische Theater, vor allem die Oper. Auch im lat. Schultheater spielten Musik, Tanz und Pantomime eine wichtige Rolle. Daneben gab es einen lebendigen und vielfältigen Theaterbetrieb in der Volkssprache: geistliche Spiele (Weihnachts-, Hirten-, Nikolaus-, Fronleichnamsspiele und an vielen Orten die Passion, unter denen die Oberammergauer [seit 1634] nur die größte und bekannteste ist), Brauchtumsspiele, das Laufener Schiffertheater (als Winterverdienst), Fasnachtspiele (z. B. des Regensburger Schreinermeisters Steffan Egl, BB II, 1184 ff.), in den Städten seit der Mitte des 17. Jhs. Gastspiele von Wandertruppen u. v. a.
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Bayerisch und Hochdeutsch (1750⫺1950)
5.1. Geschichte 5.1.1. Der Traum von einer europäischen Stellung Bayerns war mit dem Sonderfrieden von Füssen (1745, s. o. 4.1.1.) ausgeträumt. Bayern blieb auf seine Rolle als Mittelstaat verwiesen und mußte noch froh sein, wenigstens seinen territorialen Bestand halten zu können. 1761 ging Bayern mit dem Tod des Kölner Kurfürsten Clemens August auch der Kölner Erzstuhl, den altbayer. Wittelsbacher fast 200 Jahre lang innehatten, verloren. Die Regierungstätigkeit Max III. Joseph konzentrierte sich, vor allem seit 1765, auf die Verwaltung des Inneren, auf die Ordnung des Rechtswesens durch Wiguleus von Kreittmayr (1751⫺1771; Spindler II, 1248 ff. [Hammermayer]) und seit den 70er-Jahren des Schulwesens (Volksschule, Realschulen, Verbesserung des Deutschunterrichts; Heinrich Braun, Ickstatt u. a.). Die wirtschaftliche Vorherrschaft der Klöster wurde durch Verordnungen von 1764 und 1769 beschränkt, das Kirchenvermögen unter strengere Staatsaufsicht gestellt. Hinter all dem stand der neue Geist der katholischen Aufklärung, der schon seit 1722 mit dem Parnassus Boicus ein kräftiges Lebenszeichen gegeben hatte. Der schönste Erfolg der neuen Bewegung war die Gründung der „Churbaierischen Akademie der Wissenschaften“ in München (1759), die die geistigen Kräfte des Landes und weit darüber hinaus, der alten Orden wie der gelehrten Staatsbeamten, der Katholiken wie der Protestanten zusammenfaßte. Da sie direkt unter dem Schutz des Kurfürsten stand, konnte sie sich dem Eingriff der Jesuiten (die allein ausgeschlossen blieben) entziehen. Daß eine Epoche zu Ende gegangen war, wird auch durch die Aufhebung des Jesuitenordens durch Papst Clemens XIV. 1773 markiert. Mit dem Tod des kinderlosen Max III. Joseph (1777) endete die altbayer. Linie der Wittelsbacher (seit Kaiser Ludwig IV.). Die Nachfolge traten die Pfälzer (eigene Linie seit Ludwigs IV. Bruder Rudolf) an. Zunächst Kurfürst Karl Theodor (1777⫺1799) vom kulturell glänzenden Mannheimer Hof. Gleich nach seinem Regierungsantritt in München mußte sich Karl Theodor gegen öst. Erbansprüche zur Wehr setzen. In dem von Joseph II. begonnen Erbfolgekrieg verlor der Kurfürst das Innviertel (Braunau, Schär-
2958 ding, Mattighofen, Ried; Friede von Teschen 1779). Am liebsten hätte er Altbayern gegen die österr. Niederlande eingetauscht, was aber am Widerstand bayer. Patrioten und vor allem Preußens scheiterte, das an einer Stärkung Österreichs nicht interessiert war. Karl Theodor war aufgeklärt und hochgebildet, förderte moderne Projekte (Straßen, Forstwesen, Trockenlegung des Donaumooses und Anlage neuer Kolonistendörfer, Englischer Garten), Musik und Theater, aber er und die mit ihm gekommenen Mannheimer Beamten blieben fremd im ungeliebten Land. Der Kurfürst wurde zunehmend mißtrauisch. Die neuen Freiheiten wurden durch verschärfte und oft kleinliche Zensur beschnitten. 1785 wurden die Freimaurer und die Illuminaten „als landesverräterisch und religionsfeindlich“ verboten (Spindler II, 1194). Daß eine Vereinigung wie der radikal-aufklärerische Illuminatenorden ausgerechnet in Bayern entstehen und von da aus in ganz Deutschland und darüber hinaus rasch an Einfluß gewinnen konnte, beweist eindringlich, daß das Bild vom rückständigen, geistig abgeschotteten Bayern (das die Illuminaten freilich selber kräftig nährten) ein Zerrbild war. Erst jetzt und verstärkt seit der Französischen Revolution reagierte Karl Theodor und sein Polizeiapparat reaktionär. Jetzt (1797) klagt auch ein gemäßigter Mann wie Lorenz Westenrieder, Gegner der Illuminaten, über „ein höchst unsinniges Büchercensurcollegium“ und über den geistigen Verfall „unter der Regierung der unbeschreiblich faden Rheinpfälzer oder vielmehr Mannheimer“ (Brief an Philipp Wolf; BB III, 552). Viele der bayer. Illuminaten entzogen sich der Verfolgung und gingen ins Ausland, nach Regensburg, Nürnberg, Ansbach oder in das liberale Salzburg des aufgeklärten Erzbischofs Colloredo. Aus der Erstarrung dieser Jahre wurde Bayern herausgelöst durch Karl Theodors Nachfolger Max IV. Joseph (1799⫺1825, von der Zweibrückener Linie) und seinen Minister Maximilian von Montgelas (1799⫺1817), einen Staatsmann von europäischem Zuschnitt, einst selbst Opfer der Illuminatenverfolgung. Hatte Karl Theodor in den beginnenden Kriegen gegen das revolutionäre Frankreich auf Neutralität und dann widerwillig auf Anlehnung an Österreich gesetzt, so schwenkte die neue Regierung seit dem Frieden von Lune´ville (1801) zu Frankreich über (Bündnis 1805). Nur dies konnte die ständigen Annexionsversuche Österreichs definitiv abwehren und die eigene Staatlichkeit
XVII. Regionalsprachgeschichte
erhalten. Diese Politik entsprach auch der antiöst. und profrz. Stimmung der bayer. Öffentlichkeit, mindestens ihrer ständischen und intellektuellen Oberschicht. Bayern verlor zwar die Pfalz und Berg, aber es gewann durch den Reichsdeputationshauptschluß (1803) und durch die Verträge von Brünn und Preßburg (1805) reichlichen und vor allem territorial kompakten Ersatz. Die Erhebung des Kurfürsten zum König Max I. Joseph am 1. 1. 1806 war nicht bloß eine Äußerlichkeit, sondern sie verlieh Bayern die volle staatliche Souveränität und damit die Voraussetzungen für den tiefgreifenden Neubau des Staates durch Montgelas, für Konstitution (1808) und Verfassung (1818). Die napoleonischen Kriege müssen hier nicht nacherzählt werden. Sie haben vielen Bayern das Leben gekostet (allein in Rußland blieben 30000). Im Oktober 1813, kurz vor der Völkerschlacht von Leipzig, wechselten Montgelas und der bayer. Marschall Wrede die Fronten, gegen das lange Zögern des bündnistreuen Königs. Handelte Montgelas aus Staatsräson, so begegnete die Entscheidung gegen Napoleon auch in Bayern einer breiten national-dt. Zustimmung, voran beim Kronprinzen Ludwig, der seit langem gegen Montgelas’ „undeutsche“ Politik opponierte. Viele zogen 1814 freiwillig gegen Frankreich, darunter auch Joh. Andreas Schmeller. Das neue Bündnis mit Österreich setzte endlich einen Schlußstrich unter mehr als ein Jh. spannungs- und konfliktreicher Beziehungen zwischen den beiden stammes- und kulturverwandten Nachbarn.
Auf dem Wiener Kongreß, bei dem Bayern durch Wrede, nicht durch Montgelas vertreten war, wurden zwar die machtpolitischen Grenzen des Königreiches deutlich sichtbar, insgesamt ging das Land aber aus dem Jahrzehnt 1805⫺1815 als ein stark vergrößerter, souveräner und in seinem Bestand ungefährdeter Staat hervor. Es war weit nach Franken und Schwaben hineingewachsen und verfügte über ein arrondiertes, kompaktes Staatsgebiet (lediglich die Landbrücke zur Pfalz konnte nicht erreicht werden), nach Österreich und Preußen das drittgrößte in Deutschland. Montgelas schuf dem Staat eine straffe, zentralistische Verwaltungsstruktur und einem modernen Beamtenapparat und ermöglichte damit das rasche Zusammenwachsen der alten und der neuen Landesteile und die Ausbildung eines neuen Staatsbewußtseins. Die Integrität und Popularität des Königs, in schroffem Gegensatz zu Karl Theodor, hatte daran keinen geringen Anteil. Montgelas’ Reformwerk, insgesamt „eine der geglücktesten Revolutionen von oben, die
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es in der Geschichte gibt“ (Hubensteiner 1997, 348), brach, ganz im Sinn des aufgeklärten Rationalismus, mit vielen gewachsenen Traditionen. Am schmerzlichsten und am kulturfeindlichsten war der Bruch mit den religiösen und kirchlichen Traditionen. Es blieb nicht bei den Säkularisation der geistlichen Institutionen, vorab der Klöster. Ihre Besitzungen wurden verschleudert, kulturelle Werte (vor allem die Bibliotheken) sinnlos zerstört, Klostergebäude abgebrochen, Kirchen und Kleindenkmäler profaniert oder gar zerstört. Das breite Volk traf besonders hart die Abschaffung vieler Feiertage und vor allem des reichen religiösen Brauchtums. Der Gegenschlag konnte nicht ausbleiben. An seiner Spitze stand der neue König Ludwig I. Noch als Kronprinz betrieb er die Entlassung Montgelas’ (1817). Der Vormärz unter König Ludwig I. (1825⫺1848) ermöglichte dem neuen Staat die innere Konsolidierung. Die durch Montgelas geschaffene Staatsstruktur blieb im Prinzip unangetastet und wurde weiterentwickelt (und wirkt bis heute nach), viele seiner traditionsfeindlichen Maßnahmen aber zurückgenommen. Eine der ersten Verordnungen Ludwigs war 1825, sehr zum Mißfallen Metternichs, die Aufhebung der Pressezensur gewesen. Unter dem Eindruck der Julirevolution in Frankreich (1830) und drohender Unruhen auch in Bayern vollzog er aber schon 1830/31 eine politische Wendung hin zum konservativen Kurs Metternichs mit Pressezensur, Blockierung einer Weiterentwicklung der Verfassung usw. Ludwig hatte eine sehr hohe Auffassung seines Königtums von Gottes Gnaden und knüpfte, wo immer möglich, an historische Traditionen an. Er förderte das Bewußtsein für die eigene Geschichte durch die Gründung historischer Vereine, Museen u. v. a. Die Provinzen, von Montgelas nach frz. Vorbild nach den Flüssen bezeichnet, erhielten ihre alten Namen wieder. Das Verhältnis zu den Kirchen wurde neu und positiv geregelt (Ludwigs Katholizismus war stark durch das irenische Christentum Johann Michael Sailers geprägt), die alten Orden (nicht die Jesuiten) erhielten einige ihrer Klöster zurück. München blühte zur Kunststadt und zu einer Stadt der Wissenschaften auf. Die Landesuniversität, 1800 von Ingolstadt nach Landshut verlegt, wurde 1826 nach München umgesiedelt und zu einem Zentrum der Romantik ausgebaut. Dazu holte der König viele Künstler und Gelehrte aus dem protestantischen Deutschland,
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denen freilich Bayern und seine Kultur oft fremd blieben und die meinten, sie müßten das Land geistig „missionieren“. 1848 trat Ludwig, tief verletzt, wegen der Affäre um Lola Montez unter dem Druck der Straße ab. Ludwigs Sohn König Max II. setzte zunächst die revolutioniären Märzforderungen, deren Erfüllung noch Ludwig zugesagt hatte, in die Tat um, ohne daß es, zumal in Altbayern, zu tiefgreifenderen Unruhen gekommen wäre. Presse-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit wurden gewährt, die Bildung politischer Parteien ermöglicht, die Grundherrschaft und die Patrimonialgerichtsbarkeit aufgehoben. Als erkennbar wurde, daß ein vordringliches Ziel der Frankfurter Paulskirche die Errichtung eines deutschen Einheitsstaates war, unter der Führung Preußens und unter Ausschließung Österreichs, da verschloß sich Bayern, voran Altbayern, dieser Entwicklung entschieden. Die Weichen für die „kleindt.“ Lösung der dt. Frage waren aber schon durch die Zolleinigungen seit 1833/34 gestellt worden, die zwar Franken begünstigten, aber der alten Orientierung Altbayerns nach dem Osten und Süden entgegenstanden. Erst in dieser Zeit entstand auch infolge der deutlicher hervortretenden hegemonialen Ansprüche Preußens und verschärfter konfessioneller Gegensätze (Kölner Wirren 1837) der bayer.-preußische Antagonismus (Spindler IV, 160). Max II. brach die liberale Politik bald ab und griff auf den alten Rheinbundgedanken eines dritten Deutschland (Trias-Idee) der Klein- und Mittelstaaten unter Führung Bayerns zurück, unabhängig von Preußen wie von Österreich. Aber es fehlte diesen Staaten an Einigkeit, und Bayern fehlte die militärische Kraft, sie zu erzwingen. Und in Sachen der Kunst und Wissenschaft war auch Max II. bewundernd auf Norddeutschland hin orientiert (Münchener Dichterkreis um Geibel und Heyse, Historiker Sybel und Giesebrecht, Theaterintendant Dingelstedt und andere „Nordlichter“). Die Entwicklung war nicht mehr aufzuhalten, Österreichs Ausscheiden aus dem Deutschen Bund seit 1866 (Königgrätz) definitiv. Bayern ist in einer entscheidenden Phase der dt. und der bayer. Geschichte mehr verwaltet als regiert worden. Die Schuld daran trugen die bayer. Könige, die zwar untadelig, voll guten Willens und im Volk überwiegend beliebt, politisch aber schwach waren. Die Regierung lag in den Händen von Beamtenministern. Zu einem gewissen Teil gilt das schon für die Regierungszeit Max II. seit
2960 1848, vollends aber für die Zeit Ludwigs II., des Prinzregenten Luitpold und Ludwigs III. seit 1864. Ludwig II. lebte in der Traumwelt Richard Wagners und seiner phantastischen Märchenschlösser, bis er schließlich, zu spät (erst nach der untragbar gewordenen Verschuldung durch die Bauprojekte) 1886 entmündigt wurde. 1866 ließ er sich, im Interesse einer Erhaltung des Dt. Bundes, in den öst.preußischen Krieg hineintreiben. Der Preis dafür, daß Bayern aus der Niederlage territorial fast ungeschoren hervorging, war eine hohe Kriegskostenentschädigung und ein Bündnis mit Preußen, in dem sich Bayern verpflichtete, im Kriegsfall seine Truppen unter preußischen Oberbefehl zu stellen. Der Bündnisfall trat 1870 im Krieg gegen Frankreich ein. Bis zuletzt hatte sich Bayern um die Schaffung eines Südbundes bemüht. Erst der erfolgreiche Kriegsverlauf (Sedan) bewirkte auch in Bayern den Stimmungsumschwung zugunsten einer nationalen dt. Einigung. Ludwig, der persönlich Versailles fernblieb, trug dem König von Preußen namens der dt. Fürsten die Kaiserwürde in einem wiederhergestellten Dt. Reich an (Spindler IV, 276 ff., 280). In der bayer. Kammer der Abgeordneten fanden die Verträge über den neuen Dt. Bund nach erregten Debatten nur wenig mehr als die erforderliche Zweidrittel-Zustimmung (102 : 48, nach Spaltung der oppositionellen Bayer. Patrioten). Bayern war im Dt. Reich wie die anderen Länder ein eigener Staat, aber eben ein Gliedstaat in einem Bundesstaat, an den es wichtige Souveränitätsrechte abgeben mußte (Bündnisfreiheit, Militärhoheit, die Ludwig bis zuletzt zu erhalten versucht hatte). In der inneren Verwaltung blieb die Hoheit der Länder weitgehend erhalten. Bayern erhielt darüber hinaus noch eine Reihe besonderer Reservatrechte (Spindler IV, 185). Bayern verfügte noch über einige Gesandtschaften und Vertretungen im Ausland (Wien, St. Petersburg, Rom, Vatikan, Bern, Paris), auswärtige Gesandte residierten in München (Österreich, Rußland, Vatikan [die einzige Nuntiatur im Dt. Reich], Frankreich u. a.), de facto war der Handlungsraum der bayer. Regierung aber natürlich auf die Innenpolitik beschränkt.
Bayern nahm, etwas retardiert, teil am wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands, am Aufbau des Eisenbahnwesens, an der Industrialisierung (in Altbayern vor allem im Ballungsraum München). Insbesondere Altbayern war freilich noch immer ein stark agrarisch geprägtes Land.
XVII. Regionalsprachgeschichte Innenpolitisch bestand eine merkwürdige Situation. Als eigentlich staatstragende Schicht verstand sich die hohe Ministerialbürokratie, der auch zumeist die Minister entstammten. Sie vertraten, in Übereinstimmung mit dem König (Prinzregenten) und dem liberalen Bürgertum, eine liberale Politik. Seit in der Abgeordnetenkammer die katholischkonservative Bayer. Patriotenpartei (später Zentrum) über die Mehrheit verfügte (seit 1869), stand diese in scharfer Opposition zur Regierung. Da aber auf Grund der monarchischen Verfassung die Einsetzung und Abberufung der Regierung allein dem König oblag, blieb die Opposition letztlich meist erfolglos. Besonders heftig trat dieser Gegensatz in der Ära des Kulturkampfes 1870⫺1890 (Ära Lutz) hervor, der durch das Unfehlbarkeitsdogma (I. Vatikanisches Konzil 1870) ausgelöst wurde. Es ging in erster Linie um das Verhältnis von Staat und Kirche, d. h. um die Aufrechterhaltung des bayer. Staatskirchensystems, und um die Position der Kirche im Schulwesen (Konfessionsschule). Der Kulturkampf erreichte in Bayern nicht die Schärfe wie in Preußen, aber er dauerte um gut zehn Jahre länger und führte zu tiefer Beunruhigung der katholischen Bevölkerung (Spindler IV, 321 ff.).
