Peter R. Gleichmann Soziologie als Synthese
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Peter R. Gleichmann Soziologie als Synthese
Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozesstheorie Band 7 Herausgegeben von Annette Treibel in Zusammenarbeit mit Helmut Kuzmics und Reinhard Blomert
Peter R. Gleichmann
Soziologie als Synthese Zivilisationstheoretische Schriften über Architektur, Wissen und Gewalt Herausgegeben und bearbeitet von Hans-Peter Waldhoff
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage Dezember 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen / Marianne Schultheis Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-13 978-3-531-15324-7
Danksagung
Die Herausgeber dieser Reihe, Annette Treibel, Helmut Kuzmics und Reinhard Blomert haben dieses Buchprojekt von Anfang an nachhaltig unterstützt. Es hat eine lange Vorgeschichte. Norbert Elias und Friedhelm Herborth haben schon vor über 20 Jahren auf ein solches zusammenfassendes Buch gedrängt. Später hat Michael Hinz bei der Zusammenstellung von Peter Gleichmanns bisher sehr verstreut publizierten Arbeiten entscheidend geholfen. Dieser neue Anlauf wäre nicht ohne nachdrückliche Impulse von Elçin Kürûat zustande gekommen, und nicht ohne die kontinuierliche Beteiligung von Renate Gleichmann. Beim Korrekturlesen sind mir Renate Gleichmann (Teil I), Michael Fischer (Teil II) und Bernd Schwartz (Teil IV) zur Seite gestanden. Elke Eßlinger danke ich für die sorgfältige technische Beratung. Die Titelidee „Soziologie als Synthese“ verdanken wir Johan Goudsblom und dessen jahrzehntelangem Dialog mit Peter Gleichmann. Den Haupttitel habe ich auch für dieses Vorwort, das die Titelwahl untermauert, übernommen. Auch meiner Familie, Michaela Artmann-Waldhoff, Kevin, LauraIsabell und Clara-Marie, die auf viel Zeit zugunsten meines Doktorvaters verzichtet hat, möchte ich danken. In der Schlussphase dieses Buchprojektes war Iris Gleichmann eine große Hilfe, die unter anderem Zeichnungen ihres Vaters zur Verfügung gestellt und die Publikationsliste überprüft und ergänzt hat. Entscheidend aber sind Wunsch und Unterstützung von Peter Gleichmann selbst. Er hat mich im Rahmen seiner nun so leidvoll beschränkten gesundheitlichen Möglichkeiten ermutigt und unterstützt. So können wir endlich einen Zustand beenden, in dem das Werk eines so auf Synthese zielendenden Autors in so extremer Zersplitterung veröffentlicht war und er sich viel zu wenigen im Zusammenhang seines Denkens verständlich machen konnte. Hannover im Oktober 2006, Hans-Peter Waldhoff
Inhaltsverzeichnis
Danksagung..................................................................................................... 5 Soziologie als Synthese – Vorwort des Herausgebers ................................... 9 Teil I Architektur und Zivilisation .................................................................23 1. Soziologische Bemerkungen zur „Anpassung der Wohnung an den Menschen“ ................................................................................................................25 2. Raumtheorien und Architektur. Einige Stichworte zu den materialen Formen der architektonischen Verständigung über Raumvorstellungen .........55 3. Zum langfristigen Verhäuslichen der menschlichen Vitalfunktionen – insbesondere zu den Harn- und Kotentleerungen ..............................................63 4. Wandel der Wohnverhältnisse, Verhäuslichung der Vitalfunktionen, Verstädterung und siedlungsräumliche Gestaltungsmacht.................................71 5. Schlafen und Schlafräume.......................................................................................87 6. Nacht und Zivilisation. Wandlungen im Erleben der Nacht ............................99 7. Architektur und Zivilisation. Eine Skizze ...........................................................125 8. Sich ein Bild machen von Zugängen zur Soziologie?........................................141 Teil II Soziologisches Orientierungswissen ................................................ 151 1. Über den Beitrag von Norbert Elias zu einer soziologischen Entwicklungstheorie – Eine kommentierte Selbsteinschätzung......................153 2. Zum Austausch wissenschaftlichen Wissens. Ein Beitrag zu Ideal und Wirklichkeit der „interdisziplinären“ Denkarbeit von Wissenschaftlern........165 3. Über gesellschaftliche Intellektualisierungsprozesse und Wissenssynthesen...................................................................................................181 4. Soziologisches Orientierungswissen für europäische Staatsgesellschaften?...201 5. Metamorphosen der sozialen Frage. Über Robert Castels historische Soziologie ................................................................................................................217
Teil III Über Norbert Elias .......................................................................... 231 1. Zur historisch-soziologischen Psychologie von Norbert Elias........................233 2. Norbert Elias – aus Anlaß seines 90. Geburtstages...........................................241 3. Norbert Elias und der Prozeß der Zivilisation...................................................257 4. Das Deutschland-Bild von Norbert Elias und Elias-Bilder der Deutschen. Engagiert-distanzierte Bemerkungen zu einem europäischen Soziologen .....269 5. „Wofür habe ich überhaupt gelebt?“ Persönliche Erinnerungen an Norbert Elias ..........................................................................................................289 6. Einige Schritte voran in den Menschenwissenschaften – Norbert Elias........297 Teil IV Zivilisation, Gewalt und Töten ........................................................307 1. Soziale Wandlungen der Affekt- und Verhaltensstandarde sowie der Identitätsgemeinschaften. Zur Zivilisierung eines vereinten Deutschlands...309 2. Sind Menschen in der Lage, vom gegenseitigen Töten abzulassen? Zum Verflechten von Militarisierungs- und Zivilisationsprozessen.........................315 3. Gewalttätige Menschen. Die dünne Schale ihrer Zivilisierung und ihre vielen ambivalenten Auswege.......................................................................345 4. Über massenhaftes Töten sprechen lernen ........................................................353 Erstveröffentlichung der Texte ....................................................................357 Literaturverzeichnis......................................................................................359 Publikationsliste Peter R. Gleichmann ........................................................389 Editorische Nachbemerkung.......................................................................393 Register .........................................................................................................395
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Soziologie als Synthese – Vorwort des Herausgebers
Ein roter Faden? Was ist der rote Faden dieses Buches, dessen manifeste Themen – Architektur, Wissen, Zivilisationstheorie und Gewalt – auf den ersten Blick recht zusammenhangslos erscheinen mögen? Es geht um die Erarbeitung gesellschaftswissenschaftlichen Wissens, jedoch in einem weiteren Sinne als üblich. Hierfür erweist sich die Ausarbeitung menschenwissenschaftlicher und zivilisationstheoretischer Modelle, wie sie Norbert Elias vorgelegt hat, als nützlich. Im Hintergrund, aber hochwirksam: Wissenssoziologische und psychoanalytische Kenntnisse. Schließlich geht es gewissermaßen um den roten Faden selbst: Darum, wie man Zusammenhangswissen oder Synthesen bildet. In einer Ära vorherrschender Spezialisierung und Zergliederung von Wissen ist es ungewöhnlich, dass ein Wissenschaftler sich so vielseitig spezialisiert. Eigentlich aber zeigt sich Peter Gleichmann als Synthese-Spezialist. Man kann zeigen, „daß ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswirken kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind.“ (Goethe 1809: Teil 2. Kap. 2) Wohin führt uns dieser rote Faden? Wie sich Themen ineinander spiegeln Wie fügen sich ganz verstreut über vier Jahrzehnte und zu vier Themenbereichen publizierte Aufsätze zum Spannungsbogen eines Buches zusammen? Ein erster Blick in das vorliegende Werk zeigt, wie sich scheinbar ganz fern liegende Themenfelder überraschend ineinander spiegeln, einander „anstecken“. Da wird Architektur als physisches Gewaltmittel des werdenden Zentralstaates untersucht (128). Oder es wird im Rahmen der Theorie der Verhäuslichung menschlicher Vitalfunktionen die soziale Einschränkung der analen Angriffs- und Zerstörungslust diskutiert (68). Über Universitätsgebäude werden Zugänge zur Soziologie und Zugänge zu individuellem und gesellschaftlichem Erinnerungsvermögen
gesucht. In einem knappen Theorievergleich schreibt Gleichmann über die Luhmannsche Systemtheorie: „Man kann sich keinen größeren Gegensatz zur Eliasschen Wissenstheorie vorstellen als solche architektonischen Imponierbauten philosophischer Gelehrsamkeit“ (272). Schnell zeigt sich jedoch, dass es einen ausgewählten Bereich gibt, den des Wissens, der in den Abschnitten II. und III. im Zentrum steht, der sich jedoch zugleich auf das Vielfältigste dergestalt mit allen Haupt- und Nebenmotiven des Buches verbindet, dass ohne ihn aller Zusammenhang zerfiele. So etwa der Gedanke, „dass in einer Gesellschaft, die bereits über vier Generationen Technik und Industrie zu ihren Hauptkennzeichen zählt, auch Sozialwissenschaftler mehr über die langfristige Entwicklung der Technik wissen müssen.“ Die Arbeit an der Aufhebung der Trennung zwischen technischem und gesellschaftswissenschaftlichem Wissen steht am Anfang von Peter Gleichmanns wissenschaftlicher Entwicklung. Sie war Programm der damaligen Technischen Universität Hannover auf ihrem Weg zur Volluniversität. Der Soziologe und Stadtplanungstheoretiker Hans Paul Bahrdt wird Ende der 1950er Jahre als Personalisierung dieses Programms auf den neugeschaffenen Lehrstuhl für Soziologie berufen. Der junge Architekt Peter Gleichmann wird sein erster Doktorand und promoviert mit einer noch heute lesenswerten Arbeit über Grünplanung in Städten. Immer mehr wird er zum Soziologen und schließlich selbst auf einen Lehrstuhl für Soziologie berufen. Über diese erste Synthese hinaus entdeckt er mehr und mehr das Synthesenbilden als Berufung und in der Begegnung mit Norbert Elias wohl auch seine herausragende Begabung für diese Arbeit und ihre Bedeutung (vgl. Schröter , M. 1993). Diese Suchbewegung zeichnet sich aber schon in der Entwicklung von der Architektur über die Stadt- und Regionalplanung zur Soziologie ab. Schon bevor er im Rahmen seiner Weiterentwicklung der Zivilisationstheorie explizit über Fragen des Wissens sowie der Gewalt und des Tötens zu arbeiten beginnt, verknüpft er mehrfach Architektur-, Gewalt- und Wissensproblematik, so in der Frage an „unbelebte Architekturphotographie(n)“: „weshalb werden in ihnen durchweg die raumanschauend-leiblichen Menschen eliminiert?“ und kritisiert, psychiatrische und architektonische Kenntnisse verbindend, „sensorisch depriviertes Planungsdenken“. Am Beispiel oft visuell und nur implizit vermittelter Wissensformen behandelt Gleichmann bereits hier in Orientierungsmitteln eingelagerte, latente Gewalt. Wissen als Vitalfunktion? Bereits Norbert Elias hatte die von Sigmund Freud an der einzelmenschlichen Entwicklung gezeigte Bedeutung der menschlichen Vitalfunktionen um die sozio10
logische Ebene ergänzt. Was bei Freud psychogenetisch als orale, anale, und genitale Phase erörtert wird, wird von Elias mit soziogenetischem Akzent als relative Zivilisierung des Essens, der natürlichen Bedürfnisse und der Wandlungen in der Beziehung zwischen Männern und Frauen im modellhaft untersuchten europäischen Zivilisationsprozess diskutiert. Eine Schlüsselrolle wird in diesem zivilisationstheoretischen Modell, anknüpfend an Freuds Theoriebildung zu menschlichen Aggressionstrieben, den „Wandlungen der Angriffslust“ beigemessen, weil diesen eine Scharnierfunktion zwischen psychogenetischen und soziologisch-politischen Wandlungen zukommt, insbesondere in der Herausbildung eines zunehmend gesellschaftlich kontrollierten Gewaltmonopols als Teil der Bildung von Staaten, schließlich von „Staatsgesellschaften“ (Elias). Ein weiterer zentraler und durchgängiger Entwicklungsstrang der Eliasschen Theoriebildung und der wichtigste neben seiner Machttheorie ist unbestreitbar seine Wissenssoziologie. Peter Gleichmann bezeichnet insbesondere Elias’ Arbeiten über die Zeit und die Symboltheorie als „Versuche über das Bilden menschlicher Wissenssynthesen“ (211), mehr noch, zwei Ebenen verknüpfend, als „Darstellung der gesellschaftlichen Synthesevorgänge als gesellschaftlicher Prozeß und als wissenschaftliche Erkenntnismethode“ (235). Aber er weist auch darauf hin, dass Elias seine Vorstellungen über menschliches Wissen nur an wenigen Stellen explizit mit seinen Theoremen gesellschaftlicher Zivilisierung verbindet (179, 178, 177, 176, 174). Gleichmann selbst arbeitet dagegen diese Verbindung immer wieder in neuen Zusammenhängen heraus. Vor allem in den architektursoziologischen Arbeiten, in deren Zentrum seine Theorie der Verhäuslichung menschlicher Vitalfunktionen im Zivilisationsprozess steht, rückt er die Diskussion von Wissensbildung so eng und nachdrücklich an die Diskussion von Vitalfunktionen, dass man sich fragen könnte, ob es nicht ein fruchtbares Gedankenexperiment ist, auch Wissen selbst als menschliche Vitalfunktion aufzufassen, zumal unbestreitbar die Feststellung des Psychoanalytikers Bion gilt, dass „der Sinn für die Realität für das Individuum ebenso wichtig ist wie Essen, Trinken, Luft und Ausscheidung von Abfallstoffen. Die Unfähigkeit zu essen, zu trinken oder richtig zu atmen hat verheerende Folgen für das Leben selbst. Die Unfähigkeit, von der emotionalen Erfahrung Gebrauch zu machen, hat vergleichbare Katastrophen in der Entwicklung der Persönlichkeit zur Folge; ich schließe in diese Katastrophen Grade von psychotischem Verfall ein, die als Tod der Persönlichkeit beschrieben werden können.“ (Bion 1992: 89f.) Wissen wird hier als Prozess des Wissenserwerbs durch Umwandlung emotionaler Erfahrung aufgefasst. Man kann sich sogar fragen, ob es nicht bei der Diskussion menschlicher Vitalfunktionen einer unbewussten Fortsetzung der alten Körper-Geist-Spaltung gleichkommt, den Wissenserwerb, die Aneignung von Orientierungsmitteln, nicht in die Vitalfunktionen einzubeziehen. 11
Es gibt einen Bereich der soziologisch-psychologisch-planungstechnischen Untersuchung menschlicher Vitalfunktionen, in dem Gleichmann einen radikalen und von vielen als sehr anstößig empfundenen Tabubruch vollzogen hat, der detaillierten Thematisierung der Verhäuslichung der Harn- und Kotentleerungen. Zugleich sind gerade diese Untersuchungen besonders intensiv wissenssoziologisch durchwirkt: „Die Periode, in der die Städte des deutschen Sprachgebietes „mit der Kanalisation beginnen“, beginnt um 1860. Ein deutlicher Höhepunkt liegt in den Jahren zwischen 1890 und 1907 (...) In dieser Zeit werden die hier entscheidenden Entdeckungen Sigmund Freuds geschrieben und veröffentlicht; die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, 1904/5; „Charakter und Analerotik“, 1908 und „Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik“, etwa 1909. (...) Freud formuliert seine Beobachtungen am Verhalten von Säuglingen nach und während einer jahrzehntelangen öffentlichen Diskussion darüber, was mit dem Kot der Städter geschehen sollte und was wirklich geschieht. (...) Während dieser Zeit ist aber die Verfügungsgewalt, ist das tatsächliche Verfügen-Können der einzelnen Erwachsenen über ihre Exkremente in mehreren Veränderungsschüben weitgehend auf spezialisierte soziale Verbände übertragen. Es ist nun verboten, großenteils unmöglich geworden, Kot und Urin in oder nahe von Häusern zu behalten“ (68).
Diese besondere Nähe vor allem psychoanalytischen Wissens und speziell dieser Vitalfunktion erinnert an Bions wissenspsychologische Annahme: „dass ein Apparat existiert und sich einer Anpassung an die neuen Aufgaben unterziehen mußte und noch immer unterziehen muß; diese bestehen darin, den Forderungen der Realität durch die Entwicklung einer Fähigkeit zu denken gerecht zu werden. Der Apparat, der sich dieser Anpassung unterziehen muß, ist derjenige, der sich ursprünglich mit Sinneseindrücken befasste, die mit dem Verdauungstrakt zu tun hatten.“ (Bion 1992: 108) Wollte man diese wissenspsychologische Annahme wissenssoziologisch erweitert untersuchen, die Arbeiten von Peter Gleichmann wären die empirisch wie theoretisch naheliegendsten Quellen. Was die Erweiterung von Wissen und Bewusstsein angeht, ist der Vergleich mit Verdauungsvorgängen übrigens nicht nur im alltäglichen Sprachgebrauch bekannt, sondern findet sich beispielsweise auch bei einem bedeutenden Theoretiker universitären Wissens, dem späteren Kardinal Newman1 :
1 Bion warnt, „dass eine unbewusste Verwendung dieses Modells nicht nur dem Psychotiker Schwierigkeiten machen könnte, sondern auch dem Wissenschaftstheoretiker, der sich mit Problemen eines methodisch klaren Denkens befasst.“ (Bion 1992: 115) Das zeigt, wie wichtig die Enttabuisierung
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„The enlargement consists, not merely in the passive reception into the mind of a number of ideas unknown to it (...). It is the action of a formative power, reducing to order and meaning the matter of our acquirements; it is a making the objects of our knowledge subjectively our own, or, to use a familiar word, it is a digestion of what we receive, into the substance of our previous state of thought; and without this no enlargement is said to follow.“ (Newman, J.H. 1852, 1858, 1873: 135)
Auch hier wird, unter anderen mit Bezug auf Goethe, ein ganzheitlicher und Syntheseansatz des Wissens als Prozess verfochten. Ein bedeutender Intellekt sei „one which takes a connected view of old and new, past and present, far and near, and which has an insight into the influence of all these one on another; without which there is no whole, and no centre.“ (Newman, J.H. 1852, 1858, 1873: 135) Elias hat die Symbol- oder Wissensebene bereits in Ergänzung von „Raum“ und „Zeit“ in sein fünfdimensionales Modell des menschlichen Universums integriert. Sie ist auch in sein Mehr-Ebenen-Prozessmodell eingefügt worden (Waldhoff 1995: vor allem 66f., 81f., 268-293, 374ff.), demzufolge bei menschenwissenschaftlichen Untersuchungen immer die gegenseitige Abhängigkeit der zwischen- und innerstaatlichen Ebenen mit denen der menschlichen Beziehungen zur äußeren wie ihrer eigenen, inneren Natur zu berücksichtigen ist – und alle Begriffe, in denen wir die Beziehung dieser Ebenen zueinander begreifen können, gehören in die Symbol- oder Wissensebene und begründen so deren Interdependenz mit jenen (vgl. Kürûat-Ahlers 1994: vor allem 17-39, 377-415). Ihre Aufnahme in ein erweitertes zivilisationstheoretisches Modell der menschlichen Vitalfunktionen, wie ich sie hier zur Diskussion stelle, würde eine integrale Untersuchung der Zivilisierung und Entzivilisierung menschlichen Wissens und Denkens als Probehandeln (Freud) ermöglichen. Zivilisationstheorie als Zusammenhangswissen gegen Denkspaltungen Der von Peter Gleichmann fundiert und komprimiert begründete Ansatz des Vorrangs der Synthesebildung als wissenschaftliches Verfahren ist gegenwärtig sehr bewusst in einer Position innerwissenschaftlicher Opposition. Zugleich entwickelt er sich aus langen und vielfältigen Traditionslinien. Goethe hat das infantile Vervon Themen, wie Gleichmann sie durchgängig betreibt, für ein klares wissenschaftliches Denken ist. (Herv. d. Verf.)
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fahren der Naturforscher kritisiert, die „öfter durch Trennen und Sondern als durch Vereinigen und Verknüpfen, mehr durch Töten als durch Beleben sich zu unterrichten glauben.“ (Goethe 1984: 116) Gleichmann kritisiert vor allem die Übertragung dieser Verfahrensmodelle und Denktechniken, die man als regressiv bezeichnen kann, auf die wissenschaftliche Untersuchung von Menschen. Er zitiert zustimmend Elias’ Mozartstudie: „Gewöhnlich wird Soziologie als eine destruierende, reduzierende Wissenschaft aufgefaßt. Ich teile diese Auffassung nicht. Für mich ist Soziologie eine Wissenschaft, die uns helfen soll, das Unverständliche unseres gesellschaftlichen Lebens besser zu verstehen“ (284). Die ständig untergründig präsente Verknüpfung mit der Thematik der Gewalt und des Tötens ist es, die Gleichmanns Denken über das Denken so außerordentlich hellhörig und feinfühlig beim Aufspüren der zerstörenden, abtötenden (Devereux) Eigenschaften des „rein“ analytischen Wissenschaftstypus werden lässt (238) (vgl. Erdheim/Nadig 1994). So schreibt er bereits in seinen architektursoziologischen Arbeiten beispielsweise: „Menschliche Körpermaße zur Grundlage architektonischer Raumgestaltung zu machen, ist ein Gebot jeder baulichen Ökonomie (...) Für die Bewegung dieses Körpers im Raume gelten als allgemeines Denkschema jedoch Prinzipien der physikalischen Strömungslehre (...)“ (59). Hier werden also die Aspekte des lebenden Organismus betont, die dieser mit dem Unbelebten teilt, (vgl. Bion 1992: 134f.) Menschen werden denktechnisch auf unbelebte Materie mechanisch reduziert. Früh stellt der Machttheoretiker Gleichmann auch die Herrschaftsbezüge her, die in solchen latenten Gewaltverhältnissen wirken, wenn er etwa über architektonische Planungsdarstellungen aus der Perspektive von oben feststellt: „Was als Technik der gesellschaftliche Omnipotenz ausdrückenden Sicht von oben richtig und legitim sein mag, wenn es gilt, eine raum-’gestalterische Einheit’ zu beurteilen, ist ebenso ungeeignet, wenn es darum gehen soll, in derartigen Modellabbildungen zu prüfen, wie diese Raumkompositionen wohl orientierungs- und anschauungsräumlich von tatsächlichen Menschen erlebt wird“ (59).
Weil dies Aspekte des psychischen Lebens der Menschen angreift, die sich in solchen Gebäuden orientieren müssen, konnte Gleichmann psychiatrisches Wissen, die Psychopathologie der Raumstörungen, hier zur besseren systematischen Deutung des Raumerlebens in gebauter Umwelt einsetzen. Anders als viele unbewusst herrschaftskonform abspaltende Psychiater lokalisiert er die Störungen jedoch nicht da, wo sie sich manifestieren, bei den „Beplanten“, sondern im sensorisch deprivierten Denken der Planer, genauer: in der asymmetrischen Machtbeziehung zwischen beiden Gruppen. Man wird übrigens eine solche empirisch genaue Herausarbeitung von Strukturanalogien zwi14
schen psychotischem Denken und Formen etablierten akademischen Denkens sonst selten finden2 (54). Die falsche Gemütlichkeit störende Radikalität seiner wissenschaftsoppositionellen Erkenntnishaltung arbeitet Gleichmann in den explizit wissenssoziologischen Arbeiten härter heraus, wenn er die Kompatibilität abtötender Denktechniken (Devereux) der „modernen“ Wissenschaften mit den Tötungspraktiken der nationalsozialistischen Diktatur beleuchtet und dabei die Trennung von Herrschaftspraktiken und Erkenntnismethoden überbrückt: „Manche Disziplin hat sich bisher überhaupt nicht distanziert von den menschenverachtenden Praktiken ihrer Berufsangehörigen. Ein wirklicher Wandel der bevorzugt analytischreduktionistischen Erkenntnismethoden ist dadurch nicht eingeleitet worden“ (168).
Dies wird bezeichnenderweise durch kollektive Erinnerungsstörungen (vgl. Bion 1992: 105) der Disziplinen und Professionen untermauert, die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart wird angegriffen, die wirkliche Synthese verweigert oder zu zerstören versucht. Das Bekämpfen solcher Denkspaltungen (328) und Wahrnehmungsspaltungen bildet die innerste Triebkraft von Gleichmanns wissenschaftlichem Denken, es zieht sich wie ein roter Faden durch alle seine Arbeiten. Etwa wenn er die Beschränkung sozialwissenschaftlicher Kommunikation auf Sprache kritisiert: „Die sozialen Wirklichkeiten der Menschen werden aber mit sämtlichen Sinnesorganen wahrgenommen und auch erzeugt. Stets tritt auch das Erinnerungsvermögen hinzu“ (141).
Der Autor selbst hat sich, von der Architekturzeichnung her kommend und kunstsoziologisch versiert, stets auch zeichnerisch mitgeteilt. Die sehr enge Wechselwirkung von Denk- und Forschungsmethoden, Forschern und den gesellschaftlichen Macht- und Entwicklungsstrukturen, aus 2 Außer wiederum bei Bion: „Der Wissenschaftler, dessen Untersuchungen den Stoff des Lebens selbst einbeziehen, sieht sich in einer Situation, die eine Parallele zu der des Patienten aufweist, den ich beschreibe. Der Zusammenbruch der Ausrüstung, die dem Patienten zum Denken zur Verfügung steht, führt zur Vorherrschaft eines seelischen Lebens, in dem sein Universum von unbelebten Objekten bevölkert ist.“ (...). „Konfrontiert mit der Komplexität des menschlichen Geistes muß der Analytiker vorsichtig damit sein, selbst anerkannten wissenschaftlichen Methoden zu folgen; ihre Schwäche mag der Schwäche des psychotischen Denkens näher stehen, als man bei einer oberflächlichen Überprüfung zugeben würde.“ (Bion 1992: 59 f.)
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denen diese kommen, veranschaulicht der Autor an Vitalfunktionen wie Essen, Defäzieren (s.o.) und Schlafen (97), an elementaren Affekten wie Angst (99), besonders eindrücklich an Gewalt und Töten. Das Leitmotiv des Spaltens und Trennens versus Integration und Synthese durchzieht nicht nur die Themenfelder der Denkspaltungen, nicht nur die Spaltung kognitiver von emotionalen, psychischer von physischen und von gesellschaftlichen Prozessen. Der Autor hebt es bei politischen Prozessen hervor, wenn es etwa darum geht für die Zivilisierung eines vereinten Deutschlands „andere Mittel als die 40jährige schmerzliche „Teilung“ zu erfinden und durchzusetzen“ (313). Er kritisiert die Aufspaltung des Menschenbildes durch konkurrierende wissenschaftliche Disziplinen. Auch bei gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklungen wie dem der „Sozialdisziplinierung“ geht es um trennen, etwa der „Bürger“ von den „Verrückten“ (311). In seiner Erörterung von R. Castels „Metamorphosen der sozialen Frage“ hebt Gleichmann die Spannungsachse zwischen dem Rätsel der Kohäsion einer Gesellschaft und dem Risiko ihrer Fraktur hervor (220). Angesichts der gegenwärtigen grundlegenden Erschütterung sozialstaatlicher Regulationen versuche Castel „unsere Erinnerung für das Verständnis der Gegenwart zu mobilisieren“ (219) (vgl. auch Engler 2005). Der Gesellschaftspakt sei neu zu definieren: „Als Solidaritätspakt, Pakt für Arbeit, Pakt für Staatsbürgerlichkeit: Dies verlangt, dass wir uns über die Voraussetzungen der Inklusion aller Gedanken machen, auf dass sie, wie man zu Zeiten der Aufklärung sagte, Umgang miteinander haben“ können, d.h. „eine Gesellschaft bilden“ (Castel zitiert nach Gleichmann: 219).
Peter Gleichmann beschränkt die Erforschung der Tätigkeiten des Denkens und Forschens keineswegs auf die heute dafür besonders spezialisierten Gruppen der Intellektuellen und Forscher. In der faszinierend facettenreichen Arbeit über „Nacht und Zivilisation“ schreibt er über die europäische Barockzeit: „Die Menschen ängstigen sich. Doch sie vermögen sich zugleich ein wenig mehr von ihren Ängsten zu distanzieren. (...) Dieser soziale Distanzierungsschub, den die schriftliche Aufzeichnung derartiger nächtlicher Episoden markiert, zeigt sich auch in der Malerei. Die Maler beginnen die Nacht zu erforschen“ (102).
Darüber hinaus weist er auf alltägliche Syntheseleistungen aller Menschen hin. Das Problem liegt im hohen Grad von gesellschaftlicher und individueller Unbewusstheit dieser gesellschaftlich-emotionalen Prozesse. Ein höherer Grad an Selbstdistanzierung, an Distanzierung von den Gruppen, denen man angehört und die man in sich trägt und speziell von Perspektiven herrschender Gruppen erfordert zunächst, sich die Enge der Einflüsse bewusster zu machen. Synthesen lassen 16
sich besser aus einer gewissen Distanz bilden, Distanz vom Übermächtigen in und zwischen Menschen. Der Autor fragt in einer Schlüsselpassage, Denkstile und Denkkollektive (Ludwik Fleck) verbindend: „Lassen sich wirkliche Erkenntnisfortschritte in einer stärker reflektierenden, einer stets ‘empirischen’ und ‘theoretisch’ arbeitenden Sozialforschung überhaupt ausmachen, ohne zugleich auf die erkenntnisbemühten Menschen, die intellektuellen Träger derartigen Gesellschaftswissens zu achten? So wird noch eine erkenntnisfördernde Balance von intellektuellem Engagement und emotionaler Distanzierung hier beachtlich. Größere Distanzierung der Sozialforscher zu ihrem Herkunftsstaat verbindet sich notwendig mit stärkerer Fremdheit gegenüber derjenigen staatlichen Überlebenseinheit, in der sie wissenschaftlich arbeiten“ (351).
Fremdheitsverarbeitung vermutet Gleichmann als wichtige Quelle soziologischer Wahrnehmungsfähigkeit (vgl. Waldhoff 2002): „So ist auch die frühe Soziologie des Wissens entstanden in Orten des alten Galiziens wie Krakau oder Lublin oder des habsburgischen Österreiches, besonders in Budapest. (...) Norbert Elias' Denken und Sprechen stammt großenteils aus Überlieferungen dieses osteuropäischen Vielsprachen- und Vielvölkergemisches. Sein Wahrnehmungs- und Ausdrucksvermögen reflektiert derartige Erfahrungen. Persönlich erlebt er die aus solchem Zusammenleben mit Fremden erwachsenden Kulturkonflikte. (...) Er lernt jedenfalls früh die Fertigkeit, stets eine Balance halten zu können zwischen dem Zurücknehmen der eigenen Aggressionen und der ständigen Offenheit für andere Menschen. Offerieren Vielvölkergemisch und mehrsprachige Staaten (...) etwa eine Vorwegnahme von Fremdheitserfahrungen, die Europa an der Wende zum 21. Jahrhundert umfassender kennzeichnen? Vielleicht ist auch damit die enorme Verbreitung des Werkes von Elias zu erklären, ist seine Fähigkeit zur Affektsublimierung zu einer wichtigen Bedingung seiner triumphalen Rezeption ab Mitte der 70er Jahre geworden“ (202, vgl. auch 295).
Dies entspricht auch Freuds Erfahrungshintergrund. Gleichmann, der in der Integration der dynamischen Psychologie Freuds in eine soziologische Prozesstheorie Elias’ wohl eigenständigste Leistung sieht (244) und die psychoanalytisch geschulte Begriffsbildungsstrategie (273) betont, vermerkt auch, wie sehr dessen „Verzicht auf ein Bemühen um Rechtgläubigkeit“ bei der Übernahme psychoanalytischer Theoreme Wege zu sachgerechteren und ihrerseits integrationsfähigeren wissenschaftlichen Modellen öffnen kann (266). Er selbst geht in vergleichbarer und daran geschulter Weise sowohl mit psychoanalytischen wie auch mit zivilisationstheoretischen Modellen um und daher wo nötig in seiner eigenen Wissensintegration und Synthesenbildung auch über diese hinaus. „Warum identifiziert Elias sich so sehr mit Mozart? Er „sträubt sich innerlich dagegen“, das „Genie, den Künstler Mozart und den Menschen Mozart gleichsam in zwei verschiedene Kammern einzusperren (...) Das war eigentlich das Problem (...)“ Und es ist auch sein eigenes gewesen (vgl. Elias 1991a). Nie will er allein als „Fachmensch“ gesehen werden. Ich fra-
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ge ihn einmal, ob er bemerkt habe, wie sehr er gerade an Mozart Züge von sich selbst beschrieben habe. „Nein“, lehnt er brüsk ab, „wie kommen Sie denn darauf?“ Einen seiner ersten wissenschaftlichen Aufsätze hat er 1935 der „Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich“ gewidmet (Elias 1935), während er selbst gerade als politisch exilierter Flüchtling von Frankreich über die Niederlande nach England gerät. Wird er später nach einem möglichen Zusammenhang von Themenwahl und eigenem Schicksal gefragt, leugnet er diesen stets mit Entschlossenheit.“
Aber: „Immer hat Elias Jüngere, wenn sie ihn um Rat zu ihrem Forschungsthema fragen, mahnend gefragt, ob sie auch noch einen anderen Zugang zu ihrem Thema hätten als den durch „Bücher“; ob sie wenigstens etwas davon selbst erlebt hatten. „Deine Bücher sind / Bücher eben / Blick durch dünne Tücher / noch nicht / noch nicht Leben / (...)“, dichtet er (Elias 1987b)“ (215). Wie dicht ist menschenspezifisches Wissen mit den anderen, evolutionär älteren Vitalfunktionen verwoben, wie ähnlich ist es ihnen? Kann es nicht beispielsweise traumatisiert werden wie andere körperliche und seelische Funktionen auch? Ein Jahr nach Elias’ Tod organisieren Karl-Siegbert Rehberg und Peter Gleichmann in Essen eine Gedenktagung an Norbert Elias. Der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim trägt über „Unbewusstheit im Prozeß der Zivilisation“ vor, aber er meint zugleich Unbewusstheit im Prozess der Bildung einer Zivilisationstheorie, letztlich von Theorie überhaupt (vgl. Erdheim 1996). Elias’ persönliche traumatische Erfahrungen der irrationalen Gewalt des Nationalsozialismus (und, wie man hinzufügen muss, zuvor als Soldat im Ersten Weltkrieg, (vgl. Elias 2005: Bd. 17: 212-217) hätten ihn an der Seite der ich-psychologischen Strömungen der Psychoanalyse vor der Verknüpfung der Dynamik des Unbewussten mit der von Herrschaft zurückscheuen lassen. Als Forscher, der ja nicht in eine eigene Kammer gesperrt oder vom Menschen abgespalten werden kann, habe er daher in der Entwicklung des höfischen Absolutismus (und seiner Theoretiker) als wesentlicher europäischer Staatsbildungs- (und Intellektualisierungs)phase (vgl. Kürûat-Ahlers 2003) die rationalen Aspekte stärker gesehen als die irrationalen. Ein gewisses Zurückscheuen vor Unbewusstem, vor dessen gewaltsamer Produktion habe ihn verleitet, die dunklen, gewalttätigen Seiten von Zivilisationsprozessen weniger auszuleuchten. Dem wirkt Gleichmann in seiner zivilisationstheoretischen Arbeit doppelt entgegen: Zunächst verknüpft er konsequenter Leben und Werk, hebt Verleugnungen traumatisierter Zusammenhänge auf. Und darüber geht Gleichmann, der in Elias’ Zivilisationsbuch eine der großen intellektuellen Antworten auf die Erfahrung des Nationalsozialismus sieht, noch hinaus (244). Im Theorievergleich zwischen Elias und Zygmunt Bauman fragt er: 18
„Doch sind die Eliasschen Theoreme auch eine hinreichende Antwort gewesen auf die das 20. Jahrhundert prägenden Massenmorde vom Typus ‚Auschwitz’, ‘Gulag’ oder ‘Hiroshima’“ (345)? Und: „Darin geht Zygmunt Bauman viel weiter. Er fordert und skizziert deshalb einen entwickelteren, relativ autonomen sozialwissenschaftlichen Theorietypus. Entschiedener im Nachdenken über ‘die Moderne und den Holocaust’, wendet sich Zygmunt Bauman gegen das in der wissenschaftlich-technischen Intelligenz zum sozialen Standard gewordene ‘Erzeugen moralischer Indifferenz’. Er erinnert daran: „Die Mechanismen des Massenmords bauten auf dem zivilisierten Verhaltenskode auf und koordinierten kriminelle Taten in der Weise, daß den Vollstreckern sogar noch Gewissenskonflikte erspart blieben“ (346). Bauman erfüllt hier gegenüber den Standards der wissenschaftlichtechnischen Intelligenz die klassische Intellektuellenaufgabe „fachliche Denkparadigmen aufzulösen oder zu zerstören, wo sie weniger realitätstüchtig werden“ (187). Die Bildung neuer Synthesen erfordert die Auflösung oder, aggressiver formuliert, Zerstörung falscher herrschender Zusammenhangsmodelle. Hier haben analytische sozialwissenschaftliche Techniken ihren Platz. Ambivalenz und Synthese: Zivilisierungs- und Gewaltentwicklung Das Erlernen von Synthesebildung bedeutet, wie in und durch Gleichmanns Arbeiten zu sehen ist, keineswegs zwangsläufig die Herstellung harmonisierter Theoriegebäude (276). Das Beispiel der Erforschung der modernen Zivilisierungs- und Gewaltentwicklung zeigt, dass die Synthesebildung darin bestehen kann, organisierte, gleichwohl wenig bewusste Denkspaltung durch ein bewussteres emotionales wie intellektuelles Aushalten von Ambivalenz zu ersetzen. Dies wirft die Frage nach den Bedingungen einer Zivilisierung des Wissens auf, die Wissenssoziologie und Zivilisationstheorie explizit verknüpft. Wie diese Frage bezogen auf mehr oder weniger gewaltsame Denktechniken über Gewalt und ihre ultima irratio, das Töten, zu stellen wäre, darüber gibt Peter Gleichmann genaue Auskunft: „Zu den offenbaren Forschungstabus von Soziologen und Gesellschaftshistorikern zählen nicht nur die von den tötenden Organisationen ausgehenden beängstigenden Wirkungen auf die ganzen Gesellschaften. Auch über eine militärische Technikgeschichte, die nicht bloß apologetisch vorgeht, verfügt die wohlhabende Industriegesellschaft nicht. Und welche Wirkungen hat das praktische Miterleben der Schrecken eines langen Krieges für die Davongekommenen und für die folgenden Generationen? An die Tabuisierung dieser Art von Fragen läßt sich rasch erkennen, wie sehr die meisten modernen Soziologen und Gesellschaftshistoriker auf eine Perspektive der dominanten Machteliten eingeübt sind“ (338).
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„Die Vorstellungen von Sozialwissenschaftlern in ihren Szenarios, ihren systemund spieltheoretischen Modellen kennen keine Gefühle, nicht eigene, nicht die Gefühle derjenigen, die zur Gewalttat aufrufen, andere dazu mobilisieren oder dazu verführen, und schon gar nicht den Gefühlsrausch derer, die vielleicht als erste oder als potentielle Opfer ihrerseits zur Gewalttat schreiten. Sind Naturforscher an solchen Bemühungen um Frieden beteiligt, wird das Bild, das sie sich von anderen Menschen machen, noch mechanistischer“ (340). „Die langen Prozesse des Militarisierens und des Zivilisierens berühren sich im Hinblick auf die Formen des industrialisierten Tötens daher in einem zentralen Punkt. In der vorindustriellen Kriegsführung haben die Tötenden die Folgen ihres eigenen Handelns meist selbst miterlebt zusammen mit den für sie entsprechenden seelischen Folgen. Mit Anbruch des Nuklearzeitalters hatte die momentane seelische Unbeteiligtheit des Tötenden ein neues Stadium seiner extremsten eigenen Distanzierung erreicht (Anders, G. 1982)“ (340). „Das große Schisma der Menschenwissenschaften im Erkennen- und Verstehenwollen der kollektiven Gewalttat erhält im Europa des 19. Jahrhunderts seine bisher organisierte Gestalt. (...) Setzt sich diese lebensgefährliche Tendenz intellektueller Geringschätzung gemeinsamer Gewalttaten fort? (...). Das forcierte Abspalten der Menschenwissenschaften, schließlich deren völlige Trennung vom Erforschen der gemeinsamen Gewalttat und das Organisieren der einzelstaatlichen Gewaltmonopole sind deutlich zwei parallel laufende soziale Prozesse. Das Deutsche Reich hat wegen der gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerade führenden Position seiner Geschichtsforscher das internationale Modellbeispiel dafür abgegeben. Die Niederlagen des liberalen Bürgertums in Preußen nach den ‘Befreiungskriegen’ erleichtern der Regierung die Durchsetzung der ‘allgemeinen Wehrpflicht’, führen zur wachsenden Vormachtstellung des Militärs im jungen Nationalstaat. Vorrangig bieten nun akademische Historiker dem herrschenden Bildungsbürgertum die nationale Orientierung. Das Einbeziehen der militärischen Kriegs- und Gewaltgeschichte, ihre Etablierung in den Universitäten lehnen sie brüsk ab. Das genau hat Hans Delbrück mit seinem um 1900 begonnenen Monumentalwerk vergeblich versucht. Seine überhaupt erste ‘Geschichte der Kriegskunst im Rahmen einer politischen Geschichte’ wird zu einem Modellunternehmen mit universalem Anspruch. Doch auch die anderen Industriestaaten des 20. Jahrhunderts, in denen sich Geschichts- und Sozialwissenschaften festzusetzen beginnen, folgen so oder ähnlich jenem gewaltgeschichtlichen Spaltungsmuster“ (347).
Die Spaltung der Menschenwissenschaften in eine Zivil- und eine Gewaltgeschichte, die Aufspaltung der Wahrnehmung des Zusammenhangs von Militarisierungsund Zivilisierungsprozessen, die Abspaltung der Gefühle, vor allem der aggressiven, vom rationalistischen Menschenbild der Wissenschaftler, die Abspaltung kollektiver Erinnerung: So überwältigend einerseits die Zahl und Tiefe der von Gleichmann beschriebenen gewaltsamen Spaltungen, so beeindruckend andererseits die unbeirrbare Klarheit des intellektuellen Widerstandes dagegen, ja der denkerischen Heilungsversuche, die der aus einer Medizinerfamilie stammende Autor hier unternimmt – auch wenn dies gewiss keine „fröhliche Wissenschaft“ ist, die von der „Hoffnung auf Genesung angefallen“ wäre (Nietzsche). Ich möchte den Versuch der Herstellung oder Wiederherstellung von kollektiver Erinnerung hervorheben, etwa an das Leben und Sterben der Opfer oder auf einer anderen, damit jedoch verflochtenen Ebene an das wissenschaftliche 20
Modellunternehmen Delbrücks und dessen Schicksal: Den durchaus psychoanalytisch geprägten Versuch, Erinnerung, gerade auch wissenschaftliche Erinnerung, für das Verständnis der Gegenwart und im Blick auf mögliche Zukünfte zu mobilisieren (Bion 1992: 105). Stets widersetzt sich dieses Bestreben der Perspektive der jeweils dominanten Machteliten. Trotzdem hat Gleichmann unermüdlich darauf hinzuwirken versucht, „ein breiteres Zusammenhangswissen über das massenhafte gegenseitige Töten in Staatsgesellschaften und Ethnien unmittelbar zu fördern“. Dieses müsse schließlich in praktisches Lernwissen in den Schulen umgesetzt werden. „Dann erst wird das gesellschaftliche Wissen vom gegenseitigen Massentöten allmählich alle größeren sozialen Gruppen einer weiteren Staatengemeinschaft zuverlässig erreichen und verlässlich befrieden.“ (Gleichmann 2004: 413) Der Zusammenhang zwischen Synthesebildung und Zivilisierung wird hier nochmals neu beleuchtet. Eigene Synthesen bilden Eigene Synthesen bilden, den eigenen roten Faden finden – das ist der Kern jenes Schrittes voran in den Menschenwissenschaften um den es Peter Gleichmann geht (303, 250). Was kann man sich für diesen Weg mitnehmen aus dem vorliegenden Buch?: Den Widerstand gegen herrschende Perspektiven als den Perspektiven der Herrschenden, radikal, aber ohne jeden bloß theatralischen Gestus leerer Radikalität. Den Verzicht auf Rechtgläubigkeit gegenüber allem und jedem; vor allem gegenüber dem modernen rational-bürokratischen Staat und seinem, in den nichtdiktatorischen Varianten diskret hinter die Kulissen verlagerten Anspruch auf ein Monopol legitimer symbolischer Gewalt (Bourdieu). Verzichten auf ideal oder harmonisch abgeschlossene Theorien, diesen sogar misstrauen. Den Blick auf längerfristige, Mehr-Generationen-Prozesse. Das Verstehen von Synthesevorgängen als gesellschaftlichen, als psychischen und als Wissensprozessen. Lebendige Menschen in ihren raum-zeitlichen Verflechtungen zu untersuchen und nicht auf unbelebte Materie zu reduzieren, nicht methodisch-gedanklich, in symbolischer Gewalttätigkeit, nicht als Beihilfe zu organisiertem Massenmord. Verstehen, dass das in Vergangenheit und Gegenwart der Wissenschaften nicht selbstverständlich ist. Die Realutopie eines nicht-abtötenden, eines zivilisierteren Fühlens, Denkens, Erinnerns und Handelns unbeirrt ausloten. Angriffe auf die Zerstörung lebendiger Zusammenhänge erkennen und ihnen eigene Synthesen entgegensetzen lernen. Eine Erkenntnishaltung engagierter Distanzierung, die Fremd- und Selbsteinfühlung, Fremd- und Selbstdistanzierung auszubalancieren sucht. Die besondere Beachtung von Außenseiter- und fremden Perspektiven und ihren hohen Synthese21
chancen. Forschungstabus unterlaufen. Verhüllende Sprache vermeiden, sei es über Analität, Aggression oder Akademisches. Erlernen eines psychoanalytischen und eines machttheoretischen Verstehens. Sensibilität gegenüber den Begriffen, die man verwendet, ihrer Herkunft, ihrem Entwicklungspotential. Den Zusammenhang von Themenwahl und eigenem Schicksal suchen. Andere Theorien als offenen Rahmen, als Anregung für eigene Forschung betrachten und nicht als Dogma. Sie trotzdem genau studieren. Sich nicht von Phantasien überwältigen lassen. Kontrollierte soziologische Phantasie (C.W. Mills) entwickeln. Die Schichten des Bewussten und des Unbewussten kommunizieren zu lassen (291), eine Synthesenbildung, die zugleich eine psychogenetische Bedingung für weitere Synthesenbildung ist, eine Synthese, die Synthesen gebiert. Mit Leidenschaft wissenschaftlich arbeiten. Sich für anderes als Wissenschaft interessieren. Menschliche Gefühle nicht als Störung von Erkenntnisprozessen auffassen, sondern sich von ihnen beflügeln lassen. Nicht nur Theoriewissen zusammenfügen, auch Tatsachenwissen integrieren. „Künftige Wissenschaftlergenerationen werden aus dem Gesamtstrom wissenschaftlichen Wissens daher auch neue, eigene Synthesen schaffen. Die Synthesefähigkeit der einzelnen und der Gruppen wird daher auch zu einem Maßstab modelltheoretischer Wissensintegration. Wer jetzt ein neues Synthesenniveau zu erreichen trachtet, wird weniger einem bestimmten, einem idealen Modell folgen, sondern wird eher aus der „Logik der Situation“ und aus allem ihm zugänglichen Wissen heraus neue Synthesenschritte versuchen“ (265).
Wohin also führt der rote Faden dieses Buches? Richtig gelesen, mit einem Bild offener, miteinander verbundener und voneinander lernender Menschen, kann er in gewisser Weise zu uns selbst und zugleich zu neuen Forschungsfeldern führen. Nicht wenig für ein wissenschaftliches Buch. Auch ich habe in diesem Vorwort nicht mehr tun können, als mein eigenes Verstehen der Arbeiten, nicht nur der hier veröffentlichten, sondern der mir zugänglichen Lebensarbeit von Peter Gleichmann, einschließlich seiner Vorlesungen und Seminare, zusammenzufassen und darin auch meinen roten Faden zu finden. Für mich war hier nicht der rechte Ort, über den Zusammenhang von Leben und Werk dieses Autors zu spekulieren. Aber so schreibt nicht, wer die beschriebenen Gefährdungen nicht auch innerlich selbst erfahren hat. Und nur so wächst lebendiges Wissen.
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Teil I Architektur und Zivilisation
1. Soziologische Bemerkungen zur „Anpassung der Wohnung an den Menschen“
Seit der Frühzeit der industriellen Gesellschaften gehört die Wohnungsfrage, das ist der historische Name des hier behandelten Problems, zu deren dunkelsten und zugleich populärsten Kapiteln. Dunkel, weil wir darüber zu wenig Genaues wissen, obwohl jeder einzelne von uns, sei er erwerbstätig oder nicht, hier die Auswirkungen des durch die industrielle Revolution in Gang gesetzten sozialen Wandels deutlich zu spüren bekommt; und populär, weil die permanente Unzufriedenheit mit den Wohnverhältnissen ein dankbares Thema jeder Sozialpolitik bleiben kann. Jeder einzelne glaubt, eine intime Kenntnis des Wohnungsproblems zu haben. Neue Stellungnahmen dazu aktualisieren deshalb die latenten Einstellungen und verfestigen Vorurteile meist ungewöhnlich heftig. Die Einführung faktischen Wissens wird dadurch unendlich erschwert. Zu Recht spricht man bereits von einem Mythos der Wohnungsreform (Dean 1949: 213ff.). Wir versuchen, die moderne Wohnungsfrage abwechselnd unter drei Aspekten zu sehen: dem (makro-ökonomischen) Gesamtaspekt einer Volkswirtschaft, als ökologisch-regionales Problem etwa einer Stadtregion, und aus der Sicht des einzelnen Familienhaushalts. Die Wohnungsansprüche Wohnen ist ein unabweisbares Existenzbedürfnis. Gegenüber anderen existentiellen Bedürfnissen ist die Wohnung sicherlich das kulturell Variabelste. Die außerordentliche Variabilität des Gutes Wohnung führt auch zu dessen Sonderstellung auf dem Gütermarkt. Es kann durch andere Güter nicht ersetzt werden. Der kulturelle Standard des Wohnbedürfnisses ist aber nach oben hin unbegrenzt. Es gibt eine unendlich abgestufte Skala vom Nomadenzelt oder der spanischen Lehmhöhle bis zum Palast von Versailles. Dagegen ist zum Beispiel unser Nahrungsbedürfnis äußerst begrenzt. Wir können selbst bei größter Anstrengung nur eine ganz bestimmte Menge verzehren. Wohnen ist als unabweisbares Existenzbedürfnis zu verstehen, soweit es sich eigentlich nur um einen elementaren Witterungsschutz handelt. Erst in zweiter Linie hat die Wohnung deutlich Funktionen im Zusammenhang mit Ernährung und Erziehung, Körperpflege und Gesunderhaltung. Außerdem dient sie schließlich auch ge-
sellschaftlichen, kulturellen und ästhetischen Bedürfnissen (Chapman 1955: 18). Im Allgemeinen ist sie in unserer Kultur nicht mehr Ort der beruflichen Arbeit, wenn auch ein wesentlicher Teil des menschlichen Aufenthaltes in der Wohnung weiter als Arbeit betrachtet wird. Dafür haben Wohnung und Wohnungseinrichtung in hohem Maße symbolische Funktionen übernommen, die die Übereinstimmung mit bestimmten sozialen Normen oder die Abgrenzung dazu verdeutlichen. Es haben sich ausgesprochen feste kulturelle, regionale oder schichtspezifische Wohnstandards gebildet. Historisch gesehen haben sich die Wohnungsansprüche allein in diesem Jahrhundert außerordentlich verändert. Dennis Chapman verweist zu Recht darauf, daß allein schon die staatlich vorgeschlagenen Standardgrößen von 1919 bis 1944, also innerhalb von 25 Jahren, um 50 % angestiegen sind. Und es ist noch nicht sehr viel länger her, daß ein deutscher Kaiser sich jede Woche eine Badewanne unter den Linden anfahren ließ. Gegenwärtig sind die wichtigsten, das Wohnbedürfnis der einzelnen Familien drastisch verändernden Faktoren: 1. die Verlagerung des Arbeitsplatzangebotes (Zwang zum Ortswechsel, das heißt meist auch zum Wohnungswechsel); 2. sozialer Auf- oder Abstieg (Wechsel der Beschäftigung, des Einkommens, der familiären Verhältnisse, des Familienstandes, Veränderung des Anspruchsniveaus); 3. der Familienzyklus (Anwachsen und Verkleinern der Familie, Alterung, Familienteilung). Diese drei Hauptquellen für die Veränderung des individuellen Wohnungsbedarfs verflechten sich in Wirklichkeit zu einem sehr komplexen Gebilde. Der einzelne Familienhaushalt hat im allgemeinen folgende Möglichkeiten, die Wohnung seinen wechselnden Bedürfnissen anzupassen: 1. er sucht eine andere Wohnung über den sogenannten Wohnungsmarkt; 2. er bleibt in der Wohnung (Haus) und ändert nur den abgeschlossenen Wohnbereich der Familie (Verkleinerung oder Vergrößerung durch bauliche oder rechtliche Mittel; Untermieter oder Schlafstellen); 3. er bleibt in der Wohnung (Haus), verändert aber nur die Nutzungsarten der Räume (durch Ummöblierung, Überbelegung, Umzug innerhalb der Wohnung oder zusätzlichen Erwerb von Einrichtungsgegenständen). Die räumliche Beweglichkeit von Arbeitskraft und Wohnung Die Abhängigkeit des Wohnungsmarktes vom Arbeitsmarkt der industriellen Gesellschaft ist seit langem bekannt (vgl. Katona/Mueller). Was wir als Verstädterung bezeichnen, ist ökologisch gesehen eine zunehmende gesellschaftliche Konzentra26
tion als Folge vorausgegangener Arbeitsplatzkonzentration. Dieser die Wohnungsnachfrage erzeugende Prozeß ist allen sich industrialisierenden Gesellschaften eigen. Davon unabhängig kennzeichnet es alle hochindustrialisierten und auch hinsichtlich der soziokulturellen Verhaltensweisen „verstädterten“ Gesellschaften, daß die Arbeitsmärkte sich spontan geographisch verlagern können. In den USA geschah das beispielsweise durch die im Krieg begonnene Industrialisierung der Ostküste. In der Bundesrepublik wandert zum Beispiel die Stahl- und Erdölindustrie an das Meer. Stets wird dadurch ein massenweiser Ortswechsel von Arbeitskräften erzwungen. Daß er erzwungen werden muß, liegt an der räumlichen Schwerbeweglichkeit des menschlichen Arbeitspotentials unserer Wirtschaft. Es scheint jedoch für die Gesellschaften, die ihre Existenzgrundlagen auf industrielle Weise ständig reproduzieren, ein sie geradezu definierendes Kriterium zu sein, ihr Arbeitskräftepotential in bestimmten Graden räumlich beweglich zu erhalten. Die Schwierigkeiten, die sich dem Umzug ganzer Familien stellen, beruhen auf den hohen Umzugskosten, der Bindung an den Besitz, an Verwandte, Schulen und anderes. Da mit dem Zwang, den Wohnsitz aufzugeben, stets die Gefahr verbunden ist, ein ganzes Netz örtlich gebundener sozialer Beziehungen zu verlieren, verstärkt sich der Widerwille gegen einen Umzug. Charakteristisches Beispiel für einen durch Arbeitsplatzwechsel zustande gekommenen totalen Statusverlust ist die Situation der modernen Fremdarbeiter in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Praktisch vollkommen unbeweglich und ortsfest sind dagegen die Wohnungen selbst. Gerade ihre Immobilität verleiht dem investierten Kapital die Sicherheit. Unter dem Gesichtspunkt, daß Familien und Wohnungen nur sehr schwer zu räumlichen Bewegungen zu veranlassen sind, müssen die folgenden Untersuchungen über die verschiedenen Anpassungsprozesse gesehen werden. Sie verdeutlichen das Gewicht, das den Möglichkeiten zukommt, sich ohne Aufgabe der Wohnung oder des Hauses den wechselnden Bedürfnissen innerhalb ein und derselben Räume immer wieder anzupassen. Dieser Prozeß geht besonders in jungen Familien unablässig vor sich. Wir gehen zum Schluß darauf näher ein. Der Wohnungsmarkt Die volkswirtschaftlich bedeutendsten Auswirkungen hat die Mobilität und Neugründung von Familien, das heißt die Suche nach einer anderen oder gegebenenfalls überhaupt nach einer Wohnung auf dem Wohnungsmarkt. Der Wohnungsmarkt hat sich als wichtigstes Regulativ unterschiedlicher Wohnbedürfnisse nur in den Gebieten großer gesellschaftlicher Konzentration, das heißt meistens der in27
dustriellen Großstädte, herausgebildet. Abgesehen von einer kurzen Periode zu Anfang der Industrialisierung hat es in Deutschland nie eine Überproduktion von Wohnungen gegeben (Reich, E. 1912: 164). Der Wohnungsmarkt ist praktisch immer von einer übergroßen Nachfrage bestimmt gewesen. Ohne auf diese Problematik hier weiter einzugehen, müssen wir doch wenigstens unterscheiden zwischen der 1. allgemeinen, langfristigen Wohnungsbedarfsentwicklung einer Volkswirtschaft und 2. der regionalen und zeitlichen Bedarfskonzentration. 1.
Die Bedarfsentwicklung
Quellen für einen wachsenden Wohnungsbedarf überhaupt sind heute folgende langfristige Bevölkerungsbewegungen: a) das Anwachsen der Gesamtbevölkerung (absolut gesehen), b) das Wachsen der Haushaltsneugründungen (sogenannte Reduktion zur Kleinfamilie und Funktionsverlust der Familien), c) die Steigerung der Heiratshäufigkeit, d) die Senkung des Heiratsalters, e) die verlängerte Lebenserwartung. 2.
Die Bedarfskonzentration
Auf diesem allgemeinen Hintergrund bekommt die örtlich und zeitlich begrenzte Bedarfsballung (Brecht 1960: 425ff.) einen besonderen Akzent. Sie interessiert die Stadtplaner und Wohnungsproduzenten und betrifft die wohnungssuchenden Familien unmittelbar. Sie hat hauptsächlich folgende Gründe: a) Nachholbedarf wegen Kriegsfolgen (zahlenmäßig inzwischen ausgeglichen), b) Zuwanderung (der wichtigste dynamische Faktor hält infolge weiterer Arbeitsplatzkonzentrationen an), c) regionaler Zuwachs an Haushaltsneugründungen (wegen des starken Zugangs sehr junger, noch unverheirateter Arbeitskräfte in die Stadtregionen), d) Wohnungsverfall- und abbruch, e) „Zweckentfremdung“ durch geschäftliche Nutzung (besonders in Citygebieten), f) Veränderung der „wohnungskulturellen Mindestansprüche“, des Anspruchsniveaus (der zweite dynamische und am schlechtesten abzuschätzende Faktor). 28
Jeder Fachmann weiß, wie schwer allein für kurzfristige Prognosen diese und alle übrigen Faktoren zu übersehen sind. Daher rühren zweifellos das außerordentlich starke spekulative Moment der Wohnungsproduktion und die auch heute vorhandene Furcht vor einer Überkapazität, so daß wir gegenwärtig in der Bundesrepublik mehr als anderthalb baugenehmigte Jahresproduktionen an Wohnungen vor uns herschieben (vgl. WiSta 1963: 164); die tatsächlich durch Kaufkraft gedeckte Nachfrage nach Wohnungen ist fraglos noch wesentlich höher (Euler 1960a: 396). Und die Vermutung liegt nahe, daß der Wohnungsmarkt neben den manifesten Funktionen, Wohnbedürfnisse der Familien zu befriedigen und eine sichere Kapitalanlage zu gewährleisten noch eine ganze Reihe latenter, jedoch gesellschaftlich höchst bedeutsamer Funktionen übernommen hat. Seit dem Mittelalter haben lokale Gesellschaften, meist Städte, ein ganzes Instrumentarium von Maßnahmen zu ihrer Stabilisierung oder zur bedarfsweisen Verhinderung politischer Machtverschiebungen erfunden. Was Banlieue und Bannmeile seit dem Mittelalter, die Bauverbote im London des 17. Jahrhundert oder „Heimatrecht“ und Zuzugsbeschränkungen des 19. Jahrhunderts bezwecken sollten,3 wird – sehr viel weniger erfolgreich – auch im 20. Jahrhundert immer wieder versucht. Der italienische Faschismus der dreißiger Jahre versuchte es mit der „Antiverstädterungsgesetzgebung“ mit dem einzigen Ergebnis, daß sich die Unerbetenen in Slums (Bidonvilles) an den Stadträndern niederlassen mußten (vgl. NZZ vom 20.05.1961). In London gibt es seit den vierziger Jahren (Abercrombie-Plan) und beispielsweise in Tokio seit den fünfziger Jahren umfangreiche Bau- und Zuzugsverbote. Sie erweisen sich selbst in der Form der „restrictive convenants“ auf die Dauer als völlig unwirksam (NZZ vom 06.06.1963). Neuerdings beabsichtigt man den „ungeheuren Zuzug“ nach München durch eine „rigorose Zuzugssperre“ zu beschränken. Sollten sich aufgrund völliger Verkennung des Arbeitsmarktes einer Industriegesellschaft solche Bestrebungen durchsetzen, entsteht höchstens ein neues (Pendler- und) Wohnungselend (SZ vom 11.07.1963: 13, FAZ vom 12.07.1963:6).
3 Das Bannrecht wurde in Deutschland erst 1873 abgeschafft. – Über Bauverbote in London vgl. Hennock 1963: 57. – Zur Funktion des „Heimatrechts“ vgl. Elster et.al. 1923.
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Welches Gut erscheint am Wohnungsmarkt? Die Wohnung nimmt innerhalb des Gütersektors und der wirtschaftlichen Verhaltensweisen nicht nur eine Sonderstellung ein, weil sie sehr langfristig genutzt und nur in einem längeren Zeitraum hergestellt, das heißt auch reproduziert werden kann (Heuer, J. 1962: 1798ff.), sondern vor allem, weil sie nicht eigentlich selbst auf einem Markt erscheint. Allgemein marktfähiges Gut ist nur das „Wohnen“, die Wohnungsnutzung, das heißt die Überlassung zum Gebrauch auf Zeit gegen Entgelt. Seitdem wir überhaupt von einem Wohnungsmarkt sprechen, hat der Kauf oder Verkauf von Wohnhäusern der Zahl nach eine geringe Rolle gespielt; und dies, obwohl zum Beispiel 1963 von den 18,3 Millionen Haushalten in der Bundesrepublik 6,4 Millionen „Eigentumswohnungen“ (36 %) waren (HAZ vom 22./23.06.1963). Hauptsächlich zwei Merkmale unterscheiden den Wohnungsmarkt vom allgemeinen Konsumgütermarkt. Erstens produziert überwiegend derjenige das Gut Wohnung, der später selbst Eigentümer ist. Dies betrifft sowohl den Zustand einer individuellen Selbstversorgung, wie es bis zur industriellen Revolution auf dem Lande und in der Stadt ausschließlich üblich war, als auch die Wohnungsproduzenten, die ihre Wohnungen nur zur mietweisen Nutzung Dritter an den Markt bringen. Diese letzteren Wohnungen sind die eigentlich am Markt erscheinenden, da die von „Selbstversorgern“ errichteten (Eigentums-)Wohnungen in der Regel für Jahrzehnte oder Generationen lang im Familienbesitz verbleiben. Der zweite Unterschied des Wohnungsmarktes liegt also praktisch im marktfähigen Gut „Wohnungsnutzung“ begründet. Angeboten und nachgefragt ist überwiegend eine bestimmte Leistung und keine Sache. Moderne Mittel zur Lösung der modernen Wohnungsfrage Das, was wir seit über hundert Jahren in der Sozialpolitik die „Wohnungsfrage nennen, kennen wir deshalb nicht mehr. Der Inhalt der modernen Wohnungsfrage hat sich gewandelt. Beim gegenwärtigen Stand der industriellen Gesellschaft hat sich unsere Situation in dreierlei Hinsicht verändert: 1. Wir haben wirksame Kontrollen entwickelt, durch die wir einzelne Elemente in wirtschaftlicher, technischer und sozialer Hinsicht zu steuern vermögen. Wir steuern zum Beispiel das Ausmaß der Bautätigkeit und speziell das der Wohnungsproduktion über ein kompliziertes System öffentlicher Subventionen, das heißt letztlich durch gezielte gesellschaftliche Anstrengungen. Und wir haben seit fast 500 Jahren vielfältige Systeme der Mietpreiskontrolle erprobt; und seit 30 Jahren Kontrollen der Baulandpreise eingeführt. Wo wir diese Kontroll- und Steuerungssysteme wieder aufgeben, ist das ein Akt politi30
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scher Entscheidungen und nicht ein Ergebnis etwa erwiesener technischgesellschaftlicher Undurchführbarkeit. Unsere technischen Mittel zur Lösung der sogenannten Wohnungsfrage haben sich gewaltig entwickelt. So können wir aufgrund der besseren Beherrschung bautechnischer hygienischer und versorgungstechnischer Mittel auf zufriedenstellende Weise Bevölkerungsdichten erzielen, die noch vor 35 Jahren ein sicheres Indiz für Slums gewesen wären. Erinnert sei auch an die Bedeutung der Massenverkehrsmittel, die trotz des anhaltenden Konzentrationsprozesses der Arbeitsplätze eine Dezentralisierung der Wohnungen ermöglichen und damit auch die Chance bieten, die regionale Wohnungsbedarfsballung zu zerstreuen. Und schließlich erlaubt die Entwicklung des Autos zu einem individualisierten Massenverkehrsmittel eine erhöhte und schnellere Anpassung der Menschen an ein weitläufiges und differenziertes Wohnungsangebot. Von den 28.385 Arbeitnehmern, die zum Beispiel das Opelwerk in Rüsselsheim 1957 beschäftigte, wohnten 75 % außerhalb der Stadt; sie waren auf 962 Wohngemeinden verteilt (Staubach 1962: Abb. 8). Sogar in der zur selben Zeit etwa doppelt so großen Stadt Wolfsburg, die ebenfalls ihre Existenz nur einem einzigen Industriebetrieb zu verdanken hat, kam 1959 die Hälfte (48,5 %) aller damals 35.000 Beschäftigten von außerhalb (lt. Stat. Mitt. des AA Wolfsburg 1959). Städteplaner, die oft geradezu monoman das Ansteigen des privaten PKW-Verkehrs verurteilen, weil sie die technischen Folgen spüren, vergessen leider meist die zahlreichen gesellschaftlichen Chancen einer Individualisierung des Berufsverkehrs. Nicht nur an das regionale Wohnungsangebot vermögen wir uns rascher anzupassen, sondern vor allem natürlich an den jeweiligen Arbeitsmarkt. Daraus folgt die für unsere Familien sehr bedeutsame Möglichkeit, den Wohnsitz auch dann beizubehalten, wenn der Mann den Arbeitsplatz wechselt. Und umgekehrt, wenn wir durch Änderung unserer Familienverhältnisse die Wohnung wechseln müssen, können wir leichter den Arbeitsplatz behalten. In Zeiten der Vollbeschäftigung, die zum Beispiel einen gesellschaftlichen Aufstieg durch Betriebswechsel erleichtern, ohne daß gleichzeitig die Wohnung getauscht werden könnte, ist das eine wichtige Chance. Solcher Art Ausgleich zwischen unterschiedlich elastischen Wohnungs- und Arbeitsmärkten schlägt sich deutlich nieder im Pendlerverkehr zwischen Großstädten. Ursache hierfür sind nicht absoluter Mangel oder Überangebot an Arbeitsplätzen, wodurch ja der Pendlerverkehr vom Land in die Stadt entsteht, sondern vielmehr ein relativ unterschiedlicher Bedarf an jeweils spezialisierten Arbeitskräften. Wie sich ein solcher Marktausgleich täglich vollzieht, beobachten wir beispielsweise auf der Autobahn zwischen Köln und Düsseldorf oder Frankfurt und Wiesbaden. Über diese Zusammenhänge von Wohnungs- und Arbeitsmärkten wissen wir fast nichts. Aber wir können mit 31
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Sicherheit erwarten, daß die industrielle Vergesellschaftung mit ihrer arbeitsteiligen Verflechtung und Organisierung gesellschaftlicher Kooperation durch Benutzung individueller Verkehrsmittel erleichtert wird. Ein anderer technischer Beitrag zur Lösung der modernen Wohnungsfrage ist bei der Wohnungsproduktion die Einführung industrieller Fertigungsmethoden, wie sie sich in fast sämtlichen europäischen Ländern durchsetzen. In Frankreich wurden im vorigen Jahr beispielsweise 51 % aller Neubauwohnungen industriell hergestellt. Dafür sind die Baupreise seit Jahren stabil geblieben. Da die wirksame Einführung industrieller Methoden im Wohnungsbau jedoch erhebliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen hat, wird dadurch in der Bundesrepublik ein komplexer sozialer Mechanismus von Widerständen hervorgerufen (Jockusch 1963). Unsere Situation in der Wohnungsfrage hat sich schließlich nicht nur durch die Einführung wirtschaftlich-sozialer Steuerungs- und Kontrollmethoden sowie technischer Neuerungen geändert, sondern auch durch einen Wandel der Einstellung zum Eigentum. Dieser (seit dem Ersten Weltkrieg eingetretene) Wandel wirkt sich auf das Wohnungswesen in dreifacher Weise aus: a) Es gibt inzwischen eine objektive Veränderung des Eigentumsbegriffes sowie eine Umschichtung der Einkommensanteile am Haus- und Grundbesitz. Julius Brecht spricht von einer „Konzentration in der Wohnungswirtschaft“ (vgl. Brecht 1960). Von den 1959 vorhandenen Mietwohnungen entfielen nach J. Brecht 34 % auf die „unternehmerisch orientierte Wohnungswirtschaft“. In den (für die Wohnungsnachfrage bedeutsamen) Teilmärkten der Städte und Industriegebiete, namentlich der Großstädte erreicht der Unternehmensanteil teilweise 50 bis 70 % aller Mietwohnungen (vgl. Brecht 1960), in Einzelfällen sogar 80 %. Aus verschiedenen Gründen ist der Anteil der „unternehmerisch orientierten“ Wohnungsunternehmen am Gesamtwohnungsbestand im Wachsen begriffen. b) Die subjektive Wertschätzung des Eigentums in den verschiedenen sozialen Schichten hat sich verändert. Und die in unserer Kultur seit langem zu beobachtende unterschiedliche Einstellung der beiden Geschlechter zum Eigentum ist mit der wachsenden Emanzipation der Frau zweifellos bedeutungsvoller geworden. c) Schließlich – und dies scheint den Wandel am tiefgreifendsten bewirkt zu haben – haben alle entwickelten Industriegesellschaften in Ost und West inzwischen sehr umfassende Systeme sozialer Sicherheit ausgebildet. Mit anderen Worten: ein erheblicher Teil unseres Existenzrisikos ist vergesellschaftet worden und nimmt damit beispielsweise dem Wohnungseigentum viel von seinem früheren objektiven Sicherungswert.
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der Bürger der deutschen Städte in der Regel Hausbesitzer. Und die Gemeindevertretungen setzten sich praktisch ausschließlich aus Hausbesitzern zusammen (Hampe 1956: 64). In Preußen waren 1809 die Hälfte der gesamten Stadtbevölkerung Hausbesitzer (mit ihren Familien) (Baron 1911). Die wachsende gesellschaftliche Konzentration erlaubt mit einem Male mit der Entstehung des Bodenmarktes eine höhere Bodenrendite durch Vermietung von Wohnungen an die besitzlosen Klassen. Bereits 1833, also vor der eigentlichen Industrialisierung Deutschlands, entsteht in Hamburg der erste Grundeigentümerverein (Zusammenschluß aller Eigentümer, die das Vermietungsgeschäft ausüben) mit dem Ziel, „durch diese Maßnahme die Einkünfte aus den Grundstücken zu sichern und dadurch deren Wert zu festigen oder zu erhöhen“ (Hünecke 1930). Die wachsende Bodenrendite lässt die Schicht der „Hausbesitzer im Nebenberuf“ und den eigentlichen Typus des „Rentners“ entstehen, dem diese Renten eine objektive Sicherung seines Daseins gewähren. Richtete sich die Hamburger Hausbesitzerbewegung von 1833 noch ausschließlich gegen die Mieter, das Proletariat, so war der Zusammenschluß zum „Zentralverband Deutscher Haus- und Grundeigentümervereine“ 1879 bereits durch andere Gründe veranlaßt. Man wandte sich erstmalig auch gegen den Staat und dessen Eigentumsbegriffe (Preußisches Baufluchtliniengesetz von 1875, dann das Kommunalabgabegesetz von 1893). Die Zahl der Hausbesitzer „im Nebenberuf“ betrug – besonders in mittleren und kleineren Städten – häufig noch 80 % (Hünecke 1930). Während des Höhepunktes der Gründerzeit benötigte man oft nur 5 % Eigenkapital zum Hausbau. Und mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verliert dieser Hausbesitz erheblich an Momenten sozialer Sicherung. In Großund Mittelstädten ist der Einzelbauherr, der auf Vorrat Wohnungen baut, aus der Bauwirtschaft verschwunden. Das neue Wort „Einzelbauherr“ verdeutlicht nur die Ausnahme (Ahrends 1930: 234), denn die Wohnungsproduktion bedarf seit Beginn der sogenannten Wohnungszwangswirtschaft (1914) in zunehmendem Maße eines bürokratischen Apparates zur Abwicklung von Planung, Finanzierung, Bauüberwachung und späterer Verwaltung. Eigentümlicherweise reden wir seitdem mit etwas abschätzigen Unterton von der Wohnungszwangswirtschaft, ohne das wir etwa im selben Ton von einer Zwangsinvaliden-, Zwangskrankenversicherung sprechen würden, obwohl ohne Zweifel die Sozialversicherungen (Deutsches Reich 1883, RVO 1911) vermittels ihres staatlichen Zwangscharakters sehr viel weitreichendere Folgen für die industriellen Gesellschaften gehabt haben. Der Umschichtungsvorgang in der Wohnungswirtschaft ist nicht nur ein Resultat der staatlichen Wohnungsbewirtschaftung der zwanziger Jahre, der Zentralverwaltungswirtschaft des totalen Krieges oder der Wohnungsbaupolitik der Nachkriegszeit. Wir haben 33
vielmehr berechtigten Anlaß anzunehmen, daß die starke Konzentration in der Wohnungswirtschaft, die Zunahme der Eigentumsbildung bei der öffentlichen Hand, (Liefmann-Keil 1961: 27; für die Wohnungswirtschaft: Brecht 1960: 442) ebenso wie die Tendenz einer Vergesellschaftung etwa des kommunalen Bodenbesitzes, sehr typische Entwicklungen in hochindustrialisierten Ländern sind (vgl. Liefmann-Keil 1961; NZZ vom 20.04.1963: 1; NZZ vom 26.06.1963). Für eine Privatisierung beispielsweise der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen gibt es heute nur wenige und wenig durchdachte Vorschläge. Für eine Privatisierung etwa der gemeindeeigenen Betriebe trägt selbst das Deutsche Industrieinstitut nur noch wenige Argumente vor (Breidach 1960). Und von einer Privatisierung etwa des Bodenbesitzes unserer großen Gemeinden redet heute niemand mehr. Der gemeindeeigene Grundbesitz beträgt zum Beispiel in Stuttgart 34,3 %, in Frankfurt am Main 50,3 %, in Düsseldorf 57,1 % und Hannover 59 % des Gemeindegebiets. In den kleinen Gemeinden ist er unvergleichlich viel geringer (Stat. Jb. Dt. Gemeinden 1961). Noch vor 50 bis 60 Jahren war die Boden(kauf)politik der deutschen Städte heftig bekämpft (z.B. Gemünd 1914). Heute fehlt jede Diskussion darüber in der Bundesrepublik, während etwa die Bodenpolitik schweizerischer Gemeinden ständig öffentlich diskutiert wird (vgl. z.B. NZZ vom 25.05.1963: 55ff.; NZZ vom 14. und 15.03.1963). Zugleich jedoch beobachten wir eine Tendenz, daß frühere Eigentumslose zunehmend zu Eigentümern werden können (Liefmann-Keil 1961). So haben beispielsweise zwei Drittel aller vorhin genannten Einpendler, die aus den 962 Gemeinden nach Rüsselsheim (Opel) kommen, eigenen Haus- und Grundbesitz. Mit anderen Worten: die Bindung an den Grund dort üblicher Realteilung zustande gekommenen Hausbesitz veranlaßt den Arbeitnehmer eher zur Pendelwanderung (Staubach 1962: 43) als zur Aufgabe seines Besitzes, begründet durch die in kleinen Gemeinden traditionell hohe Wertschätzung des Eigentums (vgl. von Ferber 1963: 4).4 Über dieses typische Wechselverhältnis zwischen Wohnungseigentum und Sicherheit des Arbeitsplatzes wissen wir fast nichts. In einer norddeutschen Industriestadt beispielsweise versuchte man viele Jahre lang auch Eigenheime für die Arbeiter zu bauen. Man propagierte die Häuschen in Betriebsversammlungen, Werkszeitschriften und öffentlichen Versammlungen in 4 Der Verfasser verdankt Prof. Dr. Chr. von Ferber zahlreiche Hinweise zur Soziologie des Eigentums in der Industriegesellschaft und zur Wirtschaftssoziologie.
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der Stadt –, ohne Erfolg; denn es war öffentlich bekannt, daß der Fortbestand des Minette verarbeitenden Stahlwerks ungesichert war. Eigener Hausbesitz kann nur dem Arbeitnehmer eine zusätzliche Sicherung bedeuten, dessen Arbeitseinkommensquelle selbst gesichert ist. Sonst ist das Haus eben – in der Sprache der Werksleitung dieses Werks – eine goldene Fessel.5 Diesem Eigentum fehlt heute die ganze Sicherungsfunktion der Frühphase der Industrialisierung. Zusammenfassend können wir sagen: Nicht nur der Wandel in der Eigentumsverleihung (Zunahme der Eigentumsbildung bei der öffentlichen Hand sowie bei wenigen großen Gesellschaften), sondern auch als Folge davon ein Wandel unseres normativen Eigentumsbegriffes haben zum Wandel der modernen Wohnungsfrage beigetragen. Ein namhafter Fachmann aus dem Bundeswohnungsbauministerium weist in seinen Vorlesungen über Bau- und Planungsrecht darauf hin, das Allgemeine Preußische Landrecht habe noch grundsätzlich Baufreiheit für jedes Stück Land gekannt, das Bundesbaugesetz kenne nur noch ein allgemeines Bauverbot, und davon mache man bisweilen Ausnahmen. Aber auch der empirisch in der Gesellschaft vorfindbare Eigentumsbegriff hat sich in vieler Hinsicht gewandelt.6 Jeder von uns glaubt beispielsweise zu wissen, daß in ländlichen Gebieten der überwiegende Teil der Bevölkerung in eigenen Wohnungen lebt. Die bäuerlichen Wohnungen sind einfach ein Teil der landwirtschaftlichen Produktionsstätte, so wie der bäuerliche Familienbetrieb mit seinen Gebäuden – das „ganze Haus“ – die Urform des Produktionsbetriebes darstellt. Jede moderne Wohnungsstatistik gerät mit diesem bäuerlichen Begriff des „Hauses“ in Konflikt, wenn sie den Terminus der sogenannten Normalwohnung zu definieren versucht an der Abschließbarkeit, einem typischen Merkmal der Stadtwohnung. Welchen Wert in der dörflichen Gesellschaft Eigentum darstellt, erklärt zum Beispiel die Anekdote des jungen stadtgewohnten Soziologen, der in der Nähe einer süddeutschen Universitätsstadt eine Dorfuntersuchung beginnen will und sich beim Bürgermeister nach den Dorfarmen erkundigt. „Solche Leute haben wir nicht“, erklärt der Bürgermeister kategorisch. Nach einigem Zögern und weiteren Erkundigungen des Soziologen 5 Ein Landrat aus der Nähe von Stuttgart erläuterte im Anschluß an den vorliegenden Vortrag seine sozialpolitischen Vorstellungen, indem er stolz auf die Familien in seinem Kreis hinwies, die er gezwungen hatte ein Eigenheim zu bauen, obwohl sie eine Mietwohnung wünschten: „Nur so können wir mit den Asozialen fertig werden.“ 6 Für die Vorstellung junger Architekten vgl. Heimat deine Häuser. Katalog zur Ausstellung über den deutschen Wohnungsbau im Landesgewerbeamt Baden-Württemberg vom 6. bis 30. Juni 1963.
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meint er: „Ja, höchstens der Lehrer und der Pfarrer!“ Auf die Frage: „Warum denn gerade die?“, folgt die Antwort: „Ja die? Die habbe kei Sach!“ Der übergroßen Wertschätzung des Eigentums auf dem Lande entspricht dort die geringe Achtung der Bildung. Nicht nur das Schulsystem selbst, sondern auch die am Bildungsgrad orientierte Skala des sozialen Prestiges sind auf städtische Bedürfnisse hin zugeschnitten (Heintz 1962b und die dort angeführte Literatur). In Wirklichkeit jedoch zeigt uns bereits die 1-v.H.-Wohnungserhebung 1960 des Statistischen Bundesamtes, daß man auch auf dem Lande zur Miete wohnen oder wohnen bleiben möchte. Der Anteil derer, die ein Eigenheim oder eine Eigentumswohnung wünschen, sinkt mit dem Ansteigen der Gemeindegröße (Sobotschinski 1960: 583). Dies hängt im einzelnen von dem Anteil der nicht in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung in den Dörfern ab, von den Bevölkerungsbewegungen (Migrationen) und damit im wesentlichen von der Art, dem Bedarf und der Beweglichkeit regionaler Arbeitsmärkte. Welche Auswirkungen die durch die Industrialisierung verursachte Wanderung haben kann, ist in Deutschland vielfach bereits vergessen. Das italienische Kleinbauerntum, der Mazzadri, läßt gegenwärtig zum Beispiel in ungewöhnlich großer Zahl Haus und Hof unbewohnt zurück, um in die Städte zu wandern, und zwar ohne Rücksicht auf die Eigentumsverhältnisse (NZZ vom 24.05.1963: 44). In folgerichtiger Neubewertung der Sicherungsmomente des Eigentums fordern Selbständige und freie Berufe, beides Gruppen, die den Hausbesitz seit langem besonders schätzen, heute Teilhabe an dem staatlich garantierten System sozialer Sicherheit; vor nicht langer Zeit noch ein unvorstellbares Verlangen. Die objektive Enge des „Wohnungsmarktes“ Sehr genau wird von der Bundesstatistik vorgerechnet, daß die Wohnungsmärkte sich gliedern nach verschiedenen Regionen und Sachen (Art, Ausstattung, Größe, Neubauanteil, tatsächliches Angebot, mit Kaufkraft versehene Nachfrage und „Zugangsregelungen“). Sobotschinski weist in der 1-v.H.-Wohnungserhebung 1960 deutlich auf die Enge der Märkte hin (Sobotschinski 1962: 384-389). Betrachten wir allein die Ausstattung der Mietwohnungen nach Gemeindegrößenklassen. Nur 51 % aller Mietwohnungen in der Bundesrepublik sind mit Bad und WC ausgestattet (Sobotschinski 1962: 385). Von den Mietwohnungen in Gemeinden unter 2.000 Einwohnern sind jedoch nur 24 % mit Bad und WC versehen. Was bedeutet die Tatsache, daß mit steigender Gemeindegröße auch die Wohnungsqualität steigt? Doch nichts anderes, als daß die Masse der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung durchschnittlich sehr viel schlechter wohnt und daß mit dem Weg in die 36
Großstadt auch die Chance wächst, eine besser ausgestattete Wohnung zu bekommen. Dazu, das ist noch zu berücksichtigen, ist der Anteil der an den Arbeitsplatz „gebundenen“ Mietwohnungen auf dem Lande am höchsten (33 % in den kleinsten Gemeinden und bis 14 % in den Städten über 500.000 Einwohner). Diese Wohnungen, auf dem Lande meist für Landarbeiter, in den Städten meist Werksund Beamtenwohnungen, binden nicht nur deren Bewohner in eigentümlicher Weise an den Arbeitsplatz. Der tatsächliche Anteil solcher „gebundener“ Wohnungen ist ohne Zweifel noch höher. Sie gehen vor allem für den öffentlichen Markt verloren. Der Bereich möglicher Nachfrage wird weiter eingeengt. Und dabei ist der Anteil an gut ausgestatteten unter den gebundenen, nicht öffentlich zugänglichen bemerkenswert hoch (Sobotschinski 1962: 387). Ein Blick in die Stellenangebote unserer großen Tageszeitungen macht uns sofort klar, daß keineswegs nur Hausmeister, Spezialdreher oder kaufmännische Angestellte eine „angemessene“ Werkswohnung angeboten bekommen, sondern überwiegend sogar Spitzenpositionen, Generaldirektoren, Ingenieure oder leitende Beamte. Gerade die Mieten solcher Wohnungen sind jedoch meist gering. Ein mehr oder weniger großer Teil der Miete wird in Form von Arbeitsleistungen gezahlt. Die Marktlage nach den Mieten beurteilen zu wollen, wird dadurch immer weniger möglich. Je genauer wir einen bestimmten Wohnungsmarkt regional eingrenzen, desto mehr werden die engen Grenzen deutlich, die der Wohnungsnachfrage eines einzelnen gestellt sind. Das Wohnungsangebot ist nicht nur regional von höchst unterschiedlicher Qualität, in höchst komplizierter Weise mit den Arbeitsleistungen verknüpft, durch mehr oder weniger sorgfältig befolgte Gesetze und Verordnungen für einzelne Bevölkerungsgruppen reguliert, es ist vor allem für die einzelnen sozialen Schichten ein und derselben Gemeinde in krasser Weise qualitativ unterschieden. Wir haben dies in einer für die Stadt Hannover repräsentativen Befragung von Familienhaushalten einmal untersucht und feststellen müssen, daß die den oberen sozialen Schichten zugänglichen Wohnungsqualitäten erheblich besser sind als die der Unterschichten. Dabei hat die untersuchte Großstadt einen überdurchschnittlich guten Wohnungsbestand, gemessen etwa an weniger zerstört gewesenen Städten (und am Bundesdurchschnitt). Aber bekanntlich zählt zu den Elementen, die den Preis der Wohnung sehr wesentlich mitbestimmen, auch die Lage der Wohnung. Diese sogenannte Wohnungslage ist qualitativ am schwersten zu messen, weil die Segregation der sozialen Schichten von zahlreichen Unwägbarkeiten bestimmt wird. Als ein sehr gut messbares Kriterium für die Bewertung der Wohnungslage durch die sozialen Schichten selbst hat sich die Nähe der Wohnung zu einem Park erwiesen. Aus unserer Untersuchung der „Sozialwissenschaftlichen Aspekte großstädtischer Grünplanung“ zeigt die Abb. 5 eine Tabelle mit Zeitangaben für die Entfernung 37
von Wohnung und Park, unterteilt nach den Berufen des Haushaltsvorstandes (Gleichmann 1963). Sogar in einer Großstadt, die sich als die Stadt im Grünen bezeichnet, liegen nur die von den oberen Schichten bevorzugten Wohngebiete unmittelbar an einem Park. Die Segregation, bisweilen rechtlich gesichert, engt das Angebot weiter ein (NZZ vom 06.06.1963). Städtebaulich-technische Mittel, die vielerorts eine Segregation bestimmter Bevölkerungsgruppen untereinander räumlich markieren, sind seit langem Wasserläufe, Straßen, Eisenbahnen, und niemand hat die Einstellungen und Empfindlichkeiten der Bewohner in dieser Hinsicht bisher treffender beobachtet als die Makler. Sie sind, das wird mancher Soziologe neidvoll eingestehen, die schärfsten Beobachter der städtischen Wohngewohnheiten. Marktchancen und Bildungsgrad Bereits eine an sich recht kursorische Faktorenanalyse hat deutlich werden lassen, wie der Markt eventuell vorhandener Wohnungen bei näherem Zusehen immer kleiner und enger wird. Obwohl wir zahlreiche Faktoren noch gar nicht untersucht und zwei der wichtigsten – die Preise (Mieten) und den Familienzyklus – noch unerwähnt gelassen haben, ist uns ein grober Marktüberblick nur ermöglicht worden durch mannigfache fremde und eigene Statistiken. Sie anzufertigen, hat die beteiligten Institute und Ämter neben beträchtlichem finanziellem Aufwand zwei bis drei Jahre Zeit gekostet. Es ist deshalb eine soziologisch legitime Frage, zu ergründen, wie eigentlich der durchschnittliche Verbraucher (Wohnungssuchende) seinen, wie wir sehen, höchst persönlichen und begrenzten Wohnungsmarkt findet. Er nimmt ja nicht statistische Tabellen zur Hand. Woher stammen seine Kenntnisse über Finanzierungsmöglichkeiten? Welche Informationsquellen gibt es für ihn überhaupt? Zeitungen, Makler, Agenten? Wen beauftragt er mit dem Nachforschen? Und welche Informationsquellen sind für ihn schließlich die ergiebigsten (Rossi 1955: 152)? Erinnern wir uns daran, wer eigentlich Bücher und Zeitungen liest. Nach Erhebungen der DIVO lasen im Jahre 1959 43 % der Bevölkerung zwischen 16 und 79 Jahren keine oder fast keine Bücher (DIVO 1962: 147). Ende 1957 wurden von der erwachsenen Bevölkerung in der Bundesrepublik über 70 % von mindestens einer Tageszeitung erreicht (DIVO zit. in Habermas 1990: 187). Das Interesse, Bücher zu lesen, wächst mit dem Bildungsgrad, mit steigendem Einkommen und zunehmender Ortsgröße (DIVO zit. in Habermas 1990: 187). Und eine größere überregionale Tageszeitung wird nur von 2,4 % der Bevölkerung bezogen (DIVO zit. in Habermas 1990: 187). An diesen Zahlen mag man ermessen, wie weit verbreitet das Wissen um die komplizierte Wohnungsbauförderungs- und Mietsubven38
tionsbestimmungen sein kann. Glücklicherweise können wir, um die Fragen nach der individuellen Marktübersicht genauer zu beantworten, auf eine sorgfältige amerikanische Studie zurückgreifen (Rossi 1955). Rossi untersuchte die innerstädtische Wanderung (area mobility) von Familienhaushalten in Philadelphia sowie Gründe dieser innerstädtischen Wanderung. Die neuen Wohnungen wurden gesucht, indem man sehr häufig die Tageszeitungen studierte, einfach herumlief in dem gewünschten Wohngebiet (die alte Methode der Wohnungssuche), indem man alle denkbaren persönlichen Kontakte mobilisierte, durch Zufall und schließlich auch durch Agenten und Makler. Aber auf welchen Informationskanälen wurden sie gefunden? Überraschenderweise zeigten sich Zeitungen und Makler als die am wenigsten erfolgreichen Wege. Makler wurden zwar öfter und häufiger mit Erfolg von solchen Familien in Anspruch genommen, die ein Haus kaufen wollten. Als die mit Abstand erfolgreichsten Informationswege stellten sich jedoch heraus: Persönliche Kontakte, Freunde, Verwandte und „Zufall“. Auch die Zeitungen erwiesen sich als effektiver für Käufer und nicht für Mieter. Umgekehrt wurden Mietwohnungen häufiger durch persönlichen Kontakt und Suchen an Ort und Stelle gefunden. Und vor allem, je billiger die Wohnung, desto informeller, d.h. persönlicher waren die Kanäle, auf denen man die Wohnung fand. Oder anders formuliert, die Familien mit niedrigem sozialem Status pflegten ihre neuen Quartiere durch persönliche Kontakte oder direkte Inaugenscheinnahme zu finden, und die Personen mit höherem Sozialstatus benutzten die Tageszeitungen und Makler häufiger und wirksamer. Die Familien der untersten Schichten gingen einfach in das Wohngebiet der Innenstadt (low-status, mobile area) oder fuhren mit dem Auto herum und fragten direkt. Die meisten der dann bezogenen Wohnungen in diesem Gebiet wurden gefunden, indem die Leute nach Zetteln „Zimmer frei“ in den Erdgeschoßfenstern Ausschau hielten oder direkt, von Tür zu Tür gehend, nachfragten (Rossi 1955: 161ff.). Man kann sich kaum bildhaft genug vorstellen, wie klein auf diese Weise für die einzelne Familie der Überblick über das Wohnungsangebot der Stadt wird. Mehr als auf allen anderen Konsumgebieten hängt die Wohnungssuche vom Bildungsgrad des Konsumenten ab. Im Kaufhaus hat jeder Konsument die gleiche Übersicht der Kaufkraft in Geld. Im Zeitalter hochentwickelter Massenmedien, in dem marketing auf der einen und Verbraucherorganisationen und -publikationen auf der anderen Seite den Konsum steuern und versuchen, dem Konsumenten einen gewissen Marktüberblick zu verschaffen, fehlt der Masse der Wohnungskonsumenten jede halbwegs geeignete Marktübersicht. Woran sollte das liegen? Warum wird gerade dem Großstädter die Anpassung seiner Wohnung an seine Bedürfnisse so schwer?