Mit der Industrialisierung bildete sich auch in Bayern eine neue Arbeiterschaft und mit ihr Gewerkschaften und politische Vertretung. Die Anfänge der bayer. Sozialdemokratie haben einen eindeutigen Schwerpunkt in Nürnberg und Augsburg, erst später in München. Im Landtag ist die SPD seit 1893 vertreten. Unter ihren Parteiführern G. v. Vollmar und E. Auer steuerte die Partei einen gemäßigten, betont bayer.-föderalistischen Kurs. Das Ende des 1. Weltkrieges brachte Bayern, vor allem seiner Hauptstadt München, eine tiefe Destabilisierung. München war nicht mehr die behäbige Bürger- und Kunststadt, sondern eine sozial und geistig gärende Großstadt mit sehr heterogenen Kräften (Schwabing). Die innere Schwäche des Regierungssystems erwies sich, als im November 1918 eine Handvoll radikaler Unabhängiger Sozialdemokraten unter Führung von Kurt Eisner Regierung und Monarchie innerhalb weniger Stunden hinwegfegen konnte. Ludwig III. flüchtete nach Anif bei Salzburg und entband Beamte und Militär von ihrem Eid, leistete aber, anders als der Kaiser, keinen Thronverzicht. Über 700 Jahre wittelsbachischer Herrschaft in Bayern waren über Nacht unrühmlich zu Ende gegangen. Daß Eisners Unabhängige Sozialisten ⫺ ganz anders als die Mehrheits-SPD unter Auer ⫺ über keinen Rückhalt in der bayer. Bevölkerung verfügte, erwiesen die Landtagswahlen vom 12. 1. 1919, die der USPD nur 3 von 180
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Sitzen brachten. Die Ermordung Eisners am 21. 2. 1919 stürzte München in ein Chaos, das sein blutiges Ende in der brutalen Austilgung der Revolution durch die „Weiße Garde“ (unter preußischem Oberbefehl) im Mai 1919 fand. Die Weimarer Verfassung des Dt. Reiches (1919) war, anders als jene von 1871, von dem unitarischen Gedanken des nationalen Einheitsstaates dominiert. Die Bedeutung der Einzelstaaten („Länder“) war stark heruntergestuft. Daß Bayerns Regierung in den Wirren von 1919 und im Bamberger Exil praktisch handlungsunfähig war, behinderte seine Möglichkeiten entscheidend, auf die Verfassungsdiskussion im föderalistischen Sinn Einfluß zu nehmen. Nicht einmal die Existenz der Länder war rechtlich abgesichert. Die eigene Verfassung (1919), immerhin die erste, der der Gedanke der Volkssouveränität zugrunde lag, mußte sich mit den Gegebenheiten der übergeordneten Reichsverfassung notgedrungen arrangieren. Das Pendel des politischen Lebens schlug nach der Niederwerfung der Revolution zunächst bedenklich weit nach rechts aus (Kahr, Hitler-Putsch vom 9. 11. 1923), z. T. freilich föderalistisch, für ein eigenständigeres Bayern, motiviert, konsolidierte sich dann aber. Unter der NSHerrschaft wurde auch noch der letzte Rest an Eigenstaatlichkeit Bayerns ausgelöscht, auch wenn ihm nominell ein „Reichsstatthalter“ (v. Epp) vorstand. Einen Hort eines wenigstens passiven Widerstands bildeten für breitere Schichten der Bevölkerung am ehesten noch die Kirchen (Kardinal Faulhaber, evangelischer Landesbischof Meiser, „GrüßGott-Bewegung“). Ein Erlaß auf Entfernung der Kruzifixe aus den Schulräumen (1941) rief immerhin solchen Unmut hervor, daß er aus Rücksicht auf die „Kriegsmoral“ zurückgenommen wurde (Spindler IV, 533). Die Luftangriffe auf Deutschland im 2. Weltkrieg brachten zunächst Hunderttausende an Evakuierten aus West- und Norddeutschland nach Bayern und fügten seit 1943 auch den bayer. Großstädten schwere Schäden zu (in Altbayern vor allem München mit 33 %; Würzburg wurde noch im März 1945 zu 75 % zerstört; Spindler IV, 537). Der in der Montgelas-Zeit geschaffene Staat bewies nach der Katastrophe des 2. Weltkrieges eine erstaunliche Lebenskraft, die freilich wesentlich dadurch begünstigt wurde, daß das Land, allerdings ohne die Pfalz, ungeteilt zur amerikanischen Besatzungszone gehörte. Bayern erstand noch im
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September 1945 als eigenes Land wieder und gab sich am 1. 12. 1946 eine neue Verfassung. Es wurde 1949 ein Gliedstaat der Bundesrepublik Deutschland. Daß diese neue dt. Republik eine föderative Struktur erhielt, daran haben bayer. Politiker (W. Hoegner, H. Ehard u. a.) maßgeblichen Anteil (daß sie nicht föderativ genug war, bewog eine Mehrheit des bayer. Landtages 1949 zur Ablehnung des Grundgesetzes). Die Mitte des 20. Jhs. markiert einen tiefen sozialgeschichtlichen Einschnitt, der vor allem in der Landwirtschaft und in den ländlichen Strukturen zu tiefgreifenden Veränderungen führte. Dazu kam, daß das Land schon im Krieg und dann vor allem in den ersten Jahren nach 1945 einen besonders hohen Anteil an Evakuierten, Flüchtlingen und Heimatvertriebenen (Sudetendeutsche, Schlesier u. v. a.) aufnehmen und integrieren mußte. Neben München betraf dies in hohem Maß die ländlichen Gebiete Altbayerns. 5.1.2. Hatte Bayern in der 2. Hälfte des 18. Jhs. die Bevölkerungsverluste durch den dreißigjährigen Krieg wieder ausgeglichen (1770 ca. 1.15 Mill., Spindler II, 626, Anm. 4), so erfolgte im 19. und 20. Jh. ein starker, seit 1871 ein sprunghafter Bevölkerungszuwachs (Gesamtstaat 1818 3.7 Mill., 1871 4.86 Mill., 1950 9.12 Mill., 1970 10.48 Mill.; Spindler IV, 680). Von diesem Wachstum ist in Altbayern vor allem Oberbayern mit der Region München betroffen. Die Residenzstadt überflügelte die älteren großen Handelsstädte und überschritt 1854 die Grenze zur Großstadt (100 000; Nürnberg 1880, Augsburg 1908, Regensburg erst nach dem 2. Weltkrieg; Spindler IV, 684), erreichte 1876 200 000, 1900 schon 500 000 und 1958, zum 800-Jahr-Jubiläum, die Millionengrenze. Die Bevölkerungskonzentration um München tritt noch deutlicher hervor, wenn man auch die großen Umlandgemeinden mit einbezieht. Alte, historisch wichtige Städte wie Ingolstadt, Landshut, Passau, Freising blieben Mittelstädte, die Mehrzahl der Märkte (auch viele von denen, die im 19. und 20. Jh. zu Städten erhoben wurden) stagnierte. Bayern blieb auch im Zeitraum von 1750⫺ 1950 ein agrarisch bestimmtes Land. 1900 war etwa die Hälfte, vor dem 2. Weltkrieg immerhin noch ein Drittel der Gesamtbevölkerung in der Landwirtschaft tätig (Spindler IV, 742, 751). Die soziale Ordnung des Dorfes und der Familie blieb bis weit ins 20. Jh. hinein im großen intakt. Aber seit der Mitte des
2962 19. Jhs., verstärkt seit 1871, setzte auch in Bayern die Industrialisierung ein, zunächst noch stärker um Nürnberg, Augsburg und in der Pfalz, bald aber auch in und um München, und mit ihr die Arbeiterschaft, die sich allmählich als Klasse formierte. Die Revolution und die Räterepublik von 1918/19 waren zwar das Werk einer kleinen Gruppe radikaler Dogmatiker, die zudem überwiegend nicht aus Bayern stammten. Aber die Ereignisse machten sichtbar, daß eine zur revolutionären Veränderung bereite Schicht auch in München vorhanden war. Parallel zur Industrialisierung geriet die alte Gewerbestruktur in Bedrängnis, konnte sich in Altbayern insgesamt aber besser halten als anderswo. Ein neuer wirtschaftlicher Faktor mit sozialen Auswirkungen ist seit etwa der Mitte des 19. Jhs. vor allem im südlichen Oberbayern der Fremdenverkehr. Dem stark angewachsenen bürgerlichen Mittelstand (z. B. öffentlicher Dienst) wurde nach den beiden Kriegen durch die Geldentwertungen die Ersparnisse und damit der materielle Rückhalt vernichtet. Die bisher privilegierten Schichten von Adel und Geistlichkeit verloren mit dem Übergang zur Republik ihre Sonderstellung (die Steuerprivilegien schon 1807, Grundherrschaft u. a. 1848). 5.1.3. München entwickelte sich im 19. Jh. zu einer bedeutenden kulturellen Metropole Deutschlands, neben Wien und Berlin. Die Könige hatten daran mit der Förderung der Künste und Wissenschaften maßgeblichen Anteil. Schon die „Landshuter Romantik“ (Sailer, Savigny u. a.) war bald nach der Verlegung der Ingolstädter Universität im 1. Viertel des 19. Jhs. ein verheißungsvoller Anfang, der in München seine Fortführung fand. Freilich war es eine Hochkultur, die im wesentlichen auf München beschränkt blieb und zu einem guten Teil von Künstlern und Gelehrten getragen war, die von außerhalb Bayerns berufen wurden und deren Integration oft nicht gelang. Immerhin erfreute sich auch das Bayer. Wörterbuch J. A. Schmellers der (nicht sehr großzügigen) Förderung durch Ludwig I., wie viele andere historisch„patriotische“ Projekte. Seit dem späten 19. Jh. übte München eine starke literarische Anziehungskraft aus, die in wichtigen Zeitschriften (von der „Jugend“ und dem „Simplizissimus“ bis zum „Hochland“) und im spannungsreichen, unruhigen geistigen und literarischen Leben der „Traumstadt“ Schwabing ihren Niederschlag fand. Schwabing war
XVII. Regionalsprachgeschichte
der Ort einer antibürgerlichen Bohe´me, deren Spannweite vom Georgekreis bis zum literarischen Kabarett reichte, von Thoma und Wedekind bis zu Ringelnatz und den Galgenliedern Morgensterns, von L. Klages bis zu K. Eisner, E. Mühsam und Lenin (Spindler IV, 1123 ff. [Pörnbacher]; vgl. auch W. Heisenberg in BB V, 1035 ff.). München war die Stadt der großen klassizistischen Architektur Ludwigs I. und bedeutender Maler und Komponisten (Lenbach, Kandinski, Wagner, R. Strauß usw.), die Stadt Schellings und Liebigs, Sitz der Akademie der Wissenschaften, einer führenden Universität, der Technischen Hochschule (seit 1868) und hervorragender Museen, Galerien und Bibliotheken usw. Trotz alledem ist München, mehr als andere Großstädte, eine stark landverbundene Stadt geblieben. Außerhalb der Hauptstadt gab es bis zur Säkularisierung ein vielfältiges kulturelles Leben, das von den Klöstern ausstrahlte. Im Sinn der aufklärerischen Akademiebewegung wirkte seit 1765 in Altötting, seit 1770 in Burghausen die „Sittlich-ökonomische Gesellschaft“. Im 19. Jh. verschärfte sich aber der Gegensatz zwischen der Hauptstadt und dem flachen Land, das zur kulturellen Provinz absank. Ähnliches galt auch für das Schulwesen. Bezogen die Schulreformer der Aufklärung (H. Braun, radikal J. Wismayr) die Volksschule ausdrücklich in ihr volksbildnerisches Konzept mit ein, so galt schon bald im 19. Jh. das vornehmliche Interesse der Förderung des Gymnasiums und der alten Sprachen, denen allerdings Schultypen mit stärkerer Betonung der Realien zur Seite gestellt wurden. In der Schulordnung von 1874 wurde der Stellenwert des Dt.-Unterrichtes wesentlich aufgewertet. Die Volksschule stand bis weit über die Mitte des 19. Jhs. unter geistlicher Oberaufsicht, die Bekenntnisschule war die Regelschule (nur in der NSZeit abgeschafft, 1945 wieder eingeführt und erst 1968 durch die „einheitliche christliche Volksschule“ abgelöst, Spindler IV, 986 [Reble]). Die Volksschule sollte nach dem Wunsch Ludwigs I. „patriarchalischen Sinn“ und „Zufriedenheit“, sprich Untertanengeist fördern (Spindler IV, 964). Entsprechend schlecht war es um die Lehrerbildung bestellt (Ablehnung von „törichtem Wissensstolz“). Erst seit 1866 besserte sich die Situation. Im höheren Schulwesen war und ist Bayern gekennzeichnet durch den hohen Anteil an humanistischen Gymnasien. Hinsichtlich der Schuldichte (Zahl der höheren Schulen im
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit
Verhältnis zur Einwohnerzahl) lag es allerdings noch in der Weimarer Zeit weit hinter anderen dt. Ländern zurück (Spindler IV, 982). Von dem Bildungsdefizit auf dem flachen Land war die katholische Bevölkerung stärker betroffen als die evangelische, weil einerseits seit der Säkularisation die Klosterschulen wegfielen, andererseits das evangelische Pfarrhaus ein wichtiges Reservoir für den akademischen Nachwuchs darstellte. Die Bildungskluft zwischen Stadt und Land (auch im Zugang zu den Universitäten) wird erst seit den 60er-Jahren des 20. Jhs. allmählich überwunden. 5.2. Quellen In der Literatur steht in Bayern auch in der 2. Hälfte des 18. Jhs. das geistliche Element wie schon in den vergangenen zwei Jh. stark im Vordergrund, z. B. in erbaulichen Schriften J. M. Sailers und seines Kreises. Die meisten Autoren, zumal die bedeutenderen, vertraten aber nun eine aufgeklärte Position. Parallel dazu ist an die Stelle der barocken, kurialen Sprache eine einfache, klare Prosa getreten. Der Ton kann oft polemisch und scharf sein, z. B. in den Predigtsatiren A. v. Buchers, in Texten J. Pezzls u. a. (BB III, 268 ff., 300 ff.). „Nützliche“ Literatur, Naturbeobachtung, Reisebeschreibungen und nicht zuletzt die Pflege der Muttersprache nehmen einen wichtigen Raum ein. Der pädagogische Impetus der Aufklärung fand Niederschlag in vielen (meist kurzlebigen) Zeitschriften, beginnend mit den von der Akademie herausgegebenen „Baierischen Sammlungen“ (1764⫺ 1768), H. Brauns „Patriot in Bayern“ (1768/ 69) und F. S. v. Kohlbrenners „Churbaier. Intelligenzblättern“ (1766 ff.). Wichtig war auch die von L. Hübner in Salzburg herausgegebene „Obd. Allg. Literaturzeitung“ (1788⫺1811) und einige von L. v. Westenrieder betreute Journale (Spindler II, 1015 f.). Die Säkularisation brach eine Epoche geistlicher Literatur, die im späten 16. Jh. begonnen hatte, abrupt ab.
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handene stilistische Vielfalt läßt sich überwiegend nicht regional interpretieren. Der Oberbayer J. M. Sailer und der Oberpfälzer J. A. Schmeller folgten in ihrem Schreiben den gleichen orthographischen, morphologischen und syntaktischen Normen wie der Düsseldorfer E. v. Schenk und der Berliner P. Heyse. In „volkstümlichen“ Erzählungen etwa von J. F. Lentner, L. Steub oder H. v. Hopfen u. a. (BB IV, 498 ff.) findet sich eine knappere, gesprochener Sprache nähere Prosa. Erst um die Jh.-Wende wird ein neuer Ton vernehmbar. Mit L. Thoma beginnt eine Literatur, die unverwechselbar bayer., aber nicht sentimental heimattümlich ist. Neben Thoma sind J. Ruederer, L. Christ, G. Queri, O. M. Graf u. a. zu nennen (BB V, 175 ff.). Mit Marieluise Fleißer (1901⫺1974) gewinnt das Volksstück eine neue Qualität, mit Karl Valentin das Kabarett. Natürlich gehören auch die vielen, denen Bayern Wahlheimat geworden ist, in die bayer. Sprachgeschichte. Als Quellen für eine Geschichte des Bayer. kommen ihre Texte aber nicht in Frage.
Mundartdichtung kann seit dem späten 18. Jh. auch wirklich Dichtung für das Volk sein (M. Sturm, F. Joly), wenn auch die Autoren weiterhin in der Regel aus der Schicht der Gebildeten stammen. Im 19. Jh. setzt die Sammlung anonymer Lieder, Reimereien, Schnaderhüpfeln, Sprichwörter u. ä. im Dialekt ein, d. h. von Zeugnissen einer literarischen Volkskultur (Schmeller, A. Hartmann, J. Schlicht, Kiem Pauli u. v. a.; z. B. BB IV 663 ff.). Nachgerade zur Mode wird die Dialektdichtung (Zehetner 1985, 235 ff. [Ch. J. Wickham]) seit F. v. Kobell (1803⫺1882) mit seinen Gedichten in oberbayer. Mundart. Die Autoren stammen fast durchwegs aus der bürgerlichen oder adeligen Bildungsschicht. Liebe, Jagd, Heimat und Natur sind die Themen, die zum Klischee erstarren (Herzog Maximilian, K. Stieler u. v. a. bis weit ins 20. Jh.). Dialekt wird häufig auch in Dialogen hochsprachlicher Texte und in Volksstücken verwendet.
Sprachgeschichtlich interessante Quellen des 18. Jhs. sind Briefsammlungen (z. B. Spindler 1959, Mozart), an denen sich der Sprachwechsel vom Obd. zum Hd. sehr gut verfolgen läßt. Dies gilt auch für die jetzt zahlreicheren Grammatiken (Aichinger 1754, Braun 1765, Wismayr 1796).
Die bayer. Dialekt-Lexikographie wird zuerst von A. D. Zaupser (Versuch eines baier. und opf. Idiotikonis. München 1789) aufgenommen. J. A. Schmeller wird mit den Mundarten Bayerns (1821) und mit dem Bayer. Wörterbuch (1827⫺1837, 2. Aufl. 1872/77) zum Begründer einer wissenschaftlichen, historisch begründeten Dialektologie, die in Altbayern freilich erst im 20. Jh. fortgeführt wurde.
Für das 19. und 20. Jh. ist die Quellenlage komplex. Die Sprache der gedruckten wie der privaten Quellen ist, von Mundarttexten abgesehen, das Hd. Die selbstverständlich vor-
5.3. Sprache 5.3.1. 18. Jh.: Die Bayer. Akademie der Wissenschaften, die sich im § 1 ihrer Statuten (1759) ausdrücklich in die Tradition des Par-
2964 nassus Boicus stellte, legte im § 46 fest, ihre Publikationen, sollten „in reiner dt. Sprache verfaßt seyn, oder übersetzt werden“ (Spindler 1959, 450), auch darin in der Nachfolge des Parnassus Boicus. Die Entscheidung war in einer Zeit, da die anderen dt. Akademien frz. (Berlin) oder lat. (Göttingen, Erfurt) publizierten, durchaus bemerkenswert. Die geforderte reine dt. Sprache war freilich nicht mehr die obd. Sprache des Vorgängers, sondern das moderne Hd., wie es Gottsched in seiner Dt. Sprachkunst (1748) normiert hatte. 1765 erschien mit „Genehmhaltung“ der Akademie Heinrich Brauns „Anleitung zur deutschen Sprachkunst zum Gebrauche der Schulen in den Churlanden zu Baiern“ (ohne Namensnennung). In seinem Privileg spricht der Kurfürst das Bedürfnis aus, „an die Excolier- und Auszierung unserer dt. Muttersprache, welche bisher nicht wenig in hiesigen Gegenden vernachläßiget worden, […] ernstliche Hand anlegen zu lassen“. Deshalb habe er der Akademie „aufgetragen, nicht nur einen öffentlichen Lehrstuhl der dt. Sprachund Redekunst in Unserer Residenz-Stadt zu bestellen [auf den im selben Jahr H. Braun berufen wurde], sondern auch eine nach der hiesigen Landes-Beschaffenheit und Mundart soviel möglich eingerichtete Anleitung zur dt. Sprachkunst […] verfassen und in Druck legen zu lassen.“ Die „Anleitung“ erfüllte die Erwartungen. Braun folgte zwar im wesentlichen Gottscheds Sprachkunst, kontrastierte das Hd. aber weitgehend mit den Konventionen der obd. Literatursprache und war in einigen Punkten auch tolerant (partielle Freigabe der Apokope, s. o. 4.3.2.; abweichendes Genus u. a.). Zwar enttäuschte die Akademie hinsichtlich der Schulreform die von Max III. Joseph in sie gesetzten Hoffnungen, mit H. Braun aber hatte er den richtigen Mann gefunden; Braun entwickelte eine reiche reformerische, publizistische und volksbildnerische Tätigkeit (BBHS 1, 326 ff.). Grammatik und Wörterbuch (1767) erfuhren bis über die Jh.-Wende Neuauflagen, z. T. in Bearbeitungen für die Schule („von ihm selbst ins Kurze gezogen“). Sie entsprachen den Bedürfnissen des Überganges vom Obd. zum Hd. sehr genau. Daß man „eine im ganzen Deutschland durchaus gleichförmige Mundart“ (d. h. Aussprache) erreichen könne, glaubte Braun zwar nicht; aber es sei „doch eine Gleichheit im Schreiben, und im Drucke allerdings zu hoffen“ (Braun 1765, 8; Reiffenstein 1993b, 166; 1995, 314). Dafür war er erfolgreich tätig. Eine „gleichförmige Mundart“ in ganz
XVII. Regionalsprachgeschichte
Deutschland hielt er nicht nur für unerreichbar, sondern für gar nicht wünschenswert: „Im Reden darf und soll man von der Gewohnheit seines Vaterlandes nicht abweichen, wenn man nicht dadurch lächerlich werden will“ (115). Aber natürlich ist damit nicht die Sprache gemeint, „wie sie von dem Pöbel insgemein“ gesprochen wird (24). Eine ähnliche Position vertrat auch der Lambacher P. Maurus Lindemayr: „Im Schreiben, sollen wir Sachsen; im Predigen aber, Oesterreicher sein“ (Wiesinger 1993, 408). Schon 1753 war C. F. Aichingers „Versuch einer teutschen Sprachlehre“ erschienen, der Gottscheds Sprachkunst an Sprachbeobachtung und theoretischer Reflexion in vielen Punkten überlegen ist und zu den eigenständigen Grammatiken des 18. Jhs. zählt (BBHS 1, 52 ff. [Eichinger]). Den Normanspruch der Meißner lehnte der Oberpfälzer Aichinger, der sich fair, aber kritisch mit Gottsched auseinandersetzte, ebenso strikt ab wie der Altdorfer Professor J. Heumann, der ahd.-bayer. Studien getrieben und Praschs Glossarium Bav. neu herausgegeben hatte (Spindler 1959, 243 f.) oder der Tegernseer Benediktiner und Salzburger Professor M. Lory in der seiner Ovidübersetzung angehängten kurzen Verslehre (1758). Die von Aichinger und Heumann verwendete Sprache ist freilich nicht das Obd., sondern ein Hd. mit geringen regionalen Einschlägen. Der Schreibsprachwechsel, der um die Mitte und etwa bis in die 70er-Jahre des 18. Jhs. in Oberdeutschland und Bayern erfolgte, kann durchaus als Code Switching bezeichnet werden. Er betraf die Orthographie, Teile der Morphologie und Wortbildung, den Sprachstil (stark ausgebaute Hypotaxe, kanzleisprachliche Konjunktionen, Adverbien u. ä.) sowie den Abbau der Variantenvielfalt. Er wurde erstaunlich rasch und offenbar ohne nennenswerten Widerstand vollzogen. Der Übergang und das Nebeneinander von Obd. und Hd. ist gut ablesbar an Gelehrtenbriefen aus der Gründungszeit (1758⫺61) der Bayer. Akademie (Spindler 1959; Reiffenstein 1992; 1997; vgl. auch 1993 a über Briefe der Fam. Mozart). Es kann als Faustregel gelten, daß die nach etwa 1720 geborenen Briefautoren tendenziell hd. schrieben, die meisten der älteren (ausgenommen Protestanten) hingegen an der obd. Schreibkonvention festhielten. Einige obd. Besonderheiten finden sich auch noch bei den Jüngeren (z. B. Apokope, ich wird, -nus u. a.). Manche, und keineswegs nur Protestanten, berufen sich ausdrücklich
192. Aspekte einer bayerischen Sprachgeschichte seit der beginnenden Neuzeit
auf die Autorität Gottscheds, der schon 1759 zum Mitglied der Bayer. Akademie berufen wurde, z. B. J. G. v. Lori, seit 1755 Mitglied von Gottscheds „Gesellschaft der freyen Künste und Wissenschaften“, oder L. Mozart in seiner Korrespondenz mit dem Augsburger Buchdrucker J. J. Lotter 1755/56 (Reiffenstein 1992, 481 ff.). Es läßt sich natürlich nicht ausmachen, in welchem Ausmaß die Lehrbücher von Aichinger, Braun (und von Popowitsch, Felbiger, Sonnenfels u. a. in Wien; vgl. Art. 193) an der Durchsetzung der neuen hd. Normen beteiligt waren. Für die breiten Volksschichten wird es sicher nicht gering veranschlagt werden dürfen. Die jüngere Generation der Bildungsschicht hat wohl schon etwas früher und unabhängig den Wechsel zum Hd. bewältigt. Der treibende Motor war zweifellos die sich formierende aufgeklärte bürgerliche Öffentlichkeit, die die Einigung auf ein einheitliches überregionales Kommunikationsmedium erzwang. Da das unter den gegebenen Umständen nicht die obd. Literatursprache sein konnte, mußte der Anschluß an des Hd. erfolgen. Jedenfalls bleibt es aber ein für die katholischen Staaten Bayern und Österreich charakteristisches Faktum, daß hier der Schreibsprachwechsel (auch) „von oben“ und durch die Schulreformen durchgesetzt wurde. Anders stand es um den mündlichen Sprachgebrauch. Hier herrschte weiterhin der Dialekt vor. Trotz den mindestens seit dem 16. Jh. belegbaren Unterschieden zwischen Stadt und Land und zwischen den sozialen Schichten dürfte auch der städtische Sprachgebrauch immer noch stark ländlich geprägt gewesen sein. Wenn der junge Mozart (1962, 23, Z. 339 f.) 1777 den Kurfürsten Max III. Joseph zitiert „völlig weg von Salzburg? […], ja warum denn, habts eng z’kriegt?“ [habt ihr, d. h. Mozart und der Erzbischof, euch zerstritten], dann ist das ein guter Beleg dafür (auch dafür, daß sich der gebürtige Pfälzer in München voll angepaßt hatte), freilich auch ein Beleg dafür, daß dieser Dialekt (mit bäuerlichem Personalpronomen!) bei Hof auffällig (unangemessen?) war, sonst hätte Mozart den Satz kaum wörtlich zitiert.
Mir sind aus Bayern keine metasprachlichen Äußerungen über den öffentlichen Sprachgebrauch bekannt, wie sie Wiesinger (1993, 384) für Wien mitgeteilt hat (Predigtkritiken 1782/83). Aber Braun (1765) gibt immerhin ein paar Aussprachhinweise. Richtschnur ist die Aussprache nach der Schrift (24 ⫺ damit man „nach der Aussprache“ schreiben kann,
2965
38!). Im einzelnen wird z. B. die diphthongische Aussprache von i(e), u (z. B. in mir, Liebe, Gut) und der Zusammenfall von p/b, t/ d verworfen. Interessanter ist die Forderung, a „in einem Mitteltone“ auszusprechen, „nicht so zart, wie das schwäbische a, und eben nicht so tief, wie das baierische a, so daß es fast wie ein o heraus käme“ (17). Ist hier schon das [a˚] der bayer. Hoch- und Umgangssprache gemeint? (allerdings findet sich die gleiche Regel schon bei Popowitsch, Wiesinger 1993, 396). Eine Annäherung an hd. Aussprachekonventionen muß sich bei der Bildungs- und Beamtenschicht aus dem täglichen Umgang mit Zugezogenen ergeben haben, die vor allem gehobene Positionen einnahmen. Seit der Vergrößerung Bayerns Anfang des 19. Jhs. und seit seiner Modernisierung unter Montgelas wurde der Einfluß von Neubayern vor allem in München zunehmend stärker. Neben den außerbayer. Gelehrten und Künstlern war der frk. Anteil im bayer. Beamtentum immer hoch. Daß die Verwendung einer dialektnahen Umgangssprache in öffentlichen Situationen auffällig und eher unangebracht war, ist einer Schilderung Schmellers über eine Audienz bei dem durchreisenden Kaiser Franz in Memmingen 1814 zu entnehmen; der Kaiser richtete „mit gutmüthiger Stimme im Wienerton“ einige Worte an die versammelten Offiziere, die Schmeller in phonetischer Transkription aufzeichnete ⫺ sicher deshalb, weil es ungewöhnlich war, unter solchen Umständen nicht hd. zu sprechen (Schmeller 1954, 251).
Die dominante Anwesenheit eines fremdartigen Sprachgebrauchs konnte aber auch Spannungen erzeugen. Eine andere Tagebucheintragung Schmellers von 1816 gibt eine sicher verbreitete Stimmung wieder: „Wie fremd aber, wenn sich das Ohr hier jeden Augenblick in einer (!) Hauptstadt der Rheinpfalz, Sachsens, Braunschweigs oder gar Frankreichs versetzt glaubt. […] Wenn ich manchmal die Leute beobachte, die mit so tiefer Verachtung oder Bemitleidung auf unser gutes Volk herabsehen als groß die Besoldungen sind die sie beziehen, und als gering die Kenntniß ist, die sie von dessen Bedürfnissen, und Eigenthümlichkeiten in Denkart, Sitt und Sprache haben, so kann ich mir immer besser jenes kaum zu beseitigende Anstreben der wahren Bayren besonders gegen die Norddeutschen erklären“ (Schmeller 1954, 383 f.).
Auch in den „Mundarten Bayerns“ (1821) spricht er mit Verbitterung von denjenigen, „die nun einmal gewohnt sind, das Wort und das geistige Leben von neun Zehntheilen ei-
2966 nes Volkes neben dem eines zehnten Zehntels als gleichgültiges Nichts zu betrachten“ (VII, auch mit der Empfindlichkeit dessen, der selbst diesen neun Zehnteln entstammt). 5.3.2. 19. und 20. Jh.: Die Entwicklung des Hd. in Bayern im 19. und 20. Jh. unterscheidet sich in keiner Hinsicht prinzipiell von jener in anderen dt. Ländern. Sie braucht daher hier nicht verfolgt zu werden. Erst um die Jh.-Wende entstand eine neue, spezifisch bayer. Literatur, nicht nur in Bayern, sondern auch von Bayern, in der sich Tendenzen der Heimatdichtung und des Naturalismus trafen. Diese Literatur ist auch sprachlich bayer., nicht nur durch den Gebrauch der Mundart in den Dialogpartien, sondern oft auch durch die in Syntax und Wortwahl und in ihrer Direktheit dialektgeprägte Hochsprache (vgl. auch Mattheier 1993, 639, 644). Haupt der neuen Literatur ist Ludwig Thoma, daneben sind J. Ruederer, L. Christ, Queri, O. M. Graf u. a. zu nennen, als Verfasser von klischeebildenden Hochlandromanen L. Ganghofer. Dialekt evoziert in den besseren dieser Texte nicht eine heile bäuerliche Welt (wie in der Mehrzahl der Dialektlyrik), sondern er steht im Dienst einer möglichst wahrhaften Darstellung bäuerlichen Lebens, die aufklärend, oft auch sozialkritisch und politisch verändernd oder wenigstens entlarvend wirken will (z. B. in Thomas FilserBriefen). Hohe Authentizität ohne literarische Stilisierung zeichnet vor allem die Sprache der „Erinnerungen einer Überflüssigen“ (1912) von Lena Christ aus, auch in ihrer lebendigen Differenzierung von bäuerlichem Dialekt, den verschiedenen Schichten von Stadtsprache und von Hochsprache. Auf andere Weise authentisch ist die Erzählprosa des Niederbayern Wilhelm Dieß (1884⫺1957; BB V, 926 ff.; Dieß 1959). Er schreibt eine einfache, gelassene Sprache, ein untadeliges Hd. ohne dialektale Einsprengsel. Aber diese Hochsprache ist über ganze Partien hin in den gesprochenen Dialekt rückübertragbar, ohne daß an der Diktion wesentliches geändert werden müßte. Verhochsprachlichte Umgangssprache wird in den Stücken von M. Fleißer gesprochen. Inwiefern sonst die oft behauptete bayer. oder süddt. Färbung der Hochsprache auch in der Fachprosa, Essayistik oder Journalistik (z. B. J. N. Sepp, J. E. Jörg, J. B. Sigl im 19. Jh., J. Hofmiller, K. A. v. Müller, B. Hubensteiner u. v. a. im 20. Jh., BB IV; V) linguistisch wirklich nachweisbar ist (über gelegentliche Apokopen oder süddt. Wörter hinaus), bleibt zu untersuchen.
Über den mündlichen Sprachgebrauch erhält man einigen Aufschluß aus der Literatur, vor
XVII. Regionalsprachgeschichte
allem seit der Jh.-Wende. Die Verteilung von Dialekt und Hochsprache ist recht deutlich sozial determiniert: Beamte, Anwälte, der Pfarrer und sonstige „Gebildete“ sprechen hd., die Landbevölkerung Dialekt. In der Stadt reicht die Skala vom Dialekt über verschiedene Zwischenstufen der Umgangssprache bis zur Hochsprache. Hochsprache wird als Indikator von Bildung und Prestige eingesetzt, deutlich ablesbar an den Konflikten, denen das Landkind in L. Christs Erinnerungen bei der Transferierung nach München ausgesetzt ist. Hochsprache kann aber auch als unangemessen, als „geschwollen“, als Bildungsjargon abgelehnt werden, z. B. in Ö. v. Horva´ths „Italienischer Nacht“. Über die Aussprache des Hd. erfahren wir aus dem literarischen Gebrauch natürlich nichts. Maxime ist aber jedenfalls „nach der Schrift reden“. Der in den Romanen zitierte Dialekt ist, ähnlich wie in der Dialektlyrik, in der Regel wenig regionalspezifisch. Thoma setzt einige westbayer. Signale (Dachau); spezifischer oberbayer. (Glonn) ist der Dialekt der L. Christ. Die Sprache der Münchener Vorstadt Au, auch in ihrer konfliktbedrohten Spannung zur Hochsprache, hat K. Valentin unsterblich gemacht (Zehetner 1985, 251 ff.). An nichtbair. Varietäten wird in der Literatur am häufigsten Schwäb. und ein undifferenziertes „Preußisch“ zitiert, kaum einmal Frk. (die Franken in München gehören in der Mehrzahl zur hd.-sprechenden Bildungsschicht).
6.
Ausblick (seit 1950)
6.1. Die Geschichte Bayerns in der Bundesrepublik Deutschland ist eine Erfolgsgeschichte. Das Land hat, über alle sozialen und wirtschaftlichen Umbrüche hinweg, seine Kontinuität bewahrt. Die Umbrüche waren tiefgreifend. Betrug der Anteil der agrarisch tätigen Bevölkerung nach dem 2. Weltkrieg noch fast ein Drittel, so lag er 1970 nur noch bei 13 %, heute sicher unter der 10 %-Marke, und er wird weiter fallen. Bäuerliche Arbeits- und Wirtschaftsweisen, die über Jahrhunderte relativ stabil geblieben waren, wurden durch die Technisierung seit den 50er-Jahren obsolet, das Dorf wurde als geschlossener Kommunikationsraum weithin aufgebrochen. Von den Veränderungen ist besonders Oberbayern betroffen, erst danach Niederbayern und die Oberpfalz. Zu massiven Bevölkerungskonzentrationen kam es in
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den Städten und um die Städte, allen weit voran in der Region München. Neue Universitäten sind in Regensburg und Passau entstanden und haben ihren Regionen neue Impulse gebracht. München, 1958 Millionenstadt geworden, ist zu einem bedeutenden Industriezentrum aufgestiegen. Weiterhin ist es aber auch eine Stadt der Künste und Wissenschaften (wenn auch nicht mehr von der Exzeptionalität der Zeit um 1900), für viele die heimliche Hauptstadt Deutschlands. Allen Veränderungen zum Trotz leben aber viele der für das ältere Bayern so typischen ländlichen Traditionen in Stadt und Land weiter, viele freilich durch den Tourismus kommerzialisiert und entstellt. Immer noch zeichnet sich Bayern durch eine bemerkenswerte Integrationskraft gegenüber den vielen Zugereisten aus. Die christlich-konservative CSU fährt ähnliche Wahlerfolge ein und dominiert wie einst die Bayer. Patriotenpartei und später die Bayer. Volkspartei, und die Kritiker schreiben dagegen so erfolglos an wie zur Zeit Thomas. Der bayer. Ministerpräsident Stoiber hat Bayerns Weg ins 21. Jh. unter den Slogan „Lederhose und Laptop“ gestellt. 6.2. Auch der Sprachgebrauch hat Änderungen erfahren. Soweit sie den schriftlichen Bereich betreffen, sind es die allgemeinen Entwicklungen des Dt. im 20. Jh. Im Bereich der gesprochenen Sprache ist durch verstärkten Zuzug von außen, durch die Integration der Heimatvertriebenen und durch die Anwesenheit einer beträchtlichen Zahl von Ausländern der Anteil der Hd.- bzw. Nicht-Bair.Sprechenden größer geworden. Daß die Aussprache des Standarddt. in vielen Punkten nicht der Siebs-Norm folgt und daß es nicht nur obd., sondern auch bair. Besonderheiten gibt, belegt W. König (1989, z. B. I, 38 ff. zu den a-Lauten). Der Anteil der Dialektsprecher liegt nach Umfragen der 70er-Jahre mit knapp 80 % in Bayern erheblich höher als in anderen dt. Ländern (ähnlich hoch in Südwestdeutschland und in Österreich). Der Dialekt selber hat sich allerdings beträchtlich verändert. Die altartigen Ortsdialekte werden zunehmend ersetzt durch großregionale Dialekte, die die kommunikativen Funktionen der alten Dialekte übernehmen („Umgangssprachen“, meist neben den älteren Dialekten). Gerade in den früher verkehrsentlegenen Gebieten (z. B. Bayer. Wald, südl. Oberbayern) spielt dabei der Fremdenverkehr eine
2967
wichtige Rolle. Die Integration der Heimatvertriebenen und die neue Mobilität, vor allem auch das Auspendeln vieler Arbeitskräfte in zentrale Orte haben diese Tendenzen verstärkt. Direkte Einflüsse durch die Mundarten der Neusiedler konnten nirgends festgestellt werden. Starke Strahlkraft besitzt das Mbair., das vor allem als „ ‘bayer. Koine´’ münchnerischer Prägung“ (Zehetner 1998, 6) auch über den altbayer. Raum hinaus wirkt (vgl. z. B. Renn 1999). Allerdings geht in jüngster Zeit gerade in München die Dialektkompetenz bei Kindern und Jugendlichen dramatisch zurück (Stör 1999, 550 ff.). In Bayern ist nicht nur das Bewußtsein der eigenen historischen und staatlichen Identität, sondern auch das seiner eigenen sprachlichen Identität stark ausgeprägt. Das bezieht sich nicht nur auf die Dialekte, sondern auch auf die Hochsprache. Vor allem die Regionalismustendenzen der späten 60er-/70er-Jahre stärkten dieses Bewußtsein, verbunden mit einer mehr oder weniger aggressiven Abgrenzung vom „Preußischen“. So plädiert W. J. Bekh für eine bayer. Hochsprache, nicht ohne zentralistische Tendenzen gegenüber den nichtbair. Gebieten des Freistaates (1974 [1. Aufl. 1973], mit einem Vorwort von F. J. Strauß! Vgl. Renn 1999, 368 ff.). Im gleichen Sinn ist der „Förderverein bair. Sprache und Dialekte“ tätig. Ein beachtenswertes Lexikon des „Bair. Dt.“ hat L. Zehetner (1998) erarbeitet, in strikter Begrenzung auf Altbayern. Eine neue „Dialektszene“ ist literarisch und medial lebendig. Die neue Dialektlyrik, die mit der konventionellen Mundartdichtung („Turmschreiber“, seit 1958) radikal gebrochen hat, fand ihr Forum in Friedl Brehms Zs. „Schmankerl“ (1969⫺1986). An das sozialkritische Volksstück der Fleißer und Horva´ths knüpften M. Sperr und F. X. Kroetz erfolgreich an. Über die Massenmedien wird, mit wenigen Ausnahmen (z. B. die Geschichten vom „Pumuckl“, der Liedersänger K. Wecker u. a.), ein Allerweltsbair. Münchner Prägung verbreitet, das die gängigen Bayern-Klischees stützt. 6.3. Die bair. Dialekte Altbayerns lebten bis in die Mitte dieses Jhs. in ungebrochener Kontinuität (Kranzmayer 1956; Zehetner 1985, 60 ff.; Wiesinger 1989; Rowley 1989; vgl. auch Art. 191, 5.5.). Im äußersten Südwesten (Werdenfelser Land) haben sie teil am Sbair., im Norden (Opf.), etwa bis zu einer Linie Ingolstadt⫺Straubing⫺Regen, liegt das Nbair., der große Mittelteil beiderseits
2968 von Isar und Inn wird vom Mbair. ausgefüllt. Im Westen (Lechrain) bis hin nach Bad Tölz⫺Dachau⫺Neuburg/Donau liegt ein Übergangsgebiet, in dem schwäb. Merkmale immer häufiger werden, je näher man dem Lech kommt. Das Mbair. ist seit dem Mittelalter der aktivste, neuerungsfreudigste und expansivste bair. Dialekt. Sein Hauptcharakteristikum ist ein Komplex von Konsonantenschwächungen (Lenierung der Fortisplosiva, Liquidenvokalisierung, z. T. Nasalschwund). Die Vokalisierung des postvokalischen l, im Südosten (Chiemgau, Rupertiwinkel) auch jene von r, hat die Entstehung neuer Diphthonge bewirkt. Reliktformen an der Peripherie (vor allem im Bayer. Wald, im niederbayer. Rott- und Inntal, im Südosten und Süden, um Pfaffenhofen) lassen noch Dialektverhältnisse erschließen, die durch jüngere mbair. Entwicklungen überdeckt oder beseitigt wurden. ⫺ Das Sbair. und z. T. der Lechrain sind einerlseits dadurch charakterisiert, daß die mbair. Schwächungen nicht übernommen wurden, andererseits durch verschiedene Eigenentwicklungen, vor allem durch die Diphthongierung von mhd. eˆ, oˆ > [eB, cB], z. B. [siB, rcBt] ‘See, rot’. Der bayer. Westrand etwa westl. von Schliersee ⫺ München ⫺ Kelheim ⫺ Hilpoltstein teilt mit dem Alem. die breite Aussprache des s vor t in allen Positionen ([fest, is] ‘fest, ist’). ⫺ Das auffallendste Merkmal des Nbair. ist ein geschlossenes System von steigenden Diphthongen für mhd. ie, üe, uo (Rowley 2000); eˆ, œ, oˆ; aˆ; z. B. [leib, meid, gout; sii, biis, rcut; bla˚usn] ‘lieb, müde, gut; See, böse, rot; blasen’. Die nördl. Opf., etwa nördl. von Weiden, teilt einige Merkmale mit dem Frk. (z. B. [riBn, uBfn] ‘reden, Ofen’). ⫺ Die in Arbeit befindlichen Karten des „Bayer. Sprachatlas“ werden die Erforschung der bair. Dialekte auf neue Grundlagen stellen.
Das hohe Prestige des Mbair. führt am Lechrain und im Süden des Nbair. (Riedenburg, Bogen, Cham) dazu, daß immer mehr Sprecher ihre eigenen altdialektalen Formen, vor allem die „gestürzten“ Diphthonge des Nbair., durch die mbair. Entsprechungen ersetzen. Regensburg ist, vermutlich seit langem, eine mbair. Insel im nbair. Dialektgebiet. Im Westen dringen die s- suffigierten Verbalformen der 2.P.Pl. (ihr machts, habts usw.), Diminutiva auf -erl usw. bis nach Augsburg und darüber hinaus vor (Renn 1999, 374). Auch im mbair. Dialektgebiet wird überall neben den alten Dialekten auch die oberbayer. Umgangssprache des Münchener Typs verwendet. Bemerkenswert ist, daß beim Abbau altdialektaler Formen überwiegend nicht die schriftsprachlichen Entsprechungen an ihre Stelle treten, sondern die der oberbayer. Mundarten/Umgangssprache (für
XVII. Regionalsprachgeschichte
das nbair./mbair. Übergangsgebiet sehr gut Bücherl 1982). 6.4. Die Geschichte der Schriftsprache in Bayern mündet in der 2. Hälfte des 18. Jhs. in die allgemeine Geschichte des Dt. ein. Im weiten Bereich des mündlichen Sprachgebrauchs, in der Pragmatik des Gebrauchs von Mundart und Hochsprache und wahrscheinlich auch im Ausmaß der Dialektverschriftung wahrt das Bair. seine eigene Position bis heute. Es spricht nichts dafür, daß sich dies in absehbarer Zeit ändern würde. Insofern wird es auch im 3. Jahrtausend noch eine Geschichte des Bair. in Bayern geben.
7.
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193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit 1. 2. 3. 4. 5. 6.
7.
8.
1.
Der österreichische Staat und sein geschichtliches Werden Zur Sinnhaftigkeit einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit Die dialektale Prägung und Gliederung Österreichs Die diastratische Gliederung Österreichs und ihr geschichtliches Werden Die Entwicklung der oberdeutschen Schriftsprache vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts Die Einführung der allgemeinen deutschen Schriftsprache in Österreich 1750 und ihre Weiterentwicklung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts Das Bewußtwerden eines österreichischen Deutsch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Entwicklung im 20. Jahrhundert Literatur (in Auswahl)
Der österreichische Staat und sein geschichtliches Werden
1.1. Die Republik Österreich Die heutige Republik Österreich blickt erst auf ein Alter von 80 Jahren zurück und wurde als deutschsprachiger Staat nach dem Ersten Weltkrieg 1918 gegründet. Er ging aus den deutschsprachigen Kronländern der Habsburger-Monarchie hervor. Sie umfaßte seit 1867 die beiden Reichshälften Österreich mit dem Königreich Böhmen, Galizien und der Bukowina sowie das Königreich Ungarn, das sich mit Kroatien und Slawonien bis nach Siebenbürgen im Karpathenbogen er-
streckte, während das 1878 okkupierte Bosnien und Herzegowina von beiden Ländern gemeinsam verwaltet wurde. Bei dem im Vertrag von Saint Germain-en-Laye 1919 festgelegten österreichischen Staatsgebiet wurde das deutschsprachige Südtirol mit einer ladinischen Minderheit in den Dolomitentälern Italien zugewiesen, und von kleinen, an die Tschechoslowakei abgetretenen niederösterreichischen Grenzgebieten bei Gmünd und um Feldsberg (Valtice) abgesehen, der slowenischsprachige Teil der Steiermark als Teilrepublik Slowenien an das neugegründete Jugoslawien abgegeben. Nach Freiheitskämpfen und einer 1920 durchgeführten Volksabstimmung verblieben die deutsch-slowenisch gemischtsprachigen Gebiete Südkärntens vom Gailtal über das Rosental und den Wörthersee bis ins Jauntal bei Österreich, während das ebenfalls gemischtsprachige Kanaltal um Tarvis mit Weißenfels (Fusine) schon 1919 auf Wunsch Italien zugesprochen worden war. Schließlich erhielt Österreich 1921 den deutschsprachigen Teil Westungarns bis auf das Gebiet um Ödenburg (Sopron) und einzelne weitere Grenzorte, der zum neuen Bundesland Burgenland wurde und neben einer kleinen ungarischen Sprachinsel des Mittelalters in der Warth mehrere kroatische Gebiete als Sprachinseln der frühen Neuzeit einschließt. 1.2. Der geschichtliche Werdegang Die territorialgeschichtlichen Voraussetzungen Österreichs und damit verbunden auch
2972 des deutschsprachigen Gebietes gehen freilich ins Mittelalter zurück. Keimzelle Österreichs ist die nach den Ungarnkriegen 976 eingerichtete Markgrafschaft Ostarrichi der Babenberger zu beiden Seiten der Donau zwischen Enns und Wienerwald. Während sie weiterhin im Verband des Herzogtums Bayern verblieb, wurde damals Kärnten herausgelöst und zum selbständigen Herzogtum erhoben, dem im Osten und Norden die dann zur Steiermark werdende Karantanische Mark vorgelagert war. Selbständigkeit erlangte das allmählich nach Osten bis ins Wiener Becken ausgeweitete Österreich 1156, als es zum Herzogtum aufstieg und Wien zu seinem Herrschaftssitz wurde. 1192 fiel ihm die 1180 zum Herzogtum erhobene Steiermark zu. Als 1246 der letzte Babenberger fiel, entstand ein Interregnum, das 1278 mit der Übernahme beider Herzogtümer durch die Habsburger endete, die dann die Herrschaft für 640 Jahre bis 1918 behalten sollten. Sie erwarben 1335 Kärnten und 1363 Tirol und zählten einzelne vorderösterreichische Gebiete vom südelsässischen Sundgau über Teile der Schweiz, Badens und Württembergs bis Vorarlberg zu ihrem Streubesitz, konnten aber davon nach diversen Verlusten bis 1523 nur Vorarlberg mit dem Tiroler Gebiet vereinigen. Beide Gebiete blieben allerdings bis 1500 vom Osten durch die Osttirol und Oberkärnten umfassende Grafschaft Görz getrennt, die erst damals endgültig erworben und als Verbindungsglied zwischen Tirol und Kärnten aufgeteilt wurde. 1504 kam auch das Unterinngebiet um Kufstein von Bayern an Tirol. Gegenüber der nun hergestellten südlichen Verbindung fehlte eine solche im Norden, denn bis 1803 war Salzburg selbständiges Fürsterzbistum, das erst nach den napoleonischen Zwischenregelungen mit seinen östlichen Teilen 1815 endgültig zu Österreich kam. Schon zuvor hatte Österreich 1779 von Bayern das Innviertel zu Oberösterreich hinzuerworben. Insgesamt war also das heutige österreichische Territorium großteils im Spätmittelalter bis ins beginnende 16. Jh. entstanden und gewann seine heutige Ausdehnung erst 1815 mit den territorialen Neuordnungen des Wiener Kongresses.
Seit dem 15./16. Jh. gelang es den Habsburgern besonders durch die Heiratspolitik Kaiser Maximilians I. (1492⫺1519) den Länderbesitz in weitgehend nichtdeutschsprachige Gebiete auszuweiten. Im Westen wurde 1477 das Teile des heutigen Belgiens, der Niederlande, Luxemburgs und Ostfrankreichs umfassende Burgund erworben. Es wurde zur Keimzelle für die spanische Herrschaft, beeinflußte aber wegen der räumlichen Entfernung, vom Herrscherhaus und Hof abgesehen, die sprachlichen Verhältnisse Österreichs nicht. Im Osten fielen 1526 die benachbarten Königreiche Böhmen und Ungarn an. Während sich in Böhmen im Mittelalter im Rahmen der deutschen
XVII. Regionalsprachgeschichte Ostsiedlung große deutsche Randgebiete gebildet hatten ⫺ ihr Deutschtum wird seit den 1920er Jahren als das Sudetendeutsche bezeichnet ⫺ kam es in Ungarn nach den Türkenkriegen erst im 18. Jh. zur dt. Besiedlung hauptsächlich aus wmd. Gebieten in Form größerer und kleinerer Sprachinseln. Besonders die Städte besaßen in Verbindung mit zeitweiser dt. Verwaltung und mit Militär eine in ihrem Umfang wechselnde deutschsprachige Bevölkerung und dies nicht nur in Böhmen (Prag) und Ungarn, sondern auch in den fremdsprachigen Gebieten Südtirols (Trient), der Südsteiermark (Marburg, Pettau, Cilli), Krains (Laibach) und Küstenlands (Görz, Triest, Pola). Im Kontakt mit der heimischen Bevölkerung kam es daher sowohl zu fremdsprachigen Einflüssen auf das Deutsche als auch umgekehrt zur Aufnahme dt. Lehngutes in die verschiedenen Fremdsprachen. Drehscheibe des Nationalitätenkontaktes wie Zentrum der kulturellen Ausstrahlungen sowohl in den Osten wie in den Westen aber war Wien als die Hauptstadt der Monarchie. Trotz der seit 1918/19 in der neuen Republik entstandenen östlichen Randlage behielt aber Wien auch als österreichische Bundeshauptstadt seine Vorbildfunktion und Ausstrahlungskraft für das ganze Land.
Das heutige Österreich ist innerhalb des dt. Sprachgebietes ein eigenständiger deutschsprachiger Staat, und die dt. Sprache wurde 1920 als Staatssprache in der österreichischen Verfassung festgeschrieben. Dazu kommen in den genannten historischen Minderheitengebieten Kärntens und des Burgenlandes die Volksgruppen der Slowenen, Kroaten und Ungarn, denen kulturelle und sprachliche Rechte zuerkannt sind. In Erweiterung der Volksgruppengesetze wurden 1976 auch die Tschechen in Wien und 1992 die Roma und Sinti mit bloß einer größeren Niederlassung in Oberwarth im Burgenland als eigene Volksgruppen anerkannt, wobei 1992 im Gefolge der Auflösung der Tschechoslowakei in Tschechien und die Slowakei die Slowaken zur eigenen Volksgruppe verselbständigt wurden (Wiesinger 1996).
2.