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Die subjektive Enge des Wohnungsangebotes Fragt man sich, ob es eigentlich eine ähnlich tiefgreifende Abhängigkeit der sozialen Chancen des Individuums von seinem Bildungsgrad noch in anderen Lebensbereichen gibt, wird man an die Berufswahl erinnert. Während Arbeitsmarkt und Arbeitsvermittlung selbst hochgradig organisiert sind, hängt die erste Wahl des zu erlernenden Berufs ebenfalls vom Bildungsgrad der Jugendlichen ab und orientiert sich primär am Beruf des Vaters, also an einem gesellschaftlichen Nahbereich (z.B. Muller 1961: 85f.). Daran scheint auch die wichtige Einrichtung der Berufsberatung bisher nichts Grundsätzliches geändert zu haben. In der Arbeitsvermittlung ist die alte Art der Arbeitssuche, das von Tür zu Tür laufen, nur noch selten anzutreffen. Die verbreitetste Art der Wohnungssuche hat selbst in Großstädten darin bestanden, daß der Vermieter an seinem Haus einen Zettel oder ein Hinweisschild ausgehängt hat. Seit den neunziger Jahren beginnen diese Haus- und Grundbesitzer eigene gewerbliche Vermittlungsbüros einzurichten. Seit der Jahrhundertwende gründen dann auch Kommunen Wohnungsnachweise, da die gewerblichen Vermittlungen keine Kleinwohnungen anbieten. Trotzdem ist auch dann noch keine Übersicht über das gesamte Angebot zu erlangen gewesen. Und schließlich wird in vielen Städten gegen den Widerstand des organisierten Hausbesitzes ein polizeilicher Anmeldezwang für Leerwohnungen eingeführt, erstmals 1902 in Stuttgart, dann 1911 in Berlin-Charlottenburg (Gut, A. 1930: 822f.). Etwa zur gleichen Zeit werden staatliche Arbeitsnachweise und Berufsberatungen eingerichtet, um in der wachsenden Organisierung der Gesellschaft und dem unablässigen Entstehen neuer Berufe den Einzelnen die subjektive Enge ihrer Sicht zu erweitern. Um die tatsächliche Enge des persönlichen Auswahlbereiches aufzuzeigen, sollen noch einige weitere Daten der angeführten Untersuchung genannt werden. Es stellte sich heraus, daß jede Familie recht genau den Bereich kannte, innerhalb dessen eine Wohnung überhaupt „annehmbar“ war (range of acceptability). Trotzdem befand sich oft nur eine einzige Wohnung in diesem annehmbaren Bereich. Einige Familien waren in der Lage, mehrere Wohnungen in den Bereich ihrer Erwägung zu ziehen. Aber etwas mehr als 40 % aller wohnungssuchenden Familien gaben an, nur eine einzige Wohnung, nämlich die, in der sie jetzt lebten, angesehen zu haben. Von allen Bewerbern um eine Mietwohnung waren nur 52 % in der Lage, zwischen mehreren Objekten auszuwählen, während immerhin 67 % der Hauskäufer sich mehrere Objekte vorher ansahen. Welche Präferenzordnung der Auswahlkriterien ergab sich dabei? Am häufigsten werden die Kosten (60 %) an erster Stelle genannt, an letzter Stelle Garage oder Parkmöglichkeit (19 %). Die Skala der Motive insgesamt in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit lautet: 1. Kosten, 2. Äußere Erscheinung, 40
3. Weg zur Arbeit, 4. der Ruf (Reputation) der Gegend, 5. Zahl der Zimmer, 6. Passende Leute in der Nachbarschaft, 7. Nähe von Freunden, 8. Nähe von Verwandten, 9. Schulen, 10. Parks oder Gärten, 11. Garage oder Abstellplatz (Rossi 1955: 164). Die Entscheidung zugunsten einer billigen Wohnung bedeutet im allgemeinen eine Entscheidung gegen eine in anderer Hinsicht überlegene Wohnung, das heißt hinsichtlich der Größe, Lage, dem rundherum verfügbaren Freiraum und ähnlichem. Mobilität und Wohnbedürfnis Was hat die Mobilität des Städters eigentlich zu bedeuten? Warum ziehen so viele Familien offenbar pausenlos um? (Die Umzüge nach außerhalb der Stadt noch gar nicht mitgezählt.) In der Untersuchung der vier Wohnbezirke von Philadelphia – es handelt sich um sozial sehr verschiedenartig zusammengesetzte Gebiete – ergaben sich folgende Mobilitätsraten. In einem Wohnviertel wohnten 14 % der Familien weniger als zwei Jahre in ihrer derzeitigen Wohnung, im nächsten waren es 16 %, dann 30 % und in der Central Area sogar 41 %, die weniger als zwei Jahre in ihrer jetzigen Wohnung lebten. Man könnte sagen, hier handle es sich schließlich um eine amerikanische Untersuchung aus dem Jahre 1955 und so einfach sei das nicht übertragbar. Das trifft natürlich zu. Leider sind wir jedoch bei dem gegenwärtigen Stand der deutschen Soziologie auf fast allen Einzelgebieten gezwungen, uns in einem mit Vorsicht betriebenen Analogieschlußverfahren die Fülle amerikanischer Studien zunutze zu machen. Außerdem sind wir in diesem Fall in der glücklichen Lage, die Ergebnisse aufgrund eigener Erhebungen in Hannover aus dem Jahr 1960 – ich erwähnte diese Untersuchung bereits – zu prüfen. 11 % sämtlicher Haushalte Hannovers belegten weniger als ein Jahr ihre Wohnung, 28 % erst zwei bis vier Jahre, das heißt rund 39 % der gesamten Stadtbevölkerung lebte zum Untersuchungszeitpunkt höchstens vier Jahre in der Wohnung (z.T. veröffentlicht in: Gleichmann 1962: 6). Es liegt nahe, hier einzuwenden, eine Stadt mit einem Anteil der Neubauwohnungen (nach 1948 errichtet) von 50 % habe eben auch eine starke Umzugshäufigkeit. Deshalb korrelierten wir die Wohndauer der Familien mit dem Gebäudealter. Von den 11 % aller Familien, die gerade höchstens ein Jahr in ihrer Wohnung lebten, war fast die Hälfte gerade in eine Altbauwohnung (bis 1948 errichtet) gezogen. Anders formuliert, die hohe Wohnsitzmobilität läßt sich mit der 41
hohen Neubaurate allein nicht erklären. In einer abschließenden Antwort auf die Frage nach den Gründen für die großstädtische Wohnsitzmobilität kommt Rossi zu folgenden Ergebnis: „die Mobilität ist der Mechanismus, mittels dessen die Unterbringung einer Familie ihren Wohnbedürfnissen angepaßt wird.“ Bevor im Einzelnen ergründet wird, was eigentlich unter Wohnbedürfnissen der Familien zu verstehen ist, ist der Begriff Mobilität zu erläutern. Wir haben bisher von „innerstädtischer Wanderung“ oder Wohnsitzmobilität geredet, aus der Verlegenheit heraus, den treffenden englischen Begriff residential mobility irgendwie zu übersetzen. Im allgemeinen verstehen wir unter Mobilität die Bewegung von Personen zwischen verschiedenen Orten innerhalb eines geschlossenen sozialen Systems oder einer Teilstrecke eines solchen Systems. In diesem Sinne reden wir etwa von sozialer oder beruflicher Mobilität, von regionaler oder Arbeitsplatzmobilität. Hinter der regionalen Mobilität steht sehr häufig auch eine soziale Mobilität. In manchen Gesellschaften ist bereits die geographische Richtung der innerstädtischen Wanderung ein zuverlässiges Maß des sozialen Auf- oder Abstiegs. In England etwa bedeutet der Umzug innerhalb einer Stadt von Ost nach West ein sicheres Indiz für einen sozialen Aufstieg und umgekehrt; in den älteren nordamerikanischen Städten ist etwa der Umzug vom Vorort in die Central Area einem sozialen Abstieg gleichbedeutend (für Engand vgl. Chapman 1955; für USA vgl. z.B. Schnore 1963: 76ff.). Familienzyklus und Wohnbedürfnis Der Entschluß einer Familie, die bisherige Wohnung zu verlassen, wird meistens freiwillig gefaßt, das heißt er wird durch Änderungen des Beschäftigungsverhältnisses (-ortes), des Familienstandes und anderes bestimmt. Das häufigste Motiv scheint die Unzufriedenheit mit dem verfügbaren Raum zu sein (Rossi 1955: 175). Rossi kommt in der zitierten Untersuchung zu folgendem Schluß: „Der Entschluß umzuziehen, ist hauptsächlich eine Funktion des Wandels in der Familienzusammensetzung, wie er im Laufe des Lebenszyklus der Familie passiert.“ Der Lebenszyklus einer Familie, kursorisch also, Ehepaar, Ehepaar mit Kind(ern), „Kleinfamilie“ („Absturz in die Vollfamilie“); Ehepaar, Kinder und ein erwachsener Verwandter, zum Beispiel, Onkel, Tante, Großmutter (soziologisch: erweiterte Kleinfamilie oder auch Dreigenerationenfamilie); schließlich die Familie, der ein Elternteil fehlt (Halbfamilie oder unvollständige Familie), und diese sowohl als Zwei- wie als Dreigenerationenfamilie (Großmutter – Mutter – Tochter) und im Alter endlich das Ehepaar wieder ohne Kinder; das sind schematisch die Stufen des familiären Lebenszyklus. Er bestimmt grundlegend die Wohnbedürfnisse. Aber nicht jede Familie macht alle Stationen in diesem Zyklus durch. Da keine Familie selbst genau weiß, welchen 42
Weg sie nimmt und zu welchem Zeitpunkt sie welche Größe und Ansprüche erreichen wird, kommt in das Verhalten der einzelnen Familie ein außerordentlicher Unsicherheitsfaktor hinein. Die meisten Familien können daher ihre tatsächlichen Wohnbedürfnisse nur relativ kurzfristig vorherbestimmen, zumal in jungen Jahren. Je älter sie werden, desto sicherer sind die Familiengröße und damit Wohnbedürfnisse abzusehen. Die Familie kann sich eines Tages nur noch verkleinern. Und vor allem wird das zu erwartende Einkommen sicherer vorhersehbar. Deshalb ist die Zeit nach der ökonomisch angespanntesten Lebensphase (etwa alle Kinder älter als 10 Jahre) die Periode, in der man sich gegebenenfalls nach einem eigenen Haus umsehen kann. Wohnung und sozialer Status Theoretisch hat jeder Familientypus einer bestimmten Lebensphase einen bestimmten Wohnbedarfsbereich (Kinderzahl oder -alter) und jede Wohnung einen bestimmten Eignungsbereich. Idealerweise müssen sich beide Bereiche möglichst weit decken. Daraus erwächst die naheliegende Forderung, doch einmal, vorausgesetzt, man kennt die typischen Wohnbedürfnisse typischer Familien, auch die zugehörigen typischen Eignungsbereiche der Wohnungsgrundrisse zu erforschen und wenn möglich ein für alle Mal zu bestimmen. Diese Forderung wird beispielsweise von Architekten immer wieder gestellt. Solche an sich wünschenswerte Untersuchung stößt aber auf zwei Schwierigkeiten. Einmal wird das Wohnbedürfnis nicht nur von der Lebensphase der Familie bestimmt, sondern ist zudem in den einzelnen sozialen Schichten außerordentlich unterschiedlich. Die Wohnung, ihr Äußeres, ihre Größe und alle Details ihrer Einrichtung werden, wie wir aus verschiedenen Untersuchungen wissen, zu einem unmittelbaren Abbild des sozialen Status der Familie (Chapman 1955). Mit einem Mal bemerkt man, daß die symbolischen Funktionen der Wohnung nicht weniger bedeutsam sind als die vordergründig manifesten des Witterungsschutzes, der Ernährung, der Körperpflege. Die Wohnung muß bestimmte Sicherheitsbedürfnisse erfüllen, wie sie sich in den Stereotypen „My home is my castle“ oder „zu Haus ist’s doch am besten“ äußern. Die Wohnung und deren Einrichtung repräsentieren dieses Sicherheitsbedürfnis mit Hilfe zahlreicher Statussymbole. In diesem Sinne bekommt etwa die so oft verächtlich gemachte „gute Stube“ mit ihrer „alten Pracht“ eine unabänderliche soziale Funktion. Sie ist ein Statussymbol. Und wer darin empfangen wird, soll auf Distanz gehalten werden zu dem keineswegs so prachtvollen privaten Alltag des Familienlebens. Wer etwa über die „gute Stube“ lacht, auf ihre Besitzer herabblickt, demonstriert nur, daß für ihn andere Symbole gelten. 43
Ein spezifisches, aber typisches Wohnbedürfnis mit einem entsprechenden Eignungsbereich einer Wohnung in Kongruenz zu bringen – die Frage aller Architekten an den Soziologen – offenbart nun eine besondere Problematik. Vorausgesetzt, die ideale Familie habe einmal die ideale Wohnung gefunden, dies ist bereits eine reichlich hypothetische Voraussetzung, wie lange wird sie in der Wohnung bleiben? Welche Familie wird ihr folgen? Wir sahen, es gibt eine allgemein hohe innerstädtische Mobilität. Weiter nutzt sich die Wohnung im Laufe der Zeit ab. Sie altert und behält damit nicht ihren Prestigewert bei. Damit ist aber bereits in der Tendenz angelegt, daß die folgende Familie neben vielleicht anderen familiären Bedürfnissen auch nicht den gleichen Sozialstatus der Vorgänger hat. Mit anderen Worten, die Wohnung kann schon bei der zweiten Vermietung nicht mehr den ursprünglichen Bedürfnissen entsprechen. Dazu kommt außerdem das permanente Ansteigen der Ansprüche. Das Ergebnis dieses „Abnutzungsprozesses“ sind in großem Maßstab unsere sogenannten überalterten Wohngebiete oder Slums. Die Gebiete sind nicht nur bautechnisch auf dem geringsten Niveau. Sie beherbergen auch die untersten sozialen Schichten. Spielt also neben dem Lebenszyklus der soziale Status für die Wohnung, ihre Größe, Ausstattung und ihr Grundrißzuschnitt eine Rolle, so ist folgerichtig die völlig unspezifische, in jeder Beziehung durchschnittliche Wohnung die optimale Lösung. Diese Wohnung wird niemals „familiengerecht“ sein. Vermuten wir zuviel, wenn wir annehmen, daß sie zu Recht als Idealtyp bei der Masse unserer gegenwärtig vorhandenen Wohnungen Pate gestanden hat? Der Wandel der Wohnungsnutzung Die Nutzung einer Wohnung wandelt sich fortlaufend. Die Zeitphasen einer jeweils bestimmten Nutzung (Familiengröße, -alter und Sozialstatus) sowie die spezielle Nutzungsart selbst (Hausarbeit, Essen, Schlafen) sind nicht genau vorhersehbar. Vergegenwärtigt man sich diese Tatsachen, wird man von Soziologen nicht spezielle Hinweise zum Bau spezieller Wohnungen erwarten, sondern vielmehr relativ allgemeine Hinweise. Diese Aussagen stützen sich auf eine Fülle sorgfältiger, meist wenig bekannter Einzelanalysen, die im Detail zu lesen gerade wegen der minutiösen Sorgfalt darüber hinaus auch noch langweilig ist. Einige Beispiele mögen das andeuten. Die Möbel werden in einer Wohnung außerordentlich selten so aufgestellt, wie der Architekt es plante. Möbelstellflächen und Nutzungsarten der Räume sollen so wenig wie möglich determiniert sein. Schon Familien von gleichem sozioökonomischen Status (und stark untereinander angeglichenem Möbelbesitz) nach Art, Alter und Anzahl stellen diese unterschiedlich auf und nutzen die Räume 44
ein und desselben Wohnungstyps in unterschiedlicher Weise (Klein, A. 1930: 686f.; Zahner 1957; de Jonge 1960 mit weiterer Literatur). Selbst die kleinste und optimal ausgestattete Küche sollte die Möglichkeit offen lassen, daß ein bis drei Personen darin essen. Dies geschieht in jedem Fall dann, wenn die einzelnen Zimmer aufgrund wachsender Personenzahl oder zunehmenden Alters der Familie anders und intensiver genutzt werden. Dieses Verhalten ist gegenwärtig relativ unabhängig vom sozioökonomischen Status der Familien geworden (Klein, A. 1930; Rosenmayr/Klöckeis 1960; Meyer-Ehlers et.al. 1963). Die nicht von Möbeln verstellten Flächen aller Räume einer Wohnung sollten im Grundriß möglichst kompakte, wenig zerrissene Formen ergeben. Diese Maßnahme verkürzt die nötigen Hausarbeitswege, erhöht somit die Binnenarbeitsleistung des Haushalts und erhöht die mögliche Variabilität der Stellflächennutzung (Thomsen et.al. 1963; Klein, A. 1930; Meyer-Ehlers et.al. 1963). Nur diejenigen Architekten und Unternehmer werden mit Erfolg Wohnungen bauen, welche „den menschlichen Bedürfnissen angepaßt sind“, die die unterschiedlichen Ausstattungsund Wohngewohnheiten auch zu sehen vermögen. Diese außerordentlich differenzierten Verhaltensweisen von Ober-, Mittel- und Unterschichten, wie sie sich in der Wohnungseinrichtung niederschlagen (Elias 1939/1997), lassen sich auch durch noch so laut erklärten „missionarischen Eifer der Architektur“ nicht beseitigen; denn die Unterschiede liegen nicht in einer mehr oder weniger mangelnden oder formbaren ästhetischen Erziehung der Bewohner, sondern vielmehr in der ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft selbst begründet. Die einfachste und billigste „Anpassung der Wohnung an den Menschen“ ließe sich deshalb allein schon dadurch erreichen, daß Architekten aufhören, anderen Gesellschaftsschichten die dem Gesellschaftsbild des Architekten entsprechenden Wohnformen zu oktroyieren (de Jonge 1960; Chapman 1930; Chombard de Lauwe 1956; Michel, A. 1959). Wohnungsbedarfs-Prognosen Vorausberechnungen des Wohnungsbedarfs lassen sich in dreierlei Weise aufstellen, a) für eine gesamte Volkswirtschaft, b) für ein konkretes regionales Projekt, dessen künftige Bevölkerung jedoch unbekannt ist, und c) für ein entsprechendes Projekt mit bekannten, zukünftigen Bewohnern. Jeder Fall ist gleich schwierig, unsicher und bisher wenig erprobt. Den Wohnungsbedarf einer ganzen Volkswirtschaft zu ermitteln, ist in Deutschland zuverlässig bisher kaum unternommen worden (dagegen z.B. in England vgl. Cullingworth 1960; für Deutschland vgl. Fey 1936). Da in einer Siedlungseinheit sich nicht alle Familien im gleichen Alter befinden, sondern stets in sehr vielen Altersklassen, Familiengrößen und Lebensphasen 45
zugleich auftreten, erscheint auch der Wohnungsbedarf einer Siedlungseinheit in höchst differenzierter Form, die verschiedenartigen Sozialprestigefunktionen von Wohnung und Wohnungseinrichtung sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Wir beginnen zu verstehen, wie wenig wir zum Beispiel den tatsächlichen Bedarf einer Siedlungseinheit mit zwei oder drei Wohnungstypen treffen können. Das „Mischungsverhältnis“ allein der Haushaltsgrößen in einer neuen Siedlungseinheit vorherberechnen zu wollen, ist schwierig. Ändert man beispielsweise nur im letzten Moment die zuerst veranschlagten Mieten, fällt die gesamte Bevölkerungsprognose zusammen. In der Regel sind die neuen Stadtteile mit überdurchschnittlich vielen jungen Familien belegt (Folgeeinrichtungen). Das zeigen etwa Untersuchungen von Chombard de Lauwe. Haben wir nicht daß Glück, über die künftigen Bewohner einer Siedlungseinheit recht genaue Angaben zu besitzen (Chombard de Lauwe 1961: 218ff.), sind wir auf Vorausschätzungen angewiesen. Ist der spätere Bewerberkreis jedoch zuvor abgrenzbar – er mag so groß sein wie er will –, können wir Prognosen über Haushaltsgrößen, Wohnungsgrößen, Mischungsverhältnisse und den Wandel dieser Größen mit Sicherheit abgeben. Hans Paul Bahrdt hat das mit Erfolg bei einer größeren Werkssiedlung gezeigt (Bahrdt 1957; Bahrdt/Lehmbrock 1957: 456ff.). Im Normalfall von Wohnungsprognosen im Städtebau fehlt jedoch zweierlei: der einheitliche Bauträger und die Abgrenzbarkeit der Wohnungssuchenden. Doch gerade die Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnortes sind sehr begehrte Merkmale städtischen Lebens und zudem verfassungsmäßig garantiert. Da aber durch solche Unsicherheitsmomente besonders die großen Wohnungen mit einem erhöhten wirtschaftlichen Risiko belastet sind, werden sie nicht gebaut. Selbst das langsame Anwachsen der durchschnittlichen Wohnungsgrößen darf darüber nicht hinwegtäuschen (WiSta 1963: 160ff.). In Hannover haben beispielsweise 80 % aller Normalwohnungen zwei oder drei Zimmer (lt. Stat. Vierteljahresberichte Hannover 1962: 63). Da jedoch etwa 50 % aller Haushalte mehr als drei Personen haben, wohnen in den Zwei-Raum-Wohnungen (jeweils ohne Küche und Bad) 62,8 % aller Haushalte mit drei und mehr Personen, in den Drei-RaumWohungen etwa 53 % Haushalte mit vier und mehr Personen. Die Folgen sind uns bekannt. Der wohnungssuchende große Haushalt (vier Personen und mehr) wendet sich dem Familienheimbau zu (wenn er kann) und trägt damit das „Risiko der großen Wohnung“ selbst (Sobotschinski 1962: 858; Euler 1960a: 392). Das veranschaulicht deutlich der sogenannte Wechslerbedarf, unterteilt nach Gemeindegrößenklassen. Diejenigen, die eine große Wohnung suchen und deshalb verstärkt auf den Eigenheimbau angewiesen sind, kommen in den kleineren Gemeinden leichter zum Zuge als in der Großstadt. Mit der Verengung des Kreditspielraums und dem weiteren Ansteigen aller Baupreise bleibt schließlich oft nur noch die Eigentumswohnung übrig. Kosten und Risiko werden dabei, genau besehen, noch höher. Dieser Prozeß könnte durch die massive Verkürzung der Abschreibungsmöglich46
keiten für Wohnungen, wie sie gegenwärtig diskutiert werden, erheblich beschleunigt werden. Das würde tatsächlich den Städtebau revolutionieren. Denn nicht nur der schnelle, den Lebensphasen der Familie entsprechende Bedarfswechsel macht die Wohnungen in kürzester Zeit unpassend, die laufende Veränderung des Wohnungsstandards, das erklärte Prinzip der „ständigen Wohnungsreform“ (Riebandt 1963), macht sie immer schneller unmodern. Ernest Dichter berichtet von mehreren Marktanalysen im Auftrag einiger Bauindustriefirmen: „Wir wollten die Grundmotivation des Hausbauens ermitteln. Es ist sehr aufschlußreich, daß die meisten Menschen beim Hausbau von dem Wunsch beherrscht sind, sich rational zu verhalten. Sie studieren Architekturbücher, zeichnen Pläne, besprechen sich über alle Einzelheiten von Sparmaßnahmen, wie sie wohl ein schönes Haus bauen könnten, das nicht viel Unterhaltung kostet. Wir müssen feststellen, daß das Gros aller Befragten, einschließlich Architekten und Unternehmern, von der völlig irrigen Voraussetzung ausging, die Häuser würden für Ewigkeitsdauer gebaut. Man baut nur einmal, also sollte man dafür nur das Beste aus dem ganzen Materialangebot auswählen. Bei unserer Forschungsarbeit haben wir ermittelt, daß die durchschnittliche Wohndauer in einem Haus zwischen zehn und fünfzehn Jahren beträgt. Wäre dieser Faktor von Anfang an – also schon beim Bauvorhaben – einkalkuliert worden, so hätten sich dadurch grundlegende Wandlungen bei der Wahl von Material und Baustil ergeben. Für das gesamte Baugewerbe und die Bauindustrie sind derartige Erkenntnisse von unschätzbarem Wert. Wenn es gelingt, die Kunden zu überzeugen, daß sie nicht hundert Jahre, sondern eine nur relativ begrenzte Zeit in ihrem Haus wohnen werden, hat die Industrie es leichter, ihre Ideen über bauliche Schönheit und Emotionen zu verkaufen.“ (Dichter, E. 1961)
Wohnungsdefizit und Anspruchsniveau Die großstädtischen Wohnungsmärkte der meisten industriellen (oder im Industrialisierungsprozeß befindlichen) Gesellschaften zeichnen sich durch übergroße Nachfrage aus. In der Bundesrepublik haben teilweise selbst mittelgroße Städte ein hohes offizielles Wohnungsdefizit, zum Beispiel Göttingen 26 %, Braunschweig 15,7 % oder Bonn 14,1 % (lt. HAZ vom 22./23.06.1963). Obwohl die überwiegende Zahl der Experten sich darin einig ist, den tatsächlichen Wohnungsfehlbedarf wesentlich höher anzusetzen – und es gibt für einzelne Städte sehr sorgfältige Berechnungen, die alle wichtigen Faktoren einbeziehen7 –, wird dennoch für die allernächste Zeit 7 Z.B. der Oberstadtdirektor der Provinzhauptstadt Münster, die Wohnraumsituation und ihre voraussichtliche Entwicklung, Münster, März 1962
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ein sogenannter ausgeglichener Wohnungsmarkt prophezeit. Zu Anfang unserer Untersuchung erwähnten wir die vielen Faktoren, die in den industriellen Gesellschaften selbst unter der Annahme einer stationären Bevölkerungsentwicklung einen wachsenden Wohnungsbedarf verursachen. Für den anhaltenden Wohnungsbedarf in den großen Agglomerationen sind aber hauptsächlich zwei außerordentlich dynamische Faktoren aufzuführen: 1. der andauernde Verstädterungsprozeß (präziser: die gesellschaftliche Konzentration, messbar am Wanderungsgewinn der Stadtregionen) und 2. das Prinzip der ständigen Wohnungsreform (die permanente Anhebung des Wohnungsstandards, die sich bis heute stets zuerst in den Städten vollzog). Arbeitsplatzkonzentration, Mobilität der Arbeitsmärkte, soziale und regionale Mobilität sind elementare Kriterien industrieller Vergesellschaftung. Sie erzeugen auf eine dynamische Weise von Fall zu Fall einen regionalen Wohnungsbedarf. Mit Recht betont deshalb z.B. der Bürgermeister eines früher recht kleinen Bauernstädtchens wie Bayreuth den enormen Wohnungsfehlbedarf seiner Stadt, indem er darauf hinweist, seine „Stadt stehe mitten im Umwandlungsprozeß zur Industriestadt“.8 Wie die Geschichte der Wohnungsreform in Deutschland, Holland und England zeigt, hat diese Bewegung eine Fülle von Verbesserungen des Wohnungsstandards erreicht und auf massenhafter Basis durchgesetzt. Dieser Stand ist nicht nur durch technische oder hygienische Neuerungen sichtbar festgelegt, sondern vor allem durch mannigfache rechtliche und soziale Normen fixiert, daß er nicht mehr so leicht rückgängig zu machen wäre. So ist etwa das Schlafstellenwesen kraft Gesetzes abgeschafft oder der Anschluß eines Hauses an die vorhandenen Entwässerungs- und Versorgungsleitungen ist im Interesse der öffentlichen Hygiene Zwang. Die Wohnungsreformbewegungen erzeugen jedoch gegenwärtig selbst eine ungeheure Nachfrage nach besseren Wohnungen. Sie heben das Anspruchsniveau der Bevölkerung oder spezieller Gruppen an und verstärken damit die Wohnungsnachfrage unmittelbar; zumal dann, wenn sie erklärtermaßen „zu den selbstgewählten Verpflichtungen die ständige Wohnungsreform“ zählen (Riebandt 1963), was ihnen wahrlich niemand verübeln wird. Nur kann man nicht auf der einen Seite mit einem Unterton der Entrüstung auf die Überbelegung und mindere Ausstattung unserer Stadtwohnungen verweisen, das heißt bessere Wohnungen fordern, auf der 8 Zwei Rechnungen mit dem Wohnungsdefizit, Ermittlungen über Bayreuths Wohnungsdefizit mit wesentlich unterschiedlichen Ergebnissen. In: Süddeutsche Zeitung vom 12.07.1963: 20.
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anderen Seite gleichzeitig behaupten, die Nachfrage ginge in Kürze ganz zurück. Und zu guter Letzt wundert man sich noch mit derselben Entrüstung über die hohe Zahl von Wohnungs- und Verbesserungswünschen in der Bevölkerung, obwohl sie zum Teil sicherlich ein Reflex der Reformpropaganda sind. Einige jüngst angestellte Untersuchungen verdeutlichen das allgemeine wirtschaftliche Gewicht des veränderlichen Anspruchsniveaus und dessen spezielle Auswirkungen auf den Wohnungsbau. Bereits die 1-v.H.-Wohnungserhebung 1960 weist auf den hohen Prozentsatz von Wohnungssuchenden hin (20 % aller Haushalte) und bemerkt dazu, daß eine weit höhere Nachfrage bestehe, welche sich mangels eines irgendwie vorhandenen Angebots jedoch gar nicht erst formuliere, jedenfalls aber durch Kaufkraft gedeckt sei (vgl. Euler 1960a). Der Verfasser hat in der bereits angeführten Befragung festgestellt, daß im Jahre 1960 50 % aller Haushalte der Stadt Hannover eine verbesserte oder völlig neue Wohnung wünschten. Für diese durch Kaufkraft gedeckten Wünsche erhielten wir auch genaue Angaben über die Höhe der Zahlungsbereitschaft. Obwohl auch den großstädtischen Planungsämtern die beträchtliche Wohnungsnachfrage bekannt ist, haben sie – in dieser Höhe formuliert – Skepsis hervorgerufen. Dabei haben wir die gleiche sprunghafte oder wellenförmige Anhebung des Anspruchsniveaus der Familienhaushalte in einer ganzen Reihe von Konsumbereichen gerade erlebt. Wir reden zum Beispiel von einer „Fresswelle“, einer „Bekleidungs-, Reise- oder Einrichtungswelle“. Neben dem soziologischen Aspekt des geltungs- oder prestigebedingten Konsums haben diese Erscheinungen jedoch auch einen psychologischen Hintergrund. In seinen wirtschaftspsychologischen Forschungen kam George Katona bei der experimentellen Erforschung zielstrebigen Verhaltens zur Unterscheidung verschiedener Leistungsniveaus (Katona 1960: 108). Er erläutert das am Scheibenschießen. Zunächst gibt es ein „ideales Leistungsniveau“. Eine Ringzahl ist als bestmögliche Leistung objektiv bestimmbar. Dann gibt es das „erreichte Leistungsniveau“, etwa die zuletzt erreichte Ringzahl. Und schließlich gibt es ein „Anspruchsniveau“, das ist das Leistungsniveau, das man beim nächsten Mal erreichen möchte. Es liegt meistens höher! Die Bestimmung eines idealen Niveaus ist im Bereich des Wohnungsbedarfs nicht möglich. Katona hat aber das Verbraucherverhalten hinsichtlich des Anspruchsniveaus auf verschiedenen Konsumbereichen und auch im Wohnungssektor erforscht und zu seinem eigenen Erstaunen 1955 festgestellt, daß 34 % aller städtischen Hauseigentümer der USA und 70 % aller städtischen Mieter potentiell zu Veränderungen ihrer Wohnung neigten. Zu dieser Zeit waren praktisch die meisten Familien umgezogen und hatten irgendwann nach dem Krieg eine wahrscheinlich angemessenere Wohnung. Und genau in diesem Augenblick stellte Katona die höchste Zahl von Wohnungssuchenden unter den gerade Umgezogenen fest. Es zeigt sich demnach, daß die Befriedigung von Be49
dürfnissen, auch von Wohnbedürfnissen nicht notwendig zur Sättigung führt (Katona 1962: 173ff.). Diese Erkenntnis dürfte, wo sie sich einmal durchgesetzt hat, nicht ohne Einfluß auf die Wohnungspolitik bleiben. Familienzyklus und Anspruchsniveau Aber auch die fortgesetzte Steigerung des Wohnungs-Anspruchsniveaus findet ihre Grenzen. Erscheint sie auf das Ganze unserer Kultur gesehen prinzipiell unbegrenzt, zumal wenn wir die hinter uns liegende Geschichte der Wohnung einzelner Kulturen und sozialer Schichten übersehen, so findet die beliebige Bedürfnisausweitung doch an der Begrenztheit unseres eigenen Lebens von selbst ein Ende. Spätestens nämlich mit Eintreten des 65. Lebensjahres reduziert die einzelne Familie ihre Wohnbedürfnisse in drastischer Weise. Die älteren Ehepaare beispielsweise leben, wenn sie keine Verwandten mehr in der Wohnung haben, an sich meist bereits in größerer Raumfülle als die jungen Familien. Sie können mit dem Austritt aus dem Erwerbsleben die Wohnung nicht mehr halten, wollen sie in den seltensten Fällen wechseln und müssen untervermieten. Ihr Alter und ihr vermindertes Einkommen veranlassen sie auch, ihre soziokulturellen Bedürfnisse einzuschränken. Man kann außerdem mit Recht einwenden, der beliebigen Ausweitung des Anspruchsniveaus einer Familie sei noch eine andere Grenze gesetzt, die zur Pflege und Unterhaltung des Haushalts verfügbare Arbeitskraft. Abgesehen davon, daß wir über die Substituierbarkeit von Haushaltseinkommen durch Binnenarbeitsleistung (Bahrdt 1961: 29ff.) des Haushalts nicht viel Zuverlässiges wissen, ist jedoch sicher, daß die wachsende Freizeit es auch den männlichen Erwerbstätigen möglich macht, im Haushalt zu arbeiten; mag man diese zusätzliche Arbeit nun als Hobby motivieren oder nicht. Mit zunehmendem Alter der Mitglieder des Familienhaushaltes verfügen diese jedenfalls über wachsende potentielle „Binnenarbeitskraft“ im Zuge der Beendigung beispielsweise der Unterhalts- und Erziehungsfunktionen gegenüber den Kindern. Mit dem Eintritt des 65. Lebensjahres, bei nicht erwerbstätigen verwitweten Frauen schon frühzeitiger, wird also „Binnenarbeitskraft“ frei und kann, falls erforderlich, das im gleichen Moment sinkende Einkommen bis zu einem bestimmten Grad ersetzen. Auch in diesem Fall füllt der Untermieter eine Bedarfslücke aus. Ein großer Teil der in Untermiete lebenden „Einpersonenhaushalte“, Jugendliche in der Ausbildung, unverheiratete Erwerbstätige beiderlei Geschlechts, haben gerade einen Bedarf an häuslichen Dienstleistungen, die sie nicht selbst ausführen können, jedoch aufgrund ihres verhältnismäßig hohen Pro-KopfEinkommens zu bezahlen in der Lage sind. 50
Die Hauptmieter, die Untermieter in der Wohnung haben, zahlen an sich einen erheblich höheren Prozentsatz ihres Einkommens an Miete. So zeigt die Rede von den Rentnern, die von ihren Untermietern leben, eine typisch großstädtische Symbiose auf. Für ein Drittel der großstädtischen Wohnungs-(Haus-)eigentümer, die noch weniger gern als etwa ältere Mieter ihre Wohnung verlassen, wenn sich die Ansprüche reduzieren, ist das Untervermieten offenbar zur klassischen Einkommensquelle geworden (vgl. Euler 1960b). Sie tragen eben das „Risiko“ ihrer zu großen Wohnung selbst. Diese Symbiose ist wahrscheinlich ganz unentbehrlich; denn sie kompensiert zweierlei Mißverhältnisse, unterschiedlich hohe Geldeinkommen gegen „Binnenarbeitsleistungen“ und außerdem verschieden langfristig in Anspruch genommene Wohnungsnutzung. Langfristige Lebensdauer und Nutzung der Wohnung gegen zeitlich begrenzten Wohnungsbedarf – das Dilemma der Industriegesellschaft In allen großen Städten beobachten wir eine dem Wohn-Konsum spezifisch eigene Erscheinung, das Untermietverhältnis. In vielen Lebensbereichen reduzieren die Menschen ihren Konsum mit zunehmendem Alter, sie essen weniger oder fahren in stillere Orte zum Urlaub, und sie verlassen ihre bisher innegehabten Positionen, am deutlichsten markiert durch den Austritt aus dem Erwerbsleben. Aber sie verlassen trotz reduzierter Wohnbedürfnisse keineswegs ihre Wohnungen. Obwohl das für den Wohnungsmarkt der Großstädte zu bedeutenden Erleichterungen führen würde, geschieht es nicht. Worauf ist solch eigentümliches Verhalten zurückzuführen? Erst eine schlagartig eintretende wirtschaftliche Notlage bewirkt solche Maßnahmen. Unter dem Druck staatlicher Gewaltanwendung wurde ein solcher „Ausgleich des Wohnungsmarktes“ während und nach dem letzten Krieg erfolgreich praktiziert. Aber, was wir oft vergessen haben, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg „regelte sich“ die plötzlich veränderte Wohnungsnachfrage auf ganz andere Weise, nämlich durch Umbau. 1919 entfielen im Deutschen Reich 44,6 % des Reinzugangs (Reinzugang absolut: 56.714) an Wohnungen auf durch Umbau entstandene, 1920 noch 31,4 % (Reinzugang: 103.092). Auf dem Höhepunkt der Konjunktur 1928 waren es nur noch 7,63 % (Reinzugang: 309.762), jedoch als Folge der Weltwirtschaftskrise entstanden 1934 bereits wieder 45,0 % des Reinzugangs (Reinzugang: 283.995) durch Umbauten (Fey 1936: 13). Extreme Ausschöpfung sämtlicher Gebäudereserven (Dach, landwirtschaftliche Gebäude, Kasernen, Wohnungsteilung) verbunden mit einer drastischen Senkung des Anspruchsniveaus gestatten eine rasche, „gerechte“ Verteilung des Wohnraums. Tritt noch eine Senkung der Einkommen hinzu, bringt das den „Fehlbedarf“, wie 1931/32 geschehen, effektiv zum „Verschwinden“ (Fey 1936: 22f.). Und eine ins Makabre gesteigerte „Raumwirtschaft“ vermag schließlich in einer zum Ghetto verwandelten Stadt auch 1,6 m2 reine Wohnfläche pro Person noch als angemessen zu betrachten (Adler 51
1960: 116). Sind jedoch Androhung oder Anwendung physischer Gewalt als Mittel zur Regulierung von Wohnungsangebot und -nachfrage ausgeschlossen, so bleibt die eigentliche Tatsache bestehen, daß reduzierte Wohnbedürfnisse und verringertes Einkommen alte Menschen nicht unbedingt zum Verlassen der Wohnung veranlassen. Selbst in den Bevölkerungskreisen, die nicht gezwungen sind, im Moment der Pensionierung des Mannes nach einer billigeren Wohnung zu suchen, wird diese Situation doch akut, wenn ein Ehepartner – in der Regel der Mann – stirbt. Aber gerade dann wird der überlebende Ehepartner am wenigsten gern die ihm vertraut gewordene Wohnung verlassen. Gerade die den Frauen eigene Verdinglichung an sich undinglicher Werte und Gefühle drückt sich in der engen und unter keinen Umständen mehr preisgegebenen Bindung an die Wohnungseinrichtung aus. Darüber hinaus aber – und das ist das wichtigste – ist die Wohnung in einem bestimmten Stadtteil in ein ganz bestimmtes gesellschaftliches Milieu eingebunden, auf das man keineswegs mehr verzichten will. Das geht so weit, daß selbst Kranke und Sieche sich – wie wir aus den rosenmayrschen Untersuchungen des Lebens alter Leute in Wien wissen (Rosenmayr/Klöckeis 1960) – in hohem Alter weigern, in Altersheime umzuziehen. Und diese liegen, einer lebensfernen und romantischen Vorstellung entsprechend, möglichst weit entfernt im Grünen; darin nur noch Krankenhäusern, Friedhöfen und modernen Gefängnissen vergleichbar. Die meisten älteren Menschen in unseren Städten wollen unter gar keinen Umständen den innerstädtischen Bereich verlassen und damit einen bestimmten Grad „kultureller Teilhabe“ (Teilnahme) an dem bisherigen gesellschaftlichen Leben aufgeben (Krall/Rosenmayr et.al. 1956). Gerade wenn und weil diese selbst sehr gering ist, kann nicht einmal im Zuge etwa der Stadterneuerung das Angebot einer perfekten neuen, kleineren Wohnung am Stadtrand sie locken umzuziehen. Was anders bleibt, als unterzuvermieten? Aber an wen? Hier schließt sich der Zirkel menschlicher Wohnbedürfnisse, gemessen am Lebenszyklus der Familien. Die Untermieter sind überwiegend junge Menschen, junge Familien oder ältere Alleinstehende. Der Anteil von Mehrpersonenhaushalten (kinderreichen Familien) in Untermiete als Folge des Krieges ist seit 1951 stark zurückgegangen (Fey 1936: 4-16), während sich im gleichen Zeitraum der Anteil der Einzelmieter ständig erhöht hat (Euler 1960a: 18). Die Hauptzuwanderung in die Stadt und der daraus resultierende Wanderungsgewinn besteht aus den Altersgruppen der zwischen 20- und 30jährigen Männer und Frauen (Stat. Vierteljahresberichte Hannover 1962). Daneben gibt es eine beträchtlich große Gruppe junger Leute, die in den großen Städten nur ihre Ausbildung erhält. Die mannigfache Ungewißheit ihrer Situation macht das Untermietverhältnis zum prädestinierten Ausweg. Werden sie wieder zurück in den Heimatort gehen? Wie wird sich ihr Familienstand und Sozialstatus ändern? Werden sie heiraten, einen erfolgversprechenden Arbeitsplatz bekommen oder es an einem anderen Ort ver52
suchen? Da sie sich in einem relativ kurzfristigen Lebensabschnitt befinden oder dessen kurze Dauer erwarten, formulieren sie auch ihre Wohnbedürfnisse nur für die allernächste Zukunft. Doch welcher Hausbesitzer verlangt nach einem raschen Wechsel seiner Mieter? Außerdem erfordert das Anmieten einer Wohnung eine vorausgegangene Periode der Ortsanwesenheit. Genossenschafts- oder Werkswohnungen bekommt man nur nach einer gewissen Wartezeit, ebenfalls billige Wohnungen wegen der persönlichen Kontakte oder der längeren Zeit, sie zu finden. Und teure Wohnungen schließlich, die man vielfach sofort beziehen kann, machen statt anderer „Zugangsregelungen“ eine hohe Mietvorauszahlung (oder etwas entsprechendes) nötig, die man für einen nicht vorausschaubaren kurzen Aufenthalt nicht investieren will. Das allgemein als unzweckmäßig und unwürdig angesehene Untermietverhältnis wird zum idealen Regulativ für beide Parteien, Vermieter wie Untermieter selbst. Hat man bisher einen Faktor bei der Preisbildung für Wohnraum unbeachtet gelassen? Je kürzer nämlich Wohnraum in Anspruch genommen wird, um so teurer ist der zu zahlende Preis je Quadratmeter Wohnfläche. Unter Umständen wird in unserer Gesellschaft auf massenhafter Basis Wohnraum sogar freiwillig zur Verfügung gestellt, wenn er für kürzeste Dauer (das heißt für etwa zehn Tage) und hohe Preise genommen wird. Ein geradezu gigantisches Beispiel bietet die Stadt Hannover. In einer Region von etwa 600.000 Einwohnern werden zur Messe 1963 mindestens 250.000 Übernachtungen in Privatquartieren gewährt. Etwa 50.000 Haushalte stellen für die Dauer der Messe ein Zimmer mit ein bis zwei Betten bereit (HAZ vom 09.05.1963). Dieses als „Hannover-System“ weltbekannt gewordene Verfahren setzt jedoch eine Bevölkerung voraus, die wiederholt erfahren mußte, daß ein für unabänderlich gehaltenes Wohnungs-Anspruchsniveau sehr rasch und drastisch veränderlich ist. Durch diese kurzfristige und auf begrenzte Dauer hohe Variabilität des Anspruchsniveaus bringt sich der (Haupt-)Mieter in die Verfügung eines elastischen Konsumbereichs. Wie sehr man gerade hierin das einzige rasch und frei verfügbare, nicht technische Mittel gegen den Immobilismus der Wohnung sieht, erhellte die Tatsache, daß in einem Drittel aller Eigentümerwohnungen, aber nur in einem Fünftel aller Mieterwohnungen Untermieter leben (in Städten über 500.000 Einwohner). Wo einer Bevölkerung, wie etwa in Mailand, solche bitteren Erfahrungen der Kriege fehlen, muß die staatlich-kommunale „Quartierpolitik“ zu anderen Mitteln greifen. Das Extrembeispiel eines fliegenden Arbeitsmarktes einer Industriegesellschaft stellt eine Industriemesse dar. Die Werkzeugmaschinenausstellung in Mailand 1963 wäre kaum zustande gekommen, wenn man nicht einen „großen Wohnwagenkonvoi von der Bundesrepublik über den Brenner“ geschickt hätte zur Unterbringung der Techniker und Kaufleute (FAZ vom 15.06.1963). Erst dann und dort, wo eine völlige Individualisierung und gleichzeitige „Außenleitung“ große Bevölkerungsteile aus jeder lokal fixierten ge53
sellschaftlichen Beziehung herauslösen, werden auch die Wohnungen massenweise mobil. In jenen „Trailertowns“ der USA leben überwiegend alte Menschen, die nicht einmal mehr kurzfristig durch ein Arbeitsverhältnis an irgendeinen Ort gebunden sind. In unserer Gesellschaft, der die massenweisen Wanderungen Nichterwerbstätiger noch fremd sind, scheint sich für die fluktuierenden Bevölkerungsgruppen keine bessere Wohnform anzubieten, als sie die Untermieterexistenz bietet. Sie zeigt die typische Symbiose der noch nicht ganz oder nicht mehr an die Stadt, das Erwerbsleben und das Angebot des Wohnungsmarktes angepaßten Existenzen. Der Anteil der Untermieterhaushalte (1960) wächst von 14 % in den Gemeinden unter 2.000 Einwohnern bis auf 21 % in Gemeinden über 500.000 Einwohnern (Sobotschinski 1963: 583f.). Seit fast 100 Jahren bewegt sich der Untermieteranteil an der Gesamtzahl aller Haushalte in den deutschen und französischen Großstädten zwischen 15 und 25 % (Schwan, B. 1930: 738ff.). Erscheinungen von so ehrwürdigem Alter pflegen wir aber nicht mehr als vorübergehende anzusehen, auch wenn sie nur demonstrieren, daß Ansprüche selbst großer Bevölkerungsgruppen sich langfristig stellen müssen, um erfolgreich zu sein. Jugend und Alter – nicht die Untermiete – werden in einer Gesellschaft, die den sozialen Status vor allem an der Erwerbstätigkeit mißt, als Durchgangsstadien angesehen. Das erklärt zuguterletzt auch, wie sehr eine bestimmte soziokulturelle Norm, die „EhepaarKinderfamilie“ mittleren Alters das Leitbild unserer städtischen Kultur und unseres Wohnungsbaues prägt, das heißt auf die Wohnbedürfnisse der Jungen und Alten keine Rücksicht nimmt und damit die Anpassung der Wohnung an die menschlichen Bedürfnisse erschwert und, weil die Anpassung der Menschen an die Wohnung so viel einfacher erscheint, die Anpassung der Menschen an diese kulturelle Norm-(der)Wohnung erzwingt.
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2. Raumtheorien und Architektur. Einige Stichworte zu den materialen Formen der architektonischen Verständigung über Raumvorstellungen
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Dies sind die Stichworte aus einer soziologischen Exploration der Architektur und Architekturkritik. Zu deren Ergebnissen gehört der Befund einer tendenziellen „Enträumlichung“ der theoretischen Anschauung in der Architektur. Räumlichkeit als „störende“ Bedingung „theoretisch auszuklammern“ bedeutete stets, auch von den sozialen Bedingungen abzusehen. Wie verständigen wir uns über räumliche Vorstellungen? Dazu ein Vergleich zwischen zwei berufsmäßig spezialisierten Verständigungsweisen, der der Psychiater und der Architekten; denn Entstehung, Modi und Verwendungszwecke ihrer Aufzeichnungen unterscheiden sich. Psychiater haben symptomatische Mitteilungen von Patienten sprachhaft schriftlich festgehalten. Architekten entwerfen ihre eigenen Raumideen sprachlos bildhaft zur Mitteilung an diejenigen, die aus solchen Raumvorstellungen wirkliche Räume machen wollen. Die systematischen Deutungen des Raumerlebens (Gölz 1970; Kruse 1974; Merleau-Ponty 1966; Ströker 1965) sind durch die Psychopathologie der Raumstörungen maßgeblich angeregt. Besonders in der philosophisch-anthropologischen Diskussion hat sich trotz der Vielfalt der Befunde einige Übereinstimmung über den Raumbegriff herausgebildet. Nahezu alle Ansätze gehen vom „gelebten Raum“ aus. Der „gelebte Raum“ ist endlich, nie bedeutungsneutral; er sei nicht auf dinghaft-geometrische Kategorien reduzierbar. Auch werden in „analytischer Absicht“ und phänomenologischem Vorgehen drei Aspekte unterschieden: a) „Gestimmter Raum“, sofern er Raum unserer jeweiligen Stimmung oder Gestimmtheit ist (Ströker 1964). Es sei das „Erlebnissubjekt“ allein, das ihn wahrnimmt. Die Studie von Straus (Straus 1960a: 141-178) über das „präsentische Raumerleben“ im Tanz wurde zum Paradigma: „Das präsentische Erleben verwirklicht sich in der Bewegung, es wird nicht durch die Bewegung bewirkt.“ Der „gestimmte Raum“ ist atrop. b) Der „Aktions-Raum“ (Ströker 1965) (oft gleichbedeutend: „orientierter“ Raum) ist auf das handelnde, sich bewegende „leibliche Subjekt“ bezogen, kennt Orte, Plätze, Gegenden, Wege, das „Hier des eigenen Leibes und ein Dort“, daher Richtungen und handelnde Bewegung dorthin, kurz:
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„orientiert“, durch „topologische Mannigfaltigkeit“ charakterisiert (Ströker 1965), ist anisotrop. Hierhin gehören die verschiedenen „Standorttheorien“, lägen Ansätze zum „sozialen Raum“. c) Mit „Anschauungsraum“ ist „gemeint der Raum der sinnlich-leibhaftig gegebenen, aber kategorial mitbestimmten Dinge und Dingverhältnisse, näher hin der perspektivische und horizonthaft begrenzte Raum, der bezogen ist auf das anschauende Leibsubjekt als Zentrum“ (Ströker 1965), d.h. der sinnlichen Anschauung sind – im Unterschied zur bloßen Wahrnehmung – auch die nicht wahrgenommenen Mitgegebenheiten zugänglich. Verkürzt, diese Raumtheorien bilden keine hinreichende Grundlage für ein soziologisches Raumverständnis, wie es sich in den Konzepten von den „Raumbedingungen der Vergesellschaftung“, der „Verortung sozialer Beziehungen“ (Simmel 1923a) oder den „Behausungseinheiten (...) ineinander verflochtener Menschen“ (Elias 1969) anböte. Eine Trennung von „Handlung“ und „Wahrnehmung“ (bzw. „Anschauung“) ist, selbst als nur „analytische Differenzierung“ (Kruse 1974), mit dem soziallogischen Handlungsverständnis unvereinbar. Geschichtslose (Holzkamp 1973) und ethnozentrische Raumtheorien (Price-Williams 1969) öffnen keinen Zugang zum Raumproblem unserer sozialen Wirklichkeit. Ihnen liegt das Bild einzelner Menschen zugrunde, „von denen letzten Endes jeder von allen anderen absolut unabhängig ist – ein Individuum an sich, ein ‚homo clausus’“ (Elias 1969). Zeichnung und Diskurs in der Verständigung über Raumvorstellungen. Architektonische Raumvorstellungen können im Licht der anthropologischen Raumtheorien betrachtet werden, wenn es gelingt, die Verständigung in ihrem materiellen Kern von anderen Formen der Raumdarstellung und -abbildung abzugrenzen. Ich eröffne den Diskurs hierüber, wenn auch der „neue Bilderkrieg“ (Brock 1972: 2.3-2.19), eine veralltäglichte Bildüberflutung und manche überkommene akademische Bilderfeindlichkeit ihn erschweren. Gombrich (Grombrich 1967) hat dargelegt, daß eine Hauptschwierigkeit, die „Ambiguität der dritten Dimension“ in der Abbildung zu meistern, darin besteht, die richtige Deutung (im „Erlebnis des Wiedererkennens“) des Gesehenen zu erlernen. Dann sind wir gemahnt worden zu lernen, die verschiedenen Ebenen der Bildwirklichkeiten nicht zu verwechseln (Brock 1972: 2.3-2.19); nicht nur Kindern und Verrückten fällt es schwer, zwischen Abbild und Abgebildetem zu unterscheiden (Spoerri 1972: 11.1-11.18). In wenigstens drei typischen Sozialbeziehungen dient die Architekturzeichnung als Verständigungsmittel: Die Konstruktionszeichnungen dienen einmal wie jede technische Zeichnung als Mitteilung an die Fertigung (Lipsmeier 1971), wenden sich aber zugleich und meist primär auch an ihren architekto-
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nisch ungeschulten Auftraggeber; sie enthalten so stets ein repräsentatives Moment; er verfügt über eine andere Fähigkeit zu lesen. Sein Hauptaugenmerk gilt der Architektur als sozialem Instrument. Schließlich werden die Aufzeichnungen verglichen mit dem ausgeführten Werk in dessen sozial gelebter Wirklichkeit. „Die Grundlagen der Architekturzeichnung“, sagt Linfert (Linfert 1931: 133-246), unterscheiden sich von Malerei und Graphik, operieren mit dem „Bruch der Tiefendimension“, sind nicht „Bild“, sind „zwiespältig“. Neben diese zeichnerische Verständigung in der Architektur tritt zunehmend die diskursive. Bleiben in der Kommunikation mittels architektonischer Zeichnungen geltende Sinnzusammenhänge unerörtert, macht der Diskurs „problematisierte Geltungsansprüche zum Thema“ (Habermas 1971: 101141). Für das Zeichnen läßt sich dagegen mit Foucault (Foucault 1974) sagen: Zeichnen und Malen ist nicht Behaupten. Die wenigen Schriftsätze sind der Architekturzeichnung heute kalligraphisch einverleibt, um sie der Möglichkeit eines Diskurses zu entziehen. Einige Veränderungstendenzen in der architektonischen Verständigung über räumliche Vorstellungen. Im Wandel der zeichnerischen Kommunikation lassen sich zahlreiche widersprüchliche Züge ausmachen. Wie es sich bei der Beurteilung der Bildnerei der Geisteskranken endlich durchsetzt, nicht mehr zu fragen, „ob sie auch Kunst sei“, sondern deren Formanalyse zu betreiben (Rennert 1966), um sie auf kommunikative und diagnostische Anzeichen hin zu erforschen, kann umgekehrt unsere Anwendung psychopathologischer Kategorien auf die architektonischen Verständigungsformen nicht heißen, nun zu fragen, „ob diese pathologisch seien“, sondern die Psychopathologie der Raumabbildung (Rennert 1966) verhilft uns zu einem wesentlich geschärften Empfindungsund Ausdrucksvermögen für die Nuancen veränderter architektonischer Verständigung. Das zugrundeliegende Abbildungsmaterial (Dalty/Crawshaw 1973; Linfert 1931: 133-246; Lipsmeier 1971; Newman, O. 1973; Predtetschenski/Milinski 1971; Trieb, M. 1974) entfällt hier. Ich beschränke mich auf einzelne Befunde. Die modernen architektonischen Verständigungsformen sind stärker sozial fragmentiert und differenziert als diejenigen, die Linfert (Linfert 1931: 133-246) untersucht hat. a) Entsinnlichung der modernen Architekturzeichnung? Hat sie, ähnlich der modernen Kunst, ebenfalls „ihre Verankerung in der sinnlichen Welt aufgegeben“ (Grombrich 1967)? Durchgängig sind Tendenzen zur technisierten Rißzeichnung, stärkerer Normierung zeichnerischer Symbole, obgleich auch in den „Werkszeichnungen ein individualistischer Gebrauch der Regeln und Zeichen“ (Dalty/Crawshaw 1973) anzutreffen ist. Generell schwindet die „persönliche Strichführung“; zu den Ausnahmen zählt 57
die repräsentative „Wettbewerbszeichnung“. „Geometrisierung und Schematisierung“ (Rennert 1966) nehmen zu. Auf eine farbige Anlage von Aufrissen und Ansichten wird verzichtet; das erschwert die Versuche, Vorstellungen „gestimmter Räumlichkeit“ zu übermitteln. b) Umfassende Kalligraphie kennzeichnet jetzt alle Formen architektonischer Aufzeichnung. Das Kalligramm ist tautologisch, sagt Foucault (Foucault 1974): „Bettet seine Aussage in den Figurenraum ein und läßt den Text sagen, was die Zeichnung darstellt (...). Das Kalligramm macht sich die Besonderheiten der Buchstaben zunutze, gleichzeitig als lineare Elemente zu gelten, die man im Raum verteilen kann, und als Zeichen, die in der Reihenfolge der Lautkette stehen können. Als Zeichen macht es der Buchstabe möglich, die Wörter zu fixieren, als Linie vermag er das Ding darzustellen.“ c) Dennoch ist eine sprunghafte Zunahme sprachlicher Kommentare als Ergänzung oder anstelle bildhafter Mitteilungen zu beobachten, ablesbar am Aufkommen bilderloser Architekturzeitschriften, vor kurzem noch ein Paradox. d) Kennzeichnet die plötzlich aufkommende systematische Vermengung von Zeichnung, kalligraphischem Text und photographischer Abbildung eine neue Ebene der architektonischen Verständigung (Trieb, M. 1974), Verständigungsform im Übergang, etwa zu dominant sprachlicher Verständigung? „Das Eindringen von Geschriebenem in Gezeichnetes“ deutet Rennert (Rennert 1966) als „Fortschreiten oder Reifen des Ausdrucks“; das grundlegende Phänomen: „Verdichtung des bildnerischen Ausdrucks“ als „Streben nach Bewältigung der neuen Erlebnisfülle“; „Bilderschrift“-Elemente, „hieroglyphenartige Anordnung von Symbolen“ dagegen als Regression. e) Aufgabe der Perspektive? Immer seltener werden perspektivische Zeichnungen von Raum- und Bauprojekten, zumal bei den größeren Projekten fehlen sie. In den Kunst- und Architekturschulen ist der Unterricht im perspektivischen Zeichnen beinahe verschwunden. Durch das Einbeziehen perspektivischer Mittel hatte die Architekturzeichnung an „objektivistischem Charakter“ verloren, doch durch zunehmende Berechenbarkeit der räumlichen Wirkung (im Gegensatz zur Tradierung von „Rezepten“) an tektonischer Sachlichkeit gewonnen. „Der Mangel an Perspektive (...) entsteht nicht nur aus Unvermögen oder Verzicht, die Raumtiefe bzw. die dritte Dimension zu veranschaulichen“ (Rennert 1966), sondern kann als Mißachtung der räumlichen Beziehungen überhaupt verstanden werden. Hängt die heutige Abneigung gegen Perspektiven auch damit zusammen, daß sie allzuoft zur Vortäuschung einer Werkwirklichkeit verwendet wurden? 58
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Systematische Raumabbildungsfehler (Rennert 1966), nicht Ungeschicklichkeiten der Darstellung, sind bereits für die einfache Werkzeichnung nachgewiesen, wenn z.B. „Rückfronten“ eines Gebäudes gar nicht aufgezeichnet werden (Dalty/Crawshaw 1973). Ein anderer systematischer Mangel der Raumabbildung findet sich in der Unfähigkeit, die Höhendimension abzubilden, zumal bei Höhen, die den vertikalen Blickwinkel überschreiten. Die Angst, die Verkürzungen der Höhe (oder Tiefe) abzubilden, die bei geneigter Bildebene entstehen, ist so groß, daß selbst die Photographen der Architektur glauben, alle derartigen Photos „entzerren“ zu müssen. Die Gewöhnung an derart „entzerrte“ Architekturabbildungen hat das ihre dazu beigetragen; es gibt praktisch keine Möglichkeit, die bauliche Höhenentwicklung mittels Abbildungen zu erörtern oder sozial zu kontrollieren. g) Horizontverschiebung im städtebaulichen Modell. Um das Zusammenfügen von Baukörpern räumlich zu beurteilen, werden gewöhnlich sehr stark verkleinerte Modelle benutzt. Oft sind sie Ersatz oder leistungsfähigeres Substitut von – standortfixierten – Perspektiven; vor allem, weil die leiblich-realen Betrachter beweglich bleiben. Insofern enthalten die Modelle eine „objektivistische Tendenz“, denn sie erlauben viele, wenn nicht alle möglichen Standpunkte und Betrachtungshorizonte zugleich einzunehmen. In der üblichen Praxis der Abbildung dieser städtebaulichen Modellwirklichkeiten in Lehr- und Vorlagenbüchern, in Zeitungen und Zeitschriften finden sich aber durchweg nur solche Photos, in denen die Körper/Raumkompositionen von oben, aus der in Wirklichkeit am wenigsten wahrscheinlichen Sicht dargestellt werden. Der Horizont ist hoch gewandert, oder durch vertikale Blickwinkelverschiebung nach unten (Rennert 1966) ist die Ansicht steiler geworden bis zum Aufblick. Was als Technik der gesellschaftliche Omnipotenz ausdrückenden Sicht von oben richtig und legitim sein mag, wenn es gilt, eine raum-“gestalterische Einheit“ zu beurteilen, ist ebenso ungeeignet, wenn es darum gehen soll, in derartigen Modellabbildungen zu prüfen, wie diese Raumkompositionen wohl orientierungs- und anschauungsräumlich von tatsächlichen Menschen erlebt wird. h) Unbelebte Architekturphotographie? Die Mehrzahl architektonischer Raumkonzepte wird heute durch photographische Abbildungen festgehalten. Die architektonische Literatur wird beherrscht von derartigen Photos, mit denen die Architekten für ihre Vorstellungen (meist kommentarlos) bei Fachkollegen und Laien werben. Aber weshalb werden in ihnen durchweg die raumanschauend-leiblichen Menschen eliminiert? i) Mechanische Anthropometrie oder soziale Konfigurationen der Raumbewegung? Menschliche Körpermaße zur Grundlage architektonischer Raumges59
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taltung zu machen, ist ein Gebot jeder baulichen Ökonomie und einer global verbreiteten „Bauentwurfslehre“. Aufrechte Haltung, das Vorn und Hinten des Körpers, die Handhabung der Extremitäten, die Ausdehnung des Körpers im Liegen, Beugen, Sitzen, Hocken, damit werden Minimalbedingungen der Raumbemessung gesetzt. Für die Bewegung dieses „Körpers“ im Raume gelten als allgemeines Denkschema (Fleck, L. 1935/1980) jedoch Prinzipien der physikalischen Strömungslehre, auf die Regulierung des Straßenverkehrs ebenso angewandt, wie auf die Bemessung von „Personenströmen in Gebäuden“ (Predtetschenski/Milinski 1971), um ganze Erschließungssysteme von Gebäuden wie Röhrensysteme zu konzipieren, worin menschliche Körper gleich anderen Stoffpartikeln ohne sinnlichwillentliche Eigenschaften dahingetrieben werden. Verändert wurde dieses Denkschema (Fleck, L. 1935/1980) durch Einbeziehen der Tatsache, daß diese Körper sich selbst bewegen und Figuren der Körperbewegung im Raume beschreiben, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehren. War aber die spätere anthropometrische Gestaltung von Arbeitsplätzen noch mit der „arbeitswissenschaftlichen Sicht“ zu rechtfertigen, führten „experimentell-messende Beobachtungen“ von Wegenetzen des Personals in Krankenhäusern oder in Universitäten, von „Verrichtungshäufigkeiten“ in den Küchen des sozialen Wohnungsbaus, zu einer falschen Analogie, weil das Paradigma des „Betriebes“ (Siberski 1967) zum alleinigen Muster von Verhaltensrationalität verallgemeinert und sämtlichen anderen Verhaltensfigurationen im Raume unterlegt worden war. In diesem auf rein „betriebliche Nutzung“ sensorisch deprivierten Planungsdenken wird das gewöhnliche Wahrnehmungsverhalten zu einer „architekturpsychologischen“ Entdeckung; etwa, daß psychiatrische Patienten in den Fluren ihres modernen Hospitals „Angstsyndrome zeigen“ nur wegen der exzessiven Länge der Flure, ihrer Unendlichkeitsillusion, wegen der Schwierigkeiten, ihren Weg zu finden, wegen unerwünschter räumlicher Verzerrungseffekte oder irritierender Oberflächenqualitäten (Beattie/Curtis 1974: 44-50). Die Vexierräumlichkeit vieler Großbauten oder der Orientierungsverlust, den wir darin erfahren können, rühren aus einem theoretischen Defizit ihrer Planer. Sie rechnen und zeichnen für mechanisch bewegte einzelne Körper, nicht für in ihrer Leiblichkeit sozial in je bestimmter Weise miteinander verflochtene Menschengruppen. Der Vergleich von architektonischer Aufzeichnung und ausgeführtem Werk wird deshalb zu einem notwendigen Ausgangspunkt jeder Architekturkritik, die auch auf die Entwicklung der Architekturtheorie achtet; er konfrontiert die architekturräumliche Intention (wie sie durch Zeichnungen und ähnli-
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che Hilfsmittel dokumentiert wird) mit der sozial gelebten Raumwirklichkeit einer bestimmten Menschenformation (Elias 1969; Newman, O. 1973). Es gibt Veränderungstendenzen in der architektonischen Verständigung. War es früher möglich zu sagen, Architekten reden nicht, gibt es jetzt Architekten, die ihren Beruf antreten, ohne je ein Gebäude gezeichnet zu haben. Ein Wandel arbeitsteiliger Berufsanforderungen und neuer Kooperationsverhältnisse? Es ist auch ein Zeichen für das Vordringen sprachlicher Verständigung und schafft damit die Voraussetzung, Wahrnehmungs- und Denkkonzepte planvoll zu erörtern, die den Raumabbildungstechniken zugrunde liegen – als „berufsmäßig erlernte“ Denkschemata (Fleck, L. 1935/1980) oder als „subsidiär unbewußte Korrektur“ des physiologisch „Wahrgenommenen“ (Pirenne 1970); denn der Architekt hat nicht einfach „Sehformen darzustellen“, sondern „objektive Bauformen vorzubereiten“. Ohne Zeichnung (und Abbildung) gelingt das nicht. Die Notation des architektonischen Ausdrucks räumlicher Vorstellungen wandelt sich. Jetzt ist zu prüfen, wie das der Profession als einem Denkkollektiv (Fleck, L. 1935/1980) zuwachsende Wissen über die Bedingungen räumlicher Vergesellschaftung der Leiblichkeit am besten mitteilbar wird. Hauptproblem architektonischer Verständigung über Raumvorstellungen ist jeweils die optimale Verschränkung von zeichnerischer (abbildender) und diskursiver Verständigung zu finden. Worin bestehen architektonische Neuerungen? Man wird die Profession auch daran messen, wie weit es ihr gelingt, ihr leitendes Denkschema von der Organisation ihrer räumlichen Vorstellungen fortwährend in Kongruenz zu halten mit den sozialen Figurationen der Raumbewegung (Elias 1969).
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3. Zum langfristigen Verhäuslichen der menschlichen Vitalfunktionen – insbesondere zu den Harn- und Kotentleerungen
Das allmähliche Verlagern allen Lebens der Menschen in Bauwerke zum Schutz vor der Natur und zugleich zum besseren Gebrauch der sie umgebenden Natur ist ein sehr langfristiger Prozeß; das gilt für alle Naturkräfte und für sämtliche menschlichen Körperfunktionen. Die Bauwerke werden, längerfristig gesehen, immer gesichertere Mittel der Menschen zum Schutz und zugleich zum immer zweckvolleren Gebrauch der Natur. Verhäuslichungsprozesse beziehen sich auf sämtliche Weisen der Menschen im Umgang mit ihrem eigenen Körper, mit dem Essen und Trinken, der Körperpflege und -wäsche, dem Ent- und Bekleiden, dem Sexualgeschehen aber auch der gastlichen Geselligkeit. Hier werden allein die elementaren Vorgänge geregelter Körperentleerung der Menschen skizziert, ihre allmähliche Verlagerung in Häuser. Diese Verhäuslichungsprozesse vollziehen sich besonders anschaulich im Zuge der frühen industriellen Großstadtbildung – in England, Frankreich, den Beneluxländern und Deutschland. Unmittelbar historische Zeugnisse dafür sind nicht nur die Geräte und Bauwerke. Der Umgang der Menschen mit ihrem eigenen Körper, ihren Gefühlen und den Gerüchen wandelt sich grundlegend. Auch dafür liegen reichhaltige Zeugnisse vor. Alle diese körperlichen Vorgänge werden tendenziell „hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens“ (Elias 1939/1997) verlagert. Erst die räumliche Bevölkerungsverdichtung, die immer weitergehende Menschenverdichtung im Laufe der industriellen Verstädterung haben Gerüche und Gestank bisweilen unerträglich werden lassen. Die Orte der körperlichen Verrichtungen werden allmählich immer stärker abgetrennt von den sonstigen Aufenthaltsräumen. Das innerhäusliche Schamgefühl führt zum immer stärkeren Verbergen mittels der „Schamwände“ und „Aborte“. Visuell, geruchlich und akustisch werden die Verrichtungen der Wahrnehmung anderer Menschen ganz entzogen. Und damit werden nun diese Vorgänge zugleich dem innerhäuslichen Verhaltensgefüge eingepaßt; alle Menschen müssen nun von frühester Kindheit an ein immer disziplinierteres und selbstkontrollierteres Leben erlernen. Indem die Bauten mehr und mehr auch „an die Kanalisation angeschlossen“ werden, verlieren die Menschen mit dem „Städtereinigen“ auch ihre frühere ausgedehnte Verfügungsgewalt über ihre eigenen Exkremente.
Menschenverdichtung und Geruchsentwicklung Über den schnell anwachsenden mitteleuropäischen Städten des neunzehnten Jahrhunderts lastet – wie heute über vielen ähnlichen Plätzen in der Welt – unerträglicher Gestank. Die Ingenieure, die angesichts der zunehmenden Wohndichte auf Abhilfe sinnen, wissen, daß der „Mangel an Latrinen, den sie in den Palästen, Schlössern, Theatern“ der früheren Zeit antreffen, „nur durch die Abscheu vor den üblen Ausdünstungen“ zu erklären ist. Die Gerüche, sagen sie, „beleidigen die Sinne“ der Menschen. 1883 berichtet James Hobrecht, verantwortlich für den Bau der Berliner Entwässerung, von seinen Reisen: „Sehr wahrscheinlich wird in einem Jahrzehnt in Paris die Frage, wie der Gestank, der uns so sehr gequält hat, zu beseitigen sei, – nicht mehr existieren“. Eine große Vielfalt unterschiedlicher Verrichtungsgewohnheiten kennzeichnet den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, an dessen Ende die Körperentleerungen weitgehend in „Aborte“, diese in die Häuser verlagert sind, den Blicken anderer Menschen weniger zugänglich geworden. Jahrhundertelang kannten die Städte nebeneinander Latrinen, Senkgruben, Kotplätze in Gärten und auch entwässerte Abortanlagen; in einigen französischen Schlössern finden sich seit Jahrhunderten komfortable chaises percées, „Nachtstühle“, in einigen islamische und englische Spülaborte. In allen Städten tragen Menschen Exkremente durch ihre Häuser auf die Höfe oder schütten sie auf die Straßen. In den Abbildungen der ärztlichen Berichte und technischen Lehrbücher zwischen 1865 und 1910 sehen wir Menschen mit Kellen, Eimern, Schaufeln ihre Gruben entleeren und in Kübeln oder Tragbütten auf dem Rücken forttragen oder in Handkarren und Pferdewagen fortfahren. Wegen der Belästigungen durch den Gestank geschieht das meist nachts. Die Menschen empfinden die ständige Gegenwart des Kot- und Uringeruches anderer Menschen als verletzende, ihre wechselseitigen Beziehungen störende Handlungen und versuchen diese Auswirkungen zu vermeiden. Allmähliches Abtrennen und Einhausen der Verrichtungen Die vollständige Einhausung der vordem selten, gelegentlich oder gar nicht verborgenen Verrichtungen, ihre Verlagerung in „Aborte“, das Ausstatten sämtlicher städtischer Häuser mit Aborten und schließlich das Verbergen der Entleerungen auch auf Straßen und Plätzen, diese Prozesse, die die Städter zu einem sozial genaueren Ordnen der körperlichen Selbstkontrolle zwingen, vollziehen sich in wenigen Generationen. In den sechziger bis achtziger Jahren überwiegen „Gutachten“, „Anleitungen“, schließlich „Handbücher“ zum Bau einzelner, mehr oder weniger freiste64
hender, dann angebauter „Aborte“, bald folgen Empfehlungen zur Anordnung der „Toilettenzimmer“. Die Vielfalt der Geräte und Verfahren ist schwer zu übersehen. Die alten Aborte werden aus den Ställen, Gärten und Höfen näher an die Häuser, bald innerhalb der Wohnbauten an die Eingänge, Treppen, Flure, Verkehrswege plaziert; die peinlicher gewordenen und stärker verborgenen Verrichtungen werden in die bestehenden Gefüge der Menschen in Zimmern und Wohnungen eingepaßt. Körperentleerungen sind allein auf den vorgesehenen Aborten im Hause erlaubt. Die größere Dichte des Zusammenlebens in Wohnhäusern, der höhere Verflechtungsgrad der Städter, erzwingen genauere Körperregulierungen. Wer an anderen Orten im Hause, außerhalb oder auf Straßen und Plätzen uriniert oder defäkiert, tut es mit Angst, muß die Ächtung fürchten. Die Zwänge, sich richtig zu verhalten, die Standards des richtigen Benehmens sind in Architekturbüchern der Jahre 1883 bis etwa 1910 ausführlich dargelegt. Sie geben in Wort und Bild genaueste Anweisungen, was richtig und was zu tun peinlich ist. „Toilettenräume sind möglichst unauffällig anzuordnen“, sind „auszuschmücken“, „von außen möglichst unsichtbar anzulegen“. Der gesamte innerhäusliche Kanon des Verhaltens wird von diesen Peinlichkeitsvorschriften durchsetzt, das innerhäusliche Schamgefüge davon bestimmt. Die enger zusammenlebenden Menschen spüren die aggressiven und verletzenden Seiten der Harn- und Kotentleerungen. Sie ziehen sich voneinander weiter zurück. Die alten Aborte heißen jetzt Privet, Retirade, Seceß, Closet, Appartment, Wasserclosetzimmer. Über die Peinlichkeit, die zwischen Männern und Frauen bestehenden Körperunterschiede und Körperhaltungen in den neuen Toilettenräumlichkeiten zu berücksichtigen, entwickeln sich immer wieder ambivalente Standards. In den Lehrbüchern gegen Ende des 19. Jahrhunderts werden nach englischen Vorbildern lange Zeit Frauenurinale angezeigt, gleichzeitig aber auch Empfehlungen ausgesprochen die Pißbecken für Männer zu verschließen, damit Frauen der Anblick erspart bleibe. Zu gleicher Zeit finden sich vermehrte Aufforderungen, in allen Arbeitsgebäuden und öffentlichen Bauten jetzt nach dem Geschlecht getrennte Räumlichkeiten vorzusehen. Zeitweilig werden auch ausführliche Anleitungen mitgeteilt, den Frauen getrennte Aborträume in Wohngebäuden der sozialen Oberschicht einzurichten. Wandlungen in der Verfügung über die Exkremente Bisher standen hauptsächlich die Verhaltenswandlungen im Vordergrund, die mit den Tendenzen zum Verbergen sämtlicher Verrichtungen einhergehen, mit dem Anwachsen der Scham-Angst im Verlauf der notwendig genaueren Abstimmung 65
der Ausscheidungsvorgänge auf Hausräume und Sanitärbecken sowie den unmittelbaren Zwängen zu direkterer Körperbeherrschung. Jetzt werfen wir einen Blick auf die weiteren sozialen Verflechtungszusammenhänge, in die die Menschen im Verlauf „zivilisierterer“ Verhaltensweisen unabsichtlich geraten und damit das Entstehen zahlreicher neuer sozialer Kontrollinstanzen fördern. Die Tatsache, daß Menschen im Verlaufe der Verhäuslichung ihrer Körperfunktionen auch die Verfügungsmöglichkeit über die eigenen Exkremente verlieren, bereitet ihnen nicht nur im Kindesalter große Schwierigkeiten und erzeugt völlig unerwartete soziale Spannungen. Sie verändern die gesamte Figuration von Gruppen und Personen, die bisher damit befaßt waren. In der geschlossenen Hauswirtschaft der Bauern, Ackerbürger, auch der meisten Kloster- und Schloßherren wurden die menschlichen Faeces jahrhundertelang zusammen mit tierischen abgelagert und dem natürlichen Stoffwechsel periodisch wieder zugeführt. In der Phase größerer Bevölkerungsverdichtung, vor allem in den europäisch-amerikanischen Städten des 19. Jahrhunderts, lassen sich zwei Veränderungsschübe erkennen. Die vermehrten Kenntnisse über die anorganische und zumal die organische Düngung hatten diesen Zusammenhang noch akzentuiert. Man rechnete mit dem menschlichen Kot zum Düngen der Nutzpflanzen. Er wurde in Hausnähe angesammelt und periodisch auf die Felder gebracht. Stadtnahe Landwirte sind die regelmäßigen Abnehmer der städtischen Hausbesitzer. An manchen Orten gibt es dazwischen bereits einige Abfuhrunternehmer. Diese Figuration wird mit dem Bau der Kanalisationssysteme, wie die Berichte von Landwirten und Ingenieuren seit 1865 zeigen, grundlegend verändert. Die Zwänge zum Beseitigen der alten Kotsammelgruben, die forcierte Politik städtischer und staatlicher Verwaltungen, treffen auf heftige Widerstände bei den Hausbesitzern. Gemeinsam mit Landwirten stellen sie vor jeder anstehenden Neueinrichtung eines Abfuhr-, bald eines Kanalsystems, umfängliche Kotmengenbilanzen und Rechnungen an, wie groß der Gewinn aus dem regelmäßigen Verkauf wohl sein werde. Das Hauptargument gegen die Neuerungen bleiben die „hohen Kosten“. Mit dem Aufbau der Wasserwerke, der Tiefbau- und Entwässerungsämter unter staatlicher Hilfe nehmen die Kosten der Fäkalbeseitigung schließlich die Gestalt kommunaler Gebühren an, einer Sonderform der Steuern. Die Hausbesitzer, die den Kot lange in Hausnähe behielten, für seine Hergabe Belohnungen bekamen und erwarteten, sind durch Kontrahierungs-, Anschluß- und Abnahmezwang mit den neuen Instanzen der Städtereinigens verflochten, müssen nun umgekehrt das Hergeben mit Gebühren bezahlen. An die Stelle der alten vielgestaltigen Techniken der Fäkalienbeseitigung treten weiträumig einheitsstiftende Gebietsmonopole, die aus dem staatlich-kommunalen Steueraufkommen finanziert 66
werden. Die „an die Kanalisation angeschlossenen“ Städter hören auf, die Nützlichkeit ihrer Gruben zu schätzen und beginnen das Städtereinigen zu lieben. Über die Existenz der mit dem After sich verbindenden Lustgefühle liegt eine große Anzahl geprüfter und bestätigter Beobachtungen vor. Ebenso ist das unbewußte Gleichsetzen von Kot und Geld durch eine Fülle von Befunden belegt worden, wenn auch deren Deutung in den psychoanalytischen Geldtheorien weit auseinandergeht. Das Interesse der verschiedenen Forscher an der Reinlichkeitserziehung konzentriert sich allein auf die frühe Kindheitsentwicklung, auf die Phasen, in denen die ganze Aufmerksamkeit der Kinder auf die Afterzone gerichtet ist und auf die damit verbundenen Lustempfindungen. Wer die gesellschaftlichen Entstehungsursachen der Erhöhung gesamtgesellschaftlicher Reinlichkeitsstandards untersucht, stößt auf eine Reihe von Ähnlichkeiten zur frühkindlichen Entwicklung, die besonders abzulesen sind an dem Modell des Handlungsablaufs von trotzigem Behaltenwollen der Ausscheidungen – „jeder soll Herr und König bleiben auf dem eigenen Mist“ schreibt ein Arzt 1871 –, eigensinnig-sparsamen Aufrechnen der Produktion – die Hausbesitzer und Gegner der modernen Kanalisation stellen stadtwirtschaftliche Kotbilanzen mit Kalkulationen von Pfennigbruchteilen auf –, gesellschaftlichem Erzwingen der Hergabe, Umsetzung der von den Städtereinigern ausgehenden Zwänge in Selbstzwänge und schließlich, nachdem das prompte Hergeben nicht mehr belohnt wird, sondern bezahlt werden muß, allmähliche Wertschätzung der neuen Reinlichkeitsordnung. Die Kanalisationsgegner, Landwirte, Agrarökonomen, Hausbesitzer rechnen mit dem Kot wie mit dem Geld. Daß bei ihren Methoden die meisten Menschen den eigenen wie den fremden Kot regelmäßig riechen, sehen, tragen oder berühren, kümmert sie wenig. Jetzt dagegen wird das Zurückbehalten bestraft, zieht Angst- und Peinlichkeitsgefühle nach sich. Die Eigentumsrechte an den Exkrementen sind ausdrücklich auf die Stadtverwaltungen übertragen. Frei von Schuldgefühlen wird, wer seine Ausscheidungen schnell den neuen Kanälen anvertraut. Die Peinlichkeitsvermeidung wird zum zentralen seelischen und schließlich sozialen Antrieb für den Aufbau umfassender Entwässerungssysteme. Vergrößern des Abstandes zu den Exkrementen und zu den Menschen, die sie beseitigen Welche Veränderungen in der gesellschaftlichen Verfügung über die Körperausscheidungen lassen sich in den Berichten im Verlauf von etwa vier Generationen erkennen? Wir können eine Erweiterung der Figuration von Menschen beobachten, die nun mit dem Beseitigen der menschlichen Exkremente befaßt sind. Die Ver67
längerung der Handlungsketten ist offenbar, eine unmittelbare Verwertung im Naturkreislauf praktisch ausgeschlossen. Die Exkremente sind weitgehend aus den Bereichen sozialer Wahrnehmbarkeit verschwunden. Daß wir sie nicht mehr riechen und sehen, teilt sich am unauffälligsten in den Sprachgewohnheiten mit. An die Stelle drastischer Geruchsbeschreibungen sind im Verlauf des „Geruchlosmachens“ technisch-apparative, umschreibende und wohllautende Wörter getreten. Pettenkofer sprach von „entsetzlichem Gestank“. Die moderne Hygiene redet von „Luftqualität“. Die soziale Abstandsvergrößerung äußert sich auffällig im veränderten Sprechen. Die in den alten Berichten gebrauchte, direkte Sprache über die Exkremente ist weitgehend verschwunden, wird noch in der Kindheit erlernt, wie sich an Schulkritzeleien dokumentieren läßt, aber keineswegs mehr von Ärzten, Ingenieuren, Hauswirten oder Architekten verwendet. Die Periode, in der die Städte des deutschen Sprachgebietes „mit der Kanalisation beginnen“, beginnt um 1860. Ein deutlicher Höhepunkt liegt in den Jahren zwischen 1890 und 1907, wie es die beiden „Zeittafeln“ im großen „Abwässer-Lexikon“ über „die städtische Abwässerbeseitigung in Deutschland“ des Medizinalrates Hermann Salomon aus den Jahren 1906 und 1907 minutiös darstellen (Elias 1939/1997: 494 f. Bd. 1 und 844 ff. Bd. 2). In dieser Zeit werden die hier entscheidenden Entdeckungen Sigmund Freuds geschrieben und veröffentlicht; die „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, 1904/5; „Charakter und Analerotik“, 1908 und „Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik“, etwa 1909. Die Erforschung der sozialen Modellierung des mit After und Harnleiter verbundenen Antriebserlebens steht aber erst am Anfang. Freud formuliert seine Beobachtungen am Verhalten von Säuglingen nach und während einer jahrzehntelangen öffentlichen Diskussion darüber, was mit dem Kot der Städter geschehen sollte und was wirklich geschieht. Und aus der erkannten „überdeutlichen erogenen Betonung der Afterzone“ schließt er sehr vorsichtig: „Da sich aber nach abgelaufener Kindheit bei diesen Personen nichts mehr von diesen Schwächen und Eigenheiten auffinden läßt, müssen wir annehmen, daß die Analzone ihre erogene Bedeutung im Laufe der Entwicklung eingebüßt hat, und vermuten dann, daß die Konstanz jener Trias von Eigenschaften (ordentlich, sparsam, eigensinnig) in ihrem Charakter mit der Aufzehrung der Analerotik in Verbindung gebracht werden darf“ (Freud 1964). Während dieser Zeit ist aber die Verfügungsgewalt, ist das tatsächliche VerfügenKönnen der einzelnen Erwachsenen über ihre Exkremente in mehreren Veränderungsschüben weitgehend auf spezialisierte soziale Verbände übertragen. Es ist nun verboten, großenteils unmöglich geworden, Kot und Urin in oder nahe von Häusern zu behalten. Die Entleerungsvorgänge selbst sind weitgehend aus dem gemeinsamen Wahrnehmungsraum eliminiert; nach ihrem schrittweisen Einhausen wird eine viel genauere raumzeitliche Lokalisierung verlangt. Die allgegenwärtige soziale Verbindlichkeit, Sanitärgeräte zu verwenden, fördert das entschiedenere 68
Abstandnehmen von den Ausscheidungen und zwischen den Menschen. Die Verrichtungen der Erwachsenen sind im Verhalten und Empfinden stark modelliert, haben einiges von der vorangegangenen Unmittelbarkeit verloren. Ihre Interdependenz mit älteren sozialen Verbänden unterschiedlicher Reichweite, mit Staaten, Städten, Hausgemeinschaften, ist erweitert. Die Verflechtung mit neuen Verbänden politisch kontrollierten Erzwingungsstäben für besondere Verhaltensabschnitte, ist intensiviert, etwa der „Abfuhr“, für das organisierte Behalten, Ausleeren, Beseitigen, Reinigen; oder der Wasserversorgung, der Gesundheitstechnik und Entwässerung, für das beschleunigte Beseitigen, häufigeres Sich-Waschen. Die physischen und sozialen Abstände zu Harn und Kot, doch auch die zu den Menschen, „die es tun“, die jetzt den Schmutz der anderen fortschaffen, sind beträchtlich vergrößert, zeigen sich auch in dem verringerten Selbstbewußtsein derjenigen, die nun Straßen fegen, Müll beseitigen oder Klärwerke bedienen. Die mit der analen Angriffs- und Zerstörungslust einhergehenden Züge, das raumzeitlich willkürbestimmte Kotausstoßen und Urinieren, das damit oftmals verbundene Beschmutzen anderer Menschen und Verletzen durch den Gestank ist in denselben Zeitabschnitten stärker sozial eingeschränkt, der Gesamtablauf der Verrichtungen gedämpft, die wechselseitigen Abhängigkeiten sind vermehrt, eine Vielzahl von Kontrollen des richtigen Benehmens weiter zentralisiert worden. Schluß: Woran sollen diese Sätze erinnern? Sie vermitteln einen Eindruck von der relativen Langfristigkeit sozialer Wandlungsprozesse. Ein langfristiges Verhäuslichen läßt sich an sämtlichen Vitalfunktionen der Menschen beobachten. Hier haben wir uns beschränkt auf Aspekte der Hygiene des individuellen und des öffentlichen Defäkierens und Urinierens. Die Menschen in den wohlhabenden europäischen Ländern bekommen einen Eindruck von Tempo und Relativität der Wandlungsprozesse ihrer eigenen Technologie- und Verhaltensnormen im „Sanitärbereich“. Dabei können sie auch lernen den vielen Partialinteressen einzelner Berufe und Hersteller selbst distanzierter zu begegnen. Und können sie so vielleicht auch begreifen, einen ganz anderen, besseren Blick für die „Sauberkeitsverhältnisse“ der ärmsten Länder der Erde zu bekommen?
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4. Wandel der Wohnverhältnisse, Verhäuslichung der Vitalfunktionen, Verstädterung und siedlungsräumliche Gestaltungsmacht
Social change in mass housing, emplacement of social and somatic functions into built structures, the urbanization process and changes in community „This resume is based on an extensive exploration of the architectural process, particularly of architectural criticism and the extending architectural claims within all social fields. Architecture was always a means of dominating par excellence which lost its monopoly as a massmedium that it had enjoyed for centuries, is consciously used therefore more and more as a massmedium addressed to all body senses. Applying a dynamic theory of society which doesn’t merely reduce the social aspects of human bodies to „expectations“ but recognises the shifts in power in society which are main sources of social and psychic changes and because of these the „Verhäuslichung“ – tendencies are discovered as a predominant criterion. Mass housing is today, contrary to all historical tradition, the main field of architectural expansion. With the example of the building of modern housing estates the connection between political processes and their effects on the formation of psycho-somatic functions can be documented impressively. By the word „Verhäuslichung“ which N. Elias (see Goudsblom 1970) would call a „social configuration“ I am coming a term, which does not mean domestication but the emplacement of all work processes and social interactions into built and designed structures. Inhalt: Dieses Resumé rührt aus einer längeren soziologischen Exploration des architektonischen Prozesses, insbesondere der Ausbreitung des immer umfassenderen architektonischen Anspruchs auf sämtliche Gesellschaftsbereiche sowie der Architekturkritik (Gleichmann 1976a). Architektur war immer ein Herrschaftsmittel par excellence, das sein jahrhundertelanges Monopol als „Massenkommunikationsmittel“ zwar verloren hat, deshalb jedoch immer bewußter eingesetzt wird als ein sämtliche Körpersinne ansprechendes Medium. Mit einer dynamischen Gesellschaftstheorie, die die soziale Leiblichkeit der Menschen nicht einfach auf „Erwartungen“ reduziert, sondern die in den gesellschaftlichen Machtverschiebungen hauptsächlichen Ursachen sozialer und psychischer Veränderungen erkennt, werden „Verhäuslichungstendenzen“ als ein wesentliches Kennzeichen entdeckt. Der Massenwohnungsbau ist heute entgegen aller architektonischen Überlieferung ein Hauptausbreitungsgebiet der Architektur. Am Beispiel des modernen städtischen Siedlungsbaus läßt sich daher der Zusammenhang von politischem Prozeß und seinen Auswirkungen auf die Formung psycho-somatischer Funktionen eindrucksvoll belegen. Mit dem Begriff „Verhäuslichung“ bezeichne ich einen Prozeß, den N. Elias (vgl. Goudsblom 1970) mit einer „sozialen Konfiguration“ bezeichnet hat.“
Am Beispiel der sich wandelnden Wohnverhältnisse möchte ich einige Veränderungstendenzen aufzeigen im Verhältnis vom politischen Prozeß der Verstädterung zum Wandel der Lebensumstände in neuen Wohnsiedlungen. Ich möchte einige Züge des Einflusses der planenden großstädtischen Verwaltungen auf die Ausgestaltung der persönlichen Wohnverhältnisse und auf die psychischen Veränderungen im Zusammenwohnen zeigen; denn es werden bisher sehr selten anthropologische Aspekte des modernen Lebens in Wohnungen und ihre zivilisatorischen Folgen mit der Siedlungspolitik in einen Zusammenhang gebracht. Ich werde den administrativen Sprachgebrauch soweit möglich vermeiden, ebenso den etwa der Architekten oder Planer, mich zugleich aber bemühen, mich so auszudrücken, daß es möglichst mit allen jenen Fachaspekten vereinbar bleibt. Dafür werde ich Kategorien bevorzugen, die zugleich Zustands- und Verlaufsbeschreibungen des Verhaltens gestatten;9 und bisweilen werde ich ohne „die Angst mancher Verhaltenswissenschaften“ (Devereux 1973) derber sprechen als das im Zusammenhang eines solchen Themas üblich ist. „Die spezifische Entwicklungsstruktur von staatlichen, wirtschaftlichen und vielen anderen Arten der zwischenmenschlichen Interdependenzen spielen im Leben von Menschen keine geringere Rolle als die Trieb- und Affektinterdependenzen. Aber der soziale Charakter der letzteren wird über ihrem individuellen Charakter heute oft genug übersehen.“ (Elias 1972)
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Der Wandel der Standards des Wohnverhaltens läßt sich materiell am eindrucksvollsten ablesen an der „Hebung der Wohnstandards“ (Fey 1972). Quantität und Qualität der Wohnungen sowie die Wohnfläche je Haushalt sind in 25 Jahren unerwartet gewachsen. Das säkulare Ziel jeder bisherigen Wohnungspolitik: eine abgeschlossene Wohnung für jede (Klein-)Familie ist praktisch erreicht oder überschritten –, den relativen Mieterschutz einbegriffen. Diese Politik konnte sich – neben einem zunächst hohen staatlichen Mitteleinsatz – auf zwei soziale Ressourcen stützen: eine fachlich hochqualifizierte, durch jahrzehntelange Übung problembewußte und finanztechnisch erfindungsreiche Beamtenschaft sowie auf ein (durch das föderale System befördertes) breites wohnungswirtschaftliches Kleinunternehmerpotential; dessen Fertigkeiten und dessen traditionales Interesse an einer hohen Wohnkultur wurden durch eine Fülle von Vergünstigungen noch mobilisiert. Ein Resultat die-
9 Darauf ist verschiedentlich hingewiesen worden, so von Siberski 1967 und Elias 1970.
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ser gewaltigen Anstrengungen (ca. 14 Mio. Wohneinheiten in 25 Jahren) ist eine großbetrieblich organisierte, weitgehend wirtschaftlich konzentrierte (Bauund) Wohnungswirtschaft, die sich nun neben der Bestandspflege der Modernisierung des restlichen, unter dem Standard liegenden Teils annimmt. Einmal sollen alle Wohnungen in den Wirtschaftskreislauf einbezogen werden, die durch Abnutzung bzw. Verschiebung des Anspruchsniveaus herausfallen würden: und dann sollen alle die Wohnbauten im Umlauf gehalten werden, die durch Kapitalvernichtung oder -verzehr auszufallen drohen, etwa weil ihre Eigentümer, meist als Eigenwohner, ihre Häuser als Alterssicherung „aufzehren“ (Cullingworth 1963), anders gesagt, mit dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben keine Kapitalrechnung mehr aufstellen.10 Der Wandel der Verhaltensstandards im Wohnen ist aber sozial bedeutsamer, wenn auch weniger beachtet. Wir bezeichnen mit Verhaltensstandards menschliche Verhaltensregeln, die die Beziehungen von Individuen in sozialen Verbänden doch auch „zu sich selbst“ regeln. Diese Standards verändern sich im Rahmen sozialer Entwicklungsprozesse, vor allem durch Verschiebungen im sozialen Machtgefüge. Um sie empirisch-soziologisch zu dokumentieren, kann man ganz grob zwischen schriftlich, meist rechtlich kodifizierten und nicht geschriebenen Regeln unterscheiden. Hier haben wir es meist mit den Regeln des sogenannten „guten“ oder „anständigen“ Benehmens zu tun (Krumrey 1976). Maßgeblich bleibt das jeweilige gesellschaftliche Machtgefüge als Hauptquelle der Regulierungen des „richtigen Verhaltens“ auszumachen.11 Hauptkennzeichen der neuen Verhaltensstandards in einer sich wandelnden Wohnungswirtschaft ist die rigorose Disziplinierung des Bewohnerverhal-
10 Ein verbliebenes Rumpfstück der Bodenrechtsreform des jetzt beschlossenen „Gesetzes zur Änderung des Bundesbaugesetzes“ (Bundesratsdruckwacht 300/74) (analog dem Städtebauförderungsgesetz) eine allgemeine Erlaubnis zum Erlaß von: Bau-, Nutzungs-, Modernisierungs-, Erhaltungs- und Abbrauchsgeboten. – Alternativen dazu sind nicht zahlreich. Eine Wirtschaftsgesellschaft kann ganze Wohngebiete oder Städte dem physischen Verfall preisgeben, wie in Teilen der USA oder einiger sozialistischer Länder; oder sie kann versuchen, die staatliche „Mobilisierung der Mieter“ (und Einzeleigentümer) in „Reparatur- und Feierabendbrigaden“ (Hoffmann, M. 1973: 244ff.) direkt mit unentgeltlicher „Zwangsarbeit“ zur Pflege des Wohnungsbestandes zu bewegen. – Andererseits ist die Beschleunigung des Umlaufs der Mietwohnungen („Wohnungswechsel“) bisher verbunden mit der tendenziellen Selektion der weniger „Wohnleistungsfähigen“; (vgl. Aich et.al. 1972; Hess et.al. 1973). 11 Vgl. Elias 1939/1997. Die gegenwärtig wieder entzündete zivilisationstheoretische Debatte geht auf die produktiven Eliasschen Ansätze kaum ein und gleitet daher ungewollt bei bedeutsamen Problemstellungen wie der „Technischen Zivilisation“ zurück ins Pejorative.
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tens. Das zeigen die meisten Dokumente einer fast hundertjährigen Wohnungspolitik. Die „Normalwohnung“ wird zum allein generell geltenden wirtschaftlichen Gut und zur alleinigen Recheneinheit der Wohnungspolitik und des Städtebaus gemacht; ihre allgemeine Durchsetzung führt zur Eliminierung zahlreicher anderer Sozialverhältnisse etwa gewerblicher, familialer oder sexueller Art. Im einzelnen finden wir jetzt beispielsweise durch technischen Wandel induzierte ganz neue Verhaltensbereiche und Aufgaben: - Reglements in der Bedienung der Haustechnik; Instandhaltung der Wohnmaschine; - Diszipliniertes Handhaben der Müllbeseitigung; - Reglementierung zur Benutzung gemeinsamer Anlagen: das sind neue Kooperationsformen zwischen Mietern –, „technisch vermittelte Interaktionen“;12 - Zunahme häuslicher Unfälle. Die verhaltensleitende Instanz ist mit der Organisierung der Wohnungswirtschaft aus der öffentlichen zunehmend in die betriebliche Obhut übergegangen:13 Wohnungsaufsicht – „Hausordnung“. Im internationalen und globalen Vergleich fallen zwei Bewegungstendenzen auf. Die Verbesserungen unserer Wohnungsversorgung sind zeitlich einhergegangen mit einer nachhaltigen Verschlechterung des Wohnstandards eines großen Teils der Weltbevölkerung im Zuge andauernder Verstädterungsbewegungen vor allem in Asien, Afrika und Lateinamerika. Dagegen haben nur wenige Länder eine höhere jährliche Neubaurate je Einwohner oder eine bessere Wohnungsausstattung (Schweden, USA, Niederlande). Nur wenige Länder verfügen durchschnittlich über größere Wohnungen (Niederlande, Großbritannien, USA). Der Einfamilienhausanteil am gesamten Wohnungsbestand ist in einigen Ländern ständig höher als in der BRD und auch relativ schneller anwachsend. Die fortschreitende Ablösung der Wohnverhältnisse aus anderen Sozialverhältnissen hat nicht aufgehört. Sie schafft ein ganz charakteristisches Spannungsverhältnis
12 Die Großwohnanlagen erzeugen „technisch vermittelte“ Interaktionen, wie sie deshalb auch mögliche Interaktionen „technisch verhindern“, vgl. O. Newmans Kritik 13 Das schließt die Möglichkeit weiterer direkter staatlicher Einwirkungen auf die Interaktionsform einer Hausgemeinschaft nicht aus; vgl. Hoffmann, M. 1973
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zwischen der modernen „städtischen Normalwohnung“ und anderen sozialen Instanzen.14 - Ausgesondert sind fast alle Formen von Arbeit und Beruf, gewerblichen Tätigkeiten, Kost- und Lehrverhältnissen. Ausgeschieden ist jede Form der allgemeinen und beruflichen Haushaltung. Beseitigt ist die Nutz-Tierhaltung in Wohnungen. Auch Krankheit und Krankenpflege sind weitgehend an außerhäusliche Instanzen übergegangen. - Starke Tendenzen zur Aussonderung gibt es bei Teilen der kindlichen Erziehung, - zugunsten von Kindergärten und Vorschuleinrichtungen: bei der häuslichen Nahrungsherstellung –, Fertiggerichte, betriebliche und schulische Kantinen. - Erkennbar sind Trends zur Auslagerung der Freizeit: Außerhäuslicher Urlaub; Reiseintensität (mindestens eine Urlaubsreise pro Jahr) der deutschen Bevölkerung steigt 1975 über 55,9 % (Fornfeist 1976); - Zunahme der Freizeit- und Jugendzentren. - Und schließlich sind Geburt und Tod weitgehend außerhäusliche Ereignisse geworden, wenn auch die Debatte über „humanere Formen des Sterbens“ (Billich) eine rückläufige Bewegung vorstellbar macht. - Aber auch gegenläufige Prozesse deuten sich an. Die häusliche Pflege der alten Menschen nimmt rapide zu (WuS 1975. H. 9: 633ff.). Dreiviertel der rund 360.000 behinderten Kinder leben in Wohnungen (mit vollständigen Familien), weitere 9,6 % in unvollständigen Familien (WuS 1975. H. 9: 611ff). Die zunehmende Verhäuslichung sämtlicher leiblichen Vitalfunktionen stellt die tiefgreifendste Veränderung unserer „verstädterten“ Wohnverhältnisse dar. Fast alle körperlichen Vorgänge und Äußerungen sind „hinter die Kulissen des gesellschaftlichen Lebens verdrängt“, wie N. Elias (1939/1997) in seiner Theorie des zivilisatorischen Prozesses anschaulich formuliert hat. Wer vom „Wohnen“ sprechen will, hat über sozial modellierte Verhaltensbereiche zu sprechen, die zum großen Teil nicht sprachlich abgebildet sind und wegen der „Angst der Verhaltenswissenschaften“ auch kaum systematisch beobachtet werden:
14 Wirtschaftlich-technisch wird dieses Spannungsverhältnis einer Wirtschaftsgesellschaft meist „Infrastruktur“-Problem genannt, vgl. Frey 1972
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- Essen15 und Trinken16; - Miktion und Defäkation (Harn- und Kotentleerung)17; - Reinlichkeitsverhalten, Körperpflege, Körperwäsche18; - Entkleiden und Bekleiden19; - Schlafen20; - Sexualgeschehen21; - Gastlichkeit und Geselligkeit (ausführlicher vgl. Gleichmann 1973). Diese „Tätigkeiten“ sind zugleich leiblich-vitale Funktionen und sozial geformte Verhaltensweisen. Wenn sie in einer raum-zeitlichen ganz bestimmten 15 Selten zu finden ist eine „Psychosomatik des Eßverhaltens“ (Bräutigam et.al. 1973: 228ff.); sie geht anhand von Einzelfällen auf die Mager- und Fettsucht ein. – Der Abschnitt über die „Ernährungsgewohnheiten“ im Ernährungsbericht (1972: 24-40) faßt einige deutschsprachige Erhebungen zusammen. – Zur Ernährungssituation der schweizerischen Bevölkerung fordert H. Aebi (Aebi: 262ff.) Erhebungen über Ernährungsgewohnheiten, die unter „dynamischem Aspekt“ und „nicht losgelöst von allen anderen Umweltbedingungen betrachtet werden“ müssen. 16 In den (meist dem Alkoholismus gewidmeten) Studien über das „Trinkverhalten“, (Wieser, S. 1973), wird der umgebenden häuslichen Geselligkeit größte Bedeutung beigemessen. 17 In der ausführlich auf „Wohnungsbenutzung“ eingehenden „Wohnphysiologie“ (Grandjean 1973) fehlen Aussagen über Miktion und Defäkation. 18 Die erste deutschsprachige umfängliche Erhebung über das „Sauberkeitsverhalten“ (Bergler 1974), die auch die enormen methodischen Schwierigkeiten offenbart, wenn eine Verhaltensdimension herausgelöst aus ihrer sozialen Verflechtung betrachtet wird, widmet der „Sprache“ einen langen Abschnitt mit dem Schluß, „daß man bei der weiteren Forschung von den Hypothesen der Entwicklungs- und Geschlechtsspezifität der Attribution transformierter inhaltlicher Dimensionen ausgehen muß“ (Bergler 1974: 118). Sein Befund: „Das wesentlich stärker ausgeprägte Sauberkeitsverhalten der Frauen kann nicht mit einem größeren kognitiven Differenzierungsgrad des Sauberkeitsbegriffs bei eben diesem Personenkreis in Verbindung gebracht werden, im Gegenteil: differenzierteres und den verschiedenen Maximalnormen stärker angenähertes Verhalten impliziert – möglicherweise auf der Basis weitgehend automatisiert ablaufender Prozesse von hohem Selbstverständlichkeitsgrad und damit geringer Reflexion – eine reduzierte sprachlich-kognitive Beurteilungsperspektivität.“ (Bergler 1974: 138) 19 Zur Verhäuslichung von Be- und Entkleidungsvorgängen finden sich episodische Notizen bei einigen symbolischen Interaktionisten, gelegentlich auch in einer historischen Soziologie der Mode, doch keine umfassenden Analysen dieser tief in Befindlichkeit, Körpergefühl und Körperbild eingreifenden Vorgänge (vgl. Roach/Eicher 1965). 20 Die umfängliche psycho-physische Schlafforschung erfährt in der Regel aus der mehr und mehr nachgefragten Schlafmittelproduktion ihren Hauptantrieb (Koella 1988), und vernachlässigt die sozialräumlichen Schlafbedingungen gänzlich. 21 Obgleich alle empirischen sexualwissenschaftlichen Erhebungen, die befragenden wie die beobachtenden, irgendwann das „Bedürfnis nach Ungestörtheit“ konstatieren, gehen sie nur außerordentlich selten (Kentler 1973) auf die gesellschaftlichen Verflechtungen ein.
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Weise zusammengefügt sind, sprechen wir von Wohnen.22 Wir erlernen den Umgang mit der eigenen und der fremden Leiblichkeit in der Wohnung. Hier erfahren wir Grundprinzipien sozialer Distanz und Nähe; lernen unser Schamgefühl zu handhaben, mit unseren „Affekten hauszuhalten“ (Elias 1939/1997). Wir können deshalb von einer „Verhäuslichung der Techniken unserer Affektbeherrschung“ sprechen. Entscheidend für das Verständnis unserer „städtischen Wohnverhältnisse“ ist die Einsicht, daß die soziale Modellierung der körperlichen Vitalfunktionen in einem langen „zivilisatorischen Prozeß“ abläuft, der parallel mit einer sozialen Befriedung, einer Unterdrückung der physischen Gewaltanwendung zwischen Menschen, verläuft und damit gleichzeitig mit der Entstehung von „Gewaltmonopolen“ oder, anders gesagt, der modernen Staaten. Einige Beispiele für die Verhäuslichung des Vitalprozesses, die zeigen, wie die individuellen Körperfunktionen raum-zeitlich verflochten sind durch „Regeln des richtigen Benehmens“ mit kollektiven Prozessen zu einem einheitlichen Handlungsablauf, den wir „Wohnen“ nennen. Behausen heißt, jemand mit technischen Mitteln zu versehen, die meisten seiner leiblichen Vorgänge verbergen zu können. „Geborgenheit“ ist daher oft als eigentlicher Kern des Wohnens bezeichnet worden –, so von den Ontologen des Raumes oder den Phänomenologen der Leiblichkeit. - Es bestehen bestimmte „Peinlichkeitsschwellen“ und Schamzonen für jede Handhabung des Körpers: - Tilgung des Körpergeruchs23 und der Körpergeräusche; - Lokalisierung, wo Nacktheit oder teilweise Entblößung als erlaubt gelten; - Genaue soziale Lokalisierung der Defäkation und soziale Ächtung „deplazierter Entleerungen“;
22 Die eindrucksvolle Studie von Helge Pross (Pross 1975) über die „Hausfrau“ bestätigt mich in der Auffassung, Wohnen, bzw. Verhäuslichung, als klar von „Hausarbeit“ oder „Familie“ unterscheidbare soziale Konfiguration zu verstehen. 23 Wo eine Wahrnehmungspsychologie sich nach eigenem Bekunden mit dem „Wahrgenommenen“ und nicht mit dem Wahrnehmen befaßt, kann der „Geruch als soziales Problem“, (Summer 1971: 44ff., schwerlich in den fachwissenschaftlichen Aspekt geraten. – Planmäßige „Geruchsänderung“, Beseitigung von „Industriegerüchen“ und die Messung von „Verärgerungsreaktionen auf ortsbedingte Gerüche“ sind neuerdings Aufgaben einer an den Wohnproblemen orientierten psychophysiologischen Forschung (Turk et.al. 1974).
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Zentrierung des gesamten Sexualgeschehens auf die Wohnung bzw. auf wenige ihrer Räumlichkeiten; parallel dazu tendenzielle Entsexualisierung sämtlicher anderen Bereiche (Schäfer, H. 1976); - Im Umgangsvokabular von „Haus“ und „Wohnen“ enthüllt der „Wunsch nach Geborgenheit fast stets auch den Wunsch nach ungestörtem Geschlechtsverkehr“ (Borneman 1971); - Neben der Verwirklichung des Ziels: eine Wohnung für jeden Familienhaushalt – stand deshalb stets die Forderung nach „Unverletzlichkeit der Wohnung“ vor fremder Willkür und fremdem gewaltsamen Eingriff (Art. 13 GG); - Schließlich haben die Angriffe auf die „Unwirtlichkeit der Stadt“ (Mitscherlich 1988) in Erinnerung gebracht, daß Wirtlichkeit und Gastlichkeit des Wohnens grundlegende soziale Züge unserer Wohnverhältnisse sind. Kurz, diese stichwortartigen Hinweise helfen genauer wahrzunehmen, wie sehr der Prozeß der Verhäuslichung unserer Vitalbedürfnisse mit den wirtschaftlich-technischen Einrichtungen der Städte verflochten ist. Zivilisierte Verstädterung, modernes Wohnen in „städtischen Wohnhäusern“, bedeutet nichts anderes, als eine Institutionalisierung unserer somatischen Vollzüge in der Stadt. Jeder Eingriff in die städtischen Flächennutzungen und ihre Standortgefüge berührt daher die Vitalfunktionen der Stadtbewohner. Der Verstädterungsprozeß hat neuartige Wohnverhältnisse miteinander verknüpft, alte überkommene Vergesellschaftungsformen aufgelöst, wie „Dörfer“ oder „Nachbarschaften“. An deren Stellen sind neue getreten. In gröbster Vereinfachung werde ich zwei Unterscheidungen von Haus- und Siedlungsgestalt treffen: Die soziale Entwicklung der Kleinhäuser24 („Einfamilienhäuser“) ist hauptsächlich gekennzeichnet durch eine tendenzielle Kongruenz von Bewohnergruppen und tatsächlicher Sachherrschaft. Die Bewohnerbeziehungen sind leibhaftig, anschaulich, direkt. Der Bewohner kann die Bedingungen vor allem der „kindlichen Sozialisation“ weitgehend selbst bestimmen, auch die Reichweite seiner „Interaktion“ mit Nachbarn oder den Umgang mit seiner Sache, dem Haus. Über ein Drittel aller (1972: 21 Mio.) Wohnungen in der BRD gehören zu diesem Typ. Werden alle „Wohngebäude mit ein und zwei Wohnungen“ zusammengezählt, entfallen rund die Hälfte (1972: 9,6 Mio.) aller Wohnungen auf diesen Haus-
24 Ich übernehme die Bezeichnung „Kleinhäuser“ aus R. Eberstadts (Eberstadt 1917) einflußreichem Handbuch. Sie vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß logisch konsistente Benennungen der Hausgestalten, bautechnische wie soziale, fehlen.
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typ; sein Anteil wächst kontinuierlich. – Unverhältnismäßig hohe Übereinstimmung besteht zwischen Bewohnern, Wohnungspolitikern und Wissenschaftlern darin, daß dieser Typ optimale Bedingungen für die Kindererziehung („familiale Sozialisation“; „kindergerechte Wohnungen“) bietet (vgl. die Zusammenfassung von Bauman et.al. 1973). Verständlicher Widerstand kommt wesentlich von den Stadtplanern. Die Entstehung der Großwohnhäuser25 ist dagegen stets kontrovers beurteilt worden; besonders hinsichtlich der Eigenschaften dieser Hausgestalt, soziale Beziehungen der Bewohner zu stiften, zu fördern oder zu behindern sind die denkbar widersprüchlichsten Auffassungen nebeneinander anzutreffen.26 Kennzeichnend für diese Hausgestalt: das nackte wirtschaftliche Gut „Normalwohnung“ wird gegen „Entgelt auf Zeit zur Nutzung überlassen“; Anhäufung der „Wohneinheiten“ nach Grundsätzen optimaler Kapitalverwertung bei kaum eingeschränkter Ausschöpfung aller jeweils bekannten und verfügbaren wirtschaftlich-technischen Möglichkeiten. Die tendenzielle Bevölkerungskonzentration auf kleinstem Raum, durchgängiges Merkmal aller europäischen Städte, gründet auf diesem Haustyp. Etwa ein Drittel aller Haushalte wohnen in diesem Typ (WuS 1975. H. 1: 35). Kennzeichnend ist aber auch: die Bewohnerbeziehungen werden weitgehend bestimmt durch großbetriebliche Wohnungsunternehmen, durch: bürokratisierte Formen der Wohnungsverwaltung (Insistieren auf „schriftliche Mitteilungen“); - Die Vermittlung der „Hausmeister“ (oder vergleichbarer Personen); - sowie – besonders in den „rationalisierten“ Unternehmen – durch die Reduktion der „Mieterkommunikation“ auf abstraktmonetäre Information an die Hausverwaltung (Konten-Abbuchungsverfahren). Architekten haben in den letzten 50 Jahren viel Zeit darauf verwendet, immer ausgeklügeltere Hausformen für diesen Typ zu erfinden; während für die Erfindung
25 Im Gegensatz zu Eberstadt und seinen Nachfolgern, die den Ausdruck Mietkaserne bevorzugen, haben wir Bezeichnungen zu wählen, die die Perspektive sämtlicher Beteiligter einbeziehen. Dementsprechend etwa die französischen „grands ensembles“. 26 Von einer auf Befragungen gründenden, insgesamt zu positivem Urteil gelangenden Studie (Herlyn 1970), bis zu vor allem auf Beobachtung beruhenden Erhebungen Newmans (Newman, O. 1973), die einige Konfliktpunkte in den Großwohnanlagen einiger nordamerikanischer Städte untersuchen. – Über die Soziogenese der politischen Prozesse, durch die „Großwohnanlagen“ zustandekommen, fehlen Erhebungen.
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neuer Sozialformen27 und das kontrollierte Experimentieren mit diesen bisher wenig soziale Phantasie aufgebracht worden ist. In der durch und durch verstädterten Gesellschaft treffen wir heute, wieder sehr grob vereinfacht, zwei klar unterscheidbare Siedlungstypen an: Kontinuierlich erweiterte Wohnsiedlungen, in denen meist kleinste Hauseinheiten oder Hausgruppen an bestehende Siedlungen angefügt werden, sind der ältere Typ; in den „Wohnwünschen“ der Bewohner bevorzugt (Thürstein 1972), weil Wohnungsfläche und außerhäuslicher Bewegungsraum je Familie größer sind. Seine Nachteile entstehen vor allem aus den Schwierigkeiten, die Siedlungseinrichtungen aller Art fortwährend abzustimmen mit einer Wohnsiedlung, die dauernd wächst. Dagegen sind die geschlossenen Wohnsiedlungen nach einheitlichem Plan zum beherrschenden Organisationsprinzip gemacht worden, das den Produktionsprozeß und die Interessenaufteilung von „Bauträgern“, Verkehrswirtschaft, Gemeindewirtschaft und den am Planungsprozeß Beteiligten machtvoll widerspiegelt.28 In diesen Siedlungen wird überwiegend die Hausgestalt der Großwohnanlagen bevorzugt. Die vielen soziologischen Untersuchungen, die – meist von Stadtplanern oder Wohnungsunternehmen – in Auftrag gegeben werden, und die durchgängig „die mangelnde Kommunikation in neuen Wohngebieten“ beklagen, rühren ausnahmslos aus diesem Siedlungstyp.29 Über die älteren Siedlungsformen, die kontinuierlich erweiterten „Kleinhaussiedlungen“, sind ähnliche Klagen unbekannt. Aus derartigen Erfahrungen heraus waren schon früh zahlreiche soziale Bewegungen mit „sozialintegrativen“ Siedlungsmodellen (Nachbarschaft; Genossenschaft) aufgetreten (z.B. Oppenheimer 1896). Die meisten Versuche, kleingruppenhafte Lebensverbände, die auch bautechnisch-visuell zusammen siedeln, zu schaffen, müssen als gescheitert angesehen werden.30 Ihr Mißerfolg beruht hauptsächlich auf zwei Fehleinschätzungen, der übermächtigen arbeits-
27 Gerade die besten Versuche (Kommune), konzentrieren sich auf alles mögliche, nur nicht auf die Gestaltungsmöglichkeiten der Sachherrschaft im Großwohnhaus. 28 Beispielhaft: Für ein einzelnes Wohnungsunternehmen (vgl. Göhnerswil 1972); für die gemeindlichen Verkehrsunternehmen (vgl. Linder 1973); für die Energieversorgung (Hilterscheid 1970: 240ff.). 29 Beispielsweise: Weeber 1971, Heil, K. 1971, Kob et.al. 1972; Zusammenfassungen auch in Pehnt 1974. 30 Eine neuere Übersicht bei Hamm 1973.
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teiligen sozialen Differenziertheit, in der die Bewohner in andere Verbände „unvollständig integriert“ sind, und – zweitens – der alles beherrschenden Organisationsmacht aller jener eben genannten Verbände, die die Produktion und den „Betrieb“ der neuen Wohnsiedlung zur Aufgabe haben.31 10. Der Bedeutungsverlust lokaler Vergemeinschaftung ist daher von den Gemeindesoziologen vieler Industrieländer übereinstimmend empirisch bestätigt worden.32 Damit wurde jener Vorgang bezeichnet, bei dem aus der Tatsache des gemeinsamen Nebeneinander-Wohnens-und-Siedelns keine direkte Mitgliedschaft in politischen und wirtschaftlichen Verbänden erwachsen konnte.33 Dieser säkulare Prozeß des Bedeutungsverlustes „lokaler Sozialintegration“ (wie sie Dorf oder Kleinstadt heute bisweilen noch darstellen) ist parallel verlaufen mit dem Aufkommen nationaler wirtschaftlicher Verbände; ist aber auch, was nicht vergessen werden darf, parallel entstanden mit der Durchsetzung umfassender Systeme der Sozialen Sicherheit (vgl. von Ferber 1967). 11. Einige soziale Umschichtungen in der siedlungsräumlichen Gestaltungsmacht sind zu skizzieren, wenn der zivilisatorische Wandel unserer Städte im Blickwinkel bleibt; das heißt, Reduktion der lokalen Orientierung zugunsten einer Verlagerung der wesentlichen Existenzrisiken in überlokale Verbände, zum Beispiel durch die Errichtung der Gemeindewirtschaft. Erst, wenn wir eine leistungsfähige Energieund Wasserversorgung, gute Massen- und Individualverkehrsmittel, aber auch Entwässerung, Krankenversorgung, für jeden Städter zugänglich gemacht haben, können scheinbar ganz „individuelle“ soziale Tugenden, wie Pünktlichkeit, Sauberkeit, regelmäßiges Erscheinen am Arbeitsplatz zu sozial verallgemeinerten Verhaltensnormen des Städters werden. Was als Lockerung, Reduzierung der „Kommunikation“ in neuen Wohngebieten beschrieben worden ist, lief in Wahrheit zeitlich parallel mit einer stärker werdenden sozialen Anbindung an zahlreiche gemeindewirtschaftliche Unternehmungen ab. Pointiert, mehr „Entfremdung“ in neuen Wohnge31 Für einzelne Aspekte vgl. Hoffmann, M. 1973; für eine „one-firm-community“ vgl. Hilterscheid 1970. 32 Für eine große Zahl von ähnlichen Beobachtungen immer noch exemplarisch: Vidich et.al. 1968. 33 Partielle Gegenbewegungen politischer Aktivierung einzelner „Siedlungen“ sind zu beobachten; sie wahrzunehmen bedeutet meist „Teilnahme und Beobachtung“, Vidich et.al. 1968; Grauhan 1970; Linder 1973; Offe 1972. – Für die handbuchmäßige systematische Analyse von „Bürgerbeteiligung und Planung“ „für die kommunale Praxis und gemeinnützige Wohnungswirtschaft“ vgl. Kögler 1974.
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bieten hieß auch: verstärkte Vergesellschaftung des einzelnen Familienhaushaltes/Bewohners und seiner Lebensrisiken. Oder, anders gesagt: Der von so vielen Sozialwissenschaftlern beschriebene und beklagte „Verfall der kommunalen Öffentlichkeit“ (vgl. Hilterscheid 1970) steht im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Gemeindewirtschaft. „Zerstörung34 der kommunalen Öffentlichkeit“ ist eine Begleiterscheinung einer nun auf sämtlichen Verwaltungsstufen „politischen Verwaltung“.35 Die städtische Gemeindewirtschaft ist zur maßgebenden Gestaltungsmacht des Siedlungsraumes geworden. 12. Am Wandel des leitenden Denk- und Organisationsschemas36 der großen Wohnsiedlungen läßt sich das stichwortartig zeigen. Ich beschränke mich auf grundsätzliche Angaben, vernachlässige also die wichtigen qualitativen Fragen der „organisatorischen Trägerschaft“ der Siedlungs- und „Wohnfolge“-Einrichtungen sowie Fragen des „Betriebes“. Waren jahrzehntelang Schul-, Einzelhandels-, ja Kirch-Bezirk Bemessungsgrundlage für Wohnsiedlungen, haben jetzt alle diejenigen Einrichtungen Vorrang, für die ein gesetzlicher Errichtungs- und Betriebszwang besteht. Ihre Netzbildung folgt den Erfordernissen des individuellen und öffentlichen Nahverkehrs, der Energieversorgung, Entwässerung, der Müllabfuhr. Die – absolute – Größenordnung dieses Siedlungsschemas wird errechnet aus dem Verhältnis von maximal möglicher („zumutbarer“) Einwohnerkonzentration auf eine Anschlußstelle der Massenverkehrsmittel und den maximal zumutbaren Fußweglängen. Ähnlich wird versucht, dem zugehörigen Einzelhandelszentrum, bisweilen auch den Schulen, Standortmonopole zuzuweisen. Waren früher in dem Gesamtkonzept Garantien für die Sicherung von Minderheiten (niedrige Besiedlungsdichte) gegeben, jahrzehntelang gekennzeichnet als „Kampf gegen Verstädterung“ (vgl. auch Grauhan et.al. 1974) ist die neue „Planungspolitik der Verstädterung“ jetzt voll in den Dienst aller jener Organisationen getreten. Der Vorrang der Schulen als Bemessungsgröße beruht allein auf der generellen Schulpflicht; noch fehlt eine analoge „Schulversorgungspflicht“. Schulzwang und Erreichbarkeit der 34 Neuerdings auch durch „die politische G.m.b.H.“ (Linder 1973: 301ff.) (ähnliche Planungsfirmen auch in Großstädten sozialistischer Staaten), sowie die „Bürokratisierung von Politik“. 35 Vgl. Grauhan 1970. – Allgemeine Funktion von Verwaltung ist also: die Steuerung von Interaktionsprozessen möglich zu machen“ (Pöhler 1969: 129ff.); Verwaltung beruht durch allgemeine Technisierung zunehmend auf der „Verarbeitung von Informationen“. 36 Den Ausdruck „Denkschema“ als Ergebnis langfristiger Arbeit von wissenschaftlichen „Denkkollektiven“ übernehme ich von Ludwik Fleck (1935/1980), der dies im Gegensatz zu Thomas S. Kuhn (1967) als sozialen Prozeß begriffen hat.
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Schulen bestimmen für alle Familien mit Kindern die Terminierung des täglichen Zeitbudgets. Die gemeindlichen Versorgungs- (und „Entsorgungs“-)Unternehmen haben eine gesetzliche Versorgungspflicht auferlegt bekommen gegenüber jedem Wohnhaushalt. Diese Lösung wurde politisch erkauft mit dem Überlassen von Versorgungs- und Gebietsmonopolen. Ihnen folgte regelmäßig ein vielgestaltiges System des Anschluß- und Abnahmezwangs. Die Macht zur Siedlungsgestaltung hat sich verschoben zugunsten der Versorgungsunternehmen. Die Vergesellschaftung der wohnlichen Existenzrisiken hat eine soziale Atomisierung der Bewohner gefördert („Verlust an Solidarisierungsbereitschaft“). Die Regulierung der Bewohnerbeziehungen untereinander schlägt sich nieder in einem komplizierten Nachbarrecht (zwischen Hauseinheiten) und den Hausordnungen (zwischen Mietern). Die Verklammerung von politischer Gemeinde/öffentlicher Verwaltung und wirtschaftlicher Betätigung wurde als einzige Möglichkeit zur „Setzung nichtwirtschaftlicher Ziele“ betrachtet. Die von der Arbeiter- und Wohnungsreformbewegung erkämpften Einrichtungen haben jetzt die Grundsätze einer maximalen Bodenverwertung selbst übernommen; haben sich den erwerbswirtschaftlichen Unternehmen darin voll angeschlossen, unbeschadet der „politischen Verwaltung“, die einst gerade gegen derartige Zielsetzungen angetreten war. Damit konnte jedoch die Kommunalpolitik zum Instrument der allgemeinen Wirtschaftspolitik gemacht werden, nicht nur zum Mittel im wirtschaftlichen Konkurrenzkampf zwischen Städten. 13. Stadtplanung hat sich gewandelt zu einem Instrument der „Zwangssozialisation“, wie es die Sozialpolitik vor einem halben Jahrhundert noch treffend (in anderem Zusammenhang) formulierte. Das bedeutet, die beiden Hauptinstrumente, die Bemessung von Art und Maß der Flächennutzung sowie die Setzung von Standorten (vornehmlich von öffentlichen Einrichtungen) dienen in der neuen städtischen Wohnsiedlung zur Plazierung der Bewohner in allen jenen Einrichtungen. Anders, sie plazieren die Einrichtungen in die raum-zeitlichen Verhaltenskonfigurationen der Bewohnerhaushalte (Gleichmann 1968). Das gilt auch in jenen Fällen, in denen die Planung der Siedlungsgestalt de facto von anderen vollzogen wird. Hier wird die Stadtplanung zum Organ der Legitimierung fremder Standortinteressen, von Wirtschaftsunternehmen, öffentlichen Anstalten oder Körperschaften aller Art.
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14. Neue Verschiebungen in der siedlungsräumlichen Gestaltungsmacht erzeugten die Wohnungssuchenden, die mittels hoher Erwerbseinkommen und steigender tatsächlicher Freizügigkeit (Krämer-Badoni et.al. 1971) zunehmend dieser großstädtischen Planungs- und Siedlungsverfassung37 entfliehen konnten (Keller, R. 1973); „Abwanderung und Widerspruch“.38 Die rapide Verbesserung der Masseneinkommen (aufgrund hoher Arbeitsproduktivität) erlaubt den raschen Zuwachs der Rate der Einfamilienhausbewohner, befördert durch eine Politik der Mengenbeschränkung „Kleinwohnungen“ bei gleichzeitigen Preiserhöhungen seitens der Mietwohnungsunternehmen, was die Nachfrage nach großen Wohnflächen und großer außerhäuslicher Bewegungsfläche quasi automatisch abgelenkt hat auf die Nachfrage nach „Einfamilienhäusern“ mit Standorten, die peripher zur Stadtregion liegen. Die Vollmotorisierung nahezu jeden Haushaltes ist großenteils Resultat einer fortschreitend differenzierter werdenden gesellschaftlichen und räumlichen Arbeitsteilung, erlaubt aber eben auch eine analoge soziale Differenzierung des Konsums. Zusammengenommen haben die hohen Haushaltsausgaben für Wohnung und Auto die Prozesse der Suburbanisierung eingeleitet. Sie werden so lange anhalten, bis die Politik der Bevölkerungskompression39 innerhalb der Kernstädte beendet wird. 15. In der Vergrößerung der Gebietsherrschaftseinheiten haben die Verwaltungen anscheinend den einzigen Ausweg gefunden, diese Verschiebungen der Machtbalance zwischen Bewohnern und Gebietskörperschaften zu kompensieren.40 Die jüngsten Gebietsveränderungen auf der kommunalen und auf der Kreisebene sind in der erklärten Absicht vollzogen, die Organisationsmacht der großen Gebietskörperschaften zu vergrößern. In einigen Fällen ist es gelungen, neue Gebietsherrschaftseinteilungen zu erfinden und zu verwirklichen, die dem fortwährenden raumwirtschaftlichen Wachstum einer Stadtregion fortwährend nachkommen können. Diese Vorgänge bedeuten, jedenfalls der Intention nach, eine Ausdehnung 37 Zum technokratischen Habitus vgl. Ferber 1963. 38 Theoretisch am klarsten formuliert von Hirschman 1974. 39 Ein bündiges Zeugnis sind die Empfehlungen (...) einer maßgebenden, stadtplanerisch interessierten Gruppe zur „Novellierung der Benutzungsverordnung von 1962“ für das größte Wohnungsunternehmen. – Nahezu sämtliche Vorschläge in Richtung auf eine größere „bauliche Nutzung“ der Grundstücke konnten durchgesetzt werden in der Neufassung der „Verordnung über die bauliche Nutzung der Grundstücke“ (BauNVO) vom 26. Nov. 1968 (BGBL. I S. 11). 40 Empirische soziologische Befunde bei Schäfers 1970. – Angaben über gegenläufige Prozesse der „Fragmentierung der institutionellen Struktur im Verflechtungsraum“ vgl. Linder 1973.
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des strengen Zugriffs einer Stadt- und nun schon eher Regionalplanung (mit Zügen der Zwangssozialisation) auf immer größere Anteile der Gesamtbevölkerung.
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5. Schlafen und Schlafräume
Schon der flüchtige Blick auf einige soziale Bedingungen des menschlichen Schlafens zeigt, wie sehr sie sich ändern. Menschen sind voneinander abhängig; auch ihr Schlaf entwickelt sich in gegenseitigen Abhängigkeiten, im Laufe des zivilisatorischen Prozesses mit der Zunahme sozialer Differenzierungen und Verflechtungen. Auch unser Wissen entwickelt sich in solchen Abhängigkeiten; das Entdecken des Schlafes als Gegenstand der Wissenschaften bietet dafür viele Beispiele. Veränderungen der Schlafräume Am meisten fällt die relative Überfüllung der Schlafräume auf, wenn wir vergleichen, wie die Schlafgewohnheiten sich vom Mittelalter bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts entwickeln. Die zum Schlafen benutzten Räumlichkeiten sind meist mit Menschen vollgestopft. Das zeigen viele zeitgenössische Abbildungen. Darin ähneln sich hoch und niedrig; ob Adlige, stadtbürgerliche Patrizier oder ob bäuerliche Szenen: meist sind im Bett liegende Personen von anderen Menschen im selben Raum umgeben. Sie sprechen miteinander oder befassen sich mit irgendwelchen Hausarbeiten. Ob Menschen einschlafen, Krankenbesuch empfangen, im Sterben liegen –, ob Liebes- oder Brautszenen abgebildet sind, die Schlafräume sind meist offen, kaum verschlossen; selbst die Menschen, die als Träumende dargestellt sind, leben in räumlicher Enge. Das Durcheinander in Palästen wie Hütten ist groß. Noch im 17. Jahrhundert findet man in den größeren adligen oder bürgerlichen Häusern Zimmer, die ineinander übergehen ohne genaue Zweckbestimmungen. Man schläft hier, ißt dort, ein Kommen und Gehen. „Nachts schlafen die Dienstboten in der Nähe ihrer Herren, manchmal im selben Zimmer, bereit, ihrem Ruf Folge zu leisten (...) Die sehr große Mehrheit der Stadthaushalte im 17. und 18. Jahrhundert verfügt nur über ein oder zwei Zimmer zum Wohnen und für die Berufsarbeit (...) Häufig enthält das Zimmer oder der Laden, in dem man arbeitet, einen Hängeboden, auf dem man die Betten verbirgt.“ In größeren Bürgerhäusern, wie sie die niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts abbildet, sehen wir reiche, bisweilen schon persönlicher ausgestattete Schlafräume. Die Anfänge einer verstärkten innerhäuslichen Differenzierung finden wir eher in den Machtzentren, den Städten und Höfen; die Schlafräume der
französischen Könige werden zu einem Modell. Das Schlafzimmer Ludwig XIV. in Versailles, inmitten Tausender von Menschen am Hofe, das morgendliche Lever, wird zum Zentrum des Staates. Viele große Herren halten stets ein ähnliches Zimmer und Bett für den König, zu dessen möglichem Besuch, bereit. Ludwig XV., wie zeitweilig noch Ludwig XVI., verwenden ihr „lit de justice“, auf ein Podium gestellt, wenn sie Recht sprechen wollen. Bald übernehmen wohlhabende Stadtbürger ähnliche Raumdifferenzierungen, kennen jetzt auch ein „Zimmer der Dame“ oder „des Herren“. Die ländlichen Bezirke wandeln sich langsamer. Neben üppig ausgestatteten großbäuerlichen Gemächern finden wir in fast allen Teilen Europas bis ins 19. Jahrhundert hinein einfachste Hütten, die sich von den Verhältnissen der Antike, von den Mieträumen einfacher athenischer Metöken oder den Unterkünften römischer Landarbeiter und Sklaven, nur wenig unterscheiden. Für bretonische Bauern im 19. Jahrhundert gibt es ein großes Bett, berichtet J.-L. Flandrin. In ihm schlafen meist sämtliche Angehörige des Haushaltes einschließlich der Bediensteten. Besuchern, die sich auf der Durchreise befinden, bietet man gastfrei darin einen Platz an. Ähnlich leben die unterbäuerlichen Schichten Österreichs. Knechte, Mägde und Kinder haben ihren Schlafplatz im Stall, heißt es in verschiedenen Berichten. Kammern oder Stuben dienen Altbauern, Hofbesitzern und Kleinkindern als Schlafstelle; im Stall ist es wärmer als auf dem Dach- oder Heuboden. – Die Verbote, in menschlichen Wohnräumen Vieh zu halten, verschwinden aus norddeutschen Bauordnungen erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Abstände wachsen Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wandeln sich auch die Schlafräume erheblich. Ein vielperspektivisches, kaum bekanntes Zeugnis der Wohnverhältnisse findet man in den zahlreichen Bänden des von Ludwig Klasen ab 1884 herausgegebenen Handbuches über „Grundriß-Vorbilder von Gebäuden aller Art“. Klasen sammelt aus den meisten europäisch-nordamerikanischen Ländern Vorbilder für „Familienwohnhäuser, Villen, Herrenhäuser, Jagdschlösser, Schlösser, sowie große Miet- und Geschäftshäuser“ und etwas schwieriger aufzufinden, für „Häuser von Kaufleuten, Fabrikbesitzern, Feldarbeitern und Arbeitern“. Jetzt fehlen alle amüsant-genauen Beobachtungen, alle spöttischen Anmerkungen im Stil eines höfischen Memoirenschreibers wie des Herzogs Louis de Saint-Simon. An deren Stelle treten nüchterne Anweisungen, wie Menschen ihre Wohnbauten organisieren, wohin sie die Mitbewohner platzieren sollen. Zum ersten Mal werden hier die unterschiedlichen Wohnbedingungen aller Menschen der Zeit zusammengefaßt, Empfehlungen wie sie wohnen sollen anhand tatsächlicher Beispiele in einem Werk versammelt. 88
Schlösser und Bürgervillen ähneln sich jetzt im inneren Aufbau. Im Erdgeschoß Salon, Bibliothek, Garderobe, Terrasse, Wirtschaftsräume; „das obere Geschoß enthält fünf Schlafzimmer, zwei Ankleidezimmer, ein Badezimmer, ein Abort (...)“, heißt es über „ein Herrenhaus in North-Wales“, „während über der Küche, Spülküche und Dienerschaftshalle drei Schlafzimmer für die Dienerschaft vorhanden sind.“ – Unterschiede gibt es nur noch in der Größe, im Aufwand, in der repräsentativen Durchgestaltung. Hinweise über das Ausmaß der Repräsentation, den „Stilcharakter“, „echte Materialien“, werden im Vergleich zu früheren Vorlagenbüchern seltener. Der soziale Zweck der Räume, ihr Verhältnis zueinander, rücken in den Vordergrund: „Alle Räume haben separate Zugänge“, heißt es über Schlafzimmer und Badekabinette einer Villa im niederländischen Hilversum. „Im ersten Stock befinden sich zwei getrennte Schlafzimmer mit dazwischenliegenden Ankleideräumen“ schildert Klasen ein „kleines französisches Landhaus“. Die Abstände zwischen Männern und Frauen vergrößern sich. „Im oberen Geschoß hat jedes der Hauptschlafzimmer ein anstoßendes Toilettenzimmer. Hier befindet sich auch das Arbeitszimmer des Herrn, hinter dessen Toilettenzimmer – eine italienische „Villa zu San Remo“. Ankleidezimmer werden Mittel, Abstand zu nehmen. Schritt für Schritt spüren wir, wie die Leser lernen, die neuen, wenig vertrauten Distanzierungsmöglichkeiten anzuwenden. Überall betont man das Vorhandensein, die genaue Lage eines Ankleideraumes, „der in Frankreich gewöhnlich jedem Schlafzimmer beigegeben wird“. Die Menschen entkleiden sich jetzt vor dem Schlafen, beginnen dabei, sich voreinander zu verbergen; so heißt es über die Villa eines Hofbeamten in Stockholm: „Die Betten stehen in der hinteren Nische. Diese in Schweden allgemein übliche Ausbildung der Schlafzimmer hat etwas überaus Gemütliches. Übrigens gehören in Schweden die Schlafstuben mit zu den Wohnzimmern, die täglich geheizt und gut ventiliert werden.“ Allmählich geht man dazu über, diese Räume zu beheizen. Größer wird die Distanz von Mann und Frau zu den Kindern. Sie erhalten jetzt eigene Schlafräume. „Neben dem Kinderzimmer liegt das Schlafzimmer der Eltern, und dieses kommuniziert durch einen kleinen Korridor, mit dem Zimmer der Frau“, heißt es über die „Villa des Bauraths C. Schwatlo“ in Berlin. „Auf diesem Korridor liegt der Abort, somit möglichst bequem am Schlaf- und Speisezimmer.“ Eine Verstärkung des Schamgefühls, das Erhöhen der Peinlichkeitsschwelle zwingt die Menschen, ihre affektiven Distanzen neu auszubalancieren. Ein Hilfsmittel dazu sind die differenzierteren Gebäudestrukturen. Neben der ständigen Formel: „Im oberen Geschoß befinden sich die Kinder-, Schlaf- und Fremdenzimmer“, treten mehr und mehr Hinweise, nach dem Geschlecht getrennte Räume anzulegen, auch für Kinder. „Über dem Zimmer des Herrn liegt das Zimmer der Söhne“; über dem Boudoir der Dame das der Töchter. Ein anderes Mittel des kontrollierteren Affektbalancierens, des genaueren Abstimmens der Distanzen 89
entwickelt sich in der zweiseitigen Symmetrisierung der Raumfolgen. Betreten wir das Wiener „Palais Eppstein“, finden wir links aufgereiht: Empfangszimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, Zimmer der Tochter, Gouvernante; und entsprechend im rechten Gebäudeflügel: Tanzsaal, Speisesaal, Spielzimmer, Arbeitszimmer, Zimmer der Söhne, Lehrer. Mit der sozialen Vergrößerung der Häuser differenzieren sich die Aufgaben der einzelnen Menschen nach innen. Sie verflechten sich, wenn auch unterschiedlich, mit öffentlichen Aufgaben. Und der relativ klare Aufbau des innerhäuslichen Machtgefüges bewirkt auch das Vergrößern der Abstände zwischen den Menschen. Es drückt sich aus im Dazwischenfügen von Vorräumen, Korridoren, Wänden sowie von menschlichen Interdependenzketten, von Bediensteten verschiedener Ränge. Der Schlaf wird immer weiter hinter diese „Kulissen des gesellschaftlichen Lebens“ (N. Elias) zurückgedrängt. Nicht nur die Abstände zwischen Eltern und Kindern sind gewachsen, auch die Distanz zwischen Mann und Frau hat zugenommen. Die relative Autonomie der Frauen ist gewachsen. In der Anlage der Schlafräume im „Palast des Erzherzog Ludwig Viktor zu Wien“ wird das sichtbar: „Im Mezzanin befinden sich die Wohn-, Arbeits- und Ankleidezimmer des Erzherzogs, außerdem ein Badezimmer (...) ein kleines Speisezimmer (...) und Kammerdienerzimmer (...) Neben dem großen Festsaal (...) enthält das Hauptgeschoß den Speisesaal, die Empfangssalons des Erzherzogs und die Appartements der Frau Erzherzogin. Die Kommunikation wird in sehr zweckmäßiger Weise durch die Korridors an der Haupt- und Nebentreppe (...) vermittelt.“ Mann und Frau leben hier in zwei getrennten Geschossen desselben Hauses. Jeder wohnt zusammen mit eigenem Personal, das ebenfalls räumlich voneinander getrennt ist. Jeder verfügt über eigene Bäder, Speiseräume und Empfangssalons. Nur eine Türe, an der Nahtstelle der beiden Salons, verbindet die Zimmerfluchten von Mann und Frau direkt. Ihre Räume sind jeweils in einer Enfilade verbunden, hintereinander „aufgefädelt“. Das gehörte zum Standard der Raumfolgen in Palästen seit dem späten Mittelalter. Nur wird die Kommunikation jetzt darüber hinaus noch durch zahlreiche Flure und Treppen vermittelt. Zwischen Mann und Frau ist ein vielgestaltiges nuancenreiches Spannungsgefüge von Raumfolgen entstanden. Jedem ermöglicht dies ein genaues Abstimmen der Beziehungen. Von anderen Menschen sind sie nicht mehr so genau mitzuverfolgen. Der Palast hat drei Treppenhäuser, eins für den Empfang fremder Gäste, eins vornehmlich für das Personal und eines verbindet den Schlafraum des Herrn mit seinem darüber liegenden Salon. Fast jeder Raum hat drei Eingänge, besonders alle Schlafzimmer. Die einzelnen Menschen umgeben sich während des Schlafens mit einer Art sozial regulierbarer Raumringe. Damit bestimmen sie Nähe und Distanz, schirmen sich aber auch ab gegen viele Schlafstörungen. Sie schlafen, 90
ruhen sich aus, nehmen geschlechtliche Aktivität auf, unter veränderten, neuen Standards wechselseitiger Triebsteuerung und aktiver Selbstregulierung. Der höhere Grad der Verflechtung der Menschen untereinander zwingt sie zum Abstandnehmen und zu stärkeren Selbstkontrollen. Die meisten Diener, Zofen, Kammerherren und anderen Bediensteten haben eigene Zimmer oder Wohnungen in diesem Palast, sind in das differenzierte menschliche Geflecht von Affektbalancen miteinbezogen. Die Herren sind von den Hausbediensteten stärker abhängig geworden. Alle müssen sie die wechselseitigen fremden Kontrollen und Zwänge zunehmend in größere Selbstkontrolle umsetzen. Darin zeigen sich die zivilisatorischen Veränderungen des Schlafens. Vergleichen wir das diese Schlafräume der niedergehenden höfischen Gesellschaft umgebende Affektgefüge der Menschen und seine Darstellung in einem berufsbürgerlichen Fachbuch einen Augenblick mit den Wohngewohnheiten der neuen Industriearbeiterschaft. Die „Arbeiterwohnhäuser in Lüttich“, die L. Klasen als Vorbilder empfiehlt, enthalten gleich große quadratische Zimmer ohne jede Benutzungsangaben, ähnlich die Wiener „Häusergruppe“ mit langen Reihen gleichförmiger Zimmer zur Miete ohne irgendwelche Zweckbestimmungen. Einzelne „Arbeiterhäuser in Böhmen“ haben jetzt ein „Schlafzimmer“ oder „in Württemberg“, wie es heißt, „separierte Schlafzimmer“. Dem entsprechen die verschiedenen Berichte über die Wohnverhältnisse der Arbeiterklasse – mit Menschen überfüllte Räumlichkeiten, zimmerweise an Untermieter oder Bett für Bett an Schlafgänger vermietet. Wir beginnen, die Spannungen zu spüren, die zwischen diesen Menschen und den bürgerlichen Mittelschichten entstehen, wenn deren Sprecher, etwa Kommunal- oder Staatsbeamte, Fabrikbesitzer oder Ökonomieprofessoren (wie die Berichterstatter des Vereins für Socialpolitik im Jahre 1886), beharrlich die Schlafverhältnisse der Arbeiter veröffentlichen, auf deren Gewohnheiten mit allen Mitteln, mit strafferen Hausreglements, strengeren Hausordnungen, staatlichen Schlafvorschriften, doch auch mit Hausmeistern, Wohnungspflegern und einer Art kommunaler Wohnungspolizei einwirken und wenn sie deren eher promiske Schlafgewohnheiten zu unterbinden suchen, ohne je Vergleiche mit den Lebensgewohnheiten der noch führenden adligen Gruppen zu ziehen. Unter diesem mehrdimensionalen sozialen Druck entwickeln sich auch die Schlafgewohnheiten der neuen Mittelschichten. Arme, Kranke und Reisende Wenn wir unseren Blick allein auf die Entwicklung des Schlafes in den Wohnhäusern richten, vergessen wir allzu leicht eine andere Veränderung. Es entstehen eine 91
Menge Einrichtungen, die den Wohnbauten verwandt sind und sie allmählich in ihren Aufgaben immer mehr ergänzen. Schon relativ früh im Verlauf des Zivilisationsprozesses entstehen mit den zunehmenden Handelsverflechtungen in Städten auch Gasthäuser, Herbergen, Hospitäler, später Siechenheime, Krankenhäuser, und aus den Gasthäusern der verschiedenen Stände und Zünfte, den adligen Stadtquartieren auch Hotels. In den Hospitälern wird auch der Schlaf der Ärmsten gewissermaßen sichtbar. Das Heiligen-Geist-Hospital in Lübeck wird im 13. Jahrhundert begonnen, ebenso das Bijloke-Hospital in Gent oder das Johannis-Hospital in Brügge. Schauen wir in diese mächtigen, hohen und weitgespannten Hallen hinein, können wir uns gut das rege Treiben, das Durcheinander von Kranken, von Pflegepersonen, Geistlichen und Besuchern, aber auch von Waren, Schmutz und Wäsche, die ganze Öffentlichkeit der Armut vorstellen, wie es uns noch die Bilder des 18. Jahrhunderts mitteilen. Zuerst eingerichtet von wohlhabenden Bürgern, von Geistlichen und von Adligen, sind sie anfangs meist Armenhospitäler. Die riesigen Krankensäle sind mit Betten, zuerst sorgsam allein an den Wänden aufgereiht, dann öfter in Nischen angeordnet, schließlich regelrecht vollgestopft. Waren es erst zwanzig oder dreißig Menschen in einem Raum, werden die Säle allmählich vergrößert und bald die Anzahl der Menschen vermehrt; und schließlich entstehen durch das Aneinanderfügen solcher Krankensäle riesige Anlagen wie etwa das Ospedale Maggiore von Filarete im Mailand des 15. Jahrhunderts oder – weniger systematisch am Anfang – das Hôtel de Dieu in Paris. Mit den 1656 aufgrund eines königlichen Dekrets begonnenen „Hôpitaux Généraux“ weitet der absolutistische Staat seine Aufsicht über Kranke, Sieche, Verarmte, Irre wesentlich aus. Die nun unter einer Art Staatscaritas angelegten Krankensäle werden bis ins 20. Jahrhundert hinein zu einem beherrschenden Typus, etwa in England, in Spanien oder den USA immer wieder neu errichtet. Doch Widerstände dagegen sind früh aufgekommen. Im Jahre 1788 veröffentlicht der Arzt Christoph Ludwig Hoffmann in Mainz seine Schrift über die „Bestättigung der Nothwendigkeit, einem jeden Kranken in einem Hospital sein eigenes Zimmer zu geben“. C.L. Hoffmann, gerade von Hospitalbesichtigungen aus Paris zurückgekehrt, wohin sich alle wandten, die zu seiner Zeit ein Krankenhaus zu errichten planten, berichtet, wie das Stöhnen, die schrecklichen Geräusche eines Sterbenden dort und das Verhalten der neben ihm Liegenden, die sich die Ohren zuzuhalten versuchten, ihn davon überzeugt haben, wie wenig geeignet dieser Typ des großen Stationssaales für die Kranken sei. Der lange Disput mit einem Krankenhausspezialisten seiner Zeit, das Hin und Her der Fragen und Antworten, enthält zum großen Teil Argumente, die bis heute verwendet werden. Anfänge einer Differenzierung der Räume bilden sich dort, wo allmählich genauer unterschieden wird zwischen Kranken, Siechen und Alten, wo die Wohlhabenden aufgenommen werden und dafür bezahlen und wo schließlich nach der Art der Krankheiten unterschieden wird. Einzelne Schlafräume in größerer Zahl 92
entstehen am ehesten in Gasthöfen, Herbergen und Hospizen. In den alten europäischen Handelsstädten sind sie schon früh zu finden. Goethe nimmt aber auf „die italienische Reise“ ein Klappbett mit, weil er kaum vermietbare Schlafräume antrifft. Im Übergang zu ganz kommerziell betriebenen Hotels treffen wir um die Wende zum 19. Jahrhundert in London oder in Boston mehrere Hotels mit siebzig, bald über hundert Zimmern an. Emma Bovary schläft regelmäßig in einem Hotel, um, wie Gustave Flaubert 1856 schreibt, den langweiligen „Sitten der Provinz“ zu entgehen. Ab 1890 finden wir in New York Hotels mit über tausend und ab 1927 in Chicago mit über dreitausend Zimmern (N. Pevsner). Alleinreisende Frauen gibt es selten; das Dictionary of Architecture and Building von R. Sturgis notiert 1901 in New York, die getrennte Anlage von Hotelzimmern für Frauen würde nun abgeschafft; für wenigstens jedes zweite Schlafzimmer werde jetzt ein Badezimmer empfohlen. Schweizer Gastwirte schieben jetzt in die Fremdenzimmer, so wird berichtet, nicht mehr soviel Betten wie möglich. Und mit dem Aufkommen der Hotelbetriebswirtschaft, dem Planen großer Krankenhäuser und dem Einführen von Großraumflugzeugen beginnt eine neue Phase des globalen Rechnens mit Betten. Schlafen wird stärker kontrolliert Die ganze Figuration von Menschen, die Wohnhäuser errichten oder verwalten und die damit viele Vorbedingungen unseres ungestörten Schlafes bestimmen, hat sich weiter verändert. Neue Wohn- und Schlafstandards in Richtung auf ein entschiedeneres Abtrennen der Schlafräume von den übrigen Bereichen der Häuser erreichen jetzt zum ersten Mal auch die großstädtische Arbeiterschaft – im Laufe einer Kette von Ereignissen, die wir gegen Ende des 20. Jahrhunderts zusammen als den Sozialen Wohnungsbau bezeichnen. Durch die sozialen Folgen des Ersten Weltkriegs wird ein breiterer Initiativenstrom ausgelöst und vorangetrieben. Zum ersten Mal etablieren sich Sprecher der Arbeiterbewegungen in Gemeinden und Regierungen, die die verschärfte Wohnungsknappheit durch Programme direkter staatlicher Wohnungsbaufinanzierung bekämpfen. Die neuen, meist gemeinnützigen Wohnungsplanungs-, -bau- und Finanzierungsgesellschaften und -genossenschaften betreiben durchweg die Massenfertigung der allerkleinsten Wohnungen für die Gruppen mit dem kleinsten Einkommen, der geringsten gesellschaftlichen Stärke. Das „Kleinwohnungswesen“ benennt am Ende der zwanziger Jahre in jenen Ländern ein Programm der Erforschung, der „Rationalisierung“ und Fertigung von extrem kleinen, aber abgeschlossenen Wohnungen, die besonders den Angestellten und Arbeitern zugute kamen, die von den Hausbesitzern bis dahin vernachlässigt worden waren. „Unter Kleinstwohnungen versteht man Wohnungen mit einer 93
Nutzfläche bis 48 qm“, definiert das berühmte Handwörterbuch des Wohnungswesens des Deutschen Vereins für Wohnungsreform von 1930: „Erwünscht ist es, daß auch in den Kleinstwohnungen die vier wichtigsten Vorgänge in der Wohnung: 1. das Kochen, 2. das Essen und Wohnen, 3. das Schlafen, 4. das Waschen und Reinigen räumlich auseinandergehalten werden kann. Die Aufstellung von Betten im Wohnzimmer ist zu verwerfen, desgleichen die Benutzung der Küche zum Essen und Wohnen (...) Grundrisse, die die Aufstellung von Betten im Wohnzimmer begünstigen oder auch das Wohnen im Kochraum ermöglichen, sind schlecht. Die Aufstellung von Betten in Küchen, die leider in alten Wohnungen oft erfolgt, müßte aus gesundheitlichen Gründen allgemein polizeilich untersagt werden (...) Um die Anlage kostspieliger, unnötig großer Flure zu vermeiden, kann es zweckmäßig sein, einen der beiden Schlafräume nicht unmittelbar vom Flur aus, sondern nur durch den Wohnraum zugänglich zu machen. Gegen diese Raumanordnung sind kaum Bedenken zu erheben, weil eine zweckmäßige Kleinstwohnung so gestaltet ist, daß Untermieter nicht aufgenommen werden können.“
Wir können diese Wünsche für übertrieben kleinlich oder zwanghaft halten „(...) ist zu verwerfen (...) sind schlecht (...) müßte polizeilich untersagt werden (...) ist zu vermeiden“. Wer wird so über den Schlaf anderer Menschen sprechen? Die Wohnreformer, die Beamten, die hier im Befehlston neue Schlafraumstandards aussprechen, formulieren die vielen neuen Vorschriften des Kleinwohnungsbaus, verteilen diese Wohnungen, bestimmen nahezu ein halbes Jahrhundert lang eine relativ zentral verwaltete Wohnungswirtschaft, leiten „Wohnungsämter“, staatliche Finanzierungsstellen oder Pioniergesellschaften. Zum ersten Mal werden auch einzelne Räume, Schlafzimmer, Küchen, ganze Wohnhäuser und -siedlungen zum Gegenstand ungezählter theoretischer Analysen, zum Mittelpunkt systematischer planungs- und fertigungstechnischer Überlegungen von Menschen in zahlreichen Ländern. Nie zuvor sind Wohnräume für die große Masse der Menschen derart systematisch untersucht worden. Bis zum 18. Jahrhundert hatten die „Architekturtheoretiker“ sich auf die Bauvorhaben der Adligen und des Klerus konzentriert. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts waren die wichtigsten Bauvorhaben der wachsenden Staatsmächte, deren Verwaltungs-, Verkehrs- oder Justiz-Bauwerke gelegentlich zum Gegenstand gründlicher Analysen geworden. Jetzt werden Wohnungen, besonders „Kleinwohnungen“ in Teilelemente zerlegt und in Analogie zu den Lehren Taylors oder Gilbreths nach „arbeitswissenschaftlichen“ Methoden wieder zusammengefügt. Einer der ersten Architekten, die auf diese Weise die „Bewegungsflächen“ der Menschen messen und vergleichen mit den „Stellflächen“ der Möbel, ist Alexander Klein. Er entwickelt aus dem Verhältnis von Wohnungsgesamtfläche und Bettenzahl den sogenannten Betteneffekt; in anderen Bereichen, im Krankenhausbau oder in der Hotelbetriebswirtschaft finden wir ähnliche Entwicklungen, Züge eines ausgeprägten kapitalwirtschaftli94
chen Kalküls mit Betten, eines umfassenden bald volkswirtschaftlichen Rechnens mit dem Schlaf. Das eindrucksvollste Bild dieser Art von Rationalisierung bieten die Zeichnungen von Ernst Neufert. Seine „Bauentwurfslehre“ erscheint zuerst 1936 inmitten zahlreicher ähnlicher Versuche der „Grundrißrationalisierung“, wird, schnell in alle Weltsprachen übersetzt, zum Elementarwerkzeug aller Architekten. 1979 erreicht sie die 30. Auflage. „Betten“ und „Schlafräume“ werden in den Planungs- und Verteilungsvorgängen der Wirtschaftsgesellschaft zu einer universalen Bemessungseinheit. Man rechnet jetzt mit dem Schlaf der Menschen wie seit dem 19. Jahrhundert mit ihrer Arbeit. In Darstellungen, wie sie Neufert zusammenfaßt, werden erstmals Schlafzimmer, Wohnungen, Häuser ohne ausdrücklichen Bezug auf die soziale Stellung ihrer Benutzer gezeigt. Einige der sozialen Abstände im Benutzen der Wohnungen sind verringert. Zu den Kräften solcher Verhaltensstandardisierung, einer größeren Vereinheitlichung auch der Schlafgewohnheiten, zählen neben der stärker staatszentrierten Wohnungsverteilung eine sich industrialisierende Bauwirtschaft. Unter den Bedingungen des Wohnungsmangels und des Baubooms der neunzehnhundertvierziger und -fünfziger Jahre und der langen Phase staatlicher Verteilung von „Kleinwohnungen“ haben sich auch die „Wohnungsbenutzungsstudien“ gewandelt. Ihre Wende der Fragestellung richtet sich nun darauf: Leben die Menschen überhaupt so in ihren Wohnungen, wie das geplant war? Die Ergebnisse jener „Nutzungsstudien“, das Maß der Abweichungen im Verhalten, können zuverlässig nur eingeschätzt werden, wenn sie vor dem Hintergrund der genannten langfristigen Wandlungen betrachtet werden. Schlafforschung Mit den Veränderungen der Schlafräume haben wir einen einzigen, besonders auffallenden Zug der zivilisatorischen Wandlungen hervorgehoben. Die gesamte, grundlegende Veränderung des Schlafens wird erst sichtbar, wenn auch die anderen Entwicklungslinien, ihr Verhältnis zur Arbeit, zu den Schlafstörungen und zum Schlafentzug untersucht sind. Etwa ein Drittel ihrer Lebenszeit verbringen Menschen im Schlaf. Anfänglich hat sich ihr wissenschaftliches Interesse fast ganz auf den Traum und dessen Deutung beschränkt. Die Frage, wie und warum die Menschen ermüden, beschäftigte die Wissenschaften mit dem Aufkommen und aus der Erfahrung schwerer körperlicher Überanstrengung größerer Massen von Menschen, etwa beim Festungsbau, nach militärischen Märschen und in der Großindustrie. Aber eine eigentliche Überlieferung wissenschaftlicher Fragestellungen hat sich kaum herausgebildet. Die vergleichsweise stürmische Entwicklung der physiologi95
schen und psychologischen Schlafforschung brachte neue Impulse und kommt langsam mit sozialwissenschaftlichen Fragen in Berührung, am ehesten noch dort, wo sie auf Ergebnissen der „Traumdeutung“ Sigmund Freuds aufbauen. Das Entstehen dieser Traumforschung ist verschiedene Male gut dargestellt worden, etwa von E. Diamond und N. MacKenzie. Entscheidende soziale Wandlungen des Schlafens sind in anderen Bereichen zu erkennen. Der eine läßt sich umschreiben als Teil eines Verhäuslichungsprozesses, als Vorgang des menschlichen „Selbstdomestizierens“, des Verlagerns aller Tätigkeiten in Häuser, des Arbeitens, wie der meisten Freizeitaktivitäten. Am Beispiel des Einhausens der körperlichen Verrichtungen lassen sich diese Prozesse gut verfolgen. Wie die Schlafgewohnheiten werden sie im Verlauf der Zivilisierung, der differenzierteren sozialen Verflechtungen und des stärkeren Umsetzens von „Fremdzwängen in Selbstzwänge“ auch viel mehr vereinheitlicht. Mit dem betonteren Abgrenzen des Schlafens in Schlafräumen entstehen auch genauer umgrenzte schlaffreie Räume. Arbeitsplätze und Schlafplätze werden in sich stärker sozial verflochten, weiter zentrierten sozialen Rollen unterworfen; größere wirtschaftliche Konzentration erzeugt neue Arbeitsherren und neue Typen der Hausherrschaft. Zwischen Arbeitsstellen und Schlafzimmern gibt es nur wenige Zonen des sozial gebotenen Wartens, wenige Bereiche des erlaubten Halbschlafes. Dazu zählen die „Warteräume“ der Massenverkehrsmittel, der Konsum der Massenmedien oder größere Versammlungsräume. Der andere Bereich ist in den Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeit zu sehen, der Durchsetzung der industriellen Lohnarbeit zu ihrem vorherrschenden Typ, der Einführung einer faktisch allgemeinen Arbeitspflicht. Fast allen Phasen der Rationalisierung der menschlichen Arbeit entsprechen ähnliche Züge der sozialen Rationalisierung des Schlafens. I.A. Gontscharovs „Oblomow“ verbringt 1859 den gesamten Roman, sein Leben lang, im Bett. Sein Freund und Gegenbild, Stolz, sucht ebensolange vergeblich, ihm die Vorteile der Arbeit schmackhaft zu machen. Aus einer relativ lose verbundenen menschlichen Zeitstruktur, die wie in den alten Dörfern mit geringerem Leistungsaustausch Jahreszeiten, Winterschlaf oder einfach „tote Zeiten“ kennt, haben sich kapitalwirtschaftlich weltumspannende Zeitstrukturen gebildet, die die zahllosen Formen des Austauschs menschlicher Leistung erst synchronisieren: Zentren der neuen Zeitkoordination liegen in den Betrieben, auch in den Schulen. Deshalb wächst mit den weiteren Rationalisierungsschüben, dem Vorantreiben einer größeren Ausschöpfung menschlicher Arbeit die soziale Distanzierung vom Schlafen. Schläfrigkeit oder Tagesfaulenzerei werden von anderen Menschen stärker beobachtet. Wer auf Plätzen oder auf Bahnhöfen liegt und schläft, gerät mit der Polizei in Konflikt. Die betriebliche Erwerbsarbeit bestimmt das Ausmaß sozial erlaubter Ermüdung. Der Wunsch 96
„viel zu schlafen“ wird folglich zu einem Hauptziel außerhalb der Arbeit, während der „arbeitsfreien Zeit“. Die moderne Gesellschaft erzeugt auch den Schlafentzug und bestimmte Schlafstörungen. Gesundheitliche und soziale Folgen der Schichtarbeit werden zu einem Zentralproblem. Die einzelnen Arbeitenden erfahren jedes dauerhaftere individuelle Abweichen von der entstandenen Zeitstruktur mit persönlichen Nachteilen, die sie schwer ausgleichen können. Vielleicht trägt dazu auch bei, daß die verschiedenen Anfänge einer Erforschung des Schlafens seit der Wende zum 20. Jahrhundert selbst noch wenig miteinander verbunden sind. Freuds „Traumdeutung“ rückt die zentrale Rolle des Unbewußten und der Verarbeitung der sexuellen Impulse ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Max Weber scheitert mit der „Psychophysik der industriellen Arbeit“ 1908 an der relativ großen Zahl sozialer Einflüsse, die die „Ermüdung“ der Industriearbeiter bewirken. Das planmäßige Einengen der Fragestellungen, wie es N. Kleitman 1921 mit seinen Experimenten beginnt und 1939 erstmals geschlossen veröffentlicht, führt zu verhältnismäßig abstrakt scheinenden Ergebnissen. Doch einige von ihnen, wie die Selbstversuche mit Verschiebungen des Tag-Nacht-Rhythmus oder des Hell-Dunkel-Wechsels, lassen sich durch Untersuchungen langfristiger Veränderungen, wie es hier am Wandel der Schlafräumlichkeiten gezeigt worden ist, weitgehend bestätigen. Der kurze Blick auf Veränderungen der Schlafräume, die Vergrößerung der Abstände zu den schlafenden Menschen, die Zunahme ihrer gegenseitigen affektiven Distanzen, veranschaulicht auch, wie eine zentrale Voraussetzung für die gegenwärtigen Schlafforscher allmählich entstanden ist. Die isoliert im „Schlaflabor“ schlafenden Menschen werden in dem Maße zum wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand, wie die normal schlafenden Menschen sich raumzeitlich selbst stärker in den Schlafräumen isoliert haben. Es entsteht ein relativ abstrakter Schlafbegriff. Er gleicht in vielen Zügen dem der Arbeit. Man zerteilt und mißt die Traumphasen. Schlafperiodik, Schlaftiefe, Schlafdauer, die Grade des Wachseins und vieles andere werden beobachtet, gemessen, berechnet. „Der Traum hütet den Schlaf“, wie Freud anschaulich sagt. Die Erforschung der meisten sozialen Veränderungen des Schlafens, zumal seiner Domestizierung, hat kaum begonnen. Wir untersuchten, wie bereits das Vermehren der Wohnungen, der Betten, Zimmer, Häuser die Figuration der Menschen verändert, die den Schlaf der anderen mitbestimmten. Wenn man sieht, sagt Elias, wie selbstverständlich es dem Mittelalter erschien, daß fremde Menschen, daß Kinder und Erwachsene ihr Bett miteinander teilten, kann man ermessen, welch tiefgreifende Veränderung der zwischenmenschlichen Beziehungen in unserer Lebensanordnung zum Ausdruck kommt. Und man erkennt, wie wenig es sich von selbst versteht, daß Bett und Körper psychische Gefahrenzonen so hohen Grades bilden, wie in der bisher letzten Phase der Zivilisation. 97
6. Nacht und Zivilisation. Wandlungen im Erleben der Nacht
„Mitternacht“ „Schrecken und Stille und dunkles Grausen, finstere Kälte bedecket das Land, Izt schläft, was Arbeit und Schmerzen ermüdet, diß sind der traurigen Einsamkeit Stunden. Nunmehr ist was durch die Lüfte sich reget, nunmehr sind Menschen und Thiere verschwunden. Ob zwar die immerdar schimmernden Lichter der ewig schitternden Sternen entbrant. Suchet ein fleißiger Sinn noch zu wachen, der durch Bemühung der künstlichen Hand. Ihm die auch nach uns ankommenden Seelen, ihm die anitzt sich hier finden, verbunden? Wetzet ein blutiger Mörder die Klinge, wil er Unschuldiger Herzen verwunden? Sorget ein Ehren begehrend Gemüthe, wie zu erlangen ein höherer Stand? Sterbliche, Sterbliche, lasset diß Dichten! Morgen, ach morgen, ach, muß man hinziehn! Ach, wir verschwinden gleich als die Gespenste, die um die Stund uns erscheinen und fliehn. Wenn uns die sichere Gruben bedecket, wird was wir wünschen und suchen zunichte. Doch wie der glänzende Morgen eröffnet, was weder Monde noch Fackel bescheint: So, wenn der plötzliche Tag, wird anbrechen, wird das geredet, gewürket, gemeint. Sonder Vermänteln eröffnet sich finden vor das erschrecklichen Gottes Gerichte.“ (Faust 1985: 27-47)
Nur schwerlich können Menschen zu Beginn des 17. Jahrhunderts treffender umreißen, welche Ängste sie empfinden, wenn sie wie Andreas Gryphius (1616-1664) ihre Furcht vor der Mitternacht formulieren (Gryphius 1880: 25): „Schrecken und Stille und dunkeles Grausen, finstere Kälte (...) der traurigen Einsamkeit Stunden (...) Menschen und Tiere verschwunden (...) ein blutiger Mörder wetzet die Klinge (...) ach, wir verschwinden gleich als Gespenste (...)“. Lichter finden sie nur in den Sternen, dem Mond oder den Fackeln. Nicht nur Stille, Dunkelheit und Kälte ängstigt nachts diese Menschen. Sie fürchten auch um ihre eigene leibliche Sicherheit während der Nacht. Simon Dach (1605-1659) beginnt ein Morgenlied (Dach, S. 1876a: 103; vgl. auch Dach, S. 1876b: 366ff.): „Der nacht gefahr und grauen Ist dißmahl auch vorbey. Das tag-licht lässt sich schauen, Das wache hahn-geschrey Sagt, daß es morgen sey. (...)
Ich hab’ als tod geschlaffen. Ohn sinn und ohn verstand, Beschirmt durch keine waffen Für satans starcker hand, Für dieberey und brand, (...)“
Diese deutschsprachigen Dichter der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts leben in verhältnismäßig kleinen Städten. Simon Dach etwa wird 1605 in Memel geboren; später ist er Professor für Poesie an der Universität Königsberg. Die Städte liegen nachts im Dunkeln. Ihre Bewohner sind ihres Lebens oder ihres Eigentums, selbst innerhalb ihrer Mauern, wenig sicher. Simon Dach beginnt ein anderes Gedicht über die Nacht (Dach, S. 1876b: 151f.): „Ich trage grauen für die nacht Und habe ganzt mich außgewacht, Mein schlaff ist pein und sorgen, Ich sehne mich So sehr, als sich Kein Wächter, nach dem morgen.“
Nächtliche Sicherheit vor körperlichen Gewalttätigkeiten anderer Menschen mag innerhalb ummauerter Städte noch durch die Wächter kontrolliert werden, die sich so sehr nach dem Morgen sehnen. Diese Einrichtungen des nächtlichen Bewachens gehen hervor aus den Militärwachen; die Römer kennen sie schon als die vigiliae. Die städtischen Nachtwächter verschwinden in den deutschen (und in anderen) Städten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in dem Maße, wie sie von städtischen Polizeien abgelöst werden. Das weite Land zwischen den Städten in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist nicht nur nachts unsicher. Hier wütet in großen Teilen des nördlichen Europa über dreißig Jahre ein Krieg, dessen Parteiungen die Menschen kaum noch begreifen; streunen Armeeteile oder besser, Banden aller Art herum. Viele Dichter des Barock haben uns das Bizarre und Groteske dieser täglichen persönlichen Ungewißheit beschrieben. Am bekanntesten wurde vielleicht „der abenteuerliche Simplizissimus Teutsch“ von Grimmelshausen (16211676). Das Erleben der Angst und der Bedrohung während der Dunkelheit der Nächte ist für die meisten Menschen bis über das 17. Jahrhundert hinaus ständige Wirklichkeit, nicht nur „Mythos, Kultus und Volksglauben“ (Reimbold 1970). Außer Finsternis und Grauen verbinden die barocken Dichter während des Dreißigjährigen Krieges auch noch ganz andere Gefühle mit der Nacht, auch darin stehen sie in einer sehr langen Überlieferung. So schreibt Friedrich von Logau (1604-1655) (von Logau 1870):
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„Zweyerley Nacht und zweyerley Tag“ „Zwey Nächte hat der Mensch, der Mensch hat zwene Tage, Drauff er sich freue theils, theils drüber sich beklage: Der Mutter Leib ist Nacht; das Grab ist wieder Nacht; Geburt gibt einen Tag, wie Tod den andren macht; Die erste Nacht und Tag ist voller Noth und Leiden; Der Tag nach Letzter Nacht bleibt voller Heil und Freuden.“
Wie fest, wie unabänderlich muß das Naturereignis der Nacht für Nacht wiederkehrenden Dunkelheit sich Generationen von Menschen eingeprägt haben, daß sie die Nächte verbinden mit der Urfinsternis ihres eigenen Entstehens und zugleich ihres Grabes, dem Reich der Toten? Und daß sie die Nacht oftmals mit der Geburt und dem Grab gleichsetzen? Und ein letztes Beispiel, eine Szene aus den Lebenserinnerungen des Goldschmiedes und Bildhauers Benvenuto Cellini (1500-1571) aus dem Jahre 1557. Ich folge der Goetheschen Übersetzung (Cellini 1957: 45ff.): „Gegen zwei Uhr (d.h. zwei Stunden nach Sonnenuntergang; die altitalienische Zeitrechnung zählte 24 Stunden beginnend mit dem Sonnenuntergang, Anm. d. Verf.) ging ich an dem Hause der Pantasilea vorbei und hatte mir vorgesetzt, wenn ich Ludwig bei ihr fände, beiden etwas Unangenehmes zu erzeigen.“
Cellini versteckt sich hinter einer Gartenhecke und lauert dem jungen Paar auf: „Der Himmel stand voller Sterne und die Hellung war sehr groß. Auf einmal hörte ich einen Lärm von mehreren Pferden, die hüben und drüben vorwärts kamen. Es waren Ludwig und Pantasilea, begleitet von einem gewissen Herrn Benvenuto von Perugia, Kämmerer des Papstes Clemens. Sie hatten noch vier tapfere Hauptleute aus gedachter Stadt bei sich, nicht weniger einige brave junge Soldaten; es mochten mehr als zwölf Degen sein.“
Cellini beschließt im Anblick der bewaffneten Obermacht zu entfliehen, sieht aber kein Entkommen mehr, springt aus dem Gebüsch hervor und schreit laut: „Ihr seid alle des Toden! Der erste Hieb meines Degens traf die Schulter Ludwigs, und weil sie den armen Jungen mit Harnischen und anderen solchen Eisenwerk überblecht hatten, tat es einen gewaltigen Schlag. Der Degen wandte sich und traf die Pantasilea an Nase und Mund. Beide Personen fielen auf die Erde, und Bacchiara mit halbnackten Schenkeln schrie und floh (...)“
Dann schildert er eine dramatische Kriegs- und Kampfszene, die Stunden dauert. Beide Gruppen jagen sich schreckliche Furcht ein. Sie denken, sie sind viel größer an Zahl als sie tatsächlich sind; denn es ist dunkel. Schließlich entkommt er unversehrt. Es ist nur eine von zahllosen Szenen dieser Art von bewaffneten Überfällen, die er erleidet und oft nur knapp überlebt, aber, das ist wichtig, die er auch selbst 101
inszeniert. Und er brüstet sich in diesem Buch ständig mit dieser Art bewaffneter Überfälle. Weswegen wird der nächtliche Überfall begonnen? Ein Streit um ein Mädchen. Am nächsten Tag bittet Cellini einen „Herren“, der seinerseits wieder von Bewaffneten umgeben ist, um sich gegen derartige Angriffe zu schützen, für ihn mit seinem Kontrahenten Frieden zu stiften. „Fried wollen wir, und nichts weiter! (...) So war der Friede gemacht, und ich kehrte sogleich zu meiner Werkstatt zurück.“
Wie erleben Menschen die Nacht, wenn sie sich um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert nächtens durch eine beträchtlich große Stadt bewegen? Auf jeden Fall fürchten sie für ihr Leben. Nicht nur der drohende Angriff anderer, sondern auch der eigene bewaffnete Angriff gegen die anderen Menschen gehören selbst innerhalb der Stadtmauern zum dauernden Erleben der Bürger. Worin besteht das Neue solcher Erinnerungen und Gedichte an die Nacht? Man vermag dieses Erleben jetzt in Büchern zu schildern. Man kann damit prahlen, kann darüber spotten oder über seine Ängste schreiben. Die Menschen ängstigen sich. Doch sie vermögen sich zugleich ein wenig mehr von ihren Ängsten zu distanzieren. Und sicher richtet sich das Interesse Goethes an solchen Abenteuerängsten auf die dadurch erzeugten Reize, wenn er noch rund 250 Jahre später die Erinnerungen des berühmten Handwerker-Künstlers übersetzt und seinen Lesern präsentiert. Dieser soziale Distanzierungsschub, den die schriftliche Aufzeichnung derartiger nächtlicher Episoden markiert, zeigt sich auch in der Malerei. Die Maler beginnen die Nacht zu erforschen. Sie fürchten sich wohl weniger vor ihr. Nachtstücke nennen sie die neuen Bilder. Diese Gemälde, aber auch Graphiken, stellen figürliche Szenen während der Nacht dar. Nächtliche Szenen werden etwa seit dem 15. Jahrhundert hier und da in der europäischen Malerei beliebt, als ein Christuskind oder eine heilige Nacht, meist sind sie beleuchtet von einer überirdischen Lichtquelle. Beispielsweise stellen Hans Baldung, genannt Grien (1484 oder 1485-1545), Bartholomäus Bruyn der Ältere (1493-1555) oder Jan Gossaert, genannt Mabuse (ca. 1478-1532) im 16. Jahrhundert Nachtszenen dar. Meistens bestimmt dunkle Farbigkeit die nächtlichen Szenen. Eine Lichtquelle erscheint oben, etwa der Mond, oder als künstliches Licht, Lampen, Kerzen und Fackeln. Auf einem der berühmtesten Nachtstücke, der „heiligen Nacht“ von Corregio (14891543) geht das Licht sogar von dem Kinde aus. Unter dem Einfluß Adam Elsheimers (1578-1610) und M.M.A. da Caravaggios (1573-1610) entwickeln sich dann die Hell-Dunkel-Malereien der Nachtszenen Rembrandts (1606-1669). Später malen viele andere Nachtstücke, etwa Rubens, Honthorst, van der Meer, Achenbach oder Menzel. Auch in der Musik entstehen – wenngleich ein wenig später – Sere102
naden im 17. und 18. Jahrhundert, Nocturnes und Nachtmusiken im 19. Jahrhundert. „Das Dunkel der Nacht erhellen“ „Ob du schon wickelst ein das halbe Rund der Erden in dein berusstes Tuch, du schwarze, finstre Nacht, so mag ich doch von dir gar nicht bedunkelt werden, dich nur ein Auge mir der Liebsten Liechte macht.“
Die schwarze, finstre Nacht, ein berußtes Tuch, was wäre dunkler? „Ich mag von dir gar nicht bedunkelt werden“, in Paul Flemings (1609-1640) „An die Nacht“ (Fleming 1865) scheint es ein unerfüllbar ferner Wunsch; allenfalls für seine Geliebte scheint ihm das Dunkel durchschaubar zu sein. Doch die Nächte bleiben dunkel. „Komm braune nacht/umhülle mich mit Schatten/und decke den mit deiner schwärtze zu“ schreibt Christian Hofmann von Hofmannswaldau (16171679) (Hofmann von Hofmannswaldau 1968: 96): Braun oder schwarz, die Menschen vergleichen die Nächte mit dem dunkelsten, das sie sich vorzustellen vermögen, sei es das Dunkel des Mutterleibes oder des Grabes. Alle Erfahrungen eines fortwährenden Wechsels von Hell und Dunkel bleiben an den natürlichen Wechsel von Tag und Nacht gebunden. „Auch die nacht ist verflossen/und weicht dem tageschein (...)“, so ähnlich wie Simon Dachs „Morgenlied“ (Dach, S. 1876b: 348) beginnen viele Gedichte des 17. Jahrhunderts. Die dunklen Nächte zu erhellen, das bleibt ein Wunsch. Mit den lichttechnischen Mitteln der Zeit ist er nicht zu erfüllen; deren wesentliche Beleuchtungsquellen bleiben die Sonne und die Flammen des Feuers. Wie entwickeln sich die Möglichkeiten der Menschen, das Dunkel der Nächte zu erhellen? Mit dem allmählichen Zähmen des Feuers, es ist stets Wärmeund Lichtquelle zugleich, und seiner Benutzung in häuslichen Herden zieht eine Vielzahl von Lichtquellen in die Häuser ein. Öllampen, Kienspan oder Fackeln werden durch die Jahrhunderte hindurch langsam verbessert. Wer gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewöhnt ist, mit Hilfe elektrischer Beleuchtungstechniken jeden Ort jederzeit nachts taghell beleuchten zu können, der wird schwer begreifen können, warum sich die menschlichen Beleuchtungstechniken derart langsam weiterentwickeln. Einmal sind es wirklich technische Probleme. Die relative Lichtstärke der einzelnen, offenen Flamme ist begrenzt; sie läßt sich nicht beliebig verstärken. Vielerorts setzt auch der verhältnismäßige Mangel an geeigneten Energien einer intensiveren Beleuchtung Grenzen. aber dann sind es vor allem auch ganz andere seelische Strukturbedingungen, welche die Menschen charakterisieren, die viel 103
unvermittelter an die Naturbedingungen gebunden sind als Menschen in industriellen Staatsgesellschaften. Stellen wir uns den Gebrauch des Feuers in einem bäuerlichen Wohnhaus vor, wie es seit merowingisch-fränkischer Zeit bis weit durch das europäische Mittelalter hindurch gebaut wird. Stroh auf dem Dach, Weidenzweige geflochten in den Wänden aus Holzfachwerk. Der Lehm in den Ausfachungen ist feucht, wenn es regnet, und sehr trocken, sobald das Wetter trockener wird. Die Zimmerdecken bestehen aus groben Brettern. Diese liegen auf mächtigen, roh behauenen Balken. Darüber lagert meist Stroh und Heu. Durch offene Löcher in der Decke holt man es zum Füttern des Viehs herunter. Ein offenes Feuer brennt irgendwo in der Mitte des Hausgrundrisses. In den frühen Bauernhäusern wird es durch Holzscheite eingeschlossen, die dort trocknen sollen. Durch ein größeres Loch im Dach, meist in der Nähe des Firstes oder des Giebels findet der Rauch seinen Ausgang aus dem Haus. Selten steht ihm dazu ein voll ausgebauter Schlot oder Kamin zur Verfügung. Zugluft überall. Liegt das Haus in einer der vielen sehr kleinen Städte, gibt es mit größerer Wahrscheinlichkeit irgendwo eine festere Feuerstelle, öfter mit Kaminen. Aus ihnen können die Funken meist ungehindert auf die leicht entflammbaren Dächer benachbarter Häuser überspringen. Gelegentlich sehen wir Häuser mit steingedeckten Dächern oder gänzlich aus Stein gebaut. In den Gebäuden finden wir wenige Textilien – etwa auf den Schlafstellen, sehr wenige Möbel. Doch zahlreiche andere brennbare Materialien sind in den Häusern gelagert, z.B. Wolle oder Leder, die für die handwerklichen Arbeiten gebraucht werden. Dazwischen stecken rauchige Wergfackeln an den Wänden, stehen irdene Öllämpchen, tropfen Talgkerzen oder rauchen im Windzug Wachskerzen (Freudenthal 1931; O’Dea 1958; Forbes 1959; Heintschel 1975). Will man das Feuer neu entzünden, etwa weil es ausgegangen ist, muß man es durch geduldiges Bohren oder Funkenschlagen im Zunder oder in Hobelspänen aufs neue erzeugen. Die Angst vor dem offenen Feuer innerhalb der Häuser und die Furcht vor dem unbeabsichtigten Überspringen der Funken auf andere Häuser sind weitaus größer als das Bedürfnis nach besserer Beleuchtung. Das periodische Abbrennen ganzer Gebäude und Ortsteile hält die Ängste aufrecht. Die Menschen verstehen das Feuer als heilig oder als göttlich, als „ignis divinus“ (Edsman 1949). In unseren Tagen ist das nicht nur ein anderer Glauben und Brauch (Freudenthal 1931) oder ein uns fremd gewordenes Geheimnis von Glauben und Sitten (Frazer 1928; Frazer 1930). Es dokumentiert sich darin eine andere affektive Bindung der Menschen an die Naturvorgänge. Wenn Feuerkulte in den meisten früheren menschlichen und in der europäischen Kultur bis in die neueste Zeit hinein mit Blitzen, mit den Herden, den Kerzen, den Notfeuern, den Jahresfeuern schließlich mit dem Sagenund Fegefeuer lebendig sind –, wenn die Feuerfeste in Europa (Frazer 1928: be104
sonders die Kapitel 62-64), Feuer in der Fastenzeit, zu Ostern, als Beltane-Feuer (in Schottland zum 1. Mai), die Johannisfeuer (zur Sommersonnenwende), die Halloweenfeuer, die Winter- und Notfeuer, schließlich das Verbrennen von Menschen und Tieren, bzw. das Verbrennen von Puppen und anderen menschlichen Nachbildungen bis in unsere Zeit hinein in Überresten zu finden sind, bezeugen diese Vorgänge eine viel tiefere Bindung jener Menschen an diesen Naturvorgang. Jene Menschen sind von einem weit stärkeren, oft unwiderstehlichen Drang zum Entzünden des Feuers oder zum Betrachten brennender Gegenstände erfüllt als das den Menschen in unseren Tagen vorstellbar erscheint. Ihre viel schwerer selbst kontrollierbare Lust am Feuer oder am Entzünden von Feuern würden wir eher als Brandstiftungssucht bezeichnen. Welche Angst beherrscht Menschen, die das Feuer mit magischen Sprüchen zu bekämpfen suchen? Welche Furcht bestimmt die Menschen, die ein Feuer ganz persönlich anreden mit bestimmten Beschwörungsformeln, die sie über der Tür ihres Hauses anbringen (Freudenthal 1931)? „Feuer erschere (ärgere) dich!“ – Oder: „Gott verzehre dich!“ – Oder: „Gott verteilt das Feuer für alle Klüfte“ – Oder: „Der Feuerreiter muß zuerst dreimal um das brennende Haus herumjagen und dann beim ersten Male vor der Türe des bereits brennenden Hauses rufen: Füer, Füer, Füer, Wat blökst und schmökst du hier?“
Oder an anderen Orten (Freudenthal 1931) schreibt man kurze Beschwörungsformeln kunstvoll auf kleine Zettel wie: „(...) Von Feuersgefahr errette uns heilige Agatha!“ Sie sind als Brandschutz an die Haustüren zu heften. Oder sie müssen in das brennende Feuer geschleudert werden in der Hoffnung, dadurch Menschen und Güter vor dem Feuer schützen zu können. Das Anbeten des Feuers ist Ausdruck einer stärkeren Triebbindung. Das Empfinden der Hitze des Feuers verursacht einen beträchtlichen Reiz (Bachelard 1990).41 Die Angst vor den Gefahren des Feuers und die Lust, es immer wieder zu entzünden, unterliegen weniger eigenen und fremden Triebkontrollen. Doch wer hätte diese viel triebhafteren Impulse, dieses eher „kindliche“ Vergnügen der Alten, Feuer zu legen, Pyromanie nennen wollen? Was könnte die zivilisatorischen Wandlungen der Menschen des 20. Jahrhunderts im Verhältnis zum Feuer besser kennzeichnen? Das Feuer zu entzünden ist im Vergleich zu den jahrhundertelangen Mühlseligkeiten rein technisch so ein41 Bachelard hat besonders die sexuellen Wirkungen der Hitze des Feuers untersucht.
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fach wie nie zuvor. Die Möglichkeit, Streichhölzer oder Feuerzeuge zu benutzen, steht selbst den Kindern überall offen. Die Reizempfindungen bei der Gewinnung des Feuers (Freud 1932) oder seinen Hitzeeinwirkungen sind stärkeren Zwängen unterworfen. Jedes Kind hat nun bewußter das Spiel mit dem Feuer und den Gebrauch von Streichhölzern zu erlernen (Kafry 1980). Das gesamte Niveau der Standards des Empfindens und Verhaltens hat sich gewandelt. Und die Gebote des sozial erwünschten Verhaltens beim Umgehen mit Feuer werden durch ein umfassendes System besonders sozialer Instanzen des Feuerschutzes, der Feuerwehr doch auch der Bauaufsicht und der Feuerversicherungen aktualisiert und aufrechterhalten. Ein gutes Beispiel für den systematischen Aufbau derartiger Kontrollen seit dem 19. Jahrhundert bietet die Entwicklung der Zündhölzer. Alle Vorgänge des Herstellens, des Versendens, Transportierens und Lagerns werden schließlich einheitlich unter diesem Gefahrenaspekt gesehen; alle Vorschriften über die Sicherheitszündhölzer dienen nur dazu, jedes unbeabsichtigte Entzünden der Hölzer zu verhindern (Hartig 1965). Zugleich ist jedes offene Feuer in bewohnten Räumen unseren Blicken entzogen. Gelegentlich mag es noch als Schmuck dienen. Zu Beleuchtungszwecken wird es kaum noch verwendet. Kommen jetzt die triebhaften Impulse, ein Feuer anzulegen oder einen Brand zu stiften, dennoch einmal zum Ausbruch, werden darin Anzeichen der Krankheit eines Einzelnen gesehen. Die denkbar größte Vielfalt nebeneinander verwendeter Beleuchtungsmittel begleitet den Prozeß der Verhäuslichung des Feuers. Und meistens ist es dabei eine Quelle von Wärme und Licht zugleich. Man verwendet Kienspan als Fackeln, seit dem Mittelalter mehr und mehr auch Kerzen zum Beleuchten der Wohnräume. An den Höfen des 18. Jahrhunderts dienen Wachskerzen einem unglaublichen Lichtluxus. Auch Talglichter sind ähnlich lange im Gebrauch. Mit der Analyse der Fette zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzt bald auch die industrielle Fertigung von Stearin- und Paraffinkerzen ein (Marazza 1896; Forbes 1959). Öllampen gibt es seit altersher. Sie werden mit tierischen und pflanzlichen Fetten gespeist, seit dem ausgehenden Mittelalter gelegentlich auch aus natürlichen Ölvorkommen (vgl. besonders Forbes 1958; Forbes 1959). Der aufkommende Massenbedarf vergrößert die Vielfalt und beschleunigt die Konkurrenz neuer Beleuchtungstechniken. Gaslicht brennt in einigen ersten englischen Fabriken. Bald probiert man es auch zur Beleuchtung von Straßen und Plätzen der wachsenden Großstädte einzusetzen, seit 1813 in London und seit 1826 auch in Berlin (ausführlicher u.a.: Brentjes et.al. 1978). Versuche mit elektrischen Glühlampen gibt es seit Mitte des Jahrhunderts. Nahezu alle bekannten Arten von Beleuchtungsmitteln erfahren Verbesserungen aufgrund neuer wissenschaftlicher oder technischer Erkenntnisse. Am Beispiel der „chemischen Geschichte einer Kerze“ vermag Michael Faraday noch um die Mitte des Jahrhunderts eine Einführung in sein ganzes Fachgebiet zu geben (Faraday 1862). Es gibt bereits einige der gleißend hellen elektrischen Bogenlampen. Den106
noch wird gegen Ende des Jahrhunderts nach der Erfindung des Gasglühstrumpfes, 1891, die Gasbeleuchtung in den Wohnungen und Straßen der europäischen Großstädte populär. Und die elektrische Beleuchtung setzt sich später durch. Fragen wir, wie dieser technische Wandel vom 18. zum 19. Jahrhundert schließlich derartig beschleunigt werden konnte oder – anders, „wer Prometheus eigentlich entfesselte“, werden wir vermutlich bei der Einschätzung bleiben: „Wir dürfen uns die Verbindung von Wissenschaft und Technik nicht als eine schrittweise und allgemeine gegenseitige Annäherung dieser Elemente in der Gesellschaft vorstellen, sondern als die Herstellung von Kontakten, zuerst an isolierten Punkten, dann an mehreren und schließlich fast überall (Clark 1975: 90).“ Faradays Lebensweg ist selbst ein gutes Beispiel für diese Interdependenzprozesse. Und wenn der Weg zu den elektrischen Beleuchtungssystemen so verhältnismäßig verspätet geebnet werden konnte, hat das auch mit den teilweise fehlenden Interdependenzen zu tun. Lange Zeit gibt es bereits Lichtbogen- und Glühfadenlampen. Aber es fehlen hinreichend elektrische Kraftmaschinen.42 Stromerzeuger und Stromverbraucher der Starkstromtechnik haben noch einen ganz unterschiedlichen Entwicklungsstand. Denn weiterentwickeln kann man nur etwas, das sich auch sogleich verkaufen läßt. Die Elektrotechnik als selbständige technische Wissenschaft entwickelt sich aus der physikalischen Elektrizitätslehre ihrerseits erst mit dem Entstehen einer ausgedehnten Starkstromindustrie gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Schreier 1979: 125-153), und in dessen letzten zwei Jahrzehnten kommt eine vergleichsweise kleinbetriebliche Glühlampenproduktion auf. Deren technische Verfeinerung und deren gesteigerte Qualitätsstandards sind vor allem dem zügigen Aufbau der kommerzialisierten Massenproduktion Nordamerikas zu verdanken (Basch 1910; Bright 1949). Das gilt besonders für die Durchsetzung der Leuchtstofflampen (Gasentladungslampen) seit den Dreißigerund Vierzigerjahren. Ingenieure und Architekten versuchen nun, auch die innerhäusliche Lichtführung und ihre nächtlichen Wirkungen bewußter zu steuern und stärker zu differenzieren (für eine frühe Kritik vgl. Fitch 1972: Kap. 5). Starke Impulse zu einer weltweiten Standardisierung der elektrischen Beleuchtungsmittel gehen von den verschiedenen Kartellbildungsphasen in der Glüh42 Deshalb wird die Gasbeleuchtung so lange fortgeführt, ehe sie im 20. Jahrhundert nur noch der Wärmeversorgung dient (vgl. Köting 1965). Im Deutschen Reich gibt es 1887 sechs Elektrizitätswerke, im Jahr 1907, 20 Jahre später, 1530 Elektrizitätswerke. Und etwa zwischen 1895 und 1898 entstanden 62 Gaswerke sowie 261 Elektrizitätswerke im gleichen Zeitraum; die Zuwachsrate der Elektrizitätswerke beginnt, die der Gaswerke zu überholen (vgl. Basch 1910: 34ff.).
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lampenproduktion aus, oftmals gefördert durch Patentrechte. Die Monopolisierungstendenzen in der Elektroindustrie nehmen zu und führen zu großen marktbeherrschenden Unternehmen.43 Sie bestimmen jetzt in den industriellen Staatsgesellschaften mehr und mehr die Beleuchtungsstandards von Wohnungen, Fabriken oder Büros.44 Auch die Straßensysteme in vielen dieser Regionen der Erde lassen sich nachts in eine Lichterflut tauchen, die das einstige Grauen vor dem Dunkel der Nächte vergessen macht. Mit den schlichtesten Bewegungen, mit den denkbar gleichförmigsten Handgriffen vermag jetzt jeder überall das Licht anzuschalten und ist zugleich an umfassende Sachsysteme gebunden (Linde 1972; Linde 1982). Ähnliche Tendenzen entwickeln sich auch in Ländern, die an der Schwelle der Industrialisierung stehen. Man kann in diesen gesellschaftlichen Wandlungen eine elektronische Revolution sehen. Das läßt sich gut begreifen; auch, wenn sicher nicht jede große Veränderung menschlicher Technik eine Revolution genannt werden kann (Kuczynski 1975: bes. Teil 2, Kap. 1; zur Kritik vgl. u.a. Jonas 1975: 176ff,) und sich oftmals an manche technische Neuerung ganz unrealistische soziale Erwartungen knüpfen. V.I. Lenin berichtet im Anschluß an sein bekanntes Wort von einem Besuch in einem russischen Dorf in dem ein Bauer anläßlich der Einführung der elektrischen Beleuchtung eine Rede gehalten habe.45 „Wir Bauern lebten in der Finsternis, und nun ist bei uns ein Licht aufgegangen, ein ‚unnatürliches’ Licht, das unsere bäuerliche Finsternis erhellen wird.“ „Ich wunderte mich nicht über diese Worte, Gewiß, für die parteilose Bauernmasse ist das elektrische Licht ein ‚unnatürliches’ Licht, für uns aber ist es unnatürlich, daß die Bauern und Arbeiter jahrhundertelang in solcher Finsternis, in Elend, in Unterdrückung durch Gutsbesitzer und Kapitalisten leben konnten. Dieser Finsternis kann man nicht so schnell entrinnen. Aber wir müssen es jetzt dahin bringen, daß jedes Kraftwerk, das wir bauen, wirklich zu 43 Für die elektrische Lampenindustrie vgl. Bright 1949; für die Elektroindustrie im Deutschen Reich (vgl. Mottek et.al. 1974: Kap. 2.6: 92-96). 44 In den bekannten Hawthorne-Experimenten der 30er Jahre versuchte E. Mayo durch Variieren der Lichtstärke zentral Einfluß auf die Arbeitsproduktivität zu nehmen. Inzwischen sind sämtliche Elemente der Arbeitsräume mögliche gestaltbare Gegenstände einer Organisierung des Arbeitsprozesses geworden. In der Phase des relativen Energieüberflusses gewöhnten sich etwa die Organisationsplaner der Bürogroßräume sowie die Lieferanten etwa der Lichtdecken an, Büroräume mit extrem heller Beleuchtung zu liefern. Nun ist es ein Problem der in diesen Büros Arbeitenden, wenigstens individuell die Lichtstärke variieren (verringern) zu können (vgl. Fritz, H.-J. 1982). 45 „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes“ (Lenin 1959: 513515).
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einem Stützpunkt der Aufklärung wird, daß es sozusagen die elektrische Bildung der Massen fördert.“
Vergleiche zwischen dem Erhellen des nächtlichen Dunkels und der Funktion der Aufklärung sind oftmals angestellt worden, auch wenn sie der gesellschaftlichen Analyse wenig standhalten. Doch –, jedes Kraftwerk ein Stützpunkt der Aufklärung? – Eine der typischen Ingenieursutopien, die so oft technische Neuerungen konzipieren, ohne an die sozialen Wandlungen zu denken? Welche Einrichtungen ließen sich zum Ende des 20. Jahrhunderts finden, die sich weniger der Aufklärung verpflichtet fühlten als Kraftwerke? Gründen sie nicht nahezu von Anfang an auf munizipalen, dann auch immer weiträumigeren Netz-, Standort- und Leistungsmonopolen? Und sind nicht bald alle Menschen eines Wirtschaftsraumes an deren Sachsystem angeschlossen, vergesellschaftet mittels Kontrahierungs-, Anschluß- und Abnahmezwängen? Wandlungen des nächtlichen Arbeitens „Nacht-Ruh“ „Ob sich deß beruffes mühen Gar biß an die nacht verziehen, Ist uns doch vergünt die nacht, die davon uns müßig macht.“
Im 17. Jahrhundert mag es die gelegentliche Ausnahme sein –, im 20. ziehen sich die Mühen des Berufes für immer mehr Menschen während eines Großteils ihres Arbeitslebens sehr wohl bis an die Nacht oder über die ganze Nacht hin. Ihnen ist die Muße der Nacht seltener vergönnt. Die Sentenzen des kritischen Friedrich von Logau (1604-1655) (von Logau 1870: 303) gehen von einem anderen Standard von Arbeitszeit und Nachtruhe aus. Der Wechsel zwischen Arbeit und Muße deckt sich für ihn wie selbstverständlich mit dem Tag-Nacht-Rhythmus. Langfristig entsteht die Gewohnheit, nachts zu arbeiten, aus sehr verschiedenen Anlässen. Im Römischen Reich heißt es über die Nachtarbeit der Sklaven: „Bei den langen Nächten sollte man dem Tag noch etwas zulegen. Es gibt ja vieles, was sich gut bei künstlichem Licht machen läßt.“ (Schneider, H. 1980: 119ff., 127f.) Das gibt es auch in römischen Bäckereien und Mühlen. „Viele Pferde und Esel treiben in beständigem Kreislauf Mühlen verschiedener Größe, nicht allein bei Tage, sondern auch die Nacht durch bei Licht“, schreibt Apuleius. Die Bindungen der Menschen an den natürlichen Hell-Dunkel-Rhythmus sind stärker, Arbeiten nach Anbruch der Dunkelheit seltener, aber es gibt sie doch ständig und 109
über lange Zeiträume hinweg. Kuhhirten und Schäfer etwa brauchen nachts Licht, wenn die Tiere kalben. „Feare candle, good wife“, heißt es in einer Schrift 1571, „feare candle in hay loft, in barn or in shed“. Laternen gehören zum Werkzeug der Schäfer und Hirten (O’Dea 1958: 170ff., 110ff., 129). Wir kennen Anweisungen zum nächtlichen Gebrauch von Lampen für Handwerker im 17. Jahrhundert –, auch Abbildungen, auf denen Juweliere, Graveure, Goldschmiede hinter wassergefüllten Glaskugeln, Schusterkugeln arbeiten, in denen das Licht einer Kerze gebündelt wird. Nachts arbeitende Handwerker sind im 18. Jahrhundert in Diderots großer Enzyklopädie abgebildet; beispielsweise fischen nachts Fischer mit Hilfe einer an ihrem Boot befestigten Laterne. Viele Läden in den größeren Städten, in Paris, London oder Amsterdam sind abends beleuchtet. Und gegen Ende des Jahrhunderts brennen Kerzen während der nächtlichen Arbeit in den englischen Cottonmills. Als Massenereignis beginnt die Nachtarbeit mit dem Fabriksystem. Die allmählichen Verlängerungen des Arbeitstages, wie sie bei den englischen Landarbeitern oder in der landwirtschaftlichen Fronarbeit auf dem Kontinent entsteht, ist noch weitgehend an den Wechsel der Jahreszeiten gebunden. Schließlich ist der „Heißhunger nach Mehrarbeit“ (Marx 2004: 3. Abschn., Kap. 8, 249ff.) nicht mehr auf Gutsherren und neue Fabrikanten beschränkt. Zu den extrem lang gewordenen täglichen Arbeitszeiten, die vielfach auch für Frauen und Kinder gelten, kommt mehr und mehr die Nachtarbeit hinzu. Das „System of relais“, das Ablösungssystem, entsteht keineswegs zuerst in der Industrie, wo etwa in der Eisen- und Stahlfertigung ununterbrochene Prozesse notwendig sind. Das System wird, wie der anschauliche Name sagt, im Postdienst – beim Pferdewechsel an den Zwischenstationen – schon verwendet. Eine lange Kette von Vorschriften zum Verhindern oder doch zum Eindämmen der Nachtarbeit soll heute meist lehrbuchartig diese weithingezogene Entstehung des massenweisen nächtlichen Arbeitens bezeugen (z.B. Schnauber 1979: 210). Ein Nachtarbeitsverbot für Kinder und Jugendliche wird 1802 in England erlassen; die Factory-Act von 1833 verbietet Nachtarbeit von Arbeitern, die unter 18 Jahre alt sind. Das erste Nachtarbeitsverbot in Deutschland wird 1839 erlassen, das Preußische Regulativ für die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken. Ein Nachtarbeitsverbot für Frauen enthält das Arbeitsschutzgesetz von 1891. Ein Nachtbackverbot wird zum ersten Mal 1890 in Deutschland erlassen; ihm folgen ähnliche Vorschriften 1908 in Italien, Frankreich und der Schweiz. 1938 wird die Arbeitszeitordnung eingeführt. Ein Nachtarbeitsverbot für Jugendliche zwischen 20 und 6 Uhr enthält das Jugendschutzgesetz von 1938; entsprechendes gilt für werdende und stillende Mütter seit dem Mutterschutzgesetz von 1942. Ausführlichere Bestimmungen zur Beschäftigungszeit und -dauer sind im Mutterschutzgesetz von 1978 festgelegt. 1975 wird die Arbeitszeitverordnung geändert; ausführliche Bestimmungen zur täglichen Arbeitszeit sowie zur Lage der Arbeitszeit sind im Jugendarbeitsschutzgesetz von 1976 formuliert worden. Solche 110
Art Aufzählungen können durch ihre Unkommentiertheit oft suggerieren, es gäbe zu jeder dort bestimmten rechtlichen Norm auch nur eine einzige Art eines entsprechenden Verhaltens. Die nächtliche Arbeit müßte nahezu beseitigt sein, wenn dem so wäre. Der Umfang der Schicht- bzw. Nachtarbeit hat jedoch, mittelfristig gesehen, stark zugenommen.46 Ungefähr 3,6 Millionen von etwa 21 Millionen Arbeitnehmern insgesamt sind im Jahr 1975 in Schichtarbeit tätig; etwa 2,5 Millionen in Nachtarbeit und ca. 3,2 Millionen in Sonn- und Feiertagsarbeit.47 In anderen europäischen Industriestaaten zeigen sich sehr ähnliche Tendenzen. Der Anteil der nachts arbeitenden Frauen nimmt zu. Jüngere Schichtarbeiter sind häufiger im Dienstleistungsbereich, ältere relativ häufiger in der Industrie tätig. Zugenommen hat die Schichtarbeit besonders in den Dienstleistungsbereichen (seit 1959); eine relative Abnahme war im Bergbau und im öffentlichen Dienst festzustellen. In einigen Bereichen ist der Anteil der in Schichtarbeit Tätigen weit überdurchschnittlich hoch, etwa im Gesundheitswesen oder bei der Post;48 hier arbeiten meist auch besonders viele Frauen in Nachtarbeit. Für die einzelnen regelmäßig nachts Arbeitenden und oft auch für die dauernd in Schichtarbeit Tätigen ist diese Zeitverschiebung meist mit gravierenden persönlichen Belastungen, Nachteilen oder Schäden verbunden. Diese Tatsache wird im 19. Jahrhundert anerkannt. In unseren Tagen wird sie als ein zentraler Befund der Arbeitsverfassung gewürdigt,49 wenn auch eine umfassendere Erforschung der Wirkungs- und Interdependenzketten, die dazu führen, erst in den Anfängen steckt. Nachtarbeit ist ein gesundheitlicher Risikofaktor. Die Menschen, die regelmäßig nachts arbeiten, werden gezwungen, entgegen der 24-Stunden-Rhythmik ihrer Körperfunktionen zu leben und zu arbeiten. Diese Phasenverschiebung bleibt über die ganze Periode der Nachtschichtarbeit hin bestehen. Eine Anpassung dieser Rhythmik, eine Umkehrung dieser Tagesperiodik der physiologischen Funktio46 Soweit diese Entwicklung mit rechtlichen Regelungen im Zusammenhang steht, ähnelt die Praxis der zahlreichen Ausnahme- und Umgehungsregeln der in anderen vergleichbaren Bereichen (vgl. Treiber 1983). 47 Einen guten Überblick geben Münstermann et.al. 1982. 48 Bei der Post sind (1977) etwa 31,8 % aller Arbeitskräfte im Schichtdienst tätig; nach Angaben der Deutschen Postgewerkschaft sind es (1980) etwa 43 % (vgl. Becker et al. 1981: 28ff.). 49 Einen Überblick über das Entstehen der frühen Ermüdungserforschung gibt beispielsweise Hackstein 1977, Bd. 2. Lehrbuchmäßige Feststellungen über Nachteile aufgrund der dauernden Schicht- und Nachtarbeit finden sich z.B. in: Edholm 1967: 182ff.; Schnauber 1979: 210ff.; Stirn 1980: 135.