Zur Sinnhaftigkeit einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
Auf Grund der Etablierung eines größeren deutschsprachigen österreichischen Länderverbandes der Habsburger am Beginn des 16. Jhs. sowie des seit 1918 eigenständigen österreichischen Staates erscheint es gerechtfertigt, die von kulturpolitischen Faktoren mitbestimmten sprachlichen Entwicklungen der Neuzeit unabhängig von den im Mittelal-
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
ter geprägten bair. sprachlichen Grundlagen und trotz weiterer Zusammenhänge mit dem ebenfalls seit dem Spätmittelalter territorialund kulturpolitisch eigene Wege gehenden wittelsbachischen Bayern selbständig zu betrachten. Dabei geht es um die Entwicklungen sowohl der gesprochenen als auch der geschriebenen Sprache in ihren soziologischen und kulturhistorischen Verflechtungen sowie in ihren landesspezifischen und allgemeindeutschen Bezügen vom 16. Jh. bis in die Gegenwart. So sind zu behandeln die dialektalen Grundlagen und die Entwicklungen der gesellschaftsabhängigen gesprochenen Varietäten; die Entwicklung einer bair.-obd. Schriftsprache vom 16. bis zur Mitte des 18. Jhs. und ihr Verhältnis zur omd.-nrddt. Schriftsprache; deren Übernahme in der Mitte des 18. Jhs. und ihr Spannungsverhältnis zur heimischen Tradition; die wechselseitigen, vor allem lexikalischen Beziehungen mit den benachbarten Fremdsprachen; und die sich in der 2. Hälfte des 19. Jhs. bildende und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg in der 2. Hälfte des 20. Jhs. geförderte Varietät des „österreichischen Deutsch“ (Reiffenstein 1995, Wiesinger 1998).
3.
Die dialektale Prägung und dialektgeographische Gliederung Österreichs
Österreich bildet mit Südtirol den nach Südosten vorgeschobenen Teil des dt. Sprachraumes. Er wurde seit dem Frühmittelalter durch das allmähliche Vordringen der Baiern in den zunächst im Westen und Südwesten romanisch und im Südosten und Osten slawisch besiedelten Raum vom 7./8. bis ins 10./ 13. Jh. sukzessive eingedeutscht. Dadurch ist Österreich nur im Westen über Bayern mit dem dt. Sprachraum verbunden und an drei Seiten von nicht weniger als 6 Fremdsprachen umgeben: im Südwesten vom Italienischen und Alpenromanischen (Rätoromanisch, Ladinisch), im Südosten vom Slowenischen (das auch noch in Südkärnten mitbeheimatet ist), im Südosten vom Magyarischen (Ungarischen), im Nordosten vom Slowakischen und im Norden vom Tschechischen, wobei bis 1945 die südmährischen und südböhmischen Gebiete deutsch waren und erst die Vertreibung der (Sudeten)deutschen aus der Tschechoslowakei 1945/46 die Sprachgrenze an die Staatsgrenze heranrückte.
2973
Bezüglich seiner dialektalen Grundlagen gehört Österreich von Tirol im Westen über Kärnten und die Steiermark im Süden und über Salzburg und Oberösterreich im Norden bis zum Burgenland und Niederösterreich im Osten zum Bairischen. Es ist jener große oobd. Dialektverband, der im Westen am Lech beginnt und sich zwischen Südtirol im Süden und dem Fichtelgebirge, dem südlichsten Vogtland und (bis 1945) dem westböhmischen Egerland im Norden erstreckt. Anhand maßgeblicher lautlicher Kriterien, die sich im 12./13. Jh. entwickelt haben, gliedert es sich mit Übergangszonen in drei Süd-Nord gelagerte Großgebiete, von denen zwei Österreich (und das hier stets miteingeschlossene Südtirol) betreffen. Es sind dies im alpinen Süden das mit Bezug auf das Mhd. weitgehend konservativ gebliebene Südbairische in Tirol, Kärnten und der Ober- und Weststeiermark und im Norden das modernisierungsfreudige Mittelbairische des voralpenländischen Donauraumes in Ober- und Niederösterreich, das sich im Westen nach Nieder- und Oberbayern fortsetzt. Dazwischen schiebt sich eine als Südmittelbairisch bezeichnete Übergangszone, die an älteren, nun mit dem Südbairischen übereinstimmenden mittelbairischen Eigenschaften festhält. Sie umfaßt in ihrer Westhälfte das Nordtiroler Unterinngebiet um Kufstein mit der Kitzbühler Gegend, Salzburg (ohne den Flachgau im Norden) und das obersteirische Ennstal mit dem südlichsten oberösterreichischen Salzkammergut um Bad Ischl sowie in ihrer Osthälfte das obersteirische Mürztal, die Mittelund Oststeiermark, das südöstliche Niederösterreich und das Burgenland. Dabei waren der Salzburger Lungau südlich des Alpenhauptkammes, das obersteirische Mürztal und die Mittelsteiermark sowie die Südspitze des Burgenlandes ursprünglich südbairisch geprägt, wobei die steirischen und burgenländischen Gebiete erst seit dem ausgehenden 19. Jh. mittelbairische verkehrsdialektale Erscheinungen aufnahmen (Kranzmayer 1956; Wiesinger 1983 a, 1990). Das westlichste Bundesland Vorarlberg und ein kleines Westtiroler Randgebiet um Reutte gehören zum wobd. Alemannischen. Dabei ist Vorarlberg bezüglilch der inneralemannischen Untergliederung insofern uneinheitlich, als in den beiden Walsertälern sowie in einigen weiteren auf Südschweizer Auswanderer des beginnenden 14. Jhs. zurückgehenden Walsersiedlungen spezifische, dem Höchstalemannischen zuzurechnende Verhältnisse herrschen, während das Montafon im Süden dem Hochalemannischen nahesteht und sich das Rheintal und der Bregenzerwald mittelalemannisch verhalten. Vom Westtiroler Randgebiet gehört das Tannheimertal gänzlich zum Schwäbischen, während das Gebiet um Reutte im Lechtal und das östlich anschließende Außerfern ein Mischgebiet mit schwäbischen Grundlagen und südbairischen Einflüssen darstellt (Gabriel 1987, Wiesinger 1990).
2974
4.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Die diastratische Gliederung Österreichs und ihr geschichtliches Werden
4.1. Die gegenwärtigen Verhältnisse Hinsichtlich der diastratischen Gliederung lassen sich heute in Österreich durchschnittlich vier Varietäten gesprochener Sprache beobachten: Basisdialekt ⫺ Verkehrsdialekt ⫺ Umgangssprache ⫺ Standardsprache. Als äußerste Gegenpole stehen sich der bodenständige Basisdialekt und die Standardsprache als Realisierung der Schriftsprache gegenüber. Der Basisdialekt wird als lokale heimische Dialektvarietät besonders von der älteren, weitgehend immobilen Bevölkerung auf dem Land gesprochen, während die mobile jüngere Landbevölkerung zum regionalen Verkehrsdialekt tendiert, der vom Basisdialekt abweichende, stadtdialektale Lautungen aufgreift und somit gegendweise unterschiedliche „primäre“ Merkmale aufgibt. Die Standardsprache als regionale Realisierung der Schriftsprache ist bloß in höheren städtischen Bildungsschichten Alltagssprache und ansonsten Sprache der Öffentlichkeit (Kirche, Schule, Rundfunk, Fernsehen, öffentliche Anlässe). Besonders die mittleren und höheren Schichten der Stadtbevölkerung und vielfach auch die zahlenmäßig geringen, sozial gehobenen Gruppen größerer Landorte sprechen heute vielfach Umgangssprache als eine Ausgleichsform zwischen Dialekt und Schriftsprache mit Ausrichtung auf die Schriftsprache. Allerdings läßt sich heute zunehmend beobachten, daß der soziale Aufstieg durch Schulbildung und Beruf vielfach nicht mehr mit dem Gebrauch der beiden höheren Sprachschichten verbunden ist und sich individuell das Dialektsprechen in bisher weitgehend jenen vorbehaltenen Situationen verbreitert (Wiesinger 1983 b). Statistische Erhebungen des Sprachgebrauchs in Österreich auf Grund der sprachlichen Selbsteinschätzung ergeben insgesamt, daß sich 79 % als Dialektsprecher bezeichnen, während dies 21 % verneinen. Nach Sozialschichten aufgeteilt, stehen als bevorzugte Alltagssprache Dialekt und Umgangssprache im Verhältnis 76 : 24 % bei der Unterschicht, 47 : 49 % bei der Mittelschicht und 35 : 56 % bei der Oberschicht, wozu bei den beiden höheren Schichten noch 4 bzw. 9 % Standardsprache hinzukommen. Nach dem Wohnort differenziert zeigen ländliche Dörfer 62 % Dialekt gegenüber 34 % Umgangssprache, während etwa die Großstadt Wien nur 35 : 57 % und 8 % Standardsprache aufweist. In charakteristischen Alltagssituationen nimmt der
Dialektgebrauch zugunsten der Umgangssprache und der Standardsprache von der intimen, vertrauten, informellen Situation hin zur formellen Situation mit zunehmender Distanz zum Gesprächspartner ab. So lautet das Verhältnis in der Familie 62 : 32 : 5 %, mit Kollegen am Arbeitsplatz 41: 44 : 8 %, in der Bank 30 : 44: 22 %, mit dem Vorgesetzten am Arbeitsplatz 22 : 38 : 30 % und im Amt in der Stadt 11: 45 : 35 %, wobei auf 100 % fehlende Werte wechselnde Anpassung an das Gegenüber sind. Diese Gesamtwerte verändern sich selbstverständlich nach Sozialschichten und Wohnorten entsprechend den obgenannten diesbezüglichen Verhältnissen (Wiesinger 1988, Steinegger 1998).
4.2. Die geschichtliche Entwicklung Die geschichtliche Entwicklung der diastratischen Verhältnisse läßt sich anhand von metasprachlichen Zeugnissen seit 1730 verfolgen. Damals beklagte zu Beginn der Sprachpflege mit ersten Bestrebungen zur Reform der Schriftsprache der Kayserliche Hofagent Johann Balthasar Antesperger bzw. von Antesperg, daß der österreichische Adel als kulturtragende, führende Gesellschaftsschicht kein Interesse an der „Reinigkeit und Richtigkeit“ der Muttersprache habe und stets Dialekt spreche. In dieser Hinsicht unterschieden sich Österreich, Süddeutschland und die Schweiz von den Verhältnissen im östlichen Mitteldeutschland, wo in Sachsen der Adel und des Großbürgertums bereits im 17. Jh. eine der omd.-nrddt. Schriftsprache sehr nahe kommende, gehobene Umgangssprache gebrauchten und sich der Dialekt auf die sozial unteren Schichten beschränkte. So beanstandete denn auch 1784 der Sprachpfleger und Rechtsreformer Joseph von Sonnenfels, daß die best gekleidete Dame der höheren Gesellschaft so pöbelhaft rede wie ihre Küchenmagd, d. h. daß trotz des erheblichen Standesunterschiedes kein entsprechender Unterschied in der Varietätenwahl besteht und in gleicher Weise Dialekt geredet wird. Selbst Kaiserin Maria Theresia bediente sich nach Aussage einer ihrer Hofdamen, der Mutter der Schriftstellerin Karoline Pichler, im familiären Hofkreis „des ganz gemeinen österreichischen Jargons“ (Wiesinger 1995, 324 ff.). Diese gegen die Sprachpraxis stehende Forderung nach sprachlichen Standesunterschieden und sozial und situativ differenziertem Sprachgebrauch stand im Gefolge der 1750 durchgeführten Reform der Schriftsprache. Sie sollte die alltägliche Sprachform sowohl der gehobenen Gesellschaft als auch von öffentlichen Situationen sein. Dement-
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
sprechend unterzog der Literat und spätere Professor für deutsche Sprache Leopold Alois Hoffmann mit einem Mitarbeiterstab unter Billigung Kaiser Josephs II. 1782/83 Sonntagspredigten in ausgewählten Kirchen Wiens und seiner nächsten Umgebung sowohl nach sprachlicher Qualität und Vortragsstil als auch nach Inhalt und Aussage einer Kritik, wobei besonders jene Geistlichen gebrandmarkt wurden, die sich des als unangemessen empfundenen Dialekts bedienten. Als Hoffmann 1790 zur Verbesserung des Predigtvortrages als der in der damaligen Zeit einzigen Gelegenheit des öffentlichen Sprachgebrauchs mit weitreichender Wirkung seine „Anleitung zur geistlichen Beredsamkeit“ veröffentlichte, hielt er es als für nicht mehr länger angängig, daß „man die Sprache des Umgangs so ganz vernachlässigen und alle Feinheit des Ausdrucks daraus verbannen könnte“ (Wiesinger 1995, 328). Aus dem sprachlichen Spannungsverhältnis zwischen dem Dialekt auf der einen und der Schriftsprache auf der anderen Seite resultierte daher in der 2. Hälfte des 18. Jhs. die Entwicklung einer städtischen Umgangssprache als Ausgleichsprodukt und Bindeglied zwischen dem Dialekt und der Schriftsprache, die damals als „Hochdeutsch“ bezeichnet wurde. Damit etablierten sich um 1800 die drei Sprachschichten Dialekt ⫺ Umgangssprache ⫺ Standardsprache. Der oberösterreichische Benediktinermönch und Sprachforscher Matthias Höfer differenzierte 1800 die gesprochene Sprache nach Standesunterschieden, indem er unterschied zwischen 1. „städterisch oder herrisch“, 2. „markisch, wie es unter gemeinen Bürgern in den Marktflecken üblich ist“ und 3. „bäurisch“ (Scheuringer 1998). Auch der Bayer Johann Andreas Schmeller differenzierte 1821 die gesprochene Sprache dreifach, indem er zusätzlich zu Standesunterschieden auch die Sprachqualität im Verhältnis zu ihrer historischen Herleitung aus dem Mhd. einbezog. Danach hat in umgekehrter Anordnung zu Höfer 1. „die Sprache beym gemeinen Mann auf dem Lande … die meisten der … Aussprache-Analogien rein und lebendig erhalten“. 2. ist die Sprache „in Märkten und Städten und bey den Gebildeten … durch Vermengungen aller Art, besonders mit dem Schriftdeutschen immer mehr oder weniger vermischt worden“ und 3. ist die Sprache „der Gebildeten gewöhnlich ganz passiv nach dem Buchstaben der einmal zum Gesetz gewordenen Orthographie gemodelt, doch so,
2975
daß fast überall die Hauptfarben des Provincial-Dialektes durchschimmern“ (Wiesinger 1979). Freilich ist trotz der dreifachen Differenzierung der Zeitgenossen davon auszugehen, daß bis ins erste Viertel des 19. Jhs. selbst in den Städten noch eine starke Diglossiesituation von Dialekt und „Hochdeutsch“ bestand. Darauf verweisen nicht nur die Beschreibung eines Gesprächs von Kaiser Franz I. mit bayerischen Offizieren 1809 durch Schmeller, bei dem der Kaiser völlig in Wiener Dialekt redete, sondern auch die systematischen Bestrebungen der Schule. Nachdem 1774/75 durch Kaiserin Maria Theresia mit der Schulreform die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden war, bemühte man sich nämlich seit 1794, das „Hochdeutsche“ nach den von Johann Christoph Adelung festgesetzten schriftsprachlichen Normen zur gesprochenen Sprachform der Öffentlichkeit zu machen. Breitere Erfolge stellten sich aber erst ab der Mitte des 19. Jhs. ein. So sprachen der Wiener Hof, der Adel, das leitende Militär und das gehobene Bürgertum als Alltagssprache ein österreichisch geprägtes „Hochdeutsch“, dessen Vorbilder das Deutsche der dialektfreien Monarchiestädte Prag und Laibach waren. Während sich in den mittleren Schichten vor allem der Beamtenschaft und der Geschäftsleute die Umgangssprache zu etablieren begann, verblieben die unteren Schichten der Handwerker, des sich neu bildenden Arbeiterstandes und der diversen kleinen Angestellten weiterhin beim Dialekt. Die Landbevölkerung, die allergrößtenteils aus Bauern bestand, setzte die Diglossiesituation fort, indem der Dialekt Alltagssprache blieb und sich das „Hochdeutsche“ vor allem auf die Schule, die Kirche, das häusliche Gebet sowie auf das Lesen beschränkte. Aus der diastratischen Situation in der 1. Hälfte des 18. Jhs. kann auch auf die Situation des 16. und 17. Jhs. zurückgeschlossen werden. Daß damals in allen Gesellschaftsschichten Österreichs der Dialekt die Alltagssprache war, ergibt sich aus der zeitgenössischen adeligen Korrespondenz, besonders aus den seit der 1. Hälfte des 16. Jhs. erhaltenen Frauenbriefen. Zwar erhielten alle Adeligen durch Hauslehrer Schreib- und Leseunterricht in Deutsch sowie besonders die jungen männlichen Adeligen im Hinblick auf den diplomatischen Dienst und auf Bildung in größerem Umfang auch Fremdsprachenunterricht vor allem in Französisch und Latein, aber die Frauenbriefe zeigen ab der 2.
2976 Hälfte des 16. Jhs. in der Orthographie starke Orientierung am Gesprochenen, indem phonetische Direktanzeigen und Hyperkorrektismen begegnen und dialektabhängige Variantenschreibungen in größerem Umfang auftreten als in gleichzeitigen Drucken. Die dialektale Sprechweise des oberschichtigen Adels unterschied sich aber durch gewisse Eigenheiten als sogen. „Herrensprache“ vom ländlichen Dialekt, worauf nicht nur die soziologische Differenzierung Höfers hinweist, sondern auch die ländliche Lebendigkeit des Ausdrucks „herrisch reden“ im südöstlichen Niederösterreich und wahrscheinlich auch in Kärnten bis um 1900. Bezogen wurde sie in Niederösterreich auf den Wiener Stadtdialekt, der Niederschlag der Herrensprache ist, zumal Wien seit dem 12. Jh. nicht nur österreichischer Herrschaftssitz, sondern auch Kulturmittelpunkt des Donau- und Ostalpenraumes war. Er weicht mehrfach vom Mbair. des umgebenden Landes ab, insbesondere durch das charakteristische [a:] für mhd. ei, z. B. [bra:d] ‘breit’. Jenes läßt sich in seinen Grundlagen bis ins 2. Drittel des 12. Jhs. zurückverfolgen und war sichtlich eine auf das rhfrk. Königshaus der Salier zurückgehende, von den Babenbergern in Wien und von den Spanheimern in Kärnten aufgegriffene, auf die Oberschicht des gesamtbair. Raumes sich ausbreitende Erscheinung (Wiesinger 2001a). In den Frauenbriefen des 16./ 17. Jhs. spiegelt sie sich besonders in den hyperkorrekten Schreibungen für ‘Muhme’ (mhd. muome) als <maim(b)/mäm(b)/ mam(b)/maum(b)>, wobei zwar <maim(b)> als [mc˜ B˜ m] oder [ma˜:m] doppeldeutig ist, die weiteren Schreibungen aber eindeutig die Realisierung [ma˜:m] anzeigen. Solche [a:] wiedergebenden Schreibungen finden sich für zusammengefallenes mhd. ei und æ als Sonderschreibungen im ganzen bairischen Raum seit dem 12. Jh., so daß sich der miteinander verwandtschaftlich wie diplomatisch verbundene Adel in seiner Herrensprache ebenso am Herrschafts- und Kulturmittelpunkt Wien orientierte wie die höhere Bürgerschaft und Geistlichkeit, die Dichter und die gebildeten Schreiber. Daß sich nicht nur die dialektale Sprache des oberschichtigen Adels vom ländlich-bäuerlichen Dialekt abhob, sondern, daß es zumindest gebietsweise im Sinne von Höfer auch schon vom 16.⫺18. Jh. andere Dialektformen in größeren Marktorten gab, läßt sich aus der Dialektgeographie erschließen. Ein dafür besonders geeignetes Beispiel liefert
XVII. Regionalsprachgeschichte
Niederösterreich. Hier zeigen z. B. die Aufnahmen der Wenkersätze für den „Deutschen Sprachatlas“ von 1930, daß die Kleinstädte und größeren Marktorte etwa im nördlichen Landesteil vielfach für mhd. ei [a:] statt [cB] und für mhd. uo [uB] statt [ui] aufweisen. Es sind verkehrsdialektale Lautungen Wiener Herkunft, die heute auch die mittlere und jüngere mobile Bevölkerung der Dörfer gebraucht. Betrachtet man nun die Dialektgeographie Niederösterreichs, so sieht man, daß die einzelnen älteren Erscheinungen durch von Wien ausgehende Neuerungen im Laufe der Zeit nach Norden, Süden und Westen abgedrängt wurden. Das geschah aber früher in der Weise, daß die Neuerungen zunächst von der mobilen und auch sozial höheren Bevölkerung der Kleinstädte und Marktorte aufgegriffen und erst von diesen kleinräumigen Zentren aus im Rahmen des Marktverhaltens von der bäuerlichen Landbevölkerung übernommen wurden (Kranzmayer 1954). Insofern gab es auch schon in früheren Jahrhunderten die in der heutigen Forschung als Basisdialekt und Verkehrsdialekt bezeichneten zwei Dialektvarietäten, zu der bis in die Mitte des 18. Jhs. noch die „Herrensprache“ als weitere dialektale Varietät hinzukam.
5.
Die Entwicklung der oberdeutschen Schriftsprache vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts
Vorbemerkung: Die schriftsprachlichen Entwicklungen in Österreich werden für die Zeit vom 16.⫺ 18. Jh. nur für den bair. Raum behandelt, nicht aber für das zum Alem. gehörende und leider sprachhistorisch unbearbeitete Vorarlberg. Die Grundlagen der Darstellung bildet über genannte Publikationen hinaus das mit Paul Roessler und Thomas Brooks betriebene, gleichnamige Forschungsprojekt.