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nen findet nicht statt. Das umgebende soziale Zeitgebersystem, in dem die nächtlich Arbeitenden leben, ändert sich nicht mit. Es besteht nicht mehr starr aus den Impulsen, die etwa vom täglichen Hell-Dunkel-Wechsel ausgehen, an den Tiere stärker gebunden sind, sondern aus der Vielzahl von Einzelreizen und sozialen Signalen, wie sie z.B. ausgehen vom Ablauf der Mahlzeiten, der familiären Haushalte und der am Tage Arbeitenden. Zu der ungefähr auf einen Tag, circadian eingestellten Rhythmik gehören auch zahlreiche Körperfunktionen, die die menschliche Leistungsfähigkeit steuern. Sie ist normalerweise morgens größer als abends und nachts am geringsten. Nächtliche Arbeit und unter bestimmten Bedingungen auch jede Schichtarbeit geraten mehr oder minder direkt in die Phasen des individuellen Leistungstiefs. Und umgekehrt fällt der Tagesschlaf in eine Phase, in der die Menschen normalerweise aktivierungsbereiter sind und der Schlaf selbst stärker gestört wird. Der Tagesschlaf ist zudem meist kürzer; das relative Schlafdefizit der nachts Arbeitenden kann sich dadurch rasch vergrößern, wenn die Gelegenheiten, dies auszugleichen, über längere Zeiträume hinweg fehlen (ausführlicher: Rutenfranz 1978; Münstermann et.al. 1978; Rutenfranz 1979). Die Anpassungsmöglichkeiten der nachts Arbeitenden werden noch erschwert, wenn besondere Belastungen hinzukommen; am Arbeitsplatz etwa Lärm, Hitze oder hohe Ansprüche an die Feinsteuerung; außerhalb der Arbeit beispielsweise Hausarbeit und Kinderversorgung. Die Risiken und Beschwerden bestehen einmal besonders in Störungen der Nahrungsaufnahme, des Schlafes und der Leistungsbereitschaft. Und dann werden vor allem die gesamten sozialen Beziehungen zu denjenigen, die nicht in demselben Schichtarbeitsrhythmus leben, besonderen Belastungen ausgesetzt. Gegenüber dem Zeitschema, dem zeitlichen Programmablauf oder den Zeiten (Elias 1984a) der politischen, kulturellen oder sportlichen Einrichtungen, befindet sich das Zeitbudget der Nacht- bzw. Schichtarbeiter und -arbeiterinnen in einem tiefgreifenden Konflikt (Mott et.al. 1965); ohne besondere zusätzliche Freizeit entstehen hier fortdauernde Benachteiligungen. Dagegen sind die Beziehungen zum Zeitbudget etwa der Lebenspartner oder ggf. der Kinder nur dann nachhaltigen Störungen unterworfen, wenn es den Angehörigen nicht gelingt, sich ihrerseits an die Zeitzwänge der im Schichtbetrieb Tätigen anzupassen. Der Druck zu größerer Anpassungsbereitschaft wird unmittelbar weitergegeben an die Menschen, die mit den in Nacht-(Schicht-)arbeit Tätigen zusammenleben. Die Vorschläge zur Verbesserung der Lage der Schichtarbeiter umfassen ein sehr breites Spektrum von Maßnahmen (zusammengefaßt in: Münstermann et.al. 1978: 176ff.; Rutenfranz 1978: 34ff.; 1979: 71ff.; Becker et.al. 1981): Im Vordergrund stehen Versuche, die Arbeitszeitsysteme umzugestalten und in gegebenen Fällen zu optimieren. Mit Vorrang wird verlangt, die Dauernachtschichtarbeit zu verbieten. Das gilt besonders für Frauen. Für die Länge der Nachtschichtperioden sollen Höchstgrenzen festgelegt werden. Zahlreiche Vorschläge konzentrieren sich 112
auf die unmittelbare Ausgestaltung der Nachtarbeit selbst, auf das Verbot nächtlicher Akkordarbeit, den Einbau längerer Arbeitspausen, auf ärztliche Eignungsuntersuchungen vor der Einstellung und fortlaufende weitere Kontrolluntersuchungen, auf bessere Beleuchtung und Klimatisierung der Arbeitsplätze. Schließlich wird die bessere Sicherung des Tagesschlafs gefordert, bessere Wohnungen und geeignete Lärmabschirmung. Immer wieder wird darauf hingewiesen, in Schichtund Nachtarbeit Beschäftigte erst ab 25 Jahren einzustellen und nicht länger als bis zum 50. Lebensjahr dazu einzusetzen, besonders aber Frauen mit minderjährigen Kindern nicht zur Nachtarbeit heranzuziehen. Und natürlich richten sich viele Wünsche der Schichtarbeiter auf ein für sie geeigneteres Angebot kultureller Dienste, etwa Kindergärten oder Medienprogramme, sowie auf eine Umverteilung der Wochenarbeitszeit und der lebenszeitlichen, beruflichen Laufbahnplanung. Und immer wieder werden Vorschläge erneuert, die Härten der Schichtarbeit weniger durch Geldzuschläge als vielmehr durch mehr freie Zeit tarifvertraglich abzusichern. Viele dieser notwendigen Maßnahmen beziehen sich auf den Wandel der gesamten Lebensführung und auf Eigentümlichkeiten bestimmter Unternehmen und Branchen; einige haben, sobald sie verwirklicht sind, ihrerseits weitere Schichtund Nachtarbeit anderer Menschen zur Folge. Wie entstehen die zivilisatorischen Zwänge, auch nachts zu arbeiten? Schicht- und besonders Nachtarbeit ist unbeliebt, oft verhaßt. Dennoch fehlen durchdachte Vorschläge, sie abzuschaffen. Lassen wir die technologischen Anlässe und auch die ökonomischen, deren Kostenvorteile zudem oft schwer nachzuweisen sind (vgl. Müller-Seitz 1976; 1981), einmal außer acht. „Neben diesen technologischen und wirtschaftlichen Begründungen für Nacht- und Schichtarbeit werden heute die sozialen Gründe für die Einführung dieser Arbeitsform sehr häufig vergessen und verdrängt. Selbst Personen, die heftig gegen Nacht- und Schichtarbeit kämpfen, setzen oft als selbstverständlich voraus, daß ihre eigene Lebensqualität durch soziale Dienste in Krankenhäusern, öffentlichen Verkehrsmitteln, Flughäfen, bei der Polizei, im Gaststättengewerbe, in Rundfunkanstalten, Kraftwerken, Wasserwerken, Zeitungsredaktionen, Feuerwehren etc. gesichert wird. Die Erhaltung dieser Lebensqualität ist aber ohne Nacht- und Schichtarbeit anderer Personen nicht möglich; über die Abschaffung von Nachtund Schichtarbeit in diesem Bereich wird darum bemerkenswerterweise nie disku-
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tiert“, stellt ein Sachkenner fest.50 Auch andere Forscher, die die Fragen einzelner Bereiche, etwa im Pflegedienst, im Polizei- oder Postdienst genauer untersuchten (vgl. etwa: Karmaus 1979; Münstermann et.al. 1980; Becker et.al. 1981: 28ff.), erörtern nie die Abschaffungs-, sondern meist Verbesserungs- oder Kompensationsvorschläge. Die sozialen Gründe bestehen hauptsächlich in der weltweiten Verknüpfung zivilisatorischer Einrichtungen und den damit verbundenen Standardisierungen menschlichen Empfindens und Verhaltens.51 Mehrere Ebenen solcher globaler Verflechtungen lassen sich unterscheiden. Und man muß zum besseren Verständnis des Entstehens der Zwänge, die zum nächtlichen Arbeiten führen, auch die weitestreichende Ebene der Spannungen und Konflikte einbeziehen, in die Menschen im Atomzeitalter unausweichlich verwickelt sind, die Beziehungen zwischen den größten, den staatlichen Machtzentren (Elias 1981). Der Kreislauf von gegenseitiger gewaltsamer Bedrohung, von relativ hohem Gefahrenniveau und ständig hohem Affektivitätsniveau, erzeugt eine Zwangsapparatur, die sich im ständigen Betrieb der Spannungen zwischen Staaten fortsetzt. Die globale Interdependenz zwischen Staaten (Rosenau, J.N. 1980) (und Staatensystemen) verursacht und verlangt ein kontinuierliches, vielfach zeitgleiches Handeln von Menschen rund um den Erdball. Eine große Zahl von Waffen und Kommunikationsmitteln reicht um den Erdball. Weltweite Spannungen, Bedrohungen und die zugehörigen Mittel, sie zu übermitteln, bzw. das friedfertige Austragen der Konflikte zu garantieren, werden nicht unterbrochen, nur weil im einen Teil der Erde Nacht ist. Im ununterbrochenen Betrieb suchen Regierungen mit spezialisiertem Personal jene labilen Spannungsbalancen zwischen Staaten in Frieden zu erhalten, die eine Voraussetzung friedlicher, zivilisierter Kommunikation sind. Darüber hinaus erzeugt eine tendenzielle Verflechtung von Staatsgesellschaften eine Vielzahl neuartiger Kommunikationsmittel, die kontinuierlich rund um den Erdball in Betrieb bleiben. Zu den ersten wissenschaftlichen Studien des gestörten circadianen Rhythmus gehören daher die Untersuchungen von Fluggästen und Flugpersonal; mit Anbruch des Düsenflugzeitalters werden Verschiebungen zwischen dem persönlichen circadianen Rhythmus, der inneren Uhr jedes Einzelnen, und den jeweils ortsfesten Zeitsystemen zu Massenereignissen. Es handelt sich um das gleiche Problem wie bei den nächtlich Arbeitenden. Das eine Wandlungskontinuum des 50 Rutenfranz 1978: 9; ähnlich auch: Rutenfranz 1979: 71ff. Lebendige Studien über Teilbereiche des Nachtlebens bieten Cauquelin 1977; Melbin 1981 und Deverson 1966 51 Eine vorbildliche empirische Studie und zugleich ein dynamisches Entwicklungsstrukturmodell der interdependenten Entstehung alltäglicher Verhaltensnormen hat V. Krumrey 1983 vorgelegt.
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Zeitens, das aus den Geschehensabläufen jedes einzelnen lebenden Menschen besteht, verliert seine wohlausbalancierte Verbindung zu dem anderen Standardkontinuum sozialer Geschehensabläufe, auf das sich Menschen für einen bestimmten Ort oder eine Zeitzone verabredet haben. Zu den Voraussetzungen für das Finden besserer Anpassungsmöglichkeiten gehört ein tieferes Verständnis der sozialen Genese unserer Zeitbegriffe (Elias 1984a; 1982). Die Versuche, durch internationale Vergleiche von Zeitbudgets die Probleme der Nachtarbeit weiter zu analysieren (vgl. OECD 1973; Evans 1975; Maurice 1975), verwenden einen physikalischen Zeitbegriff, als sei der den lebenden einzelnen Menschen apriorisch angeboren wie in gleicher Weise den ganzen Gesellschaften, die sie zusammen bilden, inhärent. Durch das Zusammenzählen von Arbeitsstunden und -tagen verleiht der solchen Vergleichen zugrundeliegende physikalisch-mathematische Zeitbegriff den Anschein großer Sachlichkeit. Was im Kampf der Gewerkschaften um den Normalarbeitstag (Herkner 1923) und um die schrittweise Verkürzung der Wochen- und Jahresarbeitszeit nützlich gewesen ist, förmliche internationale Arbeitszeitvergleiche, trägt wenig bei zur Analyse der globalen zivilisatorischen Verflechtungszwänge. Sie lassen sich ohne eine tiefergehende Kenntnis der Entwicklungsstrukturen der globalen Interdependenzen von Staaten und Staatsgesellschaften kaum verstehen. Ihre weltweite Verflechtung und zivilisierende Funktion sind Voraussetzungen jedes friedlichen wirtschaftlichen Austausches. Nur, wo willkürliche Angriffslust und gewaltsamer Raub als alltägliche Beschaffungspraktiken gebändigt werden, kann sich ein friedlicher Austausch auf Märkten und schließlich auf Weltmärkten überhaupt entwickeln. Deshalb bleiben auch die Versuche, Probleme der Arbeitszeitverteilung allein auf der ökonomischen oder der technologischen Ebene zu untersuchen, unbefriedigend. Bisher konzentrierte sich die Schichtarbeitsforschung fast ausschließlich auf die Ebene von Betrieben. Sie waren alleinige Bezugseinheit fast aller Beobachtungen und Veränderungsvorschläge. Aber Betriebe erzeugen die sozialen Zwänge zum nächtlichen Arbeiten nicht allein aus sich heraus. Betriebe verwenden auch einen ganz mechanischen Zeitbegriff. Im Betrieb kann jemand sagen, „ich muß hier die Zeit nehmen“. Und jemand anderes kann fragen, „leihst du mir etwas Zeit?“ Denn dort kann die Zeit eine Ware, ein wirtschaftliches Gut, werden. Aber für sozialwissenschaftliche Analysen sind verdinglichte Zeitbegriffe, wie sie sich etwa im Sammeln von Schichtarbeitsplänen zeigen können, unzulänglich. Zeit wird von Menschen gesellschaftlich erfahren; d.h. auch, sehr verschiedenartig. Wie im Zusammenhang der gesamten Zivilisation wird auch hier die größere Rücksicht auf den relationalen Charakter der Zeitbegriffe erst zu einem wirklichkeitsnäheren Verständnis der Zwänge führen, die das nächtliche Arbeiten erzeugen.
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Einige Wandlungen des Schlafens „Die Nacht“ „Der Schlaf gibt neue Kraft; hilff, daß des Grabes Nacht, O Gott, auff jenen Tag mich freudig macht!
Einige Züge langfristiger Wandlungen des Schlafens lassen sich gut bekunden, vergleichen wir Auffassungen des 17. Jahrhunderts mit den Fragen des 20. Jahrhunderts. Für den gegenüber seinen Zeitgenossen so distanzierten Friedrich von Logau (von Logau 1870: 375) sind Nacht und Schlaf und Wiedergewinnen der eigenen Leistungsfähigkeit natürlich verbunden mit der Angst, aus der dunklen Nacht nie wieder aufzuwachen. Ähnlich formuliert Simon Dach in seinem schon oben genannten „Morgen-Lied“, das mit der Wendung beginnt: „Der nacht gefahr und grauen (...)“, in dessen zweiter Strophe (Dach, S. 1876b: 375): „Die Welt springt aus dem bette Zur arbeit, die sie kan, Es legt sich umb die wette Zugleich ein jedermann Mit kleid uns sorgen an.“
Im Wechsel von Schlafen und Arbeiten sind auch die Sorgen am Morgen wieder da. Sind sie nachts verschwunden? S. Dach unterscheidet, wie Menschen tagsüber zum ständigen Prüfen der Realität gezwungen sind, während des Nachts der „Traum der Hüter des Schlafes ist“, wie es S. Freud später einprägsam nennt. Dazu gibt es noch eine andere Komponente des Schlafes, über die Menschen des 17. Jahrhunderts sehr direkt sprechen, wenn sie ihre Bedürfnisse, ihre Standards des Empfindens und Fühlens ausdrücken. Der unerreichte Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1617-1679) schreibt (Hofmann von Hofmannswaldau 1968: 96): „Komm braune nacht umhülle mich mit Schatten Und decke den mit deiner schwärze zu Der ungestört sich mit sonnen gatten Und im bezirk der engel suchet ruh Ja hilff mein ach eh du noch wirst verschwinden Mit linder hand von meiner seele binden. Wie hör’ ich nicht willkommen mein verlangen! Schon im gemach mit leiser stimme gehn?
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Fühl’ ich mich nicht mit lilien umfangen Und mein Fuß auff diesen grentzen stehn Wo mir Celinde wird aus thränen lichen Aus flammen eiß aus bette himmel machen. So tilge nun o heldin! meine schmertzen Wirff mit dem flor die leichte zagheit hin Laß meine hand mit deinem reichthum schertzen und mich entzückt das schöne thal beziehn Da sich im thau die stummen lüste kühlen Und tag und nacht mit ihren farben spielen. Dein heisser mund beseele mich mit küssen Hilff wenn ich soll an dieser Brust versehrn Durch linden biß der flüchtigen narcissen Mir ausgestreckt die stille freude mehrn Und möchtest zu ja deinen krantz verlieren Solln perlen doch die schönen Haare zieren. Mein wort erstirbt Die seele will entweichen Ach laß sie doch in enger himmel ein Laß schiff und mast in deinen hafen schleichen Und deine hand selbst meinen leitstern seyn Du sollst alsbald die eingeladne gaben Nebst voller fracht statt der belohnung haben.“
Ähnlich selbstverständlich, noch anschaulicher, verbindet etwa Kaspar Stieler (1632-1707), der auch als Sprachforscher bekannt geworden war, sein Erleben der Nacht mit dem Schlaf, mit seinem geschlechtlichen Verlangen und der Erwartung, seine Appetenz schließlich zu befriedigen. Diese Erlebniseinheit ist den barocken Dichtern so selbstverständlich, wie sie den Schlafforschern gegen Ende des 20. Jahrhunderts fremd bleibt. Ein Gedicht Kaspar Stielers aus der „Geharnschten Venus“ beginnt: „Nacht-Glükke“ „Willkommen Fürstinn aller Nächte! Printz der Silber-Knechte Willkommen Mohn aus düstrer Bahn von Ozean! Diß ist die Nacht die tausend Tagen Trozz kan sagen: weil mein Schazz hier in Priapus Plazz’
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erscheinen wird zu stillen meine Pein. Wer wird wie ich wol so beglükket sein? (...)“
Und das Gedicht endet mit der fünften Strophe: „Was Schein ist das? die Schatten werden klar. Still! Lauten-klang mein Liebchen ist schon dar.“
Ein anderes, langes Nachtgedicht Stielers aus demselben kleinen Liederbuch beginnt (Stieler 1660: 200ff., 88ff.): „Nacht-last Tages-lust“ „Die Nacht die sonst den Buhlern fügt und süsse Hoffnung macht, Die Ruh die einem Liebenden sagt alle Wollust zu bringt mir nur lauter Schmerzen und raubet mir das Licht das meinem trüben Herzen des Trostes Straal verspricht. (...)“
Als ein täglicher Verhaltensabschnitt findet das soziale Erleben des nächtlichen Schlafens im arbeitsteiligen Kosmos der Wissenschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts keine Beachtung. In zahlreichen Sprachen wird Schlafen gleichgesetzt mit Kohabitieren, mit längeren erotischen Beziehungen, mit dem geschlechtlichen Verkehr. Das runde Drittel der Lebenszeit, das Menschen verschlafen, ist auch von modernen Sozialforschern kaum als Forschungsgegenstand aufgenommen worden (Ausnahmen versammelt: Gleichmann 1980a; 1980b). Zu den Fragen, die den barocken Dichtern das Nachdenken wert sind, zählen ihre Klagen über die Schlaflosigkeit. Und vielleicht sind hier trotz aller Pharmazeutika seit ihren Zeiten die geringsten Veränderungen zu beobachten, folgt man Simon Dachs Klagen (Dach, S. 1876a: 213 f; 1876b: 366f.):
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„Als er die ganze Nacht vor Engbrüstigkeit nicht geschlafen“ „Die Nacht, die unsre Sorgen Durch süßen Schlaf bezwingt, Ruft schon den lichten Morgen, Der sachtlich zu uns dringt; Der Sternen Glanz muß weichen Und macht dem Tage Bahn: Ich habe noch für Keuchen Kein Auge zugethan! Als Alles ist entschlafen, Kutsch’ ich mich gleichfalls ein, Weiß aber nichts zu schaffen, Zu ängstig ist die Pein; Und darauf schlag’ ich Feuer Und lese mit Verdruß; Weil ich mein Ungeheuer Nur so betrügen muß. Die Glocken hör’ ich schlagen zwölf, eines, zwei, drei, vier; Ich muß mich immer plagen, Kein Schlafwunsch hilfet mir. Mein Haupt sinkt oft danieder, Die Augen mach’ ich zu, Krieg’ Ohnmacht in die Glieder, Nicht aber etwas Ruh. Ist das nicht großer Jammer? Ein jedes hüllt sich ein Und schläft in seiner Kammer, Auch selbst der Mondenschein; Kein Windchen ist fürhanden, Der Pregel ruht begnügt, Auch schläft in seinen Banden Der, so gefangen liegt. Nur ich sitz’ über Ende und nehme mit Beschwer Mein Haupt in beide Hände Und winsle so daher. Sollt’ jemand jetzt mich schauen, Er hätt’ ob meiner Qual Mitleiden oder Grauen, Auch wär’ er harter Stahl.
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Erbarmt euch meiner Schmerzen, Ihr Aerzte, kommt zuhauf, Nehmt mein Noth zu Herzen; Schlagt eure Bücher auf; Was eurer Rath wird bringen, Auch wär es Gaßenkoth, ich will ihn in mich schlingen, So groß ist meine Noth. Ach, daß ich nur verdroßen Mach’ eure Wißenschaft! Ich hab’ umsonst genoßen So manchen Trank und Saft, mein Leid ist nicht zu heben, Es kriegt den Siegespreis, Ich muß verloren geben, Umsonst ist Kunst und Fleiß. Mein Fieber ist verschwunden, Mich hungert allgemach, Ich gebe den Gesunden Fast nirgends etwas nach. Mein Durst hat sich geleget, Nur daß der zähe Wust Die Athem kürz erreget In meiner engen Brust. Mein Amt muß ganz erliegen. Vielleicht läßt manches Maul Von mir ein Urtheil fliegen: Ich sei so arbeitsfaul. Gott laße mich genesen, So soll es kundbar sein, Was hie die Schuld gewesen, Die Krankheit oder Wein.
Etwa ein Drittel ihrer Lebenszeit verbringen Menschen im Schlaf. Sie müssen regelmäßig schlafen, um ihre Leistungsfähigkeit täglich wiederherstellen zu können; doch auch diejenigen, die nicht arbeiten, bedürfen des regelmäßigen Schlafes. In der Kindheit und Jugend ist der Schlafbedarf größer als im höheren Alter. Einige grundlegende langfristige Wandlungen der raumzeitlichen Bedingungen und Verhaltensstandards des Schlafens lassen sich kurz skizzieren. Wichtige Züge dieser Entwicklungsstrukturen des Schlafens können anhand schriftlicher und technischer Dokumente, von Zivilisationsgeräten, Bildern, Bauten, aufgezeigt werden. Und viele dieser Einsichten in die relative Gestaltbarkeit der menschlichen Schlafstandards werden durch die physiologische Schlafforschung bestätigt, die bestimmte 120
Schlafgewohnheiten, wie etwa den an ungefähr 24 Stunden gebundenen SchlafWach-Rhythmus, als erworbene Mechanismen kennzeichnet (Gleichmann 1980a; Kleitman 1939/1963). Bereits wenige Hinweise auf längerfristige Entwicklungslinien des Zivilisierungsprozesses, des menschlichen Selbstdomestizierens erhellen warum in der bisher letzten Phase der Zivilisation die besondere Lebensanordnung der Menschen beim Schlafen so von Empfindlichkeiten und Peinlichkeitsgefühlen besetzt ist und weshalb Bett, Körper und Schlafraum eine seelische Spannungs- und Gefahrenzone hohen Grades bilden. Gesonderte Schlafräumlichkeiten, die eine Trennung von anderen häuslichen Tätigkeiten, von anderen Hausbewohnern erlauben, entwickeln sich in den sozialen Schichten höchst unterschiedlich. Im Adel findet man schon im 18. Jahrhundert sehr stark differenzierte Raumgefüge, die stets und zu jeder Zeit einem Teil des höfischen Personals zugänglich sind; ähnlich im städtischen Patriziat. Alle zum Schlafen benutzten Räumlichkeiten sind – im Vergleich zu den Verhältnissen im 20. Jahrhundert buchstäblich vollgestopft, ein großes Durcheinander von Menschen. In vielen Teilen Europas schlafen bis ins 19. Jahrhundert die Bauernfamilien gemeinsam in einem Bett, Knechte und Mägde im Stall. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind soziale Distanzierungen zwischen Hausbewohnern und ihr Wohlstand so groß geworden, daß für jeden Menschen ein eigenes Bett, doch keineswegs immer auch ein eigenes Zimmer zur Verfügung stehen. Parallel dazu konzentrieren sich die erotischen und geschlechtlichen Aktivitäten stärker auf häusliche Räume, werden immer mehr verhäuslicht, bis Schlafen umgangssprachlich meist gleichgesetzt wird mit geschlechtlichem Verkehr. Der wachsende soziale Verflechtungsgrad zwingt die Menschen zu größerer Distanzierung, läßt es ihnen immer peinlicher erscheinen, den Schlaf anderer auch nur wahrzunehmen. Tendenziell werden fast das gesamte Sexualleben und daher alle Schlafräume den Blicken anderer entzogen. Damit entstehen aber auch mehr und mehr häusliche Räumlichkeiten, in denen zu schlafen nicht mehr als sozial geboten erscheint. Die deutlichere Konzentration des Sexualgeschehens auf Schlafräume und deren stärkere Abtrennung vom weiteren häuslichen Leben lassen schnell verständlich werden, warum etwa die tagsüber schlafenden Nachtarbeiter ein weit höheres Niveau von Empfindlichkeiten gegen Störungen antreffen und selbst entwickeln. Entsprechend der stärkeren Beschränkung des Schlafens auf Schlafräume verbleiben nur wenige Räumlichkeiten, etwa Pausen- oder Warteräume, in denen der Halbschlaf sozial geduldet oder geboten ist. Zu den eigentlich schlaffreien Hauszonen zählen nun besonders alle Arbeitsräume. Parallel dazu wandelt sich die Zeitstruktur des Schlafens. Neben den schlaffreien Räumen entstehen schlaffreie Zeiten. In Dörfern, die untereinander 121
nicht oder nur geringfügig interdependent sind, bestimmen der Wechsel der Jahreszeiten und das davon abhängige Ausmaß des Arbeitsbedarfes viel mehr den Umfang und die Perioden, in denen Schläfrigkeit und gelegentlicher Schlaf möglich und üblich sind. Dementsprechend fehlt ein allgemeiner Zeitbegriff, der Kalender enthält manche tote Zeiten. Der in unseren Tagen üblich gewordene global synchronisierte Rhythmus von Schlafen und Wachen über alle Staatsgesellschaften und Kontinente hinweg ist ein Ergebnis weltweiter sozialer Verflechtungen, weltumspannender Arbeitsteilung und Zusammenarbeit von Menschen. Er lässt besonders die größeren Betriebe, doch auch beispielsweise Schulen, zu Begrenzungszentren der Arbeitswelt werden. Sie erscheinen als unmittelbare Prägeinstanzen der meisten Zeitzwänge. Sie verkörpern weitgehend das soziale Zeitgebersystem für die Schlafenszeiten. Der ausgeprägte, sozial relationale Charakter der Schlafenszeitstruktur äußert sich in der deutlicher standardisierten Synchronisierung des gesamten Zeitsystems. Wer seine betriebliche Arbeit verliert, kann oftmals einen dramatischen Verfall seiner eigenen Zeitstruktur erleben. Doch nicht allein die Arbeitszeitsysteme, alle kulturellen Instanzen, wie etwa die Massenmedien, die gesamte Zivilisation –, sie fungieren jetzt als soziales Zeitgebersystem für unsere global synchronisierten Schlafperioden. Lassen sich zum Schluß wenigstens einige Facetten einer ungewöhnlichen Untersuchung über das Verhältnis von Nacht und Zivilisation zusammenfassen? Schrecken und Stille und dunkles Grausen, finstere Kälte, bedecken nicht mehr das Land. Der Nacht Gefahr und Grausen, wie sie Simon Dach einst beschwören musste, sie haben viel von ihrer allgegenwärtigen Bedrohung verloren. Die starke Abhängigkeit von den Naturereignissen des Nacht-werdens ist verringert worden. Zugleich wird das verhältnismäßig hohe Affektivitätsniveau der Menschen, ihre Ängste vor den Gefahren der Nacht, abgebaut und vermindert. Die Menschen des 17. Jahrhunderts verfügen nur über geringe Mittel, durch die sie sich von dem natürlichen Hell-Dunkel-Rhythmus unabhängiger machen könnten. Ihre Gefühlsbindungen an diese Vorgänge sind eng. Sie personifizieren die Nacht, sprechen sie mit einem Du an: „Ob du schon wickelst ein das halbe Rund der Erden/in dein berusstes Tuch, du schwarze, finstre Nacht,/(…)“ wendet sich Paul Fleming „An die Nacht“. Aber die gelehrten frühbarocken Schriftsteller verfügen doch über das Wissen ihrer Zeit, haben das geozentrische Weltbild aufgegeben und leben in der Kenntnis des heliozentrischen Weltsystems. Andreas Gryphius beschwört die Erinnerung an N. Kopernikus (1473-1543) und schwärmt (Gryphius 1880: 219): „Über Nicolai Copernici Bild“ „du dreimal weiser Geist, du mehr denn großer Mann, Dem nicht die Nacht der Zeit, die alles pochen kan, Die Sinnen, die den Lauf der Erden neu gefunden;
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Der du der Alten Träum’ und Dünkel widerlegt Und recht uns dargethan, was lebt und was sich regt: Schau, itzund blüht dein Ruhm, den als auf einem Wagen Der Kreis, auf dem wir sind, muß um die Sonnen tragen. Wann diß, was irdisch ist, wird mit der Zeit vergehn, Sol dein Lob unbewegt mit deiner Sonnen stehn.“
Im Vergleich dazu ist unser Wissen über die Naturvorgänge außerordentlich gewachsen. Das Dunkel der Nächte ist viel einfacher zu erhellen, die nächtliche Bedrohung vor der Gewalt anderer Menschen ist geringer geworden. Technik und Wissenschaft sind zentrale Bestandteile unserer Zivilisation geworden. Diese Wörter wurden selbst längst zu Ausdrücken, an denen sich das jeweils erreichte Niveau unserer Fähigkeiten ablesen lässt, aus den natürlichen Ereignisketten und dem sozialen Geschehen Synthesen bilden zu können, daraus ein Zusammenhangwissen zu formen, das es uns erlaubt, unsere Abhängigkeiten von Naturvorgängen tendenziell zu verringern um den Preis, stattdessen immer stärker von gesellschaftlichen Verflechtungen abhängig zu werden. Das gehört zur Dialektik des Rationalisierens; der Wissenschaftler, der auf einem Gebiet den Pegel der Rationalität des gesellschaftlichen Bewusstseins hebt, entdeckt zugleich neue irrationale Felder (Bahrdt 1971: 120). Was ist nun die Nacht? Nacht, der Zeitraum von Untergang der Sonne bis zum nächsten Aufgang. Am Äquator dauert die Nacht 12 Stunden, an allen anderen Orten ist sie je nach Jahreszeit länger oder kürzer und nur zur Zeit der Tag- und Nachtgleichen ebenfalls 12 Stunden lang. An den Polarkreisen dauert zur Zeit der Sonnenwende die Nacht 24 Stunden. Nach den Polen zu wird sie länger, am Pol selbst dauert die Nacht ein halbes Jahr. So und so ähnlich lauten viele Erklärungen um die Mitte des 20. Jahrhunderts (Der große Brockhaus 1955). Aber ist das die Nacht, die wir im 20. Jahrhundert erleben? Ist das die Nacht, um deretwegen wir so viele Techniken aufbauen, sie zu verkürzen oder aufzuheben? Wir haben eine genauere, vollständigere Bestimmung gesucht aus dem Gedanken heraus, dass in einer Gesellschaft, die bereits über vier Generationen Technik und Industrie zu ihren Hauptkennzeichen zählt, auch Sozialwissenschaftler mehr über die langfristige Entwicklung der Technik wissen müssen (vgl. Rürup 1982; ferner auch Jokisch 1982; Troitzsch et.al. 1980), wollen sie ihre Zeit wirklichkeitsgerechter verstehen. Wir haben den Begriff der Zivilisation seiner im Gruppenkampf üblichen, sozial abschätzigen Funktionen zu entledigen versucht und ihn
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allein zur Untersuchung interdependenter Entwicklungen verwendet. Die Nacht ist kolonisiert.52 Sie ist in die Reichweite der Zivilisation geraten. Unsere Abhängigkeiten von der Natur und von deren Schrecken sind ein wenig verringert. Stattdessen haben sich die Zivilisationszwänge vermehrt. Für die Möglichkeit, jederzeit und überall das elektrische Licht anschalten zu können, sind wir abhängiger geworden von weltumspannenden Energiekonzernen.
52 Diese anschauliche Metapher gebraucht Melbin 1981.
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7. Architektur und Zivilisation. Eine Skizze
1.
Häuser- und Städtebauen
Häuser und Städtebauen ist ein Teil unserer Zivilisation. Mehr und mehr schaffen sich Menschen eine Umwelt selbst. In dem Maße, wie sie ihr dabei auch eigene symbolische Bedeutung geben, nennen wir sie seit alters her in vielen Sprachen „Architektur“. Die Architekturentwicklung ist ein charakteristischer Teilbereich zivilisatorischer Vorgänge. Die möglichen Bedingungen einer relativen Autonomie des architektonischen Geschehens lassen sich aus dem Gesamtrahmen eines zivilisatorischen Prozesses heraus bestimmen. Das wissenschaftliche Wissen von diesen Zusammenhängen finden wir in den Zivilisationstheorien. 2.
Zivilisationsprozeß und Planungsprozesse
Für Menschen, die gewohnt sind, täglich zu „planen“ –, ist es oft schwierig, unterscheiden zu lernen zwischen Planungsprozessen und solchen Geschehensabläufen, die von Menschen bisher wenig beeinflußbar sind. Der Zivilisationsprozeß ist so ein „ungeplanter“ Prozeß. Er ist ein Teil der sozialen Evolution des Menschen. Ein einzelnes Gebäude mag „geplant“ werden. Die Gesamtentwicklung der Architektur oder der Verstädterung ist von niemandem „geplant“ worden. Dennoch lassen sich solche langen sozialen Wandlungen empirisch oft bestimmen. Planbare oder geplante Prozesse sind umgeben von „ungeplanten“, sozialen Geschehensabläufen. Dies zu begreifen, fällt Menschen schwer, die wie Ingenieure oder Planer ihre zielgerichtete Vernunft rational einzusetzen gewohnt sind. Zufallsgesteuerte soziale Prozesse begrenzen ihr kurzfristig bemessenes eigenes Tun: viele empfinden die Einsicht in derartige Grenzen als soziale Zurücksetzung – selbst dann, wenn sie den Glauben an eine Automatik des sozialen oder technischen Fortschritts aufgegeben haben. Wenn eine theoretisch interessierte Architekturzeitschrift fragt, ist gute Architektur wirklich gut? – unterstellt sie, es gäbe mehrere Maßstäbe des Messens. Es gibt nicht allein fachliche, innerberufliche Maßstäbe, Personen oder Sachen zu beurteilen. Es gibt auch umfassendere Geschehenszusammenhänge, an denen sich
Maß nehmen läßt. Innerhalb eines Faches müssen die Maßstäbe begründet werden. Und so sind auch umfassendere Maßstäbe theoretisch nicht willkürlich; wie das einzelne Ereignis in den ganzen Zusammenhang einzuordnen ist, wird vom Stand wissenschaftlichen Wissens bestimmt. Als „Theorien“ bezeichnet die Mehrzahl der Sozialwissenschaftler allein analytische Verfahren, um Wissen zu gewinnen. Für die Mehrzahl der Architekten sind „Theorien“ dagegen ein sehr viel älterer Wissenstyp. Sie verstehen darunter ein tendenziell normatives –, kunsttheoretisch gesprochen, kompositorisches Gestaltungswissen, ein manageriales Zusammenhangswissen für bauliche Produktionsprozesse. „Architekturtheorien“ sind viel älter als moderne analytische Wissenschaftslehren; sie enthalten in ihrem Kern kaum analytische dafür jedoch gestaltintegrierende Komponenten. Der Anteil „schweigenden Wissens“ (Polanyi 1985: 543) ist dabei groß; es ist zum Gestaltungshandeln erforderlich, daß es nie schriftlicher notiert wird. – Im Unterschied zu diesen beiden Theorietypen bedient sich der vorliegende Beitrag analytischer und synthesenbildender Verfahren. a) Zivilisationsprozeß Für die Vorgänge, die wir mit „Zivilisierung“ des Menschen umschreiben, haben Sprachen eigene Begriffe gefunden. Von Natur aus sind Menschen nicht zivilisiert, verfügen jedoch über Anlagen, die ihnen ein individuelles Selbstregulieren momentaner trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse oder deren Umleitung auf andere Ziele hin ermöglichen. Sie müssen Trieb- und Affektkontrollen im Sinne gesellschaftsspezifischer Zivilisationsmuster persönlich erlernen, um mit sich und anderen leben zu können. Im Umsetzen gesellschaftlicher (oder neutraler) Zwänge zum Selbstzwang (Elias 1986a, b, c) und im Erlernen einer individuellen Selbststeuerung im Sinne wandelbarer Zivilisationsmuster lassen sich soziale Universalien erkennen. Strukturelle Wandlungen der Fremdzwänge gehen von Veränderungen der gesellschaftlichen Machtzentren aus: Das Zentralisieren, schließlich das Monopolisieren der legitimen physischen Gewaltkontrolle innerhalb bestimmter Bereiche, der „Staaten“; das Überführen des gesamten Arbeits- und Lebenszusammenhangs der Menschen in „Städte“, die Verstädterung; die Fortentwicklung der gesellschaftlichen Produktionsmittel, etwa auf die Stufe der „Industrialisierung“; oder das Umstellen des gesamten menschlichen Weltbildes auf eine wissenschaftlich-technische Wissensentwicklung. Auch die Ausbreitung der Architektur, ihre Bauwerke, nehmen Einfluß auf Nähe und Ferne, auf Engagement und Distanzierung der Menschen. b) Im Verlauf der Zivilisation wandeln die Bauwerke ihre typische Differenzierung, ihre schutzbietenden und ihre symbolischen Funktionen. Die Mehrzahl der Behausungen wurde von den Bewohnern selbst hergestellt. Nur eine Minderheit von Bauten vor allem religiöser und weltlicher Herrschaft wurde unter 126
Zuhilfenahme fachberuflicher Kenntnisse errichtet. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wird schließlich in den meisten industriellen Staatsgesellschaften die überwiegende Zahl aller Bauwerke von beruflichen Spezialisten geplant und gebaut. Nun kontrollieren ähnliche Bauspezialisten – meist in staatlich-kommunalen Verwaltungen – die Pläne sowie die danach ausgeführten Bauten. Gleichzeitig sind die meisten Bauwerke, unbewegliche Sachen, „Immobilien“, zu Waren geworden. In manchen Fällen fungieren sie als „langlebige Konsumgüter“. Die Bereiche von Gebäudetypen und die relative Anzahl einzelner Bauwerke, die sogleich nach der Amortisation des in ihnen angelegten Kapitals wieder vernichtet werden, nehmen zu. Wo Bauten zu Produktionsmitteln werden – wie Geschäftsbauten oder Fabriken – wird ihre absolute Lebensdauer oftmals noch kürzer bemessen. Die Vorstellungen der Alten, ihr architektonisches Bauwerk diene dazu, das vergängliche Leben um Generationen zu überdauern, sind geschwunden. Der mit den Bauwerken verbundene Eigentumsbegriff hat sich gewandelt. Der überwiegende Teil der Wohnungen und die meisten anderen Bauwerke befinden sich in der Verwaltung von Wirtschaftsunternehmen oder staatlichen Organisationen. Dementsprechend haben sich auch die gefühlsmäßigen Bindungen des einzelnen an Bauwerke verändert. c) Entsprechend wandelt sich die soziale Position der Baumeister und Architekten. Vor allem die Wege vom mittelalterlichen Baumeister zum –, verkürzt gesprochen, akademischen „Freien Beruf“ werden gegen Ende des 20. Jahrhunderts betrachtet (Ricken 1977) unlinear. Im Grunde aber wandelt sich die gesamte Konfiguration der Menschen, die im Bauen etwas zu sagen haben, diese Aufgaben sind im 20. Jahrhundert auf mehr einzelberufliche Expertenpositionen hin ausdifferenziert, die Kompetenzen der eigentlichen „Architekten“ dafür nun – im Vergleich zum mittelalterlichen Baumeister – weithin eingeengt. Die Schicht der baukünstlerisch-technischen Intelligenz hat sich relativ vergrößert und dabei stärker differenziert. Einige ihrer Repräsentanten haben sich im Laufe von Generationen im Umfeld der Staatsspitze etabliert (Durth 1986). d) Woher stammen die Orientierungsmittel der Architektur? Die Denkweisen der Architekten, die baukünstlerischen Orientierungsmittel wandeln sich im Zuge der Zivilisation. Ob sich im Kern auch relativ wenig veränderte Elemente dieses Denkens finden, zeigt nur die Untersuchung längerer Zeiträume. Wenige Forscher, die sich einen Überblick zu verschaffen suchten, konzentrierten sich auf das Entstehen bestimmter Bauideale (Collins 1965), auf Eigentümlichkeiten architekturtheoretischer Autoren eines Jahrhunderts (Pevsner 1972) oder bestimmte gegensätzliche Ideale des Konstruierens. (Zucker) Doch wie, in welchem sozialen Spannungsfeld vollzieht sich diese Denkarbeit? In welcher Art von Denkgemeinschaften bilden sich 127
die zentralen Konzepte, die architektonischen Paradigmen heraus? Wenn das Denken der mittelalterlichen Kleriker und Baumeister treffend als „metaphysische Spekulation“ (von Simson 1972) bezeichnet wird, zeigt dies auch, wieviel unabhängiger und realitätstüchtiger Theoretiker gegen Ende des 20. Jahrhunderts denken; denn sie kennen keine heiligen oder verfluchten Zahlen mehr, folgen keiner zahlenmystischen Proportionslehre. Falls sie es dennoch tun, verwenden sie nun zur Spielerei ihr Wissen, welches ihnen eine moderne Baugeschichtsforschung zur Verfügung stellt und nicht der Umstand, daß sie gerade in ein Bauhüttengeheimnis eingeweiht worden wären. Neben den Erfinder-Ingenieuren und den Künstler-Erfindern der Renaissance, die selten schreiben, finden wir auch Stadt-Baumeister, Bildhauer-Architekten und bereits in früheren Phasen aristokratische Architekturliebhaber, die selbst selten bauen (Kostof 1987). Als Beispiel sei die „Akademisierung“ der Architektenausbildung, das Errichten eigener Bürokratien etwa unter Ludwig XIV. und Colbert genannt. Hier werden die architektonischen „Ordnungen“ nicht nur als Medium etwa der Symmetrisierung von Machtbalancen zwischen König und adligen Gruppen innerhalb der Hofhaltung oder als Abstand erheischende Kommunikationsmittel des Hofes gegenüber den des Lesens unkundigen städtischen und bäuerlichen Massen verwendet; Architektur wird auch physisches Gewaltmittel des werdenden Zentralstaates im Ganzen. Militär-Ingenieure und Militär-Architekten bauen Festungen. Hofbaumeister arbeiten für die Höfe Europas. Schließlich wird früh im 19. Jahrhundert eine Art polytechnische Ausbildung durchgesetzt. Dieses Modell dient in Frankreich und bald in den deutschen Staaten der Erziehung von technisch hoch qualifizierten Beamten. Mit dem Rückgang des adligen Einflusses in den meisten kontinentaleuropäischen Staaten, mit der Kommerzialisierung der Bau- und Bodenwirtschaft in den Städten und der Industrialisierung der Güterproduktion wächst die Zahl der Privatarchitekten. Sie planen für die aufsteigenden städtischen Mittelschichten und für den wachsenden Bedarf der neuen staatlich-kommunalen Behörden gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Miller Lane 1983: 517-560). Bauen und zugleich Schreiben, ein neuhumanistisches Ideal, wird jetzt zur „Waffe im Konkurrenzkampf“ (Hauser 1953) auch der Architekturkünstler. Im Gefolge der Urbanisierungsschübe entstehen in den Städten besondere Verwaltungen zur Kontrolle des „Städtebaus“. Die deutsche Stadtplanung um das Jahr 1900 sei die „fortgeschrittenste der Welt“ (Sutcliffe 1981). Hier ist die von Fachbeamten getragene Bürokratie besonders stark, das liberale Bürgertum dagegen vergleichsweise schwach. Die Denkarbeit der Architekten-Planer vollzieht sich im Umfeld staatlicher Machtzentren. Das erstmalige Erscheinen eines Gesamtüberblicks über die „abendländische Architekturtheorie“ im Jahr 128
1985 stellt die Erforschung der Denkzusammenhänge und der Denkarbeit der Architekten auf eine neuartige Grundlage. „Architekturtheorie ist jedes umfassende oder partielle schriftlich fixierte System der Architektur, das auf ästhetischen Kategorien basiert. Auch wenn die Ästhetik auf die Funktion reduziert wird, bleibt diese Definition gültig“ (Kruft 1985). – Leitet eine solche Formalbestimmung auch zugleich das Ende einer allein „ideengeschichtlichen“ Tradition ein? Wer wissen möchte, welche Denkmittel Architekten gegen Ende des 20. Jahrhunderts wirklich anwenden und benötigen, wird auf ihr tatsächliches Tun eher achten als ausgerechnet und allein auf ihre Schriften. Er wird das soziale Spannungsgefüge genauer zu bezeichnen haben, aus dem heraus die Blockade gegenüber beinahe jeder wissenschaftlichen Versachlichung architektonischer „Theorie“ entsteht. Von den Architekturschulen geht zum Ende des 20. Jahrhunderts ein entscheidender Einfluß auf die innerberufliche Theoriearbeit aus. In ihnen sind die maßgeblichen Lehrer zugleich Leiter von Planungsbetrieben. Das erzeugt eine Kette einseitiger sozialer Bindungen der Schulen und der Theoretiker an die Bauauftraggeber. Vitruv widmete seine „zehn Bücher“ dem Kaiser Augustus, C.N. Ledoux seine Hauptschrift dem Zaren. So müssen die modernen Denker ihre Bindungen an den Auftraggeber, den tatsächlichen oder den bloß ersehnten, nicht mehr öffentlich bekunden. Ihre Bindungen sind weniger direkt und weit komplexer. Sie machen sie nicht öffentlich. Als Lehrer können sie sie umfassender erforschen. Das böte jeglicher Theoriearbeit eine sachgerechtere wissenschaftliche Grundlage; dafür erhalten sie in meist staatlichen Schulen eine relativ große persönliche Autonomie. So könnten sie das Zustandekommen besonders der größten Bauvorhaben studieren, die technischfunktionale „Programmierung“ und die typische Verkettung von öffentlicher Meinungsbildung, finanzwirtschaftlichen und politischen Entscheidungsprozessen, die oft mit langen Kontroversen im Rechtssystem verbunden sind. Der ganze Bauprozeß, seine angeblich allein sachgesetzlicher Planung folgende Konfliktdynamik würde wirklichkeitsgerechter betrachtet werden. Er würde weniger nur normativ konstruiert und eher empirisch-analytisch untersucht werden; und wissenschaftlich untersuchen heißt dabei auch durchsichtiger und berechenbarer machen. Warum werden die vielen zufälligen und unbeabsichtigten sozialen Folgen beim Bau etwa von Wohnhochhausanlagen, (Schildt 1985) von ganzen Stadtteilen, (Kratzsch 1985) von Großflughäfen oder Atomkraftwerken (Radkau 1983) nicht als Element der Bauprozesse anerkannt und kategorial in die Prozeßmodelle aufgenommen? Damit könnte ein menschbezogenes Prozeßwissen die Theorien wirklichkeitsgerechter machen. Als gleichzeitige Betriebsleiter von Planungsbüros haben die Lehrer der Architektur ihr Wissen über die Wirklichkeit komplexer Bauprozesse zu129
rückzuhalten; im Unterricht etwa oder in den Architekturzeitschriften machen sie es nicht bekannt. Sie stehen in einer vielpoligen Abhängigkeitsfiguration. Einmal ist es Betriebswissen ihres Büros. Dann handeln sie als Sachwalter ihrer Auftraggeber. Schließlich haben sie es vor den Konkurrenten zu bewahren. Mit ihnen streiten sie um die Bauaufträge. Was also an schriftlichem bleibt, sei es normativistisches Konstrukt oder „persönliche Kunsttheorie“, mag den Kunstgeschichtsforschern zum Bewahren überlassen werden. Es hilft, andere in dem Glauben zu bestärken, das Architektendenken kreise vorwiegend darum, den richtigen künstlerischen Ausdruck zu finden und welche Option für welchen Stil jeweils zu ergreifen sei. Was für ein berufliches Image könnte den Baukünstlern willkommener sein? Doch die engagierten Beobachter, denen es gelingt, die gesellschaftlichen Funktionen architektonischer Bauwerke distanzierter von beruflichen Bindungen zu betrachten, werden es leichter haben, die Besonderheiten der Architekturentwicklung im zivilisatorischen Prozeß zu erkennen. 3.
Architektur und Zivilisationsprozeß
a)
Bauten und „Natur“kontrollen An erster Stelle wandeln sich die Chancen der Menschen auffallend, Bauten zu größerer Kontrolle über „Natur“ereignisse einzusetzen. Wer auf die „architekturtheoretischen“ Debatten zum Ende des 20. Jahrhunderts schaute, die Architekturzeitschriften durchblätterte oder sich in die neuesten Werke der Baugeschichte vertiefte, erführe davon wenig. Er könnte den Eindruck gewinnen, Fragen der zunehmenden „Natur“kontrollen spielten für moderne Architekten nur eine geringe Rolle. Das wäre ein vorschnelles Urteil. Vitruv, auf den sich die meisten Theoretiker über Jahrhunderte berufen, hatte einen Großteil seiner „Zehn Bücher“ den verschiedensten Naturproblemen gewidmet. Und noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts geben die großen Handbücher der Architektur den gelehrten Abhandlungen über Baustoffe, Heizung, Lüftung oder Entwässerung viel Raum. Für das Verschwinden des ganzen Problemkreises aus den „Theoriedebatten“ findet man mehrere Ursachen. In der etablierten Historiographie der Baukunst bleibt alles außerkünstlerische außerhalb der Betrachtung. In der bauplanerischen Praxis hat einer Verlagerung des Wissens über die Naturbeherrschung auf andere Produktionsstufen stattgefunden. Handwerker, industrielle Facharbeiter, Ingenieurwissenschaftler verfügen jetzt über dieses Wissen. Den Architekten bleibt bestenfalls die Aufgabe, dieses Wissen zu integrieren oder entsprechende Produkte zu koordinieren. Dennoch haben Architekten –, soziologisch pointierter ausgedrückt, eine ganz andere,
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sachgerechtere Anthropologie als etwa wort- und sprachgläubige Philosophen, Juristen und Soziologen. Besonders die großen soziologischen Theoretiker der „Kommunikation“ bestärken ihre Anhänger in dem Glauben, alle Menschen kommunizierten allein mittels der Sprache –, eine Anthropomorphie von Intellektuellen. Das Menschenbild der Architekten schrumpfte nie auf eine Figur zusammen, die gerade noch Sprache zu erzeugen und zu deuten vermag oder einzig durch „generalisierte Kommunikationsmedien“, mit der Welt verkehrte. Die Menschen des Architekten werden mittels baulicher Manipulationen in ihrer gesamten Sinneswahrnehmung beeinflußt. Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten – alles wird berücksichtigt. In den Architekturlehren finden wir prägnante Beispiele (Rasmussen 1959). Auch die kinästhetische Wahrnehmung und die fortwährende Aufgabe des Menschen, die Schwerkraft, Höhen und Wege überwinden zu müssen, bleibt ein Realproblem. Ein wahrer architektonischer Kult des Treppenkonstruierens und der Lenkung des aufrechten Ganges auf ideellen Lauflinien zeugt davon. Es gibt keine „Entwurfslehre“, die das nicht berücksichtigte. Doch vor allem werden Stoffwechsel und Vitalfunktionen tiefgreifend beeinflußt. Den Architekten obliegt die innerhäusliche Zuordnung von Orten und Geräten zum Zubereiten des Essens und zum Einnehmen der Mahlzeiten, der Bedingungen für den Schlaf und das Sexualgeschehen, für das Reinigen und Entleeren des Körpers. Der amerikanische Architekturhistoriker und -theoretiker James Marston Fitch hat als einer der ersten diese Zusammenhänge in einer naturwissenschaftlichen Sprache dargestellt und zur Grundlage seiner Kritik systematischer Baumängel gerade der herausragenden Beispiele des „Neuen Bauen“, etwa von F.L. Wright oder L. Mies van der Rohe gemacht. Fast zur selben Zeit verwendete der Architekturtheoretiker S. Giedion sein Ingenieurswissen, um die rasche Entwicklung der Haustechnik darzustellen. Inzwischen entsteht vielerorts eine „Baubiologie“, deren Vertreter sich lieber einer sozialen Bewegung anschließen, als eine lange architekturtechnische Entwicklung mit sozial- und naturwissenschaftlichen Kriterien fortzuführen. Doch die zivilisationstheoretische Fragestellung weist in eine andere Richtung, macht es erforderlich, den Blick stärker zu den Veränderungen des Menschen hinzuwenden, ohne ihn deswegen von der Haus- und Städtetechnik abwenden zu müssen. In der ärztlichen Rede von den „Zivilisationskrankheiten“, die vor allem durch den Gebrauch von „Zivilisationsgütern“ entstünden, schwingt umgangssprachlich noch etwas von diesen Veränderungen mit, wenn auch allein mit jener abwertenden Bedeutung, die der Begriff der Zivilisation im Gefolge von Denkern wie O. Spengler oder A.J. Toynbee und der durch sie artikulierten europäischen Untergangs- und Krisenstimmung erhalten hatte. 131
Mit dieser negativen Konnotation wird der ältere Begriff von denjenigen naturwissenschaftlich geschulten Denkern verwendet, die Schwierigkeiten haben, neben einer biologischen auch eine soziale Evolution des Menschen zu erkennen. Die vielen beobachtbaren Tendenzen, immer größere Bereiche des menschlichen Daseins in Häuser zu verlagern, hat der Verfasser deshalb den Verhäuslichungsprozeß genannt. Wahrscheinlich werden das Verhalten und die Befindlichkeit während der Arbeit oft durch haustechnische Mittel gesteuert, ob es sich nun um ein Homogenisieren des Sehraumes, Neutralisieren des Geruchsraumes oder ein Anonymisieren des jeweiligen Hörraumes handelt (Fritz, H.-J. 1982). Im Wohnen haben wir die Tendenzen zum Aussondern von häuslichen Bereichen untersucht, in denen das Schlafen sozial erlaubt oder geboten ist (Gleichmann 1980b: 14-19). Das Einbeziehen der Vorgänge der menschlichen Körperentleerung, das Verhäuslichen der Aborte, hat gleichzeitig zum Verbergen dieser Vorgänge und zum Erhöhen der Schamund Peinlichkeitsstandards geführt. b) Bauten und zwischenmenschliche Zusammenhänge Eine zweite allgemeine Frage dreht sich darum, wie mit Hilfe von Bauten die Kontrollchancen über zwischenmenschliche Geschehenszusammenhänge erhöht werden können. H. Linde und seine Arbeit über die Sachdominanz der Sozialstrukturen (Linde 1972) wird von der Mehrzahl der Sozialforscher gegen Ende des 20. Jahrhunderts wenig beachtet. Sie haben meist eine „Nur-Soziologie“ konzipiert, die von den naturalen und dinglichen Lebensbedingungen der Menschen absieht. Die großen Sozialwissenschaftler des 19. Jahrhunderts und auch einige der Geschichtsforscher sahen das anders. Sie hatten ihre Gesellschaftsmodelle noch nicht auf bloße „Interaktion“ oder „Kommunikation“ reduziert. Für Architekten ist die faktische Sachdominanz in sozialen Strukturzusammenhängen eine Tatsache. Ja, die meisten Architekten glauben, Steine, Gebäudeteile, ganze Bauwerke wirkten unmittelbar auf zwischenmenschliche Zusammenhänge ein. Sicher scheint wenigstens, daß der Umfang der menschlichen Bauten, ihre Schutzfunktion für Menschen, im Laufe der sozialen Evolution zugenommen haben. Gesellschaftliches Leben ohne dauernden Schutz durch Bauten wird in entwickelteren Abschnitten der Zivilisation unmöglich. Jedoch sind Einflüsse der Bauwerke auf soziale Zusammenhänge gesellschaftlich vermittelt. Und diese Tatsache wird von Architekten kaum beachtet. Gegenstände der Dingwelt, die praktisch alle Menschen benötigen, sind deshalb ein geeignetes Unterpfand vielfältiger Ausformungen der Sachherrschaft. In welcher Weise Menschen hier voneinander abhängig werden, läßt sich, vereinfacht gesagt, gut ermitteln, wenn man die Bedürfnisformel (Elias 1970a) anlegt und fragt, wie groß Art und Maß der Interdependenzen sind. Dann wird auch 132
der wirklichkeitsverfälschende Reduktionismus vieler Architekten offenbar. Ihr „Homo architectonicus“, ihr Menschenbild kennt jetzt in der beruflichen Praxis etwa der Bau-Programmierer allein den „Nutzer“ von Bauten. Das ist die verkürzende Idealisierung eines geschlechtslosen Quasi-Mieters aus der Sicht von Bauwerkseigentümern, konzipiert durch Architekten, die von diesen abhängig sind. Bauten sind Herrschaftsmittel. Wo diese Tatsache im Konzipieren von Bauwerken außer acht gelassen wird, sind die meisten Planungsfehler theoretisch schon angelegt. In Kürze lassen sich wenigstens drei eng miteinander verflochtene Prozesse verfolgen. Für das Ausweiten der Raumbeherrschung bietet die Entwicklung der Baukunst ein zentrales Beispiel. Dabei ist ein Hauptkennzeichen aller architektonischen Epochen die strukturelle Anthropomorphie der Bauwerke. Alle wesentlichen, diese Raumeroberung und spätere Raumkontrolle bezeichnenden Begriffe werden auf Eigenschaften und Gestalt des menschlichen Körpers bezogen. Die tatsächliche Ausweitung baulicher Raumbeherrschung läßt sich an der tendenziellen relativen Vergrößerung aller religiösen und weltlichen Herrschaftssitze veranschaulichen; religiöse Andachtsstätten und Grabmäler, Palast- und Gartenanlagen, ummauerte und befestigte Städte, schließlich architektonisch ummauerte Landstriche –, sie kennzeichnen die tendenzielle Ausweitung befriedeter Räume oder anders gesagt, die jeweils tatsächliche Reichweite legitimer physischer Gewaltmonopole, der „Staaten“. Praktische Raumbeherrschung und theoretisch artikuliertes Raumdenken der Menschen entwickeln sich nebeneinander, doch nicht immer gleichzeitig. Die mittelalterlichen Fernkaufleute, die ihre Warentransporte noch persönlich begleiten müssen, verfügen über ein Wissen von den Handelswegen, haben jedoch keine Raumtheorie. Die Architekten und Maler der italienischen Renaissance erfinden linearperspektivisch konstruierbare Darstellungen von Hausräumen und Baukörpern, die sie später auch ausführen (Edgerton jr. 1975). Ballistische Neuerungen, die allein auf handwerklichpraktischem Wissen beruhen, führen zu einem nie zuvor erreichten Komplexitätsgrad architektonischer Befestigungsanlagen. Der Machtzuwachs vieler europäischer Höfe unterwirft Menschen einem ständigen Drill im Ballett (zur Lippe 1974) oder im Militär, während gleichzeitig die politischen Köpfe des 16. bis 18. Jahrhunderts eine Eroberung von Wirtschaftsräumen planen (Dockès 1969), die sie nur mühsam zu kontrollieren vermögen, da die großen Verkehrssysteme, die den Wirtschaftsstaat erschließen könnten, noch nicht eingerichtet sind. Mit dem Entstehen von verhältnismäßig stabilen Territorialstaaten 133
wird auch das staatswirtschaftliche Raumdenken intensiviert (Läpple 1985: 1951). Etwa vom 19. Jahrhundert an werden die Theorien der Raumüberwindung mit der Entwicklung praktischer Systeme der Raumüberwindung stärker koordiniert. Diese „Theorien“ werden zu unentbehrlichen Hilfsmitteln der weiteren Raumbeherrschung. Doch gibt es auch Diskrepanzen zwischen dem menschlichen Handeln im Raume und einer kohärenten theoretischen Fassung dieser Vorgänge. Beispiele dafür finden wir im Raumgeschehen unserer Städte. Das Anthropometrisieren der gebauten Umwelt ist ein Vorgang, der so alt ist, wie der Mensch von Architektur spricht. Anfänge sehen wir in den liturgischen Ritualen, in den Enfilades, den ersten „Auffädelungen“ der Raumfluchten in Ritterburgen, in Höfen und Palästen. Auf dem Höhepunkt des patrimonialen Fürstenstaates sind dessen sämtliche Bauwerke und Architekturräume achsialisiert und mehrseitig symmetrisiert. Sie entsprechen damit den Achsen und den zweiseitigen Symmetrien im Körper des Menschen. Wer die Gebäude angemessen nutzen will, muß diese fremden Zwänge der Hausherren in Selbstzwänge umsetzen. Mit der allmählichen Etablierung der Territorialstaaten im 19. Jahrhundert und vieler einzelner Verwaltungszentren werden schließlich sämtliche Bauwerke vom staatlichen Machthandeln durchdrungen und anthropometrisiert. In den Zeugnissen von der Entwicklung des Denkens der Architekten haben sich diese Vorgänge niedergeschlagen. Vergleichen wir etwa deutsche Bauvorlagenbücher des 18. Jahrhunderts mit dem in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts sehr verbreiteten Werk von L. Klasen über die „Grundriß-Vorbilder von Gebäuden aller Art“ und schließlich mit der 1936 zuerst erschienenen „Bauentwurfslehre“ von E. Neufert. Die Bautypen im 18. Jahrhundert sind nach herrschaftlichen und ständischen Gesichtspunkten gegliedert. Am Ende des 19. Jahrhunderts sind auch die neuen Bautypen, Arbeiterwohnhäuser, Geschäftsbauten oder Fabriken mehrseitig symmetrisiert. Und in der weltweiten Verbreitung der „funktionalistischen Gebäudelehre“, wie sie der in viele Sprachen übersetzte „Neufert“ repräsentiert, sind Ansätze zu einer globalen Architekturlehre enthalten. Sie konnte so akzeptiert werden, weil sie auf die „Kulturbedeutungen“ keine Rücksicht nahm und sich allein auf die Physiologie, die Masse und die Bewegungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers gründete. Natürlich haben alle Gebäude weiterhin „Kulturbedeutungen“, wie Max Weber dies genannt hätte. Nur, wo die architektonischen Funktionalisten davon ausgingen, diese – sagen wir jetzt besser: symbolischen Be134
deutungen würden wie automatisch aus den „Funktionen“ erwachsen, waren sie im Irrtum. Der Prozeß der Architektonisierung des menschlichen Verhaltens ist wenig erforscht; wir sprechen davon immer dann, wenn typisch neue Gebäudeelemente in ein in seinen handlungsbegleitenden Bedeutungen bereits bekanntes und gewohntes architektonisches Bedeutungssystem eingeführt werden. Das Verwenden der jeweiligen Neuerung muß stets eingeübt und meist sprachlich erläutert werden, damit es ein konsistentes Element eines bereits eingelebten Handlungszusammenhangs werden kann. Die lange Entwicklung des Bauens kennt viele solche Beispiele. Die Neuerungen in der Haustechnik kennzeichnen besonders das 19. Jahrhundert, etwa das Einführen von Wasser, Gas, Elektrizität, von neuen Beleuchtungsoder Transportsystemen in das Innere der Baukörper. Das relative Größenwachstum der Hausbauten in horizontaler und vertikaler Richtung kennzeichnet wohl die Bauentwicklung des 20. Jahrhunderts; Menschenansammlungen von einer Größenordnung, wie es sie bisher nicht auf einmal in einem einzelnen Gebäude gab, sind die Folge. Nun muß sich jeder einzelne erst an die Häuser gewöhnen. Zu einer Hauptaufgabe wird es jetzt, die eigene Orientierung in dem Baugefüge zu erlernen. Informationssysteme, Wegweiser, Piktogramme dienen dazu, die innerhäuslichen Wege besser zu finden und dieses Wissen in die eigene „cognitive map“, das gedankliche Merkbild der Wegesstrukturen aufzunehmen. Verhäuslichungstendenzen Wir beobachten eine langfristige Verlagerung von immer mehr menschlichen Tätigkeiten in Häuser. Mit dem Wort „Haus“ bezeichnen die meisten Sprachen stets eine Einheit, ein Ganzes, das aus mehreren Teilen besteht. Danach sind „Häuser“ immer Bauwerke und soziale Gebilde zugleich. Der Ausdruck „Verhäuslichungsprozeß“ bezieht sich daher stets auf wenigstens zwei analytisch unterscheidbare Vorgänge, die miteinander eng verflochten sind. Einmal errichten, unterhalten und vermehren Menschen Bauwerke; Schritt für Schritt werden nahezu sämtliche Tätigkeiten des Menschen (einschließlich größerer Teile der naturalen Güterproduktion) in den Bereich von Häusern verlagert. Und zum zweiten wandelt sich damit die gesamte Macht- und Kontrollstruktur von Menschen. 135
Für den ersten Teilprozeß finden wir viele Beispiele. Mit dem Übergang von der Landarbeit zur Industriearbeit ist die Mehrheit der Menschen nicht mehr unter freiem Himmel, sondern in Werkstätten, Büros, Fabriken und anderen Bauten tätig. Aber auch alle Kinder müssen sich jetzt einen vergleichsweise zunehmenden Teil ihres Lebens in Gebäuden aufhalten. Zwei Vorgänge bewirken das vor allem, die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht und die Ausdehnung der Schulpflicht auf immer mehr Lebensjahre. Aber was geschieht in dem zweiten Teilprozeß? Die ökonomischen Klassiker und später auch die Geschichtsforscher untersuchten das Entstehen des „Kapitalismus“, der „Industrialisierung“, der „Rationalisierung“ oder der „Märkte“ der Welt. Dabei sahen sie hauptsächlich auf die Prozesse der Teilung der Arbeit und der überkommenen Hauswirtschaften. Aber wie werden Menschen, in welcher Art von Sozialverhältnissen in Bauwerken wieder zusammengefügt? Derartige Fragen haben weit weniger Beachtung gefunden. Es bildeten sich zwar Einzelwissenschaften heraus, die sich mit der betrieblichen Ordnung oder der Geschichte der modernen Familie befaßten; auch entstanden technische Wissenschaften, um Bauwerke zu errichten. Doch die Fragen des Strukturwandels der Hausherrschaft gerieten in die Randzonen des wissenschaftlichen Interesses (John 1982). Ähnlich wurden die Wandlungen des Eigentumsbegriffes und vor allem des Eigentümerverhaltens von den Wissenschaften vernachlässigt. Ganz anders sehen das Menschen, wenn sie Bauwerke benutzen. Sie erfahren einen ganz bestimmten Kanon meist recht klarer Verhaltensgebote oder -verbote. Das Risiko des einzelnen, durch sein mögliches Abweichen von den innerhäuslichen Verhaltensstandards sich selbst, einem anderen oder den Eigentümern zu schaden, wird meist durch Versicherungen abgedeckt. Anders sehen das auch alle die, die am Planen, Bauen, Einrichten oder Reinigen von Bauwerken beteiligt sind. Sie kennen die Aufgaben des Häuserverwaltens recht genau. Sie gehören zu ihrem stillschweigenden Berufswissen (Polanyi 1969), ohne dessen Verwendung die Gebäude auf längere Sicht hin funktionsuntüchtig werden würden. Was ändert sich? Auf der Ebene des Verhältnisses von Menschen zu sich selbst sehen wir, wie die einzelnen Körperfunktionen im Hause auf besondere Art vergesellschaftet werden. Das Abtrennen von Schlafräumen zum Beispiel, das Einrichten von eigens zum Schlafen benutzten Räumen, verläuft parallel mit der Ausbildung häuslicher Zonen, in denen es nicht (mehr) erlaubt ist zu schlafen (Gleichmann 1983a). Innerbetrieblich genauere Kontrollen etwa des Arbeitsverhaltens erlauben dem einzelnen nicht mehr zu schlafen, während er früher auf dem Lande etwa durchaus länger im Halbschlaf verweilen durfte. Oder, die Vorgänge der Körperreinigung und -entleerung werden ins Haus verlegt, während zugleich jeder einzelne „an die Kanalisation angeschlossen“ wird und damit sehr genauen 136
c)
Verhaltensvorschriften unterworfen, die von „Entwässerungsämtern“ bestimmt werden. Auf der Ebene der Beziehungen zwischen den einzelnen Menschen ist das naheliegende Beispiel für neue Integrationsvorgänge im Zuge der Verhäuslichung vor allem der Wandel der familiären Hausherrschaft. Der pater familias der älteren geschlossenen Hauswirtschaft verliert seine Funktion weitgehend. Die Arbeitsaufgaben werden in getrennten Betrieben integriert. Seine Hausherren-Gewalt beziehungsweise oft auch seine Rechtsprechungsaufgaben gehen über das an das staatliche Rechtssystem. Seine Aufgaben, für den Unterhalt jedes Mitgliedes des „Hauses“ zu sorgen (und umgekehrt, später im Alter selbst dort versorgt zu werden) gehen weitgehend über in das sozialstaatliche System. Seine – wie auch immer gering entwickelten – Aufgaben der Kindererziehung, werden allmählich an staatliche Schulsysteme übertragen. Bauten und die Kontrolle jedes einzelnen über sich selbst Im Laufe der Zivilisation haben Bauwerke mehr und mehr ihre magischen Bedeutungen verloren; dennoch haben sie zahlreiche symbolische Funktionen für Menschen. Mit Zivilisierung bezeichnen wir vor allem die Vorgänge, durch die die momentanen trieb- und affektbedingten Verhaltensimpulse des einzelnen mehr und mehr seiner individuellen Selbstregulierung zugänglich gemacht und unterworfen werden. Bauten dienen hier vielfältigen, auch ambivalenten Zwecken. Oft verkörpern sie buchstäblich jene „Kulissen des gesellschaftlichen Lebens“, hinter denen verschwindet, was den Blicken anderer verborgen bleiben soll. Stets wandeln sich die Gefühle, die wir mit Bauten verbinden. Je unkontrollierter für Menschen ein bestimmter Geschehensbereich ist (Elias 1969), um so affektiver ist ihr Denken über diesen Geschehensbereich, und je affektiver, je phantasiegesättigter ihr Denken über diesen Geschehensbereich ist, um so weniger sind sie in der Lage, sich sachgerechtere Zusammenhangsmodelle dieser Vorgänge zu bilden und dementsprechend die Zusammenhänge in höherem Maße zu kontrollieren. Menschen, die überhaupt keine Chance für sich sehen, auf bestimmte Bauwerke selbst gestalterisch Einfluß zu nehmen, trachten oft voller Wut und Zorn danach, diese Bauten zu beschädigen. Andere, die aufgrund ihres beruflichen Wissens als Planer die strukturelle Wandlungsmöglichkeit selbst der größten Bauwerke, deren Gestaltbarkeit, ohne Mühe nüchtern zu beurteilen verstehen, beginnen vernünftig zu planen, weil sie auf Änderungen Einfluß nehmen können. Die im Affekt vollzogene Gewalttat der anderen findet bei ihnen wenig Verständnis.
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Bauten erträumen und planen Viele Paradiesvorstellungen enthalten auch architektonische Wunschbilder. Vorstellungen vom verlorenen Paradies zeigen sich in den Architekturlehren von der „Urhütte“ (Rykwert 1872), aus der alle Baukunst entstanden sein sollte. Wunscharchitekturen finden wir in den Märchen, in der Dichtung (Goebel 1971) und besonders in der Malerei. Bauten, die eine bessere Welt abbilden (Bloch, E. 1959a), bestimmen die Paradieshoffnungen vor allem derjenigen, denen es so schlecht geht, daß sie diese nur im Jenseits anzusiedeln vermögen. Sie haben ihre Bauphantasien und Behausungswünsche zu wenig unter Kontrolle. Deshalb sind die Schritte, die zu den Vorstellungen von machbaren Paradiesen (Hahn 1976) führen, auch Schritte in der individuellen Selbstregulierung von momentanen affektbedingten Verhaltensimpulsen; sie werden auf sekundäre Triebziele umgeleitet. Die Entwicklung von magisch-mystischen Bindungen zu religiöser Symbolik der Bauwerke zu Wunschgebilden utopischer Art ist nicht ein bloßer Wechsel der „Weltbilder“ –, so mechanisch wie etwa die Bildfolge einer Diavorführung, sie ist Ausdruck tiefgreifender Wandlungen, die eigenen Handlungsimpulse stärker unter die Kontrolle jedes Individuums zu bringen. Der Stadtentwurf im „Utopia“ des Thomas Morus und die vielen anderen Idealstadtpläne (Rosenau, H. 1959) sind nicht mehr bloße Wunschbilder; sie werden mehr und mehr „machbare Paradiese“. Die Stadterweiterungen etwa von Amsterdam im 17. Jahrhundert werden religiös benannt als „Land der Verheißung“ oder „gelobtes Land, doch mit größter Rationalität entworfen (Taverne 1978). Und deutlich enthalten die „Stadtplanungen“ noch des 19. und 20. Jahrhunderts solche gefühlsbetonten Wunschvorstellungen. Symbolische Willkür der Baukünstler und Institutionalisten des Kunstwissens? Zwei miteinander verflochtene Prozesse fallen besonders auf. Der Zuwachs an relativer beruflicher Autonomie der Architekten, einer „profession atomisée“ (Moulin 1973) wird erkennbar auf immer enger gefaßte Felder der beruflichen Kompetenz eingegrenzt –, im Kern gestalterische, ästhetische Fragen. Die meisten Aufgaben einer besseren „Natur“kontrolle, die bautechnischen Arbeiten gehen an Industrie- und Ingenieursspezialisten über. In der Entwicklung des Architektendenkens gegen Ende des 20. Jahrhunderts zeigen das die „Theorien“ deutlich. Die meisten akademischen Theorien richten sich auf einzelne Aspekte des Bauens, besonders etwa auf deren „Zeichen“charakter, auf Analogien mit der „Sprache“, auf die „psychische Wahrnehmung“ –, die dann meist allein die visuelle Wahrnehmung meint, auf „gestaltungspsychologische“ 138
oder ästhetische Seiten des Bauens. Eine andere Gruppe befaßt sich mit der organisatorischen Ausgestaltung der managerialen Arbeitsprozesse der Architekten. Das sind jetzt Entwurfs- oder Planungstheorien. Weitaus die Mehrzahl der anerkannten praktisch tätigen Architekten folgt rein persönlichen Architekturtheorien (Prak 1984). Sie nutzen, anders gesagt, den angewachsenen gestalterischen Spielraum „symbolischer Willkür“ so weit wie irgend möglich für ihre persönliche stilistische Freiheit aus (Bourdieu/Passeron 1970a). Bereits im 19. Jahrhundert finden wir große Architekten, die zugleich Erforscher der Baugeschichte sind. Erst die sorgsame Ansammlung und Veröffentlichung aller „Baustile“ machte es den Architekten möglich, über dieses Gestaltungswissen beliebig zu verfügen. Dieses Wissen auf Dauer zu sichern, die Kunstgeschichte zu institutionalisieren (Dilly 1979), wird daher zu einer wichtigen Voraussetzung für die „gestalterische Freiheit“ der Architekten. Die große Mehrheit der Menschen steht diesen baulichen Ergebnissen gestaltsymbolischer Willkür der Architekten mit wenig Verständnis gegenüber. Und das, „la distinction“ (Bourdieu 1982), das Hervorheben der Unterschiede, des Abstandes der „Bauherren“ zu allen anderen scheint die eigentliche Funktion der geschmacklichen Willkür zu sein. Die stilistisch irrationalen Züge dienen den anerkannten Architekten, die für die Machtelite planen, die sozialen Distanzen zu schaffen zu denjenigen, denen die „Zeichensprache der Architektur“ wenig bedeutet (Reinle 1976). Doch diese „Bedeutungen“ stecken nicht in den Dingen, den Bauteilen; sie werden ihnen von den Menschen gegeben. Deshalb wird ja die Mehrzahl der neohistorischen Bauten der Gegenwart ästhetisch so bedeutungslos. Wir können der Masse der älteren, neu verwendeten Bauformen keinen klaren Sinn beimessen und schon gar keinen Sinn, der von der Mehrzahl der Menschen gemeinsam anerkannt werden könnte. Weltweite Verstädterung und globale Architekturtheorien Im Zuge weltweiter Urbanisierungsprozesse sind Tendenzen verstärkt worden, Städte regelrecht zu planen. Die dauernde Einrichtung einer staatlichkommunalen Stadtplanung war bisher dort am erfolgreichsten, wo sich die Machtbalancen zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft deutlich zugunsten einer staatlichen Übermacht entwickelt hatten. War das Wirtschaftsbürgertum stärker, entstanden nur schwache Ansätze einer etablierten Stadtplanung (Sutcliffe 1983). Und wo schließlich junge Staaten erst entstehen, mag es wohl umfängliche Verstädterungsvorgänge geben, eine gesicherte Stadtplanung fehlt jedoch. 139
Dennoch gibt es weltweit übereinstimmende Regeln des Städteplanens. Sie betreffen vor allem die Gebäudesicherheit, die Belichtung, den Feuerschutz, die Gebäudeabstände und ähnliches. Diese Regeln des Bauens sind weitgehend verrechtlicht. Jeder Bauwillige, jeder Bauplaner hat sie zu erlernen und zu befolgen. Hier finden wir eigentlich universale Regeln der Baukunst. Ihr Nichtbefolgen kann durch die Rechtsprechung geahndet werden. Für die Architekten, die diese Regeln überall erlernen müssen, wirken sie als geheime Architekturtheorie, die zugleich ihre persönliche Willkür begrenzt.
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8. Sich ein Bild machen von Zugängen zur Soziologie?
„Ob solche Synthesis (von Raumgefühl und Zwecken) gelingt, ist wohl ein zentrales Kriterium großer Architektur. Diese fragt: wie kann ein bestimmter Zweck Raum werden, in welchen Formen und in welchem Material; alle Momente sind reziprok aufeinander bezogen, Architektonische Phantasie wäre demnach ein Vermögen, durch die Zwecke den Raum zu artikulieren, sie Raum werden zu lassen, Formen nach Zwecken zu errichten. Umgekehrt kann der Raum und das Gefühl von ihm nur dann mehr sein als das arm Zweckmäßige, wo Phantasie in die Zweckmäßigkeit sich versenkt. Sie sprengt den immanenten Zusammenhang, dem sie sich verdankt.“ (Adorno 1967: 118f.)
1. SozialwissenschaftlerInnen beanspruchen gemeinhin, soziale Wirklichkeiten abzubilden. Und wie sie das dann tun? Sie sprechen oder sie schreiben darüber. Und das genügt ihnen als Mitteilungsmittel. Sie benutzen allein die Sprache. Die sozialen Wirklichkeiten der Menschen werden aber mit sämtlichen Sinnesorganen wahrgenommen und auch erzeugt. Stets tritt auch das Erinnerungsvermögen hinzu. Ich möchte deshalb an einem Beispiel die tatsächliche soziale Vielperspektivität der Menschen zeigen; wie finden sie Zugänge zur Soziologie? Wie können sie sie wahrnehmen? Was für ein Bild machen sie sich davon? Diesen Aspekten gehe ich im folgenden genauer nach. Mein Fragenbeispiel lautet: Wie machen Menschen sich ein Bild von Zugängen zur Soziologie? Die sozialwissenschaftliche Wiedergabe der tatsächlich vielperspektivischen sozialen Wirklichkeit hat aber zumindest in vielen europäischen intellektuellen Traditionen noch mit einer anderen Schwierigkeit zu kämpfen; denn dort war Jahrhunderte lang und ist es meist immer noch üblich, sich allein sprachlich mitzuteilen. Viele heutige SozialwissenschaftlerInnen leiten ihr Denken und ihre wissenschaftliche Verständigung immer noch weiter von der Philosophie ab – vom „Philosophieren isoliert denkender Individuen“. Sie vermögen nicht die anderen Ausdrucks- und Wahrnehmungsorgane der Menschen in ihre sozialwissenschaftliche Arbeit einzubeziehen, und sie lassen deren Funktion für die Einschätzung aber auch für das Erzeugen sozialer Wirklichkeiten dann meist gänzlich außer Acht.
Dieses Verkürzen gegenseitiger wissenschaftlicher Verständigung auf das allein sprachlich Kommunikable mochte früher noch genügen; es ist entstanden und es hat Geltung behalten, solange zahlenmäßig extrem kleine Menschengruppen allein über die „Schriftsprache“ verfügt haben. Für diese älteren Bildungsschichten, aus denen Theologen, Juristen oder Philosophen meist stammten, genügte diese Schrift- und Hochsprache völlig. Sie verkehrten und kommunizierten in relativ einheitlichen Symbolwelten. Und sie tauschten sich meist auch ganz persönlich direkt aus. Zudem haben sich viele dieser „Gebildeten“ persönlich stets auch noch mit anderen künstlerischen Mitteln auszudrücken vermocht. Ob Patrizier, Adlige, Theologen oder bürgerliche Schriftsteller, viele haben als „Amateure“ oder „Dilettanten“ etwa zeichnend oder malend sich mitteilen können; das gilt jedenfalls für die meisten europäischen Staatsgesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Und in der ersten Hälfte des zwanzigsten ist es häufig auch noch zu finden. Industrialisierung und besonders die damit einhergehende „Professionalisierung“ vieler der alten akademischen Berufe haben solche Fertigkeiten stärker eingeengt. Das Wissen wird immer stärker spezialisiert. Es engt auch die Perspektiven vieler Menschen ein. Das analysierende Vorgehen beim Erkenntnisse-Suchen dominiert; dem Synthesenbilden, einst Primat der Intellektuellen, begegnet man mit immer größerer Skepsis. Das gilt auch für Sozialforscher. Die Mehrzahl von ihnen bevorzugt nun als „Spezialisten“ das immer enger gefasste Analysieren. Und die verhältnismäßig wenigen, die es mit dem Synthesebilden versuchen, leiten sich meist vom Philosophieren ab. Um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert haben sich die Ausdrucksund Wahrnehmungsmöglichkeiten tiefgreifend verändert. Das gilt für die meisten Menschen und ganz besonders für die meisten akademischen Berufe. In vielen Ländern der Erde kann die Mehrzahl aller Menschen lesen und schreiben. Ein rasches Dominantwerden visueller Massenkommunikationsmittel hat die Verständigung hin zu den bildlichen Mitteln verschoben. Auch die meisten Wissenschaften bedienen sich inzwischen visueller Hilfsmittel zum Darstellen der Ergebnisse. Zum Analysieren mancher Sachverhalte sind sie vielfach unerlässlich geworden. Selbst in der Soziologie haben bildhafte Darstellungen bisweilen Eingang gefunden.53 Im Unterricht etwa vereinfachen sie und erleichtern sie meist das Verständnis von
53 Vgl. etwa das relativ reich bebilderte, neue, umfängliche Lehrbuch von Anthony Giddens (1997).
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Fragestellungen. Sogar soziologische Fachzeitschriften bedienen sich gelegentlich bildhafter Darstellungen.54 2.
Was kann man auf einem Bild sehen?
Nehmen wir beispielsweise ein bestimmtes „historisches“ Gebäude, erkennen wir bald, wie unterschiedlich sich Menschen davon ein Bild zu machen vermögen. Die meisten gehen wohl achtlos daran vorbei. Ortskundige wissen etwas öfter von der Geschichte des Bauwerkes. Andere können es mit einfachsten Mitteln abbilden und für wieder andere erkennbar wiedergeben; das habe ich hier versucht; vgl. Abb. 1 und 2. Das Gebäude bietet Zugänge zur Soziologie; es beherbergt heute das Soziologische Institut der Universität von Amsterdam. Ganz anders reagieren etwa Touristen auf den Anblick desselben Bauwerkes. „Die meisten Touristen, die neugierig durch das Eingangstor den Innenhof des Ostindischen Hauses betreten, sind Ausländer: Japaner, Indonesier, Menschen aus Ceylon, Singapur usw. Die Touristen kommen zaghaft herein; denn einladend ist das Gebäude nicht. „55 Sie aber sehen dessen einstige historische Bedeutung. In der Geschichte ihrer Herkunftsländer hat es eine Rolle gespielt; es hat von 1602 bis 1799 die „Verenigde Oostindische Compagnie“ beherbergt, ihre zeitweiligen Kolonialherren. Sie wissen um die symbolischen Bedeutungen und photographieren den Bau. Ähnlich ist es auch dem Verfasser dieser Zeilen gegangen. Als er sich dann bald an das SoziologieUnterrichten dort gewöhnt hatte, hat er es mit den Augen heutiger Niederländer zu sehen gelernt. Was wir „sehen“, ist stark bestimmt vom sprachlich vermittelten Wissen.
54 Eine erste Fassung dieser Zeilen ist zusammen mit zwei Skizzen auf Einladung der Amsterdams Sociologisch Tijdschrift auf Niederländisch (gekürzt) veröffentlicht worden (vgl. AST AST 25. 1998: 63-65). Eine erweiterte Fassung ist am 24.01.1998 in Würzburg der „Sektion Kultursoziologie“ der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ vorgetragen worden; der Autor dankt zahlreichen TeilnehmerInnen für Anregung und Kritik. – Besonderer Dank geht auch an Hes Godschalk-Hessenauer. 55 Schreibt J. van der Weiden in seiner Einleitung zu W. Jeeninga 1995: 6. Der Text liegt auch in englischer Übersetzung vor.
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Abb. 1: Soziologisches Institut der Universität Amsterdam (Ostindisches Haus) 144
Unsere Aufmerksamkeit für die Wort-Bild-verbundene zwischenmenschliche Kommunikation ist auch in den Wissenschaften unregelmäßig verlaufen. Die älteren Geisteswissenschaften, die Human- oder Kulturwissenschaften haben sich meist allein durch das Wort ausgedrückt; eine bildhafte Vermittlung ist äußerst selten gewesen. Sie sind im ganzen ziemlich bilderfeindlich gewesen. Für bildhafte Wendungen in ihrer Sprache kennen sie natürlich viele Ausdrücke. Doch reale Abbildungen von Dingen oder Menschen haben sie sehr selten verwendet. Das hat sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts grundlegend gewandelt.
Abb. 2: Soziologisches Institut der Universität Amsterdam (Ostindisches Haus) Bereits im Zuge der wissenchaftlich-technischen und der künstlerischen Neuerungen von „Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert“ sind die „Techniken des Betrachters“ tiefgreifend verändert worden. Die Menschen haben immer stärker technisch vermittelt zu sehen gelernt. Der nordamerikanische Kunsthistoriker Jonathan Crary hat das eindrucksvoll gezeigt am Aufkommen der Farbenlehre und neuer optischer Geräte im frühen 19. Jahrhundert. Er wendet Michel Foucaults Theoreme von Wissen und Macht darauf an. Rasch wird dabei deutlich, wie sehr schon zu 145
dieser Zeit zahlreiche physikalisch-optische Neuerungen zu einem immer spezialisierteren und individuelleren Sehen geführt haben, wenn bei ihm auch eine idealistische Sehweise noch zu dominieren scheint (Crary 1996). 3.
Moderner Bild- und Textgebrauch?
Weit entschiedener hat sich jetzt die Aufmerksamkeit einiger Literatur- und Kunstwissenschaftler von den allein sprachlichen Mitteilungen viel stärker den Bildern zugewendet; sie nennen es die „Bildwende“, den „pictorial turn“ (Mitchell 1994: 15-40). Die Zusammenhänge von Bildinhalten und deren Funktion innerhalb bestimmter Bildprogramme werden untersucht; eine umfassende Ideologiekritik begleitet diese Analysen. Kritisiert wird auch der Glauben mancher neuerer Philosophen, das Beharren auf der „Sprache“ gegenüber dem „Visuellen“ verteidigen zu müssen. Es beginnt, sich ein neues Denkschema, ein anderes Paradigma aufzutun: mehr und mehr werden „Bilder“ auch in verschiedensten Wissenschaften eingesetzt. Die Grenzen zwischen wissenschaftlichem und massenmedialem BildWortgebrauch scheinen um die Wende zum 21. Jahrhundert weltweit zu verschwimmen; es entsteht ein neuer Denkstil mit oft global verstehbaren Zeichen. Ein Sprachwissenschaftler präsentiert beispielsweise umfängliches Material aus der industrienahen Forschung, die mit der Werbung verschmilzt (Pörksen 1997). Und er sucht dabei ältere Abgrenzungen wie Idol, Emblem, Symbol oder Ikon zu vermeiden. Er prägt dafür einen neuen Ausdruck: die Visiotype. Ob Schaubilder, Kurven oder Abbildungen, meist wirken sie suggestiv neben der Sprache; es sei denn, wir entwickeln auch das Bild, die Zeichnung neben dem Sprechen unter den Augen des Hörers oder Lesers. „Sprache kann beide Weisen anschlagen“, sagt er, „die lehrhaft abgeschlossene, die man früher die ‚dogmatische’ nannte, und die beteiligend entwickelnde. Das Schaubild ist, wenn es fertig dasteht, eher ‚dogmatisch’. Je öffentlicher, um so sicherer sein dogmatisches Auftreten (…)“ (Pörksen 1997: 299). 4.
Zugänge zur Soziologie in ihrem Gehäuse
Wer noch nicht ganz in der geschichtslosen, enträumlichten visiotypisierten Welt lebt, dem bleiben auch – um zu unserem architekturvermittelten Beispiel aus der Soziologie zurückzukehren – historische und räumliche Assoziationen oder Erinnerungen. Zu finden sind die Zugänge nicht leicht. Nicht jedem liegen sie klar vor Augen. Ja, geschichtlich betrachtet war der Hauptteil des Baus einmal ein streng bewachter Palast für die wohlhabendsten Kolonialherren des Niederländischen 146
Reiches. Es hat deren gemeinsamen Reichtum beherbergt. Später hat dort die Steuerbehörde gearbeitet; der andere Gebäudeteil ist zeitweilig Haus für die „Proveniers“ (alte Rentner), dann für die Leprakranken und schließlich für ein Kloster gewesen. Ja – und machtsoziologisch gesehen hat sich darin ein relativer sozialer Abstieg in der Benutzung dokumentiert; Architekten würden eher betonen, wie multifunktional sich das Gebäude erwiesen hat. Arbeits- und SozialhistorikerInnen könnten im Hinblick auf moderne Fabrikhallen oder Großraumbüros formulieren: Diese universitären Arbeitsplätze entsprechen noch einer vorfordistischen Arbeitssituation; die hier Tätigen sind noch nicht durch beliebig andere oder durch Maschinen ersetzbar. Und für die Sozialwissenschaften, die den Bau um die Wende zum 21. Jahrhundert benutzen, gilt der Satz: „Der Komplex ist noch immer ein Labyrinth. Die Flure sind durch abgehängte Decken düster, die Räume klein, wodurch das Gebäude für Arbeitnehmer und Studenten nicht einladend ist (Jeeninga 1995: 104). „Jeder vermag anfangs seinen gewünschten Weg nur mühsam zu finden und sich schließlich zu merken. Seinen Weg finden-lernen nennen das Architekturpsychologen, hodologisches Lernen. Die meisten können sich mit Hilfe geistiger Landkarten, „mental maps“, erinnern. Doch auch den Weg durch das soziologische Gebäude erfahren die Menschen mit dem ganzen Leib, nicht allein durch Sehen oder Sichbewegen, sondern auch durch Hören, Riechen, Tasten. Auch unser Erinnerungsvermögen bewahrt Spuren davon auf. 5.
Sich erinnern an die Zugänge zur Soziologie
Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil des tatsächlich Erlebten bleibt in den Menschen haften. Und das menschliche Erinnern bewahrt stets auch Bilder. Ob „Bilder“, „Wort-Bilder“ oder „Visiotypen“, sie werden vom Erinnerungsvermögen nur bruchstückweise, partiell festgehalten. Eine bildhafte Erinnerung lässt sich gegebenenfalls auch wortlos skizzieren; das bezwecken meine Skizzen. Was jeweils erinnert wird, bleibt höchst individuell, kann stärker wirklichkeitsbezogen oder eher phantasiegeleitet sein. Zudem entwickelt sich die menschliche Erinnerungsfähigkeit stark altersabhängig. Auch daraus speist sich die menschliche Individualisierung. Im Gedächtnis verbleiben uns lebensgeschichtliche Bilder. Ich sehe das Amsterdamsche Institut (vgl. Abb. 1 und 2) und die innerstädtische Oude Hoogstraat (vgl. Abb. 3) in der Erinnerung aus relativ weiter Entfernung. Solch lebensgeschichtlich individuierendes Sich-Erinnern ist relativ gut erkundet worden (Kotre 1996); bisweilen decken sich persönliches Erinnern und soziale Wirklichkeit. Vor den Gebäudeeingängen in der Oude Hoogstraat stehen bisweilen noch immer „junkies“; doch wir finden sie jetzt nicht mehr innerhalb des Gebäudes. 147
Innen ist die karg-sparsame Fassaden- und Gartenarchitektur geblieben. Am schmutzigen äußeren Eingang erkennen Besucher nicht, dass sich dahinter Universitätsinstitute befinden.
Abb. 3: Oude Hoogstraat, Amsterdam Doch bereits die äußerst wohlhabenden Kolonialherren des niederländischen Reiches im 17. Jahrhundert hatten ihre Bürger gelehrt, ihren Reichtum nach Kräften zu verbergen. Mit sämtlichen Repräsentationsmitteln sind sie äußerst sparsam umgegangen; darin haben sie sich deutlich vom in Europa vorherrschenden Adel unterschieden. Zwei schmutzige Säulen neben und ein karges barockes Tympanon über dem äußeren Eingang bezeugen das. So muß seinen Zugang zur Soziologie letztlich jeder selbst finden; falls er die Soziologie anderen lehrt, sollte er auch andere Zugänge genauer kennen. Und nicht nur Zugänge sind manchmal schwer zu finden, sondern oft erst recht – wie in Amsterdam – auch die Ausgänge. Viele Zugänge zur Soziologie Europas verbergen sich ähnlich in älteren Palästen oder Klöstern, in verlassenen Provinzregierungs- oder in ehemaligen Industrie-Verwaltungsgebäuden. Oder Soziologen (besonders der „jüngeren“ soziologischen Institute) hausen in einst ganz eilig zusammengefügten „modernen Schnellbaumaßnahmen“. Die sind Anfang der 70er Jahre eilig und in größerer Stückzahl von der Stahlindustrie geliefert worden. Sie sind hochstandardisiert. Ihre Erbauer-Ingenieure hatten damit einst besonders große „Flexibilität“ versprochen, doch kaum praktisch eingelöst. Als ich einmal während eines langweiligen Soziologen-Kongreßvortrages still vor mich hin träumend wieder aufschreckte, wähnte ich, ich säße in meinem hannover148
schen „Dienstzimmer“. Tatsächlich war ich jedoch in einem völlig identischen Zimmer der neuen Universität der Stahlstadt Dortmund eingedöst. Die hannoverschen Studierenden der Sozialwissenschaften haben sich ihr kasernenmäßiges Studiergehäuse auf ihre Weise angeeignet. Sie haben Treppenhaus, Flure und Toiletten und vor allem Hörsäle bunt bemalt; sie bekamen dazu ihre Farben zeitweilig vom Institut bezahlt. Im Keller errichteten sie einen selbst organisierten Ausschank, ein Café-Restaurant als „Pausenraum“. Und die anfangs noch ironisch-kritischen Sprach-Bildgemische, die polemischen Sprüche und verheißungsvollen Parolen an den Wänden sind schließlich immer „postmoderner“ geworden. Ihre „Zugänge zur Soziologie“ suchen sich diese Studierenden auf ihre Weise stärker anzueignen. Auf jeden Fall behalten sie so den eigenen Zugang zur Soziologie weit besser in Erinnerung (Auffarth/Pietsch 2003).
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Teil II Soziologisches Orientierungswissen
1. Über den Beitrag von Norbert Elias zu einer soziologischen Entwicklungstheorie – Eine kommentierte Selbsteinschätzung
1.
Empirisch-theoretische Arbeitsweise
„Der Beitrag von Norbert Elias zur soziologischen Entwicklungstheorie“ umfaßt ungewöhnlich originelle Beobachtungen, hat eine außerordentliche soziale und intellektuelle Reichweite, offenbart die – seltene – Fähigkeit zu zeitlicher Langsicht und ist mit einer nicht oft anzutreffenden sozialen Wahrnehmungsfähigkeit und der Kraft, Synthesen zu bilden, formuliert worden. Elias hat „eine Anzahl Theorien integriert“ (Flap/Kuiper 1981), das stimmt. – Sie richten sich vornehmlich auf einige langfristige ungeplante Entwicklungen von Staatengesellschaften und von Persönlichkeitsstrukturen. Doch ein „Research program“, ein „Forschungsprogramm“, hat er nicht expliziert. Wohl bietet sein gesamtes Werk eine Fülle von Anregungen zu empirischen Studien, zu tieferer theoretischer Durchdringung oder zu genauerer Methodologie. Zum einen kann man den Beitrag von Elias aus seinen charakteristischerweise weit verstreuten theoretischen Bemerkungen zusammentragen; das ist bisweilen versucht worden. Dann kann man sich in seine erfolgreiche „empirischtheoretische“ Arbeitsweise der Analyse „langfristiger sozialer Prozesse auf mehreren Ebenen“ einfühlen und sie auf die verschiedensten Fragestellungen übertragen; das ist inzwischen häufiger mit größerem Erfolg getan worden. Doch sein theoretischer Beitrag wird dadurch nicht deutlicher. Bescheidener, vielleicht seinem Werk angemessener, kann man schließlich ebenso wie er, „empirisch-theoretisch zugleich“ vorgehen. 2.
Hohes Syntheseniveau und literarische Qualität
Von Anfang an setzt seine Forschungsarbeit auf einem hohen Niveau der Synthese mehrerer verschiedener Einzelwissenschaften ein. Seine Texte sind durchweg allgemeinverständlich. Sie haben zugleich literarischen Rang. Dies ist von vielen wissenschaftlichen Lesern in anderen Disziplinen sofort notiert worden – ja, weit früher beachtet worden als von den eigentlichen Soziologen. Das Bemühen um
literarische Qualität, an sich ja in den Geistes- bzw. Sozialwissenschaften der europäischen Staatengesellschaften häufiger zu finden, ist für Norbert Elias nicht nur ein Mittel des Synthesenbildens, sondern es übernimmt eine zentrale Funktion seiner Wissenstheorie. 3.
Soziologische Innovationen
Worin besteht im Kern die Leistung der Eliasschen Arbeiten? Fragen wir Elias, was er selbst als seine wirklich zentralen Beiträge zur Soziologie, als seine eigentlichen Innovationen ansieht, dann umreißt er, nennt er folgende Stichwörter (Gespräch am 30.04.1984 in Amsterdam): 1) „Die große Evolution ist mein Thema, vielleicht wird bisher nicht genügend unterschieden zwischen der biologischen, der naturalen und der sozialen Evolution (...) Die Strukturmerkmale der ‘sozialen Evolution’ sind nicht die gleichen wie die der ‘biologischen’ (...).“ 2) „(...) In der Mitte des menschlichen Weltbildes steht nicht mehr die ‘Natur’ sondern die menschliche Gesellschaft (...)“ (Später sagt er in Elias 1984a:) „(...) sondern die menschlichen Gesellschaften in der Natur.“ 3) „Ich habe dem Begriff der Gesellschaft eine neue Gestalt verliehen (...).“ 4) „Ich habe dem Begriff des ‘Wissens’ eine aktive Bedeutung gegeben (...).“ 5) „(...) Das Subjekt des Erkennens ist die gesamte Menschheit (...).“ 6) „(...) Ich habe eine Theorie des Entstehens von Synthesen entworfen.“
Solch hochkomprimiertes Sich-selbst-Darstellen mag im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich klingen, zumal gleichzeitig die Aufnahmebereitschaft für eine soziologische Entwicklungstheorie geringer denn je zu sein scheint.
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4.