5.1. Die Ausgangssituation am Anfang des 16. Jahrhunderts Am Beginn der Neuzeit stand in Österreich wie in anderen deutschsprachigen Gebieten eine mit dem gesprochenen Dialekt verbundene Form der tradierten frühnhd. Schreibsprache in Gebrauch. Es war die bair.-obd. Schreibsprache mit charakteristischen, doch zum Teil variabel gehaltenen Eigenschaften. Schon seit dem ausgehenden 14. Jh., hatten sich in Wien mit dem nieder- und oberösterreichischen Donauraum zwei schreibsoziologische Schichten ausgebildet. Während die
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
bairisch-dialektale Schreibform eine Reihe basisdialektaler Eigenschaften festhielt, mied diese die bairisch-neutrale Schreibform (Wiesinger 1971). Die Wiener Stadtkanzlei verfügte im 15. Jh. über einen in sich ziemlich festgefügten bairisch-neutralen Schreibusus (Ernst 1994, 1995). Dagegen variierte der Schreibgebrauch sowohl in den Klöstern als auch in der erzherzoglichen und kaiserlichen Kanzlei der Habsburger. Große Außenwirkung erreichte ab etwa 1500 die sich bairischneutral verhaltende Hofkanzlei Kaiser Maximilians I. (1493⫺1519), die sowohl für die habsburgischen Erbländer als auch das Reich zuständig war und von Innsbruck aus besonders den sdt. Raum beeinflußte (Moser 1977, 1978). Der Schlesier Fabian Frangk nannte 1531 in seinem „Cantzley und Titel büchlin“ sie und die ihr folgende Augsburger Drucksprache von Johann Schönsberger sowie die Schriften Martin Luthers als „die emendirsten und reinisten“, so daß man „inen in dem, was anzunehmen und recht ist, nachfolge“ (Müller 1882, 94). Seit Beginn des 16. Jhs. gewann sehr rasch der Buchdruck an Bedeutung, indem auf diese Weise nicht nur die vervielfältigten Schriften einem größeren Leserkreis schnell bekannt wurden, sondern sich auch ihr Verbreitungsradius vergrößerte. Beides wurde für die Entwicklung einer größere Räume erfassenden und in ihren Formen verbindlich werdenden Schriftsprache von großer Bedeutung. In Österreich kam der dt. Buchdruck wie überhaupt das Druckwesen nur zögernd auf (Durstmüller 1982). In Wien begann der Buchdruck zwar 1482 und richtete der aus Kreuznach im Mittelrheingebiet zugewanderte Johannes Winterburger von 1492⫺1519 die erste feste Offizin ein, aber erst der aus (Alt)ötting stammende und von 1510⫺45 wirkende Bayer Johann Singriener der Ältere, pflegte neben weiterhin lat. Werken einen stärkeren dt. Buchdruck. Obwohl sich im Wiener Druckwesen zunehmend Seßhaftigkeit und Bodenständigkeit einstellten, erfolgte jedoch ständig der Zuzug sowohl von Meistern als auch von Gesellen. In den anderen öst. Städten konnte der Buchdruck erst später Fuß fassen. Es war zunächst Innsbruck 1549 mit Rupprecht Höller, dem Graz 1559 mit Alexander Leopold folgte, der dort für die protestantischen Landstände arbeitete. Erst im 17. Jh. folgten Linz mit dem 1615 aus Erfurt bzw. Nürnberg zugewanderten Johannes Planck, während in
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Klagenfurt der aus Linz abgewanderte Johann Paltauf seine Drucktätigkeit erst 1640 aufnahm. In Salzburg wirkte zwar 1550⫺57 der aus Rothenburg ob der Tauber zugewanderte Drucker Hans Baumann, aber von 1557⫺92 gab es zur Zeit der heftigen Religionskonflikte zwischen dem katholischen Erzbischof und den protestantischen Stadtbürgern keine Druckerei. Erst mit Konrad Kürner setzte 1592 die regelmäßige Verlagstätigkeit ein. Auf diese Weise kann die Entwicklung der Druckersprache in Österreich kontinuierlich zunächst nur in Wien, ab der 2. Hälfte des 16. Jhs. auch in Innsbruck und Graz, und erst ab dem 17. Jh. in Salzburg, Linz und Klagenfurt verfolgt werden. Dabei ist es sinnvoll, in erster Linie die Werke bodenständiger Autoren zu betrachten, denn die Setzer bestimmten zwar weitgehend die Schreibform, hielten sich dabei aber sichtlich großteils an die Vorlagen der Autoren. Das geht vor allem daraus hervor, daß aus anderen Sprachgebieten zugewanderte Autoren über Schreibformen verfügten, die ihren Herkunftsgebieten entsprachen und nur teilweise dem hiesigen Usus angepaßt wurden. Auf diese Weise aber kam es in Verbindung mit importierten Druckschriften und auch zugewanderten Verlegern und Setzern allmählich zu schriftsprachlichen Ausgleichsvorgängen. Der zeitlich an der Spitze stehende Wiener Buchdruck hielt sich in seinen Anfängen im 1. Viertel des 16. Jhs. weitgehend an die bair.dialektale Schreibvarietät (Wiesinger 1999). Zu den charakteristischen Eigenschaften gehören im Vokalismus die Trennung der Entsprechungen von mhd. ˆı und ei als <ei/ey> und wie ‘Zeit’ und <prait> ‘breit’ und von mhd. ie ⫺ uo und Dehnungs-ı¯ -u¯ als ⫺ und ⫺ wie ‘Liebe’ ⫺ <siben> ‘sieben’, ‘genug’ ⫺ ‘Tugend’. Beide Unterscheidungen folgen dem Dialekt mit [ai] : [cB] oder [a:] bzw. [iB] ⫺ [uB] : [i:] ⫺ [u:]. Zwar nicht konsequent, doch sehr häufig werden auch die gesprochenen fallenden Gleitlaute vor r nach mhd. i ⫺ u, die zum Zusammenfall mit mhd. ie ⫺ uo geführt haben, als ⫺ wiedergegeben, z. B. <wier/wir> ‘wir’ ‘nur’. Ebenfalls im Gefolge des Dialekts steht die Beibehaltung von mhd. u und ü vor Nasal, z. B. <sun> ‘Sohn’, <summer> ‘Sommer’, ‘König’ und ebenso in <mügen> ‘mögen’, <müglich> ‘möglich’. Während die neutrale Schreibform für mhd. oˆ und weitgehend für mhd. o vor r und n beibehält, folgt die dialektale Schreibform mit der offenen Aussprache [c], die auch für das stets geschriebene mhd. aˆ und a gilt, z. B. [nc:d] ‘Not’, [wcBt] ‘Wort’, [dc6n] ‘Dorn’, [wc˜ :nB] ‘wohnen’. Die Drucke gebrauchen für mhd. oˆ fast
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XVII. Regionalsprachgeschichte
durchwegs , z. B. ‘Tod’, ‘rot’, und nur vereinzelt , z. B. ‘Not’. Hingegen begegnet in der 1. Hälfte des 16. Jhs. vor r und n noch sehr häufig , z. B. ‘unterworfen’, ‘vor’, ‘gewohnt’. Die Entsprechungen der dialektal stets entrundeten Umlaute von mhd. ü, ö, œ, üe bezeichnet die neutrale Schreibform mit übergesetztem e oder Trema, während die dialektale auf diese Kennzeichnung verzichtet, so daß dann die Unterscheidung von den Velaren schriftlich aufgehoben ist. Es heißt also ‘Übel’, ‘Götter’, ‘böse’, ‘Güte’. Für mhd. üˆ und öü sowie für bair. iu wird <eu/ew> geschrieben, z. B. ‘er verbietet’, nur im Zusammenhang mit für mhd. uˆ steht auch , z. B. <präutigan> ‘Bräutigam’ nach <praut> ‘Braut’, doch wird ohne Umlautanzeigung gemieden. Wie bei für oˆ und o schlägt jedoch in der 1. Hälfte des 16. Jhs. immer wieder noch die dialektale Umlautentrundung durch, so daß sich in Drucken z. B. vereinzelt finden ‘inbrünstig’, ‘Tür’, ‘böse’, ‘du hörst’, ‘Güte’, ‘Freude’, <preytigan> ‘Bräutigam’. Zu diesen im Abbau befindlichen Dialektismen gehören auch vereinzelte Sproßvokale nach r und l vor ch, z. B. <wiricht/wircht ⬃ wuricht/wurcht> ‘wirkt’, ‘durch’, denen sich <weliches/welches> ‘welches’ und <milich/milch> ‘Milch’ (mhd. milich) anschließen.
z. B. nach bair.-mhd. slaˆffen/slaˆf mittelbair. [slcfB]/ [slc:v] ‘schlafen/Schlaf’, aber stets nach bair.-mhd. touffen/touffe mittelbair. [daffB]/[daf] ‘taufen/Taufe’ heißt. Entsprechend sollten regulär auch <schlaffen/schlaf> und geschrieben werden, was zwar weitgehend eingehalten wird, doch kam es in den seltenen einsilbigen Formen vielfach zum analogen Ausgleich und damit auch zur Konsonantenverdoppelung <schlaff>. Die selben Prinzipien herrschen auch bei den Dentalen mhd. zz/z und tt, wofür nach mhd. Langvokalen und Diphthongen <ss> und geschrieben werden, z. B. ‘heißen’ (bair.-mhd. heizzen), ‘leiten’ (bair.-mhd. leitten), während die selben Ausspracheverhältnisse beim Velar mit einheitlichem nicht wiedergebbar sind. Auch die Konsonantenverdoppelung von f nach den Liquiden r und l entspricht der Aussprache, z. B. ‘verwerfen’, ‘helfen’. Schließlich finden sich zu Beginn des 16. Jhs. in den Drucken nur noch Spuren der älteren Austauschbarkeit von an- und inlautenden mhd. w und inlautendem mhd. b z. B. ‘verwerfen’, ‘die lauen Christen’ (mhd. *laˆwele¨ht), ‘gebenedeit’. Keinen eigenen Lautwert besitzt die Graphie für anlautendes mhd. pf, z. B. <emphahen/emphangen> ‘empfangen’, während im In- und Auslaut bereits steht, z. B. ‘kämpfen’, ‘Dampf’. Ebenso verhält es sich mit vereinzeltem anlautenden
statt für mhd. b. Ohne im 16./ 17. Jh. im obd. Raum Leitvarietät zu werden, äußerte sich der omd. Einfluß im etappenwei-
2980 sen Rückgang einzelner bair.-obd. Schreibgewohnheiten. Zunächst war es um 1525 jedoch weniger das Omd. als vielmehr die Aufgabe der bair.dialektalen Erscheinungen zugunsten der bair.-neutralen Schreibweise nach dem Vorbild der bair. kaiserlichen Kanzleisprache. So wurden aufgegeben für mhd. o vor r und n zugunsten von und die Nichtbezeichnung der Umlaute. Dabei wurde oftmals sogar <eü> für mhd. üˆ verwendet z. B. ‘Kreuz’, während die zunächst verbleibende Diphthongwiedergabe e für mhd. üe nur als eindeutig war, nicht aber e als , das auch als Variante von für mhd. e e uo stand, z. B. ‘gütiglich’ e und ‘gut’. Nicht länger fortgesetzt wurden die Diphthongwiedergaben ⫺ vor r. Ferner verzichtete man auf die Sproßvokale und das anlautende für mhd. pf, so daß nun einheitliches galt, z. B. <empfahen/empfangen>, ‘kämpfen’, weil nun unter humanistischem Einfluß für griech./lat. Entlehnungen benötigt wurde. Ebenso vermehrte sich unter solchem Einfluß anlautendes
zugunsten von , und ebenso ging das aussprachefremde stark oder gänzlich zurück. Gegen das Jahrhundertende war auch die Wortform zugunsten von rückläufig.
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
Was nun entscheidend zunahm, war die Großschreibung der Substantiva. Waren es anfänglich, von Satzanfängen, Personennamen, der Gottesbezeichnung und Ortsnamen abgesehen, nur einzelne, im Satzzusammenhang inhaltlich wichtige Begriffe, die knappe 3 % ausmachten, so begann man um 1530 in semantisch motivierter Weise auch Bezeichnungen von Ämtern, Titeln, Institutionen, Organisationen und Berufen groß zu schreiben. Das aber führte bald zum Verfließen zwischen der Vorstellung der einzelnen Vertreter und der allgemeinen Gattungsbezeichnung wie auch zwischen Konkreta und Abstrakta, so daß nun Substantive insgesamt in unregelmäßiger Weise groß geschrieben wurden. Lag in Wien die um 1550 noch weitgehend semantisch motivierte Großschreibung bei etwa 50 %, so steigerte sie sich in allgemeiner Weise auf rund 80 % am Jahrhundertende (Wiesinger 1999, 262 ff.). Was das flexivische -e in der Morphologie betrifft, so kam es allmählich auf, obwohl weiterhin die dialektkonformen -e-losen Formen vorherrschten. Besonders davon betroffen waren in geringerem Ausmaß die starken Plurale und stärker der Singular der Feminina wie z. B. <würde> ‘Würde’. ‘Gnade’. Während beim Verbum die 1. Person Singular vielfach ohne -e blieb, z. B. , erhielt es öfters der Konjunktiv der 3. Person Singular, z. B. <er habe>, <er solle>, und der Imperativ Singular schwacher Verben, z. B. . Im schwachen Präteritum setzte sich nun von der 3. Person Singular aus etwa für ‘er sagte’, die Form <er saget> gegenüber dem Präsens <er sagt> durch. Neu kam in der 2. Hälfte des 16. Jhs. hyperkorrektes -e im starken Präteritum der 1. und 3. Person Singular auf, z. B. <er sahe> ‘er sah’, <er gabe> ‘er gab’ und ebenso beim Artikel deme und bei den Pronominalformen ihme, ihne (Wiesinger 1999, 264 ff.).
Für die Zeitgenossen waren derartige schriftliche Veränderungen unter dem Einfluß des Omd. offenbar tiefgreifend. So schrieb 1567 der Bischof Urban von Gurk, der damals die ein Jahr zuvor in Wien als Administrator der Diözese gehaltenen Predigten „Gaistliche Kriegsrüstung … wider … den Türckhen“ auf allseitiges Drängen gegen seine Absicht drucken ließ, daß er „alsbald zwischen der lebendigen Stimm vnd dem todten Buchstaben ain solche merckliche vndterschied befunden, daß es mich selbst für ain gantz frembd ding angesehen, also daß ich nicht übel bedacht gewest, … von solchem fürnemen nachmals abzulassen“. Insgesamt aber blieb bei nun
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starker, von Druck zu Druck schwankender Variabilität das bair.-obd. Gepräge erhalten. Nur protestantische Drucker in Niederösterreich und Wien nahmen sich um 1570 das Omd. zum unmittelbaren Vorbild und ließen dementsprechend auffällig bair.-obd. Erscheinungen zugunsten omd. Verhaltens fallen. Die 1552 einsetzende Gegenreformation hielt insgesamt trotz unterschiedlich starker einzelner omd. Einflüsse sichtlich am Bair.-Obd. fest, so daß auch die schriftlichen Entwicklungen in die Auswirkungen der konfessionellen Gegensätze gerieten. 5.3. Die soziokulturellen Entwicklungen im wiederhergestellten Katholizismus des 17. Jahrhunderts Die soziokulturellen Voraussetzungen für die schriftsprachlichen Entwicklungen im 17. Jh. waren vierfacher Art. Zunächst griff zu Beginn des Jahrhunderts beim städtischen Bürgertum und bei einem Großteil der bäuerlichen Bevölkerung die Rekatholisierung der Gegenreformation, der der Adel ab 1628 allmählich folgte. Von 1618⫺48 aber erfaßte auch Österreich der durch Glaubensfragen ausgelöste Dreißigjährige Krieg. Über Plünderungen und Not hinaus brachte er sowohl die Handels- als auch die Kulturbeziehungen zum Erliegen, was für den Buchdruck Papiernot, Rückgang der Produktion und Nachlassen der Gesellenwanderung zur Folge hatte. Zugleich aber erleichterte dies den Jesuiten die Zensur und Kontrolle und begünstigte auch die innere Festigung des neuen konservativen Katholizismus, was vor allem in Wien durch die Ansiedlung von nicht weniger als 11 neuen Ordensgemeinschaften unter den Kaisern Matthias (1608⫺19) und Ferdinand II. (1619⫺37) starke Unterstützung erhielt. Ab der Jahrhundertmitte nahmen nicht nur die Predigt und ihre Drucklegung in Einzelexemplaren zu bestimmten Anlässen und als zyklische Sammlungen zu, so daß diese religiös wie ethisch-moralisch erziehende Textgattung zur wichtigsten Literatur wurde, sondern es begannen trotz der klaren konfessionellen Abgrenzung gegen das protestantische Mittel- und Norddeutschland wieder weitreichendere Kulturbeziehungen. Dazu gehörte trotz Zensur vor allem das Bekanntwerden mitteldeutsch-norddeutscher literarischer wie wissenschaftlicher Werke bei den Gebildeten, was die eingeengten Bildungshorizonte wieder zu erweitern begann. Literarisch Interessierte knüpften vor allem Beziehungen zu der 1617 gegründeten „Fruchtbringenden Gesell-
2982 schaft“, zu deren Mitgliedern nicht weniger als 30 Österreicher zählten, darunter die Schriftsteller Matthias Abele (1616⫺77), Wolfgang Helmhard von Hohberg (1612⫺88) und Johann Wilhelm von Stubenberg (1619⫺ 63). Schließlich erfolgte auch wieder die Fluktuation von Druckern, und dies besonders in Wien. So kamen im 17. Jh. von 38 Wiener Verlegern 13 von auswärts und darunter 8 aus Mittel- und Norddeutschland und den Niederlanden, was nicht ohne Einfluß auf die Schriftsprache blieb. Ausdruck eines sich anbahnenden neuen, vom Katholizismus getragenen Lebensgefühles ab der Jahrhundertmitte wurde nun das Barock. Aber die sich gegen 1680 in Ostösterreich und besonders in Wien zuspitzende Türkengefahr hemmte zunächst seine Anfänge. Zur Entfaltung gelangte das Barock erst nach dem Wiener Türkenkrieg von 1683 und das dann bis über die Mitte des 18. Jhs. mit Neu- und Umbauten von Schlössern, Palais, Kirchen und Klöstern sowie mit höfischem und kirchlichem Prunk, festlichen Opernaufführungen und Konzerten. Zunächst wirkten auf allen Gebieten besonders Künstler aus Italien, denen bald heimische folgten, doch verbrachten sie Studienaufenthalte in Italien. Die prunkvolle Ausschmückung der Kirchen und feierliche Gottesdienste und Prozessionen mit liturgischer Prachtentfaltung standen in bewußtem Gegensatz zur Nüchternheit des Protestantismus. Erst die ab 1750 zunehmende Aufklärung führte zum allmählichen Rückgang bis schließlich Kaiser Joseph II. (1780⫺90) im Übereifer seiner Reformen dem barocken Lebensstil im kirchlichen wie im weltlichen Leben ein Ende setzte. 5.3.1. Schriftsprachliche Veränderungen im 17. Jahrhundert Die sich bis in die ersten Jahrzehnte des 17. Jhs. fortsetzende sukzessive Rücknahme charakteristischer bair.-obd. orthographischer und morphologischer Charakteristika zugunsten omd. erfuhr während des Dreißigjährigen Krieges im 2. Viertel des 17. Jhs. eine deutliche Retardierung. Vor allem stiegen für mhd. ei und für mhd. uo wieder auffällig an und ging das ohnedies schwankend gebrauchte für mhd. Dehnungs-ı¯ merklich zugunsten von zurück. Obwohl nicht völlig parallel, traten nun und in Wien mit etwa 35 %, in Graz mit 55 % und in Klagenfurt, Innsbruck und Linz mit 45 % wieder auf. Dagegen läßt sich in Salzburg kein Anstieg beobachten,
XVII. Regionalsprachgeschichte
weil Erzbischof Max Gandolph die protestantischen Stadtbürger weitgehend gewähren ließ, um die Stadt möglichst aus dem Dreißigjährigen Krieg herauszuhalten. Somit erfolgte in der Schriftsprache neuerlich eine stärkere Anlehnung an die dialektalen Eigenschaften der gesprochenen Sprache und lebten in dieser handschriftlich fortbestehende ältere Traditionen wieder auf. Ursache dafür war in erster Linie die strikte Ablehnung des Protestantismus, so daß die Schriftsprache auf Grund der regionalen religiösen Gegensätze konfessionalisiert und eine Gleichsetzung von bair.-obd. mit „katholischer“ und omd. mit „protestantischer“ Schriftsprache erfolgte (Wiesinger 2000). Zwar sind diesbezügliche zeitgenössische Äußerungen bislang kaum bekannt, aber die Auseinandersetzungen des Innsbrucker Jesuiten Michael Staudacher mit der Zensur 1661 und der Zurückweisung seiner Schriften wegen des Gebrauches der omd.-protestantischen Sprachform als ketzerisch sprechen eine deutliche Sprache (Eder 1966, 268 ff.). 5.3.2. Der Stand der oberdeutschen Schriftsprache in der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts Mit der Stabilisierung der religiösen Verhältnisse und der Wiederaufnahme geistig-kultureller Beziehungen vor allem intellektuell aufgeschlossener Adeliger nach Mitteldeutschland setzten sich in der 2. Hälfte des 17. Jhs. die schriftsprachlichen Anpassungsverhältnisse an das Omd. erneut fort, indem die genannten bair.-obd. Eigenheiten wieder stark zurückgingen. So verblieben um 1700 mit vor allem , <mainen>, <Mainung>, <Mainaid>, und gelegentlich blieb es in Einzelwörtern ebenso stehen wie . Dagegen variierten von Druck zu Druck weiterhin und für mhd. Dehnungs-ı¯, wozu teilweise und parallel dazu sowohl für mhd. Dehnungs-u¯ als auch für mhd. uo gegen den heutigen Gebrauch hinzutraten, z. B. <spihlen> ‘spielen’, , . Auch die semantische Differenzierung von <wieder> ‘nochmals’ und <wider> ‘gegen’ machte sich teilweise bemerkbar. Immer stärke reduzierten sich auch die Beispiele mit bair.-obd. vor Nasalen zugunsten von , aber trotz und <mögen> verblieben bis ins beginnende 18. Jh. immer wieder das Präteritum sowie mit das Adjektiv <müglich> und das Substantiv <Müglichkeit> (Wiesinger 1987, 97). Schon am Ende des 17. Jhs. hatte sich die Großschreibung der Substantive durchgesetzt. Während auch substantivierte Adjektive und
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit Infinitive bereits weitestgehend groß geschrieben wurden, verhielt man sich bei adverbial gebrauchten Substantiven schwankend wie <seiner S/seits>, , . Daß ehrerbietig gebrauchte Adjektiva wie , , , , <Apostolisch>, usw. groß geschrieben wurden, gehörte zum Stil der Zeit (Wiesinger 1987, 90 ff.).
Hinsichtlich der Morphologie verblieb weitgehend die e-Apokope im Dativ Singular starker Maskulina und Neutra und im Nominativ und Akkusativ Plural der Maskulina. Dagegen nahm am Beginn des 18. Jhs. der Singular der Feminina deutlich das -e an, z. B. , <Stärke>, . Ebenso begann man die Plurale der ehemaligen femininen i-Stämme wie , und den Nominativ und Akkusativ Singular der neutralen ehemaligen jaStämme wie <Ende>, <Erbe> mit -e zu kennzeichnen, so daß sich die letzteren deutlich von den schwachen Maskulina ohne -e unterschieden wie , . Beim Artikel <dem> und bei den Personalpronomina , ging das -e jedoch schon in der 2. Hälfte des 17. Jhs. stark zurück. Am auffälligsten und längsten hielt es sich hier in den Konjunktionen , . Dagegen stand es weiterhin in großem Umfang als zusätzliches Kennzeichen im Singular der 1. und 3. Person Indikativ des Präteritums der starken Verben, z. B. , und begann erst im 18. Jh. abzunehmen. Ähnlich verhielt sich der Imperativ der 2. Person Singular starker Verben mit -e, z. B. <schweige>, , . In der 1. Person Präsens starker Verben wurden ab der 2. Hälfte des 17. Jhs. anstatt der mündlich verbliebenen Formen mit Vokalwechsel wie ich nimm, ich brich nun die omd. , aufgegriffen, und Paradigmen ohne Vokalwechsel sowie die schwachen Verben erhielten bloß das -e wie , , (Wiesinger 1987, 97 ff.).
Trotz dieser sukzessiven Anpassungen der obd. Schriftsprache an die omd. wäre es angesichts der fortdauernden konfessionellen Gegensätze unrichtig, vom Omd. als einer in seiner Gesamtheit vorbildlichen Leitvarietät zu sprechen. Vielmehr blieben zahlreiche bisher nicht genannte bair.-obd. Eigenheiten bis ins 18. Jh. bestehen, so daß an der Existenz einer obd. Schriftsprache nicht zu zweifeln ist. Das war dann ab 1730, als von Wien aus die Diskussion um die Reform der Schriftsprache begann, auch deutlich bewußt, und man stufte sie in Wien als die kaiserliche Schriftsprache ein. Als solche war sie der landesübliche Schreib- und Druckusus, doch beanspruchte man für sie nicht normative Gültigkeit.
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In der 1. Hälfte des 18. Jhs. und besonders in seinen letzten beiden Jahrzehnten galten über die genannten Erscheinungen hinaus folgende schriftsprachliche Eigenheiten (Wiesinger 1983; 1995, 347 ff.): ⫺ Umlautlosigkeit von u vor g, ck, r ⫹ Konsonant und von au vor b, g, m größtenteils in Übereinstimmung mit dem Dialekt, z. B. , <Stuck>, , , , <Burger>, <Burgermaister>, , , , ; ⫺ Doppelfrikative nach gekürzten mhd. Langvokalen und Diphthongen in Übereinstimmung mit dem Dialekt, z. B. , <stossen>, , , , <schliessen>, , <straffen>, , . Ebenso gilt und nun bei -e-Apokope, z. B. <Straff>, , <Buß>, . Oftmals wird nicht nur für mhd. z, sondern auch für mhd. s im Auslaut vereinheitlicht, z. B. nach <Spieß>, auch <Wieß> ‘Wiese’, , . Ebenso steht im Auslaut ff, z. B. <Schlaff>, , ‘Hilfe’; ⫺ Verdoppelung von f in fast allen inlautenden Positionen nach und vor Konsonant, z. B. <werffen>, , , , <Schrifft>, , , ; ⫺ ck nach Konsonant im In- und Auslaut, z. B. <dencken>, <mercken>, , , <Werck>; ⫺ Beibehaltung von mhd. mb und analoge Ausdehnung, z. B. , , , ‘nämlich’, sowie als Gleitlaut in der Lautfolge mt z. B. ‘kommt’, <sambt> ‘samt’; ⫺ Erweiterung von der und den im Genitiv und Dativ Plural zu derer und denen, z. B. <derer Brüder>, <denen Predigern>; ⫺ Verwechslung von ihm/ihn und der Flexive -em/en im Dativ und Akkusativ Singular der Maskulina bzw. Neutra nach dem Dialekt, z. B. <er siehet ihm>, ; ⫺ Gebrauch der starken Flexion des attributiven Adjektivs im Nominativ und Akkusativ Plural, z. B. ; ⫺ Gebrauch der schwachen Flexion des attributiven Adjektivs in der Anrede (Vokativ/Nominativ) im Plural, z. B. ; ⫺ Abstraktsuffix -nuß, z. B. , , . Teilweise vorkommendes -nüß dürfte wegen der gesprochenen Umlautentrundung Kompromißform zu omd. -nis sein; ⫺ die erweiterte Superlativform -iste, z. B. <der grössiste>, <der wenigiste> und danach die Ordinalia der Numeralia auf -ig, z. B. <der zweinzigiste> ‘der zwanzigste’; ⫺ die aus der Kanzleisprache stammenden Adverbialformen auf -o wie , , und <dero> für ‘Ihr’ in Verbindung
2984 mit Titeln, z. B. <dero Majestät>, sowie in <deroselben> und <derohalben>; ⫺ aus dem Dialekt stammendes temporales und konditionales wann und adversatives dann für wenn und denn, z. B. , ; ⫺ auf den Dialekt zurückgehende Einzelformen wie ‘dürfen’, <scharpff> ‘scharf’, ‘heute’, <der mehriste> ‘der meiste’.