Kommentierung von Elias’ Beitrag zur Soziologie
Die Aussagen von Elias im Einzelnen: 1) Soziologische Evolutionstheorie „Die große Evolution ist mein Thema (...) Vielleicht wird bisher nicht genug unterschieden zwischen der biologischen (der naturalen) und der sozialen Evolution.“ „Die Strukturmerkmale der ‘sozialen Evolution’ sind nicht die gleichen wie die der ‘biologischen’ (...).“
Alle theoretischen neuen Einsichten, sämtliche Denkinnovationen des Eliasschen Beitrages lassen sich bereits im „Zivilisationsprozeß“ finden. Die späteren Werke explizieren, kommentieren oder vertiefen die dort gesammelten Erkenntnisse; sie machen sie verständlicher. Die Studie über „Die höfische Gesellschaft“ wurde in ihren Grundzügen vor den „Prozeß“bänden verfaßt. Aber seine Evolutionstheorie wird nie explizit gemacht (Elias 1939/1997. Bd. 1: LXXXI), wenn auch zahlreiche Wendungen in der Kenntnis Darwins (Lamarcks oder Haeckels) formuliert worden sind, etwa: „Sozio- und Psychogenese“; oder „soziogenetisches Grundgesetz“. Es ist der soziale Entwicklungsvorgang selbst, Zivilisationsprozesse und Zivilisierungsdifferentiale zwischen Gesellschaften, die er untersucht. Er will überhaupt Dokumente auftun für weitgehend ungeplante, doch strukturierte soziale Prozesse. Elias geht – gemessen an seinen Zeitgenossen, ganz unbiologisch vor. Vergleicht man seine Kategorien ganz förmlich, ist zu sehen, nahezu sämtliche Prozeßelemente kommen bei ihm vor. Also etwa: Selektion, Variation, Stabilisierung. Er hat sie während seines Medizinstudiums erlernt. Aber er geht überaus vorsichtig zu Werke. Er verwendet jene Wörter überhaupt nicht. Er ersetzt sie durch Wörter oder begriffliche Umschreibungen, die viel stärker auf genauerer soziologischer Beobachtung beruhen. „Menschenbeobachtung“ bildet immer seinen Ausgangspunkt. Nie kommt er daher zu jenen langen theoretisierenden Monologen; nie zu den allein „theoretisierenden Diskursen“, die die vorherrschende Theoriearbeit so kennzeichnen. Etwa spricht er von den langen „Ausscheidungswettkämpfen“ zwischen einzelnen Personen, meist „Rittern“, wie zwischen staatlichen Einheiten im Verlauf
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der europäischen Staatenbildung. Er untersucht das Anwachsen der „größten Überlebenseinheiten“ der jeweiligen Entwicklungsstufe. Er nennt sie „größte Angriffs- und Verteidigungseinheiten“, etwa die zahllosen kleineren feudalen Herrschaftsbereiche. Er beleuchtet (wie Marc Bloch) das Anwachsen „sozialer Interdependenzketten“. Die im Laufe sozialer Differenzierung und weiterer Integrierung entstehenden „Variationen“ nennt er häufig „Zentralisieren der Zwänge und Verfeinern der Spielarten“. Nie unterstellt er zwangsläufig irreversible Prozesse; in verschiedener Hinsicht kennen Gesellschaftsprozesse doch rückläufige Vorgänge. Die wissenschaftliche Integrierung der psychischen Entwicklung ist dem im Neokantianismus erzogenen, zeitweiligen Hörer Husserls ein Hauptanliegen. Die dynamische Psychologie Freuds, die Psychoanalyse wissenschaftlich integriert zu haben, ist vielleicht seine originärste wissenschaftliche Leistung. Die berühmteste Einsicht – Schluß des zweiten Prozessbandes – seine These von der „Umsetzung von Fremdzwängen in Selbstzwänge“. Als Kern der „Stabilisierung“ –, das Wort kommt bei Elias nicht vor, erkennt er das „Anwachsen sozialer Verflechtungen“, die Durchsetzung von „Gewalt- und Steuermonopolen“ und die relative Befriedung in Bereichen etablierterer derartiger Gewaltmonopole; während dabei die gewalttätigen Konflikte zwischen den Staatengesellschaften um so deutlicher frühere, „archaische“ Zustände erkennen lassen. Alles, aber auch alles befindet für Elias in Bewegung –, seine eigenen „Denk- und Sprachmittel“ eingeschlossen. 2) „Triade der Grundkontrollen“ Zu Elias’ Aussage: „(...) In der Mitte des menschlichen Weltbildes steht nicht mehr die ‘Natur’, sondern die menschliche Gesellschaft (...)“
Dieses Bemühen um eine Verschiebung der menschlichen Blickrichtung, der sozialwissenschaftlichen Perspektiven, durchzieht sein gesamtes Werk. Praktisch hat er in seinem Hauptwerk von Anfang an die Einsichten etwa der Technik- oder der Wissenschaftsgeschichte einbezogen. Er gibt mittelalterliche Landschaftsschilderungen aufgrund älterer Abbildungen. Oder er fügt ein Kapitel über prestigehaltige Architektur ein, um Herrschaftsmittel oder Lebensstil des Adels besser zu verdeutlichen. Diese Verfahren des Integrierens einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse zu breiteren, umfassenderen synthetisierenden gesellschaftlichen Gesamtdarstellungen werden gegenwärtig wohl allein von der neueren Französischen Schule der Pariser 156
Historiker (Les annales) in ihrem universalistisch-pragmatischen Vorgehen übertroffen. Doch im Unterschied zu den meisten dieser französischen Historiker formuliert er auch – knapp – methodologische Konsequenzen daraus. Er skizziert Meßbegriffe, mit deren Hilfe man verschiedene Stufen sehr langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungsreihen bestimmen kann, was er die Triade der Grundkontrollen nennt (Elias 1970a: 173): „Der Entwicklungsstand einer Gesellschaft läßt sich bestimmen 1. nach dem Ausmaß ihrer Kontrollchancen über außermenschliche Geschehenszusammenhänge, also über das, was wir etwas unscharf als ‘Naturereignisse’ bezeichnen; 2. nach dem Ausmaß ihrer Kontrollchancen über zwischenmenschliche Zusammenhänge, also über das, was wir gewöhnlich als ‘gesellschaftliche Zusammenhänge’ bezeichnen; 3. nach dem Ausmaß der Kontrolle jedes einzelnen ihrer Angehörigen über sich selbst als ein Individuum, das, wie abhängig es auch von anderen sein mag, von Kindheit an lernt, sich mehr oder weniger selbst zu steuern.“
Im „Zivilisationsprozeß“ untersucht er die realen Gewichtsverschiebungen dieser verschiedenen gesellschaftlichen Prozeßebenen. 3) Differenzierte Machttheorie Zu Elias’ Aussage: „Ich habe dem Begriff der Gesellschaft eine neue Gestalt gegeben (...)“
Elias hat die reduktionistischen Verfahren aufgegeben. In seiner Analyse des Gesellschaftsprozesses verbindet er „Mehrebenenanalysen“ mit einer allgemeinen Machttheorie. Unsere Möglichkeiten, einzelne Aktivitäten von Menschen unterscheiden können, etwa Bewegungen der Skelettmuskulatur von Vorgängen im Gehirn, veranlaßt Elias nicht, sie in der Analyse von Gesellschaftsprozessen auch zu trennen. – Deshalb rechnet er mit „ganzen Menschen“. Theorien, die allein von einer derartigen Untersuchungsebene ausgehen oder nur diese verallgemeinern, bezeichnet er als „Theorien auf einer Ebene“. Die Aufgabe der Soziologen sieht Elias darin, das jeweils zu untersuchende Problem stets auf allen infrage kommenden Ebenen zugleich zu analysieren; denn alle Menschen handeln jeweils im Rahmen all ihrer Kräfte und Abhängigkeiten zugleich. So kommt es, daß Elias’ Aussagen über Wandlungen im Staatensystem dann ständig begleitet oder durchsetzt sind von Aussagen etwa über affektive, emotionale Verhaltensstandard-Wandlungen im gleichen Zeitraum. – Welcher Soziologe internationaler Vergleiche demonstriert solche Affektverschiebungen, 157
indem er dies fortwährend an den Wandlungen des Verhältnisses von Männern und Frauen zeigt? Das führt ihn auch zu seiner sehr differenzierten Machttheorie. Sein (zuerst polemisch gemeinter) Begriff der „Staatsgesellschaften“ soll das je erreichte soziale Differenzierungs- und Integrationsniveau der „Menschenverflechtung“ demonstrieren. Alles, was Menschen anderen Menschen vorenthalten können, was sie mithin „monopolisieren“ können, kann daher zu einem Machtmittel werden. Elias bevorzugt den Begriff „Machtquellen“, bisweilen auch den Weberschen der „Machtchancen“. Er unterscheidet wenigstens fünf derartige Machtquellen: - physische Gewalt, - das Beschaffen der Existenzmittel, - die Verfügungsmöglichkeiten über bestimmte Positionen, - die affektiven Valenzen menschlicher Bindungen - und das Wissen, beziehungsweise die „Orientierungsmittel“. Alle Menschen verfügen über derartige Machtquellen – nur höchst unterschiedlich und ungleich. Daraus ergibt sich die Aufgabe der Soziologen, die Interdependenz der Machtquellen ständig zu untersuchen. Elias’ Machttheorie hat die entscheidenden Einsichten der älteren Soziologie und Psychologie vereint. Die Marxsche Analyse der Konkurrenz- und Monopolbildungskämpfe, die Ausbildung des staatlichen „Gewaltmonopols“, der Kern der Herrschaftssoziologie Max Webers, die Forderung Georg Simmels nach durchgängiger Dynamisierung soziologischer Begriffe zum Darstellen sozialer Prozesse – alles wird durchdrungen von einer souveränen Verarbeitung Freuds, wie sie im Kreis der Heidelberger und Frankfurter Studiengenossen von Elias erst später ähnlich erreicht wurde (etwa in Hans Gerths und C.W. Mills Arbeiten). In der Ablehnung oder stärkeren Distanznahme gegenüber den meisten „Herrschafts“konzepten kommt Elias zu weit dynamischeren Machtasymmetriemodellen. Vor allem geht er aus von dem Modell von „Etablierten und Außenseitern“. 4) Soziale Funktionen des Wissens Zu Elias: „(...) Ich habe dem Begriff des ‘Wissens’ eine aktive Bedeutung gegeben. (...)“
Das Werk von Elias ist durchzogen von einem tiefgreifenden Interesse an den sozialen Funktionen des „Wissens“. Neben wissenschaftssoziologischen Aufsätzen ist das besonders dokumentiert in den wissenssoziologischen Arbeiten über „Engagement und Distanzierung“, dem Essay „Über die Zeit“ und schließlich über 158
„Knowledge and Power“. Begonnen hatte er mit der vergleichenden Analyse der Lage der deutschen und französischen Intellektuellen im 18. Jahrhundert (erster Teil des ersten „Prozeß“bandes). Er hat sich hier einmal aus der Marxschen und der (Karl) Mannheimschen „Wissenssoziologie“ heraus entwickelt. Die Intellektuellen „schweben“ nicht mehr „frei“ (wie bei K. Mannheim); sie sehen sich eher als „Außenseiter“ (oder als weitgehend in das „Establishment“ integrierte wie etwa in Frankreich). Zum anderen verfolgt Elias einen konsequenten Agnostizismus. Religiöse Gewißheiten sind andere Arten des Wissens. Den zweiten Ausgangspunkt seiner soziologischen Wissenstheorie findet er in einer entschiedenen Abkehr von den überkommenen Weisen des „Philosophierens“. Er wendet sich ab von den älteren Vorstellungen, die Ergebnisse menschlicher Denkarbeit könnten von einem einzelnen, sozial isolierten Individuum allein erworben, hergestellt oder weitergegeben werden. Das Wissen wird von der gesamten Menschheit erzeugt oder weiterverwendet. Daher läßt er auch ab von den tradierten individualphilosophischen Unterscheidungen etwa von „Subjekt“ und „Objekt“, doch auch beispielsweise von den älteren Aufgabenstellungen, etwa „die Wahrheit“ suchen zu wollen. Eine konsequente entwicklungssoziologische, die Wissens- aber auch die Begriffegenese jeweils ins Zentrum rückende Forschung läßt ihn ein dynamischeres Modell des menschlichen Orientierungswissens entwerfen. Die Vorstellung, es gäbe für Menschen „apriorische Kategorien“, verwirft er völlig als eine Fiktion. Menschen als Individuen wie als Gruppen oder auch über ganze Generationenketten hinweg müssen lernen. Kein Begriff ist ihnen von „vornherein gegeben“. Die Aufgabe von Wissenschaftlern muß es sein, jeweils „besseres“, das heißt vor allem „wirklichkeitsgerechteres“, „sachgerechteres“ Wissen hervorzubringen. Die Aufmerksamkeit und die Entdeckung der relativen Orientierungsfunktion des Wissens verstärkt seine schon erhöhte Beachtung der „vorwissenschaftlichen“ Wissensentwicklungen. Sein Hauptbeispiel: Das Entstehen sozialer Zeitbegriffe. Unsere Denkarbeit, die kognitiven Prozesse, verlaufen nicht unabhängig von den emotionalen, affektiven Veränderungen. Denken berührt auch das Fühlen und Phantasienbilden. Kein Vorgang des Erzeugens oder Übermittelns von Wissen läuft ab, ohne unseren „Affekthaushalt“, unsere Phantasien zu beeinflussen. Klarste Beispiele sind besonders die neuen Lösungsvorschläge für ein altes Problem, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem „Werturteilsstreit“ benannt worden war. Es gilt stattdessen, die eigenen Gefühle und Phantasien besser unter Kontrolle zu bekommen, sie in einer besseren Balance zwischen dem eigenen „Engagement und der Distanzierung“ zu halten. Am konsequentesten ergibt sich Elias’ Methode von der aktiven Bedeutung des Wissens aus seiner Art, wie er selbst Begriffe bildet – aus seiner gesamten Sprachverwendung. 159
Exkurs: Zur Eliasschen Begriffsbildung Für jede soziologische Forschung werden Fragen zentral, was etwa die Besonderheiten einer gesellschaftlichen Einheit ausmacht und wie sie von anderen abzugrenzen sind. Reduzieren wir die Soziologie zu einer „Nur-Soziologie“ (F.H. Tenbruck), die von den Dingen, von der Körperhaftigkeit der Menschen oder ihren Werkzeugen ganz absieht, etwa nur auf „Verhaltenserwartungen“ blickt, müssen wir dies alles als etwas Außersoziales, als „Kultur“ ansehen und ggf. zu einem Gegenstand einer besonderen „Kultursoziologie“ machen. Einer Soziologie, die nicht absieht von den Dingen, von der Leiblichkeit der Menschen, von Raum und Zeit, stellen sich besondere sprachliche Aufgaben. Am Beispiel der soziologischen Zivilisationstheorie von Norbert Elias werden einige derartige Sprachbefunde dargestellt. Durch das Dynamisieren der Begriffsbildung bekommt man soziologische Sachverhalte „besser in den Griff, wenn man von den Bewegungen, von dem Prozeßcharakter nicht abstrahiert und Begriffe, die Aspekte miteinschließen, als Bezugsrahmen für die Erforschung irgendeines gesellschaftlichen Zustandes benutzt“. – Wenn wir von Einheiten, die wir in ihrer Vielzahl betrachten oder die es allein in der Mehrzahl gibt, auch stets nur im Plural reden, ändert sich die sozialwissenschaftliche Perspektive grundlegend. – Aus der Verwendung psychoanalytischer Einsichten in die notwendige eigene affektive Verwicklung der menschenbeobachtenden und -erfahrenden Sozialforscher gelangt Elias zu besonderen Vermeidungsleistungen: das durchgängige Einhalten einer affektiven Balance zwischen der Ichverwicklung des Sozialforschers und seiner persönlichen Selbstdistanzierung von den untersuchten Menschen; das Bevorzugen vielperspektivischer Wendungen anstelle abstrakter Ausdrücke, in denen das „Verhältnis von Beziehungen und Bezogenem“ verloren geht. Elias vermeidet „entmenschlichende Begriffe“, bevorzugt alle auf Menschen bezogenen; vermeidet durch die Wortwahl mögliche Affektresonanzen, vermeidet ahistorische Begriffe (etwa aus der Physik) und kommt dennoch ohne alle autoritätsgebundenen Begriffe aus. Das Verfahren der entspannten Begriffswahl, der steigenden Selbstkontrolle über alle durch die Wortwahl miterzeugten Konnotationen, ohne dabei in „Metasprachen“ auszuweichen, führt zum „Zurückdrängen heteronomer Wertungen zugunsten von autonomen Wertungen“, zur Wahl von Begriffen, die sich zugleich auf Verhalten und Empfinden, auf Dinge und Menschen beziehen lassen. Damit werden, wie die Rezeption in anderen Disziplinen zeigt, gute Voraussetzungen für eine fächerübergreifende soziologische Zentraltheorie geschaffen. – Im Mittelpunkt steht schließlich eine originelle überaus flexible Technik der Sprachsynthese, in der Wortkombinationen, serielle Attribute und eine umkreisende Darstellung bevorzugt werden gegenüber starrem, tendenziell nominalistischem Definieren. – Die soziologische Zivilisations160
theorie meidet „Idealtypen“, da sie nicht empirisch überprüfbar sind, verwendet zentral anschauliche Beispiele; sieht nicht von Raum und Zeit ab, aber nutzt das Verfahren des Zeitraffens, um langfristige Verhaltenswandlungen zu untersuchen und sucht analog nach anschaulichen Worten, die – wie das Wort „Verhofung“ – auch eine räumliche Konzentration anzeigen können. 5) Bezug auf die gesamte Menschheit Zu Elias: „‘Subjekt’ des Erkennens ist die gesamte Menschheit.“
Fällt es uns heute nicht viel schwerer als vorangegangenen Generationen, allein das Wort Menschheit noch zu verwenden? Elias zögert da nicht, er gibt dem Wort eine wirklichkeitsgerechtere Bedeutung: „Wie der Fortschrittsbegriff, so ist auch der Menschheitsbegriff durch seinen Gebrauch in der Epoche der Aufklärung und des rationalistischen Idealismus belastet. In dieser Epoche war der Begriff ‘Menschheit’ Ausdruck eines hoch über den Wassern schwebenden Ideals. Der Nachklang dieses Gebrauchs liegt den Menschen noch heute im Ohr. Dementsprechend wurde der Begriff ‘Menschheit’ in der Epoche der Reaktion gegen diese Aufklärungsideale tabuisiert. Er verschwand aus dem Vokabular der Menschen, die ernst genommen werden wollten, Gesellschaftswissenschaftler mit eingeschlossen. Inzwischen ist es aber in hohem Maße wirklichkeitsangemessen geworden, von der Menschheit zu sprechen, da menschliche Einzelgesellschaften aller Regionen der Erde immer interdependenter werden; und dieser Trend wird sich aller Wahrscheinlichkeit nach in Zukunft verstärken. Aber weil diesem Begriff weiterhin die früher idealisierende Vorstellung von einer harmonischen Menschheit anhaftet, ist es noch schwer, das Wort ‘Menschheit’ in dem höchst angemessenen Sinn zu gebrauchen, den es dadurch gewinnt, daß die Situation der Menschen im 20. Jahrhundert nur zu verstehen und zu erklären ist, wenn man sie aus der Perspektive aller interdependenten menschlichen Gesellschaften und nicht nur aus der einer Einzelgesellschaft sieht. In diesem Sinn hat ‘Menschheit’ zugleich die Bedeutung eines Interdependenz- und eines Spannungsgefüges: Gerade weil die Interdependenzen größer geworden sind, ist der Zündstoff der Spannungen und Konflikte universaler geworden. Größer ist dementsprechend auch das Gefühl der Hilflosigkeit gegenüber den potentiellen Katastrophen geworden, die diese Vergrößerung der Interdependenzen und Intensivierung der Spannungen durch die ganze Menschheit hin mit sich bringt“ (Elias 1977a: 130).
Elias demonstriert das Entstehen einer gesellschaftlichen Erkenntnistheorie in mehreren Schritten wiederum – so könnte man sagen, mit einer eher wissens- und wissenschaftssoziologischen Methode denn mit den Mitteln einer überkommenen, am „Einzeldenker“ gebildeten Methode. In Stichworten (Elias 1970a: 37ff.): 161
- von der philosophischen zur soziologischen Theorie der Erkenntnis; - vom nichtwissenschaftlichen zum wissenschaftlichen Erkennen; - die wissenschaftliche Erforschung der Wissenschaften; - die Soziologie als relativ autonome Wissenschaft; - das Problem der wissenschaftlichen Spezialisierung. Er verdeutlicht diesen Vorgang am Beispiel des Denkens von A. Comte. Das – inzwischen berühmte – Beispiel, das er selbst entwirft: das des „homo clausus“; das ist die Lage des nach außen hin gänzlich abgeschlossenen, allein „erkennenden Philosophen“: stelle man sich Marmorstatuen in einem Park vor, die nur durch kleine Sehschlitze miteinander kommunizieren könnten, habe man diejenige Situation vor sich, die die immer noch an jener Art von Philosophieren orientiere Epistemologie als tatsächlichen Erkenntnisprozeß unterstelle. Die „neuen Denk- und Sprachmittel“ (Elias 1970a: 118ff.), die er stattdessen verwendet, könnte man als Verfahren prägnanter bezeichnen: Keine Ideengeschichte mehr ohne zugehörige „Gruppen“geschichte sowie eine erkennbar psychoanalytisch geschulte, äußerst konsequente Begriffesoziologie. 6) Eine soziologische „Theorie des Entstehens von Synthesen“ Schließlich sagt Norbert Elias: „(...) Ich habe eine Theorie des Entstehens von Synthesen entworfen. Den überkommenen Begriff der ‘Abstraktion’ habe ich durch den der Synthesenbildung ersetzt (...) Dabei geht es keineswegs allein um die Vorgänge des Synthesenbildens innerhalb der Wissenschaften (...)“
Im Gegenteil – die Entwicklung von Fähigkeiten der Gattung, weit auseinanderliegende Ereignisse allmählich als sachlich zusammengehörig zu erkennen, untersucht er vornehmlich gerade an „vorwissenschaftlichen“ Schritten des Synthesenbildens. Das „wissenschaftliche Arbeiten, Integrieren und Desintegrieren von Wissen, widmet sich besonders der ‘fortschreitenden Synthese’“ (Elias 1983a: 205). Sein anschauliches Beispiel: das allmähliche Entstehen von „mehreren Wandlungskontinuen“, die wir gegenwärtig den „sozialen Zeitbegriff“ nennen. Und beim Erörtern der Erkenntnisse, die in der Astronomie durch die „Einbeziehung bestimmter physikalisch-chemischer Bereiche in die Entwicklungsdynamik eine Vereinheitlichung des Bildes von der Welt“ erzeugen, sagt er, das „erlaubt eine umfassendere Synthese als sie bisher möglich war –, eben die Synthese, die durch den Begriff der großen Evolution symbolisiert wird.“ (Elias 1983a: 222) Sie ist selbst ein zentraler Synthesevorgang. 162
5.
Das Projekt einer „soziologischen Zentraltheorie“
Norbert Elias sieht sein gesamtes Werk immer wieder als einen Beitrag zur Arbeit an einer soziologischen Zentraltheorie. Hat er sich deshalb, wie er sagt, nie darum bemüht, eine Schule zu begründen? (Steenhuis 1984) Er hat eine genaue Vorstellung von der Entwicklungsrichtung dieser Denkarbeit; vom Erarbeiten der nötigen Denkmittel; und insbesondere von einer besseren Balance zwischen analysierendem und synthetisierendem Vorgehen. Doch auch über die Widerstände gegen seine Einsichten macht er sich wenige Illusionen: „Pioniere einer wissenschaftlichen Innovation“, schreibt er, „müssen für ihre Erkenntnis nicht nur darum kämpfen, weil sie sich gegen die Vernunftgründe Andersdenkender zu behaupten hat, sondern auch, weil das Weltbild, das aus ihr folgt, bei vielen Menschen zu einer tiefen emotionalen Entzauberung und manchmal zu einem beinahe traumatischen Schock führen kann. In der Tat sind Schübe emotionaler Entzauberung fast ein stehendes Merkmal großer Fortschritte des wissenschaftlichen Wissens“ (Elias 1983a: 111f.). Aber vielleicht ist doch ein Anfang schon gemacht? Über viele der von Elias geprägten Begriffe läßt sich bereits jetzt sagen, was Georg Simmel gegen Ende seines Lebens (in einem Brief) an vielen seiner Begriffe für charakteristisch erkannt hatte: Sie sind bereits im Umlauf wie gängige Münzen; niemanden interessiert es mehr, woher sie eigentlich stammen.
163
2. Zum Austausch wissenschaftlichen Wissens. Ein Beitrag zu Ideal und Wirklichkeit der „interdisziplinären“ Denkarbeit von Wissenschaftlern
1.
Disziplinärer Rahmen
Als „disziplinärer Rahmen“ dieser Thesen müßten hauptsächlich genannt werden: die Wissenssoziologie, die soziologische Wissenschaftstheorie und die Wissenschaftssoziologie. Man könnte es auch als Beitrag zu dem Versuch betrachten, „von der philosophischen zur soziologischen Theorie der Erkenntnis“ zu gelangen (Elias 1970), also weniger von einem idealen Sein und stärker vom tatsächlichen sozialen Geschehen des Erkennens auszugehen. Das hier bevorzugte Verfahren ließe sich wohl am ehesten als eine Mehrebenen-Prozeßanalyse bezeichnen. Es bezieht sich zugleich auf globale und auf gesamtgesellschaftliche Prozesse, auf längerfristige Wandlungen einzelner organisierter Zusammenhänge, etwa auf die „Professionalisierung“ und die typischen „betrieblichen Wissensproduktionen“ und schließlich auf charakteristische Fähigkeiten des einzelnen Menschen zu lernen und eine bessere Kontrolle über sich selbst zu gewinnen. Schließlich werden in dieser historischen Psychologie (Gleichmann 1988) auch Synthesen versucht. Zu den wenigen gesicherten Einsichten eines wirklich effektiveren „interdisziplinären“ Austauschs (Bahrdt et.al. 1960; Holzhey 1974, 1976; Levin 1985; Kocka 1987) gehört: Der Austausch muß auch schriftförmig erfolgen; dieser sollte jedem „interdisziplinären“ Gespräch vorausgehen; die bevorzugte Sprache sollte weniger gebräuchliche Begriffe meiden und dafür so explizit wie möglich formuliert werden. Als Untersuchungsbeispiel verwende ich das „Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie“ von Ernst Bernheim. Es erscheint zuerst 1889. Bernheim gehört über beinahe ein halbes Jahrhundert, wenn auch eher als Randfigur seiner Disziplin, zu den exemplarisch „interdisziplinär“ orientierten Fachhistorikern.
2.
„Das Verhältnis der Geschichtswissenschaft zu anderen Wissenschaften“ „Es ist offenbar der Mangel an eindringender Beschäftigung mit den Grundbegriffen unserer Wissenschaft seitens der Historiker selbst und die daher rührende Lauheit und Unsicherheit in der Vertretung derselben nach außen, wodurch verschuldet wird, daß die Geschichtswissenschaft sich den übergreifendsten Grenzverletzungen von seiten benachbarter und fernstliegender Disziplinen ausgesetzt sieht. Die einen rechnen die Geschichte zur Philologie, die anderen erklären sie für eine Naturwissenschaft: dieser will sie in den Dienst der Politik, jener in den der Soziologie stellen und so fort. (...) Aber jene halten sich vielfach nicht in ihren Grenzen, sondern glauben sich berechtigt, der Geschichtswissenschaft überhaupt ihre Ziele und Methoden zu octroyieren. (...) Die Einheit unserer Wissenschaft ist unsere selbstverständliche Voraussetzung; wir finden nur, daß je nach der Verschiedenheit der Objekte und der Betrachtungsweise die Aufgaben und Methoden so verschiedenartige Vorkenntnisse und Handhabung erfordern, daß im Interesse der Arbeitsteilung und übersichtlichen Beherrschung der Resultate dementsprechend verschiedene Disziplinen abzugrenzen sind. Je sachgemäßer die Abgrenzung, desto erfolgreicher die Arbeit und desto leichter die Verständigung und der Verkehr von Fach zu Fach.“ (Bernheim 1908) (Hervorh. d. Verf.)
3.
Langfristige Arbeitsteilung in den zunehmend auf wissenschaftliches Wissen angewiesenen Gesellschaften
Die Denkarbeit von Wissenschaftlern vollzieht sich wie alle Arbeit in den industriellen Staatengesellschaften innerhalb säkularer Prozesse einer sozialen Ausdifferenzierung einzelner beruflicher Spezialisierungen der Menschen. Die verschiedenen Arten der Arbeitsteilung erzeugen auch die vielfältigsten Scheidungen der einzelwissenschaftlichen „Disziplinen“; hauptsächlich im Ausmaß und Tempo dieser Entwicklung lassen sich Unterschiede der Disziplinen erkennen. 4.
Entstehen von Disziplinen
Es entstehen „Disziplinen“ in selbstverständlicher „Einheit“, besser gesagt in relativer Autonomie gegenüber den anderen Fächern. Sie entwickeln eigene relativ selbständige Ziele, Gegenstände und Methoden. Je größer sie werden, desto mehr führt die Arbeitsteilung zur innerfachlichen Differenzierung (Iggers 1968; Knorr-Cetina 1981; Stichweh 1984; Iggers 1984). Fachzeitschriften werden zum ersten und hauptsächlichen Instrument jedes innerfachlichen Wissensaustausches (Fleck, L. 1935/80; Knorr-Cetina 1981). 166
5.
Zwänge zu kooperieren
Werden die säkularen und weltweiten Tendenzen der Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen auch von vielen Wissenschaftlern oft eher als ein relativer (meist nur scheinbarer) Zugewinn an beruflicher Autonomie erfahren, so werden die erklärtermaßen geplanten Prozesse der Zusammenarbeit weit eher als „Oktroi“, als soziale Zwänge zur stärkeren Verflechtung von Menschen empfunden. In der Wirklichkeit der einzelnen Disziplinen finden wir sehr unterschiedliche Grade dieser Art von Kooperationszwängen. Von der großen Mehrzahl aller wissenschaftlich Ausgebildeten werden diese Zwänge vor allem in den Betrieben der Forschung und der Entwicklung erfahren. 6.
Naturwissenschaftliche Denkestablishments?
Immer stärker werdende Tendenzen der beruflichen Spezialisierung haben zu dem besonderen Erfolg der Wissenschaften der technisch-praktischen Naturbeherrschung beigetragen. Es sind besonders die Physiker gewesen, die den mächtigsten Regierungen der Erde die schrecklichsten Gewaltmittel zur Verfügung gestellt haben, die die Menschheit bisher kennt. Dieser wissenschaftliche Erfolg der Physiker, ihr Machtzuwachs im Verlauf einer Generation, hat sie an die Spitze der Wissenschaften und vieler Staaten (Radkau 1983) gebracht. Dies verführte die meisten Wissenschaftstheoretiker zu der Vorstellung, sämtliche anderen Einzeldisziplinen müßten nun ebenfalls dem Denkmodell des Physiker-Establishments folgen (Elias 1982), also der Suche nach den „kleinsten Teilchen“ des Ganzen. 7.
Entkoppelung von „Technischem“ und „Sozialem“ Fortschritt
Der Generationen währende Erfolg des arbeitsteiligen Wissenschaftsmodells der meisten Disziplinen in den Natur- und Ingenieurwissenschaften war stets verstärkt worden, weil mit ihm zwei lange Ereignisverläufe praktisch gleichgesetzt worden waren: einmal die Vorstellung, diese wissenschaftliche Arbeitsteilung (und die wesentlich im industriellen Betrieb stattfindende Kooperation) führe stets wie automatisch auch zu einem weiteren „technischen Fortschritt“; und zweitens der Glaube, jeder „technische Fortschritt“ erzeuge wiederum wie von selbst auch einen „sozialen Fortschritt“.
167
8.
Zerstörung des Fortschrittsglaubens, doch beinahe ungebrochene Kontinuität des arbeitsteilig-reduktionistischen Wissenschaftsmodells
Die bisherigen Grundlagen für den Glauben an eine selbstverständliche Verbindung des Fortschritts der Wissenschaften mit den Fortschritten in den Techniken der Naturkontrollen und den Techniken eines geplanten friedlicheren sozialen Verkehrs innerhalb und zwischen Staatengesellschaften sind nachhaltig erschüttert worden. Der Einsatz von Maschinen zur Massentötung von Menschen (Howard 1976), der Gebrauch physikalischer, biologischer und chemischer Mittel für die nahezu unbegrenzte Vernichtung von Menschen und schließlich das Bevorraten derartiger Vernichtungsmittel in einem Ausmaß, das ein mehrfaches Auslöschen der Menschheit technisch möglich werden läßt, haben die soziale Distanzierung größerer Gruppen von Menschen gegenüber den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen beträchtlich verstärkt. Doch den arbeitsteiligen Reduktionismus ihrer Denkmodelle haben die akademischen Einzeldisziplinen als Ganzes daraufhin kaum umgestaltet. Chemiker, die Mittel zur Massentötung von Menschen geschaffen haben, Mediziner, die berufsmäßig zu töten vermochten (Lifton 1986), alle haben sie stets einen persönlichen Rechtfertigungsglauben ersonnen. Die einen meinten, sie handelten zum alleinigen „Wohl der Nation“. Die anderen behaupteten, sie hätten ausschließlich den Zielen ihrer „Wissenschaft“ dienen wollen. Und diese einzelnen Disziplinen haben sich selten und dann eher behutsam distanziert von derartigen Tätern. Meist vermochten sie ihrerseits den allgemeinen Glauben an die gesellschaftliche Nützlichkeit ihrer Disziplin noch zu intensivieren. Manche Disziplin hat sich bisher überhaupt nicht distanziert von den menschenverachtenden Praktiken ihrer Berufsangehörigen. Ein wirklicher Wandel der bevorzugt analytischreduktionistischen Erkenntnismethoden ist dadurch nicht eingeleitet worden. Nur in einigen Menschenwissenschaften mit besonderem Augenmerk für die ältere philosophische Tradition kamen verhaltene Wünsche nach mehr Austausch zwischen den Disziplinen auf (Schelsky 1963; Schwarz, R. 1974; Holzhey 1974, 1976; Kocka 1987). 9.
Modelltheoretischer Reduktionismus
und ausschließliches „Analysieren“ sind die Erkenntnismethoden der Naturwissenschaften geblieben. Bevorzugt werden alle Verfahren, die versprechen, die Komplexität von Problemen rasch zu verringern, oder durch die sich alle Fragen in einzelne Bestandteile zerlegen lassen. In diesem Glauben an den Erfolg des extremen Reduktionismus und das heißt auch: dem Glauben an die notwendige Ausschaltung 168
jeglichen gesellschaftlichen Aspektes, vollzieht sich die normale berufliche Sozialisation jedes technisch-naturwissenschaftlichen Forschers. Hinzu kommt der Glaube, sämtliche dabei verwendeten Denkmodelle beruhten allein auf momentaner gedanklicher „Konstruktion“. Nicht zufällig zählen zu den „radikalen Konstruktivisten“, die dieses Denkmodell universal verbindlich machen wollen, „Kommunikationstheoretiker“ und Physiker (Gumin/Mohler 1985). Erst eine Art mikrosoziologische intime Betrachtung des tatsächlichen Verhaltens von Naturwissenschaftlern macht deutlich, wie sehr gerade das „naturwissenschaftliche Labor als Ort der ‘Verdichtung’ von Gesellschaft“ (Knorr-Cetina 1988) zu betrachten ist. Nahezu die gesamte Wissenschaftstheorie hat sich nun am „Erfolg“ der naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen zu orientieren versucht. Mit Blick auf die Denkmodelle der Physik, wenn auch mit größer werdender Distanz zu einer wachsenden Zahl anderer Disziplinen, haben die philosophischen Wissenschaftstheoretiker einen Geltungsanspruch für alles „wissenschaftliche“ Arbeiten aufgebaut. Unter dem Einfluß der analytischen Sprachtheorien ist jetzt sogar den Geschichtsforschern (Acham 1974, 1983) empfohlen worden, die analytische Wissenschaftslehre zu befolgen. Das Wort „Synthese“ ist in den Lehr- und Wörterbüchern dieser Denker nicht mehr zu finden. Erst recht ist der Vorgang selbst, bleiben die menschlichen Fähigkeiten, Synthesen bilden zu können, ganz unbeachtet. 10. Wo findet der Austausch wissenschaftlichen Wissens hauptsächlich statt? Wo findet angesichts dieser tatsächlichen und von den Wissenschaftstheoretikern weithin geförderten Zersplitterungstendenzen der Wissenschaften überhaupt ein Austausch, eine „interdisziplinäre“ Kooperation, eine wenigstens teilweise Integration der Denkarbeit der Einzelwissenschaftler statt? Von der überwiegenden Mehrzahl der „Natur“forscher, doch auch der sogenannten Geisteswissenschaftler (ich bevorzuge die englisch-französische Bezeichnung: Menschen- oder Humanwissenschaftler) wird diese Frage gar nicht gestellt. Doch beide Gruppen haben dafür sehr unterschiedliche Veranlassung; denn die gesamten Denkarbeitsbedingungen, die Denkarbeitsverhältnisse und die meisten Arbeits- und Denkproduktionsmittel unterscheiden sich grundsätzlich. Dies ist auch denjenigen soziologischen Wissenschaftsforschern aufgefallen, die die „Autonomie der Wissenschaften“ behaupten, vorbehaltlos den philosophischen Wissenschaftstheoretikern folgen und für die „das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft umstandslos in ‘transwissenschaftlichem’ Einerlei verschwimmt.“ (Baecker 1985) Sie „entdecken“ dann erstaunt die harschen und unbeugsamen „Autoritätsstrukturen“ im Instituts- und Laborbetrieb (Knorr-Cetina 1988), denen sich die Laborforscher unterwerfen. Die vorliegende 169
Untersuchung folgt diesem akademischen Forschungsmuster nicht, das die Machtdifferentiale zwischen Wissenschaftlern, den Personen wie den Berufsgruppen, modelltheoretisch eliminiert; sondern sie macht sie zum Mittelpunkt wissenschaftssoziologischer Forschung. 11. Die tendenzielle Verlagerung der Schwerpunkte des wissenschaftlichen Austausches Am Beispiel des zu seiner Zeit aufgeklärten Bernheimschen Lehrbuches ließen sich grundlegende Schwerpunktverlagerungen des Wissensaustausches im Verlauf eines Jahrhunderts gut skizzieren. Einige Tendenzen in Stichworten: Die deutschen Geschichtsforscher begreifen sich mehr und mehr als staatstragende „Zunft“ (Reill 1975; Bödeker et.al. 1986; Iggers 1975), binden sich stärker an die Staatsspitze und praktizieren intensiver die soziale Schließung gegenüber wissenschaftlichen Außenseitern, die eine größere soziale Distanz zur preußisch-deutschen doch auch zur österreichischen Staatsführung bevorzugen (Schleier 1975; Fellner 1985; vom Brocke 1971). Der Zusammenbruch des „Bildungsbürgertums“ schwächt die Austauschfunktionen der wissenschaftlichen Honoratiorenverkehrsformen, der Vereine, der Akademien und vor allem der Fakultäten. Ein beträchtlich davon abweichendes berufliches Entwicklungsmodell, das schließlich gegen Ende des 20. Jahrhunderts der Integration gegenüber anderen humanwissenschaftlichen Fächern viel offener bleibt, vollzieht sich mit der „Professionalisierung des Historikerberufes in Frankreich“ (den Boer 1987). Für die meisten anderen Wissenschaften entstehen ganz neuartige soziale Orte des Wissensaustausches. Der weltweite soziale Aufstieg der naturwissenschaftlich-technischen Forschung hat neben den überkommenen bildungsbürgerlichen „Intellektuellen“ eine „neue Klasse der Technischen Intelligenz“ entstehen lassen (Konrád/Szelényi 1978; Gouldner 1979). Sie forschen und arbeiten vornehmlich in den Abhängigkeitsstrukturen größerer Betriebe, sei es in „Universitäten“ oder unmittelbar in der Industrie. Und hauptsächlich dort findet auch der normale Wissensaustausch statt. 12. Zunehmende Tendenzen der Professionalisierung wissenschaftlicher Denkarbeit Wir können die besonderen Schwierigkeiten des Wissensaustausches zwischen akademischen Berufen kaum hinreichend verstehen, ohne ein klareres Bild von den Prozessen der Verberuflichung und der Professionalisierung zu gewinnen. Mit 170
Verberuflichung oder besser mit „Berufekonstruieren“ bezeichnen wir vor allem das planmäßige Entwerfen von Mustern zur Qualifizierung von Personen (Hesse 1968), die ihre Arbeitskraft auf Arbeitsmärkten zum Tausch anbieten. Diese „beruflichen Qualifizierungsmuster“ werden hauptsächlich von berufsfremden Interessenten entworfen und kontrolliert. Das sind vornehmlich (oder ausschließlich) alle diejenigen, die ein Interesse an mit Gewißheit qualifizierteren Arbeitskräften haben, hauptsächlich also Industrieunternehmen und -branchen. Ganz anders die „Professionalisierung“. Sie steht hier im Vordergrund der Untersuchung; denn die meisten „akademischen Berufe“ bilden sich im Industriekapitalismus nach dem Entwicklungsmodell der Professionalisierung heraus. Den Entstehungsanlässen und den besonderen Machtquellen der akademischen Berufe (Freidson 1986) gilt hier unser Augenmerk. Im gesellschaftlichen Kampf der akademischen Berufe geht es in Industriegesellschaften mit eher privater Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Produktionsmittel und ganz ähnlich (höchstens graduell verschieden) in denen mit mehr staatlicher Verfügungsgewalt einmal darum, die Ausgestaltung der beruflichen „Qualifizierungsmuster“ durch die Berufsangehörigen allein vorzunehmen. Und zum zweiten kämpfen diese Berufsverbände um das alleinige Recht, ihre Arbeitsleistungen auf den Märkten anbieten zu können. Die höchste Gerichtsbarkeit folgt in vielen Staaten diesem Interesse an möglichst eindeutigen Zuordnungen der gesellschaftlichen Verfügung über Wissen durch Professionen in ihrer Rechtsprechung. Allein die wachsende Dynamik nationaler, kontinentaler oder weltweiter Arbeitsmärkte entwickelt sich großenteils in eine andere Richtung und mit kaum vorhersehbaren Diskontinuitäten. Einmal ist an einem Ort ein ganz unerwartetes quantitatives Anwachsen der Zahl von Wissenschaftlern festzustellen. Ein andermal nimmt die Nachfrage nach ganz bestimmten wissenschaftlichen Beratungsleistungen schlagartig zu. Ein weiteres Mal sind größere Gruppen höher qualifizierter Wissenschaftler recht plötzlich den sozialen Folgen neuartiger Kapitaldispositionen schutzlos preisgegeben; zum Beispiel sind kapitalintensive Programme zur Weltraumerforschung unvermittelt abgebrochen worden; Sozialprogramme sind beendet oder Abrüstungsvorhaben verwirklicht worden. Die weltweite Zunahme der akademischen Professionalisierungstendenzen ist auch eine spontane Reaktion auf diese sozialen Lebensrisiken für den Einzelnen. Die Professionen versuchen, das Wissen zu monopolisieren, indem sie ihren Einfluß auf die „Qualifizierungsmuster“ und auf ihre marktgängigen Berufsleistungen selbst monopolisieren wollen. Insofern sind wenigstens die etablierteren akademischen Professionen die größten Hindernisse gegen den stärkeren „interdisziplinären“ Austausch von Wissen (solange er nicht eigens bezahlt wird). Natürlich möchten sie auch den Berufswechsel von Berufsangehörigen verhindern oder erschweren. Im Kern kämpfen sie um die Sicherung und Steigerung der Entschädigungschancen, des Entgelts für die Veräußerung ihres 171
Wissens. Herausragendes Organisationsziel der akademischen Berufsverbände war und ist hier die Verwandlung des Preises, das heißt, des am jeweiligen Markt erzielbaren Leistungsentgelts in Gebühren, also in von einer rechtlichen „Ordnung“ garantierte, marktunabhängige Leistungsentgelte. 13. Tendenzen der sozialen Schließung und der relativen Öffnung von Professionen Als ein naheliegendes Beispiel möchte ich Historiker und Psychologen vergleichen. Von Historikern sind verstärkt Appelle für ein Mehr an „interdisziplinärer“ Zusammenarbeit zu vernehmen (Kocka 1987; Nolte 1988). Gilt dies in gleicher Weise auch für die Psychologen? Beide Berufe können als hochgradig professionalisiert bezeichnet werden. Aber entwickeln sie ihre Praktiken der sozialen Schließung in derselben Richtung? Die Professionalisierung der deutschen Geschichtsforscher ist ein sozialer Prozeß von weit mehr als zweihundert Jahren Dauer. Über viele Generationen hinweg praktiziert eine sehr kleine Gruppe von Personen Extremformen der sozialen Schließung, des Erschwerens eines Zuganges zum Beruf für andere. Die Wissenschaftsgenealogie der „Priester der Klio“ liest sich wie ein Adelskalender (Weber, W. 1987). Der relative Höhepunkt dieses Prozesses liegt etwa um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Profession genießt unbestritten Weltrang. Ihre hauptsächliche berufliche Machtquelle bezieht sie aus der großen Nähe zur Staatsspitze; für sie verwaltet und beschafft sie nahezu ausschließlich das Legitimationswissen, dessen die Regierung eines rasch aufwärts (nach der „Weltmacht“) strebenden neuen Nationalstaates dringender bedarf denn je. Der Adel befindet sich im Niedergang. Die Juristen verwalten eher das Organisationswissen. Seit dieser Zeit werden jedoch die allmählichen Tendenzen einer sozialen Öffnung des Historikerberufes stärker. Demokratisierungstendenzen und vor allem die langsame Etablierung sozialwissenschaftlicher Berufe verringern die Bedeutung, die das Geschichtswissen besonders für die konstitutionelle Monarchie gehabt hat. Republikanische Regierungen sind stärker auf das sozialtechnische Wissen etwa von Ökonomen, Soziologen, Politologen oder Psychologen angewiesen als beispielsweise auf Geschichtswissen über Verflechtungen zwischen adligen Herrscherhäusern. Trotzdem verläuft die soziale Öffnung der Geschichtsforscher gegenüber etwa dem Wissen der aus der politischen und wissenschaftlichen Opposition des 19. Jahrhunderts aufsteigenden Sozialforscher auch noch zum Ende des 20. Jahrhunderts ungewöhnlich langsam – setzen wir etwa das rasche weltweite Wissensaustauschtempo in einzelnen Ingenieurwissenschaften oder in einem von der Gesundheitsindustrie besonders gefragten Fach wie der Kardiologie in Vergleich dazu. Ein Historiker versteht seine theoretische Position als wissenschaftlich 172
fortschrittlich, wenn es ihm im Jahre 1987 gelingt, das strukturelle Kernwissen sozialwissenschaftlicher Zentralfiguren ihres jeweiligen Jahrhunderts, etwa Marxens von 1883 oder Max Webers von 1920, in sein eigenes Denkmodell zu integrieren. Ganz anders die Psychologen. Zwar gibt es viele Vorläufer und „Wegbereiter“ (Jüttemann 1988) der Psychologie seit Generationen und in den verschiedensten akademischen Fächern. Aber die entscheidende Professionalisierungsphase, die stärkere soziale Schließung des Zugangs zum eigentlichen beruflichen Tätigkeitsfeld mittels formaler Qualifizierungsmuster etc. ist vergleichsweise jung, wenige Jahrzehnte alt. Tendenzen der sozialen Schließung des Berufsfeldes, beispielsweise durch strengere Prüfungsordnungen, nehmen eher zu. Die große Mehrzahl der psychologischen Forscher beharrt auf einer strikten Zugehörigkeit des Faches zu den „Naturwissenschaften“, das heißt sie bevorzugen nomologische Verfahren. Eine wachsende Anzahl der am Ende des 20. Jahrhunderts ausgebildeten Psychologen sucht ihre erwerbsberufliche Tätigkeit außerhalb des staatlichen Stellenmarktes, wenn auch wesentliche Impulse für die soziale Etablierung der Psychologen direkt aus staatlichen Bedürfnissen herrühren. Auf den Dienstleistungsmärkten des Sozialstaates und der Gesundheitsindustrie befinden sich Psychologen im heftigen Kampf mit anderen Beratungsberufen. Warum dieser Vergleich? Die relative Bereitschaft einer akademischen Berufsgruppe zum Wissensaustausch hängt auch ab von den Machtdifferentialen zwischen den Professionen und noch stärker auch von der Entwicklungsrichtung der Professionalisierung eines Faches im Vergleich zu anderen. Die einst auf einem Höhepunkt der Etablierung gewesene Professionalisierung der Historiker kann sich praktisch nur verringern. Die Mehrzahl der deutschsprachigen Geschichtsforscher stammte und stammt großenteils noch aus der Bildungsschicht. Akademisch ausgebildete Historiker hatten fast ausnahmslos Stellen im Staatsdienst, das heißt mit einem hohen Maß an sozialer Sicherung. Das hat sich grundlegend geändert. Erstmals in der langen Geschichte der (westdeutschen) Geschichtswissenschaft sind mehr und mehr jüngere Geschichtsforscher gezwungen, sich außerhalb des staatlichen Stellenmarktes nach einer Berufschance umzusehen. In dieser für einen Großteil der Historiker neuartigen beruflichen Ungewißheit suchen viele von ihnen nach neuen Tätigkeitsfeldern und halten sich daher für zahlreiche „interdisziplinäre“ Kontakte bereitwilliger denn je offen. Wahrscheinlich nimmt diese Tendenz zu. 14. Wandlungen in der gesellschaftlichen Funktion der Universität für die verschiedenen Wissenschaften Ein feste Burg ist unsere Universität? Sicher hat die akademische Intelligenz aus dem vergleichsweise ärmlichen deutschen Bürgertum des 18. Jahrhunderts sehr oft 173
die Universitäten als ein Bollwerk gegen kirchliche Bevormundung oder adliges Hegemonialstreben an der Spitze der meisten deutschen Kleinstaaten interpretiert und gebraucht. Und sicher ist sie vorzüglich dadurch im 19. Jahrhundert stärker geworden als etwa die Intelligenz in solchen Staaten, die zur gleichen Zeit durch einen industriell unternehmerischen Adel oder ein auf dem Weltmarkt aktives Stadtpatriziat angeführt worden sind wie England oder die Niederlande. Sicher hat die Kleinstaatenkonkurrenz und die „verstaatlichte deutsche Intelligenz“ (Wehler 1987) zu der privilegierten herausragenden Stellung der Universitäten des Deutschen Reiches am Ende des Jahrhunderts beigetragen. Mit dem Aufkommen der Großindustrie gewinnen die Naturwissenschaften in den Universitäten an Einfluß. Etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts und gefördert durch zwei große Kriege verstärkt sich das Gewicht der Ingenieurwissenschaften. Zur Förderung der Großindustrie entsteht erstmals eine verhältnismäßig kapitalintensive staatliche Großforschung außerhalb der Universitäten. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben sich die eigentlich innovatorischen Schwerpunkte für einige Natur- und Ingenieurwissenschaften beinahe vollständig auf die Industrieforschung verlagert. In einer zunehmenden Zahl von Disziplinen bilden sich die innovatorischen Forschungsschwerpunkte von vornherein außerhalb der Universitäten unter der Kontrolle der Industriezweige oder einzelner transnationaler Unternehmen. Beispiele finden wir in der Pharmaforschung, in der Fahrzeugindustrie, der Gentechnologie oder den neuen elektronischen Technologien. Dort, unter Bedingungen der Großindustrie und der entsprechenden Interessen am Weltmarkt arbeiten Forscher dieser Fächer „interdisziplinär“. In welcher Richtung wandelt sich die gesellschaftliche Aufgabe der Universitäten? Sicher sind die Universitäten in bestimmter Hinsicht noch ein Bollwerk; sicher sind sie das für die Klasse der Intellektuellen (Gouldner 1979) weniger als etwa im 18. Jahrhundert. Und für einen wachsenden Teil der technischwissenschaftlichen Intelligenz und einen zunehmenden Anteil aller Jugendlichen einer Generation sind sie hauptsächlich allein berufliche Ausbildungsstätten für wissenschaftliche Aufgaben in der Industrie geworden. In Industriezweigen, die selbst Forschungs- oder Entwicklungszentren unterhalten, werden an die Hochschulen gerade erst recht allgemeine berufliche Qualifizierungserwartungen herangetragen mit oftmals klaren Vorstellungen darüber, welche Fächer in den Qualifizierungsmustern der Universität unbedingt eingeschlossen oder eher vernachlässigt werden sollten. In vielen dieser Fächer hat sich zwischen der Forschung der Universitätsprofessoren und der Industrie ein hohes Maß an Übereinstimmung der Interessen gebildet. Aus den weltweiten Interessen der Arbeitsherren mancher künftiger Industrieforscher wirkt manches an den Universitäten provinziell. Ähnliche Tendenzen, wenn auch in anderer Gewichtung, finden wir in den Staatengesellschaften des realen Sozialismus. Die als gesellschaftlich zentral 174
begriffene Forschung wird in größerem Maße außerhalb der Universitäten betrieben. Die Universitäten werden weit mehr als reine Ausbildungsstätten angesehen. Verflechtung, Personalaustausch und Kooperation mit der Industrie sind intensiver. Der eigentümlich berufsständische Charakter der meisten akademischen Disziplinen hat den Wissensaustausch eher erschwert, den Mangel an intellektueller Konkurrenz vergrößert und allgemein in gleichem Maße zur Privilegierung, wie zur Stagnation und zum sozialen Immobilismus beigetragen (Konrád/Szelényi 1978). 14. Personenlernen und Organisationslernen – philosophisches Ideal und Forschungspraxis Das ausdrückliche Verlangen nach „Interdisziplinarität“ folgt einem Ideal der älteren Philosophie, der Vorstellung, daß es stets um den Austausch zwischen zwei (oder wenig mehr) Personen gehe. Moderne Nachfolger der Stoa, der „Akademien“ oder der Gelehrtenstube etwa des 18. Jahrhunderts (Kolleg: privatissime et gratissime) sind die sich nun weltweit ausbreitenden Einrichtungen vom Typ des „Institute of Advanced Studies“. Sie dienen nahezu ausschließlich dem mehr oder weniger ausgedehnten, jedenfalls immer befristeten Dialog zwischen wenigen „Geisteswissenschaftlern“. In der Bundesrepublik hat H. Schelsky (1963), ursprünglich Philosoph, sich rückwärts wendend, an W. v. Humboldt erinnert und mehr „Einsamkeit und Freiheit“ für die moderne Gelehrtenstube gefordert. Er hat beinahe im Alleingang eine neue Universität gegründet; sie gab erstmals den modernen Geschichts- und Sozialwissenschaftlern eine Fächerdominanz innerhalb einer Neuuniversität, wie sie bis dahin in Deutschland unbekannt gewesen war. Ähnliches gilt für seine Version von „Princeton“, das ZiF. Doch seine Vorstellung, eine moderne Universität könne von sich aus auch einfach neue akademische Berufe schaffen, beruhte auf einer Fehleinschätzung der Entstehung dieser Berufe. Sie basierte auf seiner mangelnden Kenntnis der typischen Machtkonstellationen, der Figuration sich wechselseitig kontrollierender Interessen an der Ausgestaltung beruflicher Qualifizierungsmuster. In denjenigen Einzelwissenschaften, deren Forschungs- und Lernprozesse notwendig – sei es zeitweilig oder fortwährend – auf strikter Betriebsförmigkeit der Wissensgewinnung beruhen, haben sich auch gänzlich andere Formen des kooperativen Lernens herausgebildet. Einmal gibt es in derartigen Forschungsgruppen ein hohes Maß von „schweigendem Wissen“ (M. Polanyi) etwa zur Handhabung bestimmter Geräte. Es ist praktisch niemals Gegenstand schriftlichen Austausches. Dagegen ist es in vielen dieser Forschungs- und Entwicklungsgruppen üblich und meist erforderlich, die Lernprozesse der gesamten Gruppe dadurch zu ergänzen, daß einzelne Angehörige, häufig dabei technisch spezialisiertes Personal (ohne akademische Ausbildung), zeitweilig in fremden Forschungsgruppen (meist des 175
Auslandes) lernen müssen. Nur so kann spezielles Wissen anderer in den eigenen Forschungsprozeß integriert werden. In der Regel sind diese Art von Forschungsprozessen aber auch an meist hochkapitalintensive Denkproduktionsmittel gebunden. Auch darin gleichen die „Labors“ dem Industriebetrieb bis in alle Facetten einer arbeitsteiligen Kooperation. Häufig treffen wir Philosophen oder Soziologen mit der Vorstellung, beispielsweise ein Immunologe könne quasi mit Blick auf seine Weißen-Mäuse-Ställe über die „gesellschaftliche Relevanz“ seines Tuns „aufgeklärt“ werden oder ein Mikrobiologe gewissermaßen bei der Arbeit am Elektronenmikroskop belehrt werden über mögliche gesellschaftliche Folgen seiner Tätigkeit. Der für die angehenden Wissenschaftler sämtlicher Disziplinen obligatorische Unterricht etwa im Fach „Gesellschaftslehre“, wie ihn die Hochschulen im realen Sozialismus kannten, war auch aus derartigen Vorstellungen erwachsen. Solche Konzepte unterschätzen die Intelligenz von Wissenschaftlern und vergessen meist das tatsächliche Machtgefüge zwischen wissenschaftlichen Disziplinen (vgl. besonders Bourdieu 1984). 16. Wandlungen in den affektiven Bindungen von Forschern Jeder Lernprozeß wird auch von einem Wandel der affektiven Bindungen des Lernenden begleitet. Jede wissenschaftlich produktive Denkarbeit vollzieht sich auch im Wandel der Bindungen der Forscher an Denkgemeinschaften (Fleck, L. 1935/80). Wie eng oder weit die „Scientific Communities“ (Hagstrom 1965) sind, denen sich der einzelne Forscher verbunden fühlt, hängt weitgehend ab vom formalen Status eines Forschers, der Art einer Disziplin und besonders auch der absoluten Anzahl von Personen in einem „Fach“. Für den Praktikanten mag das seine derzeitige Forschungsgruppe sein; für den etablierteren Wissenschaftler sein weltweites Beziehungsnetz zu wenigen Fachgenossen. Doch in den meisten Fällen sind diese wissenschaftlichen Denkgemeinschaften auch die Impulsgeber oder Kontrolleure seiner wissenschaftlichen Lernprozesse. Einige Wissenschaftstheoretiker haben das Bestehen solcher Gemeinschaften leugnen wollen; etwa Th. Kuhn (1962), wenn er die aus den 30er Jahren dieses Jahrhunderts stammende Wissenschaftssoziologie von Ludwik Fleck wieder zurück in „philosophische Erkenntnislehre“ verwandeln wollte (Baldamus 1977). Zahlreiche höhere juristisch geschulte Beamte in den Wissenschaftsbürokratien vermeiden jede Bemerkung über die eigentlichen Inhalte (oder gesellschaftliche Funktionen) von Wissenschaft. Die Autoren der meisten neueren „Hochschulgesetze“ enthalten sich jedes Wortes dazu. Als leibliche personale Träger wissenschaftlichen Wissens scheinen sie nur „berufsbefähigt“ examinierte Studierende zu kennen. Auch ein Universitätskanzler kann wohl das je bestimmte Wissen nicht im 176
Zusammenhang der eigentlichen Wissens- und Denkgemeinschaften wahrnehmen, wenn er die Universität nur als Ansammlung von hundertundsiebzig Kleinbetrieben zu sehen vermag, deren Leiter sich wenig sagen ließen. Die tätigen Wissenschaftler dagegen sind in ihrem eigenen Lernen existentiell abhängig von engen Bindungen an andere. Wir finden kaum ein einziges wissenschaftliches Buch, in dessen Vor- oder Nachwort nicht (wenigstens teilweise) solchen dem Autor nahestehenden Personen gedankt wird. 17. Einflüsse von Außenseitern auf die etablierten Fächer Man wird den Wissensaustausch schwerlich anhand der vielgestaltig etablierten wissenschaftlichen Einrichtungen allein beurteilen können – und noch kein Wort ist bisher gesagt über das hochentwickelte Bibliotheks- und Kongreßwesen, um das uns jeder Forscher noch des 18. und 19. Jahrhunderts beneidet hätte, ohne auch auf die unerwarteten Einflüsse von außen zu achten. Viele moderne Wissenschaftstheoretiker lehnen diese Auffassung kategorisch ab. So bestehen verschiedene nordamerikanische Schulen strikt auf dem Grundsatz, die Wissenschaft erzeuge ihre Fragen und Lösungsvorschläge ganz autonom. In den deutschsprachigen Sozialwissenschaften beispielsweise wird diese Auffassung radikal vertreten von dem Philosophen und Soziologen Niklas Luhmann. Das Hauptinteresse eines Professors richte sich demgemäß vor allem darauf, seine „Reputation“ zu vergrößern. – Doch das wissenschaftliche Wissen (und schon gar nicht in Verbindung mit seinen leiblich-personalen Trägern) ist keine bloße Geltungssache. Für soziale Überlebenseinheiten wie Gesellschaften des Typs, in dem wir leben, gehört es zu den unerläßlichen Existenzgrundlagen jedes einzelnen Menschen. – Man kann also den Transfer wissenschaftlichen Wissens nicht allein mit dem Blick auf das in sich – durch „Berufe“ und andere etablierte Interessen – sozial verflochtene Wissenschaftssystem analysieren. Viele „soziale Bewegungen“ sind seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts und besonders im Verlaufe des 20. Jahrhunderts zu einem maßgebenden organisierten Träger neuer Versuche von Synthesen wissenschaftlichen Wissens geworden. Oft sind sie rationaler strukturiert, und meistens sind sie innovativ (Raschke 1985) und transnational wie die Wissenschaft. Wenn wir gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine historische Methodologie wie die Ernst Bernheims noch mit Gewinn lesen, dann besonders auch deshalb, weil er sich ausführlich mit der wissenschaftstheoretischen Opposition seiner Zeit befaßt. Er tut dies, während praktisch kein Sozialdemokrat in einflußreichen staatlichen Ämtern sitzt und schon gar nicht etwa eine universitäre Stelle als namhafter Historiker hätte bekleiden können. Und diese Haltung praktiziert ein Professor der Geschichtswissenschaft, während sich die „Zunft“ auf dem Höhepunkt ihres 177
staatstragenden Einflusses sieht. Ähnlich verfährt Bernheim mit der Auseinandersetzung um die „Kulturpsychologie“, dem sogenannten Lamprechtstreit usf. Ganz verwandte Auseinandersetzungen spielen sich nun zwischen den einzelnen etablierten Disziplinen und den neuen sozialen Bewegungen ab. Viele einzelne Strömungen etwa der Umwelt- oder der Friedensbewegung bekämpfen durchweg die Methodologien eines radikalen Reduktionismus und setzen an dessen Stelle vielgestaltige Synthesen von „natur“- und „gesellschafts“(politischem) wissenschaftlichem Wissen. Manche schafften es innerhalb von weniger als einem Jahrzehnt, selbst zum organisierten Träger exemplarischer Forschung zu werden. Es sind vornehmlich solche Wege des Neuformulierens wissenschaftlicher Fragestellungen, die zwar gegen etablierte „Berufe“ und Interessen sowie gegen manche berufliche Monopolansprüche gewendet waren, aber doch zu wissenschaftlichen Fragestellungen auf einem neuen Synthesenniveau (Elias 1984) führen; und das heißt auch: zur Integration von zuvor getrennten Verfahren des Erkenntnisgewinnens. 18. Was kommt nach der „interdisziplinären“ Denkarbeit? Es scheint auch den idealistischen Rufern nach mehr „interdisziplinärer“ Arbeit selbstverständlich, daß sich so ein Austausch zwischen Wissenschaftlern verschiedener Fächer nicht ununterbrochen fortsetzen läßt – selbst im idealen Fall nicht. Aber – Idealfall oder nicht – was kommt danach? Ist es wirklich „normal science“, wissenschaftlicher Alltag – wie Th. Kuhn (1962) das nennt? Die wenigsten Vertreter eines Rufes nach mehr Austausch haben sich dazu geäußert. Meine Antwort mag daher überraschen. Wenn wir davon ausgehen, daß sich fortlaufend arbeitsteilig weitere Teilbereiche zu selbständigen „Disziplinen“ entwickeln, dann besteht eine Modellvorstellung darin, daß sich alle diese „neuen“ Fächer tendenziell um ein neues „Paradigma“ (Kuhn 1962) gewissermaßen autopoetisch (Luhmann) und allein gesteuert durch die Wissenschaft selbst bilden. Ich halte diese Vorstellung für ahistorisch, statisch und idealistisch. Geht man dagegen aus von einem „Modell der Modelle“ (Elias 1983a), einer Vorstellung vom dynamischen sozialen Zusammenhang aller Wissenschaften untereinander aus, rücken zum Beispiel die eklatant unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten und – bisweilen auch – die verschiedenartigen Entwicklungsrichtungen der einzelnen Disziplinen in den Vordergrund jeder wissenssoziologischen Untersuchung. Jeder tatsächliche Austausch zwischen zwei oder mehr Fächern ist in seinem angebbaren Erfolg dann abhängig hauptsächlich von der jeweiligen relativen Stärke der Disziplinen untereinander, von deren einzelnem 178
Entwicklungstempo und der Entwicklungsrichtung. Ich habe versucht, dies im Vergleich der Professionalisierung von Geschichte und Psychologie zu zeigen. „Nach“ einer „interdisziplinären“ Denkarbeitsphase folgen neue. Sie beginnen, wenn die zerstreuten aus „Analysen“ stammenden Einzelergebnisse zu neuen Synthesen verbunden worden sind. In den Verfahren des Bildens von „Synthesen“ kann übrigens noch mancher nach Bernheim geborene Geschichtsforscher von seiner Methodologie lernen. Bernheim lehnte zwar den Begriff ab, interpretierte Henri Berrs Wortgebrauch absichtlich falsch, aber er beschrieb doch das Verfahren in vorbildlicher Weise. 19. Das Arbeitsleben von Wissenschaftlern und das Erlernen von „Fachwissen“ In Gesellschaften, deren Überleben mehr und mehr auf der Produktivkraft der Wissenschaften gründet, erhalten das Lerntempo und die Lernfähigkeit wissenschaftlich zunehmende Bedeutung. Wissenserzeugung, Wissensaustausch und Wissensentwertung werden in den auf verwissenschaftlichter industrieller Produktion beruhenden Gesellschaften im Ganzen beschleunigt. Neben der raschen zahlenmäßigen Zunahme von Forschern bedeutet dies für viele von ihnen auch: Die meisten Wissenschaftler erfahren die hier aufgeführten Prozesse des Wissensaustausches weniger zu ein und demselben Zeitpunkt ihrer Biographie als vielmehr im zeitlichen Nacheinander ihres Arbeitslebens. Und einige durchlaufen die meisten dieser Stationen des akademischen Lernens mehrmals hintereinander (Für einen Teil der qualifizierteren Arbeiterschaft – nicht zu reden von denen, die eher dequalifiziert werden sind Formen eines „lebenslangen Lernens“ notwendig und selbstverständlich geworden.). In wissenschaftlichen Disziplinen mit einem relativ hohen Entwicklungstempo muß der einzelne Forscher im Laufe seines Arbeitslebens unter Umständen bereits innerhalb seines eigenen Faches den mehrfachen kompletten Austausch seines einmal zuvor erlernten Wissens durchmachen. Er muß mehr und mehr in die Lage gebracht werden, das ältere Wissen gegen wirklichkeitsgerechtere Kenntnisse auszutauschen. Versetzen wir uns einen Augenblick in die beschauliche Gelehrsamkeit etwa der Zeit, als Kant sich „Über den Streit der Fakultäten“ ereifert. Die Anzahl der Forscher scheint uns lächerlich gering zu sein, ihr Wissensumfang ebenso, messen wir ihn etwa an der Anzahl der Bücher. Im Vergleich dazu sind die gesellschaftlichen Anforderungen an die Lernfähigkeit jedes einzelnen Wissenschaftlers jetzt auf ein Niveau hochgeschraubt, wie es die Menschheitsgeschichte nie zuvor gekannt hat. 179
Die Biographien von Forschern sind dafür geeignete Zeugnisse. Für wenige Disziplinen dürfte es mehr oder kompetentere Biographien geben als für die Geschichtswissenschaft. Und der säkulare relative Niedergang der Geschichtswissenschaft in Deutschland läßt sich vielleicht auch daran messen, daß die große Mehrzahl der Geschichtsforscher keineswegs immer den anregendsten Figuren ihrer Wissenschaft gefolgt ist. Das gilt sicher für K. Marx oder H. Th. Buckle, natürlich für E. Bernheim und manchen seiner Zeitgenossen (vom Brocke 1971; Fellner 1985). Fachwissenschaftlicher Fortschritt etwa in Gestalt der Weiterarbeit des Faches auf einem höheren Syntheseniveau war – und ist wohl noch – meistens verpönt. Das betrifft sicher Menschen wie Henri Berr oder Marc Bloch und natürlich erst recht Max Weber (Kocka et.al. 1988).
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3. Über gesellschaftliche Intellektualisierungsprozesse und Wissenssynthesen
Vergleichende Beobachtungen zum langfristigen Aufgabenwandel von Intellektuellen und wissenschaftlich-technischer Intelligenz „Unser Intellektualismus mag immer wieder die Sehnsucht nach einem überhistorischen, zeitlosen Subjekt in uns wachrufen, nach einem ‘Bewußtsein überhaupt’, dem Wissensgehalte entspringen, die unperspektivisch formuliert werden und die in Gestalt von zeitlos geltenden Regelhaftigkeiten fixiert werden können. Ohne Vergewaltigung des Objektes wird dies aber nicht gelingen können.“ (Mannheim, K. 1929/1985: 150). „Doch wenn das Kloster den Intellektuellen der mittelalterlichen Welt hervorgebracht, ist es der Kapitalismus gewesen, der ihn befreit und ihn mit der Druckerpresse beschenkt hat.“ (Schumpeter 1942/1950: 238). „Allgemein gesprochen haben Umstände, die einer allgemeinen Feindseligkeit gegen ein soziales System oder einem spezifischen Angriff auf ein System günstig sind, in allen Fällen die Tendenz, Gruppen ins Leben zu rufen, die sie ausnützen. Im Fall der kapitalistischen Gesellschaft jedoch ist noch ein weiterer Tatbestand zu beobachten: im Gegensatz zu allen anderen Gesellschaftstypen schafft, erzieht und subventioniert der Kapitalismus unvermeidlich und kraft gerade der Logik seiner Zivilisation ein festgewurzeltes Interesse an sozialer Unruhe.“ (Schumpeter 1942/1950: 235). „Deshalb habe ich die Formel von Weber abgeändert und verallgemeinert, und behaupte, daß der Staat der Träger nicht nur des Monopols der physischen Gewalt, sondern auch der legitimen symbolischen Gewalt ist.“ (Bourdieu 1991: 99). „Perhaps we should search with greater deliberation for symbolic determination of halfway houses between fantasy and reality-congruence.“ (Elias 1991b: 76).
1.
Gesellschaftliche Intellektualisierungsprozesse
Mit diesem Ausdruck werden in vielen Sprachen Wandlungen in Richtung auf stärker rationale Betrachtungsweisen menschlichen Lebens bezeichnet, wie sie einzelne oder ganze Gruppen und Generationen von Menschen durchmachen. Dabei bleibt es eine Frage, wie sich eine größere, doch engagierte soziale Distanz
gegenüber denjenigen gewinnen läßt, die die Intellektualisierungsprozesse in besonderem Maße durchlaufen. „Intelligenz“, „Intelligentsia“, „Intellektuelle“ – wie immer sie sich selbst nennen mögen, haben sich ja mit besonderer Vorliebe öffentlich mit ihren eigenen Zuständen und Befindlichkeiten oder denen ihrer Widersacher zu befassen verstanden. Diese Art Selbstdiagnosen gilt es stets zu achten. Wirklichkeitsgerechtere Denkmodelle von den gesellschaftlichen Intellektualisierungsprozessen, wie sie Soziologen des wissenschaftlichen und des symbolischen Wissens zu formulieren suchen, können aber nur aufgebaut werden, wenn die typischen Intellektuellenkonflikte sozial distanzierter ständig auch in den Zusammenhängen gesamt- und weltgesellschaftlicher Machtverlagerungen gesehen werden. In der schon lange zu beobachtenden Vielgestaltigkeit intellektueller Tätigkeiten in Europa56, in der generationenlangen Säkularisierungsarbeit57 vieler Intellektueller sind deren symbolische Orientierungsaufgaben nie beseitigt, meist nur umgeformt worden. In den modernen Staatsgesellschaften sind sie stärker mit deren Machtzentren verknüpft worden. Die modernen „Staaten“ sind nicht nur Zentren der legitimen physischen Gewalt gewesen, „sondern auch der legitimen symbolischen Gewalt“ geworden (Bourdieu 1991). Diese staatsgesellschaftlichen Machtzentren sind in besonderem Umfang intellektualisiert worden. Zugleich sind in sich allmählich organisierenden überstaatlichen Verbänden wie etwa in der größeren Überlebenseinheit „Europa“ ganz neue Funktionsintelligenzen mit einem besonderen „zwischenstaatlichen Interdependenzwissen“ (Haas, E.B., 1990) entstanden. 2.
Hohes Spannungsniveau der Intellektuellen-Diskurse
Intellektuelle und wissenschaftlich-technische Intelligenz entwickeln sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts in einer eigentümlichen Spannungsfiguration innerhalb ihrer Staatsgesellschaften. Während die organisierte wissenschaftlich-technische Intelligenz sich mit dem Staat vielerorts leichter einrichtet und an Zahl wie Einfluß erkennbar zunimmt, vermitteln die ambivalenten Haltungen vieler Intellektueller einen ganz anderen Eindruck.
56 Für die „Soziologie wissenschaftlichen Wissens“ vgl. besonders: Ben-David 1991. – Für die frühe Vielgestaltigkeit intellektueller Tätigkeiten vgl. Dales 1992. 57 Den Begriff übernehme ich von H. W. von der Dunk (1991).
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Beiden Gruppen geht es um menschliches Wissen – der Intelligenz vor allem um handlungspraktisches „technisches“ Wissen, vielen Intellektuellen oftmals um umfassendere gesellschaftliche Gedankengebilde. Sie sind im Rückblick auf europäische Traditionen des Philosophierens meist als „Ideen“ bezeichnet worden, im Hinblick auf Zukunftsvorstellungen oftmals als „Utopien“ und bei besonders auffälligem Phantasiegehalt häufig als „Träume“. Die charakteristischen Struktureigentümlichkeiten dieser Art von Gedankengebilde lassen sich nur im Zusammenhang mit den sozialen Wandlungen der Träger derartigen Wissens untersuchen.58 Wenn zentrale gesellschaftliche Leitideen „scheitern“, können manche ihrer intellektuellen Repräsentanten oftmals allein die eigene Sprachlosigkeit bekunden (vgl. etwa Negt 1991a). Deren Widersacher frohlocken stattdessen über „das Ende der Illusionen“ (Lübbe 1991), der „Träume“ oder gleich des ganzen „utopischen Zeitalters“ (Fest, J. 1991). Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts haben intellektuelle Autoren andere, deren Haltung sie nicht geteilt haben, gern des „Verrates“ bezichtigt oder auch als „weltliche Priester“ beschimpft (Schelsky 1977; Chomsky 1978). Sobald wir daher auch den gesellschaftlichen Symbolgebrauch (Elias 1991b) in die Analyse intellektueller Machtverlagerungen einbeziehen, wird unser Bild moderner Intellektueller in Staatsgesellschaften wirklichkeitsgerechter. Längst sind etwa aus den früheren „Wunsch“-Utopien, das ist gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu erkennen, eher „Furcht“-Utopien geworden (Elias 1982c). Und im Gefolge der dominant werdenden technischen Intelligenz verwandeln sich viele neue Zukunftsentwürfe nun in die Gestalt expertenhafter Horror- oder Zukunfts“Szenarios“, die stets verheißen, nur wenn man den technischen Experten folge, ließe sich der von diesen vorausgesagte Schrecken vermeiden. 3.
Zum Überleben notwendiges Wissen
Intellektuelle und Intelligenz finden wir in vielen durchaus unterschiedlich verfaßten Gesellschaften der Erde (Weber 1920; Shils 1972; Gella 1976; Goldman 1981; Lemert 1991). Ihre mehr oder weniger herausgehobene soziale Stellung59 (Shils 58 Für die ungezählten Überblicke über ältere westdeutsche Debatten vgl. beispielsweise Wiehn 1971; Sontheimer 1976. 59 Eine herausgehobene Stellung der Träger besonderen Wissens läßt sich ziemlich allgemein nachweisen. Die Frage jedoch, um die sich Generationen sozialwissenschaftlicher Intelligenzstudien drehten, ob die Intelligenz „Schicht“ oder „Klasse“ sei, und die daraus oft abgeleiteten Parteidogmen werden
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1972; Gouldner 1979; Boudon/Bourricaud 1982) ist unterschiedlich gut zu erkennen und nicht immer leicht abzugrenzen. Sie mögen manche Probleme mit sich selbst haben oder anderen Menschen gelegentlich bereiten. Jedenfalls erzeugen und verwalten, reflektieren und tradieren sie einen großen Teil des öffentlich gemachten Wissens ihrer Gesellschaften. In den wohlhabenderen Staaten sind sie zahlreicher anzutreffen, sozial in sich differenzierter und oft organisatorisch zerrissener. In den ärmeren Staaten ist ihre Zahl meist viel geringer, obwohl sie für deren Überleben oft wichtiger sind als für die Reicheren. Die Herausbildung breiter Schichten einer wissenschaftlich-technischen Intelligenz vollzieht sich meist im Verband mit der industriellen Entwicklung. Dabei kommt es oft zu ausgeprägten Ungleichzeitigkeiten. Es gibt beispielsweise eine größere Schicht gut ausgebildeter Menschen, deren innovatives Wissenspotential längere Zeit hindurch praktisch keine Verwendung findet: Oder die mit dem sozial verallgemeinert erfahrenen symbolischen Orientierungswissen befaßten Intellektuellen, also Journalisten, Schriftsteller, Künstler, Gelehrte, sind zahlenmäßig so schwach, daß sie ihre eigenen symbolischen Handlungsorientierungen kaum selbst zu erzeugen, zu reproduzieren oder zu erneuern vermögen. Ihnen bleibt dann oft lange Zeit hindurch einzig die Möglichkeit, das Denken und Wissen der reicheren Länder zu übernehmen. Diese wohlhabenderen industriellen Staatsgesellschaften, die mit anderen Wirtschaftsgesellschaften im härtesten Wettbewerb stehen, haben dagegen durchweg erkannt, in welch großem Umfang Intellektuelle und Intelligenzschichten für sie überlebensnotwendig geworden sind. 4.
Langzeitentwicklung intellektueller Tätigkeiten und Institutionen
Der lange Weg des Aufkommens von Intellektuellen ist in großen Zügen sichtbar. Ihre Herkunft und Zusammensetzung wandeln sich im Verlauf dieses Weges häufig (Le Goff 1986; Dales 1992; Kuczynski 1987). Einzelne Menschen, die erste kulturell aktive Rollen der Wissensvermittlung übernehmen, lassen sich im frühen europäischen Mittelalter im städtischen Umfeld kirchlicher Einrichtungen und hier beiseite gelassen. In dem Maße, wie es einem gelingt, Fragen oder Kategorien aus den Sozialwissenschaften (vornehmlich des 19. Jahrhunderts) „weg- oder umzudenken“ (vgl. Wallerstein 1991), Intellektualisierungsprozesse als Denkmodell statt der älteren Konzepte einzuführen, lassen sich zugleich diejenigen Prozesse darstellen, die einzelne Menschen wie ganze soziale Einheiten durchlaufen (und die natürlich auch rückläufig sein können).
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Universitäten ausmachen; Geschichtsforscher wie etwa Jacques Le Goff (1986) veranschaulichen das ausführlicher. In jenen charakteristischen gesellschaftlichen Individualisierungsschüben Europas, wie sie mit der italienischen Renaissance einsetzen, treten mehr und mehr einzelne Menschen wie etwa Künstler- und ErfinderIngenieure aus den überkommenen Bindungen ihrer sozialen Verbände heraus. Zu Übersetzern und Literaten gesellen sich im 17. und 18. Jahrhundert Juristen in höfischer Umgebung und Lehrer an vergleichsweise kleinen Universitäten, die „Philosophen“. Schließlich kommen besonders im 19. Jahrhundert zunehmend Lehrpersonen der öffentlichen Schul- und Hochschulsysteme sowie Schriftsteller und Journalisten auf den neuen Bücher- und Zeitungsmärkten hinzu. In manchen Ländern gelingt es zu dieser Zeit auch einigen bildenden Künstlern und Musikern, sich stärker von kirchlicher und adliger Vorherrschaft zu distanzieren. In verschiedenen Staaten wie etwa in England, Frankreich oder Polen werden die Intellektuellen deutlicher vom Adel beeinflußt als beispielsweise in den deutschen Kleinstaaten. Ort intellektueller Diskurse bleibt lange eher der vornehme Salon als das universitäre Seminar – in protestantischen Gebieten oft auch das Pfarrhaus. Seit den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wird im Gefolge der „Dreyfus-Affäre“ die Bezeichnung „Intellektuelle“ allgemein verwendet; mit dem Ende des 20. Jahrhunderts gebrauchen Sozialforscher den Ausdruck für alle vergleichbaren Personen anderer Länder und Zeiten (Ory/Sirinelli 1986; Goldman 1981). 5.
Anwachsen der wissenschaftlich-technischen Intelligenz
Daneben wächst im Laufe des staatlichen Ausbaus, später im Zuge der Industrialisierung, auch eine technische Intelligenz heran. Ob, wann und wieweit es sich hierbei um eine „Schicht“ oder eine „Klasse“ handelt oder eher um heterogene Gruppen mit einigen zeitweilig gemeinsamen Merkmalen, diese Art strittiger Fragen wird hier beiseite gelassen. Die technische Intelligenz bildet sich in den frühen Phasen der Industrialisierung hauptsächlich aus älteren oder neuartigen beruflichen Spezialisierungen. Beispielsweise werden die Drucker früh im 19. Jahrhundert zu einer Intelligenz der Arbeiterschaft und dann auch der Arbeiterbewegung. An manchen Orten werden bereits eine Generation vor dem Einsetzen der „industriellen Revolution“ die Anfänge eines „technischen“ Schulwesens gefördert, so etwa in Frankreich und in einigen deutschen Staaten, während etwa in England viel länger eine industrieeigene berufliche Ausbildung bevorzugt wird. Aus den Labors vieler Naturforscher und aus den Konstruktionsbüros moderner Ingenieure entsteht mit dem industriellen Wachstum ein Wissenspotential an menschlichen Handlungsregeln. „Technisches“ Wissen bezieht sich deshalb lange hauptsächlich auf Kunstfertigkei185
ten und Regeln für bessere menschliche Naturkontrollen; diese Bedeutung spiegelt sich noch in Bezeichnungen „technischer“ Schulen oder Hochschulen wider. Der Ausdruck „akademisch-technisches Wissen“ bezieht sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts durchweg auf das gesamte wissenschaftlich gewonnene normative Handlungswissen. Das wissenschaftliche Wissen der akademischtechnischen Intelligenz schließt nun nahezu das gesamte – nach bestimmten Denkschemata, nach „Paradigmen“ zustandegekommene und schulisch-normativ gelehrte – Regelungswissen ein. Dieses vielgestaltig standardisierte Regelungswissen wird zur Grundlage akademischer Berufsausübung.60 Und dieses kodierte Berufswissen der akademisch-technischen Intelligenz ist keineswegs mehr beschränkt auf die Bereiche menschlicher Naturkontrollen. Der größere Teil des wissenschaftlichen Wissens über die Beziehungen zwischen den Menschen besteht aus derart standardisiertem Regelungswissen. Rechtskenntnisse, doch auch das durch „volks“- oder „betriebswirtschaftliche“ Lehren vermittelte Wissen sind nach solchen normativtechnischen Prinzipien organisiert. Und selbst ein Großteil des akademischen Wissens, das die Menschen im Hinblick auf die Beziehung zu sich selbst entwickeln, anders gesagt, psychologische Lehren nehmen weitgehend diese zu beruflichen Zwecken normierte Gestalt an. In den meisten Industrieländern nimmt die relative Anzahl der akademisch ausgebildeten Personen kontinuierlich, in einigen auch schubweise zu. In den siebziger Jahren der alten Bundesrepublik etwa hat sich die Zahl der Personen mit Hochschulabschluß verdoppelt. Am Beginn der neunziger Jahre überschreitet die Anzahl der „Studierenden“ erstmals die der „Auszubildenden“. Und aus den etwa dreißig Prozent Menschen eines Geburtsjahrganges, die sich um ein akademisches Studium bemühen, könnten – folgen wir einigen hochschulpolitischen Akteuren (Kaiser, G. 1992) – bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts leicht fünfzig Prozent werden. 6.
Was verbindet Intellektuelle und wissenschaftliche Intelligenz?
Setzen nicht beide Gruppen ihr Trachten und Denken kritisch zugunsten einer allgemein rationaleren Lebensführung ein? So hätten es jedenfalls in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Denker wie Max Weber oder Theodor Geiger 60 Anstelle umfänglicher „Professionalisierungs“literaturen zusammenfassend: Freidson 1986.
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formuliert. Beide Gruppen lernen in wissenschaftlichen Sprachen zu denken und sich zu verständigen. Beide haben zumeist akademische Ausbildungen durchlaufen. Beide verfügen über bestimmte Kompetenzen, vermögen die Kenntnis von einzelnen Sachverhalten zu prüfen. Sie können Tatsachen in weiteren Wissenszusammenhängen erörtern, wissen solche Zusammenhangsmodelle, „Theorien“, voneinander zu unterscheiden. Und oft werden derartige Gemeinsamkeiten des Denkens und Sprechens jetzt allgemeiner als „Kultur der kritischen Diskurse“ (Gouldner 1979) bezeichnet, werden zur eingelebten Gewohnheit aller akademischen Gebildeten. Wenn deren Zahl zunimmt, vergrößert sich tendenziell auch das Potential derjenigen Menschen, die sich von dem eher autoritativ überlieferten älteren Wissen leichter zu distanzieren vermögen zugunsten von realitätsgerechteren Kenntnissen. 7.
In welche Richtung verschiebt sich die soziale Differenz zwischen Intellektuellen und wissenschaftlicher Intelligenz?
Akademische Forscher, Denker und Berufspraktiker sind im Grundsatz weit stärker gebunden an ihr jeweiliges Fachparadigma, an diejenigen Erkenntnismethoden, durch die sie über ihren Realgegenstand mehr zu erfahren hoffen. Gerade aus solcher Bindung erwächst ihnen ja jene arbeitsteilige Kompetenz und berufliche Macht (Freidson 1986), die sie meist sorgfältig gegenüber anderen akademischen Berufen abzugrenzen und zu verteidigen wissen. Und die Kämpfe um eine so begründete relative berufliche Autonomie sollen dann stets dem kontinuierlichen Einkommenserwerb dienen, in dem das derart begrenzte Wissen veräußert wird. Dagegen ist es zu einer Aufgabe der Intellektuellen geworden, bestimmte fachliche Denkparadigmen aufzulösen oder zu zerstören, wo sie weniger realitätstüchtig werden. Intellektuelle überschreiten die fachtechnischen Wissensgrenzen, suchen aus gegebenen Ereignisverläufen und fachgebundenen Denkmodellen Synthesen zu bilden. Oftmals gelingt es ihnen, Ereignisse zusammenhängender, mit größerer Genauigkeit und Reichweite konzeptuell zu erfassen. Insbesondere sind sie mit der intensiveren Beachtung, Ausarbeitung und Entwicklung alternativer Handlungspotentiale beschäftigt (Shils 1972; Bühl 1987). Intellektuelle sind auch ein Produkt von Modernisierungsprozessen; je mehr sich diese beschleunigen, um so mehr sozial beunruhigte Menschen beginnen tiefer über deren Folgen nachzudenken und nach Auswegen oder Gegenmitteln zu suchen. Insofern ist beispielsweise J. A. Schumpeters Theorie von der Intellektuellengenese in der „Atmosphäre der Feindseligkeit gegen den Kapitalismus“ von 1942 auch ein halbes Jahrhundert später noch gültig – jedenfalls für solche Weltregionen, in denen relativ alte Kulturen an unvorhersehbaren Modernisierungs187
schocks vieler Art zu zerbrechen drohen. Die intellektuellen ReIslamisierungstendenzen bieten dafür anschauliche Beispiele zur Genüge. In Gebieten, in denen sich moderne Staatsgesellschaften wie im westlichen Europa etablieren, hat sich jedoch der sozial verallgemeinerte Typus der Intellektuellen grundlegend gewandelt. Die über mehr als fünf Generationen geführten heftigen Kämpfe zwischen denjenigen Menschen, die sich gern selbst in der einen oder anderen Weise als „systemkritisch“ oder -feindlich definiert haben, die deshalb manches Mal begehrten, als die eigentlichen Intellektuellen gesehen zu werden, und ihren verschiedenen Kritikern, die sie gern als „Gegenintellektuelle“ abzutun suchten – diese Art wechselseitiger Intellektuellen“analysen“ wirken nur noch gespenstisch oder rückwärts gerichtet. Die routinisierte Angriffslust derer, die sich für fortschrittlicher hielten, ist einer defensiven Haltung gewichen.61 Und die sozial etablierten Intellektuellenkritiker haben ihre Gegner von einst verloren und damit häufig auch ihre eigene intellektuelle Orientierung. Einmal haben sich die Machtzentren der symbolisch-kulturellen Orientierung generell verschoben in Richtung auf die „Staaten“. Wenn es zutrifft, daß die Staaten nicht mehr allein Zentren der physischen Gewaltmonopole sind, sondern vor allem auch zum Träger der legitimen symbolischen Gewalt geworden sind – Bourdieu (1989) demonstriert dies an den Zentralisierungstendenzen der französischen Hochschul- und Verwaltungseliten – wird besser verständlich – weshalb sich zahlreiche Intellektuellendebatten längst weit aufmerksamer diesen Zentren symbolischer gesellschaftlicher Orientierung zuwenden. Das gilt beispielsweise für die Auseinandersetzungen über die Legitimierung staatlicher Herrschaft im Kapitalismus. Es gilt gegen Ende des 20. Jahrhunderts erst recht für alle staatlichen Zentren unter einer Einparteienherrschaft; diejenigen staatlichen Machtzentren der Erde, die sich schon lange Zeit hindurch einer zahlenmäßig relativ umfänglichen Intelligenz erfreuen, haben so zur Intellektualisierung vieler Menschen beigetragen. Sie haben sich auch für die Dissidenten zu Mittelpunkten entwickelt. Zumal bei längerer Fortdauer der Einparteienherrschaft sind solche Zentren der gebildeten Intel61 Solche Intellektuellenkritiker umschreiben diesen eigenen relativen und tatsächlichen Machtverlust der Bildungs- und Deutungsintellektuellen immer noch gern mit verbrauchten Metaphern. Sie sprechen etwa vom nun „entzauberten Intellektuellen“ (Brunkhorst 1990) oder skizzieren kulturpessimistisch „Aufstieg und Fall der Intellektuellen in Europa“ (Lepenies 1992). Weit kleinere Gruppen bekunden ihren spontan erfahrenen Machtverlust mit gläubigen Trotzreaktionen – hermetisch z.B. O. Negt (1991a), und weltzugewandt etwa J. Ziegler. Aber wir finden auch Denker, die über alle tradierten Parteiungsgrenzen hinweg in lernende Dialoge eintreten: vgl. Hirschman 1992; oder auch Saage 1992.
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lektuellen oft zu einer Art sozialer Maschine der Dissidentenerzeugung geworden62, haben das intellektuelle Dissidententum zeitweilig gewissermaßen institutionalisiert. Die hier vielfach schon länger währenden „Legitimationskrisen“ erschüttern den gesamten Staatsapparat. An die Leistungsfähigkeit der Intellektuellen gegen Ende des 20. Jahrhunderts stellen sie neue existentielle Herausforderungen. Zum zweiten haben sich die zeitperspektivischen Unterschiede zwischen technischer Intelligenz und kritisierenden Intellektuellen beträchtlich verschoben. So selbstverständlich wie ein Großteil der „philosophierenden“ Intellektuellen dem utopischen Denken tief verbunden war, so entschieden waren Naturforscher oder Ingenieure den älteren Gesellschaftsutopien stets mit größtem Mißtrauen begegnet; Utopien sind den meisten von ihnen völlig fremd geblieben. Es schien, als stünden Utopien dem steten Gebot, hier und jetzt konstruktiv zu handeln, ganz und gar entgegen. Solche Handlungszwänge haben doch die naturbeherrschende Intelligenz vom Typ des homo faber lange allein bestimmt. Umgekehrt hatten sich viele schreibende Intellektuelle ganz daran gewöhnt, ihre gesellschaftlichen Zukunftsphantasien im zeitlichen Nirgendwo anzusiedeln; denn dies vor allem hat ihnen so lange erlaubt, soziale Bewegungen, politische Parteien und schließlich ganze Staaten auf derart ferne zeitliche Ziele hin zu orientieren. Für beide extreme Entwicklungen zeitlicher Orientierung deutet sich in der Staatenwelt Europas ein Wendepunkt an. Keineswegs werden die Zeitphantasien der Intellektuellen verkürzt auf das bloße Heute63 – so heteronom sie sein mögen. Doch im zeitlichen Nirgendwo sind sie auch nicht mehr verankert. Dagegen hat aber die „kapitalistische Zivilisation“ (Schumpeter 1942) den Großteil der wissenschaftlichen Intelligenz – und nicht bloß die Industrieakademiker – immer stärker dem Zwang zu zeitlicher Langsicht unterworfen, wie das Norbert Elias formuliert. Jeder Verkehrsingenieur muß seine Systeme auf Jahrzehnte hin planen; jeder Rechtsanwalt hat sich einzurichten auf eine über Jahre wachsende europäische Rechtsordnung. In zeitlicher Hinsicht verringern sich die alten Denkabstände zwischen Intellektuellen und technischer Intelligenz. Das vorwiegend auf das Heute gerichtete, das hodiezentrische Denken wird abgeschwächt; die Zwänge zur zeitlichen Langsicht nehmen zu. Ein großer Teil der wissenschaftlich-technischen Intelligenz wird, anders gesagt, stärker intellektualisiert. Viele naturwissenschaftlich führende Grup62 Für die frühere Deutsche Demokratische Republik vgl. die sorgfältig nuancierenden Unterscheidungen: Engler (1992a). 63 Saage 1992 hat rasch das gegenwärtige Durcheinander hauptsächlich der westdeutschen Bildungsintellektuellen knapp und übersichtlich dokumentiert.
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pen, etwa die sozialen Establishments der Physiker (Elias 1982a) mögen früher dem unmittelbaren Handlungspragma des hic et nunc zugetan gewesen sein, dem geschichtslosen Experimentieren und Konstruieren verpflichtet wie Ingenieure – nun zwingt sie ihr eigenes Tun, die von ihnen selbst entfesselte nukleare Energie, zur zeitlichen Langsicht über Generationen und Jahrhunderte hinweg in die Zukunft. Sie müssen Synthesen bilden (Elias 1984) aus ihren Prozeßmodellen naturaler Ereignisverläufe und aus den langfristigen Handlungsmöglichkeiten des Menschen. Die stärker selbstkontrollierte Balance zwischen erforschendem eigenem Engagement und stärkerer Distanzierung (Elias 1983) vom wissenschaftlichen Erkenntnisobjekt – dieser Intellektualisierungszwang hat die Physiker vielleicht früher als andere Naturforscher erreicht. Doch tendenziell bestehen die von der umfassenden menschlichen Naturveränderung ausgehenden Gefahren, die sozialen Zwänge zur intellektuellen Langsicht, für die gesamte naturforschende Intelligenz. 8.
Die Intellektuellen und die nationalen Überlebenseinheiten
Im Prinzip kennen intellektuelle Denkarbeit und wissenschaftliche Forschung keine regionalen oder nationalen Grenzen. In der tatsächlichen langen gesellschaftlichen Entwicklung ist die gesamte Intelligenz ihrer jeweiligen Sprachgemeinschaft und Staatsnation eng verbunden. Daher sind in den neuzeitlichen Staaten außerordentlich unterschiedliche Bildungs- und Intelligenzschichten entstanden. Erst im Zusammenhang dieser modernen Staatsgesellschaften kann es sinnvoll sein, nach den verschiedenartigen Privilegien der jeweiligen Intelligenz zu fragen. Die literarische und häufig die gesamte künstlerische Intelligenz hat an der symbolischen Erschaffung derjenigen größten Überlebenseinheiten, die am Ende des 20. Jahrhunderts immer noch „Nationen“ genannt werden, maßgeblichen Anteil. So kommt es häufig dazu, daß Wissenschaftler oder Ingenieure emotional engere Nationsbindungen behalten als Kaufleute oder Diplomaten. Kritische Intellektuelle, die sich so oft beredsam auf internationale Bindungen oder allgemeine Menschheitsideale zu berufen verstehen, bleiben ganz regelmäßig in nationalen Denkkategorien stecken. Die wirtschaftlichmanageriale Klasse im europäischen Staatensystem sowie ein Teil der Politiker arbeiten zusammen auf eine europäische „Gemeinschaft“ hin – nicht die Intellektuellen, nicht die Schriftsteller, nicht die kritischen Sozialwissenschaftler. Ein beträchtlicher Teil von ihnen – keineswegs allein im östlichen Europa – konzentriert im Gegenteil seine intellektuellen Bemühungen erneut darauf, nationale Identitäts- und Größenphantasien umfassender auszugestalten. Eine bedeutsame Ausnahme bilden allein jene intellektuellen Künstler, deren Kreationen wenig oder gar nicht an eine nationale Sprache gebunden sind. Die symbolischen Produkte beispielsweise der Musiker, der bildenden Künstler, auch 190
der Architekten, verbreiten sich unvermittelt und prinzipiell über sämtliche Kulturgrenzen der Menschheit hinaus (Tenbruck 1989). Diese Künste kennen überhaupt keine kommunikativen Grenzen. Doch sie haben wie alle intellektuellen Güter Zentren der Erzeugung und Gebiete, in denen die Werke vorwiegend rezipiert werden. Künstler und Intellektuelle bilden soziale Abhängigkeiten untereinander, kennen Hierarchien ihres wechselseitigen Einflusses, bilden intellektuelle Zentren und periphere Gebiete.64 Deshalb lassen sich die Entstehungswege einer technischen Intelligenz oder einer intellektuellen Machtelite bisher allein im Verbund mit den einzelnen nationalen Staatsgesellschaften aufspüren. Zwischenstaatliche Vergleiche von den Geschichtsforschern liegen kaum vor. Beobachter der internationalen intellektuellen Entwicklung werden sich mit Stichworten begnügen. Selbst angemessene Begriffe und Maßstäbe zum Vergleichen fehlen. 9.
Machtverschiebungen zwischen „Bildungsbürgertum“ und technischer Intelligenz
Wie unterschiedlich und voller Brüche sich die wissenschaftliche Intelligenz in den Industriestaaten Europas auch herausbildet, die Entwicklungsrichtung dieser Prozesse ist ziemlich klar zu erkennen. Die älteren städtisch-höfischen Bildungseliten, Juristen, Theologen, „Philosophen“, Schriftsteller, verlieren im langen Verlauf der Industrialisierung allmählich ihr generationenlanges Bildungsmonopol zugunsten einer wachsenden, sich arbeitsteilig sozial differenzierenden65 technischen Intelligenz. Im Einzelnen finden wir größere Ungleichzeitigkeiten und deshalb auch wechselnde Abhängigkeiten zwischen den intellektuellen Zentren. Eine Skizze dieser Wechsel zwischen Frankreich, England, Holland und Deutschland hätte an einige Punkte zu erinnern.
64 Am deutlichsten formuliert diese Beobachtung mit Bezug auf viele einzelne Gesellschaften E. Shils (1972). 65 Die auf die Wissenschaften bezogene These der „sozialen Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn“ (vgl. Luhmann 1980) bleibt eine Leerformel, solange nicht auch erklärt wird, was dabei gleichzeitig neu entsteht. Eine Interpretation wie die F. Tenbrucks (1975) ist deshalb zu ergänzen um den Aspekt der zahllosen machtvollen berufspolitischen Professionalisierungsbestrebungen der wissenschaftlichen Intelligenz in sämtlichen industriellen Staatsgesellschaften.
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10. Militärtechnische Schulen, „Staatsadel“ und moralisierende Intelligenz In Frankreich entstehen unmittelbar nach der Revolution aus Offiziersschulen 1794 die „Écoles des ponts et chaussées“ oder die „École polytechnique“, militärisch organisiert und dem Armeeministerium unterstehend. Letztere wird nach ihrer Neugründung 1804 unter Napoleon I. das generelle Vorbild für die deutschen gewerblichen und – später – „Technischen Hochschulen“: sie wird auch zum schulischen Prototyp für weite Teile des östlichen Europas. Zweihundert Jahre später analysiert ein kritischer Kultursoziologe, Bourdieu, die inzwischen entstandene technokratische Zentralelite Frankreichs, die „Grandes Écoles“ und deren „Esprit de corps“ als „La noblesse d’État“. Diese Bezeichnung hat eine doppelte Bedeutung, sie vereint „die Größe moralischer Qualitäten“ mit dem höchsten „Staatsadel“. Auch hier ist die Bildungselite quasi-ständisch organisiert. Sie blickt im Unterschied zu Deutschland auf ein einziges Zentrum hin. Distanzierungen von Intellektuellen nehmen verschiedene Gestalt an.66 J.-P. Sartre hat sie in der radikalen Selbstüberhöhung des einzelnen Schriftstellers zu erzeugen gewußt. Ein Regis Debray findet den Weg vom revolutionären Widersprechen zum Beraten seiner Regierung (Debray 1979). P. Bourdieu wird zum präzisen Beobachter von „Akademikern“ wie „Staatsadel“ und distanziert sich von ihnen mit Mitteln der Ironie. 11. Gentleman-Ideale in den Mittelschichten Ganz anders die Entwicklungstendenzen in England. Aus einer frühen Revolution geht ein Handelsbürgertum gestärkt hervor, im Welthandel erfahrene Kaufleute verbünden sich mit einem Adel, der seinem König stets eine starke Armee verwehrt zugunsten einer Flotte. Eine frühe wirtschaftlich-technische Intelligenz bleibt stets unter dem bestimmenden Einfluß der kommerziellen Klasse. Eine intellektuelle Bildungselite, an deren Utopien sich die gesamte Gesellschaft ausrichten würde, bildet sich niemals heraus. Dafür gehen Unruhige, Unzufriedene oder Benachteiligte (zeitweilig auch unfreiwillig) hinaus in die kolonialen Eroberungen. Der relativ ausgeprägte Klassencharakter „technischer“ und universitärer „Schu66 Eine stärker biographisierend auf die Großintellektuellen schauende Darstellung der „Republik des Geistes“ bietet J. Altwegg (1986). – Die modischen Szeneströmungen der Pariser Intellektuellen schildert kritisch M. Christadler (1988). – G. Ross (1991) hebt die universalistischen Ansprüche der französischen Politikerintellektuellen hervor.
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len“ bleibt praktisch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts erhalten. Der Habitus der meisten Mittelschicht-Intellektuellen, viele Gewohnheiten ihrer ästhetischen oder sozialen Distanznahme, werden immer noch gern aus dem Verhaltensinventar der „Gentry“ entnommen (ausführlicher bei Shils 1972: 135ff.). 12. Freiheiten und Zwänge pragmatischer Laienintellektualisierung Die Niederlande bieten ein drittes Beispiel, von den Deutschen meistens weniger beachtet. Nach der, durch Rebellion gegen die spanische Vorherrschaft im 17. Jahrhundert errungenen Unabhängigkeit gelingt es einem auf den Welthandel hin ausgerichteten patrizischen Handelsbürgertum, selbst über die sehr späte Industrialisierung des Mutterlandes und die Dekolonisation hinweg, seine relative innergesellschaftliche Vormachtstellung aufrechtzuerhalten. Die Besonderheit, unter der sich die vielen ständischen Eigentümlichkeiten erhalten, liegt in dem Preis konfessioneller Spaltungen, kultureller Fragmentierungen der gesamten Gesellschaft; diese „Versäulung“ hat eine moralisierende Intelligenz zu bewahren vermocht. „Intellektuelle“ als Gruppe, Schicht oder als Klasse entstehen nicht (vgl. Gleichmann 1993b). Eine Literatur „über“ oder auch „von“ Intellektuellen gibt es nicht.67 Ein gesellschaftlicher Gegensatz von technischer Intelligenz und kritischen Intellektuellen bildet sich nicht heraus. Nennenswerte revolutionäre Phantasien findet man wenig, geschweige denn daraus entstehende – auf eigene „Theorien“ gestützte – soziale Bewegungen. Gelegentliche Anflüge dazu spielen meist mit den Bewegtheiten der Nachbarländer. Eine organisierte soziale Kritik, wie sie in Frankreich, Deutschland oder sogar in England im 19. Jahrhundert die „Soziologie“ als wissenschaftliche Denkarbeit initiiert, fehlt. Nie wird das Denken von Marx, der durch seine Mutter des Holländischen mächtig ist, von größeren intellektuellen Führungsgruppen tiefer rezipiert.68 Stattdessen aber bleibt die große Parteizersplitte67 Von den wenigen sozialwissenschaftlichen Intellektuellenbeobachtern der Niederlande erfährt man immer etwas über amerikanische und englische, oft auch über französische, doch praktisch nichts über niederländische Intellektuelle (vgl. z.B. van Benthem van den Bergh 1969); eine Ausnahme stellen die Studien von L.W. Nauta dar. Auch Literaturhistoriker verfahren nicht anders; A.F. van Oudvorst (1991) befaßt sich mit zwei Intellektuellenliteraten, mit E. du Perron und M. ter Braak. 68 Der Sozialphilosoph Lolle W. Nauta (1987) kennzeichnet dieses Fehlen intellektueller Extremgruppen in den Niederlanden – besonders der linken – als „die Mittellage der tonangebenden Intellektuellen in den Niederlanden“. – Zur Kritik von Nauta vgl. Pels 1988/1992.