Wenn in der dt. Sprachgeschichte der Neuzeit allgemein das Ende der jüngeren frühnhd. Zeit um 1650 mit der Erreichung eines verbindlichen Zustandes der nhd. Schriftsprache in Mittel- und Norddeutschland angesetzt wird, so trifft dies nicht zu für den obd. Süden. Hier bestand vielmehr, wie sich zeigt, die Verbindlichkeit der bair.-obd. Schriftsprache bis in die Mitte des 18. Jhs., so daß auch die weiterhin durch Variabilität gekennzeichnete jüngere Periode des Frühnhd. bis dahin fortdauerte (Penzl 1988, 2; Reiffenstein 1988, 27; Wiesinger 1983, 243; 1990 b, 410 f.). 5.3.3. Syntaktische Entwicklungen vom 16.⫺18. Jahrhundert Obwohl hinsichtlich schriftsprachlicher Entwicklungen die Orthographie und Morphologie wegen ihrer Auffälligkeit im Vordergrund der Betrachtung stehen, zeigt auch die wesentlich komplexere Syntax Wandlungen. Für die öst. Sprachgeschichte sind hier die Unterschiede gegenüber dem Omd. von besonderem Interesse. Allgemein charakteristisch für die Zeit ist das komplexe Satzgefüge mit mehreren Nebensätzen, auch Hauptsätzen und Schaltsätzen. Legt man deshalb als Einheit den Elementarsatz zugrunde und betrachtet an vier ausgewählten Texten die Entwicklung im 17. und 18. Jh., so liegt in österreichischen Texten der Hypotaxenanteil um 1630 bei 55 % und reduziert sich auf rund 48 % um 1730. Zugleich geht das Satzgefüge mit 4 Elementarsätzen mit rund 15 % um 1630 nach 100 Jahren auf die Hälfte zurück. Entsprechend steigen die Satzgefüge mit 2 Elementarsätzen von rund 47 % auf 53 % und mit 3 Elementarsätzen von 29 % auf 31 %, so daß allmählich eine Vereinfachung des Satzbaues erfolgt (Brooks 1998, 30 ff.). Deutliche Unterschiede zwischen dem Obd. und dem Omd. bestehen bei der Abfolge der Glieder im zweigliedrigen Verbalkomplex des Spannsatzes. Während in beiden Gebieten bereits im 16. Jh. die Normalabfolge Infinitum vor Finitum (IvF) dominiert, z. B. wie übel es ihnen in Teutschland ergangen
XVII. Regionalsprachgeschichte seye, steigen im Obd. des 17. Jhs. die schon weitgehend überwundenen Abfolgen FvI und F…I, also … seye ergangen und wie übel es ihnen seye in Teutschland ergangen, wieder deutlich an. Liegt ihr Anteil um 1560 bei 11: 4 %, so macht er um 1660 21: 5 % aus, um erst wieder im 18. Jh. um 1720 auf 7 : 4 % abzusinken. Es ist vorwiegend die katholische Predigt des 17. Jhs., in der FvI und F…I zusammengenommen teilweise bis zu rund 80 % erreichen, so daß hier die Konfessionalisierung des Obd. besonders deutlich hervortritt.
Ähnlich textsortenabhängig erweist sich bezüglich des Satzrahmens die Ausrahmung vor allem von Subjekten, Objekten und Gleichsetzungsgliedern. Faßt man geistliche und profane Texte zusammen, so zeigt sich im Obd. eine klare Entwicklungslinie, indem zwischen 1530 und 1600 ein Rückgang von 30 % auf 16 % erfolgt. Dagegen nimmt die Ausklammerung besonders in der 2. Hälfte des 17. Jhs. bis 1690 wieder auf 20 % zu und sinkt dann im 18. Jh. neuerlich ab, um schließlich 1765 mit 9 % ihren niedrigsten Stand zu erreichen. Trennt man geistliche und profane Texte, so verlaufen die Kurven zwar parallel, aber die Textsortenabhängigkeit tritt mit 46 : 22 : 34 :16 % bei geistlichen und mit 13 : 7 : 6 : 2 % bei profanen Texten deutlich hervor, wobei der Anstieg in 2. Hälfte des 17. Jhs. bei profanen Texten klarer wird, wenn man den Anteil von 11 % um 1660 einbezieht. Die Ausrahmung erweist sich daher in erster Linie als ein rhetorisches Mittel der Predigt, z. B. dises Brautkleyd ihr anzulegen, ist von Himmel erschinen Joannes der Tauffer.
Der durchgängigen Konfessionalisierung im 17. Jh. unterliegen die wenig frequenten Phänomene der tun-Periphrase, der Mehrfachnegation und der Prolepse bzw. Linksversetzung wie z. B. hingegen thut dem Nutznießer obligen; er richt auch nimer nichts guets aus; die Freund hätten niemandt kein Gehör geben; ein krancker, je klerer vnd pesser er dem arzt dy kranckhait anzaigt, ye pesser wirt er gesundt. Hier läßt sich ein Entwicklungsablauf in 3 Phasen beobachten: Alle 3 Phänomene gelten im 16. Jh. überall. Während sie im 17. Jh. im Omd. bis zur völligen Aufgabe rückläufig sind, nehmen sie im Obd. im Sinne der Konfessionalisierung zu, um schließlich im 18. Jh. auch hier rasch zurückzugehen. Allgemein konservatives Verhalten zeigt das Obd. bei relativem so, z. B. dy groß lieb vnd gunst, so er gehabt zw vnß menschen. Während es im Omd. schon im 17. Jh. stark rückläufig ist, verbleibt es im Obd. bis in die 2. Hälfte des 18. Jhs. Ähnlich verhält sich die obd. Konjunktion dann (omd. denn). Während sie im Omd. nur mehr bis etwa in die Mitte des 17. Jhs. auch noch subordinierend
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
und dann fast nur mehr koordinierend verwendet wird, hält sich der subordinierende Gebrauch im Obd. noch bis ins 18. Jh., z. B. dann es lest vns Gott etwo gern zimlich tieff in die gefahr kommen gegenüber Zur Zeit aber deß Heil. Bertholdi ist dieser Löw zu einem Haasen worden, dann gar offt der Heil. Abbt die böse Geister auß denen besessenen Personen mit einem kleinen Gebet in die Flucht gejagt. Daran angeschlossen werden kann die kausale Konjunktion da, die sich im Omd. im 17. Jh. etabliert, im Obd. aber erst im 18. Jh. Dagegen verhalten sich in sprachgeographischer Hinsicht die finalen Konjunktionen umgekehrt, indem im Omd. daß und auf daß bis ins ausgehende 17. Jh. dominant bleiben, während sich das jüngere damit zu dieser Zeit im Obd. schon durchgesetzt hat, z. B. daß wir hier nit von der Herstrassen der Wahrheit abgeführet werden, weiset uns ein blinde den Weeg; auff daß nu Josue den schandflecken abwischet, befilcht er … gegenüber damit sie nun solche gedancken auß dem sinn schlügen, tröst sie der Herr. Schließlich ist als obd. Phänomen das dialektkonforme Perfekt als Erzählzeit der Vergangenheit hervorzuheben, obwohl schriftlich das Präteritum nie ganz aufgegeben wurde. Werden nach ausgewählten Texten beide Zeitformen um 1630 mit 47 : 47 % noch gleich stark verwendet, so reduziert sich das Verhältnis um 1730 auf 23 : 49 % zugunsten des zunehmenden Präteritums unter omd. Einfluß, wobei die fehlenden Prozente jeweils auf das historische Präsens entfallen. Rechnet man freilich die steigende Anzahl infiniter Konstruktionen wie so bald er die Stimm des Herrn gehöret [hat] hinzu, fällt der Rückgang des Perfekts allerdings geringer aus (Brooks 1998, 126 ff.).
6.
Die Einführung der allgemeinen deutschen Schriftsprache in Österreich 1750 und ihre Weiterentwicklung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts
Anm.: Zu den Abschnitten 6.1. bis 6.3.1. vgl. Wiesinger 1995.
6.1. Die Anfänge einer deutschen Sprachpflege im 2. Viertel des 18. Jahrhunderts Das Gedankengut der sich seit den letzten Jahrzehnten des 17. Jhs. in Mittel- und Norddeutschland entwickelnden Aufklärung, als
2985
deren Anführer Christian Wolff (1679⫺1754) in Leipzig hervortrat, wurde seit etwa 1720 auch in Wien bekannt, das im 18. Jh. der Mittelpunkt der sprachlichen Reformen in Österreich war. Obwohl der 1712⫺14 in Wien weilende Wilhelm Gottfried Leibniz zwar vergeblich eine Kaiserliche Akademie der Wissenschaften angestrebt hatte, ließ der damit verbundene Gedanke einer durch sie zu erzielenden Schaffung einer einheitlichen dt. Schriftsprache Sprachinteressierte nicht mehr los. So griff der Leibniz verbundene Kaiserliche Rat Carl Gustav Heräus 1721 erneut Leibniz’ Ideen unter dem Titel „Unvorgreifliche Gedanken über die Auf- und Einrichtung einer Teutschen Sprachgesellschaft“ auf, doch scheiterten unter Kaiser Karl VI. (1711⫺40) alle derartigen Pläne am ungebrochenen Widerstand der Jesuiten, die weiterhin das gesamte Bildungswesen beherrschten. Ihnen schrieb auch um 1730 der aus Schwaben stammende protestantische Philologe und Theologe Georg Lizel (1694⫺1761) unter dem Pseudonym Megalissus die immer deutlicher hervortretende kulturelle Konservativität, ja Rückschrittlichkeit des obd. Südens gegenüber dem protestantischen Norden zu, wo die Ideen der Aufklärung nicht nur der Philosophie und Literatur, sondern überhaupt dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben großen Aufschwung brachten. Die ersten, die die mißliche sprachliche Lage mit gesprochenem Dialekt auch in den höchsten Gesellschaftsschichten, doch wenig Interesse an einer dt. Schriftsprache, dafür aber um so mehr Streben nach Erlernung von Fremdsprachen, nämlich Latein für Wissenschaft und Gelehrsamkeit, Französisch für Diplomatie, galante Konversation und schöngeistige Literatur sowie Italienisch für Musik und Oper, als nachteilig erfuhren, waren die Hauslehrer des Adels und des gehobenen Bürgertums. Als erster beklagte sie der aus dem Südschweizer Wallis 1715 nach Wien als Fremdsprachenlehrer gekommene Johann Max. Er ging vom Grundsatz aus, daß zuerst die Regeln der deutschen Muttersprache vollkommen gelernt und beherrscht werden müssen, um als Grundlage und Schlüssel zur Erlernung der Grammatik einer Fremdsprache dienen zu können. Diese Anschauungen legte dann Max, nachdem er 1720 seine Lehrtätigkeit an die Ritterakademie Liegnitz in dem damals zu Österreich gehörenden Schlesien verlegt hatte, 1728 in seinem Lehrbuch „Teutscher Schlüssel zu allen Sprachen oder Grund-Sätze der Teutschen Sprache und Vor-
2986 bereitung zu allen anderen“ nieder. Mit Max wirkte im selben Geist und mit gleicher Methodik seit 1717 in Wien der aus Niederbayern stammende Johann Balthasar Antesperger (1682⫺1763), der 1721 Reichshofratsagent wurde. Neben Max beeinflußten Antesperger aber entscheidend die neuen Ideen des ganz der Aufklärung verpflichteten Leipziger Poetologen und Philosophen Johann Christoph Gottsched (1700⫺66). Dieser hatte seit 1725 moralische Wochenschriften in neuem sprachlichen Ausdruck mit klarer, einfacher Syntax und unprätentiösem, schlichtem Stil veröffentlicht, 1728 die Rhetorik „GrundRiß einer vernünftigen Rede-Kunst“ vorgelegt und war 1729 mit seiner viel diskutierten Poetologie „Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen“ schlagartig berühmt geworden. Gottscheds auch in der Folgezeit weiterentwickelte sprachpflegerische Ziele waren vierfacher Art: ⫺ die Sprachgeltung des Deutschen und seine Durchsetzung als nationale Sprache in allen Lebensbereichen und somit an Stelle von Fremdsprachen und bei Vermeidung von Fremdwörtern; ⫺ die dafür erforderliche Schaffung einer normierten, allseits verbindlichen Schriftsprache, des „Hochdeutschen“, nach dem Gebrauch der besten Schriftsteller und damit nach der omd., in Sachsen und in Norddeutschland geltenden Form; ⫺ die Beseitigung landschaftlicher Unterschiede im Gebrauch der Schriftsprache durch Durchsetzung der hd. Sprachnorm in allen deutschsprachigen Gebieten; ⫺ die Entwicklung eines deutlichen, klaren und verständlichen sprachlichen Ausdrucks mit übersichtlichem, einfachem Satzbau und schlichtem Stil in der Prosa und durchaus mit dichterischen Freiheiten in der Poesie.
Seine Lehrgrundsätze einer dt. Grammatik und Schreibart legte Antesperger mit Gunst Kaiser Karls VI. für Beamte, Schulen, Buchdrucker und alle, die mit Schreiben zu tun hatten, 1734 in Form eines großen, für den Anschlag bestimmten Blattes als „Die Kayserliche deutsche Sprachtabelle zur Verbesserung der deutschen Sprache, und zum einhellig nutzlichen Gebrauch des ganzen Teutschlands“ vor, die, wie der Titel besagt, nicht bloß für Österreich gedacht war. Aber weil sie weitgehend am „kaiserlichen“ und damit am zeitgenössischen obd. schriftsprachlichen Gebrauch orientiert war, konnte sie trotz Antespergers brieflichen Bemühungen weder die Zustimmung Gottscheds finden, noch war Antesperger an Gottscheds Absichten einer Vereinheitlichung der dt. Schriftsprache nach
XVII. Regionalsprachgeschichte
omd.-nrddt. Vorbild interessiert. 1738 ergänzte der inzwischen um seine Verdienste zu von Antesperg Geadelte seine Sprachtabelle um die beiden schmalen Bändchen „Das deutsche Kayserliche Schul- und CanzeleyWörterbuch“, das „die bekannteste und gemeineste Wörter der vortrefflichen deutschen Muttersprache, derselben Erklärung, Gattung, Geschlecht, Pluralisation, Declination, und Conjugation, wie auch eigentliche, verblümte, sprichwörtliche und scherzhafte Redensarten“ enthielt. Wegen seiner auswählenden Beschränkung auf Wörter hauptsächlich mit dem Stammvokal a aber war es für die erforderliche breite Information ebenso wenig geeignet, wie durch die Angabe von Alternativformen. Sie stammten einerseits aus dem bair.-obd. und andererseits aus dem omd. Usus, wenngleich schon weitgehend die orthographischen Empfehlungen aus Hieronymus Freyers erfolgreicher „Anweisung zur Teutschen Orthographie“ (Halle 1722) und da besonders die Aufgabe der nicht eine vokalische Kürze anzeigenden Konsonantenverdoppelungen beachtet wurde (Wiesinger 1997; 1999 a). Während das angekündigte vollständige Wörterbuch nie erschien, baute Antesperg seine Grammatik aus und publizierte sie 1747 als „Die Kayserliche Deutsche Grammatick Oder Kunst, die deutsche Sprache recht zu reden, Und ohne Fehler zu schreiben“. Zwar war sie zum Augenblick in Wien ein Erfolg und konnte 1749 neu aufgelegt werden, aber im dazwischen liegenden Jahr 1748 erschien in Leipzig Gottscheds „Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst, Nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts abgefasset“. Während die Zeitgenossen Antespergs Grammatik die Ausrichtung nach bisher gültigen obd. Grundsätzen bescheinigten und deren regionale Eignung für Österreich durchaus würdigten, erfüllte sie jedoch nicht die inzwischen an die Schriftsprache von einer jüngeren Generation auch in Österreich gestellten Ansprüche, die jene jedoch in der klaren Normausrichtung und Eindeutigkeit von Gottscheds Grammatik verwirklicht sah. Die sich nun durchsetzende Theorie der Aufklärung, wie sie dann 1751 Justi in seiner Wiener Antrittsvorlesung „Von dem Zusammenhang der Vollkommenheit der Sprache mit dem Blühenden Zustand der Wissenschaften“ am Theresianum vortrug, sah nämlich in der Sprache das Mittel zum Denken, das um so besser möglich war, je elaborierter und präziser der sprachliche
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
Ausdruck war. Aber nur eine vervollkommnete, logische und in normative Regeln gefaßte Sprache war geeignet, durch geschärftes Denken in den Wissenschaften den erstrebten Fortschritt zu erzielen, um damit als Endzweck aller Wissenschaften der Gesellschaft „Glückseligkeit“, also Gemeinwohl zu erwirken (Wiesinger 1997 a, 733 ff.). Diese Leistungsfähigkeit attestierte man nun Gottscheds Grammatik. 6.2. Die Durchführung der Sprachreform in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts unter dem Einfluß der Werke Gottscheds Die jüngeren, fortschrittlichen Hofkreise um Kaiserin Maria Theresia (1740⫺80), voran der selber als Dichter wirkende Hofrat Franz Christoph von Scheyb (1704⫺77), setzten sich nun dafür ein, Gottsched für eine kaiserliche Sprachakademie zu gewinnen, was sowohl am protestantischen Bekenntnis Gottscheds aber auch am weiterhin bestehenden Widerstand der Jesuiten scheiterte. Aber Gottscheds Besuch 1749 in Wien war insofern nicht vergebens, als sich die Kaiserin 1750 entschloß, an ihrer 1746 gegründeten Theresianischen Akademie zur Ausbildung junger Adeliger für den diplomatischen Dienst eine Professur für deutsche Beredsamkeit einzurichten. Zwar war eine solche Aufgabe für den berühmten Gottsched zu gering, aber statt ihm konnte für vier Jahre der seine sprachlichen Grundsätze durchführende, vielseitig als Kameralist, Jurist, Ökonom, Naturwissenschaftler und Literat tätige Thüringer Johann Heinrich Gottlob Justi (1720⫺72) gewonnen werden. Nach Gottscheds Grammatik und der dem Kronprinzen und nachmaligen Kaiser Joseph II. gewidmeten 4. Auflage der „Ausführlichen Redekunst“ von 1750 unterrichtete Justi nicht nur den orthographisch und grammatikalisch richtigen Gebrauch der dt. Sprache, sondern auch deren kameralistische Anwendung in den verschiedensten Briefmustern, die er 1755 als „Anweisung zu einer guten Deutschen Schreibart“ in Leipzig herausbrachte. 1753 wurde für die Studenten der Universität eine weitere derartige Professur eingerichtet und dem aus der Südsteiermark stammenden, sich ebenfalls mit Sprachfragen befassenden Johann Sigmund Valentin Popowitsch (1705⫺74) anvertraut, dem die Kaiserin auch den Auftrag zur Abfassung einer praktischen Schulgrammatik erteilte. Da Popowitsch jedoch ein Gegner des in Sprachfragen allseits anerkannten Gottscheds war
2987
und durch seine heute geringfügig erscheinenden grammatischen Abweichungen von Gottsched den Zorn der Wiener Gottschedianer herauf beschwor, blieben sowohl seine umfängliche Grammatik „Die nothwendigsten Anfangsgründe der Teutschen Sprachkunst“ von 1754 als auch die gleichnamige Kurzfassung ziemlich erfolglos, wozu sein kauziges Gebaren und seine wenig ansprechende Lehrart noch verstärkend hinzutraten (Faninger 1996). So verflog während der Schlesischen Kriege und durch Justis Abgang bald die anfängliche Sprachbegeisterung, bis 1760 der junge Joseph von Sonnenfels (1733⫺1817) erneut mit Ambitionen zur Verbesserung der dt. Sprache im Hinblick auf Erzielung von Gemeinwohl auftrat (Wiesinger 1997 a, 747 ff.). Mit Gleichgesinnten wurde damals eine dt. Gesellschaft gegründet, aber durch Bekämpfung seitens der Jesuiten bald wieder aufgelöst. Was fortan jedoch nicht mehr zurückzudrängen war, war das stetige Umsichgreifen der neuen Sprachform und damit die auch in Österreich sich praktisch durchsetzende schriftsprachliche Vereinheitlichung in omd.nrddt. Weise, wenn dies auch nicht ganz einfach fiel, wie die Drucke der Umbruchszeit zeigen (Wiesinger 1999 b). Das dafür herangezogene grammatikalische Grundlagenwerk war die Kurzfassung von Gottscheds Grammatik als „Kern der deutschen Sprachkunst“ von 1753, die auch in Wien mehrfach nachgedruckt wurde. Weitere eigene Grammatiken, die der allgemeinen dt. Schriftsprache dienten und zu ihrer Verbesserung beitragen sollten, waren 1758 die „Kurzgefaßte Deutsche Sprachlehre“ des Geschichts- und Deutschlehrers an der Ingenieur-Akademie in WienGumpendorf Friedrich Wilhelm Gerlach; 1768 die „Anleitung zur deutschen Rechtschreibung“ des als Kameralist tätigen Vorderösterreichers Franz Joseph Bob, der dann ins österreichische Freiburg im Breisgau ging und dort 1771 mit „Die nöthigsten Grundsätze der deutschen Sprachkunst“ für die Neuregelung der Schriftsprache sorgte und 1778 für die vorderösterreichische Schulreform daraus einen „Auszug“ anfertigte; sowie 1764 in Innsbruck in Tirol die sprachkritische Schrift „Zweifel von der deutschen Sprache“ des Jesuiten und Orientalisten Ignaz Weitenauer, die Einzelprobleme diskutierte und bis 1778 vier weitere Auflagen erlebte (Roessler 1997). Nicht zu übersehen ist für die Durchsetzung der nun allgemein verbindlich werdenden dt. Schriftsprache auch die Vorbild-
2988 wirkung anspruchsvoller Schriften und literarischer Werke. Während 1762 der im Verlagswesen und als Schriftsteller wirkende Sachse Christian Gottlob Klemm (1736⫺1802) mit „Die Welt“ in Wien die nicht mehr abreißende Kette moralischer Wochenschriften für ein gebildetes Lesepublikum nach den Sprachzielen Gottscheds eröffnete, sorgte der Wiener Verleger Johann Thomas (von) Trattner (1717⫺98) für den allerdings umstrittenen Nachdruck und Vertrieb allseits begehrter mittel- und norddeutscher literarischer Werke besonders von Gellert, Gessner, Hagedorn, Haller, Ewald von Kleist, Klopstock, Rabener und Zachariä und bildete seine Setzer in der neuen Sprachform aus. Diese mehrfachen und erfolgreichen Ansätze hätten aber keine Breitenwirkung erzielt, hätte Kaiserin Maria Theresia nicht die 1773 vom Papst verfügte Auflösung des weltweit umstrittenen Jesuitenordens und damit das Freiwerden des von jenem beherrschten Bildungswesens zur Durchführung der allgemeinen Schulreform genützt. Dazu berief die Kaiserin 1774 den in pädagogischen Fragen erfahrenen Abt des Augustinerchorherrenstiftes Sagan im inzwischen an Preußen verlorenen Schlesien Johann Ignaz (von) Felbiger (1724⫺88). Er entwarf nicht nur 1774 die „Allgemeine Schulordnung für die deutschen Normal-, Haupt- und Trivialschulen in den k. k. Erbländern“ und entwickelte im „Methodenbuch für die Lehrer der deutschen Schulen in den k. k. Erbländern“ eine neue, zeitgemäße Art der Pädagogik und Didaktik, sondern er verfaßte 1774/75 auch die Schulgrammatik. Der neuartige Deutschunterricht umfaßte die Schreiblehre im „ABC oder Namenbüchlein“, die Rechtschreibung in der „Anleitung zur deutschen Rechtschreibung“, die Grammatik in der „Anleitung zur deutschen Sprachlehre“ und schließlich die Stillehre in der „Anleitung zur Schreibart in Briefen, und einigen anderen Aufsätzen“. Legte Felbiger in der „Sprachlehre“ noch eine selbständige Behandlung des Gegenstandes vor, so wurde 1779 die „Verbesserte Anleitung zur deutschen Sprachlehre“ nach der 5. Auflage von Gottscheds „Sprachkunst“ von 1762 bzw. an dessen „Kern“ ausgerichtet. Für die fremdsprachigen Länder der Monarchie erfolgten entsprechende Übersetzungen, so daß in Verbindung mit der nun eingeführten Schulpflicht alle, sei es als Mutter- oder Fremdsprache, das Dt. richtig lesen und schreiben lernten. Felbigers Methodenlehre und Grammatik wurde für die Lehrbü-
XVII. Regionalsprachgeschichte
cher der slaw. Sprachen der Habsburgermonarchie und darüber hinaus sogar für Rußland und dessen Sprachunterricht bedeutsam (Keipert 1991, 1992, 1993). Zur Popularisierung und politischen Anwendung des schriftlichen deutschen Sprachgebrauchs im Alltag trugen auch zahlreiche Briefsteller bei. Ihr erfolgreichster war der durch 47 Jahre in 19 Auflagen von 1786⫺1833 erschienene, stets neubearbeitete, vom Wiener Verlag Joseph Gerold vertriebene und ab der 2. Auflage von 1787 einem gewissen Samuel bzw. Franz Xaver Samuel Riedel zugeschriebene „Wienerische Sekretär auf alltägliche Fälle“. Eigene Wege ging das politisch ja selbständige Fürsterzbistum Salzburg. Hier richtete man sich zunächst ebenfalls nach Gottsched. Als sich aber in Bayern Kurfürst Maximilian III. entschlossen hatte, ebenfalls die vernachlässigte dt. Muttersprache zu pflegen und zu diesem Zweck in seinem Auftrag der Tegernseer Benediktiner und Freisinger Gymnasiallehrer Heinrich Braun 1765 in Anlehnung an Gottsched seine „Anleitung zur deutschen Sprachkunst zum Gebrauche der Schulen in den Churlanden zu Baiern“ verfaßt hatte, wurde auch dieses Werk, seine Kurzfassung von 1768 sowie sein „Deutschorthographisches Wörterbuch“ von 1767 und auch die späteren Auflagen all dieser Werke herangezogen. Nachdem Braun 1792 verstorben war und seine Lehrbücher trotz ihrer Praktikabilität nicht mehr befriedigen konnten, verfaßte schließlich 1796 Joseph Wismayer für Salzburg „Neue Grundsätze der deutschen Sprache“, wobei er die neuen schriftsprachlichen Regelungen Adelungs einbezog.