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rung über Generationen hinweg sehr stabil. Die gesellschaftlichen Niveaus der Individualisierung und – in bestimmten paternalistischen Grenzen – auch der Demokratisierung sind stets vergleichsweise hoch. Gesellschaftliche Wunsch- oder Zukunftsphantasien äußern sich bestenfalls in christlich-konfessionellen Bildern; meist bleiben sie jedoch einem nüchternen frühbürgerlichen Utilitarismus verpflichtet. Selbst in den säkularen aktuellen Demokratisierungsdebatten bedient man sich gern des Glaubensvokabulars, spricht etwa von der „GesellschaftsReformation“. Ein idealistisches Philosophieren hat den handelskapitalistisch utilitarischen Realismus der patrizischen Bildungsschicht niemals umzuformen oder gar zu ersetzen vermocht. Eine eigene „wissenschaftliche“ Sprache des „kritischen Diskurses“ fehlt völlig; doch heftige Meinungsstreitigkeiten in der Umgangssprache sind die Regel. Als literarisches Postulat kommt der „Gentleman-Intellektuelle“ vor. In seinem „Politiker ohne Partei“ hat ihm Menno ter Braak 1934 ein Denkmal gesetzt. Zum literarischen Ideal finden wir in der mittelständischen sozialen Wirklichkeit kaum Entsprechungen. Relativ früh hat eine weite Laienintellektualisierung69 begonnen. Sie ist das eigentlich originelle Intellektuellenzeichen der niederländischen Sprachgemeinschaft. Und sie ist nicht nur im Gefolge Calvins ausgeweitet worden. Später ist sie auch in Universitäten vorgedrungen. Protestieren, Rebellieren und konfessionelles Dissidententum begleiten schon die Reformationskämpfe im 16. Jahrhundert70 und die niederländische Staatsgründung seit dem 17. Jahrhundert; sie sind innerhalb sehr genauer Grenzen der sprachlichen Gemeinschaft zum normalen Verkehrston des 20. Jahrhunderts geworden. Ein übermäßiges Machtprestige von Universitäten konnte daraus nicht entstehen. In der gesellschaftlichen Fragmentierung, der „Versäulung“, ist die Normalität persönlichen Dissidententums in gewisser Weise institutionalisiert worden. Eine Bildungsintelligenz hat den „Staat“ nie dominiert oder organisiert. In bestimmter Weise ist es dem Handelsbürgertum gelungen, seine eigensten „kollegialen“ Verkehrsformen – „zu beraten und zu widersprechen“71 für die breiten Mittelschichten sozial verallgemeinert zu institutionalisieren. 69 Ernest Zahn (1984) hat den Begriff der Laienintellektualisierung (auch in die niederländische Sprache), 1989 eingeführt. 70 Vgl. A. Dukes’ (1984: 25ff., 101-124) Beschreibungen der „homines intelligentsiae“, der „free spirits“, des „allgemeinen religiösen Dissentismus“ und des „Nonkonformismus unter den Kleinen Leuten“. 71 In vielen Teilen der Welt wird „Beraten und Widersprechen“ als eine Hauptaufgabe von Intellektuellen angesehen (vgl. Goldman 1981). – In der niederländischen Gemeinschaft ist das Aushandeln, „onderhandelen“, zur festen kollegial-familiären Gewohnheit der meisten Menschen geworden.
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13. Verstaatlichen der Intelligenz Die an Konflikten reiche Enge der vielfältigen Staatenkonkurrenz Europas im 18. Jahrhundert und auch noch im 19. Jahrhundert erzeugt, an globalen Maßstäben gemessen, eine enorme Beschleunigung der Intellektualisierungsprozesse. Trotz des drastischen wirtschaftlichen Entwicklungsgefälles, das jahrhundertelang vom atlantischen Westen nach Osten hin besteht, haben sich auch andere ältere, oftmals kirchliche Bildungszentren erhalten. Statt an derartige italienische und andere Zentren zu erinnern oder auf künstlerisch-literarische Gegenwelten wie die intellektuelle Boheme zu verweisen, beschränke ich mich auf die deutsche Intelligenz. Im Vergleich zu den wohlhabenderen westlichen Ländern, die sich an der kolonialen europäischen Expansion engagieren, stehen die deutschen Staaten wie ein „Entwicklungsland“ unter einem existentiellen Modernisierungsdruck. Ein Bildungsbürgertum, das für den Aufbau der staatlichen Verwaltung fachqualifiziert wird, erhält im 18. Jahrhundert entscheidende Privilegien und vermag sich bald durch organisatorische Leistungen gegen den Adel durchzusetzen. In der Reaktion auf die durch Napoleon Bonaparte erlittenen Niederlagen übernimmt eine „verstaatlichte Intelligenz“ (Wehler 1987. Bd. 1: 210 ff.; Bd. 2: 210 ff.) wesentliche Modernisierungsaufgaben. Das Schulwesen wird in ganz Deutschland früh aufgebaut. Oft wird es gegen die Bürger, gegen die Gemeinden, gegen die Eltern und meist auch gegen den Adel eingerichtet. Preußen wird zum Modelland der Bildungsreform.72 Neben der Steuerpflicht und der Wehrpflicht wird früh die generelle Schulpflicht durchgesetzt. 1841 sind beispielsweise in Brandenburg und Westfalen nur noch zweieinhalb Prozent der Rekruten Analphabeten. In den Dörfern tritt erstmals die Autorität von Lehrern neben die der Pfarrer. Schlüsselinstitution beim Heranziehen der kleinen Bildungseliten ist das Gymnasium. Ausbau und Neugründung der Universitäten mit einem bis dahin unbekannt hohen Maß an Autonomie der Forschung werden zu staatlichen Einrichtungen der Modernisierung; auf der Grundlage neuer Wissenschaftsbegriffe erlangen sie bald Weltgeltung. Frankreich schickt nach seiner Niederlage 1871 zahlreiche wissenschaftliche Experten ins Deutsche Reich, überzeugt, für den deutschen Sieg seien wesentlich auch seine relativ freien (Natur-)Forschungseinrichtungen verantwortlich zu machen; und reformiert dann seine Universitäten. 72 Th. Nipperdey (1983: 451 ff.; 1990: 531 ff.): „Die deutsche Gesellschaft war in den ersten beiden Dritteln des 19. Jahrhunderts zu einer Schulgesellschaft geworden.“
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Das „humanistische Gymnasium“ des 19. Jahrhunderts ist viel mehr Lernschule als etwa die englischen „Public Schools“. „Wissen“ hat in einem „Entwicklungsland“ lange Vorrang vor dem Erlernen von Umgangsformen. Deshalb gehen aus diesem Gymnasium trotz seiner idealisierenden Griechenlandsehnsüchte bedeutende Naturwissenschaftler genauso hervor wie etwa die ersten intellektuellen Köpfe der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Bewegungen. Bis in das 20. Jahrhundert hinein hat das beamtete „humanistische“ Bildungsbürgertum wie selbstverständlich auch die aufsteigende technische Intelligenz kulturell dominiert. Mit der Ausweitung der vielen „polytechnischen“ Schulen zu „Technischen Hochschulen“, die 1904 das „Promotionsrecht“ erlangen, wird die akademische Ranganerkennung der Ingenieure symbolisch früh respektiert. Noch der schreckliche „Aufruf“ der 93 prominenten Gelehrten von 1914, unter ihnen zahlreiche Naturforscher, rechtfertigt beim Kriegsbeginn die Untaten deutscher Militärs mit dem Namen des bekanntesten Altphilologen des Kaiserreiches; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf richtet sich damit „An die Kulturwelt“ (vom Brocke 1985). 14. Schwächung der Bildungs-Intellektuellen – Machtgewinne der wissenschaftlich-technischen Intelligenz Der relative Machtgewinn der wissenschaftlich-technischen Intelligenz in der Vorbereitung, der Durchführung und dem Verlust zweier rasch aufeinanderfolgender großer Kriege ist in Deutschland deutlicher als anderswo mit der Machtverminderung der älteren privilegierten Bildungsschichten verbunden gewesen. Das schließt das „Bündnis der Eliten“ (Fischer, F. 1979) nicht aus, das sich über diese Brüche hinweg gebildet hatte. Eine „Technokratie“-Debatte beginnt unter Ingenieuren anfangs der neunzehnhundertzwanziger Jahre; sie ist mitangeregt aus den USA. Denkmodelle der Mechanik sollen die rationale „Sach“herrschaft von Ingenieuren an der Staatsspitze begründen. Ihr Wissen (über Techniken der Naturbeherrschung) suchen sie als dingliches Unterpfand solcher Sachherrschaft im Staate oder wenigstens in der neuen Großindustrie einzubringen. Diese Debatte bricht plötzlich ab. Die stille und in den neunzehnhundertdreißiger Jahren dann offene deutsche Aufrüstung benötigt jeden einzelnen Ingenieur. Und die Kriegswirtschaft befördert viele Ingenieure, doch auch Chemiker, Physiker oder Architekten rasch in höchste Staatsämter und wirtschaftliche Führungspositionen. Auch vielen anderen akademischen Berufen gelingt in diesem Prozeß ein erster Professionalisierungsschub ihrer Disziplinen, beispielsweise den Betriebswirten oder auch den Psychologen bei militärischen Eignungstests. Es ist gerade deren vergleichsweise unpolitische Erziehung, die sie zu willigen Werkzeugen einer irrwitzigen zentralen Kriegswirtschaft macht. Und es verwundert ein halbes Jahrhun196
dert später kaum noch, daß besonders akademische Berufe, allen voran Ärzte und Juristen mit verhältnismäßig großem Engagement in nationalsozialistischen Organisationen anzutreffen gewesen sind. Weitere Professionalisierungsschübe werden durch den „Kalten Krieg“ für viele Ingenieure, Naturforscher und Produktionsfachleute befördert. Und der zügige Ausbau des „Sozialstaates“ hat auch die akademischen Dienstleistungsprofessionen sichern geholfen. Einige Zeit nach dem Ende des zweiten großen Krieges, zu Beginn der sechziger Jahre, entzündet sich erneut eine Technokratiediskussion. Organisatorisch bildet sie sich um die Zeitschrift „Atomzeitalter“, die von den Gewerkschaften unterstützt wird. An den Debatten über die atomare Bedrohung beteiligen sich gelegentlich Physiker, verschiedene Künstler, keinerlei Ingenieure, dagegen vor allem Sozialwissenschaftler. Was ist geschehen? Was ist daran neu? Die Machtbalancen zwischen technischer Intelligenz und Intellektuellen haben sich verschoben. Angehörige der naturwissenschaftlichen Intelligenz, keineswegs allein Physiker, sind nun mit dem Konzipieren und Herstellen der größten gesellschaftlichen Gewaltmittel befaßt, haben ihren Zugang zu den Inhabern der Staatsmacht, dem Personal, das eigentlich „Träger des legitimen physischen Gewaltmonopols“ ist, selbst sozial etabliert und mittels anderer Organisationen gesichert. Die intellektuellen Kritiker vermögen zeitweilig eine öffentliche Aufmerksamkeit zu erzeugen; an Einfluß haben sie verloren. Eine ähnliche Verschiebung der Machtbalancen zwischen „technischer“ und „literarisch gebildeter“ Intelligenz hat etwa zur selben Zeit die englische Öffentlichkeit erfahren. Ein namhafter Literat, der zeitweilig auch prominenter Physiker gewesen war, C.P. Snow, hat dafür die Wendung von den „zwei Kulturen“ erfunden, in die das Denken der Bildungsintellektuellen und der wissenschaftlichen Intelligenz zerfallen sei. Die zeitweilige Übernahme jener Debatte in die deutsche Öffentlichkeit (Kreuzer 1969) zeigt nachträglich, wie wenig sich damals die Diskursteilnehmer bewußt gewesen sind über den realen Machtzuwachs der die Gewaltmittel erzeugenden Physiker. Snow hat allein die Literaten angegriffen, die sich schlecht zu verteidigen gewußt haben. Danach jedoch hat Snow sich wiederholt ausführlicher mit seinen Physikerfreunden befaßt, die der englischen und der nordamerikanischen Regierung bei der Atombombenforschung behilflich gewesen sind. Dabei hat er überaus realistisch die langen Interdependenzketten dargestellt, die von diesem neuen Machtzentrum von Physikern ausgingen.
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Die westdeutsche wissenschaftlich-technische Intelligenz hat mitgeholfen, ihr Land gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einer wirtschaftlichen Weltmacht auszubauen. Mit Hilfe ihrer Arbeitswut hat sie einen Großteil ihrer eigenen jüngeren Geschichte erfolgreich verdrängt.73 Der relative Massenwohlstand hat zusätzlich das Verdrängen der Armutsprobleme befördert. Aber findet die westdeutsche technische Intelligenz auch eine zivilisierte Sprache, um sich selbst über die Gefahren einer solchen Hegemonialposition hinreichend zu verständigen? Vermag sie sich überhaupt selbst darauf zu besinnen, einen längeren selbstreferentiellen offenen Diskurs darüber zu eröffnen? Ein Großteil deutscher Intellektueller dagegen hat im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert seine nationalistischen und oftmals gewalttätigen Phantasien nur wenig zu zähmen vermocht, hat aber daraufhin die sozialen Desaster deutscher Machteliten weit besser zu ergründen gesucht und die Lektionen daraus genauer zu erlernen gewußt als die technische Intelligenz. Nun jedoch scheint der Blick vieler Intellektueller kaum auf Europa und noch weniger auf Deutschlands Stellung in der Welt gerichtet zu sein. Weshalb verlieren sich viele westdeutsche Intellektuelle immer weiter in wechselseitigen Vorwürfen, sich falsch zu verhalten, ohne dabei die neue hegemoniale Stellung zu reflektieren? Weshalb entdeckt die „Intelligenz“ der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik erst nach dem Zerfall ihres Staates jene klassenartig altständischen Privilegien, die ihnen jener Staat verschafft hatte (Konrád/Szelényi 1978; Meyer, H. 1990)? Und was ist zu tun, wenn Angehörige der „Intelligenz“ fragen, was eigentlich „Intellektuelle“ seien.74 Jener Staat hatte sich stets als von Nonkonformisten bedroht erklärt. Intellektuelles Dissidententum wollte er niemals wirklich aufkommen lassen. Würde er vielleicht noch bestehen, wenn er sich wie etwa Polen durch intellektuellen Widerspruch (Milosz 1974) weniger beraubt als bereichert gefühlt hätte?
73 Zum „Geschichtsbild“ vgl. die distanziert-skeptische Darstellung von H.W. von der Dunk (1991). – Ein ziemlich getreues Gegenmodell zum Verhalten der westdeutschen Intelligenz hatte die Deutsche Demokratische Republik bewahrt, unter anderem mit weltabgewandten Idealen intellektueller Innerlichkeit (vgl. Engler 1993). Doch sie hat auch die Reproduktion der technischen Intelligenz zahlenmäßig knapp gehalten, was viele Akteure nachträglich zu rechtfertigen suchen (vgl. Meyer, H. 1990). Diese, wie auch bei anderen erzeugten Gütern strikte Verknappung begrenzte das „wissenschaftliche Wachstum“ (Ben-David 1991). Zusammen mit der kommunikativen Isolierung der „Intelligenz“ hat dies (angesichts des intellektuellen Kommunikationsflusses in der Welt sonst) letztlich auch zur Selbstzerstörung dieses Staates beigetragen. 74 Etwa diese Frage sucht W. Engler (1993) anschaulich zu beantworten.
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15. Intellektuellenprägung in generationenspezifischen Debatten Bevor wir den flüchtigen Blick auf gesellschaftliche Intellektualisierungsprozesse vor allem des 20. Jahrhunderts beenden, ist noch an ein generelles Kennzeichen moderner Intellektueller zu erinnern. Historiker und Zeitzeugen der Intellektuellenentwicklung haben übereinstimmend eine Tatsache festgehalten, die jenen Intellektuellenanalytikern oft entgeht, die sich einander gedankenverliebt die jeweils falsche geistige Haltung vorwerfen oder die weiterhin ihre Orientierung allein aus ideengeschichtlichem Philosophieren erhoffen, ohne jeweils neue Tatsachen zu prüfen (Kilminster 1989b).75 Jede Intellektuellengeneration ist hauptsächlich durch ein politisches Schlüsselereignis geprägt worden. Dieses hat dann die soziale Intellektualisierung des einzelnen ausgelöst und befördert – die „Studentenrevolte“, der „Vietnam-Krieg“, die „Kulturrevolution“ etc. Die gesamte Intellektuellensoziologie im 20. Jahrhundert weiß solche Schlüsselerlebnisse für einzelne Menschen zu benennen. Eine politische Soziologie dieses Ereignisverlaufes finden wir für Frankreich (Ory/Sirinelli 1986). Trotz mancher einzelstaatlicher Abweichungen sind in der kommunikativ eins werdenden Welt der Intellektuellen Ähnlichkeiten des Verlaufs der auslösenden Ereignisse zu beobachten. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn wir die Berichte miteinander vergleichen, denen zufolge sich die institutionellen öffentlichen Schwerpunkte intellektueller Diskurse verlagern (Debray 1979). Dieser „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ verschiebt einen Teil der Massenwirkung der Debatten von der „Presse“ zu den „Universitäten“ zu den elektronischen Medien. Viele Mißverständnisse, oft auch Ressentiments, entstehen aus der vermeintlich großen öffentlichen Geltung, die einzelne Intellektuellengruppen zeitweilig durch diese Medien erlangen. Selten merken die gerade etablierten Gruppen, wenn im unendlichen intellektuellen Diskurs der maßgebende Einfluß längst tatsächlich an eine andere Gruppe übergegangen ist, wenn diese selbst, anders gesagt, an öffentlicher Machtgeltung inzwischen verloren hat. In vergleichsweise offenen Gesellschaften können deshalb relativ etablierte Intellektuellengruppen auch ziemlich schnell zu Außenseitern werden, die dann bloß noch rückwärts zu blicken vermögen, sobald ihre Denk- und Wissensangebote der Mehrzahl der Menschen keine erfolgreiche Orientierung mehr versprechen. In einer Zeit, in der Revolutionen sich „im Modus einer Fernsehübertragung“ 75 Die standardisierten früheren Selbstbilder einer vergangenen „professionellen Kultur der Philosophen“ sind gut dokumentiert in den Artikeln „Intelligenz, Intelligentsia, Intellektueller“ (Ritter et.al. 1976).
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vollziehen und auch real „erleben“ lassen, schafft sich dieses Medium auch seine eigenen Interpreten und Machtzentren, die es zu demokratisieren gilt (Habermas 1990: 11-50). Vielleicht sind einer älteren Generation Utopien abhanden gekommen. Vielleicht lernen jüngere daraus. Doch sind die technischen Zukunftspläne derjenigen Experten erfolgversprechender, die uns statt der alten Wunschutopien nun von Ängsten beflügelte technische Furchtutopien anbieten? Oder die uns nur noch Szenarios offerieren wie die des „Club of Rome“, „Global 2000“ oder einer „Risikogesellschaft“? Ist es möglich, daß in solchen fachwissenschaftlichen Expertenszenarios nur noch eins feststeht, nämlich daß nur die intellektuellen Arrangeure des Szenarios selbst geeignete Abhilfe von den in naher Zukunft angesagten abschreckenden Übeln zu schaffen vermögen?
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4. Soziologisches Orientierungswissen für europäische Staatsgesellschaften?
1.
Gibt es Verbindungen zwischen der Zivilisationstheorie und der Symboltheorie von Norbert Elias?
Nur an wenigen Stellen verbindet Elias seine Vorstellungen über menschliches Wissen, besonders seine „Symboltheorie“ explizit mit seinen Theoremen gesellschaftlicher Zivilisierung: „One may well ask why the human capacity for eliminating illusions, for giving realitycongruent knowledge the upper hand over fantasy-knowledge, in fields, where humans themselves are the objects of inquiry, lags so much behind the development of their knowledge in the field of non-human nature. It is tempting to think that differentials of pacification have something to do with it.“ (Elias 1991: 113)
Gegen Ende seines Lebens hat Elias, schon über neunzigjährig, denen, die ihn fragten, geantwortet, er hielte seine „Arbeit über die Symbole“ für ebenso wichtig wie seine Zivilisationstheorie (Elias 1989a: 15). Seinen „Prozeß der Zivilisation“ versteht er grundlegend als menschlichen Lernprozeß. Und ähnlich erkennt er auch im menschlichen Wissen einen „learning process of humankind“ (Elias 1991: 113). Nie betrachtet er beim „Wissen“ allein das Voranschreiten „wissenschaftlichen“ Fachwissens. Ob soziologisches Orientierungswissen für Europas Staatsgesellschaften überhaupt erzeugt wird, läßt sich am Beispiel des Eliasschen Werkes prüfen. Dabei kann man seine Theoreme der Zivilisierung und der Wissenssoziologie auf sein eigenes Werk unmittelbar anwenden. Und in diesem wissenssoziologischen Verband werde ich auch – was er selbst immer sorgfältig vermieden hat – seine eigenen sozialen Lebensumstände erwähnen. Auf so etwas näher einzugehen ist ja bereits ein Schritt wissenssoziologischen Vorgehens. Können wir denn ausgerechnet von Soziologen eine wirklichkeitsgerechtere Orientierung erwarten? Und wollen sich die Gesellschaften Europas daran ausrichten? – Schwerlich lassen sich solcherart Fragen einfach bejahen. Doch bildet der Fall des historischen Soziologen Elias vielleicht eine Ausnahme im Verhältnis zur Profession?
2.
Warten die Gesellschaften Europas überhaupt auf ein grenzüberschreitendes Orientierungswissen von Soziologen?
Im Prinzip erheben meist alle soziologischen Denker für ihre Theorien einen universalen Geltungsanspruch. In jüngster Zeit ist die Globalisierung soziologischer Perspektiven international zu einer Hauptforderung der Profession geworden (Delorme 1994). Tatsächlich aber ist ihre intellektuelle Reichweite meist eng begrenzt, auf sprachliche Räume, auf nationalsprachliche Öffentlichkeiten sowie auf den jeweiligen sozioökonomischen Entwicklungsstand. In Deutschland ist die Geltung soziologischen Wissens eher zurückgegangen, trotz eines Ausweitungsschubes in Richtung auf die „östlichen Bundesländer“. Attestiert wird bisweilen eine „akademische Anomie“ (Nedelmann et.al. 1993: 15). Buchläden halten es nicht mehr vorrätig. Hohe Zahlen arbeitsloser Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler verstärken die Ungewißheiten. In England, wo sich die Soziologiebegeisterung etwa der Ober- und Mittelschicht stets in Grenzen gehalten hat, ist es wohl ähnlich. Den Skandinaviern wird (wie auch anderen) ihr Provinzialismus – neben ihrer Ausrichtung auf die Vereinigten Staaten – bescheinigt (Allardt 1993: 119). Gilt dies auch für Österreich? „Small countries are confronted with hard choices between offensive and defensive research strategies, between provincialism and concentrating on some pioneering research.“ (Fleck, Ch. et.al. 1993: 113). In Frankreich, woher so viele Impulse zum Entstehen soziologischen Wissens wie aus dem deutschsprachigen Raum gekommen sind, scheint immer noch den Pariser „Meisterdenkern“ am meisten Aufmerksamkeit entgegengebracht zu werden. Die stets pragmatisch-liberalen Niederlande haben den soziologischen Theorien nie größere Beachtung geschenkt. Soziologische Werke sind zwar aus den Buchläden verschwunden, doch in die Praxis der Sozialstaatsverwaltung weiter eingedrungen als etwa in Österreich oder Deutschland. In Polen ist es ein wenig anders. Der äußerst frühe produktive Beitrag Polens zur Soziologie scheint weiter anzuhalten (Kwasniewicz 1993: 165-187), doch um den Preis welcher bitteren Armut der Kollegen? Die bewegte italienische Soziologie unterhält seit langem einen regen Austausch mit den deutschsprachigen Gebieten. Und die eigentliche Brücke zum Überleiten westlichen Wissens in den Osten und Südosten Europas bildet seit altersher Österreich, was Deutsche zu wenig beachten. So ist auch die frühe Soziologie des Wissens entstanden in Orten des alten Galiziens wie Krakau
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oder Lublin oder des habsburgischen Österreiches, besonders in Budapest. Während die internationale Aufmerksamkeit für diese Wurzeln der Wissenssoziologie zunimmt, mag man sich in der neuen Nationalsicht Ungarns, doch auch Polens, dessen nur noch beiläufig erinnern76. Die Träger des Orientierungswissens wandeln sich. Aus lose miteinander verbundenen „Intellektuellen“, meist aus den älteren Oberschichten zu Beginn des Jahrhunderts, aus verschiedenartigsten Anarchisten oder Marxisten sind gegen Ende des Jahrhunderts professionell geschulte Angehörige „akademischer Berufe“ geworden. 3.
Wie müssen Denken, Wissen und vor allem das Sprechen miteinander verbunden sein, wenn Soziologenwissen solche Grenzen der Staaten wie der Sprachen zu überschreiten vermag?
Norbert Elias’ Denken und Sprechen stammt großenteils aus Überlieferungen dieses osteuropäischen Vielsprachen- und Vielvölkergemisches. Sein Wahrnehmungs- und Ausdrucksvermögen reflektiert derartige Erfahrungen. Persönlich erlebt er die aus solchem Zusammenleben mit Fremden erwachsenden Kulturkonflikte. Noch im hohen Alter, in seinem 93ten Lebensjahr, entschlüpfen am Ende eines langen Gesprächs seinem Munde erstmals die Verse auf Polnisch: „Jeszce Polska nie zginela“ (...) „Noch ist Polen nicht verloren (...)“. Keiner seiner Freunde hat ihn bis dahin je Polnisch sprechen hören. Eine Reminiszenz an seine schlesische Geburtsstadt Breslau und die Heimat galizischer Vorfahren? Er lernt jedenfalls früh die Fertigkeit, stets eine Balance halten zu können zwischen dem Zurücknehmen der eigenen Aggressionen und der ständigen Offenheit für andere Menschen. Offerieren Vielvölkergemisch und mehrsprachige Staaten, noch die erste tschechoslowakische und polnische Republik wie in der bittersten Gestalt das zerfallende „Jugoslawien“, etwa eine Vorwegnahme von Fremdheitserfahrungen, die Europa an der Wende zum 21. Jahrhundert umfassender kennzeichnen? (Waldhoff 1995, Gleichmann et.al. 1994). Vielleicht ist auch damit die enorme Verbreitung des Werkes von Elias zu erklären, ist seine Fähigkeit zur Affektsublimierung zu einer „wichtigen Bedingung seiner triumphalen Rezeption ab Mitte der 76 Für die inzwischen reichhaltige internationale Wissenssoziologie vgl. etwa den „Newsletter of the International Society for the Sociology of Knowledge“; insbesondere Gabel, J. 1990. – Zur gegenwärtigen ungarischen Soziologie Kolosi et.al. 1993.
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70er Jahre“ geworden (Schröter, M. 1993: 692). Er erlangt „Weltruhm“ (de Swaan 1987: 7), wird nahezu vollständig in viele europäische Sprachen übersetzt (Korte 1994: 164-176). Ein Großteil seiner Bücher ist seither in über 37 Sprachen der Erde erschienen. 4.
„Die Schwierigkeit ist, überzeugend darzulegen, daß die Entwicklung der Gewaltorganisation, ihrer Integrations- und Desorganisationsschübe, nicht weniger strukturiert ist als zum Beispiel die der Organisation sozialer Güterproduktion.“ (Elias 1989a: 290)
Elias wiederholt derartige Hinweise, die gesellschaftliche Gewaltorganisation, ihre langfristig sozial integrierende wie desintegrierende Wirkung umfassender zu untersuchen, sein Leben lang. Tod und Gewalt, ein gesellschaftliches Bezwingen der kollektiven Gewalttat bleiben in dem Maße sein Lebensthema, wie umgekehrt die meisten Soziologen Europas alle Fragen nach der gesellschaftlichen Gewaltorganisation ausblenden. Schon die soziologischen Gründungsväter des 19. Jahrhunderts in Europa konstruieren das „Soziale“, „die Gesellschaft“ ausdrücklich als ganz jenseits von allem kollektiven Gewaltgeschehen befindlich – sei es innerhalb oder zwischen den Staaten. Am Ende des 20. Jahrhunderts finden wir in einigen europäischen Staatsgesellschaften sowie in den USA wohl ein paar Experten etwa der „Militärsoziologie“. Doch gerade die tatsächlichen Gewalttaten, die wirklichen wie die geplanten, werden in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen von ihnen nicht untersucht. Warum überlassen sie dies spezialisierten Journalisten oder Historikern? (Kuhlmann et.al. 1994; Geyer 1993). Persönlich werden für den jungen Elias brutale Realerfahrungen des Gewalterlebens zu einem Anlaß, sich mit dem Entwurf einer umfassenden Zivilisationstheorie zu befassen. Es beginnt in seiner Schulzeit, führt durch „das erschöpfende Martyrium des Schützengrabenkrieges“, ausgelöst durch „das deutsche Hegemonialfieber“ (Elias 1985: 43). Und es geht weiter in der gewaltsamen Vertreibung 1933 nach Paris, bis er ohne englische Sprachkenntnisse nach England gelangt. Zeitlebens weist er zurück, daß seine Arbeit im Jahre 1935 über „die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich“ irgendetwas mit seinem eigenen Schicksal zu tun haben könnte. Sein Studium der Medizin und dann der Philosophie hat ihn von Breslau, Freiburg im Breisgau nach Heidelberg und schließlich nach Frankfurt am Main geführt. Dort wird er auch mit der Psychoanalyse vertraut, die er bald darauf in Form der Gruppentherapie zusammen mit seinem Freund und Lehrer Foulkes (Fuchs) eine Zeitlang in London betreibt.
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5.
Sind unmittelbare Erfahrungen von Zivilisierungsdifferentialen innerhalb und zwischen Staatsgesellschaften ein Anlaß für Entstehen und Rezipieren einer umfassenden Zivilisierungstheorie?
Für Elias selbst trifft dies von Jugend an zu. Die Bücher „Über den Prozeß der Zivilisation“ und über „Die höfische Gesellschaft“ konzentrieren sich wesentlich auf französische Beispiele der „Wandlungen des Verhaltens“. Sie sind in den 20er und 30er Jahren geschrieben worden. Zu der Zeit ist ihr Autor ganz vertraut mit Sprache und Geschichte Frankreichs. Das Bevorzugen des Französischen in den höheren Schulen vor dem Ersten Weltkrieg hat viel mit der Vormachtstellung des europäischen Adels zu tun gehabt. Für das schlesische Bürgertum konnte es auch dazu dienen, sich stärker vom preußisch-deutschen Berlin distanzieren zu können. Eine ähnliche Distanzierungsfunktion kann der Gebrauch des Französischen noch am Ende des 20. Jahrhunderts etwa in der polnischen Intellektuellenschicht haben, die ja stärker als sonstwo in Europa auf dem Adel gründet. Die stürmische Aufnahme der Eliasschen Zivilisierungstheoreme und ihre produktive Fortentwicklung in vielen europäischen Ländern lassen vermuten, daß damit ein Erfahrungswissen gefaßt worden ist, das von immer mehr Menschen geteilt wird. 6.
Welche Soziologenkenntnisse könnten an der Wende zum 21. Jahrhundert in Europa überhaupt zu allgemeinem gesellschaftlichen Orientierungswissen werden?
Zwei Entwicklungstendenzen sind bereits erwähnt. Die personalen Träger des Wissens haben sich in ihrer Anzahl im Laufe des Jahrhunderts zahlenmäßig vervielfacht; die geprüften Kenntnisse, die sich jeder einzelne aneignen, zu seinem eigenen „Wissen“ machen muß, haben sich gewaltig vermehrt. Die älteren Schichten von „Intellektuellen“ wandeln sich mehr und mehr zu unübersehbar vielen Expertengruppen. Ich nenne diesen Vorgang den gesellschaftlichen Intellektualisierungsprozeß (Gleichmann 1993). Die zweite Tendenz ist das Vorherrschen analytischer Methoden, gleich, ob es sich um Wissen der menschlichen „Kontrollchancen über außermenschliche Geschehenszusammenhänge“, gemeinhin: „Naturereignisse“ handelt, oder über „zwischenmenschliche“ Ereignisse, gemeinhin „gesellschaftliche Zusammenhänge“, oder schließlich um die Kontrollchancen jedes einzelnen Mitgliedes einer Gesellschaft „über sich selbst als Individuum“, jetzt meist „psychologische“ Kenntnisse genannt (Elias 1970a: 173f.). Dieser säkularen Wissenszersplitterung setzt Elias methodisch das Bilden von Wissenssynthesen entgegen. Dabei sucht er zugleich zwei überlieferte Erkenntnisverfahren sorgsam zu vermeiden, das spekulative Denken der Philosophen 205
und das Erzählen der Geschichtsforscher. Doch von dorther kommen kaum mehr Widerstände gegen das Synthesenbilden. Sie manifestieren sich inzwischen auf ganz anderen Bezugsebenen – vorwiegend denen des „beruflichen“ Wissens. Zudem sind die meisten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen enger an nationalstaatliche Interessen gefesselt. Am deutlichsten wird das in der Verwertung dieses Wissens in den schulischen Unterrichtsprogrammen. Und viele Geschichtsforscher, die doch nur erkunden wollen, „wie es eigentlich gewesen ist“, sind meist noch enger gebunden an die Interessen der Regierungen ihrer Nationen, weshalb sie im Schulwesen ihrer Staaten meist noch stärker verankert sind. Doch die Professionalisierung wissenschaftlichen Wissens scheint unaufhaltsam voranzugehen (Freidson 1986). Die Betriebs- und Wirtschaftswissenschaften sind ein Beispiel. Da kann vielfach durch soziales Normieren zahlreicher fachwissenschaftlicher Grundeinsichten mit diesen dann als Geltungstatsachen – wie mit dem Geld – „gerechnet“ werden. Das Zerlegen, das Analysieren der jeweiligen Forschungsgegenstände ist in den Wissenschaften zur dominanten Erkenntnismethode geworden. Es erlaubt jede Art akademischen Spezialisierens auf immer schmalere Forschungsgegenstände, wird zum eigentlichen „Akademismus“. „Its main feature is the projection of academic departmentalization and the rivalries connected with it into the subject matter of departmental research“, kritisiert Elias (1991: 18f.). Soziologen hätten sich immer noch nicht hinreichend von den Erkenntnismethoden der Naturforscher distanziert. Und diese institutsförmige Abkapselung führe zu einer „blockage of knowledge“, einer Blockade möglichen Vorankommens im Wissen. Elias faßt hingegen das Synthesenbilden als einen langen Lernprozeß der ganzen Menschheit auf, in dem das jeweilige Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wird, beziehungsweise verfällt. Die wissenschaftliche Wissensvermehrung ist nur ein Sonderfall solcher Lernprozesse, wenn auch gegenwärtig der produktivste. Ein Beispiel veranschaulicht, wie soziologisches Orientierungswissen formuliert wird, das Grenzen leichter überschreitet. Das ist das Eliassche Begriffebilden. Sein Vorgehen bleibt ihm dabei zuerst sicher wenig bewußt. Später ist es ganz durchreflektiert. Den wenigsten Menschen ist das bisher aufgefallen (Gleichmann 1979a: 176); und schließlich ist es bewußter praktiziert worden. Erkennbar ist eine vielperspektivische Strategie. Er vermeidet alle jene Begriffe, die sich in irgendeiner Hinsicht zu sozialen Reizwörtern oder zu Kampfbegriffen gebildet haben, sei es etwa von sozialen Klassen, Parteien oder wissenschaftlichen „Schulen“. Jeglichen aggressiven Gehalt sucht er zu meiden. Sein Begriff „Orientierungswissen“ etwa läßt sich gleichermaßen anwenden auf den Wissensbedarf religiöser Großgruppen wie auf denjenigen ganz weltlicher nationaler Überlebenseinheiten. Seine Begriffsschöpfungen wie die „größten Überlebenseinheiten“ lassen sich in gleicher Weise gebrauchen, um die jeweils geschichtlich größten gebildeten sozialen Einheiten in ihrer Gewaltorganisation charakterisieren 206
zu können, zum Beispiel Ethnien (Stammesgesellschaften), Stadtstaaten oder moderne „Staatsgesellschaften“. Sie lassen sich jetzt in dieser Hinsicht vergleichen. Der Ausdruck „Staatsgesellschaften“ hilft die Entwicklung der meisten europäischen Gesellschaftsverfassungen realitätstüchtiger zu kennzeichnen hinsichtlich ihrer staatlichen Gewaltorganisation. Die vom „Staat“ ausgehenden Zwänge jeder erdenklichen Gestalt prägen die Lebensbedingungen jedes einzelnen Menschen; er hat sie durch „Umsetzen der Fremdzwänge in Selbstzwänge“ persönlich zu bewältigen – die berühmte Formulierung aus dem „Zivilisationsprozeß“. Als soziale Überlebenseinheiten haben diese Staatsgesellschaften weit größere Chancen fortzubestehen als etwa andere in den Frühphasen ihrer jeweiligen Staatenbildung (vgl. etwa Kürûat-Ahlers 1994; typisch für das 20. Jh. de Swaan 1988; Engler 1992). Noch deutlicher ersichtlich wird dieses – an den Lehren Sigmund Freuds erlernte – Begriffevermeiden an der besonderen Überlegung, alle solche Begriffe möglichst genau auf die Grenzen des Wortgebrauches zwischen sozialen Gruppen zu legen, die den Begriff verstehen sollen. Das ist zugleich auch immer eine besondere Leistung des Synthesenbildens. Damit bemüht er sich immer um Verständlichkeit bei den „Laien“; sie vermögen sich etwa unter dem „Zivilisationsprozeß“ etwas vorzustellen – auch wenn dessen „soziogenetische und psychogenetische“ Komponenten ausführlichere Definitionen für „Experten“ erfordern. Er setzt sie aber auch auf die Grenze beispielsweise zwischen theoretisierender Reflexion und gewöhnlicher Phantasiegeladenheit der meisten Begriffe. Wiederum ein gutes Beispiel ist das „Orientierungswissen“. Man kann es stets selbst erzeugen oder auch von anderen Menschen übernehmen und im gegebenen Fall prüfen. Zugleich werden Grenzen etwa zwischen akademischen Fachgebieten, die man beherrscht, überschreitbar – in unserem Fall besonders zu den Psychologien und zu den Geschichtswissenschaften (Gleichmann 1988b);77 doch auch zu vielen anderen Disziplinen, insbesondere zu den Sprachwissenschaften. Der Eliassche Ausdruck „Menschenwissenschaften“ sucht eine solche Synthese – wenn er auch ausdrücklich die Eindeutschung des englischen „Humanities“ leisten soll. Gleichzeitig soll er einen weit größeren Kreis all derjenigen Einzeldisziplinen einschließen, die sich mit Menschen befassen. Auch das ist stets die Absicht all derjenigen, die Synthesen schaffen wollen.
77 Für Elias gehört auch dazu, seine Lehrer ungern zu benennen (vgl. Maso 1992; Kilminster et.al. 1994)
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So sucht diese Begriffsbildungsstrategie immer auch ausdrücklich solche Grenzen zu überwinden, die sich in den meisten humanwissenschaftlichen Disziplinen längst aufgetan haben, so zwischen „empirischer“ Forschung und „theoretisierender“ Interpretation. Das unterscheidet Elias’ Vorgehen gründlich von vielen der meist teleologisch arbeitenden Theorienkonstrukteure des 19. Jahrhunderts, doch auch von der Fachhandwerkersprache „empirischer“ Forschungsstätten seiner Gegenwart; und – unnötig zu sagen – liegt es quer zu sämtlichen professionellen Sprachgepflogenheiten akademischer Einzeldisziplinen.78 Und es sind diese psychoanalytisch geschulten Fertigkeiten des Begriffeauswählens, dieser persönliche Balanceakt, sich gleichmäßig von den vielen Abhängigkeiten distanzieren zu können, die jene relative soziale Unabhängigkeit wie selbstverständlich erzeugt hat, die ihren Denker so ausgezeichnet hat. Solch ein Denken vermag auch Grenzen zwischen Sprachgemeinschaften oder Staaten mühelos zu überwinden. 7.
Zum dramatischen Wandel menschlicher Orientierungsmittel und den sozialen Fertigkeiten eines einzelnen Soziologen
Der Aufstieg eines sozial verfemt gewesenen akademischen Außenseiters in relativ kurzer Zeit zu einem weltbekannten Sozialwissenschaftler bedarf noch weiterer Erläuterungen. Wer Elias in seinen Sechzigern und Siebzigern antrifft, stößt auf einen stets zum Gespräch bereiten Fachkollegen, der jedoch in seiner Profession – trotz des da bereits jahrzehntealten „Zvilisationsbuches“ – fast gänzlich unbekannt ist. Im Soziologischen Institut in Leicester, England, in dem er arbeitet, pflegt er zu schweigen. In Mitarbeiter-Seminaren interveniert er heftig, sobald er wissenschaftliche Denkfehler bei den anderen zu erkennen glaubt. Doch den meisten bleibt sein Denken fremd. Er besucht in dieser Zeit durchaus fachliche „Weltkongresse“ etwa 1956 in Amsterdam, 1962 in Washington oder 1970 in Varna/Bulgarien. Doch man überhört ihn. Und man liest ihn nicht. Ist es das, was er zum Anfang über „Mozart“ sagt, als er selbst bereits über 80 Jahre alt ist: „Er gab sich auf, und er ließ sich fallen“ (Elias 1991: 9 ff.). Ist es ein Gefühl, das Richtige zur falschen Zeit zu tun, „unzeitgemäß“ zu sein, das er 78 Schröter verweist zutreffend auf ein „Affektmotiv, das sich durch das gesamte Werk von Elias zieht: auf seinen Widerspruch gegen Grenzen“ (Schröter, M. 1993: 719).
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in seiner „Soziologie eines Genies“ Mozart attestiert? Das kleine Mozart-Buch trägt autobiographische Züge. Wer den Verfasser, Elias, danach fragt, hört stets, das sei nicht der Fall. Doch allmählich erfährt er auf seine Arbeiten eine Resonanz. Elias ist etwa 80 Jahre alt, als seine ersten Arbeiten in hoher Auflage als Taschenbücher erscheinen. An wenigen deutschen oder englischen Hochschulen befassen sich sehr kleine Gruppen mit seinem Werk, besonders aber in Amsterdam. Diese Sozialforscher sind jetzt ein bis zwei Generationen jünger als er. Sie können viele Verheißungen mancher leidenschaftlicher Weltverbesserer kaum mehr ertragen. Elias spricht nun an Universitäten Europas und der USA. Er ist leidenschaftlicher Menschenbeobachter; Verheißungen bleiben ihm fremd. Aber der große Durchbruch zu weltweiter Bekanntheit gelingt ihm erst, als die Massenmedien ihn entdecken. Und diese ganz unvorhergesehene weltweite Aufnahme ermutigt ihn, spornt ihn aufs äußerste an, nun, im neunten Lebensjahrzehnt, in sehr schneller Folge noch eine Fülle von Texten und Schriften zu publizieren, wie sie von einem Jüngeren schon eindrucksvoll gewesen wären. Am meisten aber besticht sein Talent, sich in den Medien verständlich zu machen, stets knapp und einfach zu formulieren – und ginge es um komplizierteste Sachverhalte. Er ist, glaube ich, selbst überrascht von seiner Begabung; denn sein Leben lang hat er sich allein an kleine und kleinste Menschengruppen gewendet. Den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (Habermas) und das Entstehen weltweit operierender Mittel der Massenorientierung hatte er als aktiv handelnde Person bis dahin nicht mitgemacht. Jetzt kommt seine Überzeugung talentvoll zur Geltung, sich immer verständlich zugleich an Nicht-Fachleute wie an die eigene „Profession“ zu wenden. Niemals stellt er seine eigene Person autoritativ in den Mittelpunkt des Mediengeschehens – ganz im Unterschied zu den meisten Feuilleton- oder Fernsehprofessoren. Seine Sprache erfüllt literarische Ansprüche. Sie bleibt, anders gesagt, auch hier auf einem hohen Synthesenniveau. Er erzeugt dadurch ein Zusammenhangswissen, wie es die Menschen in Europa zunehmend nachfragen. Noch sind die Interviews und Vorträge, die er in vielen Staaten Europas dem Rundfunk, dem Fernsehen, den Tageszeitungen, den Wochen- und Monatsblättern überläßt, weder gezählt noch gesammelt. Sie sind eigentlich meist Kurzkommentare zu seinen umfänglichen Werken. Sie verdienen, einer größeren Öffentlichkeit zur Weiterarbeit zugänglich gemacht zu werden. Mit dem Wechselspiel zwischen „Etablierten und Außenseitern“ befaßt sich Elias einen großen Teil seines Lebens hindurch. An dessen Ende hat er sich selbst von einem ausgestoßen Gewesenen zumindest in einen sozial etablierten Außenseiter gewandelt. Jedenfalls hat er sich selbst so gesehen. 209
8.
Was macht gesellschaftliches Orientierungswissen dieses Typs attraktiv?
Viele besondere Umstände ließen sich anführen. Zwei sind ungewöhnlich. Ein generelles Merkmal im Verhältnis von hinterlassenem Werk und wirklichem Verhalten scheint immer noch unter sozialwissenschaftlichen Gelehrten unüblich zu sein. Das gesamte Werk dieses Forschers ist durchdrungen von einer umfassenden soziologisch-psychologischen Machttheorie. Der Machtaspekt aller menschlichen Beziehungen ist konstitutiv, gehört zu seinem Menschenbild, zu seiner Anthropologie. Niemals jedoch leitet er daraus Verheißungen oder auch nur Empfehlungen zum Erwerb von mehr Macht für sich oder andere ab, wie es so vielen Denkern in Vergangenheit und Gegenwart zur Gewohnheit geworden ist. Niemals verteidigt er bestehende Machtrelationen anderer, entwirft daher auch keine Herrschaftstheorie. Noch deutlicher unterscheidet er sich in seinem persönlichen Verhalten von den vielen Machtdenkern vor und neben ihm. Niemals setzt er sein soziologisches Machtwissen um in Empfehlungen an irgendwelche Organisationen. Nie erteilt er sozialen Einrichtungen oder Verbänden Rat etwa zum Machterwerb oder Machterhalt. Das verleiht ihm eine außergewöhnliche soziale Unabhängigkeit. Die Menschen, die ihm zuhören und sehen, haben das unmittelbar gespürt. Im Einzelnen ist seine differenzierte Machttheorie in seinem eigentlich ersten Werk, der „Höfischen Gesellschaft“, entfaltet worden. Es entspricht seiner historisch-empirischen Vorgehensweise, daß sie immer an Beispielfällen dargelegt worden ist – so etwa an Realmacht und Machtdenken moderner Physiker. Es liegen verschiedene Kommentare dazu vor (Gleichmann 1988a; 1991a). Der andere besondere Umstand läßt sich einfacher sagen, hat aber viel weiterreichende Konsequenzen. Es ist weniger Elias’ sicher oftmals „übersteigertes Unabhängigkeitsbedürfnis“79 als vielmehr seine „Erkenntnis menschlicher Interdependenz (...) als naturbedingte Gesellschaftlichkeit“ (Schröter, M. 1993: 718). „Wir sind nicht unabhängig“, sagt er (Heerma van Voss et.al. 1990: 98), „niemand ist es. Wir sind voneinander abhängig.“ Und was das wachsende Publikum mit größter Spannung zunehmend hat spüren können: Hier erlebt man den seltenen Fall eines soziologischen Denkers, bei dem gelebtes Leben und formuliertes Denken nicht weit auseinanderklaffen. Das eine reflektiert sich im anderen. Er hat seine „Theorien“ aus Einsicht in menschliche Interdependenzen wirklich gelebt: „Allein von Menschen können Menschen in dieser kahlen, gleichgültigen Welt Zuneigung, 79 Diese Beobachtung von Schröter trifft zu (Schröter, M. 1993: 720).
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Wärme des Gefühls und Hilfe in den Beschwerden des Lebens erwarten“ (Elias 1985: 14). 9.
Ein Forschungsprogramm zum Synthesenbilden der Menschen
Auf den ersten Blick besteht Elias’ Leistung darin, eine Art Modellstudie, ein neues Paradigma menschlicher Zivilisationsprozesse entworfen zu haben. Publikum wie Fachgelehrte sehen es vielfach so. Doch er selbst ist nicht müde geworden, darauf zu verweisen, er verstehe seine „Symboltheorie“ und seine Studie „Über die Zeit“ als gleichrangige Leistung. Beides sind Versuche über das Bilden menschlicher Wissenssynthesen. Sein Problem ist es geblieben, so etwas genau zum Ende des 20. Jahrhunderts vorzulegen – in einem Augenblick, wo dafür Begriff und Verständnis aus dem Denken und der Arbeit etwa der Geschichtsforscher oder der Philosophen beinahe vollkommen verschwunden sind. Und noch nicht genug damit – waren es nicht die Intellektuellen, die für sich diese Denkarbeit des Synthesenbildens während des 20. Jahrhunderts besonders reklamiert hatten? Und scheinen diese „Intellektuellen“, die jenes Zusammenhangswissen für sich beansprucht haben, nun am Ende des Jahrhunderts nicht ganz verschwunden, zumindest aber doch im westlichen Europa durch die geschichtlichen Ereignisse stärker entmachtet zu sein? Unmittelbar befaßt sich Elias nie mit den „Intellektuellen“, obwohl doch deren Nachdenken über sich selbst – eine Art kollektiven Selbsterforschens des eigenen Wissens besonders im östlichen Europa jene „Wissenssoziologie“ eigentlich erst hat entstehen lassen, die er sein Leben lang fortentwickelt. Elias rechnet das Bilden von Synthesen des Wissens keineswegs allein der kleinen Schicht von Intellektuellen zu, sondern betrachtet es als einen Menschheitsprozeß. Alle Menschen vermögen aus Einzelbefunden neue „ganze“ Einsichten zusammenzubringen, sind in der Lage, aus Teilbeobachtungen auf neuartige ganze Geschehenszusammenhänge zu schließen – sei es im Beobachten der Natur, der Beziehungen zwischen den Menschen oder von sich selbst. Wenn die Intellektuellen in der Phase der Ausbildung säkularisierter Nationalstaaten diese Arbeit des Zusammenfügens etwa kollektiver Wir-Bilder ihrer eigenen Gesellschaft tatsächlich geleistet haben oder leisten, erscheint Elias das menschheitsgeschichtlich als – kurzzeitiger – Sonderfall. Diese älteren Intellektuellendebatten von – im Verhältnis zu ihrem großen sozialen Umfeld – winzig kleinen Zirkeln „Gebildeter“ verlieren gegen Ende des Jahrhunderts viel von ihrer Wirkung. In den neuen Massenmedien haben nun meist „Prominente“ das Sagen, weniger Intellektuelle des älteren Typs. In den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen sind es die „Fachleute“. Elias wird nicht müde, deren geistige Abschottung untereinander, ihre zunehmende Kompartimentalisierung, zu 211
geißeln. Aber auch das orientierungssuchende Publikum hat sich tiefgreifend verändert. Es ist zahlenmäßig angewachsen. Im westlichen Deutschland zum Beispiel besuchen nun etwa ein Drittel eines Geburtsjahrganges und mehr höhere Schulen und Hochschulen. Und in vielen europäischen Ländern steigt dieser Anteil. Dieses „Publikum“ ist urteilsfähiger geworden als viele Intellektuelle älteren Typs es gegen Ende des 20. Jahrhunderts wahrhaben wollen. Jenes Publikum wird selbst intellektualisiert. Das soziologische Orientierungswissen, das Denker wie Elias generieren, wird auf einem derartigen Hintergrund vielleicht verständlicher. Auch hier konzipiert und legt er seine Arbeit wiederum mitten auf sämtliche überkommenen Grenzen – die zwischen akademischen Disziplinen oder die zwischen „Intellektuellen“ und „Publikum“. Das ist ein Kern seiner eigenen Synthesenbildungsstrategie. Wie ließe sich das gegenwärtig von den besten Fachvertretern einer einzelnen Disziplin bewältigen? Seine Forderung bleibt daher auch weiter eine Art Forschungsprogramm: „(...) language, thought and knowledge cannot be treated as if they existed in separate compartments. They cannot be regarded as the subject matter of different theories. Specialization has outlived its usefulness. A unified theory is needed which embraces them all“80 (Elias 1991: 105).
Selbst nachgekommen ist er solchen Ansprüchen im „Zivilisationsprozeß“ (Elias 1986c). Und Kritiker, die diesen einen „Mythos“ nennen, werden weniger an beigeschafften empirischen Datenbergen als an den eigenen erklärenden Syntheseleistungen zu messen sein.
80 Kilminster 1994 verdanken wir wichtige Kommentare hierzu.
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10. Wie läßt sich lernen, die Wir-Gefühle für die eigene Staatsgesellschaft in kühlster Distanz zu analysieren, sie dabei im Lichte realer Machtinterdependenzen mit anderen Staaten zu betrachten – und trotzdem immer noch mit Wärme von jener Gesellschaft zu sprechen? Einige intellektuelle Denker, die ein langes Exil überleben, offerieren uns dazu Muster,81 die angemessene Wir-Ich-Balance für solche Identifizierungsvorgänge zu finden,82 wie es Elias nennt. Er bewältigt die dabei aufkommenden Gefühlswallungen mit „Engagement und Distanzierung“, wenn er etwa „Über die Deutschen“ schreibt, über deren „Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert“, deren nationale Gefühle und Eigenschaften nachdenkt. Die meisten Geschichtsforscher in Europa betrachten ihr jeweiliges Herkunftsland ja schon meist mit einer Art professionalisierter nationaler Gefühle.83 Und den wenigsten Soziologen gelingt es überhaupt, den Denkund Sprachfesseln ihrer eigenen „Gesellschaft“ zu entkommen. Elias’ Vorgehensweise verwendet auch hier ein Mehrebenenmodell von Machtrelationen, beginnt immer vergleichend, komparativ. Im „Zivilisationsprozeß“ steht die frühe Staatenbildung Frankreichs im Zentrum, die deutschen Staaten kommen eher am Rande zur Sprache. In der „Humana conditio“ – zuerst vorgetragen „am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1945)“ (für die Deutschen) geißelt er den „furor hegemonialis“, den im Kaiserreich „scharf einsetzenden Hegemonialrausch Deutschlands“, skizziert den realen Machtverlust aufgrund des geringen Realitätssinnes seiner zivilen und militärischen Führer; betrachtet die vielen Vormacht- und Ausscheidungskämpfe Europas und dessen labile zwischenstaatliche Machtbalancen bis hin zu dessen relativem Verlust seiner Vormachtstellung in der Welt infolge des Zweiten Weltkrieges – um mit der inzwischen berühmten Wendung zu schließen: „Menschen sind nicht in der Lage, den Tod abzuschaffen. Aber sie sind ganz gewiß in der Lage, das gegenseitige Töten abzuschaffen.“ (Elias 1985: 28, 40, 90) In den „Studien über die Deutschen“ dann konzentriert er sich auf langfristige Wandlungen des Gewaltgebrauchs durch ihre Machteliten. Er analysiert sie in nüchterner Distanz. Immer wieder werden den nationalen Wir-Bildern die Fremd-Bilder gegenübergestellt, diejenigen Vorstellungen, die die anderen fremden Nationen von derjenigen haben, der jemand sich 81 (Etwa Gellner 1983; Hobsbawm 1990). – In dieser Hinsicht besonders eindrucksvoller Überblick mit weiterer Perspektive (Dogan 1994). 82 Sozialpsychologische Aspekte davon arbeiten zum Beispiel weiter aus Blomert et.al. 1993. 83 Eine distanziertere deutsche Ausnahme bietet unter anderem bei Dann, O. 1993.
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selbst zugehörig fühlt. Einfühlsam schließt er dann mit deren tabuisierten traumatischen Kollektiverfahrungen, dem Makel und den Schuldgefühlen, „die der Nationalsozialismus den nachfolgenden Generationen Deutschlands hinterlassen hat. Trotz aller gegenteiligen Beschwörungen hat es nie aufgehört, das deutsche Gewissen zu belasten. Man hat viel von der Bewältigung der Vergangenheit gesprochen. Aber es ist recht klar, daß man sie nur verdrängt und in keiner Weise bewältigt hat. Davon zu sprechen ist gewiß nicht ganz leicht. Ich weiß, daß man damit an eine offene Wunde des deutschen Wir-Bewußtseins rührt.“ – Und allgemeiner: „Ich habe seit langem die Überzeugung, daß es auch im Leben der Völker und in der Tat vieler anderer gesellschaftlicher Gruppierungen kollektive traumatische Erfahrungen gibt, die tief in den psychischen Haushalt von Mitgliedern dieser Völker einsinken und dort schweren Schaden anrichten – Schaden besonders für das Verhalten in dem gemeinsamen gesellschaftlichen Zusammenleben –, wenn man ihnen die Möglichkeit einer kathartischen Bereinigung und der damit verbundenen Erleichterung und Befreiung versagt“ (Elias 1989a: 547, 549f.). 11. Welche Gestalt muß ein vielperspektivisches Soziologenwissen annehmen, soll es wirksam der Orientierung vieler Menschen dienen? Zeitlebens bemüht sich Elias um Allgemeinverständlichkeit seiner Einsichten, legt Wert auf deren literarische Gestalt. Von der Mehrzahl wissenschaftlicher Expertenkollegen ließe sich das schwerlich behaupten. Sorgsam antwortet Elias bei Vorträgen oder Diskussionen stets allen, die ihn fragen. Immer wendet er sich den Fragenden ganz zu. Hat sich so etwas von den Erfindern des „herrschaftsfreien Dialoges“ je behaupten lassen? Gleichzeitig neben seiner wissenschaftlichen Arbeit bemüht er sich jahrelang um den Druck seiner Gedichte. Um nichts anderes hat er wohl derart lange und verbissen gekämpft. Warum? Schließlich organisiert er in Frankfurt am Main mit Hilfe einer den Universitätsintellektuellen verbundenen Buchhändlerin am 22.6.1979 seine Lesung einiger Gedichte. Irritiert zögern alle Freunde überhaupt dazuzukommen; mich überredet er dann doch, ich könne vielleicht eine Tonbandaufzeichnung davon anfertigen – die ihn später kaum interessiert. Doch sein Vorhaben gelingt. Zwar hören nur wenige zu. Aber sein Verleger und der prominente Kulturdezernent der Stadt sitzen in der vordersten Reihe. Immerhin dauert es danach noch acht Jahre, ehe ein Teil davon 1987 als Buch erscheint. Ein Rezensent der Gedichte stellt im selben Jahr im damals maßgebenden Feuilleton fest, manches klänge „fast wie ein Laborbericht (...) Die souveräne Lakonie solcher Sätze läßt keinen Raum für den Gedanken, es könne eines Tages für das grundlose Spiel zu spät sein: Norbert Elias ist kein Freund von Endzeitgedan214
ken, seine Gedichte sprechen stets vom Leben und sperren sich gegen die Weltängste“ (Fuld 1987). Als der Herausgeber der meisten seiner Werke, Michael Schröter, ihn beim Vorbereiten des Gedichtbandes fragt, „als was er wohl, seiner Meinung nach, im Gedächtnis der Nachwelt eher weiterleben werde, als Wissenschaftler oder als Dichter, antwortet er: ‘Als Dichter’“ (Schröter, M. 1993: 693). Elias’ Schriften und Bücher mögen theoriebesessen erscheinen. Sie kennen keine Grenzen eines akademischen Faches, nur das Aufnahmevermögen ihres Verfassers. Oft ist an ihnen „eine gewisse Begriffsvermeidung“ beobachtet worden; das seien „vielleicht die tieferen Ursachen dafür, daß sein Werk von der Zunft so zögernd zur Kenntnis genommen wurde (...)“ (Scheffel 1979). Doch im Unterschied zu den meisten Büchern der „Zunft“ bewirken die literarischen Qualitäten eben, daß seine Bücher immer spannend aufgebaut und verständlich geschrieben sind. Immer vermitteln sie auch etwas von den Gefühlen, den Emotionen, den Phantasien der Menschen, also auch des Autors. „Adepten der Literatur haben es längst geahnt: ein Gedicht kann klüger sein als eine Theorie“ (Schröter, M. 1993: 695). Deshalb schließe ich mit einem seiner Gedichte (Elias 1987: 67). Vielleicht kann es ja auch all diejenigen aufrichten, die den Büchern der Wissenschaft weniger trauen: „Deine Bücher sind Bücher eben Blick durch dünne Tücher noch nicht noch nicht das Leben noch gemacht gut gut gemacht noch gedacht klug klug gedacht Leben dieses Leben so im Spiel gewonnen daß der Dunst sich von den Blättern hebt alles duftet stark als ob es riefe von Gesicht zu Angesicht und lebt aus der unbedachten Tiefe“
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5. Metamorphosen der sozialen Frage. Über Robert Castels historische Soziologie84
Ansätze zur historischen Soziologie Robert Castels „Metamorphosen der sozialen Frage“ ist ein außergewöhnliches Werk; angesichts von Reformdiskussionen über die Sozial- und Arbeitslosenhilfe – auch bei uns ist es aktuell. Im deutschen Sprachraum scheint es immer noch nicht angemessen rezipiert zu werden. Dafür finden sich im Verhältnis zu Frankreich vielerlei Ursachen; zu den wichtigsten zählt die insgesamt relativ geringe Kenntnis der Sprache des jeweils anderen Sprachraumes. Und im Gefolge davon führt die immer noch viel zu geringe gegenseitige Rezeption von Wissen über Kultur, Politik und Gesellschaft die Menschen kaum zusammen. Zwischen den vorherrschenden „Soziologien“ sind die Differenzen seit langem krasser. Fast alle deutschsprachigen dominanten Soziologieauffassungen und -schulen haben sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts ganz auf ein „empirisches“ Vorgehen reduziert. Das hat sich auch dann vollzogen, wenn noch engere Bündnisse mit Nachbardisziplinen wie den wirtschaftswissenschaftlichen oder den psychologischen eingegangen worden sind. Geschichtsfreie Momentaufnahmen dominieren selbst dann, wenn noch bestimmte Daten als Zeitreihen versammelt werden wie etwa in der Biographieforschung. Ganz anders haben sich dagegen seit längerem die vorherrschenden sozialwissenschaftlichen Schulen im französischen Sprachraum entwickelt. Den ganz empirisch-hodiezentrischen Empirieansätzen haben sie sich vergleichsweise spät geöffnet, so wie sie seit der Mitte des 20. Jahrhunderts etwa in den USA vorgeherrscht haben. Von ihrer relativen Nähe zu den Geschichtswissenschaften sind sie im Grunde nie ganz abgekommen. Vor allem aber hat sich die Geschichtswissenschaft im Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts anders professionalisiert als in Deutschland. Die Mehrzahl 84 Diese Arbeit ist zuerst als Rezensio-Essay (2003) über Robert Castels „Metamorphosen der sozialen Frage“ in der Soziologischen Revue, Heft 1, erschienen. Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf die zitierte Ausgabe (Anm. d. Herausgebers).
der französischen Historikerschulen hat schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts ihre relativ starken Bindungen an die Soziologieentwicklung beibehalten. Henri Berr (1863-1954) etwa fordert das Synthesenbilden als Leistung der Historiker. Er praktiziert es dann in seiner Zeitschrift „Revue de synthèse historique“. Mit dem Aufkommen der pluridisziplinären „Annales“(schulen) seit den Zwanzigerjahren verstärken sich diese Tendenzen einer bleibenden Aufmerksamkeit für die Geographie (besonders Ferdinand Braudel), stets auch die Soziologie und vor allem die Ökonomie. Die „Annales d’histoire économique et sociale“ werden 1929 begründet und heißen bald „Annales Économies, Sociétés, Civilisations“. Nach dem Zweiten Weltkrieg formiert sich hier das nun beherrschende internationale Paradigma der Geschichtsforschung; das 19. Jahrhundert Europas ist noch von der deutschen Geschichtswissenschaft bestimmt gewesen. Im Unterschied zu deutschen Historikern, die sich in der Mehrzahl vornehmlich an ihre professionellen Fachkollegen wenden und so meist auch schreiben, richten sich nun viele französische Geschichtsforscher weit entschiedener an ein gebildeteres breites Publikum; von den Nachbardisziplinen grenzen sie sich weniger ab. Wegen der großen Nähe der französischen Historiker zu den Sozialwissenschaften bleibt auch ein beträchtlicher Teil der französischen Soziologen stets dem historischen Wissen enger verbunden. Im englischen Sprachraum finden wir seitdem immer auch eine historische Soziologie. In ihren Ansätzen stammt sie meist aus dem österreichischungarischen Raum. Der ungarisch-englische Soziologe Károly Polányi (1886-1964) oder der in Wien und Berlin zur Schule gegangene englische Historiker Eric J. Hobsbawm (geb. 1917) werden beide häufiger von R. Castel zitiert. Und die französischen historischen Einflüsse sind bald auch in nordamerikanischen historischsoziologisch arbeitenden Forschungen übernommen worden. Charles Tilly (geb. 1929) oder Immanuel Wallerstein (geb. 1930) bei den Soziologen oder William McNeill (geb. 1917) bei den Historikern bieten anschauliche Beispiele für die relative Übernahme des je anderen Fachwissens. In einer derartigen Ausgangslage entstehen daher stets auch auf Geschichtswissen gegründete Studien französischer Soziologen in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen. Dazu zählt Robert Castels vorliegende Arbeit. Er wird 1933 geboren, studiert nach dem Zweiten Weltkrieg Soziologie und sieht in Émile Durkheim (1858-1917) und vor allem in Gaston Bachelard (1884-1962) seine wichtigsten Lehrmeister. Er lehrt an der 1946 gegründeten École des Hautes Études en Sciences Sociales, also im Umfeld namhafter Historiker und Soziologen. Für eine historische Soziologie in Deutschland hat es um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch mehrere Strömungen oder Forschungsgruppen gegeben. Manifest erkennbar die Schulen im Gefolge Marxens, Max Webers oder Werner Sombarts; auch Gestalten wie Hans Freyer stehen in dieser Tradition. 218
Noch in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges finden wir etwa in den sozialwissenschaftlichen Handbüchern diese Überlieferung. Die erste, meist aus dem Krieg zurückkehrende Generation wird großenteils noch historisch denkend erzogen beziehungsweise sucht sich über die erlebten Kriegsschrecken auch geschichtlich zu verständigen. Arbeiten wie Ralf Dahrendorfs kleine „Industrie- und Betriebssoziologie“, zuerst 1956, zeigen noch Ansätze davon. Selbst eine der ersten einflussreichen „empirischen“ industriesoziologischen Forschungen der Nachkriegszeit von Popitz/Bahrdt/Jüres und H. Kersting 1957 lässt die historische Reflexion noch erkennen. Indem sich auch die vorherrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Auffassungen weiter von historischen und soziologischen Ansätzen entfernt haben, ist die deutsche Soziologie immer mehr an den Rand geraten. Ganz anders dagegen Frankreich; die historischen Schulen haben sich – wenn überhaupt – weniger von den Sozialwissenschaften isoliert. Viele soziologische Ansätze sind dem Geschichtswissen eher verbunden geblieben. Dahinein gehört R. Castels Studie. Als originelle Langzeitprozess-Studie ähnelt sie Ansätzen von Elias oder Wallerstein. R. Castel beginnt konsequent mit knappen Skizzen seiner soziologischen Position im Verhältnis zur Arbeitsweise der Historiker. Im Vorwort erläutert er sein Vorgehen angesichts der derzeit erlebbaren tiefgreifenden „Erschütterungen der Lohnarbeitsverhältnisse“ und der überkommenen Systeme der sozialen Sicherung. Er versucht, „unsere Erinnerung für das Verständnis der Gegenwart zu mobilisieren“ (11). Und das beginnt er sogleich in einer Langzeitsicht aufs Entstehen der Lohnarbeit und deren Wandel in „mächtige, vom Sozialstaat garantierte Systeme der Risikosicherung“. Er sucht nach einem „verstehenden Zugang“ für die „Geschichte der Gegenwart“. Im engeren Sinne will er nicht primär die Arbeit untersuchen, sondern „die Statusunsicherheit, die Fragilität des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die Flugbahnen, deren Verlaufskurven ins Schlingern geraten sind“ (12). Er erarbeitet sich seine Begrifflichkeiten: „Gesellschaftliche Dekonversion, negativer Individualismus, massenhafte Verwundbarkeit, Handicapologie, Verlust eines Wertes für die Gesellschaft, Entkoppelung etc.“; für ihn beziehen sie „ihre Bedeutung aus dem weiteren Rahmen einer Integrations- und Anomieproblematik“ (im Grunde genommen geht es hier um Überlegungen zu den Bedingungen gesellschaftlicher Kohäsion und dies über den Umweg einer Analyse gesellschaftlicher Dissoziation). Seine „Fragen decken sich nicht mit denen, die sich klassischerweise die Arbeitssoziologie stellt“ (13). Dies liegt gar nicht in seiner Absicht. Er möchte vielmehr die Vergesellschaftung der Arbeitenden beziehungsweise die relative Entkoppelung der nicht an produktiver Tätigkeit Teilnehmenden näher untersuchen, „nicht die Arbeit als technisches Produktionsverhältnis“ (13). Er konzentriert sich auf die Verortung der Menschen in den primären Sozialbeziehungen und den 219
sozialen Sicherungssystemen, in eine Zone der Integration in stabile Arbeits- und Sozialbeziehungen und eine des Fehlens jeglicher produktiver Tätigkeit und des Mangels an gesellschaftlichen Beziehungen. Dabei konstruiert er sich sein Analysemodell nicht als ein statisches Modell, sondern auf langfristige Prozesse hin. Einmal untersucht er die sozial „integrierte Armut“ und dann die Lage der nicht sozial Integrierten und deren „Absturz in die gesellschaftliche Nicht-Existenz“ (14); beides gegebenenfalls in einer „longue durée“. Diese Prozesse der sozialen Entkoppelung (désaffiliation) der „Verwundbaren“, der „exclusion sociale“ stehen im Zentrum seiner Fragen. Mit dem Ausdruck „Metamorphosen“ sozialer Prozesse will er den grundlegenden Gestaltwandel, die fundamentalen Umwälzungen der „sozialen Frage“ umschreiben und nicht bloß eine Metapher darin sehen. „Die soziale Frage ist eine fundamentale Aporie, an der eine Gesellschaft das Rätsel ihrer Kohäsion erfährt und das Risiko ihrer Fraktur abzuwenden sucht“ (17). Castel verfolgt den Weg von den „Vagabunden“ des frühen Mittelalters hin bis zu den „Metamorphosen der sozialen Frage“ am Beginn der Industrialisierung und den spezifischen Pauperismus sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts den aufkommenden Sozialstaat. Bei Anbeginn des 21. Jahrhunderts sind jene sozialstaatlichen Regulationen „grundlegend erschüttert“ (21). Der Gesellschaftspakt ist neu zu definieren: „Als Solidaritätspakt, Pakt für Arbeit, Pakt für Staatsbürgerlichkeit: Dies verlangt, dass wir uns über die Voraussetzungen der Inklusion aller Gedanken machen, auf dass sie, wie man zu Zeiten der Aufklärung sagte, Umgang miteinander haben“ können, d.h. „eine Gesellschaft bilden“ (21). Und prinzipiell strebt Castel hierbei den Gesellschaftsvergleich an, so dass Vergleiche mit den anderen Industriestaaten Europas das gesamte Werk durchziehen. Die umfängliche Studie ist in zwei große Teile geteilt. Den ersten überschreibt Castel „Von der Vormundschaft zum Vertrag“, den zweiten „Vom Kontrakt zum Status“. Sein erster Blick richtet sich auf die frühen Formen der Fürsorge, der unmittelbaren sozialen Sicherung. Er nennt dies seine „Handicapologie“, einen Katalog sozial behinderter Menschen, die auf gesellschaftliche Fürsorge in den primären Sozialbeziehungen angewiesen sind. Er beginnt im 14. Jahrhundert, bei den Netzen unmittelbar miteinander verbundener Menschen in Familie, Nachbarschaft oder Arbeit. Er skizziert die besonderen Interdependenzen der dörflichen Bauern, den in sich stark hierarchisch verbundenen bäuerlichen Menschen der Feudalgesellschaft in ihrer, wie er es nennt horizontalen und vertikalen Gliederung. Das Sichablösen von den primären solidarischen Herkunftsgruppen, den Verlust dieser Bezugsgruppen bezeichnet er als Entkoppelung. Die bäuerlichen Menschen sind arm. Herumirrende Studenten oder Ordensleute sind meist für längere Zeit hindurch Vagabunden. Aber die gänzlich Armen sind diejenigen, die an und für sich arbeiten müssen, jedoch keine Arbeit finden. Nach Castels Modell 220
beginnen sich „Gesellschaften ohne Soziales“ im 14. Jahrhundert neu auszurichten; ihre „Dekonversion“ ihre Krise, ihre Auflösung lässt die Problematik des Sozialen erst entstehen. Historisch unterscheidet er wenigstens vier Praktiken der Sozialfürsorge (38): Einmal entstehen durch die separate „Befürsorgung“ von Problemen sekundäre Sozialbeziehungen. Zweitens werden diese zu Ansätzen, zu Kristallisationskernen für eine künftige Professionalisierung; etwa Pfarrer, Küster, Gemeindebedienstete werden insoweit Sozialbeamte. Drittens finden sich Ansätze einer minimalen Technisierung. Selbst wo die beruflichen Ausbildungen fehlen, müssen die mit diesen Aufgaben Betrauten alle diejenigen auswählen, die eine Unterstützung verdienen. Und viertens sobald solche Praktiken auch lokalisiert sind, entstehen auch Techniken der Entterritorialisierung beziehungsweise Reterritorialisierung (etwa die Pflege im Spital) und damit stabilere erste Ansätze der Sozialfürsorge. Fünftens schließlich werden innerhalb dieser Bevölkerungsgruppen ohne Einkommen bestimmte ausgeschlossen, andere unterstützt. Eine der Hauptthesen Castels ist, „dass das Fürsorgerische sich als Analogon zur Primärvergesellschaftung konstituiert. Es zielt darauf ab, eine in den von der Primärvergesellschaftung geforderten Beziehungen klaffende Lücke auszufüllen und das dadurch geschaffene Risiko der Entkoppelung abzuwehren“ (39). Und weiter: „Die Fürsorge ist eine unmittelbare Sicherung der vom gesellschaftlichen Ausschluss bedrohten Nächsten“ (40). Und: „Nächstenliebe ist ganz klar die christliche Tugend par excellence“ (41). Doch in den Texten von „Laien“ wird die extreme Verachtung der Armen, besonders der Bettler krass ausgesprochen. Und auch: „Der ‚schlechte’ Arme ist zuallererst eine theologische Kategorie.“ Und generell werden Wohnsitz und Gemeindezugehörigkeit zur Hauptvoraussetzung für die Unterstützung von Bedürftigen. So vervielfacht sich zwischen 1180 und 1350 in den französischen Städten „die Zahl der Hôtels-Dieu, charités und hôpitaux“. Die Armenfürsorge wird schon vor dem 16. Jahrhundert auf „territorialer Grundlage organisiert, ist aber kein kirchliches Monopol.“ Im europäischen 17. Jahrhundert vollzieht sich „die große Einsperrung der Bettler“ (50). Unterstützungsempfänger müssen „nahe sein“ und „arbeitstauglich“. Nun wendet sich Castel dem „ungeheuren Elend der Arbeitenden zu und, schlimmer noch, jener Elenden, die keine Arbeit haben“. Er untersucht jetzt die Mitte des 13. Jahrhunderts, der „société cadastrée“, der katasterartig am Ort festgehaltenen Gesellschaft. Bisher hat es kleine Gruppen an den Rändern der Gesellschaft gegeben. Die neuen Formen der räumlichen Mobilität rühren aus „einer Erschütterung im Inneren der bestehenden Gesellschaft“ (70). Jetzt handelt es sich für die Individuen um „ein frei florierendes Arbeitskräftepotential, das innerhalb der Organisation der Arbeit keinen richtigen Platz findet und als solches nicht hingenommen werden kann. Sie müssen folglich nicht nur zum Arbeiten gebracht 221
werden, sondern auch noch an ihrem seit vordenklichen Zeiten fest angestammten Platz in der Produktion“ (71). Mit Gewalt wird aber ihre Immobilität erzwungen. Die „schwarze Pest“ dezimiert die europäische Bevölkerung (westlich der Elbe) in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts um etwa ein Drittel. Volksaufstände und besondere Hungeraufstände gibt es noch bis ins 17. Jahrhundert. Aber die eigentliche tiefer gehende Veränderung wird durch den zunehmenden Besitzwechsel und die Landzersplitterung bewirkt; ein Teil der Bauern steigt auf, die anderen werden beherrscht von unkontrollierbarer Mobilität, werden „zum Verlassen des Landes“ (80) gezwungen. Diese „Vagabunden“ gelten jetzt als Störenfriede. Und deren „Definition“, „keine Arbeit zu verrichten“ und „herrenlos zu sein“, wird seither nicht mehr geändert und ins napoleonische Strafgesetzbuch übernommen. Sie sind die „nutzlos Geborenen“. Sie werden „ausgewiesen“, bisweilen hingerichtet, in die Kolonien deportiert oder mittels Einsperrung zur Arbeit verpflichtet. Hier formiert sich eine geographische wie berufliche Mobilität, das ländlich-städtische Subproletariat. Und: „Diese Konstruktion eines negativen Paradigmas des Vagabunden ist Bestandteil eines Machtdiskurses“ (92). Schließlich: „Die Vagabundenfrage ist in Wirklichkeit die Art und Weise, in der die soziale Frage der vorindustriellen Gesellschaft zugleich formuliert und verschleiert wird“ (96). „Der Kern der Problematik befindet sich gerade nicht da, wo man auf die ausgegrenzten stößt.“ Jetzt blickt Castel direkter auf die unmittelbare Genese moderner, unwürdiger Lohnarbeit, die Zünfte, die regulierte Zwangsarbeit und vor allem das Modell der Fronarbeit. Er sieht auf „Embryonen oder Spuren dieses modernen Lohnarbeitsverhältnisses.“ Er skizziert das Entstehen der städtischen Zünfte in ihrer Blütezeit im 12. und 13. Jahrhundert mit ihrem doppelten Ziel, dem Arbeitsmonopol innerhalb der Städte, dem Abschaffen externer Konkurrenzen aber auch eben dem Verhindern „des Aufkommens einer internen Konkurrenz zwischen ihren Mitgliedern“ (102); und das gerät spätestens seit dem 14. Jahrhundert in die Krise. Er geht nun näher auf die Eigentümlichkeiten des Zunftwesens ein, die „industrielle“ Entwicklung des ländlichen Handwerks, „welche die traditionelle Organisationsweise des Handwerks unterläuft, ohne sie zu zerstören“ und die frühen „industriellen Manufakturen“ etwa von Richelieu oder Colbert, die „sich völlig dem Einfluss des Zunftwesens“ entziehen, „die Manufakturen eher wie Zwangsarbeiteranstalten statt wie Wegbereiter der Freiheit der Arbeit“ (113). Das Ausbreiten des ländlichen Handwerks und der lange bestehenden Proto-Industrialisierung helfen die langen Bindungen der ländlichen Arbeiter aufzulösen und zu beenden. Das Aufkommen besonders unter Richelieu oder Colbert der königlichen Manufakturen mit ihrer gnadenlosen Disziplin leitet eher hin zu Formen der Zwangsarbeit als in Richtung auf einen „freien“ Arbeitsmarkt. Diese Manufakturen führen nicht nach der Logik 222
kapitalistischer Akkumulation und nicht direkt in Richtung eines freien Arbeitsmarktes. „Vor Anbruch der industriellen Revolution“, so Castels These, „verkörpern die regulierte Arbeit und die Zwangsarbeit die zwei Hauptarten der Arbeitsorganisation“ (114). Das könne man nur verstehen, wenn man die gesellschaftlich fest verankerten Regulierungszwänge jener Zeit begreift, die Reglementierungen des Zunfthandwerks und der den städtischen Reglements unterstehenden Berufe. Und die ganz Armen werden besonders gezwungen. „Eine besonders repressive Arbeitspolizei muss nur mit Drohungen auftreten, damit die armen Teufel Formen ‚wählen’, für die der Zwang zwar euphemisierter ist, die aber freilich nichts Verlockendes an sich haben. So bestätigt sich also die von der Behandlung der Landstreicherei ausgeübte exemplarische Funktion: Sie verkörpern das Paradigma der Regularisierung einer vom Grundsatz der Verpflichtung beherrschten Organisation der Arbeit. In den präkapitalistischen Gesellschaften lastet sie bedrohlich auf der Arbeitsordnung für alle Armen“ (124). Die Menschen mit regulierter Arbeit oder – so sagt Castel – in Zwangsarbeit nennt er dann die Gebeutelten (les paumés de la terre). Sie werden schon vom frühen Mittelalter an immer mehr, bleiben aber sehr lange „ein peripheres Phänomen“. Zudem sind sie stark fragmentiert, was ihre Schwäche noch vergrößert. Mit dem Modell der Fronarbeit (le modèle de la corvée) wird nun das wohl älteste Arbeitsverhältnis dargestellt. Die Fron folgt als persönliche Abhängigkeit nach der Sklaverei und dann der Leibeigenschaft. Ab dem 12. Jahrhundert kann man sich von diesem Dienst auch frei kaufen. „Hier scheint der Ursprung der ländlichen Lohnarbeit zu liegen“ (133). Doch die Arbeitspflichten sind immer noch strikt ortsgebunden. Wer sich daraus auch räumlich trennen will, braucht einen „Beurlaubungsschein“. Hier liegt noch das alte Paradigma der Zwangsarbeit vor: Alle Armen, die ohne Eigentum oder ausreichendes Einkommen aufgegriffen werden, werden in Arbeitshäuser gesteckt. „Die Radikalisierung einer totalen Institution erscheint hier als Schatten der Befreiung der Arbeit“ (139). Noch am Ende des 18. Jahrhunderts sind hinter dem Lohnarbeitsverhältnis zwei sehr unterschiedliche Machtmodelle zu erkennen: „mit Gewalt sesshaft“ (140) gemacht werden müssen; und die Erben der Fronpflichtigen in traditionellen Vormundschaftsverhältnissen, „die aufrecht zu erhalten sind“. R. Castel wendet sich jetzt der „liberalen Moderne“ zu, skizziert die nun im 18. Jahrhundert deutlicher werdenden Gegensätze zwischen „Handel und Industrie“ und der „übrig gebliebenen Wildheit der Feudalverfassung“, betont aber, wie sehr zwischen „Progressiven“ und „Konservativen“ nun die große Masse der Menschen „zwischen diese beiden Gegensätze“ in die öffentliche Aufmerksamkeit gerate. Und so wenig „philanthropische“ Aktivitäten der Masse der wirklich Bedürftigen haben helfen können, deren „massenhafter Verwundbarkeit“ (151), so 223
wenig vermochten sie das Vagabundentum zu unterdrücken. „Weder Bettlerdepots noch Galeeren haben merkliche Auswirkungen auf die Lage des Volkes. Am Vorabend der Revolution wird klar, dass die Grenzen zwischen den vier Zonen der Integration, der Verwundbarkeit, der Fürsorge und der Entkoppelung auf veränderter Grundlage neu gezogen werden müssen.“ Die Auffassung von Arbeit wandelt sich tiefgreifend. „Die Arbeit wird als Quelle gesellschaftlichen Reichtums anerkannt“ (151). Doch nun ist das aufgeworfene Problem „das der Lage der Masse des Volkes, und das erfordert eine umfassende Neuorganisation der Arbeit. Die Lehren der Ökonomie und nicht Neigungen des Herzens führen dazu, einen neuen Blick auf die Elenden zu werfen: Das wohlverstandene Interesse des nationalen Kollektivs, an erster Stelle der Besitzenden, verlangt herrisch danach, eine neuartige Politik hinsichtlich der benachteiligten Massen zu verfolgen, Armenfürsorge wie auch die Kehrseite, die Repression, als die bevorzugten Haltungen gegenüber den Unglücklichen gelten nun als überholt“ (159). Die Losung des freien Zugangs zur Arbeit und zum „Markt“ überspielt nun alle bisherigen Rücksichten und Zwänge. Der Merkantilismus „auf dem Weg der Bewusstwerdung des Wertes der Arbeit (…) bleibt hier aber noch ins Disziplinarmodell eingehüllt“ (153). Der plötzliche Aufstieg der Arbeit von der untersten Stufe zur höchst geschätzten Tätigkeit, zitiert Castel H. Arendt – über Lockes Entdeckung der Arbeit als Quelle des Eigentums, Adam Smith’ als Quelle des Reichtums und Marxens als Quelle aller menschlichen Produktivität – nennt Castel den „Siegeszug der modernen Konzeption von Arbeit“ (167). Er referiert dann den ungewöhnlich hellsichtigen und differenzierenden Bericht eines Revolutionskommitees von 1790 zum „Ausrotten des Bettlertums“ (162). Die liberalen Plädoyers für die „Öffnung des Arbeitsmarktes“ (167) machen Betteln und Vagabundieren nun erst recht zu Delikten, und Müßiggang „zu einem Verbrechen“. Aber „die Aufspaltung des Rechts“ bringt die Mehrheit der Revolutionäre „dank ihrer Neuinterpretation der alten Dichotomie Arbeitsfähigkeit – Arbeitsunfähigkeit“ doch wieder dazu, einer „Maximalposition für das Recht auf Unterstützung eine Minimalposition für das Recht auf Arbeit“ (176) beigesellen zu können. Die „bürgerlichen Klassen“ haben Vorteile vom freien Arbeitsmarkt, die Mehrzahl der Armen nicht. Selbst mit den Umwälzungen im Zuge der Revolution und heute absonderlich erscheinenden Vorstellungen wie dem „Fest des Unglücks“ (170) – die unglücklichen unterstützungsbedürftigen Staatsbürger wandeln sich durch die Symbolwelt des Festes: Das Unglück hört dadurch auf, ein Faktor der Ausgrenzung zu sein und würde so ein Verdienst und eine Auszeichnung – folgen mit der Restauration im Kaiserreich wieder der repressive Umgang mit den arbeitsfähigen Armen und der philanthropische Paternalismus. Die „Aufspaltung des Rechts“ vollzieht sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts, weil man „implizit zwei einander 224
widersprechende Auffassungen von der Rolle des Staates miteinander koexistieren ließ“ (171). Einmal ist es das schon im „Ausschuss für das Bettelwesen“ revolutionäre Programm, das später Wohlfahrtsstaat genannt wird. Und zum anderen steht dem entgegen die Konzeption einer minimalen Staatsgewalt, eines liberalen freien Arbeitsmarktes; da regiert die „invisible hand“. Vom Kontrakt zum Status In der zweiten Hälfte des Werkes zeichnet R. Castel den Weg „vom Kontrakt zum Status“ nach: Am Beginn die Entfesselung der Industrialisierung und massenhafte Entkoppelung und den Pauperismus. „Eine Sozialpolitik ohne Staat ist möglich, der Liberalismus hat sie erfunden“ (189). Unternehmerische Patronage und Philanthropen erzeugen ein „regelrechtes Programm politischer Steuerung“ und moralischer Verpflichtungen. Dann die „hochgradig verwundbare Lohnarbeiterschaft“ (190) gegenüber einem weitgehend sich selbst überlassenen Markt. Und schließlich der „keynesianische Kompromiss“ mit Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung und entwickeltem Arbeitsrecht. Doch: „Diese Situation ist nun nicht mehr die unsere.“ (190) „Dennoch bleibt der Sozialstaat unser Erbe.“ In diesen allgemeinen Grundzügen gilt dies auch für Deutschland und England. Während in England 1834 gesetzlich ein öffentliches Unterstützungssystem geschaffen wird, findet sich in Frankreich vor 1848 „kaum eine Spur einer öffentlichen Debatte zu Fragen der Armut und der Arbeit“ (192). Im Kapitel „Eine Politik ohne Staat“ beschreibt Castel drastisch anhand zeitgenössischer Gutachten und Romane den Pauperismus, „Les miserables“, die Elenden; auch die deutsche Fassung von Castels Werk bedient sich des französischen Titels von Victor Hugos berühmtem Roman von 1862, also aus dem französischen Kaiserreich. Zum Veranschaulichen der neuen Pauperisierung zieht Castel auch Schriften namhafter Adeliger heran wie die von Toqueville von 1835. Äußerst hartnäckig wenden sich die Liberalen gegen das Verrechtlichen von Unterstützungsleistungen; daraus erwachsen Beziehungen auf Gegenseitigkeit. Sie erkennen aber durchaus moralische Verpflichtungen, private wie öffentliche, zur Hilfeleistung an. Aus dem Verrechtlichen erwachsen Beziehungen der Gegenseitigkeit; die Fürsorgepraktiken hingegen vollziehen sich im Rahmen ungleichen Tausches. „Der Bedürftige bittet und kann keine entsprechende Gegenleistung geben für das, was er erhält.“ (207) Darin treffen sich viele an sich sehr unterschiedliche sozialreformerische Strömungen des 19. Jahrhunderts. Daraus ist eine „erste moderne Version der Sozialpolitik hervorgegangen“. Und bleibt es bei aller Vielgestaltigkeit „wohltätiger“ Aktivitäten bei „Patronage und Patrons“ (216); im Ideal streben manche große Industrieunternehmen „eine perfekte Osmose zwischen Fabrik und Alltagsleben der Arbeiter und ihrer 225
Familien“ (225) an. Die nun vom industriellen Patron sesshaft gemachten Arbeiter verlieren dessen „Sozialleistungen“, wenn sie die Firma verlassen. Und manche Fabrikordnung erlaubt 1875 sogar entgegen dem Geist des „code civil“ die sofortige Entlassung und gegebenenfalls gerichtliche Anzeige der Arbeiter, wenn deren „Betragen nicht dem eines nüchternen und arbeitsamen Ehrenmannes entspricht“ (227). Marx sprach im ersten Band des Kapitals schon davon, dass „der gesetzgeberische Scharfsinn der Fabrik-Lykurge (…) ihnen die Verletzung ihrer Gesetze womöglich noch einbringlicher als deren Befolgung“ (227) mache. Und Castel schließt seine Darstellung dieser liberal-konservativen Bemühungen mit der Bemerkung: „Eine rückwärts gewandte Utopie“ (228). Jetzt skizziert er die unmittelbare Genese französischen „Sozialeigentums“ (la propriété sociale) während der Dritten Republik (1870-1940). Er sucht dabei sorgfältig den Ausdruck „Wohlfahrtsstaat“ (L’Ètat providence) zu vermeiden. Sozialstaatliche Strategien „erinnern nicht im geringsten an ein üppiges Manna, dessen Wohltaten über zufriedene Untertanen zur Ausschüttung kommen. Dieser Staat ist weniger gebefreudig, kalkulierend und wacht stets misstrauisch über den Gebrauch, den man von seinen Leistungen macht. Er orientiert sich vorwiegend an Minima“ (236). Der Sozialstaat stellt „etwas grundlegend Neues dar“. Und mit dieser Art Einsichten wechselt Castel immer stärker von der Bezugsebene gemeinschaftlich-individueller Darstellungen über zu einer gesamtgesellschaftlichstaatlichen Ebene. Zum einen „lockert sich der Schraubstock des Patronagesystems“. Wenigstens ebenso notwendig zum Entstehen eines modernen Sozialstaates ist „die Überwindung oder zumindest die Aussetzung der im engeren Sinne revolutionären Alternative eines radikalen Umsturzes der Herrschaftsverhältnisse“ (237). „Der Sozialstaat setzt den Klassengegensatz voraus und umgeht ihn zugleich“. Nochmals wendet sich Castel gegen die mit dem Begriff des „Wohlfahrtsstaates“ implizierten Verheißungen. Der Begriff impliziere eine direkte „Beziehung zwischen einem wohltätigen Staat und den passiv seine Gaben entgegennehmenden Empfängern“; „von Anbeginn an ein polemischer Begriff, der von den Verleumdern öffentlichen Eingreifens erfunden wurde“ (247). Er dehne die sozialen Rechte maßlos aus. „Man meint zu träumen,“ hält Castel dem entgegen. „Viel eher müsste gerade das Nichtvorhandensein oder die Verspätung bei der Übernahme einer ‚providentiellen’ Rolle des Staates unsere Verwunderung erregen.“ Und dies besonders in Frankreich. „Bis kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts bleibt die vom Staat bewerkstelligte soziale Sicherung unermesslich weit hinter dem Stand zurück, den sie nicht nur in Großbritannien oder Deutschland erreicht hat, sondern auch in den skandinavischen Ländern, Österreich, den Niederlanden und gar Rumänien“ (248). Der verschleierte Ausdruck „Wohlfahrtsstaat“ strotzt von Vorurteilen. Im Kern haben die Ansätze des französischen Sozialstaates bis zur Wende zum 20. Jahrhundert im Vergleich zu dem damaligen „großen Rivalen Frankreichs“ 226
Deutschland, doch auch verglichen mit England, bloß den „Kern der Sozialgesetzgebung“ bescheidensten Ausmaßes gezeigt. Man dürfe ruhig sagen, das 19. Jahrhundert habe da bis 1914 „nur Reden hervorgebracht“. Die immer breitere Einführung von Versicherungen als einem „Modell der Solidarität“ (261) insbesondere, wenn auch zögerlich der Pflichtversicherungen, hat weit reichende, dämpfende Folgen für die bis dahin geltenden Absolutheitsansprüche der konfligierenden Parteien etwa im Hinblick auf das Eigentum aber auch auf die Arbeit. Dazwischen entwickelt sich etwa seit 1880 (wie übrigens auch in England und Deutschland) eine Grundsatzdebatte um das „Sozialeigentum“ (271). Das reale Programm einer alle Staatsbürger gegen die Gesamtheit der Risiken umfassenden solidarischen Versicherung wird in Frankreich 1904 formuliert doch erst ab 1945 zögerlich realisiert. An die Stelle der alten Solidaritäten in nächster Nähe zum Patron oder Unternehmen „delokalisiert“ (279) nun die Versicherung die Sicherungen und entpersonalisiert die Bindungen. „Deterritorialisierung ist nun nicht mehr mit Entkoppelung identisch“. Wegen des föderalen Systems gilt dies in Deutschland nicht so vollkommen. Die Probleme der sozialen Sicherung werden nun weiter verfolgt für „die Lohnarbeitsgesellschaft“ (283). Diese „société salariale“ zeichnet er weniger in ihrer Geschichte als ihrer „ausgeklügelten wie fragilen neuartigen Struktur“ (285) nach. Für den Übergang vom anfänglichen Lohnabhängigkeitsverhältnis zum fordistischen nennt er fünf Voraussetzungen: Einmal die klare Trennung zwischen tatsächlich und regelmäßig Arbeitenden gegenüber den Nichterwerbstätigen. Dann „die Bindung des Arbeiters an seinen Arbeitsplatz und die Rationalisierung des Arbeitsprozesses“ (290) im Rahmen geregelter Zeitverwendung. Drittens „die durch den Lohn ermöglichte Teilhabe an den neuen Konsumnormen“ (292). Viertens die „Teilhabe am Sozialeigentum und öffentliche Dienstleistungen“ (295); und schließlich fünftens „die Verankerung in einem Arbeitsrecht“ (296). Die ersten Ansätze eines „Tarifvertrages“ und die Premiere des Jahres 1936, Fabrikbesetzungen, erstmals eine Volksfrontregierung mit sozialistischkommunistischer Mehrheit wandeln „die Lage der Arbeiter“ (297): Arbeitszeitverkürzung, „ein paar Tage bezahlten Urlaub im Jahr“ (299). „Ein paar Tage im Jahr überschneiden sich die Lebensumstände der Bürger mit denen der Arbeiter“ nun. Erstmals wird „eine relative Integration in der Unterordnung“ (302) erkennbar. Die generelle Schulpflicht wird erstmals auf das Alter von vierzehn Jahren ausgedehnt. Doch die Ziele: „Reform oder Revolution“ dominieren weiter und bleiben „bis in die sechziger Jahre hinein lebendig“ (306). Das Entstehen „bürgerlicher Lohnabhängigkeit“ vollzieht sich erstmals bei den Ingenieuren (cadres moyens), bald darauf auch bei den höheren Angestellten (cadres superieurs). Und 1951 wird erstmals „das Bild einer bereits hochkomplexen ‚lohnabhängigen Mittelklasse’“ (311) dargestellt. Mehr und mehr wird die Arbeiterklasse veranlasst, „sich zunehmend in das Mosaik der Mittelklasse einzufü227
gen“ (313). Die „jahrhundertealte Konzeption der Lohnarbeit verblasst in den fünfziger und sechziger Jahren“ (317). Doch daneben oder darunter entsteht noch eine „periphere“ Gruppe in der Mehrzahl „aus Einwanderern, Frauen, jungen Menschen ohne Qualifikationen“ (323), oft nur saisonal oder unstet beschäftigt. „Wirtschaftswachstum und der Ausbau des Sozialstaats“ (325) haben das Aufkommen der „Lohnarbeitergesellschaft“ begleitet. Sie kennzeichnen jetzt den „Wachstumsstaat“ (L’État de croissance): Seit 1945 gibt es einmal die „Absicherung der lohnabhängigen Beschäftigten“, komplementär dazu zweitens als Innovation der Staat „als Steuerungsinstanz der Wirtschaft“ und „der Staat greift noch auf einer dritten Ebene“ steuernd ein, nämlich in die Beziehungen zwischen „Sozialpartnern“ (332). Castel untersucht als seinen „roten Faden“ nur die an die Arbeit gebundenen Absicherungen, betont aber, wie sehr ähnliches im Bereich der Bildung, des Gesundheitswesens, der Infrastrukturentwicklung, der Stadtplanung und der Familienpolitik stattgefunden hat. „Diese Bahn ist nun entzwei gebrochen“ (335). Und mit aller Vorsicht skizziert er „die neue soziale Frage“, Wachstumsrückgang, Ende der Vollbeschäftigung und die Wiederkehr von „Arbeitern ohne Arbeit“ sowie dem „sozialdemokratischen Staat“. Er fragt sich, „inwieweit sich Frankreich zu Beginn der siebziger Jahre dieser Organisationsform angenähert hatte“ (339). Er plädiert für das Verabschieden der „lästigen Verherrlichung“ der (französischen) ruhmreichen Dreißigerjahre. Für das Wegspülen der Lohnarbeitsgesellschaft erinnert er an deren „unvollendeten Charakter“, an die Proteste „des Mai 68“ und an die tieferen Widersprüche des früheren Sozialstaates: „Der Sozialstaat bildet den Kern einer Gesellschaft von Individuen“ (344), doch auf ganz ambivalente Art, die „Nutzer der Dienstleistungen“ werden vereinheitlicht „und von ihrer konkreten Zugehörigkeit zu realen Kollektiven abgeschnitten“. Vielleicht sei dieses Sozialstaatsmodell erschöpft, zitiert er Habermas. Es gibt nun wieder „die Überzähligen“ (348). Die Eingliederung besonders der „durch die Konjunktur arbeitsunfähig gewordenen Arbeitsfähigen“ (378) vergleicht er mit der „Sisyphosarbeit“. Und er schließt behutsam mit vier Szenarien für die nahe Zukunft. Er endet mit einem komprimierten brillanten „Schluss“ zum „negativen Individualismus“; was er beschrieben habe, sei die „Geschichte des Übergangs von der Gemeinschaft zur Gesellschaft“, zu einer „Gesellschaft der Individuen“ (das in den dreißiger Jahren verfasste Werk von Elias nennt er nicht). Den „Todesanzeigen der Lohnarbeitsgesellschaft“ begegnet er „mit viel Zurückhaltung“. Parallel zum „Aufstieg der Lohnarbeit“ könne sein Buch auch „als die Geschichte des Aufstiegs des Individualismus“ gelesen werden. Und bei diesem neuen Staat spreche er von „negativem“ Individualismus, „weil er in Begriffen des Mangels – Mangel an Ansehen, Mangel an Sicherheit, Mangel an gesicherten Gütern und stabilen Beziehungen – durchdekliniert werden kann“ (404). 228
Schluss Fachlich präsentiert das gesamte Werk die Leistungsfähigkeit der historischen Soziologie, geht weit in die Vergangenheit zurück, aber verliert dabei „niemals den Blick auf die Gegenwart“. Er bringt die soziologische Kritik am modernen europäischen Sozialstaat wieder zur Geltung. Besonders die zeitgenössische Sozialpolitik war, zumal im deutschen Sprachraum gegen Ende des 20. Jahrhunderts, zu einseitig und oft kampflos den Ökonomen überlassen worden. Die Soziologen hatten das im Zeitalter besonders der monetaristischen Untersuchungen oft nahezu eingestellt oder doch korporatistischen Interessenlagen stärker überlassen. Vorzüglich ist die lange Darstellung der „sozialen Ortsgebundenheit“ der Ärmsten der Armen bis weit über das Mittelalter hinaus. Im Zeitalter einer – wenn auch nur zögerlich – die Staatsgrenzen überschreitenden europäischen Sozialpolitik formiert sich da rasch ein prekär werdendes gemeinsames Problem. Daraufhin blickt dieses Werk. Es ist bereits 1995 in Paris erschienen. Und sein Verfasser lässt erkennen, dass seine eigenen Eltern noch zu den Betroffenen gehört haben. Er erhielt schon zahlreiche Preise, so bereits 1998 den „Amalfi-Preis“. Der Übersetzer des Buches hat es höchst kompetent und äußerst sorgfältig ins Deutsche übertragen; dafür ist Andreas Pfeuffer ausdrücklich zu danken. Für die deutsche Ausgabe hätte sich jeder Leser über einen „Index der zitierten Autoren“ und besonders über einen Begriffe-Index gefreut, wie ihn die französische aufweist. Es muss auch den frankophonen und bisweilen frankophilen Kollegen der Universität Konstanz zumal im Verlag, dafür gedankt werden. Für sozialpolitisch interessierte Soziologinnen und Soziologen sollte es längst eine Pflichtlektüre sein.
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Teil III Über Norbert Elias
1. Zur historisch-soziologischen Psychologie von Norbert Elias
Das allmähliche Zähmen der menschlichen Gewalt ist mit immer treffender werdender epigrammatischer Schärfe zum Lebensthema des Soziologen Norbert Elias geworden. „Menschen sind nicht in der Lage, den Tod abzuschaffen. Aber gewiss das gegenseitige Töten.“ Fünfzig Jahre nach der Niederschrift von „Über den Prozeß der Zivilisation“, zuerst veröffentlicht in Basel 1939, hat die nun weltweite Verbreitung dieses Werkes den Autor zu immer genauerer Fassung seiner Thesen veranlaßt. Mit dem zahlenmäßigen Anwachsen und der zunehmenden Verflechtung der Menschheit richtet sich das Nachdenken vieler Menschen über die „conditio humana“ immer direkter auf dieses Ziel. Echo Das Echo auf die wissenschaftliche Leistung von Norbert Elias hat sich, gemessen an dem langen Forscherleben ohne weitere Resonanz, dramatisch ausgeweitet. Das Hauptwerk war, bereits ausdrücklich, was oft vergessen worden ist, als eine der spontanen Reaktionen europäischer Intellektueller auf die Gewalttaten des nationalsozialistischen Staates entstanden. Nach dem langen Elend des Exils, nach gerade sechs Jahren Lehrtätigkeit an einer kleineren englischen Universität und einem Jahr Unterricht in Ghana, erfährt Elias, seit den sechziger Jahren im deutschen Sprachraum, allmählich einige fachliche Aufmerksamkeit. Fast seine gesamte wissenschaftliche Lehr- und Veröffentlichungstätigkeit – außer dem Hauptwerk – fällt in die Periode nach dem 65. Lebensjahr. Die erste breite Resonanz auf seine Arbeit zeigt sich etwa seit 1970 in den Niederlanden. Den späten und ungewöhnlichen Aufstieg ins Rampenlicht der europäischen Öffentlichkeit verdankt Elias vor allem zwei Umständen; einmal seinen originellen Reaktionen auf die allmähliche weltweite Anerkennung sowie seiner unbeugsamen Präsenz und Tätigkeit bis ins hohe Alter hinein; und zweitens dem seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in einigen Teilen der Welt vollzogenen grundlegenden Wandel des Problemverständnisses, der zunehmenden Schärfung des öffentlichen Bewußtseins für die Zivilisationsproblematik.
Wachsende Anerkennung und zunehmende Produktivität wechseln seit Anfang der siebziger Jahre einander ab. 1969 erscheint „Die höfische Gesellschaft“, eine soziologische Machttheorie am Beispiel des Entstehens des französischen Königtums zwischen Adel und Hof. 1970 erscheint „Was ist Soziologie?“, ein entwicklungssoziologisches Résumé seiner soziologischen Anthropologie. Die frühesten und wohl umfangreichsten Übersetzungen in andere Sprachen beginnen 1970 mit dem Niederländischen. Ab 1973 erscheinen die Hauptwerke im Französischen, „La Dynamique de l’Occident“ 1975. Diese und andere Arbeiten werden in der intellektuellen Öffentlichkeit enthusiastisch aufgenommen und in den Medien stürmisch erörtert. Besonders aufmerksam kommentieren dies einige der maßgeblichen Pariser Historiker wie Jacques Le Goff, Roger Chartier oder André Burguière. Übersetzungen ins Englische folgen später. Sichtlich angeregt durch sie sich global ausweitende Rezeption seines Werkes, beginnt der Autor seit Anfang der siebziger Jahre auch eine immer intensivere Vortrags- und Lehrtätigkeit, die ihn an die meisten Universitäten der Bundesrepublik führt, an Hochschulen der Niederlande, Dänemarks, Österreichs, Frankreichs, Englands, Italiens, der Schweiz und den USA. In dieser Periode, etwa vom 70. Lebensjahr an, in einem Alter, das den meisten gebietet, allmählich die Hände in den Schoß zu legen, verstärkt Elias seine Publikationstätigkeit, veröffentlicht er eigentlich den Hauptteil seines gesamten Werkes. Die Arbeiten erscheinen nun im Original zuerst auf Englisch, Deutsch oder bisweilen – übersetzt – auf Niederländisch. So ist der berühmte „Theoretische Essay über Etablierte und Außenseiter“ von 1973 lange allein auf Niederländisch erhältlich. Darin analysiert Elias scharfsinnig, wie das Gruppencharisma einer älteren und deshalb überlegeneren Gruppe diese dazu verleitet, die neuere und daher zunächst schwächere Gruppe kollektiv herabzusetzen. Unter allen möglichen Beispielen werden die Juden mit keinem Wort erwähnt. Nachdem er persönlich weltweite Anerkennung erfährt, seine Position „etablieren“ kann, vermag er auch unmißverständlich über sein eigenes Schicksal zu sprechen. 1984 in seinen „Notizen zum Lebenslauf“ schreibt er direkter „Über die Juden als Teil einer EtabliertenAußenseiterbeziehung“, über seine Heimatstadt Breslau oder die Frankfurter Universität. Es erscheinen seine Beiträge zur „Soziologie des Sportes“, einer Art gesellschaftlich institutionalisierter Form von Gewaltzähmung; dann seine Untersuchungen zur Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Ab etwa 1980, der Autor steht im 83. Lebensjahr, beschleunigt sich das Tempo seiner Veröffentlichungen. 1982 erscheint das Buch „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“; 1983 die Aufsatzsammlung über „Engagement und Distanzierung“. Darin bietet Elias einen originellen Lösungsvorschlag an für den nun über achtzig Jahre dauernden sozialwissenschaftlichen Streit über das „Werturteil“ beziehungsweise den „Positi234
vismus“. 1984 wird das Buch „Über die Zeit“ publiziert. Es verbindet eine konstruktive Kritik der Geschichtswissenschaften mit einer Darstellung der gesellschaftlichen Synthesevorgänge als gesellschaftlichem Prozeß und als wissenschaftliche Erkenntnismethode. 1985 erscheint die „Humana conditio, Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1985)“. Rezeption Die wissenschaftliche Rezeption des Eliasschen Werkes beginnt ganz unterschiedlich in den einzelnen akademischen Fächern. Zuerst reagieren wohl die Literaturhistoriker und Komparatisten auf den literarischen Rang des Hauptwerkes sowie auf den zur Synthese gebrachten und interpretierten Fundus europäischer, besonders französischer Literatur der „weltlichen Oberschichten des Abendlandes“. Erste positive Aufnahmen von Seiten der Psychoanalytiker auf die ganz unprätentiös integrierte historische Psychologie erscheinen bereits 1939. Die Soziologen, an die sich das in der langen Überlieferung Comtes, Max Webers und Karl Mannheims stehende Werk besonders richtet, rezipieren das Werk eigentlich recht spät in den siebziger und achtziger Jahren. Eine systematischere wissenschaftliche Kritik des Werkes, die sich auf dem gleichen universalhistorisch-soziologischen Niveau bewegte, gibt es bisher nicht. Heftige einzelfachliche Auseinandersetzungen, besonders zwischen Kulturanthropologen und Soziologen, finden wir allein in Amsterdam. Elias hat mit großer Konsequenz diejenigen soziologischen Theorien verworfen, die sich auf die Philosophie im Ganzen oder auf einzelne philosophische Schulen gründen. Es gibt für ihn nur den schrittweisen Aufbau einer Theorie im Wechsel mit dem empirisch-historischen Wissen. Entsprechend findet er eine kühle bis eisige Aufnahme bei den deutschen Soziologen, die auf der traditionellen Philosophie oder einer Geschichtsphilosophie aufbauen. Besonders gespannt ist auch das Verhältnis zu den Sozialforschern, die einseitig den Forderungen der modernen Wissenschaftslehre folgen, ohne bei ihrem Gegenstand, Menschen, die notwendige Balance zwischen „Engagement und Distanzierung“ zu beachten. Was eigentlich ist das Eliassche Problem? Empirisch betrachtet, hat er Beispiele für eine „historische Psychologie“ erbracht, für die Notwendigkeit, einzusehen, daß das Empfinden und Fühlen der Menschen, ja der ganze Spielraum der Persönlichkeitsstrukturen der Menschen im Verlauf langer gesellschaftlicher Verflechtungen auf je besondere Art und Weise geprägt wird; daß – umgekehrt – ein Verständnis für „gesellschaftliche“ Vorgänge ohne Berücksichtigung „seelischer“ Veränderungen schwer möglich ist. Er hat, um es etwas akademischer zu formulieren, den Psychologen empirisch dargelegt, wie wenig realistisch ein allein naturwis235
senschaftliches Modell der Psychologie ist, wenn darin auf generationenlange gesellschaftliche Prägungen keine Rücksicht genommen wird. Und andererseits zeigt er den Soziologen, wie nur eine Soziologie möglich ist, die sich stets zugleich auch ein Modell der seelischen Prozesse macht und die die langen Prozesse der „Individualisierung“ jedes einzelnen Menschen als integralen Teil seiner gesellschaftlichen Verflechtung begreift. Er hat bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts originelle Problemlösungsvorschläge für individuelle Lernprozesse als Voraussetzung gesellschaftlichen Wandels formuliert, die nicht mehr die wertgeladenen Kategorien theologisch-philosophischer Ethik- oder Morallehren verwenden, sondern im Unterschied zu den meisten soziologischen Lerntheorien gegen Ende des 20. Jahrhunderts eher auf psychologisch-psychiatrischen Beobachtungen aufbauen. Anschaulichkeit Theoretisch betrachtet hat Elias für die Integration von psychologischen und soziologischen Ansätzen eine Sprache gewählt, die wegen ihrer empirischen Anschaulichkeit für beide Seiten akzeptabel bleibt. Er steuert dadurch erfolgreich „zwischen den zwei großen Gefahren der soziologischen Theoriebildung und der Menschenwissenschaften überhaupt hindurch, zwischen der Gefahr, von einem gesellschaftslosen Individuum, also etwa von einem ganz für sich existierenden Handelnden, auszugehen, und der Gefahr, ein „System“, ein „Ganzes“, kurzum eine menschliche Gesellschaft zu postulieren, die gleichsam jenseits des einzelnen Menschen, jenseits der Individuen existiert“. Elias’ epochales Beispiel handelt von zivilisatorischen Zwängen. Bis zu seiner Darstellung am Schluß des zweiten Bandes von „Über den Prozeß“ hat man den Begriff des Zwanges in der Psychiatrie allein auf den einzelnen Menschen hin, etwa für die Symptomatik des „Zwangskranken“ verwendet, der sich beim Nichtbefolgen seiner „Zwänge“ Ängsten ausgesetzt fühlt. In der Soziologie dagegen dominiert der Begriff des staatlichen, anstaltsmäßigen Zwanges – so beispielsweise in der (aus der Jurisprudenz stammenden) Max-Weberschen Fassung. Das Eliassche Theorem vom „Gesellschaftlichen Zwang zum Selbstzwang“ verbindet die zuvor allein getrennt begriffenen Ebenen der wissenschaftlichen Betrachtung und belegt diese Vorgänge mit geschichtlichen Beispielen. Die „Umsetzung von Fremdzwängen in Selbstzwänge“, die Entdeckung dieses Vorgangs, bleibt seine eigentliche Entdeckung. Und dieser Vorgang hat für ihn universalen Charakter; jeder Mensch durchläuft ihn. Das eigentliche Lebenstheorem bleibt für Elias die Frage, wie das gegenseitige Töten der Menschen abzuschaffen ist. Wer als Kind die Ermordung eines 236
Schulgenossen durch Rechtsradikale erlebt, wer als Soldat im Ersten Weltkrieg „das Martyrium des Schützengrabenkrieges“ überlebt, wer die Mutter in Auschwitz ermordet weiß, hat die Wahl dieses Themas nicht zu begründen – selbst in einem Teil der Gedichte ist die Rede von Totentänzen, Leichenhaufen, Leichenmachern, usw. Aber daraus erklärt sich noch nicht der Weg zu einem originellen Modell der Zivilisation. Elias macht den menschlichen Zivilisationsprozeß verständlicher, als dies bis dahin der Fall gewesen ist. Er hat am Beispiel der Entstehung des französischen Staates ein anschauliches, ganz offenes wissenschaftliches Modell dafür gegeben. Er hat jenseits fachlicher Details den Zivilisationsprozeß zugleich einem großen Leserpublikum veranschaulichen können. Originelle Entwicklungsmethode Mit seiner allgemeinen Zivilisationstheorie hat er eine durchaus originelle soziologische Entwicklungstheorie formuliert, deren Bedeutung erst allmählich erfaßt wird und deren Reichweite noch keineswegs abzusehen ist. „Als ich an diesem Buche arbeitete“, heißt es drei Jahrzehnte später in der berühmten Einleitung zur zweiten Auflage (Francke-Verlag, Bern), „erschien es mir ganz offensichtlich, daß damit der Grund zu einer undogmatischen, empirisch fundierten soziologischen Theorie der sozialen Prozesse im allgemeinen und der sozialen Entwicklung im besonderen gelegt würde.“ Statt dessen muß er zu Recht feststellen, „daß diese Untersuchung nach einer Generation noch immer den Charakter einer Pionierarbeit in einem Problemfeld bewahrt hat, das der kombinierten Durchforschung auf der empirischen und auf der theoretischen Ebene zugleich, wie sie hier vorliegt, heute kaum weniger bedarf als vor dreißig Jahren.“ Er untersucht die langfristigen Wandlungen der Tischsitten, des Schneuzens, des Verhaltens im Schlafraum in einem Zuge mit den Wandlungen der Staatenbildung, was dem Laien amüsant, der akademischen Soziologie noch immer befremdlich vorkommt. „Die umfassende soziale Entwicklung, als deren Repräsentant hier eine ihrer Zentralerscheinungen, eine jahrhundertelange Welle fortschreitender Integrierung, ein Staatsbildungsprozeß mit dem Komplementärprozeß einer fortschreitenden Differenzierung untersucht und dargestellt wurde, ist ein Figurationswandel, der im Hin und Her der Vor- und Rückbewegungen – auf längere Sicht betrachtet – über viele Generationen hin in ein und dieselbe Richtung geht.“ Bestimmte sich dauernd ändernde Konstellationen von Menschen und Menschengruppen, Spielgefüge, fluktuierende Macht- und Spannungsbalancen kennzeichnen den menschlichen „Figurationsstrom“. In der Analyse der wichtigsten sozialen Figurationen besteht das Eliassche Forschungsprogramm. Seine Soziologie ist im Kern auch eine 237
Machttheorie, die entscheidende Einsichten der älteren Soziologie und Psychologie vereint hat. Die Marxsche Analyse der Konkurrenz- und Monopolbildungskämpfe, die Ausbildung des staatlichen „Gewaltmonopols“, der Kern der Herrschaftssoziologie Max Webers, die Forderung Georg Simmels nach durchgängiger Dynamisierung soziologischer Begriffe zum Darstellen sozialer Prozesse – alles wird durchdrungen von einer souveränen Verarbeitung Freuds, wie sie im Kreis der Heidelberger und Frankfurter Studiengenossen von Elias erst später ähnlich erreicht wurde (etwa in Hans Gerths und C.W. Mills Arbeiten). In mehreren Untersuchungen hat Norbert Elias beispielhaft „Figurationsanalysen“ vorgelegt. in „The Established and the Outsiders“ (1965 zusammen mit J.E. Scotson) hat er anhand sozialer Machtdifferentiale in einer englischen Gemeinde Grundlagen zu einer allgemeinen Theorie von „Etablierten und Außenseitern“ formuliert. Dabei sind jahrzehntelange Erfahrungen des Emigranten verarbeitet, die ihren symbolischen akademischen Ausdruck beim Internationalen Soziologenkongreß in Varna fanden, als Elias neben dem Vertreter der herrschenden soziologischen Theorie, Talcott Parsons, Platz nahm. In der „Höfischen Gesellschaft“ (1969) untersucht er die eigentümlichen Verflechtungen des französischen Königtums und der höfischen Aristokratie und schließt in einem Nachwort „Über die Vorstellung, daß es einen Staat ohne strukturelle Konflikte geben könne“, mit Beispielen der SS-Organisationen in der Hitler-Diktatur und der Aufforderung an die Historiker, „die soziologischen Probleme der tatsächlichen Machtverteilung aus dem Hintergrund in den Vordergrund zu rücken (...)“. Übergreifender Denkstil Sämtliche Äußerungen von Elias sind durch einen Denkstil ausgezeichnet, der die tradierten Fächergrenzen übergreift – gleichermaßen grundsätzlich nimmt er Stellung zu Fragen der Wissenschaftstheorie, des Zeitbegriffs, des Verhältnisses der Soziologie zur Geschichtswissenschaft oder zur Psychiatrie. Er ist im Unterschied zu manchen soziologischen Denkern für die empirische Vielgestaltigkeit des sozialen Lebens stets von neuem offen. Elias’ Theorie ist noch entschiedener als etwa das Denken Karl Mannheims, bei dem er in den Frankfurter Jahren als Assistent arbeitete, durch eine ausgesprochene Langsicht geprägt; sie ist nicht „hodiezentristisch“. Und sie ist eine vergleichende Theorie. So viel mag sie mit anderen Zivilisationstheorien, etwa derjenigen des Brasilianers D. Ribeiro (1971), teilen, der jedoch eine auch für die „ärmeren Länder“ entscheidende Komponente, die fortwährende Umformung der psychischen Strukturen, völlig außer Acht läßt. Elias’ Theorie bevorzugt Beispiele aus der europäischen Geschichte; sie ist deshalb noch nicht europazentristisch. 238
Seine psychoanalytischen Einsichten finden vielmehr in den umfangreichen ethnologischen Psychoanalysen (beispielsweise afrikanischer Völker durch Parin/Morgenthaler) ihre späte Bestätigung. Die meisten Anthropologen suchen heute Halt in der „conditio humana“ oder in „anthropologischen Konstanten“. Elias hält dem in seinem Buch „Was ist Soziologie?“ (1970a) „die natürliche Wandelbarkeit des Menschen als soziale Konstante“ entgegen. Der wissenschaftliche Gegenstand aller Anthropologien, der philosophischen, medizinischen oder ethnologisch-kulturellen, ist heute „der Mensch“. Dieser bewußt elitären, am „homo clausus“, dem sozial isolierten Menschen, ausgerichteten philosophischen Denktradition stellt das Eliassche Forschungsprogramm die Forderung entgegen, von der Tatsache auszugehen, daß es Menschen nur in der Mehrzahl gibt, „daß die Spaltung des Menschenbildes in ein Bild von dem Menschen und ein Bild von den Menschen als Gesellschaften eine intellektuelle Verirrung ist“. Er spricht daher durchgängig von den „Menschenwissenschaften“. Bis heute habe ich nie mit dem Zeitgeist Kompromisse zu schließen vermocht“, schreibt Elias 1977 in einem Brief. „Selbst wenn ich mich mit jemandem wie Jaspers persönlich sehr gut verstand (als ich jung und er jünger war), habe ich niemals auch nur einen Moment meine Skepsis gegenüber seiner Existenzphilosophie vertuscht. Und seitdem bin ich, vielleicht durch Hönigwalds Haltung gestärkt, gegen alle Modeströmungen gefeit geblieben, ob Sartre, Wittgenstein, Popper oder Parsons und Lévi-Strauss. Nun habe ich langsam das Gefühl, daß ich mich, vielleicht etwas spät, durchgekämpft habe.“
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2. Norbert Elias – aus Anlaß seines 90. Geburtstages85
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„Menschen sind nicht in der Lage, den Tod abzuschaffen. Aber sie sind ganz gewiß in der Lage, das gegenseitige Töten abzuschaffen“ (Elias 1985: 90). Wer bereits in der Jugend erlebt, wie ein Mitschüler von Rechtsradikalen zu Tode gequält wird, wer als Soldat „das Martyrium des erschöpfenden Schützengrabenkrieges“ bis 1918 durchlitten hat und nach dem nächsten Krieg schließlich die Widmung in seinem neuaufgelegten Hauptwerk an seine Mutter formulieren muß: „gest. Auschwitz 1941 (?)“, der hat nicht zu begründen, weshalb ihm als Sozialforscher das Zähmen der menschlichen Gewalttat und das Erlernen von sozialen Mustern der Mäßigung und der Selbstkontrolle zum Lebensthema werden. Norbert Elias wird am 22. Juni 1897 in Breslau als Sohn wohlhabender Eltern geboren. Nach dem Kriege studiert er Medizin, Philosophie und Psychologie in Breslau und Freiburg, promoviert am 30.1.1924 bei Richard Hönigswald in Breslau und studiert Soziologie in Heidelberg. Nach kaufmännischen Tätigkeiten und kurzen schriftstellerischen Versuchen will er sich bei Alfred Weber in Heidelberg habilitieren, begleitet dann jedoch 1930 Karl Mannheim nach Frankfurt/Main, wo er eine Machtstudie über den „Königsmechanismus“ in der französischen Aristokratie als Habilitationsschrift verfaßt, die verändert 1969 unter dem Titel „Die höfische Gesellschaft“ erscheint. Als er 1933 das soziologische Seminar als einer der letzten ins Exil verlassen muß, verspricht er sich – von Kindesbeinen an vertraut mit der französischen Sprache und Geschichte – berufliche Chancen in Paris, vergeblich. Er gelangt durch Freunde nach England, dessen Sprache er zu dieser Zeit nicht spricht. Er lebt von Stipendien niederländischer und englischer Unter-
85 Diese Skizze beruht auf einem Jahre währenden Dialog mit J. Goudsblom. Der Verfasser hat von vielen Seiten kritische Unterstützung erhalten. Besonderen Dank schuldet er R. Blomert, D. Claessens, H. Friedrich, H. Godschalk-Hessenauer und K.-S. Rehberg. Michael Schröter, ohne den die meisten der deutschen Eliasschen Werke seit etwa 1983 nicht erschienen wären, hat den Text der verständigsten Analyse unterzogen.
stützungsfonds; arbeitet zeitweilig in der „Gruppentherapie“ des ebenfalls exilierten Frankfurter Analytikers S.H. Foulkes (Fuchs). Das Hauptwerk „Über den Prozeß der Zivilisation“ ist, wie im Vorwort vermerkt wird, im September 1936 abgeschlossen. Im Jahre 1940 wird er – wie alle Inhaber von Pässen derjenigen Nationen, mit denen sich England im Krieg befindet – im Alien Internment Camp Huyton bei Liverpool und dann auf der Isle of Man festgesetzt. Er unterrichtet in der Erwachsenenbildung der Londoner Universität. 1954 erhält er seine erste feste Stelle in dem neuen Department of Sociology der Universität Leicester, die aus einer Art Pädagogischen Hochschule heraus entsteht. Gründer und langjähriger Leiter des Departments ist der aus Odessa stammende Ilja Neustadt. Viele Jahre lang ist dieses Institut neben der London School of Economics das größte soziologische Department Englands. 1962 nach seiner Pensionierung lehrt Elias bis 1964 in Ghana, wo ihn Gerhard Grohs entdeckt, und lebt dann bis in die Siebziger Jahre wieder in Leicester. Aus den Gebieten um Ghana stammt auch die bedeutende Sammlung afrikanischer Holzplastiken, von der umgeben er gegenwärtig in Amsterdam wohnt. 1976 verleiht ihm die Deutsche Gesellschaft für Soziologie die Ehrenmitgliedschaft. 1979 wird ihm als erstem der Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt zuerkannt. 1980 verleiht ihm die Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld die Ehrendoktorwürde. Ehrungen durch den Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker sowie Empfänge wie den 1986 durch den Ersten Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg Klaus von Dohnanyi erfährt er mit Genugtuung. Innerhalb der deutschen Soziologie ist Elias kaum, was man im Englischen einen „early starter“ nennt. 1928 auf dem 6. Deutschen Soziologentag in Zürich hat er sich als jüngster Teilnehmer vernehmlich geäußert. Sein Hauptwerk wird 1939 veröffentlicht. Fast seine gesamte Lehr- und Publikationstätigkeit fällt in die Zeit nach seinem 65. Lebensjahr. 1964 auf dem Max Weber gewidmeten 15. Deutschen Soziologentag in Heidelberg wäre er mit seinem Referat über „Gruppencharisma und Gruppenschande“ nicht zu Wort gekommen, hätte nicht Dieter Claessens verhindert, daß man ihn vom Programm absetzte. Von da an beginnt eine immer dichtere Folge von Gastvorträgen und semesterlangen Gastdozenturen an zahlreichen deutschsprachigen Hochschulen, so in Münster, Berlin, Konstanz, Aachen, Bochum, Hannover, Mannheim, Wien, Graz und besonders in der Universität Frankfurt, der er aufgrund des Bundesentschädigungsgesetzes inzwischen als Emeritus angehört. Vom Beginn der Siebziger Jahre an ist er regelmäßiger Gast an der Universität Amsterdam sowie an der Katholischen Universität Nijmegen. Im Januar 1980 veranstaltet die „Arbeitsgruppe Figurationssoziologie“ in der 242
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„Niederländischen Anthropologisch-Soziologischen Vereinigung“ in Amsterdam einen Kongreß über „Zivilisationstheorien und Zivilisationsprozesse“ (Wilterdink 1984). Von 1978 bis 1984 lehrt Elias als Gast des Zentrums für interdisziplinäre Forschung (ZiF) an der Universität Bielefeld. Während dieser Zeit hält er Vorträge an Universitäten Dänemarks und der Vereinigten Staaten von Amerika. Im Juni 1984 kommt es auf der Tagung im ZiF über „Civilizations and Civilizing Processes, Comparative Perspectives“ (Brinkgreve/van Stolk 1984) zu einem Dialog mit William H. McNeill, derzeit Präsident der nordamerikanischen Historiker, und mit Immanuel Wallerstein. Eine späte, doch besonders intensive Aufnahme erfährt Elias in Frankreich. 1977 bemerkt die Soziologin und Photographin Gisèle Freund: „Heute ist Elias in Frankreich (...) ein sehr gefeierter Mann. Als in Paris im letzten Jahr sein Buch ‘Über den Prozeß der Zivilisation’ in französischer Übersetzung erschien, wurde er zur Sensation und stand auf der Bestsellerliste. Unendlich viele Artikel erschienen in den Tageszeitungen, Wochen- und Monatszeitschriften. Seine Ideen wurden in Radio- und Fernsehsendungen diskutiert“ (Gleichmann et.al. 1977: 13f.) Im Mai 1980 findet durch Vermittlung von R. von Thadden im Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte und der dortigen „Mission historique française en Allemagne“ eine Tagung mit den Pariser Historikern statt. François Furet fragt Elias unwirsch nach seiner „intellektuellen Herkunft“. Im März 1983 folgt eine weitere Tagung mit der „Vième Section“ der „Ecole Pratique des Hautes Etudes“ in der „Maison des Sciences de l’Homme“. Der Mediävist Jacques Le Goff trägt seine Hommage auf Elias’ Werk in fließendem Deutsch vor. Ende November 1985 lädt Pierre Bourdieu Elias zur Vorlesung am „Collège de France“ein. In den achtziger Jahren werden in noch gedrängterer und schnellerer Folge besonders in den Niederlanden und der Bundesrepublik, doch auch in Österreich, Griechenland und Italien Vorträge, Gespräche und Interviews in Rundfunk und Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Auf dem 20. Deutschen Soziologentag 1980 in Bremen und dem 21. im Jahr 1982 in Bamberg trägt Elias gleich mehrfach vor. Über den 23. Soziologentag 1986 in Hamburg schreibt der Berichterstatter (Hitzler 1986: 830) von dem „menschlich bewegenden, vor allem aber formal wie inhaltlich bestrickenden Auftritt von Norbert Elias selber. Bei keiner anderen Gelegenheit war der Saal so wohlgefüllt, war es im Saal so still, wie bei der – wie immer frei vorgetragenen – einstündigen Reflexion dieses greisen Gelehrten über den zugleich gerichteten und doch ziellosen Prozeß der Technisierung und Zivilisation.“ Wir können die Anlässe für das Entstehen des Hauptwerks „Über den Prozeß der Zivilisation“ weit besser nachvollziehen, wenn wir uns an jenen einen Satz aus dem „Vorwort“ des in London 1936 geschriebenen und in Basel 1939 243
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veröffentlichten ersten Bandes (Elias 1939/1997: LXXX) erinnern: „Die Fragestellung selbst entspringt allerdings weniger der wissenschaftlichen Tradition im engeren Sinne des Wortes, als den Erfahrungen, unter deren Eindruck wir alle leben, den Erfahrungen von der Krise und der Umbildung der bisherigen abendländischen Zivilisation und dem einfachen Bedürfnis zu verstehen, was es eigentlich mit dieser ‘Zivilisation’ auf sich hat.“ Anders gesagt, Elias’ Buch gehört auch in die große Gattung jener spontanen intellektuellen Reaktionen auf den gewalttätigen nationalsozialistischen deutschen Staat, zu der wir so unterschiedliche Studien zählen wie Helmuth Plessners „Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“ (Plessner 1935), unter dem Titel „Die verspätete Nation“ (Plessner 1959), Franz Neumanns „Behemoth“ (Neumann 1977) oder Alfred Vagts „A History of Militarism“ (Vagts 1959). Manche Machiavelli- oder Hobbes-Studie der Zeit mag als verhülltere Reaktion dazugerechnet werden. Ein Vergleich mehrerer derartiger, oft exzellenter Untersuchungen offenbart manche einander ähnliche Züge. Doch alle akkumulieren sie meist bloßes Vergangenheitswissen und sind längst dazu geworden. Im Gegensatz zu vielen dieser Studien wird das Hauptwerk von Elias fünfzig Jahre nach seiner Niederschrift öffentlich in zahlreichen Ländern erörtert, als sei es soeben abgefaßt worden. Ja, viele Kritiker/innen vergessen völlig, daß sie ein Werk vor sich haben, das über ein halbes Jahrhundert alt ist. Warum? Elias’ Werk ist nicht auf ein flüchtiges „Heute“ bezogen; es ist nichthodiezentrisch (J. Goudsblom) konzipiert. Es handelt wirklich von einem Prozeß der Zivilisation. Das zugrundeliegende Prozeßmodell langfristiger Wandlungen der von Menschen gebildeten Figurationen ist relativ unabhängig von dem Zeitpunkt der Betrachtung und von dem Wandlungskontinuum, in dem die Forscher sich selbst befinden. Im Eliasschen Hauptwerk sind fast alle seine späteren Arbeiten im Kern bereits angelegt. Es gibt eigentlich keine „Vorstudien“. Viele spätere Veröffentlichungen kommentieren das Hauptwerk oder arbeiten einzelne der Methoden oder Gedanken darin auf originelle Weise weiter aus. Das gilt etwa für das Etablierten-Außenseiter-Theorem oder die methodologischen Ausführungen zum Synthesenbilden. Von Anfang an beginnt Elias, auf einem relativ hohen Niveau der Synthese des Wissens verschiedenartigster Einzeldisziplinen zu arbeiten. Die Integration beispielsweise der dynamischen Psychologie Freuds in eine soziologische Prozeßtheorie ist wohl seine eigenständigste Leistung. Dies geschieht weder normativistisch noch nomothetisch, sondern in empirisch-theoretisch abwechselnden Schritten werden historische Befunde festgestellt und jeweils in das bestehende Zusammenhangswissen eingefügt. Das Ergebnis wird wirklichkeitsgerechter und mehrperspektivischer. Integriert werden nicht nur weit auseinanderliegende Teile des zeitgenössischen Geschichtswissens; auch ein breites
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Spektrum anderer einzelwissenschaftlicher Kenntnisse wird miteinander verbunden, wie man es bei der soziologischen Theoriearbeit, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts weithin von Auffassungen eines philosophischen Reduktionismus bestimmt wird, kaum mehr findet. Es handelt sich um eine „verdrängte Theorietradition“, um eine „Soziologie aus dem Exil“, wie man sagen muß. Karl-Siegbert Rehberg hat als einer der ersten das Eliassche Denkumfeld wissenssoziologisch skizziert (Gleichmann et.al. 1979: 101ff.). Die „katalysatorischen Wirkungen“ dieser Soziologie bestehen auch darin, den jetzt epistemologisch vorherrschenden Tendenzen, ausschließlich zu analysieren, das Synthesenbilden als notwendige, gleichrangige Denkarbeit entgegenzusetzen. Dabei ist die Mehrebenenanalyse bereits in „Über den Prozeß der Zivilisation“ Elias’ bevorzugtes analytisches Verfahren. Die Studie „Über die Zeit“ von 1984 ist, wie der erste Satz sagt, „eine Untersuchung über die Zeit, aber nicht über die Zeit allein“. In ihr skizziert Elias die langfristigen Vorgänge des Synthesenbildens der Menschheit sowie die besondere Synthesenarbeit von Wissenschaftlern. Durch seine eigenen Integrationsleistungen gibt Elias praktisch vielen „Einzeldisziplinen“ einen erweiterten Bezugsrahmen zurück, bietet ihnen ein neues gesellschaftliches Synthesenniveau, das diesen eine geschichts- und gesellschaftsbewußtere Forschung nach ihren eigenen Maßstäben ermöglicht. Aufnahme und Kritik der Arbeiten in England, Deutschland, den Niederlanden und Frankreich sind dank der akribischen Nachzeichnung von Johan Goudsblom für die ersten Jahre gut zu überblicken. Die weitere Rezeption und die Wirkung sind von einem einzelnen Autor kaum mehr zu verfolgen. Der Umfang der Übersetzungen etwa ins Dänische, Polnische, Italienische, Portugiesische, Japanische nimmt zu. Es gibt nun Schüler. 1974 äußert Elias: „Ich bin Europäer (...) Ich habe Schüler in den Niederlanden, in Deutschland und in Großbritannien“ – so in einem Interview mit dem Nouvel Observateur (1974: 106). Ist auch eine Schule entstanden? In Leicester studieren etwa Bryan Wilson, Anthony Giddens und Eric Dunning bei ihm. In Amsterdam werden originelle Arbeiten vorgelegt, etwa Anton Bloks Mafia-Studie oder seine Skizze der langfristigen Entstehung kulturanthropologischer (ethnologischer) Fragestellungen. In der „Arbeitsgruppe Figurationssoziologie“ sind Schüler von Goudsblom verbunden. Eine Reihe maßgebender Einzelstudien, meist „Dissertationen“, werden hier angefertigt; etwa die Untersuchung der niederländischen Vermögensentwicklung über rund 130 Jahre von Nico Wilterdink; oder die Studie über das im Laufe von 450 Jahren anwachsende kulturelle Vermögen einer Patrizierfamilie von Cees Schmidt. In Hannover promovieren etwa Volker Krumrey mit seiner Untersuchung des Wandels von Verhaltensstandarden vom 19. und 20. Jahrhundert oder Michael Schröter mit einer Studie der „Eheschließungsvorgänge“ im Mittelalter. Alle diese Monographien sind empirische 245
Studien in einem vielschichtigen Sinne des Wortes. Sie benutzen neuartige „Quellen“ oder interpretieren die bekannten auf originelle Weise. Es sind eigentlich stets „empirisch-theoretische“ Untersuchungen. Ein allein theoretisierender Diskurs, wie der besonders die deutschen Theoriedebatten kennzeichnet, fehlt hier. Anderswo entstehen theoretisierende Erörterungen (Bogner 1989; Kuzmics 1989) in wachsender Zahl. Eine Kritik an Elias’ Werk im deutschen Sprachgebiet ist in unterschiedlichen Intensitätsgraden und verschiedenen Fächern zu bemerken. Die Haltung auf der ersten Stufe könnte man als eine der interessierten Reserve bezeichnen. Man bekundet seine Distanz in verlegenem Schweigen. Das etwa geschieht, als Elias den „Essay on time“ vor den Bielefelder Historikern (ZiF am 30.5.1979) zum ersten Mal vorträgt. Von seiten der weiterhin allein zum „Erzählen“ tendierenden Geschichtsforscher ist die Ablehnung weniger differenziert. Ähnlich distanziert verhalten sich auch jene Soziologen, die Popperschen Postulaten folgten, die den Parsonsschen Normativismus weiterführen oder die unter dem normativierenden Primat autoritativer philosophischer Konstruktionen von Theorien der Entwicklung Geschichtsforschung treiben wollen. Zum zweiten finden sich mehr und mehr ausdrückliche Kritiker. Verbreitet wird bemängelt, was der Autor nicht getan habe, vor allem in seinem Hauptwerk. Sie bemerken etwa, dies handle nicht von den „Unterschichten“, sage nichts über das 19. und 20. Jahrhundert. Solche Sozialforscher vergessen meist ganz: Sie kritisieren ein über fünfzig Jahre altes Buch. Eine Antwort des Neunzigjährigen: Warum fügen Sie das nicht selbst hinzu? – Wie sehr ähnliche Einwände, etwa der Autor vernachlässige „die Ökonomie“, auf Mißverständnissen beruhen, offenbart beispielsweise der programmatische erste Satz des zweiten Bandes: „Die Kämpfe zwischen dem Adel, der Kirche und den Fürsten um ihre Anteile an der Herrschaft und dem Ertrag des Landes durchziehen das ganze Mittelalter.“ In seiner Wendung der soziologischen Begriffsbildung hin „zu stärker auf Menschen bezogene Begriffe“ distanziert sich Elias unter anderem von den gegenwärtig vorherrschenden Wirtschaftslehren – besonders dann, wenn diese die Probleme der menschlichen Gewalttat und der Gewaltkontrollen, die die Tauschvorgänge begleiten, modelltheoretisch eliminiert haben. Bedenkenswerter ist eine dritte Gruppe von kritischen Einwänden, wenn etwa der Historiker F.L. Carsten darauf hinweist, der von Elias für die Zentralisierungstendenzen am französischen Königshof diagnostizierte „Königsmechanismus“ sei in Preußen nicht anzutreffen. Solche Art Einwände sind nur durch vergleichende Prüfung der tatsächlichen Befunde zu korrigieren. Eine vierte Gruppe von vernehmlichen Kritikern – besonders in der deutschen Tradition – leugnet jegliche Bedeutung des Zivilisationsproblems; es bringe bloß „Zivilisierungsnöte“ der älteren „Oberschichten“ zum Ausdruck. 246
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In der entschiedensten Gestalt, wenn auch im altmodischsten Gewande, treten diese Einwände auf, wo eine „Kulturforschung“ wiedererstarkt oder eine „Kultursoziologie“ wieder organisiert wird, die allein das „Haben“ betont und nicht mehr nach dem „Werden“ fragt. Dem setzte Elias entgegen (Elias 1986c: 383): „Der universelle Prozeß der individuellen Zivilisation gehört sowohl zu den Bedingungen der Individualisierung des Einzelnen, wie zu denen des gesellschaftlichen Zusammenlebens von Menschen.“ Eine fünfte Klasse von Kritikern verspricht daher vermutlich die konstruktivste Weiterentwicklung. Für einen dem Autor vergleichsweise ferner stehenden Kreis von Forschern, die Eliassche Theoreme in ganz anderen Zusammenhängen kritisch prüfen, einige Beispiele. Bassam Tibi sucht Vergleiche mit dem Islam. G. Jüttemann sucht, die „geschichtliche“ Dimension in die psychologische Forschung einzuführen. Oder H. Harbers vergleicht die Eliassche mit der parallel entstandenen Fleckschen Wissens- und Wissenschaftssoziologie. Mehrere Autoren sind gegenwärtig dabei, „die Soziologie von Elias“ vorzulegen, etwa J. Goudsblom, H. Korte, St. Mennell. Elias selbst versteht sein Werk stets nur als „Beitrag zu einer soziologischen Zentraltheorie“. In einer gründlichen Auseinandersetzung mit der großenteils „sozialanthropologischen“ niederländischen Kritik kommt Ton Zwaan zu dem Urteil (Zwaan 1983: 15): „Wer weiter als Elias kommen will, sollte nicht zu ihm aufoder auf ihn herabblicken, sondern könnte sich am besten auf seine Schultern stellen. Das dürfte auch das Ideal einer stärker integrierten, historisch orientierten und vergleichenden Sozialwissenschaft etwas näher bringen und dadurch zu einem besseren Begriff von uns selbst führen und von der Welt, in der wir gehalten sind zu leben.“ Eine Kostprobe der leidenschaftlichen Gegenkritik geben L. Brunt und andere. Elias bildet über lange Strecken seines Lebens hinweg den faszinierenden Mittelpunkt eines Kreises jüngerer Kollegen und Studenten. Zugleich befindet er sich nie in einer leitenden Stellung innerhalb der Universität. Für ihn bildet dieser Kreis oftmals hochqualifizierter Freunde und Freundinnen (vgl. Gleichmann et.al. 1977) Anregung und Publikum. Er bringt ihn zu höchster intellektueller Produktivität. Läßt sich an deutschen Universitäten gegen Ende des 20. Jahrhunderts etwas Entsprechendes finden? Kann diese „Kreuzung sozialer Kreise“ etwa durch das Kongreßwesen ersetzt werden? – Der Heidelberger Kreis führt anläßlich des Weggangs von Karl Mannheim und Norbert Elias nach Frankfurt 1930 ein kleines Theaterstück auf, dessen Text Elias frei nach Aristophanes verfaßt hat. Ein Mitglied dieses Kreises, Richard Löwenthal, vermag daraus noch 57 Jahre später auswendig aufzusagen. Über Frankfurt sagt Elias 1977 in seiner Adorno-Rede (Elias 1977b: 38ff.): „die Universität bildete eines der Zentren eines weitgespannten Verkehrskreises, der Teile der 247
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städtischen Gesellschaft mit einschloß (...) (sie) hatte damals einen Kreis von Männern an sich gezogen, deren Namen und Werke noch heute Achtung genießen, von Männern wie Wertheimer, der Gestaltpsychologe, Goldstein, der Neurologe, Tillich, Theologe und Philosoph, Adolf Lowe, der Nationalökonom, Erich Fromm, Marcuse, K. Mannheim, Horkheimer und Adorno, um nur diese zu nennen. Nicht alle Kreise standen in enger Berührung miteinander.“ Hinzu kommen aus dem Umfeld des neuen Psychoanalytischen Instituts („Hier geht das Leben ...“) Menschen wie S.H. Foulkes (Fuchs) oder Julia Mannheim. Der Amsterdamer Kreis ist Anfang der Achtziger Jahre öfter beschrieben worden, meist aus Anlaß von Kongressen (Brinkgreve/Bruin 1980) und manchmal aus beträchtlicher sozialer Distanz (Brunt, E. 1984). Elias steht in einer besonderen Spannungsfiguration zwischen den akademischen Fächern. Läßt man die Frage, welchen wissenschaftlichen „Einflüssen“ er im einzelnen ausgesetzt ist, einmal beiseite – die meisten diesbezüglichen Befunde weist er zurück –, bleiben die Tatsachen seiner realen zeitweiligen Verflechtung mit anderen Disziplinen und vor allem seiner späteren Wirkung auf diese Fächer. Sie wird verstärkt durch die hohe Allgemeinverständlichkeit seiner Sprache. Seine Texte haben literarischen Rang. Sie vermeiden jeden professionellen Jargon. Das erhöht gerade – im Gegensatz zu den momentan weithin professionalistischen Sprachgepflogenheiten – die Wirkungschancen gegenüber anderen Fächern. Vielen Psychologen fühlt er sich eng verbunden, ausdrücklich sicher Sigmund Freud. Von William Stern spricht er mit Achtung, ebenso von Wilhelm Reich, dessen frühe Schriften er rezipiert. Die Verbundenheit mit dem Kreis der Gestaltpsychologen ist ersichtlich. Der Psychiater S.H. Foulkes (Fuchs) bekundet 1941 in seiner Rezension des 2. Bandes von „Über den Prozeß der Zivilisation“ „Es ist der Einzug der Ganzheitsbetrachtung in die Soziologie“ (Foulkes 1941: 316). Und 1967 bemerkt S.H. Foulkes/Fuchs, selbst Schüler von Kurt Goldstein, im autobiographischen Rückblick über Frankfurt: „Personally, I owe to this and later on to my contact with Franz Borkenau and Norbert Elias and to their work a great debt of gratitude, for the insight that biological and socio-cultural factors are equally fundamental for a true understanding of the human mind“ (Foulkes 1967: 121) Eine Wirkung auf diejenigen Psychologen, die die Psychologie als Naturwissenschaft erlernt haben, kündigt sich an (Jüttemann 1986). Deutlich ist Elias auch geprägt von der physiologischen Verhaltensforschung, wie sie in der Inneren Medizin der Zwanziger Jahre entsteht. In seinen ersten Jahren in Leicester, sagt er, sei er regelmäßig mit Modellen des Gehirns, der Gesichtsmuskulatur und des Kehlkopfes in den Anfängerunterricht der Soziologen gegangen, um die besonderen Kommunikationsmöglichkeiten des Menschen besser veranschaulichen zu können.
Gegenüber den Philosophen sind langes Engagement und spannungsgeladene Distanzierung vielleicht am stärksten ausgeprägt. An G. Wolandt, den Herausgeber der Werke seines Lehrers Hönigswald, schreibt er am 21.2.1977: „Natürlich war mir die Erinnerung an Hönigswald eine besondere Freude. Ich sehe öfters in Ihren Sonderdruck aus ‘Grundprobleme der großen Philosophen’ hinein. Nach mehr als fünfzig Jahren – ich habe wohl schon in den frühen zwanziger Jahren Kontakt mit ihm verloren, weil er für meinen Geschmack viel zu autoritär war – kann ich mit Interesse zurücksehen. Was mich bei ihm anzog, war nicht nur die Schärfe und Erfindungsgabe seines Intellekts, sondern auch seine kompromisslose und ungeduldige Abweisung der alten wie der neuen Metaphysik. Solange ich ihn kannte, hat er dem Zeitgeist, wenn also nun Ontologie, Existenzphilosophie, Phänomenologie usw. den Zeitgeist ausmachen, keinerlei Tribut gezollt. Da war eine starke Affinität. Bis heute habe ich nie mit dem Zeitgeist Kompromisse zu schliessen vermocht. Selbst wenn ich mich mit jemandem wie Jaspers persönlich sehr gut verstand (...), habe ich niemals auch nur einen Moment meine Skepsis gegenüber seiner Existenzphilosophie vertuscht. Und seitdem bin ich, vielleicht durch Hönigswalds Haltung gestärkt, gegen alle Modeströmungen gefeit geblieben, ob Sartre, Wittgenstein, Popper oder Parsons und Lévi-Strauss. Nun habe ich langsam das Gefühl, dass ich mich, vielleicht etwas spät, durchgekämpft habe“ (Gleichmann et.al. 1977: 132). Am entschiedensten distanziert er sich von jenen Philosophen, die sämtlichen Wissenschaften eine einheitliche Wissenschaftstheorie vorschreiben wollen. Ihnen setzt er eine soziologische Wissenschaftstheorie entgegen, die davon ausgeht zu fragen, was die einzelnen Wissenschaften ihren Gegenständen entsprechend wirklich Spezifisches tun und wie sie selbst tatsächlich entstehen. Spannungsgeladen ambivalent ist auch die Wirkung bei den Soziologen. Große Zustimmung bei vielen Vertretern spezieller Soziologien, etwa in den Erziehungswissenschaften oder der Sexualforschung. Den „Kindern“ sowie den „Wandlungen in der Einstellung zu den Beziehungen zwischen Mann und Frau“ widmet Elias von den Abschnitten in seinem Hauptwerk an stets wieder eigene Kapitel. Die Resonanz bei den Sportsoziologen erklärt sich aus den Problemen der Gewaltzähmung und auch aus persönlichen Bindungen. Beim Skilaufen büßt er in seiner Jugend die Sehkraft eines Auges ein. Als Amateurboxer zieht er sich einen Nasenbeinbruch zu. Ein produktiver Dialog entsteht mit den Wissenschaftssoziologen. Doch hier neigen die „Scientific Establishments“ des Faches dazu, eine machttheoretisch und wissenssoziologisch fragende Soziologie kategorisch abzulehnen. Eine noch stumme, doch wachsende Distanzierung ist auch bei jenen soziologischen Theoretikern zu spüren, deren Theorien auf philosophischen 249
Konstrukten beruhen, auf „bloß Ausgedachtem“, wie Elias bemerkt. Manches Mißverständnis gibt es mit den „methodologischen Individualisten“. Elias geht nicht „vom Individuum aus“. Er hat stattdessen eine differenzierte Psychologie mit der Soziologie verschmolzen. Er konzipiert keine „Gesetzeswissenschaft“. Unsicherheiten sind auch im Verhältnis mit Weberianern zu finden. Elias hat die, wie er sagt, „irreführende“ Gegenüberstellung von „Individuum“ und „Gesellschaft“ überwunden. Er fragt stets nach den je „größten Überlebenseinheiten“, dem „Ganzen“, und – mittels der Mehrebenenanalysen – immer zugleich auch nach „dem Verhältnis der Menschen zu sich selbst“. Ist das Studium der „Rationalisierung der Welt“, fragte ein Teilnehmer auf einer MaxWeber-Tagung, nicht das, was Elias will? Hat Max Weber eine Prozeßtheorie gehabt? antwortet Elias kühl. Differenzierter sind die Wirkungen bei den Marxisten. Enttäuscht scheinen diejenigen, die den Appellcharakter Marxscher Begriffe vergeblich suchen. Wer wie Elias länger in einer marxistischen Umgebung gelebt hat – alle Auseinandersetzungen um das Jahr 1930 im Frankfurter Institut drehten sich um den „wahren“ Marxismus, schreibt W. Strzelewicz (1986: 150) – weiß Pathos und Emphase dieser Begriffe zu vermeiden. Er weiß aber auch alle für die Sozialforschung zentralen Einsichten Marxens in seine Theorie zu integrieren, wie etwa das Beginnen mit weiten Überblicken, mit der Gesamtheit, also stets auch mit der außermenschlichen „Natur“, die Bedeutung der Langzeitperspektiven und die beharrliche Aufmerksamkeit für Machtzentren, für Monopolisierungen aller Art, insbesondere für die der Gewaltsamkeit und des Wissens. Früh diagnostiziert Elias in den Sechziger Jahren die erneute Hinwendung der Jungen an den Marxismus. Sie habe eine Schutzmittel-Funktion. „Sie half jungen Menschen, sich vor sich selbst und vor der ganzen Welt von dem Stigma der Gaskammern zu reinigen, mit dem der Name der Deutschen belastet war“, sagt er später in der Adorno-Rede (Elias 1977b: 61). Weniger enttäuscht haben diejenigen, die sich von nicht einlösbaren Verheißungen zu distanzieren vermochten, in Elias’ Werk einen offenen Rahmen für ihre Weiterarbeit auf einem höheren Synthesenniveau gefunden, von dem bestenfalls ein Appell ausgeht, stets „empirisch“ und „theoretisch“ weiterzuforschen. Ambivalent ist auch die Beziehung zu den Historikern. Einmal nimmt jetzt eine breitere Schicht der jüngsten Geschichtsforscher im einzelnen Notiz von Elias’ Arbeiten, seltener systematisch. Gegenüber der Mehrheit der Geschichtsforscher in der Bundesrepublik gilt wohl noch immer, was Elias zum Verhältnis von „Soziologie und Geschichtswissenschaft“ 1969 in der „Höfischen Gesellschaft“ geschrieben hat –, trotz der „Pariser Schule“ und der „Historischen Sozialwissenschaft“, trotz einiger Historiker der DDR oder der anglo-amerikanischen „Historical Sociology“. Elias nimmt, gemessen an 250
den gegenwärtigen Theoriedebatten in den Geschichtswissenschaften und in der Soziologie eine Zwischenstellung ein, die der Sechsundachtzigjährige in dem Essay „Über die Zeit“ (Elias 1984: 174f.) noch einmal genauer formuliert. „Ziel und Funktion“ seiner Studie sieht er als „Übergangsschritt von einer früheren zu einer späteren Synthese-Ebene“, „als Ersetzung einer statisch ‘systematischen’ oder kurzfristig ‘historischen’ durch eine entwicklungssoziologische Betrachtungsweise, die von philosophischem Absolutismus und historischem Relativismus gleich weit entfernt ist.“ Den Wissenschaftlichkeitsanspruch von Historikern, der auf der strikten Prüfung von Detailbelegen beruht, betrachtet er als Fortschritt gegenüber eher spekulativen Perioden. „Während jedoch die Achtsamkeit der Historiker für Details einer rigorosen professionellen Kontrolle unterliegt, wird ihre Aufgabe, die Masse von Detailfragmenten zu einem kohärenten Bild zusammenzufügen, sehr viel weniger streng kontrolliert. Die Synthese von Historikern hat weithin die Form einer narrativen Beschreibung, in der die sicheren Einzelfakten in einer vorstellungskräftigen, aber sehr viel weniger sicheren Weise miteinander verbunden werden. Der Spielraum für das Eindringen persönlicher Glaubensaxiome und Ideale in die Erzählung ist groß. Es gilt als eine normale Praxis von Historikern, alle möglichen Kriterien, die zur Beurteilung von Zeitgenossen dienen, auf Gruppen und Individuen der Vergangenheit anzuwenden.“ Von einer Rezeption oder Wirkung in den Naturwissenschaften ist bisher wenig zu bemerken, obwohl sich das Eliassche Gesamtwerk an zahlreichen Stellen mit einzelnen Naturwissenschaften auseinandersetzt. Im „Zivilisationsprozeß“ etwa befaßt er sich sorgfältig mit dem Darwinschen Entwicklungsdenken – ohne falsche Analogie zur Soziologie und ohne die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Europa beherrschenden Vorstellungen des Sozialdarwinismus auch nur eines einzigen Wortes zu würdigen. Ausführlich setzt er sich mit den Denkestablishments der Physiker auseinander. Und noch einmal erörtert er die Vorstellungen der Astronomen und der Biologen über die Evolution in seinem „Engagement und Distanzierung“. Es verdient angemerkt zu werden angesichts der universalistischen Denkarbeit von Elias, daß nur sehr wenige Äußerungen zum Recht oder zu den Rechtswissenschaften zu finden sind. Zur Literatur hat Elias ein aktives Verhältnis, nicht allein ein rezeptives. Schriftsteller haben das früh beachtet. Mit manchen Schriftstellern/innen bleibt er seit Beginn des Exils eng verbunden. Literaturgeschichtler und Komparatisten wie etwa Peter Boerner haben ihn früh zu schätzen verstanden. Und die Verleger? Was tut ein namhafter Wissenschaftler, wenn er seine Gedichte veröffentlichen möchte? Und wie überwindet er die Skepsis selbst seiner Freunde? Elias gelingt es, zu seinem 82. Geburtstag in eine universitätsnahe 251
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Frankfurter Buchhandlung einzuladen. Er liest seine Gedichte meisterlich, auch S. Unseld erscheint. Bald werden einzelne an entlegenen Stellen publiziert. Es dauert dann noch acht Jahre, bis das Gros seiner Gedichte in einem Band erscheint. Selbst hier ist das Lebensthema gegenwärtig in dem Abschnitt „Totentänze“. Man wird Elias’ Gedichte und seine Übertragungen aus dem Englischen und Französischen am Besten messen, das die deutsche Sprache kennt. Warum ein inzwischen weltbekannter Wissenschaftler so beharrlich um die Veröffentlichung seiner Gedichte kämpft, vermag derjenige besser zu ermessen, der sie auch als integralen Bestandteil der Äußerungen des Menschen Norbert Elias über sich selbst anerkennt. Wie Elias sich selbst sieht, läßt sich aus seinem Werk, aus seinen eigenen Urteilen über andere sowie aus zahlreichen veröffentlichten Gesprächen erkennen. In mehrfacher Hinsicht betrachtet sich Elias als einen Außenseiter, genauer wohl als einen sich etablierenden Außenseiter. Die ganze Ambivalenz von „Außenseitern und Etablierten“ hat er – im Unterschied zu manchem larmoyant lauten Außenseitertum – scharfsinnig durchdacht und zu einem soziologischen Theorem mit allgemeinem Geltungsanspruch ausgearbeitet. In seinem 1976 erschienenen „theoretischem Essay über Etablierte und Außenseiter“, das in niederländischer Sprache als Vorwort seinem zuerst auf Englisch 1965 publizierten Buch vorangestellt ist, befaßt er sich vor allem mit denjenigen Fällen, bei denen wirtschaftliche Gegensätze die bleibenden Gegensätze kaum mehr begründen können. Er sieht darin eine Weiterentwicklung des Marxschen Klassentheorems. Die überlegenere Gruppe schöpft ihre Machtquellen vornehmlich aus einer Art Gruppencharisma. Sie bekämpft daher die unterlegene Gruppe vor allem durch kollektives Stigmatisieren. Alle möglichen Beispiele werden in einem „Vorwort“ erwähnt, nur nicht die Juden. Zehn Jahre später, in seinen „Notizen zum Lebenslauf“, erörtert er ausführlich die Lage der Juden seiner Heimatstadt Breslau in diesem Zusammenhang; sie sind als Gesellschaft zweiten Ranges behandelt worden, „aber, wie gesagt, sie fühlten sich selbst nicht als Menschen zweiten Ranges“ (Gleichmann et.al. 1984: 55). Seine wachsende Anerkennung und die zunehmende Distanz mögen es ihm erleichtern, darüber direkter zu sprechen. Über Lehrer und Kollegen, so über Alfred Weber sagt er 1986, „ihn als Intellektualisten anzuprangern, war die Höhe der Ironie. – Alfred Weber war ein höflicher und zivilisierter, aber, wie gesagt, ein leidenschaftlicher Mann. Er konnte seinen Ärger nur schwer verbergen“ (Gleichmann et.al. 1984: 44). Von Karl Mannheim sagt er (Gleichmann et.al. 1984: 32ff.): er war 1924 „angespornt von dem klaren Ziel eines Lehrstuhls für Soziologie auf dem Höhepunkt seines Schaffens“. Und diese Hoffnung ließ sich kaum realisieren „ohne die aktive Hilfestellung einer einflußreichen Parteiorganisation“. –
„Vielleicht hätte Mannheim Größeres leisten können, wäre ihm die Laufbahn weniger wichtig gewesen.“ Und im Vergleich zu Morris Ginsberg in London: „Für Mannheim stand außer Zweifel, daß er selbst der bessere Soziologe war.“ Über Talcott Parsons sagt Elias in dessen Gegenwart während eines Roundtable-Gesprächs auf dem ISA-Weltkongreß in Varna: „My critical attitude towards Parsons’ intellectual system is qualified by my respect for his person. One may disagree with him, but one cannot doubt his intellectual sincerity and integrity. Nor the width of his power of synthesis which is one of the qualifying gifts of the distinguished theory maker. However, I cannot persuade myself that this gift has been used in the right cause“ (Elias 1972: 277). Oder über Adorno: „Das, was meine eigene Orientierung vielleicht am meisten mit der Adornos verbindet, ist sein kritischer Humanismus. Er verstand wohl etwas anderes unter Humanismus als ich selbst, denn er mochte das Wort nicht. In meinem Sinne aber paßt der Begriff ‘Humanismus’ auch auf ihn. Das Leitmotiv, das für mich anklingt, wenn ich diesen Begriff gebrauche, ist erstens der Gedanke an einen Menschen, der emotional auf der Seite der Machtschwächeren, der Unterdrückten, der Außenseiter und Ausgebeuteten steht, zweitens der Gedanke an einen Menschen, der die oft entmenschlichenden Begriffe, deren wir uns gegenwärtig beim Reden und Schreiben über gesellschaftliche Verhältnisse bedienen – Begriffe wie Wirtschaft, Politik, Kultur, Unterbau, System, Interaktion und hundert andere – strikt und konsequent auf Menschen bezieht, die miteinander Gesellschaften bilden. Im ersteren Sinne gehen Adorno und ich ein Stück Weges zusammen. Aber dann, so scheint es mir, bleibt er stehen, während ich – ziemlich allein – meines Weges gehen muß“ (Elias 1977b: 44f.). Noch beachtlicher sind seine Urteile über Künstler. Einen Vortrag auf dem Wolfenbütteler Kongreß über „Europäische Hofkultur des 17. und 18. Jahrhunderts“ am 4.9.1979 beendet er mit einem Gedicht seines LieblingsBarockdichters C. Hofmann von Hofmannswaldau und mit dem letzten resümierenden Satz: „Er sieht die Welt / und sagt Ja zu ihr.“ In einem Vortrag vor dem Bielefelder Kunstverein in der Kunsthalle über „Wandlungen in der Kunst und Wandlungen in der Stellung des Künstlers“ am 15.11.1979 bemerkt er über Pablo Picasso: „Man hat mit Recht gesagt, daß Picasso manchmal in Ausstellungen jüngerer Kollegen herumging und, wenn sie einen Einfall hatten, dann ging er nach Hause und machte es besser. Er spielte. Und er erlaubte sich alles. Und das ist es eben, was ihn groß macht. Es glückte ihm.“ Und in einem frei gesprochenen Vortrag „Ein Versuch, Mozart besser zu verstehen“, im 3. Programm des Westdeutschen Rundfunks am 6.3.1983 betont er vier Punkte. Erstens wendet er sich gegen den Biographen Wolfgang Hildesheimer: „Der Künstler ist groß, aber der Mensch, so erschien es Hildesheimer, 253
kommt nicht der Größe seines Werkes gleich. Ich habe mich ein wenig innerlich gegen diese Trennung von Mensch und Künstler, Mensch und Genie gesträubt. Das war eigentlich das Problem, das mich zunächst mit Mozart vertrauter machte, das mich anregte, mich mit ihm zu beschäftigen: Der Mensch Mozart und seine Verbindung mit dem Künstler.“ Und zweitens: „Das Wunderkind (...) wurde von Hof zu Hof gebracht, hatte jubelnden Erfolg. Und was das für ein Kind bedeutet, kann man sich wohl vorstellen (...) Aber irgendetwas fehlt.“ Dann drittens: „Vielleicht sollte ich ihre Aufmerksamkeit auf einen Punkt lenken, der mich immer wieder beschäftigt hat: Mozart war sein ganzes Leben auf Stellensuche (...) Man kann erraten, warum dieser begabteste der Komponisten seiner Zeit im Grunde nicht eine Stelle fand: Er war unbequem für die Lokalen. Es war sehr unangenehm, einen so begabten Menschen neben sich zu haben. Und außerdem war er stolz (...) Er war also ein durch und durch unbequemer Mensch (...) Aber, er konnte nicht simulieren. Er konnte sich schlecht verstellen. Und so, das war eines seiner Probleme, die mich sehr interessiert haben: Wie kommt es eigentlich, daß ein solcher Mensch keine Stellung fand? Hier haben sie eine Antwort. Das war eine der großen Frustrationen seines Lebens.“ Schließlich viertens: „Die andere große Frustration seines Lebens (...) Und er litt immer an Geldmangel (...) Die zweite war die Suche nach Liebe. Mozart war sein ganzes Leben hindurch eigentlich auf der Suche danach, geliebt zu werden.“ Unter den bisher ungezählten Interviews mit Elias, die in den Medien verschiedener Länder veröffentlicht werden und die sich von den allgemeinsten Themen wie dem Atomkrieg über scheinbar trivialere Fragen etwa der Schlafbekleidung bis hin zu – immer wieder: ganz persönlichen Problemen bewegen, fallen besonders die der jüngeren niederländischen Sozialwissenschaftler/innen durch ihre im Vergleich zu deutschen Gepflogenheiten große Direktheit des Fragens auf. Aus einem Gespräch, das 1984 auf Niederländisch veröffentlicht wird, zum Schluß charakteristische Fragen von Aafke Steenhuis: Am Ende des Gesprächs frage ich Norbert Elias, ob er seine Autobiographie geschrieben hätte. „Nein, nur ein paar Aufzeichnungen.“ – Da ist wenig über Sie bekannt, sage ich, ich weiß zum Beispiel nicht einmal, ob Sie verheiratet gewesen sind. – „Nein.“ – Niemals? – „Nein, niemals.“ – Warum nicht? – „Ach, die Frauen waren immer eifersüchtig auf meine Arbeit. Es war nicht möglich.“ – Also haben Sie Ihre Arbeit mehr geliebt als die Frauen? – „Ja, ich weiß nicht – ich wollte mich nicht stören lassen. Die Arbeit war meine Aufgabe.“ – Wer hat Ihnen die Aufgabe gegeben? – „Es klingt vielleicht ziemlich puritanisch und dünkelhaft, aber ich war ungewöhnlich begabt und hatte die Pflicht, damit etwas anzufangen. Die Pflicht gegenüber anderen Menschen. Und diese Einstellung habe ich immer noch. Gleich kommt mein Assistent, 254
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ich arbeite noch genau so hart wie früher; wenn ich es nicht tue, geht es verloren. Leider, leider wollten die Frauen das nicht.“ – Und konnten Sie keine intellektuelle Frau finden, die ihre eigene Arbeit hatte? – „Ja, als Freundin, aber nicht, um mit ihr immer zusammenzuleben.“ Schluß. Eine weltzugewandte, heiter-asketische Arbeitsbesessenheit, stets gezähmte Leidenschaften, doch auch ein zähes und unbedingtes Streben nach geistiger Unabhängigkeit sowie ein unbeugsamer Originalitätswillen kennzeichnen Elias’ Leben und Werk. Seine ungewöhnliche Fähigkeit, sich jederzeit auf die eigene Sache oder auf die irgendeines anderen Menschen konzentrieren zu können und sich besser als die meisten Menschen selbst zu beherrschen, gestattet ihm stets, ein Zusammenhangswissen zu generieren, welches an Sachbezogenheit und Reichweite das der meisten Sozialwissenschaftler überragt. Die unerschütterliche Selbstgewißheit über den eingeschlagenen Weg hat seinen Willen zur Selbstbehauptung mit zunehmendem Alter gestärkt. Viele einzelne seiner Sätze behalten – über alle Grenzen menschlichen Wissens hinweg – eine epigrammatische Schärfe. „Auch wenn der Versuch, in dem Leben eines einzelnen Menschen einen Sinn zu finden, der unabhängig von dem ist, was dieses Leben für andere Menschen bedeutet, ist vergeblich“, heißt es in „Über die Einsamkeit“ (Elias 1982b: 84). Und dann wird noch einmal das Lebensthema artikuliert: „Zu den Problemen unserer Tage, die vielleicht mehr Beachtung verdienen, gehört dementsprechend das der psychischen Transformation, die sich mit Menschen vollzieht, wenn sie aus einer Situation, in der das Töten von anderen Menschen streng verboten ist und aufs schwerste bestraft wird, in eine Situation geraten, in der das Töten von Menschen gesellschaftlich, sei es vom Staat, sei es von einer Partei oder von einer Gruppe, nicht nur erlaubt, sondern ganz ausdrücklich gefordert wird“ (Elias 1982b: 79f.). „In den Kriegen verlor sich die Sensibilität gegenüber dem Töten, den Sterbenden und Toten bei den meisten Menschen offenbar verhältnismäßig rasch. Wie das Personal der Konzentrationslager das tägliche Massentöten psychisch verarbeitete, ist eine offene Frage, die genauerer Untersuchung wert wäre. Sie ist oft verdeckt durch die Frage nach der Schuld an solchen Geschehnissen. Für die gesellschaftliche Praxis aber, also auch im Hinblick auf die Verhütung solcher Geschehnisse, ist die erstere, gerade die Tatsachenfrage von besonderer Bedeutung.“
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3. Norbert Elias und der Prozeß der Zivilisation
1. „Für den Seelenaufbau des Einzelnen ebenso wie für den geschichtlichen Wandel im Gepräge von aufeinanderfolgenden Generationen wird man erst dann ein volleres Verständnis gewinnen, wenn man besser, als es heute möglich ist, über lange Generationsketten hin zu beobachten und zu denken vermag“,
schreibt Norbert Elias im Jahre 1939 (1939/1997 Bd. 2: 451)86. Die Langzeitpsychologie von Norbert Elias bleibt nicht nur Programm. Sie wird mit empirischen Studien begonnen, deren Belege für Wandlungen des menschlichen Verhaltens und Empfindens sich über rund sechs Jahrhunderte erstrecken. Darin bereits unterscheidet sich seine Vorgehensweise von den meisten psycho-historischen Versuchen gegen Ende des 20. Jahrhunderts87. Diese richten sich oft allein auf punktuelle geschichtliche Ereignisse; sie vernachlässigen beim Verknüpfen historischer Befunde fachpsychologische Interpretationen oder sie 86 Eine vollständige Bibliographie der Eliasschen Arbeiten ist in den „Materialienbänden“ enthalten; dort auch die erste Literatur zu „Aufnahme und Kritik“ in verschiedenen Ländern; für die Jahre 1983-1986 (TCS: 541ff.). Zur Biographie: N. Elias ist 1897 in Breslau geboren; beginnt dort mit dem Medizinstudium; Promotion in der Philosophie 1924; Studium der Soziologie in Heidelberg, dann wissenschaftlicher Assistent in Frankfurt; 1933 exiliert; lehrte zuletzt in Leicester/England; nach der Pensionierung ab 1962 in Ghana, in den USA sowie in zahlreichen europäischen Staaten; 1987 lebt er in Amsterdam. Weitere Hinweise sowie autobiographische Angaben sind zu finden bei Gleichmann 1987; Korte 1988; fremdsprachige Arbeiten zu und über Elias in der „Festschrift“, bei Goudsblom 1987 und in einer englischen Zeitschrift (TCS). 87 Zu den psychologischen Auffassungen von Elias siehe Blomert 1989. Zu den von Elias beeinflußten psychologischen Arbeiten zählen: M. Schröter 1985; T. Kleinspehn 1987; C. Wouters/B. van Stolk 1987; in den Niederlanden besonders: die psychoanalytischen Aufsätze A. de Swaan 1979 und seine Arbeiten zur politischen und medizinischen Soziologie des Wohlfahrtsstaates: A. de Swaan 1982, 1983. Ferner die sexualwissenschaftlichen Arbeiten von Jos van Ussel 1977 und in niederländischer Sprache B. van Stolk. Ferner Ch. Brinkgreve 1987.
suchen umgekehrt eine gesellschaftliche Grundlegung der Psychologie ohne Auseinandersetzung mit geschichtlichen Belegen zu beginnen. Das Modell des „Seelenaufbaus des Einzelnen“, wie es Elias in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts besonders in „Über den Prozeß der Zivilisation“ skizziert, nimmt in Abgrenzung von der Philosophie, zumal der neokantianischen, verschiedene Überlieferungsstränge der zeitgenössischen Psychologie auf; es ist ein integrierter Bestandteil eines Mehrebenenprozeßmodells langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen. Damit steht es auch in einer universalgeschichtlichen Tradition. Untersucht wird die Interdependenz der einzelnen Menschen auf der Ebene einer Figuration und wiederum deren Verflechtung mit Menschen, die auf einer anderen Ebene eine Figuration bilden, also etwa „höfische Gesellschaft“ und „Staat“. Im Mittelpunkt stehen dabei die Veränderungen der Machtgewichte, die Wandlungen der Machtdifferentiale zwischen diesen zwei (oder mehr) Ebenen und deren Einfluß auf die einzelnen Menschen bzw. auf die Muster individueller Selbstregulierung (Elias 1987a). Eine allgemeine Machttheorie (Elias 1969/1983a) bildet den Hintergrund dieses gesellschaftlichen Entwicklungsmodells. Die Machtzentren der jeweiligen gesellschaftlichen Überlebenseinheiten (Elias 1985) bilden die wesentlichen psychosozialen „Prägeinstanzen“. Aus den Machtdifferentialen zwischen ihnen wird der soziale Habitus, werden die Wandlungen der Wir-Ich-Balance (Elias 1987a: 207ff.) beeinflußt, werden Ab- oder Zunahme des Prozesses der Individualisierung bestimmt. Elias’ Modell des „Seelenaufbaus des Einzelnen“ ist eine originelle Leistung des Synthesenbildens (Elias 1984a) von beträchtlicher Allgemeinverständlichkeit. Ein empirischer (historischer) Befund und dessen modelltheoretische Erörterung, analysierende und synthesenbildende Denkschritte wechseln einander fortwährend ab. Die eigentlichen „theoretischen“ Sätze sind daher über das gesamte Werk hin verstreut. Dieses für Elias charakteristische Verfahren ist so im Ergebnis keiner bestimmten (sozial-)wissenschaftlichen Traditionslinie zurechenbar; als Verfahren jedoch ist es ohne die vorausgehenden und gleichzeitigen Versuche kaum denkbar. Elias’ psychologische Arbeitsweise wird davon bestimmt, „daß gesellschaftliche Bildungen nur als Ganzes verstanden werden können. Es ist der Einzug der Ganzheitsbetrachtung in die Soziologie“, erkennt der Neurologe und Gruppentherapeut S. H. Foulkes, alias Fuchs 1941 in seiner Rezension des 2. Bandes von „Über den Prozeß der Zivilisation“. Und diese auf das Zusammenfügen von analytisch Trennbarem, doch in der Sache Zusammengehörendem hin ausgerichtete Vorgehensweise wird später noch verstärkt. Zum Beispiel beziehen sich die Begriffe Engagement und Distanzierung „nicht auf zwei getrennte Gruppen psychischer Ereignisse“. Durch deren Gebrauch „verweist man also auf wechselnde Balancen zwischen zwei Typen von Verhaltens- und Erlebensimpulsen, die in den Beziehungen von Menschen zu Menschen, zu nicht-menschlichen Objekten und zu sich 258
selbst (...) mehr zum Engagement oder mehr zur Distanzierung hindrängen“ (Elias 1983a: 10). Und Elias erläutert (Elias 1983a: 65f.): „Es ist noch immer vorherrschender Usus, psychische und soziale Eigentümlichkeiten von Menschen nicht einfach als verschiedene, sondern in letzter Instanz getrennt existierende und unabhängige menschliche Aspekte zu behandeln (...) Begriffe wie ‘engagiert’ und ‘distanziert’, ‘involviert’ und ‘detachiert’ machen es möglich, zum Ausdruck zu bringen, daß soziale und psychische Wandlungen unterscheidbare, aber untrennbare Vorgänge sind.“ Und dies gilt erst recht für die Beziehungen zu nichtmenschlichen Gegenständen. „Insbesondere in der philosophischen Tradition ist es üblich geworden, Erörterungen über die Beziehung des menschlichen ‘Subjekts’ zu den nicht-menschlichen Natur’objekten’ scharf gegen alle Erörterungen über die psychischen Aspekte des ‘Subjekts’ abzusichern. Als Orientierungsmittel sind Begriffe wie ‘engagiert’ und ‘distanziert’ anderen, gebräuchlicheren vorzuziehen, die uns – wie etwa die Begriffe ‘subjektiv’ und ‘objektiv’ – eine statische und unüberbrückbare Kluft zwischen zwei verschiedenen Wesenheiten, ‘Subjekt’ und ‘Objekt’, vorspiegeln.“ – Immer wieder weist Elias mit Nachdruck alle modelltheoretischen Vorstellungen zurück, „daß das Erklärungsmodell, wonach Untersuchungen der Eigenschaften von Teileinheiten den Schlüssel für die Probleme des Ganzen liefern oder eines Tages liefern werden, ein Universalmodell sei“. Ob im Streit zwischen Mechanisten und Vitalisten oder in der Auseinandersetzung über die Beziehung dessen, was gewöhnlich „Körper“ und „Seele“ genannt wird (Elias 1983a: 70f.): „Auch in diesem Fall sind Lösungsvorschläge in rein physikalischer und in rein metaphysischer Richtung gewöhnlich Repräsentanten ein und desselben Denkstils und gleich ungeeignet. Ob monistisch oder dualistisch, ob sie der ‘Seele’ Qualitäten der ‘Materie’ zuschreiben – alle diese Ansätze versuchen, eine zusammengesetzte Einheit aus ihren Teileinheiten zu erklären.“ 2. Der Hauptbeitrag im engeren Sinne von Elias zu einer „historischen Psychologie“ läßt sich stichwortartig skizzieren. Manche seiner Einsichten sind wegen ihrer epigrammatischen Kürze längst geläufig, andere sind weniger bekannt geworden. Wir greifen diese prägnanten Formeln hier heraus. Die ungewöhnliche Anschaulichkeit vieler seiner Darstellungen – ganz im Unterschied zum vorherrschenden Charakter „theoretischer“ Texte in der Psychologie oder Soziologie – beruht gerade auf der ständigen Vermischung, dem Wechsel von dargebotenem Tatsachenbeispiel und unmittelbar folgendem, erläuterndem Zusammenhangswissen. Alle Ereignisverläufe werden, soweit dies die Sprache überhaupt zuläßt, durch prozessuale Begriffe ausgedrückt. Psychischer und sozialer Aspekt werden stets gleichzeitig betrachtet, 259
scheinen völlig miteinander verschmolzen. Beinahe alle Begriffe in diesem Zusammenhang können konsequenterweise als solche zugleich in der überkommenen Psychologie und der Soziologie verwendet werden. Alle nicht auf Menschen bezogenen Begriffe werden nach Möglichkeit vermieden. Im Gegensatz zu den vorherrschenden soziologischen Theorien, in denen etwa die Begriffe mit Vorliebe allein auf „Sinnsysteme“ oder auf „sprachliche Kommunikation“ philosophisch reduziert werden, erleichtert „die prozeß-soziologische Konzentration auf Menschen“ die Integration geschichtlicher Zeugnisse und psychologischer Befunde. 1. „Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang“ und die „Ausbreitung des Zwangs zur Langsicht und des Selbstzwangs“ (Elias 1939/1997 Bd. 2: 312 ff.) –, beide Theoreme bezeichnen Ergebnisse und Teilprozesse des menschlichen Zivilisierungsprozesses, wie sie auch über fünfzig Jahre nach ihrer Formulierung noch nicht widerlegt worden sind.88 Zuvor war der Begriff des „Zwanges“ meist allein einzelfachlich gebräuchlich; in der Psychiatrie und der Psychoanalyse etwa für Zwangserscheinungen, die als dem eigenen Ich zugehörig, doch als fremd empfunden werden und Angst erzeugen, falls ihnen nicht stattgegeben wird; oder in der Jurisprudenz und der Soziologie für organisierte Gewaltanwendung, etwa den Zwangsapparat oder die Zwangsmaßnahmen des Staates (M. Weber). Nun sind beide Bezugsebenen theoretisch verbunden. Elias kann jetzt zeigen, „daß die Modellierung des Trieblebens, auch der Zwangsfiguren in ihm, eine Funktion der gesellschaftlichen Abhängigkeiten und Angewiesenheiten ist, die sich durch das Leben der Menschen hinziehen. Diese Abhängigkeiten oder Angewiesenheiten des Einzelnen haben nach dem Aufbau der menschlichen Beziehungen jeweils eine andere Struktur. Den Verschiedenheiten dieser Struktur entspricht die Verschiedenheit des Triebaufbaus, die wir in der Geschichte beobachten können“ (Elias 1939/1997 Bd. 1: 323). Und fünfzig Jahre später (Elias 1986a, b, c) faßt er zusammen: „Der gesellschaftliche Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen einer individuellen Selbstregulierung im Sinne wandelbarer gesellschaftlicher Zivilisationsmuster sind soziale Universalien.“ Wenn man allein die kontinuierliche Zunahme und Verstärkung der Selbstzwänge als Kernstück des Modells des Zivilisationsprozesses annimmt, wie es vereinfachend oft geschieht, übersieht man, daß auch in weniger differenzierten Gesellschaften Selbstzwänge von großer Härte auf88 Den aufsehenerregendsten Widerlegungsversuch hat Hans Peter Duerr in mehreren Bänden seit 1988 medienwirksam inszeniert (vgl. Duerr 1988 ff.). – Kritische Kommentierungen hierzu in Schröter, M. 1990: 42ff., Engler 1995: 113ff., sowie in Hinz 2002.
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treten können (Elias 1984a: XXXIV); kennzeichnend ist dort aber vor allem deren ungleichmäßiger, oft diskontinuierlicher Charakter. Eine historisch-soziologische Machttheorie durchdringt das gesamte Eliassche Werk. Sie vermeidet die Annahmen vom „amorphen“ Charakter der Macht (Max Weber) und geht stattdessen vom polymorphen Charakter menschlicher Machtquellen aus; von körperlicher Stärke und Gewalt, vom Beschaffen der Existenzmittel, von den Verfügungsmöglichkeiten in bestimmten Positionen, von den affektiven Valenzen menschlicher Bindungen und vom Wissen. Sie vermeidet auch die Auffassungen älterer „Machtlehren“, die sich etwa allein auf die „Gewalt“, in den Organisationswissenschaften nur auf „Entscheidungen“ oder „Motivation“ gründeten. Wenn wegen der großen Machtungleichheiten zwischen Menschen die meisten Machttheorien Machtasymmetrie-Modelle darstellen, heißt das noch nicht, daß Machtbeziehungen deshalb nur aus einer Richtung gesehen werden können. Macht ist keine Sache, sondern eine Struktureigentümlichkeit jeder menschlichen Beziehung. Das Etablierten-Außenseiter-Theorem bildet einen Sonderfall der Machttheorie. Es ist mehrfach untersucht worden, in Studien über eine Arbeitergemeinde (Elias/Scotson 1965), über die Denkestablishments der Physiker (Elias 1982a) und in einer ausführlicheren theoretischen Fassung (Elias 1976: 7-46). Es bezieht sich vor allem auf Fälle von Machtungleichheit, in denen wirtschaftliche Unterschiede die bestehenden Gegensätze kaum mehr begründen können. Es ist ein für Psychologen besonders anschauliches Theorem. Die überlegene Gruppe schöpft ihre Machtquellen aus einer Art selbstgeschaffenem Gruppencharisma. Sie vermag die unterlegene Gruppe daher vor allem durch kollektives Stigmatisieren anhaltend zu bekämpfen. Elias sieht hierin eine Fortentwicklung des Marxschen Klassentheorems. In dem Prinzip von der Triade der Grundkontrollen in „Was ist Soziologie?“ artikuliert Elias seine implizit in „Über den Prozeß der Zivilisation“ angewendete Mehr-Ebenen-analytische Arbeitsweise noch einmal prägnant. Den Psychologen wird hier auch die ganz integrierte Einfügung der psychischen Dimension in sein Prozeßmodell verdeutlicht. Den historischen Soziologen sucht er „ein Beispiel für den Typ der Meßbegriffe zu geben, mit deren Hilfe man verschiedene Stufen sehr langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungsreihen bestimmen kann. Zu den Universalien der Gesellschaft gehört die Triade der Grundkontrollen. Der Entwicklungsstand einer Gesellschaft läßt sich bestimmen 1. nach dem Ausmaß ihrer Kontrollchancen über außermenschliche Geschehenszusammenhänge, also über (...) ‘Naturereignisse’ (...); 2. nach dem Ausmaß ihrer Kontrollchancen über zwischenmenschliche Zusammenhänge, also über (...) ‘gesellschaftliche Zusammenhänge’ (...); 3. nach dem Ausmaß der Kontrolle jedes einzelnen ihrer Angehörigen über sich selbst als ein Indivi261
5.
6.
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duum, das, wie abhängig es immer auch von anderen sein mag, von Kindheit an lernt, sich mehr oder weniger selbst zu steuern“ (Elias 1970a: 173f.) – Mit den weiteren Angaben zur Interdependenz und relativen Autonomie dieser „Kontrolltypen“ wird modelltheoretisch noch einmal hervorgehoben, wie der Generationen währende allmähliche „Seelenaufbau des Einzelnen“, wie die Entstehung sozialer Muster der Individuation gleichrangig neben der Entwicklung der „Gesellschaften“ und der der „Naturkontrollen“ zu beachten sind. Verglichen mit der Mehrzahl der gegen Ende des 20. Jahrhunderts hochformalisierten sozialwissenschaftlichen „Evolutionstheorien“ wird dieser Prozeß der Entwicklung des „Verhältnisses zu sich selbst“ weit stärker betont und viel offener formuliert, ist daher auf die wissenschaftliche Integrierung der Zufälligkeiten des Geschichtswissens besser vorbereitet. Mit dem Theorem von der Balance zwischen „Engagement und Distanzierung“ (Elias 1983a) wird praktisch eine Lerntheorie entworfen, die die tiefe Affektgebundenheit und den starken Phantasiegehalt menschlichen Wissens und die im Laufe der langen Menschheitsentwicklung verschiedenen erreichten Distanzierungsniveaus zum Ausgangspunkt mehrerer zivilisationstheoretischer Fragen macht. Aber neben dem wissenssoziologischen Aspekt dieser Studie sind deren wissenschaftssoziologische Folgerungen wenig beachtet worden. Die Eliassche Forderung an die „Menschenwissenschaftler“, das Verhältnis ihres Engagements und ihrer Distanzierung gegenüber ihren Untersuchungsfeldern besser zu kontrollieren, ist auch ein origineller Beitrag zu den theoretisch weithin ungelöst gebliebenen Fragen des sogenannten Werturteils- oder Positivismusstreits. Die Studie „Über die Zeit“ (Elias 1984a) ist eine „Untersuchung über die Zeit, aber nicht über die Zeit allein“, sondern vor allem über die Fähigkeiten der Menschen, Synthesen bilden zu können, und über den langen sozialen Prozeß der Menschheit, Schritt für Schritt aus Ereignissen der menschlichen wie der unbelebten Natur, die unsere Sinnesorgane nur unverbunden registrieren, ein Zusammenhangswissen über das faktische Naturgeschehen zu generieren, das es erlaubt, die verschiedenen „Wandlungskontinuen“ allmählich bewußter als relationale Maßstäbe einsetzen zu können. Die Studie der „sozialen Zeitzwänge“ ist auch ein Muster für die Untersuchung „zivilisatorischer Zwänge“. Ihre Reichweite überragt die zahlreichen „Zeit“studien von Sozialwissenschaftlern im 20. Jahrhundert. Sie wendet sich auch mit Nachdruck gegen verbreitete Vorstellungen (etwa von Physikern oder Technikhistorikern), das Entstehen der menschlichen Zeitzwänge sei vor allem auf die mechanische Weiterentwicklung von Uhren zurückzuführen. – In Kürze (Elias 1984a: XLVI): „Es gibt Ereignisse, die als Ereignisse im Strom des Nacheinander, also in Zeit und Raum, wahrgenommen werden können, ohne daß die Wahrnehmenden den
symbolischen Charakter von Zeit und Raum in Betracht ziehen. Sie sind sich in diesem Falle nicht bewußt und stellen nicht in Rechnung, daß eine erlernte Bewußtseinssynthese durch ordnende Menschen dazu nötig ist, um wahrnehmbare Prozesse als etwas, das in Zeit und Raum vor sich geht, wahrzunehmen.“ 7. Mit dem Terminus von der „Gesellschaft der Individuen“ (Elias 1987a) faßt Elias seine eigentümliche Zwischenstellung zwischen überkommener „Soziologie“ und „Psychologie“, seine Synthese von sozialen und psychischen Entwicklungen, pointiert zusammen. Diese Haltung kennzeichnet sein Werk von Anfang an. Sie beginnt mit der philosophischen Dissertation „Idee und Individuum, eine kritische Untersuchung zum Begriff der Geschichte“ von 1924. Sie konzentriert sich deshalb darauf, „Stufen oder Muster der individuellen Selbstregulierung“ herauszuarbeiten, um so „dem Entweder-Oder, das sich so oft in soziologischen Erörterungen des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft findet, zu entkommen“. Und das macht „auch verständlicher, warum die alte Gepflogenheit, aufgrund derer man die Begriffe ‘Individuum’ und ‘Gesellschaft’ oft so gebraucht, als ob es sich um zwei getrennt existierende Gegenstände handle, in die Irre führt“ (Elias 1987a: 246f.). So gelangt er in seiner Synthese von historischer Psychologie und Soziologie zu vielen präzisen Resultaten, deren oftmals polemisch gemeinter Unterton gegenüber vorherrschenden Auffassungen meist kaum noch zu verspüren ist. „Es gibt keine Ich-Identität ohne Wir-Identität. Nur die Gewichte der Ich-Wir-Balance, die Muster der Ich-Wir-Beziehung sind wandelbar.“ Oder (Elias 1987a: 90): „Die Gesellschaft ist nicht nur das Gleichmachende und Typisierende, sondern auch das Individualisierende.“ Oder auch (Elias 1986a, b, c): „Sozialisierung und Individualisierung eines Menschen sind daher verschiedene Namen für den gleichen Prozeß.“ Elias’ Hauptbeitrag im weiteren Sinne zu einer „historischen Psychologie“ liegt in seiner Arbeitsweise und in seinem Modell langfristiger Prozesse begründet. Sein Vorgehen, seine Systematik, kennzeichnet er als „empirisch-theoretisch“. Er konstruiert keine Modelle im voraus, verfährt nicht gesetzeswissenschaftlich und nicht normativistisch; bindet seine Arbeitsweise nicht von vornherein an einen bestimmten empirischen Zugang zur Wirklichkeit. Seine Verfahren sind kontinuierlich vergleichend. Das gilt vor allem für sein Prozeßmodell. Er hat es im Jahre 1986 noch einmal zusammengefaßt skizziert (Elias 1986a, b, c). Es ist weniger abstrakt und weit beweglicher als die meisten vorherrschenden „evolutionären“ Modelle. Vor allem fehlen ihm die oft allein aus dem Professionalisierungsinteresse heraus entwickelten Neigungen zu unbedingter Abgrenzung eines „akademischen Faches“. Seine eher antiprofessionalistische, fächerintegrierende und universalistische Haltung ist eine Voraussetzung für alle Versuche, zu umfassenderen wissenschaftlichen Synthesen zu gelangen; darin ist Elias den Arbeitsweisen des später „Frankfurter Schule“ 263
genannten Kreises von Denkern nahe. Er begründet aber seine Haltung mit ganz bestimmten Zusammenhangsvorstellungen vom „Modell der Modelle“, von einem mehrdimensionalen Modell der Wissenschaften überhaupt (Elias 1983a). Solche Konzepte sind im Zeitalter der dominant analytischen Wissenschaftslehren manchen Fragen ausgesetzt, worin etwa die Reichweite, Relevanz und Genauigkeit (Goudsblom 1979) bestünden. Die Epochen übergreifende und Kulturen vergleichende, dennoch nie spekulative Reichweite dieses Vorgehens ist offenbar; die zunehmenden Übersetzungen in alle Weltsprachen sind ein Anzeiger für das Interesse anderer an einer derartigen Arbeitsweise. Die Bedeutung dieser Arbeit für andere Disziplinen läßt sich gut an deren „Aufnahme und Kritik“ selbst messen. Doch unter „Genauigkeit“ wird angesichts vorherrschend philosophischer Wissenschaftslehren meistens das Einhalten formallogischer Regeln sowie das strenge begriffliche Definieren verstanden. Dem steht allerdings, das sollte nicht vergessen werden, die überwältigende Mehrzahl von Geschichtsforschern gegenüber, die sich wenig um eine kontrolliertere eigene Begrifflichkeit bemühen. Mit diesem Dilemma der Verfassung der Einzelwissenschaften hat sich jede „historische Psychologie“ praktisch auseinanderzusetzen. Elias hat den von ihm gewählten Weg genau bezeichnet (Elias 1984a: 174f.), eine Betrachtungsweise, „die von philosophischem Absolutismus und historischem Relativismus gleich weit entfernt ist“. Größere, „genauere“ Gegenstandsadäquatheit bezieht er deshalb vor allem auch auf – von anderen häufig ganz vernachlässigte – modelltheoretische Züge. Er achtet auf eine vielperspektivische Begriffsbildung. Er kritisiert den „Rückzug der Soziologen auf die Gegenwart“. Diese ist ja ebenfalls schon alleiniges Arbeitsfeld der meisten Psychologen. Auch Historiker haben sich oft analog ganz auf die „Vergangenheit“ zurückgezogen. Und er versucht, der diachronischen Sicht auch bei jenen Wissenschaftlern, die allein synchronische Ereignisverläufe studieren, eine gleichrangige Geltung zu verschaffen, und zwar in Gestalt eines anspruchsvolleren Prozeßmodells. Allmählich werden wissenschaftspraktische Konsequenzen, die Anregungen zum intensiveren Dialog zwischen Psychologen, Geschichtsforschern und Soziologen, wie sie von Elias’ Arbeiten ausgehen, deutlicher. Zu den wechselseitigen Beziehungen zwischen diesen Fächern hat er sich wiederholt geäußert; regelmäßig, wenn auch über das Werk verstreut, zur Psychologie, systematischer zum Verhältnis von „Soziologie und Psychiatrie“ (Elias 1972a) und kritischer zu „Soziologie und Geschichtswissenschaft“ (Elias 1969). Diese Kritik ist immer noch gültig. Elias erhebt mit seinem Werk keinen Anspruch, das Gesamtmodell einer derartigen Integration von Fachaspekten zu bieten. Er möchte einen „Beitrag zu einer sozialwissenschaftlichen Zentraltheorie“ leisten. Er entwirft zudem ein Modell des „außer“- oder „vor“wissenschaftlichen und natürlich des wissenschaftlichen Synthesenbildens. 264
Es ist weit weniger die besondere Gestalt seiner eigenen Synthese dieser Fächeraspekte hin zu einer historischen Psychologie (samt den persönlichen Zufälligkeiten einer beruflichen Biographie) als vielmehr seine charakteristische Arbeitsweise, etwa seine Technik des Synthesenbildens, des Begriffebildens oder –vermeidens, worauf eine spätere historische Psychologie aufbauen kann. Anders gesagt, dem schrittweisen Zusammenfügen von Theoriewissen muß ein ähnlicher Vorgang der Integration von Tatsachenwissen entsprechen. Das ist im Zeitalter allein analytischer Wissenschaftslehren von vielen Sozialforschern vergessen worden, wenn sie etwa versuchten, auf den jeweils einmal erreichten Synthesenniveaus früherer Forscher wie etwa Karl Marx oder Max Weber weiterzuarbeiten, deren Kategorien gewissermaßen geschichtsfrei übernehmen, ohne das inzwischen auch entstandene empirische Tatsachenwissen mit zu berücksichtigen. So gelangt man zu ungezählten idealen Modellen, mit denen das wachsende Wissen über Einzeltatsachen gar nicht mehr integriert werden kann. Zudem beschleunigt sich das Tempo der Wissensvermehrung in den einzelnen Wissenschaften, wenn auch in unterschiedlichem Maße. Künftige Wissenschaftlergenerationen werden aus dem Gesamtstrom wissenschaftlichen Wissens daher auch neue, eigene Synthesen schaffen. Die Synthesefähigkeit der einzelnen und der Gruppen wird daher auch zu einem Maßstab modelltheoretischer Wissensintegration. Wer jetzt ein neues Synthesenniveau zu erreichen trachtet, wird weniger einem bestimmten, einem idealen Modell folgen, sondern wird eher aus der „Logik der Situation“ und aus allem ihm zugänglichen Wissen heraus neue Synthesenschritte versuchen. Dazu weist Elias originelle Wege. 3. Ein Vergleich des Eliasschen Beitrages mit anderen Versuchen einer „historischen Psychologie“ wird zuerst nach der Herkunft seiner „Psychologie“ fragen. Elias bemerkt dazu in „Über den Prozeß der Zivilisation“ (Elias 1939/1997 Bd. 1: 324): „Es braucht dabei kaum gesagt zu werden, aber es mag hier einmal ausdrücklich hervorgehoben sein, wieviel diese Untersuchung den vorausgehenden Forschungen Freuds und der psycho-analytischen Schule verdankt. Die Beziehungen sind für jeden Kenner des psycho-analytischen Schrifttums klar, und es schien unnötig, an einzelnen Punkten darauf hinzuweisen, zumal sich das nicht ohne ausführlichere Auseinandersetzung hätte tun lassen. Die nicht unbeträchtlichen Unterschiede zwischen dem ganzen Ansatz Freuds und dem der hier vorliegenden Untersuchung sind ebenfalls hier explizit nicht hervorgehoben worden, besonders da sich vielleicht über sie nach einiger Diskussion ohne allzu große Schwierigkeiten ein Einverständnis herstellen ließe. Es erschien wichtiger, ein Gedankengebäude möglichst klar und anschaulich aufzubauen, als an dieser oder jener Stelle eine Auseinander265
setzung zu führen.“ – Die „nicht unbeträchtlichen Unterschiede“ sind später von Kritikern wohl bemerkt worden, weit weniger jedoch die anderen Einflüsse. Deutlich nimmt Elias, der vor seinem Philosophiestudium einige Jahre Medizin studiert hat, zentrale Einsichten und Konzepte der physiologischen Verhaltensforschung auf. Etwa ist von den Höfen als „Prägestätten“ des Verhaltens oder von den Universitäten als „Prägestationen des Sprachstromes“ die Rede. Die Bemerkungen über die Zivilisation als „eine spezifische Veränderung des menschlichen Verhaltens“, die ausgewählten Beispiele selbst sowie vor allem der Begriff des Verhaltens beziehen sich auf sämtliche Körperäußerungen und -tätigkeiten. Mit den „ganzheitlichen“ Auffassungen ist Elias wenigstens auf zwei Wegen bekannt geworden; durch den Kreis um Max Wertheimer, der zur gleichen Zeit in Frankfurt lehrt, und durch den Psychoanalytiker und Freund S.H. Foulkes, alias Fuchs. Dieser war ein unmittelbarer Schüler des Neurologen Kurt Goldstein, der durch seine berühmten Untersuchungen an den Hirnverletzten des Ersten Weltkrieges bekannt geworden war. Schließlich schätzte er das frühe Werk von Wilhelm Reich, wie er verschiedentlich bemerkt hat; davon mögen Ausdrücke wie „seelische Panzerung“ oder „Modellieren des Affekthaushaltes“ zeugen. Die Ausdrücke Psychogenese und Soziogenese werden vor Elias verschiedentlich gebraucht, sehr intensiv etwa durch Alfred Weber, bei dem Elias Ende der Zwanziger Jahre studiert, und auch bei Wilhelm Wundt. Aber niemand hat davon zuvor ein so weitreichendes, in sich differenziertes und mit geschichtlichen Beispielen belegtes Mehrebenen-Modell entworfen. Im Vergleich zu anderen Schulen fällt Elias’ erkennbare Wertschätzung von Johan Huizingas „Herbst des Mittelalters“ (Huizinga 1924/1987) auf. Ähnlichkeiten mit der „Histoire des mentalités“ sind zu erkennen; öfter setzt sich Elias kritisch mit L. Lévy-Bruhl auseinander. Doch die französischen „Mentalitätenhistoriker“, die älteren nicht weniger als die jüngeren, verbleiben in ziemlicher sozialer Distanz zu den psychologischen Schulen ihrer Zeit, unterscheiden oft nicht hinreichend zwischen dem Nebeneinander von kognitiven und emotionalen (affektiven) Wandlungen; sie kommen darin eher den Marxschen Basis-Überbau-Vorstellungen nahe. Elias hat in dieser Hinsicht, ausgehend von seiner langen Beziehung zu Karl Mannheim, die Wissenssoziologie sein Leben lang weiterentwickelt. Sämtliche seiner Arbeiten sind davon durchdrungen. Wo sich die Mentalitätsforscher in Richtung auf eine „Histoire totale“ bewegen, bestehen Ähnlichkeiten zu dem Eliasschen „Mehrebenen“-Konzept. Insgesamt ist das Eliassche Modell sozialer Prozesse den Vorstellungen einer „longue durée“ theoretisch und praktisch überlegen (vgl. Jöckel 1984). In Vergleichen mit der „Psychohistory“, wie sie später vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika entsteht (Lloyd de Mause), wird rasch deutlich, wie sehr bei der Übernahme psychoanalytischer Theoreme jeder Verzicht auf ein 266
Bemühen um Rechtgläubigkeit Wege zu sachgerechteren Modellen öffnen kann und diese zudem bei Bedarf zusammen mit Ergebnissen anderer psychologischer Schulen viel wirklichkeitsgerechter integriert werden können. Eine Neigung zu gesellschaftlicher Langsicht ist bei den Psychohistorikern weniger entwickelt. Eine modelltheoretische Integration mit anderen Untersuchungsebenen, zumal der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung beziehungsweise den „Mensch-Natur“Beziehungen, bleibt undeutlich. Eine Machttheorie fehlt. Ähnlichkeiten mit der „Kritischen Psychologie“ findet man in verschiedener Hinsicht; in der konzeptuellen Aufmerksamkeit für die langfristigen Bedingungen der Entwicklung der Individuen oder für deren gesamtgesellschaftlichen Rahmen, auch beispielsweise in der tendenziellen Distanzierung von der vorherrschenden „strukturellen Parteilichkeit variablenpsychologischer Verfahren“ (Holzkamp 1985) und von deren implizit universalem Anspruch, der Standpunkt des Beobachters befände sich stets „außerhalb“ der experimentellen menschlichen Situation. Auch könnte Elias etwa der Auffassung ganz beipflichten, daß bereits in den „kategorialanalytischen Bestimmungen“, in den begrifflichen Unterscheidungen ein „genuin realitätshaltiger“ Erkenntniswert innerhalb der Psychologie enthalten sei. Er spräche hier von der Funktion der Theorien als Orientierungswissen. Abweichende Ansichten bestehen in vieler Hinsicht. Wie läßt sich ausdrücklich ein „historisches Herangehen“ fordern und zugleich ein eindrucksvolles Gedankengebäude errichten, wenn das eigentliche Geschichtswissen darin kaum verarbeitet wird? Und wie kann ein immer noch hauptsächlich auf „Analyse“ und „Handlung“ gerichtetes Denken, ein auf die Suche nach den kleinsten Teilchen eines Ganzen hin orientiertes Vorgehen mit dem Marxschen Anspruch nach gesamtgesellschaftlicher Zusammenschau verbunden werden? Analysen oder Synthesen? 4. Zur Einführung in die historisch-soziologische Psychologie von Elias ist „Die höfische Gesellschaft“ (Elias 1969) nützlich, sein eigentlich erstes Werk. Es eignet sich auch zum ersten Verständnis seiner umfassenden Machttheorie. Übersichten über die von ihm bevorzugten oder geprägten Begriffe, über seine Techniken des Begriffebildens und -vermeidens bietet der von ihm verfaßte Index dieses Buches; einen zusätzlichen, authentischen Begriff-Index enthält auch die niederländische Ausgabe: Elias, Wat is sociologie? (Elias 1971) von J. Goudsblom. Die Schlußkapitel des ProzeßBuches, „Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation“ (Elias 1939/1997 Bd. 2: 312ff.) verkörpern in gedrängter Form seinen originellen Beitrag zur historischen Psychologie. 267
Die historisch-psychologische Arbeitsweise erschließt sich am besten bei der Lektüre des ersten Bandes von „Über den Prozeß der Zivilisation“ (Elias 1939/1997). Auf dem Hintergrund einer wissenschafts- und wissenssoziologischen Analyse der Begriffeentwicklung werden aus unterschiedlichen Quellen lange Zeitreihen etwa von „Wandlungen der Einstellung“ gebildet; im zweiten Band wird deren Verknüpfung mit anderen „langfristigen Wandlungen der von Menschen gebildeten Figurationen oder ihrer Aspekte in einer von zwei entgegengesetzten Richtungen“ untersucht, hier zum Beispiel der Prozeß der „Verringerung der Kontraste und der Vergrößerung der Spielarten“ des Verhaltens in Beziehung gesetzt zur Entstehung von Gewalt- und Steuermonopolen, den „Staaten“. Als Kommentare zur Vorgehensweise können gelesen werden: „Was ist Soziologie?“ (Elias 1970a) zu Fragen des modelltheoretischen Zusammenhangs; „Über die Zeit“ (Elias 1984a) zum Verständnis der Methodik des Synthesenbildens; und „Engagement und Distanzierung“ (1983a) zum Problem der Forscher in den „Menschenwissenschaften“, ihr eigenes Verhältnis zu ihren Untersuchungsgegenständen, anderen Menschen, selbstkontrollierter steuern zu lernen. Psychologen finden hier – indirekt – Hinweise, wie sie sich stärker von der „Variablenpsychologie“, Historiker, wie sie sich deutlicher von ihrem Glauben an eine besondere „Ereigniseinmaligkeit“ distanzieren können. Das heißt in beiden Fällen, wie sie eine bewußtere emotionale Distanzierung von denjenigen Wissenschaftlergruppen erreichen können, die derartige Berufsideale als Gruppenglauben aufrechterhalten; und wie sie dennoch zugleich am Tun der untersuchten Menschen einfühlend involviert, also engagierter, teilhaben können – mögen diese nun in vergangener Ferne oder im Jetzt leben.