Die Ausrichtung am letztlich omd.-osächs. Sprachvorbild löste freilich andauernde Diskussionen über den angemessenen Sprachgebrauch auf Grund der Diskrepanz zwischen der heimischen Sprachtradition und der übernommenen, teilweise fremden Schreibart aus. Es war einerseits die Diskrepanz von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Zu ihrer Lösung hatte schon 1769 der oberösterreichische Seelsorger, Prediger und Schriftsteller Maurus Lindemayer empfohlen, daß man im Schreiben den Sachsen folgen, aber im Sprechen Österreicher bleiben solle. Das war aber in der Öffentlichkeit nur dadurch zu erreichen, daß man vom Dialekt bzw. einer dialektnahen Sprechweise abrückte. Dazu unternahm der Wiener Literat Leopold Alois Hoffmann (1748⫺1806) mit einer Gruppe von Mitarbeitern 1782/83 mit Billigung Kaiser Josephs II. kritische Prüfungen von Sonntagspredigten in den Kirchen Wiens und seiner Umgebung nach Inhalt und Aussage,
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
Vortragsstil und sprachlicher Qualität, die in 9 Bänden als „Wöchentliche Wahrheiten für und über die Prediger in Wien“ laufend veröffentlicht wurden und reißenden Absatz fanden. Dabei wurde vor allem das Dialektsprechen getadelt, so daß Hoffmann dann 1790 als Professor des Deutschen Stils in seiner Predigtrhetorik „Anleitung zur geistlichen Beredsamkeit“ eine gepflegte Sprache des Umgangs forderte. Er konnte dies insofern von den Predigern verlangen, als sich damals bereits in den höheren Gesellschaftskreisen eine Umgangssprache als Vermittlung zwischen dem Dialekt und den an der Schriftlichkeit orientierten Ausspracheforderungen auszubilden begonnen hatte. Nicht recht zu lösen war andererseits das Problem regional verschiedenen Wortschatzes, denn die „Provinzialwörter“ umfaßten sowohl nicht schriftfähige Dialektwörter der „Pöbelsprache“ als auch regelrechte, schon bisher schriftlich verwendete landschaftliche Heteronyme. Bereits Popowitsch hatte für den Zweck der Bereicherung der Schriftsprache und ihres Ausdrucksvermögens Provinzialwörter gesammelt, doch aus seinem nachgelassenen umfänglichen Wörterbuch konnte 1780 nur eine schmale Auswahl als „Versuch einer Vereinigung der Mundarten von Teutschland als Einleitung zu einem vollständigen Teutschen Wörterbuche“ veröffentlicht werden. Auch Joseph von Sonnenfels, der die öst. Amtssprache reformierte und dazu 1784 die Anleitung „Über den Geschäftsstil“ veröffentlichte, trat für die schriftsprachliche Verwendung österreichischer Bezeichnungen an Stelle von fremdartigen ein. So fand er etwa Bezeichnungen wie Rauchfang, Tischler, Fleischhauer genauso trefflich wie Schornstein, Schreiner, Metzger, die allerdings nicht omd. sind, sondern im benachbarten dt. Südwesten von Bayern bis ins Rheinland gelten. Diese Probleme und die endgültige Norm der Schriftsprache, deren einzelne Problemfälle noch immer unter den Gelehrten diskutiert wurden, entschieden sich aber erst am Ende des 18. Jhs. und fanden dann ihre breite Durchsetzung in der 1. Hälfte des 19. Jhs. 6.3.
Die Weiterentwicklung der Schriftsprache in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts 6.3.1. Die Normierung der Schriftsprache unter dem Einfluß der Werke Adelungs Nachdem sich in Österreich die omd.-nrddt. Schriftsprache im Gefolge der Schulreform breit etabliert und während der Regierungs-
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zeit Kaiser Josephs II. (1780⫺90) konsolidiert hatte, erfolgten im letzten Jahrzehnt des 18. Jhs. letzte Normierungen durch die Rezeption der Regelwerke Johann Christoph Adelungs (1732⫺1806), der in Sachsen Gottsched nachgefolgt war. Ihn regte der Leipziger Verleger Bernhard Christoph Breitkopf an, ein noch von Gottsched geplantes dt. Wörterbuch zu erarbeiten, das nicht nur den schriftlichen Wortschatz verzeichnen, sondern auch seine Schreibung, Flexion und Ableitung verbindlich regeln sollte. Adelung begann seine Arbeit und legte die Ergebnisse in 5 Bänden von 1774⫺86 als „Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen“ vor. Obwohl auf Grund der zeitgenössischen sprachhistorischen Forschungen das Oberdeutsche als Grundlage der Schriftsprache erkannt worden war, ging Adelung jedoch synchron vor, indem er wie schon Gottsched den omd.-schriftsprachlichen Gebrauch Sachsens zugrunde legte. So stellte Adelung das omd. Wort mit seinen entsprechenden grammatikalischen Formen an die Spitze jedes Artikels und ließ ihm in gleicher Weise die schriftsprachlichen Heteronyme anderer Landschaften folgen, soweit ihm diese bekannt waren. Trotz der vergleichenden Festhaltung landschaftlich unterschiedlicher schriftsprachlicher Heteronyme, was Adelung in zeitgenössischer Weise als mundartliche Differenzierung verstand, vollzog er gleichzeitig durch seine Anordnungen eine Hierarchisierung und Vorgabe hochdeutscher Normen, was auch so verstanden wurde. In diesem Sinne wurde Adelung auch beauftragt, für die Schulen Preußens eine verbindliche Grammatik zu verfassen, die er 1781 als „Deutsche Sprachlehre“ vorlegte und der er 1782 das „Umständliche Lehrgebäude der deutschen Sprache zur Erläuterung der Deutschen Sprachlehre“ folgen ließ. Darin wurden vor allem die noch immer strittigen Fragen des flexivischen -e nach omd. Muster entschieden. Gleichzeitig erarbeitete Adelung für die allgemeine Benützung 1781 den „Auszug aus der Deutschen Sprachlehre für Schulen“. Zur Regelung von Orthographie, Flexion und hochdeutscher Aussprache schloß Adelung 1788 die „Vollständige Anweisung zur deutschen Orthographie“ an, aus der er gleichzeitig als „Kleines Wörterbuch für die Aussprache, Orthographie“, Biegung und Ableitung“ einen Auszug anfertigte. Schließlich
2990 überarbeitete Adelung von 1795⫺1801 in 2. Auflage sein Wörterbuch, das er nun in allgemein verbindlicher Weise „Grammatischkritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart …“ nannte und auf vier immer noch umfängliche Bände beschränkte. Adelungs genannte Hauptwerke wurden nicht nur sofort, sondern auch noch später teils in Wien und teils im südmährischen Brünn für Österreich nachgedruckt und mehrfach für den praktischen Gebrauch als Nachschlagewerke bearbeitet. Von den Bearbeitungen besonders zu nennen sind das „Kleine Wörterbuch der deutschen Sprache und Rechtschreibung für jedermann“ des Wiener Piaristen-Lehrers und späteren Magistratsbeamten Franz Anton Gaheis von 1799, das zweibändige „Grammatisch-orthographische Wörterbuch der Homonyme der deutschen Sprache“ des Grazer Lehrers Michael Kunitsch von 1806, das „Orthographische und etymologische Taschenwörterbuch der deutschen Sprache“ des Wiener Lehrers und Literaten Michael Span von 1819, das dreibändige „Handwörterbuch der deutschen Sprache“ des Wiener Rechnungsrates Franz Leopold Schmiedel von 1820/23 sowie das von 1826 bis 1876 in 6 Auflagen fortgeführte anonyme „Neue vollständige Taschenwörterbuch der deutschen Sprache“. Nicht vergessen aber darf man, daß Adelungs „Grammatisch-kritisches Wörterbuch“ in Wien nicht weniger als dreimal 1807, 1808 und 1811 in hoher Auflage nachgedruckt wurde und trotz seines Umfangs besonders in Schulen und Kanzleien, aber auch privat als Nachschlagewerk lebhafte Verwendung fand.
Adelungs orthographische und grammatikalische Normierungen wurden in Österreich erstmals in der 3. Auflage des einem gewissen Franz Xaver Samuel Riedel zugeschriebenen erfolgreichen Briefstellers „Der Wiener Sekretär auf alltägliche Fälle“ 1788 angewandt. 1794 folgte verspätet die Schule, wo Felbigers „Anleitungen“ entsprechend überarbeitet und 1795 Adelungs „Kleines Wörterbuch der Orthographie“ als Nachschlagewerk für Lehrer eingeführt wurde. 1805 erfolgten dann komprimierte Neubearbeitungen der „Anleitung zur deutschen Sprachlehre“ als „Anweisung, die deutsche Sprache richtig zu sprechen, zu lesen und zu schreiben“ als Handbuch für Lehrer. Da alle diese Schulbücher bis 1848 ständig nachgedruckt wurden und die Schule mit größtem Einsatz und Nachdruck durch mehr als 50 Jahre für die Einhaltung der von Adelung festgelegten Normen sorgte, festigte sich der Gebrauch der allgemeinen deutschen Schriftsprache und gelangte zum vollen Durchbruch. Einzelne kritische Stimmen, sei es ernsthaft oder belusti-
XVII. Regionalsprachgeschichte
gend, die sowohl gegen das landfremde -e als auch gegen den omd.-nrddt. Wortschatz, wie etwa der Dichter Franz Grillparzer, auftraten, fanden kein Echo, und bis heute gelten z. B. in den amtlichen Gewerbeordnungen gegen den öst. Alltagsgebrauch Bezeichnungen wie Fleischer statt Fleischhacker/Fleischhauer/ Metzger und Kleidermacher statt Schneider, und lange hieß es Böttcher statt Faßbinder (Wiesinger 1987 a). Ja immer noch finden die Österreicher das obdt. heim, daheim gegenüber dem omd.-nrddt. nach Hause, zu Hause schriftsprachlich als unangemessen. 6.3.2. Die Entwicklung der schriftsprachlichen Aussprache Die Normierung der Schriftsprache nach Adelung und ihre rigorose Durchsetzung durch die Schule in der 1. Hälfte des 19. Jhs. führte einerseits auch zu einer hd. Normaussprache (Wiesinger 1993) und andererseits zum neuerlichen Interesse am Dialekt. Schon im 18. Jh. hatten sich die Grammatiker seit Johann Max bemüht, nach dem Grundsatz „Sprich, wie du schreibst“ Ausspracheempfehlungen abzugeben. Sie sind aber nicht nur sehr kursorisch und widersprüchlich, sondern vielfach auch bemüht, dialektale Lautungen fernzuhalten. Es war erst Adelung, der in seiner „Deutschen Sprachlehre“ und im dazu gehörigen erläuternden „Umständlichen Lehrgebäude“ genaue Ausspracheregeln formulierte und in mehrdeutigen Fällen wie dem geschriebenen <e> geschlossene und offene Aussprache nach dem gebildeten Osächs. der Stadtsprachen von Dresden und Leipzig festlegte. Wegen der andersartigen Verteilungen von [e:] und [i:] im Bair. waren solche Unterscheidungen Adelungs in Österreich freilich nicht durchsetzbar. Was sich vielmehr zu Beginn des 19. Jhs. bildete, war einerseits eine Leseaussprache der Schule und andererseits eine mit ihr konkurrierende, teilweise ältere Gewohnheiten fortsetzende hd. Aussprache der Gebildeten. Sie griff ab der Mitte des 19. Jhs. besonders in den Städten auf die Leseaussprache über, während auf dem Land ohnedies der Dialekt weiterhin die Alltagssprache bildete und Hochdeutsch auf die Kirche, das Beten und Lesen beschränkt blieb, so daß dort die bisherige Leseaussprache teilweise bis ans Jahrhundertende fortleben konnte. Allgemein setzte sich in Österreich im Gegensatz zu Bayern von der Leseaussprach her für helles [a] durch. An lesesprachlichen Eigenheiten empfahl die Schule nicht nur die gerundete Aussprache
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit für die Umlaute und , sondern sie stellte damit auch den Umlaut in eine Reihe und ließ ihn deshalb als gerundetes offenes [œ] aussprechen. Erst in der 2. Hälfte des 19. Jhs. rückte man in den Städten davon ab und empfahl [i]. Da aber das geschriebene als Länge sowohl Entsprechungen von mhd. æ und Dehnungs-ä¯ als auch von mhd. Dehnungs-e¯ enthält, so daß man im Dialekt für Käse, nähen, Rädlein [a:], für zählen, wählen aber geschlossenes [e: ⬃ ø:] spricht, stellte sich in beiden Fällen zunehmend geschlossenes [e:] ein. Während die Schule die künstliche Unterscheidung von <ei> als [ei] und seltenem als [ai] forderte, hatte sich schon auf natürliche Weise im 18. Jh. [ai] eingebürgert, das dann ab der Mitte des 19. Jhs. auch die städtischen Schulen aufgriffen. Aus dem Konsonantismus ist zu erwähnen, daß sich bei der Endsilbe gegen dialektales [i ⬃ ic¸] die Leseaussprache mit Plosiv allgemein durchgesetzt hat. Obwohl die Ausspracheanleitungen für anlautendes <st>, <sp> stets Schibilierung als [st], [sp] forderten, so gab es dennoch Leseaussprachen nach dem Schriftbild, während im In- und Auslaut stets [st], [sp] gesprochen und die westösterreichische Schibilierung abgelehnt wurde. Allerdings forderte man für Wörter griechisch-lateinischer Herkunft auch im Anlaut [st], [sp], wie in Stil, Struktur, Spezies, sporadisch, was bis heute erhalten blieb.
6.3.3. Neuerliches Interesse an den Dialekten Angesichts des Strebens der Gebildeten nach einem schriftlich wie mündlich gereinigten Hochdeutschen in der 2. Hälfte des 18. Jhs., was in der Oberschicht zur allmählichen Ausbildung einer Umgangssprache als Vermittlung zwischen dem nicht nur in den sozial niedrigen und mittleren Kreisen gesprochenen Dialekt und dem erstrebten hochsprachlichen Ideal führte, galt der Dialekt als verderbtes Hochdeutsch. Er wurde nicht nur wenig geschätzt und teilweise als „pöbelhaft“ abgewertet, sondern als Sprache der Öffentlichkeit wie in der Kirche sogar bekämpft. Aber im Vergleich zu dem noch nicht normierten Wortschatz der Schriftsprache verfügten die einzelnen deutschsprachigen Regionen über einen Reichtum an Heteronymen. Sie wurden zum Teil schriftlich gebraucht und waren damit als Provinzialwörter quasi standardisiert, so daß sie u. a. Popowitsch als Bereicherung in die Schriftsprache einbringen wollte. Ein anderer Teil aber verblieb im gesprochenen volkstümlichen Bereich und wurde entsprechend als „pöbelhaft“ eingestuft. Gerade dieser Teil des Wortschatzes machte nach damaliger Auffassung das von Gegend zu Gegend unterschiedliche spezifische Gepräge der Dialekte aus. So waren es einerseits Reisende, die die besonders
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in Wien und in den öst. Alpenländern angetroffenen Idiotismen, also die dialektspezifischen, schriftsprachefremden Ausdrücke, als etwas Exotisches aufzeichneten, wie etwa 1785 der Berliner Friedrich Nicolai in seiner „Beschreibung einer Reise durch Deutschland“. Andererseits begannen gegen das Jahrhundertende auch Einheimische derartige Sammlungen, um die landschaftlich unterschiedlichen Dialekte in ihrer Spezifik zu charakterisieren, wie z. B. 1796 Lorenz Hübner in seiner „Beschreibung des Erzstiftes und Reichsfürstenthumes Salzburg“. So standen bis um 1810 mehrere kleine Idiotismensammlungen aus verschiedenen öst. Gegenden (Haas 1994, 640 ff.), und mit sprachwissenschaftlichen Ansprüchen der Zeit legte der oberösterreichische Benediktiner Matthias Höfer, 1815 sein dreibändiges „Etymologisches Wörterbuch der in Oberdeutschland, vorzüglich aber in Österreich üblichen Mundart“ vor. In derselben Zeit begann man auch, den Dialekt literarisch einzusetzen, um damit aus der Sicht des einfachen Mannes die herrschenden Zustände auf satirisch-humorvolle Weise anzuprangern, eine sprachliche Verhüllung, die in ihrer harmlos erscheinenden Unterhaltsamkeit durch die Zensur nicht verboten werden konnte. Von größtem Erfolg war die dreiteilige Serie des Wiener Journalisten Joseph Richter „Briefe eines Eipeldauers an seinem Herrn Vetter in Kakran über d’Wienstadt“ von 1785⫺1813, der sich bis 1821 zwei Fortsetzungsserien anschlossen. Auch die Wiener Volkskomödie, die mit Joseph Anton Stranitzky (1676⫺1726), dem Erfinder der komischen Figur des Hanswurst, 1710 begonnen hatte und dann mit Ferdinand Raimund (1790⫺1836) und Johann Nestroy (1801⫺62) ihren Höhepunkt erreichte, wurde im Dialekt aufgeführt, aber schriftsprachlich gedruckt, so daß man den Dialekt nur an Einzelheiten wie Synkopen und Apokopen, dem von der Schriftsprache abweichenden Kasusgebrauch, gelegentlichen Lautungen, der zum Teil der Mündlichkeit folgenden Satzbildung und vor allem am Wortschatz erkennt (Reutner 1998, 1998 a). Demgegenüber setzte eine neue Wertschätzung des Dialekts als Ausdruck des Ursprünglichen und als altdeutsches Traditionsgut erst mit der sich aus dem Geist der Romantik entwickelnden Germanistik ein. Anregend waren hier 1815/16 der in Wien weilende Jacob Grimm mit seinem Aufruf zur Sammlung des volkstümlichen Erzähl- und
2992 Liedgutes sowie der von Friedrich Heinrich von der Hagen aus Breslau zur Anfertigung von Abschriften mittelalterlicher Texte aus Handschriften nach Wien geschickte Julius Max Schottky. Er gewann den Wiener Magistratsbeamten Franz/Tschischka (1786⫺ 1855) zur gemeinsamen Sammlung und dialektalen Aufzeichnung niederösterreichischer Volkslieder und Volksmärchen. Während diese 1819 und 1822 erschienen, publizierte Tschischka von einem damals in Angriff genommenen Dialektwörterbuch nur Teile (Wiesinger 1998 a). Erst 1847 legten Carl Loritza ein „Neues Idioticon Viennense“ und der Steuerrevisor Ignaz Franz Caselli (1781⫺ 1862) ein auf seinen Dienstreisen gesammeltes „Wörterbuch der Mundart in Österreich unter der Enns“ vor, ehe dann in der 2. Hälfte des 19. Jhs. die wissenschaftliche Dialektbeschäftigung und -sammlung begann. Castelli war es auch, der mit seinen 1828 erschienenen „Gedichten in niederösterreichischer Mundart“ erfolgreich die Dialektdichtung einleitete. 6.3.4. Lehnwörter und Fremdwörter Obwohl in größeren Zeit- und Raumbeziehungen stehend, empfiehlt es sich, hier die Österreich betreffenden, im Laufe der Zeit aus den umgebenden und aus weiteren Fremdsprachen im direkten und indirekten Sprachkontakt aufgenommenen bzw. selber weitergegebenen Lehn- und Fremdwörter zu behandeln. Dabei geht es in erster Linie um das äußere Lehngut der unmittelbaren Wortübernahmen, während innere Entlehnungen als Lehnübersetzungen und Lehnprägungen ohnedies zurücktreten und außerdem schwer faßbar sind. Österreich wird, wie in Abschnitt 3 ausgeführt, von nicht weniger als 6 Fremdsprachen umgeben. Da vor allem der Westen von Vorarlberg über Tirol bis Salzburg und bis Oberkärnten längere Zeit romanisch und der Osten von Osttirol über Kärnten und den Salzburger Lungau bis in die Steiermark bzw. vom östlichen und nördlichen Oberösterreich über Niederösterreich bis ins Burgenland slawisch besiedelt war, was sich an der Herkunft der Ortsnamen deutlich abzeichnet (Wiesinger 1994, 63 ff., 67 ff.), kam es dort nach einer dem Sprachwechsel vorangegangenen Phase der Zweisprachigkeit zur Entstehung rom. bzw. slaw. Reliktwörter. Obwohl ihre frühe Integration an mitvollzogenen dt. Lautentwicklungen erkennbar ist, läßt sich nicht immer eine klare Unterscheidung von jüngeren
XVII. Regionalsprachgeschichte
Grenzentlehnungen mit nachfolgender unterschiedlicher Ausbreitung durchführen. Umgekehrt wurde schon in der ahd. Zeit des 8.⫺ 10. Jhs. dt. Wortgut besonders ins Slowenische und Romanische entlehnt (Lessiak 1910; Kranzmayer 1937, 1944). Diese wechselseitigen Lehnbeziehungen hielten bis ans Ende der Monarchie und damit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges an. Nur in den fremdsprachigen Minderheitengebieten Österreichs in Südkärnten und im Burgenland setzen sie sich einseitig in den Minderheitensprachen fort. Der größte Teil des fremdsprachigen Lehngutes aus den Nachbarsprachen beschränkt sich als Grenzentlehnungen auf die jeweiligen Dialekte im Kontaktbereich (Wiesinger 1990). Hervorzuheben sind hier vor allem ital. Entlehnungen in Südtirol, Osttirol und Kärnten (Schneider 1963), slowenische in Kärnten (Lessiak, 1910, Pohl 1988) und der Steiermark sowie ungarische im Burgenland, während die tschechisch-deutsche Kontaktzone ja bis 1945 vor der Vertreibung der (Sudeten)deutschen in Südböhmen und Südmähren lag (Schwarz 1932/33, 1958). Besondere Drehscheibe für Entlehnungen ins Dt. und aus dem Dt. in die Nachbarsprachen war Wien. Seine zentrale Kontaktfunktion bekam es ab 1526, als die Habsburger durch Erbverträge die Königreiche Böhmen und Ungarn erwarben und damit die schon seit dem 13. Jh. bestehende Mittelpunktsfunktion für die deutschsprachigen Gebiete nun nach Osten erweitern konnten. Bereits 1548 hob Wolfgang Schmeltzl in seinem „Lobspruch der Stadt Wien“ die hier durch Handelsbeziehungen anzutreffende Vielfalt an Fremdsprachen hervor. Besonders seit dem 18. Jh. nach der Wiedereroberung der von den Türken besetzten ung. Gebiete, der Gewinnung Galiziens und der Bukowina erfolgten mit den erstarkenden wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen viele dt. Entlehnungen in die Nachbarsprachen, die allerdings nur teilweise untersucht sind (Kranzmayer 1944, Pisˇkorec 1997, Glovacki-Bernardi 1998, Horva´th 1984, Kloferova´ 1996, Sˇra´mek 1998). Während sie dort in den Dialekten erhalten blieben, wurden sie beim Ausbau der jeweiligen Schriftsprachen in jenen durch den nationalistischen Purismus des 19. Jhs. vielfach beseitigt. In Wien verblieben zwar viele Entlehnungen im Dialekt und verbreiteten sich durch die Stadt-Land-Beziehungen auch in die Dialekte des weiteren Umlandes, ein Teil aber fand über die Um-
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
gangssprache auch Eingang in das standardsprachliche öst. Deutsch. Obwohl in mehreren Untersuchungen des ausgehenden 19. und des 20. Jhs. die Entlehnungen aus dem Italienischen, Französischen und Tschechischen im Wiener Dialekt festgehalten sind, fehlt vielfach ihre historische Nachweisung im Schrifttum, so daß die jeweiligen Übernahmezeiten meist nur aus den jeweiligen Perioden intensiver Kulturbeziehungen gefolgert werden. So gelten etwa tschech. Entlehnungen zwar mit Recht vielfach als Übernahmen seit der 2. Hälfte des 19. Jhs. wegen der großen tschech. Zuwanderung im Rahmen der Industrialisierung und Stadterweiterung seit 1856, aber in diesen Zusammenhängen genannte Entlehnungen wie pomali ‘langsam’ und Rosomi ‘Verstand’ (Steinhauser 1979, 146, 149) sind, wenn man sich der Mühe der Textdurchsicht unterzieht, schon viel früher 1816 bei Karl Meisel und 1794 bei Joachim Perinet belegt (Reutner 1998 a, 154, 204). Für das standardsprachliche öst. Deutsch sind besonders Entlehnungen aus dem Italienischen und Französischen bedeutsam, während Wortgut aus dem Tschechischen, Slowenischen, Ungarischen und Jiddischen weitgehend auf die Dialekte und bisweilen auf die Umgangssprache beschränkt bleibt. Wie das Gesamtdeutsche nimmt in jüngster Zeit auch Österreich an der starken Welle anglo-amerikanischer Einflüsse teil (Weissenböck 1988). Das Italienische gewann besondere Bedeutung seit Kaiser Ferdinand III. (1637⫺57), der 1651 Eleonore von Gonzaga heiratete und eine von ihr bis zu ihrem Tod 1686 weitergeführte künstlerische Akademie gründete. Italienische Musiker, Baumeister, Maler, Bildhauer und Stukkateure wirkten dann während des ganzen 18. Jhs. in Wien und seinem Umland. Dieser Zeit sind u. a. zuzuschreiben, Salettel ‘Gartenlaube’ < saletta, Mezzanin ‘Halbstock’ < mezzanino, Animo ‘Schwung’ < animo ‘Lust’, Parte ‘Todesanzeige’ < fare parte ‘Mitteilung machen’, Mischkulanz ‘Durcheinander’ < mescolanza (Listberger 1967). Französisch war seit dem 16. Jh. die Diplomatensprache des Adels und gewann europäische Bedeutung zur Zeit des frz. Absolutismus seit Ludwig XIV. (1661⫺1715). In Wien faßte es besonders zur Zeit Maria Theresias (1740⫺80) Fuß, deren kaiserlicher Gemahl Franz Stephan (†1765) aus Lothringen stammte. Zwar war am Hof bloß die Sprache des Kaiserpaares das Französische, aber Franz Stephan hatte starke naturwissen-
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schaftliche Interessen und scharte eine Menge gleichinteressierter Franzosen um sich, wie in den Adelskreisen das Frz. auch die Sprache der galanten Konversation war und es von 1752⫺72 in Wien auch ein frz. Theater gab. In der Aristokratie lebte frz. Spracheinfluß bis ans Ende der Monarchie fort, wovon die Komödien von Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal zeugen (Thierberger 1957). Im öst. Deutsch gibt es nur wenige spezifische Übernahmen aus dem Frz. wie faschieren ‘Fleisch zerkleinern’, Faschiertes ‘Hackfleisch’ < farce ‘Fleischfülle’; Ringlotte ‘Reneklode’ < reineclaude, Fiaker ‘Mietkutsche’ < fiacre; Schani Schankbursche’, Schanigarten ‘auf dem Gehsteig oder auf der Straße eingerichteter kleiner Gastgarten’ < Jean (Koller 2000). Länger als in Deutschland haben sich in Österreich frz. Ausdrücke aus Handel, Post- und Bahnwesen gehalten, letztere bis um 1980, wie Trafik ‘Tabakladen’ < trafic ‘Handel’, Korrespondenzkarte ‘Postkarte’, Perron ‘Bahnsteig’, Coupe´ ‘Wagenabteil’, Retourkarte ‘Rückfahrkarte’. Von unterschiedlichem Alter sind die aus den slaw. Kontaktsprachen stammenden und in das standardsprachliche öst. Deutsch aufgestiegenen Lehnwörter. Slaw. Reliktwörter des Frühmittelalters sind Kren ‘Meerrettich’ < slaw. chreˇnЪ und Jause ‘Zwischenmahlzeit am Nachmittag’ < *juzˇna zu slaw. jugЪ ‘Süden’. Aus dem Tschechischen wurden übernommen G/Kolatsche ‘rundes gefülltes Gebäck’ < kolacˇe im 14. Jh. sowie Powidl ‘Pflaumenmus’ < povidla und B/Wuchtel ‘Gefülltes Hefeteiggebäck’ < buchta zu buchniti ‘anschwellen’ im 18. Jh. (Steinhauser 1978).
7.
Das Bewußtwerden eines österreichischen Deutsch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und seine Entwicklung im 20. Jahrhundert
7.1. Die Entwicklungen in der 2. Hälfte des 19. und in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts Zwar hatte Kaiser Franz II./I. (1792⫺1835) in den Auseinandersetzungen mit Napoleon 1804 Österreich zum selbständigen Kaiserreich erhoben und 1806 das Heilige Römische Reich deutscher Nation aufgelöst, aber erst die verlorene Schlacht von Königgrätz unter Kaiser Franz Joseph (1848⫺1916) brachte 1866 die Entscheidung im Ringen zwischen Österreich und dem erstarkten Preußen um
2994 die Vorherrschaft im dt. Raum. Während Österreich fortan aus gesamtdeutschen Belangen ausschied und auf Grund der Verselbständigungsbestrebungen besonders der Ungarn 1867 die Doppelmonarchie mit der öst.böhm. und der ung. Reichshälfte einrichtete, konnte Preußen 1871 das Deutsche Reich gründen. Die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zwischen Österreich und Preußen hatten aber auch kulturelle und sprachliche Gegensätze bewußt gemacht. So kam um 1870 der Begriff des „österreichischen Hochdeutsch“ auf. Es basierte mündlich nicht nur auf der bair. Artikulation und Intonation, sondern zum Vorbild gehobenen Sprechens waren die dialektfreien Städte Prag und Laibach als deutschsprachige Enklaven im eigenen fremdsprachigen Gebiet geworden, wie man zunehmend besonders in Wien auch Lehrer aus dem omd.-schles. Sprachgebieten Nordböhmens, Nordmährens und Österr.-Schlesiens beschäftigte, um den Schülern eine gute hd. Aussprache zu vermitteln. Da aber mit dem politischen Aufstieg Preußens im Deutschen Reich dort das nordd. Hochdeutsch Vorbildfunktion angenommen hatte, mußte nun bei fortdauernden Kulturbeziehungen im Vergleich die öst. Varietät als „fehlerhaft“ erscheinen. In diesem Sinn legte auch 1875 Hermann Lewi eine erste Beschreibung des öst. Hochdeutsch als „Versuch einer Darstellung seiner bevorstechendsten Fehler und fehlerhaften Eigenthümlichkeiten“ vor. So erschien auch der durchaus von Schriftstellern und in Ämtern gebrauchte öst. Wortschatz nicht geeignet, in der Schule gelehrt zu werden. Daher blieb er auch 1879 den „Regeln und Wörter-Verzeichnis für die deutsche Rechtschreibung“ fern, die Österreich eigenverantwortlich veröffentlichte, nachdem es trotz seiner 12 Millionen Deutschsprechenden 1876 nicht zur ersten Berliner Konferenz zur Schaffung einer einheitlichen dt. Orthographie eingeladen worden war. Nur ein wenig änderte sich diese Einstellung 1902, als nach öst. Mitbeteiligung an der zweiten Berliner Konferenz die orthographische Vereinheitlichung im gesamtdeutschen Raum vollzogen wurde. Zwar galten in (nord)d. Weise weiterhin nur Aprikose, Böttcher, Schornstein statt Marille, Faßbinder, Rauchfang, aber teilweise wurden auch die bodenständigen Bezeichnungen zugelassen, so daß es zu den Alternativen Harke/Rechen, Apfelsine/Orange, Junge/Bube, Sonnabend/Samstag, Januar/Jänner kam (Wiesinger 2000 a, 41 ff.).
XVII. Regionalsprachgeschichte
Diese Zurückhaltung hatte aber auch politische Gründe. Zunehmend sahen nämlich die deutschsprachigen Österreicher im Rahmen der sich verstärkenden Verselbständigungsbestrebungen der nicht weniger als 11 nichtdeutschsprachigen Nationalitäten der Monarchie (Tschechen, Slowaken, Polen, Ruthenen, Ungarn, Slowenen, Kroaten, Serben, Rumänen, Italiener, Ladiner) in den Reichsdeutschen ihre kulturellen Partner. So nahmen nicht nur deutschnationale Strömungen zu, so daß 1882 Georg von Schönerer auch die deutschnationale Partei gründete, sondern es wurde auch von einer kulturellen und sprachlichen Abschottung gegenüber Deutschland gewarnt. So schrieb 1910 Theodor Gartner in einem Zeitungsartikel zum „Österreichischen Schriftdeutsch“: „Es ist ein Nachteil für uns, wenn wir uns von dem großen deutschen Volk, von dem wir nicht einmal ein Fünftel ausmachen, abtrennen“ (Wiesinger 2000 b, 541). Diese Einstellungen änderten sich bei einem Großteil der Bevölkerung auch nicht, als am Ende des Ersten Weltkrieges die Monarchie in einzelne, allerdings nicht nach Nationalsprachen gegliederte Staaten zerfiel und 1918 die 1. Republik Österreich gegründet wurde. Man hielt sie vielfach für nicht existenzfähig und drängte daher zum Anschluß an das Deutsche Reich, was jedoch die Alliierten nicht zuließen. So war auch die eigene Form der dt. Sprache nicht geeignet, einen Faktor öst. Identität zu bilden, und einzelne sie fordernde Stimmen wie jene von Carl Friedrich Hrauda in seiner Schrift „Um Österreichs Freiheit“ von 1930 verhallten. Als dann noch die innenpolitische Auseinandersetzungen zwischen den Christlichsozialen und den Sozialdemokraten das Land spalteten und der Nationalsozialismus um sich griff, war es schließlich 1938 für Hitler ein leichtes, die Selbständigkeit Österreichs zu beenden und es in das nationalsozialistische Deutsche Reich einzugliedern. In kultureller und sprachlicher Hinsicht bedeutete die als Folge ausgelöste Emigration und Ermordung vor allem der Wiener Oberschicht jüdischer Abstammung einen starken Verlust an Sprechern der gehobenen öst. Standardsprache, die in diesen Kreisen Alltagssprache war. 7.2. Die Entwicklungen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 entschlossen sich die aus der Emigration heimgekehrten und aus den Konzentrations-
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
lagern freigekommenen, nun miteinander versöhnten christlichsozialen, sozialistischen und kommunistischen Politiker in der neu errichteten 2. Republik zum gemeinsamen Aufbau eines neuen Österreichs, und dies in deutlicher Abgrenzung zu Deutschland. So wurde nicht nur an der Ausbildung eines öst. Nationalbewußtseins gearbeitet, sondern als ein bedeutender Faktor dazu auch die Sprache einbezogen (Wiesinger 2000 b, 544 ff.). Der sichtbarste Ausdruck dafür war die Schaffung eines „Österreichischen Wörterbuches“ für Schule und Ämter (Reiffenstein 1995 a, Wiesinger 2000 a). Zwar sollte es in seiner Vorbereitungsphase zur Erfüllung der Abgrenzung gegen Deutschland auch viel Dialektwortschatz enthalten, was jedoch auf ablehnende Kritik stieß. Als es 1951 erschien, war es daher als „Mittlere Ausgabe“ ein „Wörterbuch der guten, richtigen deutschen Gemeinsprache“. Unter seinen rund 22 000 Stichwörtern enthielt es die schriftsprachlich gängigen Austriazismen und mit entsprechenden soziostilistischen Markierungen besonders ostösterreichisch-wienerisches umgangssprachliches Wortgut, vernachlässigte aber die regionale Eigenständigkeit Westösterreichs (Moser 1995). Diese Linie änderte sich jedoch mit der 35. Auflage von 1979. Um 1970 begannen sich in der für die öst. Sprachverhältnisse vorbildlichen Bundeshauptstadt Wien mit rund 1,5 Millionen der insgesamt 8 Millionen umfassenden öst. Bevölkerung die soziolinguistischen Verhältnisse allmählich zu ändern. Während ein Teil der neuen, durch umfänglichere und höhere Schulbildung entstehenden Mittelschicht vielfach vom Dialekt zur Umgangssprache zu wechseln anfing und auch die Kinder in der Umgangssprache sozialisierte, behielt ein anderer Teil der aus der Unterschicht in mittlere und höhere Positionen Aufsteigenden entweder den gewohnten Dialekt bei oder paßte sich unter Beibehaltung von unterschichtiger Artikulation und Intonation nur bedingt der Umgangssprache an. Solche Sprechgewohnheiten wurden nicht nur im niederösterreichisch-nordburgenländischen Umkreis Wiens übernommen, sondern auch in Linz, Graz und teilweise in Salzburg. Ebenso wurde es allmählich in der Öffentlichkeit üblich, statt Standardsprache auch Umgangssprache oder Dialekt zu reden, und selbst die Schule propagierte teilweise das alltägliche Sprechen von Umgangssprache und Dialekt im Unterricht. Dem versuchte das „Österreichische Wörterbuch“ zu-
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gleich unter politisch-ideologischer Berücksichtigung der Defizittheorie Basil Bernsteins zur scheinbaren Hebung der Bildung von Unterschichtsangehörigen unter Absenkung des standardsprachlichen Niveaus dadurch Rechnung zu tragen, daß nun die soziostilistisch-umgangssprachlichen Markierungen weggelassen und zugleich dialektaler Wortschatz herab bis zu Wiener Jargonausdrücken aufgenommen wurde. Heftige Proteste führten jedoch zur Rücknahme dieser Vorgangsweise in der 36. Auflage des „Österreichischen Wörterbuches“ von 1985 (Wiesinger 1980, Weitschacher 1981, Fröhler 1982). Seine 38. Auflage von 1997 befindet sich mit rund 60 000 Stichwörtern auf dem Weg zu einem Vollwörterbuch, das nun in Verbindung mit der Anwendung der 1996 beschlossenen neuen Orthographie auch Hinweise auf die öst. Standardaussprache gibt (Wiesinger 2000a). Nach Umfragen von 1991 bekennen sich 80 % der Bevölkerung gänzlich und 12 % eingeschränkt zu einer öst. Nation. Es verwundert daher nicht, daß es 53 % für möglich halten, die dt. Sprache in Österreich auch als „Österreichisch“ zu bezeichnen. Ein kleiner Teil davon ist auch der Auffassung, daß sich eine Nation durch Identität von Staat und Sprache definiert (Steinegger 1998, 307 ff.; Wiesinger 2000 b, 556 ff.). Dagegen sprechen allerdings die nicht zu vernachlässigenden sprachlichen Strukturen. So enthält die 3. Auflage von Jakob Ebners „Wie sagt man in Österreich?“ von 1998 rund 7000 Austriazismen. Auf dem Hintergrund von rund 250 000 Einträgen in den allgemeinen dt. Wörterbüchern sind dies gegen 3 %, oder anders ausgedrückt: ein öst. Text von 100 Wörtern enthält durchschnittlich 2⫺3 Austriazismen. Das öst. Deutsch, dessen Positionierung innerhalb des Gesamtdeutschen in Linguistenkreisen unterschiedlich beurteilt wird (Wiesinger 1995 a, Scheuringer 1996, Schrodt 1997; Wiesinger 1999 c, 234 ff.) bildet in seiner schriftlich wie mündlich gebrauchten Standardform keine einheitliche nationale Varietät, sondern umfaßt die in Österreich gebräuchlichen Sprachformen unabhängig von ihrer jeweiligen räumlichen Verbreitung (Ebner 1980, 207 ff.; Reiffenstein 1983, 23; Wiesinger 2001, 482). Seine Stellung innerhalb des dt. Sprachraumes läßt sich am besten an der fünffachen unterschiedlichen Verbreitung des Wortschatzes mit Grenzüber- und Grenzunterschreitungen veranschaulichen (Wiesinger 1988, 25 ff.; 1997 b; 2001, 486 ff.):
2996 ⫺ durch den obd. Wortschatz ist Österreich mit Süddeutschland und der Schweiz gegenüber Mittel- und Norddeutschland verbunden, z. B. Bub : Junge, Ferse : Hacke, Rechen : Harke, Orange : Apfelsine, Knödel : Kloß, Samstag : Sonnabend, heuer : dieses Jahr, kehren: fegen; ⫺ bair. Wortschatz teilt Österreich mit (Alt)bayern auf Grund der gemeinsamen Stammesgrundlage bzw. späterer Kultur- und Sprachbeziehungen, z. B. Maut : Zoll, Scherz(el) : Anschnitt des Brotes, Brösel : Paniermehl, Kren : Meerettich, Kletze : Dörrbirne, Topfen : Quark, Kluppe : (Wäsche)klammer, Fleckerlteppich : Flickenteppich, (Tinten)patzen : (Tinten)klecks, pelzen : Obstbäume mit Pfropfreisern veredeln; ⫺ der gesamtösterreichische Wortschatz umfaßt einerseits politische, rechtliche, amtliche und verwaltungstechnische Bezeichnungen auf Grund der staatlichen Souveränität, z. B. Nationalrat : Bundestag, Parlament : Bundeshaus (jetzt Reichsrat), Landeshauptmann : Ministerpräsident, Obmann : Vorsitzender (eines Vereines), Journaldienst : Bereitschaftsdienst, Kundmachung : Bekanntmachung, Ansuchen : Gesuch, Einlaufstelle : Annahmestelle, Verlassenschaft : Nachlaß, Erlagschein : Zahlkarte (bei der Post), Matura : Abitur. Andererseits hat sich, zum Teil erst in den letzten Jahrzehnten, von der Bundeshauptstadt Wien aus ein Verkehrswortschatz durchgesetzt der allerdings nur teilweise in Vorarlberg aufgegriffen wird und sich deutlich vom angrenzenden Bayern abhebt, z. B. Trafik : Tabakladen, Tischler : Schreiner (teilweise noch in Vorarlberg), Schultasche : Schulranzen, Jause : Brotzeit, Marille : Aprikose, Karfiol (ohne Vorarlberg): Blumenkohl, (Schlag)obers : (Schlag)sahne, sich verkühlen : sich (v)erkälten; ⫺ der ost- und westösterreichische Wortschatz scheidet sich im Raum zwischen dem westlichen Oberösterreich, der östlichen Salzburger Landesgrenze und Oberkärnten als Ostgrenze und dem Nordtiroler Unterland und der östlichen Osttiroler Landesgrenze als Westgrenze, so daß der Westen jeweils mit (Alt)bayern konform geht. Selten liegt westliches Vordringen vor wie z. B. bei Metzger : Fleischhauer (älter Fleischhakker) und Fasnacht : Fasching, meist handelt es sich um östliche Neuerungen wie z. B. Rauchfang : Kamin, Bartwisch : Kehrwisch ‘Handbesen’, Stoppel : Stöpsel, Gelse : (Stech)mücke, drei Viertel (neun) : Viertel vor (neun); ⫺ regionaler Wortschatz gilt teils für regional beschränkte Einrichtungen, Gegenstände und Vorgänge wie z. B. im ostösterreichischen Weinbaugebiet Weinbauer, Weinhauer ‘Winzer’, Most ‘süßer Traubensaft’, Buschenschank, Heuriger ‘Schankstätte des neuen Weines’ und teils auf Grund sprachgeographischer Differenzierung mit aus dem Dialekt stammenden Ausdrücken, wie im alem. Vorarlberg, schaffen : arbeiten, Schreiner : Tischler, Lauch : Porree, Blumenkohl : Karfiol, Alpe : Alm ‘Bergweide’, Arve : Zirbe (eine alpine Kiefernart), Kilbi : Kir(ch)tag ‘Kirchweifest’, Bestattnis : Begräbnis.
XVII. Regionalsprachgeschichte
Obwohl der öst. Wortschatz alle Sachgebiete betrifft, gibt es dennoch unterschiedlich starke Verteilungen. Bezogen auf eine frequente Auswahl von 400 Wörtern lassen sich folgende 8 Gruppierungen und Anteile feststellen (Ammon 1995, 154 ff.): 1. Speisen und Mahlzeiten: 101; 2. Verwaltung, Justiz, Gesundheitswesen, Schule und Militär: 91; 3. Geschäftsleben, Handwerk, Landwirtschaft und Verkehr; 85; 4. Haushalt und Kleidung: 55; 5. Menschliches Verhalten, Soziales, Charaktereigenschaften, Körperteile: 31; 6. Sport und Spiele: 19; 7. Sonstiges 21; 8. Formwörter: 15. Hier ist auch auf jene 23 öst. Ausdrücke aus dem Lebensmittelrecht hinzuweisen, die sich Österreich im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union 1994 für den Warenverkehr festschreiben ließ, u. a. Lungenbraten (Filet), Faschiertes (Hackfleisch), Topfen (Quark), Marille (Aprikose), Weichsel (Sauerkirsche), Fisolen (Grüne Bohnen), Karfiol (Blumenkohl), Melanzani (Aubergine), Vogerlsalat (Feldsalat), Kren (Meerrettich; Cilia 1995, Wiesinger 2002). Selbstverständlich zeigt das öst. Deutsch bei regional unterschiedlichen sprechkonstitutiven Faktoren der Artikulation und Intonation auch spezifische Eigenheiten auf der phonetisch-phonologischen Ebene einschließlich der Wortakzentuierung, der morphologischen Ebene mit Formen- und Wortbildung und der syntaktischen Ebene sowie im Bereich der Pragmatik (Ebner 1980, 217 ff.; Reiffenstein 1983, Rusch 1988; Wiesinger 1988, 1996 a, 2001). Vergleiche vor allem mit lexikalischen und phraseologischen Verhältnissen vor rund 50 Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zeigen den seither erfolgten Wandel in einer Reihe von Einzelheiten, z. B. im Bereich der Wortakzentuierung (Wiesinger 1999 d). Auf der einen Seite unterliegt das öst. Deutsch durch den Einfluß der Print-, Audio- und audiovisuellen Medien, die zu einem Großteil aus Deutschland kommen, der Anpassung durch Übernahme fremder an Stelle der heimischen Erscheinungen, doch bilden sich auf der anderen Seite auch wieder neue eigene Bezeichnungen. Ebenso bedienen sich die gegenwärtigen öst. Schriftsteller in großem Maß der bodenständigen Ausdrucksweise, wenngleich auch in Deutschland gültige Bezeichnungen teilweise und dies oftmals im Sinne der stilistischen Variation aufgegriffen werden (Reiffenstein 1987; Ebner 1998 a, Wiesinger 2000 c). In solchen Wandlungen ist aber insgesamt keine Existenzgefährdung des öst. Deutsch zu sehen.
193. Aspekte einer österreichischen Sprachgeschichte der Neuzeit
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