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4. Das Deutschland-Bild von Norbert Elias und Elias-Bilder der Deutschen. Engagiert-distanzierte Bemerkungen zu einem europäischen Soziologen
1.
Zum Deutschland-Bild von Elias
Kaum ein moderner Soziologe vermag eine ganze Gesellschaft der Gegenwart analysierend realistisch zu beschreiben, ohne in ihr länger gelebt zu haben. Die Mehrzahl der Sozialforscher wählt daher stets ihre eigene Gesellschaft als den Untersuchungsgegenstand ihres gesamten Arbeitslebens; und nur wenige studieren fremde Gesellschaften, deren Sprache sie kennen und in der sie länger gelebt haben. Elias begegnet seinem Untersuchungsfeld, den Deutschen, von Anfang an mit einer persönlich weit größeren sozialen Distanz als die meisten Sozialforscher in Deutschland. Er befaßt sich zuerst und demonstrativ mit Sprache, Kultur und Geschichte Frankreichs. Sein erster im Jahre 1933 abgeschlossener Text, die Untersuchung „Der höfische Mensch“, verarbeitet das Geschichtswissen und die schöne Literatur zum französischen Königtum; sie erscheint 1969 unter dem Titel „Die höfische Gesellschaft“. Mit dieser Studie gewinnt er einen Vergleichsmaßstab, womit er später die „Verhaltens- und Empfindensstandarde“, doch auch den größeren Gewaltgebrauch der deutschen Machtzentren bestimmen kann. Aber mit dieser Studie beabsichtigt er im Rahmen seines Heidelberger und Frankfurter marxistischen Freundeskreises auch zu zeigen, daß in dem Modell gesellschaftlicher Transformationsprozesse im Übergang von der „feudalen“ zur industrie“kapitalistischen“ Gesellschaft noch wenigstens eine bedeutsame Zwischenstufe zu bedenken ist, die „höfisch-aristokratische“ Gesellschaft. Das allgemeine Modell seines „Prozesses der Zivilisation“ bildet „la civilisation française“. Sie wird von Elias verglichen mit den ärmlicheren und zurückgebliebenen Verhältnissen in den deutschen „Staaten“. Und in dem langen Eingangskapitel werden die deutschen Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, ihre relativ machtlose Position an den verstreuten deutschen Höfen, verglichen mit dem intellektuellen Glanz des französischen Hoflebens. Und im ersten Band des „Zivilisationsbuches“ werden zwar auch deutsche, italienische und englische „Etiquette-
Bücher“ herangezogen, im Mittelpunkt der Untersuchung aber bleibt das Entstehen des französischen Zentralstaates, die Herausbildung seines Gewalt- und Steuermonopols. Noch als Elias 1933 bis 1935 vor den Nationalsozialisten über Paris und Amsterdam nach London flieht, ist das Beispiel, an dem er sein eigenes Schicksal der Flucht unbewußt mißt, ein französisches. Er publiziert, selbst auf dem Wege heraus aus Frankreich, im Jahre 1935 einen Aufsatz über „Die Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich“. Dennoch fühlt er sich immer aufs engste mit Deutschland, seiner Sprache und Kultur verbunden. Und er bleibt es auch in über fünfzig Jahren seines Exils zeitlebens. Warum diese merkwürdige emotionale Bindung in der sozialen Distanz? Ein Blick auf die ethnisch-intellektuelle Kultur seiner Heimatstadt Breslau, seit 1945 Wroclaw, gibt uns wenigstens einige Anhaltspunkte. In Breslau, rund 250 Kilometer südöstlich von Berlin, wird Elias 1897 geboren, besucht das humanistische Gymnasium, beginnt ein Medizinstudium an der dortigen Universität und promoviert 1924 in Philosophie. Breslau ist zur Zeit seiner Geburt neben Berlin eine der größten Industriestädte im alten Preußen. Es ist das wirtschaftliche und geistige Zentrum Schlesiens, eines Gebietes jahrhundertelanger Kulturzusammenstöße und vielschichtigster Akkulturationsprozesse zwischen Polen und Deutschen. Besonders gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfährt es eine starke kleinstädtische und ländliche Zuwanderung aus dem Osten. Wechselnd ist das Grenzgebiet Schlesien unter polnische, böhmische und habsburgische Herrschaft geraten. Seit 1742 steht es aufgrund eines Krieges unter preußischer Hoheit und ist schließlich seit dem Jahre 1945 ein Teil Polens. Am Ende des 19. Jahrhunderts gehört Breslau im Kaiserreich neben Berlin und Frankfurt/Main zu den Städten mit dem höchsten Bevölkerungsanteil an Juden. In dieser nicht zum preußischen Kerngebiet zählenden Stadt blickt ein beträchtlicher Teil der Intelligenz weit weniger mit Stolz auf Berlin als militärische und kulturelle Metropole, sondern distanziert sich eher angstvoll von den vielen Gewalttätigkeiten des Kaiserreiches besonders gegenüber den Polen. Stattdessen vertiefen sich Breslauer jüdische Intellektuelle voller Engagement in die Sprache und Kultur Frankreichs. Und am Ende des 20. Jahrhunderts zieht noch immer ein Großteil der polnischen Intellektuellen das Französische dezidiert dem Deutschen vor. In diese teilweise frankophone und demonstrativ frankophile östliche Intellektuellenkultur ist Elias bereits als Schüler hineingewachsen. Als er mich im Jahr 1990 zufällig fragt, womit ich mich gerade beschäftige, und ich ihm sage: mit der Geschichte der polnischen Nation, antwortet er spontan mit den berühmten Anfangsversen der polnischen Nationalhymne, die mit dem Satz beginnen: „Noch ist Polen nicht verloren!“ Doch ganz selbstverständlich sagt er sie auf Polnisch, das ich ihn zuvor noch nie habe sprechen hören. 270
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschiebt sich seine Perspektive gegenüber den „Deutschen“ nur scheinbar. Die 1969 in Bern erscheinende Auflage vom „Zivilisationsbuch“ widmet er dem Andenken seiner Eltern mit dem Zusatz für seine Mutter: „gest. in Auschwitz (?)“. Nun haben nahezu sämtliche Beiträge, die zu verschiedensten Gelegenheiten „über die Deutschen“ handeln, mit Gewalt und Töten zu tun. Beharrlich stellt er seit Anfang der sechziger Jahre Fragen in dieser Richtung. Aus Anlaß des Prozesses gegen Adolf Eichmann sucht er die Frage zu beantworten, wie es „zum Zusammenbruch zivilisatorischer Zwänge“, zu den Massentötungen durch die SS und die Gestapo hat kommen können. Er untersucht die Stilisierung des Gebrauchs physischer Gewalt in den deutschen Oberschichten des Wilhelminischen Kaiserreiches; das „Duellieren“. Er erwähnt mit keinem Wort seine eigenen Leiden als Soldat von 1915 bis 1918 im Schützengraben in Frankreich. Doch er wundert sich voller Distanz über „die kriegsbejahende Literatur“ in der Weimarer Republik. Er konzentriert sich auf das „Staatsmonopol der körperlichen Gewalt und seine Durchbrechungen“ in den Zwanziger Jahren, besonders auf die nach 1918 im Osten des Reiches agierenden gewalttätigen „Freikorps“, in denen ehemalige Offiziere und viele Studenten mitwirkten. Er sieht sie als Vorläufer der Terroristen vom Typ der Baader-Meinhof-Gruppe in der Bundesrepublik seit den siebziger Jahren. Elias spricht stets mit Wärme über die Deutschen. Er ist zutiefst an ihren nationalen Problemen engagiert, aber doch zugleich extrem distanziert. Dadurch thematisiert er fortwährend Fragen, die in den Nachbarstaaten Deutschlands ganz selbstverständlich als Zentralprobleme der deutschen Gesellschaft erkannt werden, die aber in jenem nationalen Selbstbild kaum vorkommen, das die große Mehrheit beispielsweise der deutschen Sozial- und Geschichtsforscher zeichnen. Vergleichen wir nur einmal die beiden modernsten und liberalsten Gesamtdarstellungen namhafter Historiker. In der einen, H.-U. Wehlers „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“ wird seit 1988 vor allem der wirtschaftlich-technische Aufstieg Deutschlands dargestellt. In der anderen, Th. Nipperdeys „Deutsche Geschichte“ (seit 1983) gerät die kulturell-wissenschaftliche Entwicklung in den Vordergrund; nach über 1700 Seiten Text sind Fragen von Militär und Gewalt noch nicht vorgekommen. Den bei deutschen Historikern immer noch verbreiteten Theoremen von einem historischen „Sonderweg“ der Deutschen –, zuerst im 19. Jahrhundert hinsichtlich der Industrialisierung und dann im zwanzigsten im Hinblick auf die Ausbrüche von Barbarei, ist Elias nicht gefolgt. Aber es wird nun leichter verständlich, warum viele der Arbeiten von Elias durch Fachwelt und Publikum außerhalb Deutschlands oft früher und intensiver rezipiert worden sind. In Holland zum Beispiel beginnt die Rezeption früher, in Frankreich ist sie stürmischer. In beiden Gesellschaften vermögen sich die Menschen in den Zivilisierungstheoremen weit besser selbst wiederzuerkennen. Das 271
Bild, das Elias von den Deutschen zeichnet, kommt dem Bild, das etwa Franzosen oder Holländer von Deutschen haben, weit näher als die großen idealisierten Selbstdarstellungen anderer deutscher Autoren. Und so werden es auch Italiener sehen. Das öffentliche Problembewußtsein für die Zentralfrage Elias nach den seelisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Gewaltzähmung ist außerhalb Deutschlands an vielen Orten weit höher. Und nachdem die sozialwissenschaftliche Intelligenz Rußlands und ganz Ostmitteleuropas ihre lange Isolation gegenüber Westeuropa erfolgreich zu durchbrechen vermögen, setzt auch dort eine breitere Rezeption der Eliasschen Zivilisierungstheorie ein (vgl. etwa Engler 1991b). 2.
Engagierte Distanzierung – zur historischen Soziologie des Begriffebildens
Der „homo sociologicus“ verkörpert derartige Schrumpf- oder Partialbilder des Menschen. Und die Polemik richtet sich erst recht gegen theoretische Strömungen in der Soziologie, die den „Menschen“ als Bezugsgröße ihrer Modellbildung überhaupt abgeschafft wissen möchten. Von den „strukturell-funktionalen“ Theorien sind hier als bisher radikalste Form die „Systemtheorien“ des frühen ParsonsSchülers Niklas Luhmann zu nennen. Für ihn gibt es darüber hinaus auch keine „sozialen Tatsachen“ mehr; er lehnt den Begriff der wissenschaftlichen „Tatsache“ selbst ab. Denn er übernimmt manches vom Denkmodell der „radikalen Konstruktivisten“ aus der Physik; es gibt nie Tatsachen, immer nur Deutungen. Man kann sich keinen größeren Gegensatz zur Eliasschen Wissenstheorie vorstellen als solche architektonischen Imponierbauten philosophischer Gelehrsamkeit. „Alles nur Ausgedachtes!“ bemerkt Elias öfter; und das gesamte Werk und das lange Arbeitsleben von Elias verkörpern eine bestimmte Erkenntnishaltung, die sich auf lange Sicht vielleicht als sein wirksamster Beitrag zu den Sozialwissenschaften herausstellt. Biographisch ist sie repräsentiert durch die relativ große geistige Unabhängigkeit, die er sich zeitlebens zu erhalten weiß. Forschungspraktisch – und das steht hier im Vordergrund – äußert sie sich in seiner allgemeinverständlichen Sprache, die niemanden zu verletzen trachtet, sowie in seiner originellen Technik des Begriffebildens. Zuerst ist sie noch in ihren Herkunftsteilen erkennbar und relativ unbewußt verwendet. In „Über den Prozeß der Zivilisation“ zum Beispiel beginnt er noch mit langen begriffsgeschichtlichen Untersuchungen. Dann folgen Teile, in denen die Herkunft seiner Sprache unschwer auf Alfred und Max Weber, auf Karl Marx oder Sigmund Freud zurückzuführen ist; und dann finden wir – vor allem im zweiten Band – lange Passagen, die sich eher der Sprache der Geschichtswissenschaft bedienen. Im Schlußteil jedoch, dem „Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation“, ist bereits die Synthese dieser Ansätze vollzogen. Später kommentiert er seine 272
Begriffebildungstechniken an vielen verstreuten Stellen, wie es seiner „empirischtheoretisch“ vorgehenden Methode des Erkennens entspricht. Zusammenfassungen davon finden sich in „Was ist Soziologie?“ Zu seinen hauptsächlichen Denkwerkzeugen, wie er sagt, zählt eine originelle permanente Begriffesoziologie. Eigentlich müßte man genauer formulieren, eine kontinuierlich auch psychoanalytisch vorgehende Begriffesoziologie. Das heißt beispielsweise, er vermeidet nach Möglichkeit alle Konnotationen in Begriffen, die andere Menschen verletzen könnten. Diesen Zug seines Begriffebildens habe ich seine Strategie des Begriffevermeidens genannt. Zum Beispiel vermeidet er jedes nominalistische Bilden von Begriffen, wie es im 20. Jahrhundert etwa durch Max Weber oder Talcott Parsons zu grotesker Vollendung entwickelt worden ist. Seine Begriffe bezieht er auf Menschen, wie er zu sagen nicht müde wird. Das heißt beispielsweise immer, wenn er bestimmte Gruppen von Menschen benennt, erwähnt er stets auch die Benennung, die diese in ihrem Selbstbild bevorzugen. Spricht er etwa über den „Adel“, nennt er auch die im kollektiven Selbstbild positiver bewertete Bezeichnung „Aristokratie“. Genereller gesprochen, das Verhältnis, das Menschen zu sich selbst entwickeln, geht stets in seine Begriffsbildung mit ein. Gerade, wenn gesellschaftliche Ungleichheit eine nahezu universale Erscheinung ist, erhält die Frage, wie etwa die machtschwächeren Menschen sich selbst sehen und wie solche kollektiven Selbstbilder auch in die soziologische Begriffsbildung eingehen, eine zentrale Bedeutung. Mit einer Soziologie, die auf Menschen bezogene Begriffe bevorzugt, hat Elias Texte verfaßt, die beim breiten akademischen Publikum in anderen Wissenschaftsdisziplinen gut verstanden worden sind. Bei vielen Sozialwissenschaftlern jedoch, die auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts noch ganz im Banne philosophischer Wissenschaftslehren stehen, ruft er Widerspruch hervor. Sein Ausdruck „auf Menschen bezogene Begriffe“ richtet sich – wie stets immanent polemisch gemeint – etwa gegen die dominante analytische Wissenschaftslehre; dort werden Wissenschaftsmodelle entworfen, die sich allein auf formale Logik und kognitive Lernprozesse gründen. Sie verwerfen die menschlichen Gefühle als Störung ihres Erkenntnisprozesses, während gleichzeitig doch jeder Lehrer weiß, wie sehr die Rücksichtnahme auf die Emotionen des Lernenden den Lernerfolg bestimmt. Elias fordert deshalb gerade das persönliche Engagement des Sozialforschers. Und er selbst ist stets ein Meister der Empathie, der Einfühlung in die Lage anderer Menschen. Der Ausdruck richtet sich aber auch gegen den Gebrauch mechanistischer Modelle in der Soziologie, wie sie zum Beispiel in den physikalistischen Erkenntnismodellen (K. Popper) oder den systemtheoretischen (etwa von N. Luhmann) angeboten werden. Und er richtet sich etwa auch gegen eine Sozialphilosophie, die sich vor allem sprachanalytisch auf ideale normative Modellannahmen stützt. 273
Seine eigene Erkenntnishaltung hat Elias wiederholt dargestellt, wenn auch in der ihm eigentümlichen äußersten Distanzierung. An die Stelle der überholten Philosophien des Erkennens hat er eine Soziologie des Erkennens gesetzt. Wenn alles soziale Geschehen prozessual verläuft, haben auch die Erkenntnis- und Denkwerkzeuge der Soziologen diese dauernden Wandlungen zu repräsentieren. Daher bevorzugt er Prozeßbegriffe. Ähnlich ist aus der alten erkenntnisphilosophischen Vorstellung, Denkmodelle könnten sich stets nur auf den sozial isolierten einzelnen Menschen beziehen, ein soziologisches Denk- und Lernmodell geworden. Dem philosophischen Denkmodell des stets allein und sozial isoliert Denkenden, dem Modell des „homo clausus“, setzt er das der „homines aperti“ entgegen; dargestellt hauptsächlich in „Was ist Soziologie?“ und ausführlicher in „Die Gesellschaft der Individuen“. Er macht so wie nebenbei auch einen originellen soziologischen Lösungsvorschlag für das, was in der Marxschen Tradition die Konstitutionsproblematik genannt worden ist. Elias zeigt das anhand seines FürwörterModells. Menschen mögen sich mehr mit dem „Wir“ oder mehr mit dem „Ich“ identifizieren; die Grenzziehung zwischen „Wir“ und „Ich“ mag verschieden sein. Die „Ich-Wir-Balance“ kann sich verschieben. Doch ein „wirloses Ich“ gibt es nicht. „Das Modell der Fürwörterserie erleichtert vielleicht das Verständnis dafür, daß sich auf längere Sicht die wissenschaftliche Untersuchung von Menschen im Singular und von Menschen im Plural zwar unterscheiden, aber nicht trennen läßt – ebensowenig wie sich Menschen im Singular und Menschen im Plural trennen lassen“, heißt es zum Beispiel in „Was ist Soziologie?“ (Elias 1970a: 136). Die durchweg vielperspektivische Eliassche Begriffsbildung versucht die Tatsache zu berücksichtigen, daß in der sozialen Wirklichkeit von einem einzelnen wie von einer Gruppe von Menschen niemals nur ein Bild, ein Begriff besteht, sondern daß wir realitätsgerechte Vorstellungen etwa von deren wechselseitiger Verflechtung nur erhalten, wenn wir immer Fremd- und Selbstbilder der Beteiligten mit einbeziehen. Die Eliassche Erkenntnishaltung beruht im Kern auf einer Fortentwicklung der Marx-Mannheimschen „Soziologie des Wissens“ und der Wissenschaften zu einer Soziologie des Erkennens. Von Karl Mannheim (1893-1947) übernimmt Elias weit mehr, als er in seinen Schriften ausdrücklich sichtbar macht. Er ist mit dem vier Jahre älteren Kollegen seit der Heidelberger Zeit über etwa zehn Jahre hinweg eng befreundet, arbeitet in Frankfurt am Main rund drei Jahre als sein Assistent und begleitet ihn nach London. Elias distanziert sich mit Nachdruck an vielen Stellen seines Werkes von den politischen Konzepten „gesellschaftlicher Planung“, wie sie der späte K. Mannheim entworfen hat. Aber er arbeitet von zwei wesentlichen Ergebnissen Mannheims aus weiter, von dessen „Erkenntnisposition“ und von dessen Einsicht in die „Verkettung von Generationen“. 274
Die Eliassche Erkenntnishaltung operiert niemals mit dem Mannheimschen Modell der „freischwebenden Intelligenz“. Elias hat das lange und intensive parteipolitische Engagement Mannheims in Deutschland und in England stets abgelehnt und gegen Ende seines Lebens in seinen „Notizen zum Lebenslauf“ (Gleichmann et.al. 1984) dazu auch kurz Stellung genommen. Aber nie hat er das Engagement des Sozialforschers an den zu untersuchenden Menschen abgelehnt. Er hat es im Gegenteil stets gefordert und in seine Erkenntnishaltung integriert. Dargestellt hat er dies in seinen „Arbeiten zur Wissensoziologie“, vor allem in „Engagement und Distanzierung“. Und auch für das Distanznehmen, die notwendige soziale Distanzierung des Sozialforschers gegenüber den zu untersuchenden Menschen, findet er eine andere, eine relationale Lösung. Was bei Max Weber noch in das schroffe Postulat mündet, idealiter zu unterscheiden zwischen der „Objektivität sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“ und den kulturellen Werthaltungen und bei Karl Mannheim zu utopischen Vorstellungen führt, die erkennende Intelligenz könne ihre Unabhängigkeit sozusagen „freischwebend“ entfernt vom sozialen Kampf erhalten, wird bei Elias zu einer Strategie der affektiven Distanzierung. Psychoanalytische Kenntnisse S. Freuds, doch auch eigene mehrjährige praktische Erfahrungen als Gruppentherapeut haben ihn das gelehrt. „Involved detachment“, „engagierte Distanzierung“, das ist die treffendste und kürzeste Benennung der Eliasschen Erkenntnishaltung. Der englische Wissens- und Wissenschaftssoziologe Richard Kilminster hat sie ausführlicher dargelegt. Zwei scheinbar einander widersprechende Haltungen des Humanforschers, des „Menschenwissenschaftlers“, werden vereint: Die einfühlende Teilnahme an den sozialen und seelischen Problemen anderer und die eigene Fähigkeit, sich affektiv selbst ganz zurückzunehmen. Diese Lehre widerspricht sehr bewußt den vorherrschenden modelltheoretischen Auffassungen etwa von „Objektivität“ in den einzelnen humanwissenschaftlichen Disziplinen, zum Beispiel der Psychologie, der Wirtschaftslehre oder der Soziologie; denn dort sind zum großen Teil immer noch physikalistische Denkmodelle wirksam. Elias hat diese Auseinandersetzung exemplarisch geführt in seiner Machtstudie über die Physiker. Er nennt sie „Scientific Establishments“. Aber seine Lehre widerspricht keineswegs denjenigen psycho-sozialen Haltungen, die von allen Berufsgruppen seit Generationen entwickelt worden sind, die im wissenschaftlich angeleiteten Betrieb regelmäßig mit lebenden Menschen umgehen. Für Ärzte, Psychiater, Psychotherapeuten, Krankenschwestern etwa ist sie ein Berufserfordernis. Mit dem wissenschaftlichen „Wissen“ geht Elias praktisch und theoretisch anders als die meisten sozialwissenschaftlichen Theoretiker um. Und die Diskrepanzen zwischen seinen theoretischen Postulaten und seinem eigenen Verhalten sind weit geringer als bei vielen anderen Sozialforschern. Er erkennt, daß jedes Wissen zu einer menschlichen Machtquelle werden kann, sobald Menschen dieses 275
anderen Menschen vorenthalten können. In seiner Machttheorie, die sein gesamtes Werk durchzieht, räumt er den menschlichen Machtchancen aufgrund von „Wissen“ deshalb einen Vorrang ein. Im Kern ist diese Machttheorie vor allem dargelegt in der „Höfischen Gesellschaft“ und in der Studie über „Etablierte und Außenseiter“. Erworbenes Wissen verleiht seinen Trägern Machtchancen. Das gilt auch für alle Wissenschaftler. Doch im Unterschied zu vielen sozialwissenschaftlichen Forschern distanziert er sich auch hier stärker im Gebrauch dieses Wissens, erwirbt damit keinerlei Organisationsmacht, definiert sich immer wieder als einen „Außenseiter“. Dennoch verwendet er sein Wissen nicht sogleich im politischen Kampf, worin etwa Marx ein Vorbild geworden ist. Er erhofft sich auch nicht, indem er erhellende politische Reden hielte, eine einflußreiche Stelle als Politiker wie es beispielsweise Max Weber vorschwebte; und er gibt politischen Führern auch keine Ratschläge. Nicht einmal in seinem engsten sozialen Umkreis versucht er etwa seine Schüler zu organisieren oder sich mit ihnen öffentlich zu streiten, wie es für S. Freuds soziale Etablierung charakteristisch ist. Als er am Ende seines achten und während seines neunten Lebensjahrzehnts in Europa eine öffentliche Figur geworden ist, auf die sich die lokalen wie die nationalen Massenmedien mit Interviewerfragen stürzen, sieht er sich nicht ein einziges Mal etwa als ein „Praeceptor Europae“ oder gar „Germaniae“; sondern er beantwortet geduldig und gelassen jede nur erdenkliche ihm gestellte Frage. Und diese redlich-distanzierte Haltung, die sich so offen vom Verhalten der gelehrten Lieblinge der Massenmedien unterscheidet, fasziniert das Publikum am meisten. Ständig entwirft und verwendet Elias eine polemische Begriffsbildung; das nimmt jeder kundige Hörer oder Leser wahr. Zum Beispiel verwendet er so das Wort „Mensch“. Lassen wir einmal die Tatsache beiseite, daß der breite Bedeutungsraum dieses Wortes zwar auch ähnlich im Jiddischen vorkommt, aber doch in vielen anderen Sprachen tendenziell eher enger ist als im Deutschen. Die Polemik von Elias richtet sich – auch hier im Unterschied zu üblichen wissenschaftlichen Diskursbräuchen, nie gegen Personen und immer gegen bestimmte Theoreme, Theorien oder deren Trägergruppen. Das Wort „Mensch“ verwendet er polemisch gegen diejenigen disziplinären Teilwissenschaften vom Menschen, deren Menschenbild meist allein aus professionellen Interessen der Forschergruppen selbst zu einem Teilbild des Menschen geschrumpft ist. Aber viele Neuwörter in der Eliasschen Sprache, Neologismen, sind nicht bloß polemisch gemeint, sondern signalisieren meistens auch eine bestimmte wissenschaftliche Syntheseleistung; so hat er das Wissen verschiedener Denkmodelle oder auch das mehrerer akademischer Disziplinen zusammengefügt. Sein „Menschen“modell im „Zivilisationsprozeß“ vereint beispielsweise Kenntnisse aus den Geschichtswissenschaften, der Psychoanalyse und der Soziologie. Die oft polemisch erscheinenden Begriffe von Elias sind selbst meist Synthesebegriffe. Und das 276
ist fast immer im zweifachen Sinne gemeint. Sie sind selbst geistiges Ergebnis synthetisierenden Denkens. Und sie sind oft zugleich heuristisches Instrument zum Erkunden des sozialen Geschehens. Elias erfindet im Zuge seiner Staatenbildungsmodelle zum Beispiel den Begriff „Staatsgesellschaften“. Dieser Begriff wird vor ihm nicht verwendet. Seine immanente Polemik richtet sich vor allem gegen diejenigen Denker in Deutschland, die die Begriffe „Staat“ und „Gesellschaft“ stets nur separat verwenden – so als seien es auch wirklich zwei getrennte soziale Entitäten. Und hier kommt eine wesentliche Komponente des Eliasschen Begriffeund Theorienbildens hinzu. Nie formuliert er etwa Begriffe aus irgendeiner systemeigenen Denklogik heraus. Stets orientiert er seine begrifflichen Einsichten abwechselnd „theoretisch“ und „empirisch“. Dieses Vorgehen bricht mit vielen Postulaten der ganzen philosophischen Wissenschaftslehren. Elias gelangt also nie zu irgendwelchen ideal oder harmonisch abgeschlossenen „Theorien“ –, in keinem seiner Werke. Doch er sieht sich selbst stattdessen in einer langen Generationenkette an der Weiterarbeit an einer sozialwissenschaftlichen „Zentraltheorie“ wirken, wie er in den wissenschaftssoziologischen Aufsätzen darlegt. Aber wie sieht das Verhältnis von „Staat“ und „Gesellschaft“ in Deutschland aus? Sicher sind beide bereits im 19. Jahrhundert viel enger verbunden, durchdringen sich komplexer als in den meisten anderen Staaten Europas. Doch die hauptsächlich mit dem Beschaffen staatlichen Legitimationswissens befaßten „Staatsrechtswissenschaftler“, aber auch zum Beispiel die meisten Historiker thematisieren allein diesen „Staat“. Und erst recht sind im 20. Jahrhundert mit der sozialen Etablierung des modernen deutschen „Sozialstaates“ beide zu einer Einheit verschmolzen. Der synthetische Begriff „Staatsgesellschaft“ von Elias sucht die Realsynthese begrifflich zu fassen und appelliert zugleich an Sozialforscher, auch in ihren Denkmodellen solch eine Synthese begrifflich zu vollziehen. Und derartige Synthesebegriffe formuliert Elias an vielen Stellen seines Werkes –, oft ziemlich unabhängig davon, ob sich die eigentlich befugten akademischen Fachdisziplinen diesen Gegenständen auch stellen. Die Ergebnisse vieler Eliasscher Synthesen haben oft auch einen Appellcharakter gegenüber anderen Forschergruppen, die gesellschaftlichen Wirklichkeiten auf dem erreichten Synthesenniveau empirisch zu prüfen. Erkennbar befindet sich die engagiert-distanzierte Erkenntnishaltung von Elias im Konflikt mit Tendenzen, wie sie gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den Sozialwissenschaften vorherrschen: Auf der einen Seite wird immer wieder ein nahezu totales Engagement der Forscher an ihren menschlichen Untersuchungsgegenständen gefordert. Das gilt zum Beispiel für viele Forderungen, sich mit einer bestimmten Gruppe gleicher Merkmale oder ähnlicher Interessen vollständig zu identifizieren. Auf der anderen Seite dominieren formal „objektivistische“ Verfah277
ren. Sie verlangen von den Sozialforschern eine ähnliche Haltung gegenüber Menschen, wie sie Physiker gegenüber der unbelebten zu untersuchenden Materie entwickelt haben. Elias hat in seinen methodologischen Vorschlägen und vor allem in seinem praktischen Verhalten als Forscher einen anderen Weg eingeschlagen. Das Verfahren der engagierten Distanzierung rechnet mit den Gefühlsbalancen der untersuchten Menschen; es thematisiert aber zur gleichen Zeit auch die Wandlungen im Affekthaushalt der Forscher. Im Unterschied zu den vorherrschenden erkenntnisphilosophischen Menschenmodellen (mit dem „homo-clausus“-Typ) werden die wechselseitigen Wahrnehmungsmöglichkeiten, besonders die gegenseitigen Gefühle in diesem Modell der „homines aperti“ zu einer Voraussetzung einer soziologischen Methodologie und Wissenstheorie. Je besser die „Menschenwissenschaftler“ ihre Gefühle zu kontrollieren vermögen, umso realitätsgerechter kann ihr Wissen werden. Begriffsbildung und Entwicklung der Wissenschaften im ganzen stellen symbolische Repräsentationen dar, mit deren Hilfe menschliches Wissen über naturale wie über soziale Prozesse wirklichkeitsgerechter abgebildet werden kann. Die Eliassche Wissens- und Wissenschaftstheorie ist im Kern eine „Symboltheorie“. 3.
Worin bestehen die eigentlichen Neuerungen von Elias für die Sozialwissenschaftler?
In einem der vielen Interviews, die Elias bis in die letzten Wochen seines Lebens den Medien gegeben hat, beginnt im Jahre 1989 ein Interviewer seine Frage an Elias: „Ihr Hauptwerk ‘Über den Prozeß der Zivilisation’ (...)“ Elias (unterbricht ihn): „Verzeihen Sie, ich meine nicht, daß das mein Hauptwerk ist, ich habe eine Reihe von Forschungen veröffentlicht. Welche Wertung diesen Werken später einmal gegeben wird, kann ich nicht voraussehen. Der Zivilisationsprozeß ist nur eine Strähne in einem umfassenderen Werk. (...) Ich habe in meinen Arbeiten viel Neues gesagt. Ich bin mir dessen bewußt, daß wirkliche Innovationen nur langsam rezipiert werden können. Aber es macht mir Freude, daß die Rezeption meines Werkes langsam einzusetzen scheint. Ich halte meine kleine Arbeit über Symbole, die erst dieses Jahr erschienen ist, für ebenso wichtig wie meine Zivilisationstheorie“ (Elias 1991b) (Hervorh. d. Verf.). Worin sehen wir die Neuerungen? Sicher hat Elias ein Beispiel eines zivilisatorischen Prozesses untersucht; besser vielleicht, er hat am Beispiel der Machteliten, der „weltlichen Oberschichten des Abendlandes“ ein Modell zum besseren Verständnis von Zivilisationsprozessen geformt. Der Text dieses Werkes entsteht vom Ende der zwanziger bis zum Ende der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. In einer Phase von mehr als fünfzig Jahren danach hat dieses „Modell“ weltweite 278
Diskurse in vielen Sprachen der Erde ausgelöst. Aber es ist auch wichtig festzustellen, daß eine analoge „Anwendung“ des Modells auf beispielsweise andere „soziale Schichten“ oder andere menschliche Kulturkreise (vgl. für einen ersten umfassenden Versuch in dieser Richtung Kürûat-Ahlers 1994; 2003) bisher fast nicht zu bemerken ist. Noch weniger ist ein durchaus denkbarer Gegenentwurf vorgelegt worden. Darin offenbart sich wohl vor allem auch die intellektuelle Einzigartigkeit der Eliasschen Syntheseleistung. Jedenfalls haben sich die historischsozialwissenschaftlichen weltweiten Diskurse über das „Modell“ in viele nationalsprachliche Diskurse aufgelöst. Zum Vergleich, das Werk Max Webers (1864-1920) ist dreiundzwanzig Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes des Marxschen Kapitals beendet. Und eine andere, stärker historiographisch wirtschafts- und sozialgeschichtliche Entwicklungssträhne ist bereits fünfundzwanzig Jahre später zum ersten Mal formuliert, Werner Sombarts (1863-1941) „Moderner Kapitalismus“ (Brocke 1987). Die Eliassche Theorie symbolischer Prozesse liegt im Jahre 1991 zum ersten Mal in Form eines Buches vor. In der Einleitung des Herausgebers wird zutreffend darauf hingewiesen (Elias 1991b: XIII), Elias „regarded The Symbol Theory as linked with the cluster of his writings on the sociology of knowledge, including Über die Zeit (1984a), the collection Involvement and Detachment (1987) and various other articles in this area from the 1970s and 1980s (...) In particular the fragments ‘Reflections on the Great Evolution’ (...) and the article ‘On Human Beings and their Emotions: A Process-Sociological Essay’ (1987) connect closely with this book. In a very radical programme, Elias establishes the sociology of knowledge in this group of writings as the historical inheritor of the problems of epistemology and ontology of the superseded traditional philosophy of knowledge, which was dominated by a highly individualistic conception of the knowing subject. – He also developed a sociological model of the sciences of a kind what would today be called a realist one, although without the transcendental, philosophical inspiration of much of the current work in this field (...)“. Die Rezeptionschancen für die Symboltheorie sind in den einzelnen nationalen Intellektuellensprachen sehr unterschiedlich. Vielleicht sind sie nicht zufällig am Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts in England günstiger, weil sich dort eine breite soziologische Debatte über die Theorienbildung erst jetzt vergleichsweise sehr spät akademisch etabliert. In Holland, wo die Eliassche Zivilisationstheorie in der breiten Öffentlichkeit und in der Soziologie vielleicht am weitesten rezipiert ist, befaßt man sich mit seiner Wissenssoziologie praktisch gar nicht. „This neglect is,“ kommentiert der englische Herausgeber der „Symbol Theory“ (Elias 1991b: XXII). „out of proportion to the importance Elias obviousloy attached to this field in his overall output.“ Es hat unmittelbar mit der Verfassung der niederländischen Gesellschaft zu tun. Sie ist – gemessen an ihrem relativ gerin279
gen Ausmaß innergesellschaftlicher Gewalttätigkeit „zivilisierter“ als ihre östlichen Nachbarn. Aber sie bevorzugt noch immer Auseinandersetzungen über das richtige Bekenntnis oder die bessere Moral gegenüber den öffentlichen Diskursen über gesichertes „Wissen“: denn dies setzte die Existenz einer gegenüber tradierten Glaubenshaltungen sozial distanzierteren größeren Gruppe von Menschen voraus, einer Schicht oder Klasse von Intellektuellen, wie solche Menschengruppen gegen Ende des 20. Jahrhunderts in den meisten europäischen Staaten genannt werden (vgl. Kap. II.3.). In Deutschland vollzieht sich die Aufnahme der beiden Haupttheoreme eher umgekehrt. Das Zivilisierungstheorem wird zögerlicher rezipiert; deutlich ist das innergesellschaftliche Gewaltniveau hier seit Generationen viel höher. Aber in den vielen höfischen und universitären Zentren beginnt sich bereits ab dem 18. Jahrhundert eine Intellektuellenschicht zu etablieren, die sich im 19. Jahrhundert stärker von überkommenen Glaubensvorstellungen zu distanzieren vermag. So kommt es hier früher zur Ausbildung der eigentlichen Wissensoziologie des MarxMannheimschen Typs. Diesem Umfeld entstammt die Eliassche Symboltheorie. Aber nicht nur deren Entstehung setzt die Fähigkeit zu ausgreifendem Denken in Zeit und Raum voraus. Auch sie zu rezipieren erfordert, bereit zu sein, lange Zeiträume zu überblicken und enge akademische Fächergrenzen zu überwinden. Elias verlangt diese Bereitschaft zur Wissenssynthese immer wieder in seiner „Symbol Theory“ (Elias 1991b: 18). Er hat „akademische“ Denkbarrieren und universitäre Fächerrivalitäten auch öfter schmerzlich erfahren. Ich erinnere mich an eine denkwürdige Situation im Jahre 1979, als er zum ersten Mal sein „Essay on Time“ auszugsweise in Deutschland vorträgt. Eine Reihe von Geschichtsforschern der Bielefelder historischen Fakultät ist unter dem Vorsitz von Reinhart Koselleck im „Zentrum für interdisziplinäre Forschung“ versammelt. Nach einem ungefähr einstündigen Vortrag kommen einige irritiert-zögernde Fragen. Ein Neuzeitler erwähnt russische Sprichwörter über die Zeit. Ein Literaturhistoriker erörtert metaphorische Begriffe der Todes- und Glückserfahrung. Ein Althistoriker äußert sich zu Einzelheiten des Julianischen Kalenders. Kein Satz fällt auf der Sprach- und Begriffsebene des Vortragenden oder zu dessen explizierter Prozeßtheorie. Eine historisch-wissenssoziologische Theorie sozialer Prozesse verbindet die eigentlichen beiden Neuerungen, Zivilisierungstheoreme und Symboltheorie. Im Kern erkennt Elias in den Vorstellungen und in dem Wortgebrauch von der „Abstraktion“ einen Prozeß des Synthesenbildens. Bestimmte heterogene Ereignisse werden allmählich als zusammengehörig erkannt. Der erkannte Zusammenhang wird in neue Begriffe gefaßt. Ein nun weiterreichendes Wissens- und Synthesenniveau ist erreicht. In „Über die Zeit“ (Elias 1984a: 11f.) heißt es dazu: „Das Wort ‘Zeit’, so könnte man sagen, ist ein Symbol für eine Beziehung, die eine Menschengruppe, also eine Gruppe von Lebewesen mit der biologisch gegebenen Fähigkeit 280
zur Erinnerung und zur Synthese, zwischen zwei oder mehreren Geschehensabläufen herstellt, von denen sie einen als Bezugsrahmen oder Maßstab für die anderen standardisiert.“ Als Geschehensablauf, als sozial standardisiertes Wandlungskontinuum dienen verschiedenste naturale oder soziale Ereignisabläufe. Auch Uhren sind nichts anderes als menschengeschaffene physikalische Wandlungskontinuen, die in bestimmten Gesellschaften als Maßstab für andere Wandlungskontinuen standardisiert werden. „Verschiedene Geschehensabläufe miteinander als ‘Zeit’ in Beziehung zu setzen, bedeutet also eine Verknüpfung zwischen mindestens drei Kontinuen: zwischen Menschen, die verknüpfen, und zwei oder mehreren Wandlungskontinuen, von denen eines in einer bestimmten Menschengruppe jeweils die Funktion eines Standardkontinuums, eines Bezugsrahmens für das andere erhält.“ Hilfreich für das Verständnis des Begriffs „Wandlungskontinuum“ ist ein Kommentar, den Elias mir zusammen mit der ersten Fassung von „Essay on Time“ in einem Brief vom 4.5.1979 mitgeteilt hat: „Am meisten Mühe hat mir das Begriffsbild gemacht – oder vielleicht sollte ich sagen: die nach einem Begriff verlangenden Beziehungen – die ich dann als ‘change continua’ verbegrifflicht habe. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als ob es genügt hätte, Zeit zu erklären als Aspekt einer Beziehung zwischen zwei oder mehr Bewegungen. Aber das ist nicht einmal genug für Zeitmessungen rein physikalischer Geschehensabläufe. Zeitbestimmungen gesellschaftlicher Prozesse beziehen sich auf Vorher – Nachherbeziehungen wie die Serie der Regierungszeiten von Fürsten oder auf wiederkehrende Schulstunden, und solche gesellschaftlichen Abläufe kann man nicht eigentlich als ‘Bewegungen’ charakterisieren. Ich brauchte also einen Begriff auf einer höheren Stufe der Synthese, der sowohl Nacheinander als Gleichzeitigkeit physikalischer Bewegungen wie Nacheinander oder Gleichzeitigkeit gesellschaftlicher Prozesse umfaßt. ‘Change-continuum’ mag nicht besonders schön klingen, aber es erfüllt die Aufgabe eines solchen umfassenderen Begriffs ziemlich unzweideutig.“ 4.
Elias-Bilder der Deutschen
Elias sieht die Deutschen mit äußerster Distanz, aber stets mit Wärme und Verbundenheit. Wie aber sehen die Deutschen Elias? Welches Bild machen sich einzelne Gruppen von ihm? Wenn wir das Entstehen dieser einzelnen Bilder als unterscheidbare, aber miteinander verbundene soziale Prozesse verstehen, können wir wenigstens vier soziale Wandlungskontinuen ausmachen. Einmal ist es sinnvoll, von Elias-Bildern der Deutschen nur auf dem Hintergrund seiner allmählichen Aufnahme in vielen anderen Ländern der Erde zu reden. Die frühe und freundliche Aufnahme besonders in den Niederlanden, der 281
Schweiz und in England durch Schriftsteller oder Psychoanalytiker hat Johan Goudsblom (1979; 1984) in den beiden „Materialien“bänden treffend dargestellt. Ende der siebziger Jahre wird er dann freundlich und „stürmisch“ in Paris aufgenommen, wenig später enthusiastisch und mit Preisverleihungen in Italien. Die Richtung dieses Prozesses ist jedenfalls deutlich zu erkennen. Die freundliche Aufnahme in die größeren Sprachen der Welt schreitet voran. Je ferner sie dem Deutschen kulturell und sozial stehen, umso mehr verschwimmt das Bild, das Menschen sich dort von Elias machen. Ganz anders verläuft dieser Prozeß bei den Intellektuellen des mittleren Osteuropas, nachdem die kommunikativen Mauern verschwinden. Ein deutscher Autor mit einer frankophilen geschichtlichen Orientierung findet dort große Resonanz. Zum zweiten ist das freundliche Bild, das die Deutschen sich machen, wesentlich von Journalisten und Verlegern verstärkt worden. Und es hat natürlich auch mit einem Generationenproblem zu tun. In den siebziger Jahren sind es vor allem jüngere Leute, Menschen, die weniger in den nationalsozialistischen Staat involviert gewesen sind, welche Elias lesen, ihn einladen, kennenlernen, schließlich verbreiten und ihn damit – meist ohne es zu wissen – direkt auch zu weiterer intellektueller Produktivität ermutigen. Wohl aus denselben Gründen setzt eine aktivfreundliche Rezeption in Österreich um so viele Jahre später ein, unterstützt von einer noch einmal um ein Jahrzehnt jüngeren Generation. Vor und nach dem Krieg erscheinen die ersten beiden Drucke von „Über den Prozeß“ in der Schweiz. Der mutige Verleger der ersten Auflage von 1939, Fritz Karger, vermerkt über den zweiten Verleger (Gleichmann et.al. 1977) lapidar: „Auch der Leiter des Verlages Francke in Bern hatte sich persönlich dafür interessiert.“ Dann kommt Siegfried Unseld. Das Eliassche Werk gerät nun in eine ihm angemessene literarische Umgebung. Ganz zutreffend teilt eine verlagseigene Chronik die „Suhrkamp Verlagsgeschichte 1950-1990“, für das Jahr 1976 dazu (S. 112) mit: „Unerwartet in seinem Ausmaß zeigt sich der Erfolg und die breite Diskussion von Norbert Elias’ soziogenetischen und psychogenetischen Untersuchungen (...)“ Eine Zeitung wird zitiert, die beiden Bände seien „jetzt erst wirklich veröffentlicht.“ Und nicht zufällig wird dann an dieser Stelle – obwohl es doch erst im folgenden Jahr geschieht, auf die erste Preisverleihung verwiesen; „Am 20. Oktober 1977 erhält Norbert Elias in der Frankfurter Paulskirche als erster den von der Stadt Frankfurt gestifteten Theodor-W.-Adorno-Preis.“ (vgl. Gleichmann 1977b) Nun beginnt eine Aufmerksamkeitswelle die Medien zu erfassen. Das Bild von Elias erscheint jetzt fortwährend in Zeitungen und Zeitschriften, auf dem Bildschirm und in Verlagsanzeigen. Einzelne Journalistinnen und Journalisten spezialisieren sich geradezu auf seine Person oder auf Züge seines Werkes. Ich nenne hier nur Erich Böhme, den damaligen Chefredakteur des SPIEGEL, einem Nachrichtenmagazin mit einer wöchentlichen Millionenauflage, und Ulrich Grei282
ner, der Feuilletonchef der liberalen Wochenzeitung DIE ZEIT bezeichnet ihn (Greiner, U. am 10.08.1990) als „einen der größten Soziologen des Jahrhunderts“. Durch sein äußerst distanziertes und selbständiges Auftreten in den Medien hat Elias in seinem neunten Lebensjahrzehnt dort eine fast unangreifbare Achtung und Wertschätzung gefunden. Und wenn ihn einmal ein Journalist in einem Fernsehinterview wenig kompetent gefragt hat, findet sich selbst unter jenen, die ihm persönlich ferner stehen, sogleich jemand, der ihn voller Sympathie und Sachkenntnis am nächsten Tag verteidigt. Beispielsweise schreibt G. Seibt in einer Fernsehkritik in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 05.07.1990: „Es dürfte wenige Wissenschaftler geben, die so sehr als Zeugen des Jahrhunderts gelten können wie dieser Mann. Nur, man muß ihm auf seinem eigenen Terrain begegnen, dem Terrain der Theorie.“ Und er sieht dann, „daß Elias nicht der Mann für autobiographische Bekenntnisse ist und daß die Parallelisierung von Leben und Werk bei ihm nur wenig ergiebig ist. Es gibt Äußerungen von Elias – und er wiederholte sie in dem Gespräch (...) –, die ahnen lassen, daß Theorie diese Biographie vor dem Leben geradezu beschützt hat, daß die erstaunliche Stärke dieses fragilen Mannes gerade darin bestand, sich die Erfahrungen des Jahrhunderts so weit vom Leibe zu halten, daß sie ihm ein neutraler Gegenstand werden konnten.“ Die dritte Gruppe, die sich mit Elias befaßt, sich ein bestimmtes Bild von ihm macht, ist die größte. Sie ist auch die am wenigsten erforschte. Sie umfaßt Gelehrte aller derjenigen akademischen Fachgebiete, aus denen Elias im Laufe seines Arbeitslebens einzelne Teile übernommen hat oder mit denen er sich in bestimmten Abschnitten seines Werkes intensiver auseinandergesetzt hat. Das Wandlungskontinuum der sich hier formenden Elias-Bilder bewegt sich in einer klaren Richtung. Es sind im Laufe seines Arbeitslebens immer mehr Fachdisziplinen von ihm angetan. Nur an wenigen Stellen kommt es zu Debatten, die zu Tendenzen der Ablehnung Eliasscher Theoreme führen. In der Skala von Disziplinen, mit denen ein besonders innovativer Austausch beginnt, stehen so verschiedene Fächer obenan wie beispielsweise Altgermanistik oder Soziologie des Sports; während wiederum recht etablierte Disziplinen wie die Philosophie oder die Geschichtswissenschaften, mit denen er sich sein Leben lang auseinandersetzt, kaum tiefere Spuren einer Aufnahme oder Kritik Eliasscher Theoreme erkennen lassen. Viertens rezipieren die Soziologen, die sich hauptsächlich mit der Theoriebildung befassen, Elias, wandeln ihr Bild von ihm langsam. Als sie von ihm näher Notiz nehmen, vor allem in seinem neunten Lebensjahrzehnt, bleiben sie wohlwollend-distanziert. Eigentlich reagieren sie erst, nachdem Journalisten sein Werk in den Medien diskutieren und verbreiten. Charakteristisch dafür ist eine Szene im Jahre 1982: Ich organisiere zum zweiten Mal für einen „Deutschen Soziologentag“ eine Reihe von Referenten, die sich mit der Zivilisationstheorie befassen. Dieser Soziologentag soll in Bamberg stattfinden vom 13.-16. Oktober. Elias will 283
diese Gruppe von Vorträgen einleiten. Einen Tag vorher ruft er mich an, um sich zu entschuldigen; er könne zu der vorgesehenen Zeit nicht sprechen; er sei leider soeben für denselben Termin zu einem theoretischen Diskussionsforum eingeladen; „Wissen Sie, die haben entdeckt, daß ich mich mit soziologischer Theorie befasse. Am Wochenende hat die Süddeutsche Zeitung den ‘Fischer im Mahlstrom’ abgedruckt“ (jetzt in „Engagement und Distanzierung“). – Das Forum findet dennoch ohne Elias statt. Unsere vorgesehene Sitzung wird verschoben an einen schwer auffindbaren Ort und in die Nacht. Sie ist später abgedruckt worden in den „Beiträgen der Sektions- und ad hoc-Gruppen“. Die Elias-Bilder dieser soziologischen Theoretiker wandeln sich allmählich. Ihr erklärter oder stummer Widerstand gegen das Eliassche Denkmodell soziologischen Theorienbildens richtet sich anfänglich, pointiert zusammengefaßt, vor allem gegen seine Verfahrensrichtung. Sie nehmen ihre Erkenntnisgegenstände soweit als möglich auseinander und reduzieren sie modelltheoretisch. Er sucht sie stets auch empirisch aufzubauen und weitet sie tendenziell aus. Zumindest drei Tendenzen stummer Gegnerschaft lassen sich unterscheiden. Da sind diejenigen, die modelltheoretisch allein auf das flüchtige Heute hin orientiert sind. Diese Haltung hat Elias als „Rückzug der Soziologen auf die Gegenwart“ benannt. Dann sind da diejenigen, die sich modelltheoretisch auf einen einzigen sozialräumlichen Punkt hin, auf ein Thema beschränken. Und schließlich ist manches von solchen Tendenzen vereint in verschiedenen modelltheoretischen und methodologischen Anstrengungen zur „Professionalisierung“ des Soziologenberufs. Elias hat diese manifesten Widerstände gegen sein Verfahren des Synthesenbildens überall gespürt und ihnen deshalb immer wieder an den unterwartetsten Stellen widersprochen. Über die Notwendigkeit, die „Lebensprobleme eines Individuums“ soziologisch zu betrachten, merkt er in seinem Buch über „Mozart“ an (Elias 1991a: 22): „Gewöhnlich wird Soziologie als eine destruierende, reduzierende Wissenschaft aufgefaßt. Ich teile diese Auffassung nicht. Für mich ist Soziologie eine Wissenschaft, die uns helfen soll, das Unverständliche unseres gesellschaftlichen Lebens besser zu verstehen, es zu erklären.“ In einer „Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“ wird von einem prominenten Soziologen ein treffendes Elias-Bild skizziert: „Ein unermüdlicher Kämpfer gegen den Ethnozentrismus soziologischer Schulen, ist Norbert Elias zu einem Weltbürger seines Faches geworden. Er hat gezeigt, wie der Versuch aussehen könnte, die Zerstückelung und Fragmentierung eines Faches wieder rückgängig zu machen.“ Er hat versucht, „die Vereinzelung der nationalen Soziologien aufzuheben, die in allzuvielen Fällen zu Propaganda-Instrumenten kulturspezifischer Wertsysteme geworden waren (...) Hierin liegt auch der Grund für Elias’ Interesse an den Problemen der Dritten Welt, die er aus eigener Anschauung gut kennt“ (Lepenies 1982: 636). 284
5.
Was wissen wir über Elias’ Lebenslauf?
Das wenige, das wir wissen, beruht hauptsächlich auf seinen eigenen Angaben. Es sind veröffentlichte Gespräche, ein 1984 auf Englisch geführtes und zuerst auf Niederländisch publiziertes „Biographisches Interview“ nebst eigenen „Notizen zum Lebenslauf“ (jetzt in Elias 2005). Und es gibt Notizen zeitweiliger Weggefährtinnen oder Weggefährten; vor allem in „Human Figurations“. Alle derartigen Angaben sind von H. Korte (1989) zusammengefaßt und um einiges ergänzt worden (Korte 1991). Elias überlebt 1917 als Soldat den Ersten Weltkrieg, beginnt verwundet das Studium der Medizin, dann der Philosophie, studiert kurz in Heidelberg und Freiburg im Breisgau, schließt es in seiner Heimatstadt Breslau mit der Promotion ab und geht zum Soziologiestudium nach Heidelberg (zu diesem intellektuellen Lernumfeld siehe Hoeges 1994). Von 1933 bis 1956 überlebt er aufgrund wechselnder Unterstützungen und Aktivitäten in England, bis er mit neunundfünfzig Jahren eine feste Stelle an der neuen University of Leicester bekommt. Nach seiner dortigen Pensionierung unterrichtet er in Ghana, dann zeitweilig in Bielefeld (vgl. Sprenger 1990) sowie an vielen deutschen Universitäten bis zu seinem Tod am 01.08.1990 in Amsterdam. Man muß nicht Elias’ eigene Arbeitsweise der „engagierten Distanzierung“ anzuwenden versuchen oder ein Historiker sein, um diese Art biographischer Angaben über das Leben eines bedeutenden Gelehrten als etwas unbefriedigend zu empfinden. Inzwischen gibt es erste „Erinnerungen und Anekdoten“ der meist zwei Generationen Jüngeren (Israëls 1993; Gleichmann 1994a). In fragmentarischer, doch kunstvoll verhüllter Gestalt hat er uns autobiographische Hinweise in seinem „Mozart“ hinterlassen. Mit dem letzten Satz dieses Buches bietet er uns auf Wittgensteins berühmtes Wort – Wovon man nicht sprechen kann, davon muß man schweigen – seine trotzige Paraphrase: „Ich glaube, man könnte mit dem gleichen Recht sagen: „Wovon man nicht sprechen kann, danach muß man suchen.“ – Es dürfte ein Beitrag „Zur Soziologie eines Genies“ werden. 6.
Mögliche Einstiege in Elias’ Werk
Wer sich kurz einen Überblick über Aspekte des Gesamtwerkes verschaffen möchte, bedient sich am besten der verschiedenen zusammenfassenden Einführungen. Den ersten kompetenten Überblick hat J. Goudsblom 1987 vorgelegt. Der kürzeste stammt 1991 von R. Baumgart und V. Eichener; der bisher ausführlichste von Stephen Mennell 1989; ein mehr wissenssoziologischer von R. Kilminster 1991. Diejenigen, die das Werk selbst vorziehen, werden mit einem eigenen Schwerpunkt von Fragen beginnen. Viele Soziologen finden „Über den Prozeß der 285
Zivilisation“ immer noch schwer zu lesen – besonders, wenn sie „den Rückzug auf die Gegenwart“ bereits angetreten haben; aber aus dem ersten Band können sie einen Eindruck von Elias’ Modell langfristiger Zeitreihen bekommen. Später nennt er es Wandlungskontinuen. Und aus den ersten Kapiteln von der „Höfischen Gesellschaft“ können sie schärfer beobachtete psychologische Aspekte in ihr Herrschaftsmodell übernehmen, sei dies nun eher dem Marx-Max-Weberschen oder dem Foucaultschen Typ nahestehend. Entgegen seinem Titel ist „Was ist Soziologie?“ nicht als Einführung für Anfänger geeignet. Doch es kann als methodologischer Kommentar nützliche Dienste erweisen, – beispielsweise nach der Lektüre von „Über den Prozeß“. In einer Periode der Soziologieentwicklung, in der empirisch und theoretisch die Modellvielfalt zunimmt, läßt sich auch sinnvoll mit den beiden ersten Aufsätzen von „Engagement und Distanzierung“ beginnen. Diejenigen, die primär immer noch allein „theoretisch“ interessiert sind, werden aus „Über den Prozeß“ zahlreiche Einsichten entnehmen, die dort stets in empirischhistorische Beispiele eingebettet sind. Im Zeitalter von-immer noch-allein analytischen Wissenschaftslehren mögen sie zuerst beginnen mit den „SynthesenbildungsTheoremen“, das heißt mit „Über die Zeit“ und mit der „Symbol Theory“. Wer Elias’ soziologische Machttheorie kennen lernen will, wird mit der „Höfischen Gesellschaft“ anfangen. Literaturhistoriker lesen „Über den Prozeß“ gewöhnlich anders als Soziologen; „Was ist Soziologie?“ kann ihnen dabei als Kommentar zu den soziologischen Themen dienen. Und die „Höfische Gesellschaft“ vermittelt ihnen vielleicht ein Modell davon, wie gut sich aus Literaturen bisweilen auf das reale Verhalten von Menschen schließen läßt, ohne dabei in ein Rühmen der Kunstwerke oder eine literatursoziologische Kritik zu verfallen. Die historische Langzeitpsychologie von Elias habe ich 1988 ausführlicher skizziert. Außerdem lesen Psychologen und alle diejenigen, die mit psychoanalytischen Auffassungen vertrauter sind, den Schlußteil des zweiten Bandes von „Über den Prozeß“ mit Gewinn; dieser „Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation“ wird immer noch am besten kommentiert durch die frühen Rezensionen von S. H. Foulkes (Fuchs) in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse der Jahre 1939 und 1941. Die anregendste und konstruktivste Fortsetzung dieser historischsoziologischen Psychologie über das von Elias erreichte Synthesenniveau hinaus findet sich in den Aufsätzen von Abram de Swaan 1988, 1990. Für diejenigen, die lieber mit der Sozialpsychologie beginnen wollen, wozu das Eliassche Werk einen originellen Beitrag bietet, kann „Die Gesellschaft der Individuen“ einen Einstieg vermitteln. Viele Geschichtsforscher lesen, wie die Erfahrung lehrt, die meisten Eliasschen Werke völlig anders als die Mehrzahl der übrigen Sozialwissenschaftler. Die nationalen Unterschiede in der Rezeption treten schärfer hervor. Das fortwäh286
rende Durchstoßen der Epochengrenzen, das für Elias’ Werk so kennzeichnend ist, irritiert diejenigen, die ihre Kompetenz für bestimmte geschichtliche Perioden besonders umsichtig verwalten. Zwar wird Elias nun nicht mehr eine Hegelsche Geschichtsspekulation unterstellt. Aber eins seiner Zentraltheoreme, daß die Menschheit aufgrund von realitätsgerechterem Wissen Langzeitmodelle sozialer Geschehensabläufe entwickeln muß, um ihre Abhängigkeit davon besser zu begreifen –, diese Arbeit wird von den meisten Kurzzeithistorikern negiert. – Zum Verhältnis von „Soziologie und Geschichtswissenschaft“ ist immer noch aktuell die „Einleitung“ in „Die höfische Gesellschaft“; viele sehr pointierte Bemerkungen dazu finden sich auch in „Über die Zeit“. Mit zwei historischen Schulen, die die Soziologie intensiver rezipieren, bilden sich bisweilen ähnliche Auffassungen heraus, der „Historischen Sozialwissenschaft“ und der Pariser „Nouvelle histoire“. Viele Geschichtsforscher knüpfen deshalb besonders an der „Höfischen Gesellschaft“ an. In dieser Hinsicht haben Jeroen Duindam (1990, 1992) und Roger Chartier (1985) die ausführlichsten und verständigsten Kritiken verfaßt. Nahezu vollständige Biographien der Veröffentlichungen von N. Elias sind von J. Goudsblom in den sogenannten „Materialienbänden“ zusammengestellt (vgl. Gleichmann et.al. 1979 und 1984. Auch frühe Rezensionen sind dort verzeichnet. Eine Vervollständigung bis etwa 1990 haben I. Mörth und G. Fröhlich vorgelegt (vgl. Kuzmics/Mörth 1991). Diese drei Bände enthalten auch Verzeichnisse der Literatur zu und über Elias. W.H. Kranendonk hat 1990 eine „Bibliography of Figurational Sociology in the Netherlands (up to 1989)“ mit „Annotations“ and „Abstracts“ herausgegeben. Wenigstens zwei soziologische Zeitschriften erörtern fortlaufend Themen zu Elias und zeigen neue Arbeiten dazu an. Mit der Redaktion in Amsterdam ist das die Amsterdams Sociologisch Tijdschrift (Wolters-Noordhoff; Groningen). Sie erscheint 1991 im 18. Jahrgang und enthält „English summaries“ und oftmals Artikel in englischer Sprache. – In London (Sage Publications) erscheint Theory, Culture & Society. „Editor“ ist Mike Featherstone in Cleveland/ Großbritannien. Die Kritik an Elias’ Werk ist über viele Sprachen und akademische Disziplinen hinweg verstreut und bisher in keiner Hinsicht zusammenhängend gesammelt worden. Erste Übersichten über eine partielle Kritik an Eliasschen Werken finden sich unter vielem anderem bei: - J. Goudsblom: In den „Materialienbänden“ 1979 und 1984 sind neben anderem auch kritische Rezensionen prominenter Historiker verzeichnet (Goudsblom 1987: 63-183) und enthält darüber hinaus Auseinandersetzungen mit niederländischen Kritikern verschiedener Disziplinen. - St. Mennell (1989) enthält über weite Strecken hin eine ausdrückliche Debatte vor allem mit anglo-amerikanischen Kritikern. 287
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W.H. Kranendonk hat in einem Abschnitt seiner Bibliographie (1990: 4961) besonders soziologische Kritiker benannt. H. Kuzmics/I. Mörth (1990: 285-293) versammeln einige wichtige internationale Kritiker. Beobachtungsmaterialien aus vielen Zeiten und Kulturen zur Ethnographie von „Nacktheit“, „Scham“ und „Intimität“, „Obszönität und Gewalt“ hat H.P. Duerr (1988 ff.) in Elias-kritischer Absicht versammelt. Kritische Tendenzen in verschiedenen deutschen Fachdisziplinen benennt P.R. Gleichmann (1987b). Eine Kritik der „Höfischen Gesellschaft“ aus einer vergleichend historischen Perspektive trägt Jeroen Duindam (1990, 1992, siehe auch die Rezension von P.R. Gleichmann 1994b) vor. Zur literaturhistorischen Kritik der von Elias verwendeten mediävistischromanistischen und -germanistischen Texte vergleiche den Kongreßbericht der „Gedenktagung für Norbert Elias (1897-1990)“. 19.10.1991 im „Kulturwissenschaftlichen Institut“ Essen von K.-S. Rehberg herausgegeben (erschienen 1996). Ganz neuartige interkulturelle Vergleiche erlauben die komparatistischen Bibliographien über mittelalterliche „Courtesy“-Bücher, die Alain Montandon (1991) in englischer, deutscher, französischer und italienischer Sprache sammelt.
5. „Wofür habe ich überhaupt gelebt?“ Persönliche Erinnerungen an Norbert Elias89
Als er das 79. Lebensjahr erreicht hat, beginnt er, einem größeren Publikum in der deutschen und bald auch in anderen Sprachen bekannt zu werden. Als er kurz nach seinem 93. Geburtstag in Amsterdam stirbt, hinterläßt er ein noch in dieser späten Lebensphase beachtlich vermehrtes wissenschaftliches Werk. Die großen Zeitungen und das Fernsehen vieler Länder Europas erinnern an seine Leistungen in den „sciences humaines“, was er gern mit „Menschenwissenschaften“ (Elias 1970a; 1983a) übersetzt hatte. Selbst lokale und regionale Medien widmen ihm treffliche Nachrufe. Akademische Würdigungen seines Werkes gibt es schon länger. Johan Goudsblom hat die langsame und späte Aufnahme und Kritik seiner Werke in verschiedenen europäischen Ländern erstmals systematisch dargestellt (Goudsblom 1979b: 305-322; 1984: 305-322; 1988). Hermann Korte hat Biographisches festgehalten (Korte 1988; 1991). Ich selbst habe 1987 die Reaktion besonders deutschsprachiger Wissenschaftler skizziert (Gleichmann 1987b; jetzt auch 2006; siehe auch Engler 1988). Hier möchte ich nun einige persönliche Erinnerungen notieren. Wer Elias gegen Ende seines siebten Lebensjahrzehntes kennen lernt, begegnet einem kleinen, äußerst beweglichen, jeden Besucher aufmerksam ansehenden Gelehrten, der zu stärkster Leidenschaftlichkeit fähig ist. Wie selbstverständlich vermag er anderen zuzuhören. Er kann sich anderen mit Wärme zuwenden. Als pensionierter „Reader“, etwa Außerordentlicher Professor, arbeitet er seit 1962 weiter im Soziologischen Department an der Universität Leicester in England. 1971 bin ich dort Gastdozent und halte einen Vortrag über eine empirische Untersuchung vor dem „staff-seminar“, den Dozenten des Institutes. Freundlich89 Diese „persönlichen Erinnerungen“ an Norbert Elias können im Zusammenhang gesehen werden mit den „Herinneringen en anekdotes“, die von Han Israëls und anderen 1993 in den Niederlanden im Gedenken an Elias herausgegeben worden sind. Bei diesen Berichten handelt es sich um dichte Forschungsberichte aus sehr naher Teilnahme, die es in der Sprache der deutschsprachigakademischen Welt als literarisches Genre überhaupt nicht gibt (vgl. die Rezension von Gleichmann 1994a: 145).
kritische Kommentare von allen Seiten –, nur Elias sitzt schweigend dabei, bis er ganz am Schluß der Diskussion heftig und leidenschaftlich alles, was ich vortrage, als völlig ungenügend ablehnt. So hat es angefangen. Den anderen ist diese Reaktion längst vertraut gewesen. Gleichzeitig ist er ein liebevoll aufmerksamer Gastgeber. Er erläutert uns und unseren Kindern beispielsweise die aus seiner Universitätszeit in Ghana mitgebrachten afrikanischen Holzplastiken (Elias 1970b). Mitte der siebziger Jahre spricht er zum ersten Mal vor den Soziologen an der Universität Hannover. Der größte Hörsaal ist überfüllt. Die Professoren in der ersten Reihe äußerst distanziert. Hinterher betritt als erster Oskar Negt das Podium und ergreift das Rednerpult. Eine Stunde lang erklärt er alles Gesagte aus seiner Sicht. Stumm steht der greise Elias die ganze Zeit daneben. Verschmitzt bemerkt er später: „Der Negt wollte mich von meinen Produktionsmitteln trennen.“ Warum kämpft ein international bekannt werdender Gelehrter so leidenschaftlich um das Öffentlichmachen seiner Gedichte? (Elias 1987b). Wer Gedichte schreibt, liebe die Sprache, meint Ulrich Beck in seinem Nachruf im „Spiegel“ vom 6.8.1990 (Beck, U. 1990). Sicher, wer aus einer Bildungs- und Gelehrsamkeitsüberlieferung stammt, in der das Verbinden von wissenschaftlicher und künstlerischer Arbeit noch ein Erziehungs- und Lebensideal ist, mag auch hier die Chance wahrnehmen, eine Kostprobe seines Talents zu geben. Meiner Ansicht nach sind seine Antriebe andere. Die Skepsis seiner Freunde hatte er erfahren – immer, wenn er uns vorsichtig ein Gedicht gezeigt hatte; nun wissen wir, meist sind es die ihm weniger wichtigen gewesen. Der Durchbruch ist der Hilfe von Melusine Huss zu verdanken. Sie räumt in ihrem „alten Geschäft“ nahe der Frankfurter Universität im Bockenheimer Buchladen eine Ecke frei. Dorthin lädt Elias zu seinem 82. Geburtstag ein. Auch einige der skeptischen Freunde sind nun überredet von weither zu kommen. In der ersten Reihe nehmen sein Verleger Siegfried Unseld und der Frankfurter Kulturdezernent Hoffmann Platz. Elias „liest aus seinen Gedichten und Nachdichtungen“.90 Die Spannung steigt während der Lesung. Eine Manuskriptseite fällt kunstvoll herunter. Er bittet um eine Pause. Es dauert dann noch acht Jahre, bis die „Gedichte“ erscheinen. Der Bann der Skeptiker ist langsam gebrochen worden. Einige „technische Vorbemerkungen“ hat Elias seiner Lesung vorangestellt: „(...) Ich fühle, daß man sich natürlich fragt –, und vielleicht bin ich Ihnen 90 „Norbert Elias liest aus seinen Gedichten und Nachdichtungen bei uns am Freitag, den 22.6.1979 um 20 Uhr“. – (Text der Einladung von Melusine Huss, Frankfurt/Main)
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eine gewisse Rechenschaft darüber schuldig –, wie kommt es, daß jemand, der als Soziologe bekannt ist, nun auch Gedichte produziert hat? Und ich möchte dazu sagen, daß Zeit meines Lebens eigentlich als sehr wohltuende Ergänzung meines wissenschaftlichen Tuns die Arbeit an den Gedichten gedient hat. Sie hat gewisse Vorteile vor der wissenschaftlichen Arbeit, weil man wissenschaftlich ja doch immer nur gleichsam auf einem Register mit Menschen kommunizieren kann. Mit Gedichten kann man auf vielen Schichten des Bewußtseins und des –, wenn Sie so wollen – Unbewußten miteinander kommunizieren (...) Die Wortmusik ist beim Gedicht ebenso wichtig wie der Gedanke; aber, daß es eben Musik und Gedanken verbindet, was die reine Musik nicht tut, das ist für mich immer das Reizvolle an den Gedichten gewesen (...) gerade, weil man Gedichte gewissermaßen durch verschiedene Schichten des Bewußtseins hin schreibt, spielt einem ja, wenn ich mich einmal freudisch ausdrücken darf, das Unbewußte sehr oft Streiche. Man kommt auf Seiten des Unbewußten, die Freud eigentlich nicht in Betracht gezogen hat – (...)“ (in: Gleichmann 1979b: 1ff.). Elias, der stets für wissenschaftliche Mittel einer Orientierung in der Welt gekämpft hat, artikuliert hier auch deren Grenzen und demonstriert, daß er selbst –, daß ein Mensch immer auch über seine eigenen Gefühle und Empfindungen, Leidenschaften, Nöte und unbewußten Antriebe kommunizieren möchte und muß. Sein eigenes Verlangen danach bekennt er in den Gedichten und seinen Kommentaren dazu. In der schließlich gedruckten Gedichtausgabe, acht Jahre später, gibt seine nun bewußtere Selbstkontrolle ein solches Bekenntnis nicht mehr preis. Geblieben ist allein die allgemeingültigste Form persönlicher Aufschreie aus Kummer, Lust, Leidenschaften, Schmerzen, Sexualnöten und vor allem traumatischen Ängsten über Verfolgung, Exil, Einsamkeit und besonders den Verlust der Mutter in Auschwitz. Elf Jahre lang seit seinem „Über den Prozeß der Zivilisation“ (Elias 1939/1997) veröffentlicht er nichts; in weiteren zwölf Jahren bis zur „Pensionierung“ drei Aufsätze. In dieser Phase stellt er sich die zweifelnde Frage: „Wofür habe ich überhaupt gelebt?“ (Elias 1987b: 80) Später, im Prozeß wachsender öffentlicher Anerkennung und allmählicher Verarbeitung des Traumas stellt er die Frage nie mehr. Er sieht nun in dem „Anwachsen negativer Utopien im 20. Jahrhundert zum Teil ganz gewiß die Widerspiegelung eines Klimas der Furcht und der Angst“, nennt die älteren Utopien seit Thomas Morus „Phantasie- und Wunschbilder“ angesichts realen Elends. Im Zuge wachsender Machbarkeit jener Wunschbilder finden sich Menschen mehr und mehr anderen Menschen ausgeliefert, fürchten einander; vor allem deshalb sind die negativen Utopien des 20. Jahrhunderts hauptsächlich „Furcht-Utopien“ (Elias 1982c: 146ff.). Persönlich entwickelt Elias jetzt immer eine ein wenig demonstrativ optimistische Haltung. Gegen seine fragenden Selbstzweifel artikuliert er seither eine Fülle allgemeingültiger Antworten. „Über die Einsamkeit der Sterbenden“ 291
schreibt Elias, der sich stets als moderner Agnostiker sieht: „Heute ist es noch etwas schwer, sich verständlich zu machen, wie tiefgreifend die Abhängigkeit der Menschen voneinander ist. Daß der Sinn alles dessen, was ein Mensch tut, in dem liegt, was er für andere bedeutet, und zwar nicht nur für die Gegenwärtigen, sondern auch für die Kommenden, also eine Abhängigkeit von dem Fortgang der menschlichen Gesellschaft durch die Generationen hin, gehört sicherlich zu den fundamentalen Abhängigkeiten der Menschen voneinander.“ Oder schließlich: Was von einem Menschen „überlebt, ist das, was er anderen Menschen gegeben hat, was in ihrer Erinnerung bleibt.“ (Elias 1982b: 54, 100). Eine Hauptleistung Elias’ besteht darin, eine Entwicklungstheorie des menschlichen Synthesenbildungsvermögens entworfen und geschichtlich mit Beispielen belegt zu haben (Elias 1984a). Von den geschichtsphilosophischen Überlieferungen hat er sich ganz gelöst. Seine hierzu besten Arbeiten, seine Zeit- und seine Symboltheorie (Elias 1991b), sind noch kaum allgemein rezipiert. Doch zeitlebens nutzt er alle Gelegenheiten, seine eigene Fähigkeit, Einzelheiten zu einem allgemeineren Ganzen zusammenfügen zu können, auch öffentlich zu demonstrieren. Bei einem deutsch-französischen Historikertreffen in Göttingen am 1. und 2. Mai 1980 suchen die jungen französischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer den Deutschen am ersten Tag „Elias zu erklären“. Am zweiten polemisiert ein angesehener deutscher Historiker, Spezialist für das 18. Jahrhundert, gegen Elias’ Buch über „Die höfische Gesellschaft“ (Elias 1969). Es gäbe ja so viele, ja unzählige „Höfe“ im 17. und 18. Jahrhundert; wie könne er da überhaupt von „der“ einen höfischen Gesellschaft sprechen? Elias erinnert daran, er habe die typische Machtstruktur der Höfe untersucht, beschwert sich über die „herabsetzende“ Behandlung –, wozu er selten in seinem Leben öffentlich Anlaß gehabt hat, und fragt: „Wieviele einzelne ‘Industrien’ gibt es? Sprechen Sie nicht trotzdem auch von der ‘Industrie’gesellschaft?“ Bald darauf veröffentlicht der Historiker einen Aufsatz über „Die höfische Gesellschaft“. Elias ist auch ein Meister selbstdistanzierter Einfühlung in die soziale Lage anderer Menschen. Das befähigt ihn zu unmittelbarem Dialog mit Menschen, die ihm an sich fernstehen. Nach dem Historikertreffen lädt eine Zuhörerin, eine Gräfin, alle TeilnehmerInnen ihm zu Ehren zu einem großartigen abendlichen Empfang auf ihre Burg ein. Auf dem Wege dahin fragt Elias: „Von meinem Buch her erwarten Sie jetzt sicher einen der Ihren; hoffentlich sind sie nicht enttäuscht, wenn sie nur einem kleinen alten Juden begegnen?“ – Sein besonderes Verständnis für Kinder und Jugendliche beruht nicht nur auf seiner langen gruppentherapeutischen Erfahrung im frühen Londoner Exil, sondern auch auf seinen eigenen lebenslang präsenten Zügen von Jugendlichkeit. Bei einem Vortrag über die langfristige Zähmung, „die Zivilisierung der Eltern“, aus Anlaß des „Internationalen Jahres des Kindes“ im Juli 1979 in Berlin kritisiert er scharf das früher größere „Machtge292
fälle zwischen Eltern und Kindern“, das oft von Eltern und Lehrern in ihren Masturbationsphantasien zur sexuellen Unterdrückung der Kinder ausgenützt worden ist (Elias 1980: 11-28). An einem Sonntagmorgen, am 20.12.1982, erörtert er ähnliche Fragen im überfüllten Jugendzentrum „Paradiso“, einem mächtigen alten Kirchenbau im Zentrum Amsterdams. Wer hätte je einen 85jährigen Gelehrten von Weltruf stundenlang mit faszinierten Jugendlichen diskutieren sehen? Geduldig beantwortet er Fragen über Fragen. Nur, als er ihnen am eigenen Beispiel zeigen möchte, wie extrem „behütet“ vor dem anderen Geschlecht jemand wie er selbst um die Jahrhundertwende in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen ist, haben sie Schwierigkeiten, sich in jene Vergangenheit zu versetzen. Elias vermag bis in die letzten Lebenstage hinein spontan überall unglaublich präsent und konzentriert zu formulieren. Ungezählte Interviews im Fernsehen und im Rundfunk bezeugen dieses Talent (Elias 2005). Nicht allein die Medien haben das schließlich reichlich ausgewertet. In der Zeit vom 7.5. bis 10.5.1980 hält er beispielsweise in Wien zwei verschiedene Vorträge, zwei weitere Seminarvorträge zu anderen Themen und absolviert zwischendurch ein Fernsehinterview, eine Pressekonferenz und zwei Hörfunkinterviews. In den Studios angekommen, scheint er die Hektik wie ein lästiges Kleidungsstück abzustreifen, erbittet einige Minuten, um sich zu besinnen, wendet sich dazu in eine Ecke und – ist präsent. Oder am 6.3.1979 wird er im 3. Programm des WDR gebeten, seinen „Versuch, Mozart besser zu verstehen“, vorzutragen. Hinterher ruft er an. Ob er ein Manuskript gehabt habe, frage ich ihn. „Nein, der Journalist hat mir bloß gesagt, ich hätte 30 Minuten Zeit zum Sprechen.“ Er benötigt genau 29. Die „taz“ hat diesen Vortrag am 4.8.1990 abgedruckt (Elias 1990b). Warum identifiziert Elias sich so sehr mit Mozart? Er „sträubt sich innerlich dagegen“, das „Genie, den Künstler Mozart und den Menschen Mozart gleichsam in zwei verschiedene Kammern einzusperren (...) Das war eigentlich das Problem (...)“ Und es ist auch sein eigenes gewesen (vgl. Elias 1991a). Nie will er allein als „Fachmensch“ gesehen werden. Ich frage ihn einmal, ob er bemerkt habe, wie sehr er gerade an Mozart Züge von sich selbst beschrieben habe. „Nein“, lehnt er brüsk ab, „wie kommen Sie denn darauf?“ Einen seiner ersten wissenschaftlichen Aufsätze hat er 1935 der „Vertreibung der Hugenotten aus Frankreich“ gewidmet (Elias 1935), während er selbst gerade als politisch exilierter Flüchtling von Frankreich über die Niederlande nach England gerät. Wird er später nach einem möglichen Zusammenhang von Themenwahl und eigenem Schicksal gefragt, leugnet er diesen stets mit Entschlossenheit. Immer hat Elias Jüngere, wenn sie ihn um Rat zu ihrem Forschungsthema fragen, mahnend gefragt, ob sie auch noch einen anderen Zugang zu ihrem Thema hätten als den durch „Bücher“; ob sie wenigstens etwas davon selbst erlebt hatten. „Deine Bücher sind / Bücher eben / Blick durch dünne Tücher / noch nicht / noch nicht Leben / (...)“, dichtet er (Elias 1987b). 293
Manche nennen Elias „einen der größten Soziologen des Jahrhunderts“ –, so z.B. U. Greiner in der „Zeit“ vom 10.8.90 (Greiner, U. 1990). Elias selbst versteht sich zeitlebens als Außenseiter (Elias 1990a). Er, der ein langes Leben hindurch den Prozeß der Staatenbildung erforscht, bleibt immer distanziert zum deutschen Staat und zu den Parteien. Er, der stets das Vergleichen von Gesellschaftsformationen und Staatengesellschaften fordert und praktiziert, hält Distanz zu den Gesellschaften, in denen er zeitweilig lebt. Daran ändern auch höchste Auszeichnungen und Preise nichts, die er z.B. in den Niederlanden, der Bundesrepublik, Frankreich oder Italien erhält. Äußerst distanziert steht er dem akademischprofessionellen und besonders dem universitären Wissenschaftsbetrieb derjenigen „Fächer“ gegenüber, zu denen seine Arbeit im engeren Sinne beiträgt: der Soziologie, der Psychologie, der Geschichtswissenschaft und auch der Philosophie (Elias 1969; Engler 1987; Gleichmann 1988b). Und die Mehrzahl der auf Karriere und Professionalisierung hin ausgerichteten jüngeren deutschen Professoren halten ihrerseits Distanz. Sie pflegen sich im kunstvoll hoch entwickelten Berufsjargon auszudrücken. Er dagegen spricht einfach allgemein verständlich. Das begründet seine Ausstrahlung auf die jüngsten Studierenden und füllt dem über Achtzigjährigen – zum neidvollen Erstaunen jüngerer Dozenten – wochenlang die größten Hörsäle z.B. in Bielefeld, Bochum oder Frankfurt. Auch den regionalen symbiotisch nach 1945 um einzelne Theorien, Methoden oder Personen gewachsenen „Schulen“ der deutschen Soziologie bleibt er fremd. Vielen von ihnen erscheint sein Denken als „die Soziologie aus dem Exil“ (Rehberg 1979: 101-169). Wissenschaften kennen keine nationalen Grenzen? Die stürmische Aufnahme von Elias in Paris, in Italien und besonders in den Niederlanden hat auch mit dieser Distanz des einstmals Exilierten zu den Deutschen zu tun. Dort wird er von den namhaftesten Forschern akzeptiert. Und vor allen Dingen werden seine Theorien auf originelle Weise angewendet und weiterentwickelt (de Swaan 1988; Bourdieu 1990; Heilbron 1990). Elias erscheint dort als personale Verkörperung und als Summe des besten deutschen sozialwissenschaftlichen Denkens. Ihn kann man problemlos rezipieren. Er hat unbeeinflußt vom nationalsozialistischen deutschen Staat und seinen Helfern weitergearbeitet. Ein steter Ausdruck zu entschlossenster Hoffnung kennzeichnet Elias’ Haltung und Denken. Als er nach einem langen Gespräch am 4.1.1990 fragt, womit ich mich gerade befasse und ich ihm entgegne, mit Polen und seiner Geschichte, beginnt der in Breslau geborene spontan die Verse auf polnisch: „Noch ist Polen nicht verloren (...)“ Noch nie habe ich in zwanzig Jahren ein Wort Polnisch von ihm gehört gehabt. Aber diese unbeugsame Hoffnung ist auch eine Maxime seines Lebens. Nie betrachtet er sein eigenes Leben larmoyant, mit Selbstmitleid. Nur in seiner Exil-“Ballade vom armen Jakob“ läßt er den Chor ständig wiederholen: „Schlugen beide im Verein/auf den armen Jakob ein.“ Und noch öfter: „Wan294
dert er noch immer ohne Geld/ein Stück weiter um die Welt.“ (Elias 1987b: 87ff.; Elias 1989b: 759-770). Seine realen Geldprobleme werden dank der Bemühungen des Hessischen Kultusministers Ludwig von Friedeburg mit dem Bundesentschädigungsgesetz geregelt. Aber die Heimat? Ein fester, vertrauter Ort in Deutschland? Er sucht. Ich erinnere mich an einen langen umherirrenden Spaziergang durch den Frankfurter Palmengarten, hin und her zwischen Universität und Oper. Er wohnt in einem jüdischen Hotel. Doch nirgends findet er mehr, was er vertraut wähnte, wo er sich zuhause hätte fühlen können. So zieht er sich die letzten Jahre zurück zwischen Menschen in Amsterdam, die ihm inzwischen vertrauter geworden sind. Von dort schreibt er kritisch, aber mit Wärme „Über die Deutschen“ (Elias 1985; Elias 1989a). Sich selbst vermag er nun immerhin als einen „etablierten Außenseiter“ zu sehen (Elias/Scotson 1990; Elias et.al. 1982).
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6. Einige Schritte voran in den Menschenwissenschaften – Norbert Elias
Befassen wir uns mit einem großen sozialwissenschaftlichen Denker des 20. Jahrhunderts: Zuerst einige biographische Anmerkungen; dann einige Züge seines Werkes. Drittens fragen wir, wie kann man beginnen, sich diese Arbeiten verständlicher zu machen? Und viertens schließlich, was können wir mit diesen größtenteils wissenssoziologischen Ansätzen praktisch tun? 1.
Ein auf das lange Exil nicht vorbereitetes Leben
In der Generation hochbegabter deutschsprachiger Intellektueller, die kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert geboren werden, zählt Norbert Elias zu den wenigen, die trotz seines schmerzlich-bewegten Lebens noch den Beginn ihres Nachruhms in vielen Ländern der Erde haben erleben können. Hochbetagt stirbt er am 1. August 1990 in Amsterdam. Er wird am 22. Juni 1897 als einziges Kind wohlhabender Eltern in Breslau geboren. Er besucht keine Volksschule und wird mit sechs Jahren in ein städtisches, wie man damals noch sagt, „humanistisches“ Gymnasium eingeschult. Den „Religionsunterricht erteilte ein Rabbi“ (Korte 1988: 67). Er ist auch früh in jüdischen Jugendbewegungs-Gruppen seiner Heimatstadt aktiv; das wissen wir jetzt aus seinen Beiträgen zu deren Zeitschrift. Mit seinen Klassenkameraden meldet er sich wenige Tage nach dem Abitur 1915 freiwillig zum Militär; Tage zuvor hat er sich noch zum Studium der Medizin an der Breslauer Universität eingeschrieben. Nachdem er physisch die schreckliche Somme-Schlacht 1916 überlebt hat, wendet er sich nach dem Krieg und dem Physikum ganz der Philosophie in Heidelberg und bei Edmund Husserl in Freiburg zu. 1924 promoviert er in Breslau bei Richard Hönigswald in Philosophie und geht nach Heidelberg. Im Kreise von Marianne Weber, der Witwe und Alfred Weber, dem jüngeren Bruder Max Webers, lernt er unter anderem Karl Mannheim kennen. Mannheim ist aus Budapest geflüchtet, wo er zeitweilig in dem Kreis von Georg Lukács gewirkt hat. Mannheim hat in Berlin, Paris und Heidelberg studiert und ist seit 1926 Privatdozent in Heidelberg; als er 1930 an der neuen Universität Frankfurt am Main Professor für Soziologie wird, begleitet Elias ihn dorthin. In Frankfurt macht er sich intensiv mit der Psychologie
vertraut. Er legt dort als seine Habilitationsschrift eine subtile Machtstudie vor; sie erscheint dann aber erst im Jahre 1969 unter dem Titel „Die höfische Gesellschaft“ (Elias 1969). Denn zu Beginn des Jahres 1933 werden das Frankfurter Institut für Sozialforschung und das Soziologische Seminar gleich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten geschlossen. Mannheim flüchtet sofort nach England; Elias geht sechs Wochen später, wie so viele verfolgte deutsche Intellektuelle, zuerst nach Paris. Er spricht zu dieser Zeit vorzüglich Französisch, jedoch kaum Englisch. Doch wie andere exilierte Intellektuelle aus Deutschland findet er keine Aufnahme in Paris. Mit Hilfe bereits im Exil lebender Freunde gelangt er nach England, wo die Hochschulen gegenüber exilierten Europäern aufnahmebereiter als in Frankreich sind. Häufiger arbeitet er in der Bibliothek des Britischen Museums, wie andere deutsche Intellektuelle schon im 19. Jahrhundert. Zeitweilig lebt er von Stipendien. Bald nach Beginn des Krieges werden nach England geflüchtete Intellektuelle aus Deutschland, Österreich und Italien interniert. In den acht Monaten, die Elias dabei an der Westküste Englands verbringt, organisiert er mit anderen eine „Universität“ im Lager. Später gibt er zeitweise Unterricht in einer Art Volkshochschule. Erst lange nach Kriegsende, 1954 – Elias ist da 57 Jahre alt –, erhält er eine feste Dozentenstelle an dem zu seiner Zeit größten soziologischen Institut in England an der University of Leicester; dessen Leiter, Ilja Neustadt, ist ein aus Odessa stammender Exilierter. Norbert Elias hat in dieser langen Zeit von über zwanzig Jahren nie eine feste Stelle inne. Davon hat er später nur wenig „über sich selbst“ preisgegeben (vgl. Heerma van Voss et.al. 1990; Elias 2005). Wir müssen in seine „Gedichte“ schauen (Elias 1987b). Sie sind wohl in dieser Zeit entstanden. Da spricht er vom „Los der Menschen“ oder vom „armen Jakob“. Auch diese schönen Gedichte erscheinen schließlich in seinem Verlag – in Elias’ neunzigstem Lebensjahr. Der Verleger hatte zu diesem Zeitpunkt bereits fast das gesamte wissenschaftliche Werk erfolgreich verlegt. Er bleibt aber immer noch reserviert. Längst sind die Bücher von Elias in der ganzen Welt bekannt. Doch praktisch hat Elias aus den langen Elendserfahrungen heraus in seinem späteren Leben allen Menschen in großer Armut oder in offenkundiger Not stets spontan geholfen. Nach seiner Entpflichtung als Reader an der Leicester University lehrt er von 1962 bis 1964 in Ghana. Von dort bringt er eine große Sammlung afrikanischer Holzplastiken mit. Sie wird auch in England ausgestellt und umgibt ihn seitdem in seiner Wohnumgebung. 1964 redet er zum ersten Mal nach dem Krieg auf dem Soziologentag in Heidelberg. Seitdem wird er in schneller Folge an deutschsprachigen Hochschulen eingeladen. Durch Vermittlung von Ludwig von Friedeburg, zeitweilig hessischer Kulturminister, erhält er nach dem Bundesentschädigungsgesetz den Status eines emeritierten Professors in Frankfurt. 298
In rascher Folge veröffentlicht er, mittlerweile über siebzigjährig, eine Fülle von Büchern. Die meisten werden rasch in mehrere europäische Sprachen übersetzt. Elias trägt jetzt regelmäßig auf den deutschen Soziologentagen vor. Die europäischen Massenmedien publizieren zunehmend Interviews mit ihm. Das sind neben den deutschsprachigen besonders die niederländischen, französischen, italienischen und schließlich englischsprachige. Mit der Verbreitung in den anderen Sprachgemeinschaften folgen immer mehr Einladungen wie etwa nach Harvard oder nach Paris. Die wissenschaftlichen und öffentlichen Ehrungen reißen nun mit dem allmählichen Bekanntwerden von Werk und Person bis zu seinem Tod 1990 nicht mehr ab. Zuerst sind es etwa die Ehrenmitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 1976, kurz darauf der Theodor-W.-Adorno-Preis der Stadt Frankfurt/Main (Elias 1977b) oder 1980 die Ehrendoktorwürde der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Elias ist dort von 1978 bis 1984 Gast am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und der einzige Professor, der in dieser Zeit das riesige Auditorium Maximum regelmäßig zu füllen vermag. Von dortigen Kollegen wird das mit unverhohlenem Neid vermerkt. In dieser Zeit befindet sich Elias zwischen seinem einundachtzigsten und siebenundachtzigsten Lebensjahr. In seinen letzten Jahren erhält er in Deutschland, den Niederlanden oder etwa in Italien zahlreiche öffentliche Ehrungen. 2.
Ein kurzer Blick auf das Werk
Was sind Elias’ wichtigste Beiträge zu den Sozialwissenschaften? Was schätzt die lesende Öffentlichkeit an seinem Werk? Was die sozialwissenschaftlichen Fachkollegen? Worin begründet sich seine eigentliche Originalität? Nähern wir uns dieser Art Fragen schrittweise und beachten dabei die unterschiedlichen Perspektiven der Betrachtenden. Zuerst müssen wir die größeren Arbeiten im zeitlichen Ablauf ansehen. Da scheint sein Werk „Über den Prozeß der Zivilisation“ (Elias 1939/1997) alles zu überragen. Es wird zum ersten Mal 1939 kurz vor Kriegsbeginn in der Schweiz publiziert. Sein exilierter Autor lebt mittellos in England. „Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten“ lautet der Untertitel des ersten Bandes schlicht. Grob gesagt, reiht er schriftlich überkommene Beispiele von Verhaltensanweisungen aneinander, wie sie für die Erziehung des ritterlich-höfischen Nachwuchses verwendet werden; sie reichen vom 13. bis zum 18. Jahrhundert. Und sie beziehen sich auf sämtliche körperlichen Tätigkeiten und Funktionen der Menschen. Auf diese Weise zeigt er faszinierend die Zivilisierung des Essens und des Darübersprechens, den Umgang mit Fleisch und den 299
Gebrauch des Messers und der Gabel, schließlich die „Einstellung zu den natürlichen Bedürfnissen“, dem Urinieren und Defäzieren, doch auch dem Schneuzen und dem Spucken. Er demonstriert an seinen Beispielen langfristige Verhaltenswandlungen im Schlafraum, in den Beziehungen zwischen Mann und Frau und in der Angriffslust der Ritter. Diese Reihung und leise Kommentierung von Beispielen hat alle Leserinnen und Leser bis heute fasziniert und überzeugt. Im zweiten Band werden dann, wie es untertreibend heißt, „Wandlungen der Gesellschaft“ dargestellt; die zunehmenden wechselseitigen Verflechtungen der einzelnen Menschen, ihre sozialen Interdependenzen. In ihnen erkennt Elias den eigentlichen Motor der Verhaltenswandlungen. Er beschreibt die allmähliche Konzentration physischer Gewaltmittel auf den Adel seit der mittelalterlichen Herrschaftsapparatur und das Entstehen einer von physischer Gewalt relativ freien höfischen Gesellschaft. Er analysiert die allmähliche Herausbildung physischer Gewaltmonopole französischer Könige und ihre Eroberung immer größerer Herrschaftseinheiten. Das Entstehen der Heere Westeuropas ist von anderen oftmals umfänglicher dargestellt worden. Elias jedoch weist sorgsam immer wieder auf eine andere Voraussetzung hin, die bis heute von vielen vernachlässigt wird: Erst die gegen Ende des 18. Jahrhunderts weithin durchgesetzten Steuermonopole machen die Aufstellung dauernd vorhandener Heere möglich, wie sie im zwanzigsten Jahrhundert für Staaten großer Teile der Erde kennzeichnend sind. So ärgerlich nun den meisten Steuerzahlern solche Last erscheinen mag, – ein regelmäßiges Steuerzahlen wird auch zu einer Voraussetzung von relativ befriedeten Gebieten. Das Zivilisationsbuch ist auch eine kritisch-konstruktive Antwort gewesen auf die kulturkonservativen Strömungen, wie sie bereits vor dem Ersten Weltkrieg zu beobachten sind. Das Buch entsteht aus dem eigenen Erleben des Ersten Weltkrieges, der Suche und dem allmählichen Erlernen eines psychoanalytischen Verständnisses. Das wird besonders deutlich im Schlußkapitel, dem „Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation“ (Elias 1939/1997: Bd. 2: 321-465). Es wird unter dem Einfluß Max Weberscher und Karl Mannheimscher Ansätze im englischen Exil verfaßt. Dieser bittere Abstand im Exil erleichtert vielleicht die Einsicht in die Gesellschaftsverfassung der Herkunftsgesellschaft. Elias formuliert hier allgemeine sozio- und psychogenetische Befunde, die seither zu festen Begriffen vieler Geschichts- und Sozialforscher geworden sind. In den zivilisierteren Staatsgesellschaften besteht ein „gesellschaftlicher Zwang zum Selbstzwang“. Das heißt, ihre Angehörigen haben durch die engere gegenseitige Abhängigkeit und Verflechtung untereinander früh zu lernen, sich selbst und ihre eigenen Gefühle zu bezwingen. Sie müssen sich auf diese Interdependenzen einrichten. Sie müssen weit früher erlernen, ihre Affekte, ihre möglichen Gefühlsausbrüche besser zu beherrschen als beispielsweise Menschen, die ihr Leben lang allein in großfamiliären Großgruppen leben. 300
Das nächste Werk ist eine „soziologische Befragung über GemeindeProbleme“. Diese Nachbarschaftsstudie aus Leicester erscheint zuerst 1965. Das kleine Buch über „Etablierte und Außenseiter“ hat Elias 1990 mit einem sehr langen „Vorwort“ eingeleitet (Erste dt. Ausgabe: Elias et.al. 1990). Er macht darin Anmerkungen „Zur Theorie von Etablierten-Außenseiter-Beziehungen“. Und später bemerkt er wiederholt, dies ist ein Beitrag zum „Klassenproblem“. Sich selbst sieht er sein Leben lang ebenfalls als Außenseiter. Erst kurz vor seinem Ende ist es uns gelungen, daß er gesteht, nun sei er wohl selbst ein „etablierter Außenseiter“ geworden. 1970 erscheint der „kleine“ Band „Was ist Soziologie?“ (Elias 1970). Elias dankt dem Redakteur, Wolf Lepenies, „der das überlange Manuskript angesichts eines etwas schwierigen und zur Kürzung nicht recht bereiten Verfassers mit großem Geschick und Takt in das vorbestimmte Format der Reihe einpaßte“, wie Elias schreibt. Eine einfache Einführung in die Soziologie ist es jedenfalls nicht, eher wohl auch eine kritische Auseinandersetzung mit verschiedenen Theoriepositionen innerhalb der Sozialwissenschaften. Sein Begriff der „Figuration“ von Menschen wird hier ausführlich dargestellt. Nicht „das Individuum“, der von anderen isolierte Mensch ist (wie es das Menschenbild der Philosophie im 18. Jahrhundert lehrt) Forschungsgegenstand der Soziologen und entsprechend nicht „die Gesellschaft“ mit entsprechend isoliert fungierenden „Individuen“; sondern Menschen wachsen in je bestimmte Figurationen hinein, in größere soziale Einheiten, seien das nun Familien, Städte oder Staaten. „Sozialisierung und Individualisierung eines Menschen sind daher verschiedene Namen für den gleichen Prozeß“ (Elias 1970a: 88-91). Die kleine Schrift „Über die Einsamkeit der Sterbenden“ erscheint 1982. Elias ist nun 86 Jahre alt. Entstanden ist dieses rasch populär gewordene kleine Buch durch die beharrliche Nachfrage zweier junger Frauen. Sie laden ihn nach Berlin zu einem öffentlichen Vortrag ein, den sie dann in ihrer Zeitschrift für Grabsteinmetzen publizieren. Da heißt es dann gleich zu Beginn: „Der Tod ist ein Problem der Lebenden. Tote Menschen haben keine Probleme“ (Elias 1982b: 10). Die zunehmende öffentliche Resonanz beim fachwissenschaftlichen wie beim weiteren Publikum hat nun die deutschen Sprachgrenzen weit übersprungen. Übersetzungen in verschiedenste Sprachen der Erde kommen hinzu. Dem folgen Einladungen in viele Länder. Das ermutigt den jetzt in seinem neunten Lebensjahrzehnt stehenden Autor zu weiteren Publikationen in rascher Folge. Sie gründen zum Teil auf älteren, bis dahin unveröffentlichten Texten, wie das für viele aus dem Exil zurückgekehrte Forscher kennzeichnend ist. Vornehmlich sind hier seine „Arbeiten zur Wissenssoziologie“ zu nennen; „Engagement und Distanzierung“ erscheint auf Deutsch zuerst 1983 (Elias 1983a). Das große Werk „Über die Zeit“ wird deutsch 1984 publiziert (Elias 1984a). Der Autor nennt es eingangs „eine 301
Untersuchung über die Zeit, aber nicht über die Zeit allein“. Man könnte es eine historische Wissenssoziologie nennen über die Art und Weise, wie Menschen allmählich das Synthesenbilden erlernen. Elias hat es stets als ein dem „Prozeß“-Buch vergleichbar bedeutsames Werk gesehen. Ähnlich das Buch über die „Gesellschaft der Individuen“ im Jahre 1987 (Elias 1987a). Dem folgt noch im gleichen Jahr – für die Öffentlichkeit sehr überraschend – ein Band „Gedichte und Nachdichtungen, Los des Menschen“ (Elias 1987b). für Intellektuelle seiner Generation ist so etwas keineswegs ungewöhnlich gewesen. Wer denkt nicht sofort an Adornos musikalische Aktivitäten? Elias hat in seinem Verlag lange für diese Gedichte kämpfen müssen. Im Jahr 1989 erscheinen die „Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert“ (Elias 1989a). Sie lösen eine intensive Debatte in der geschichtlich interessierten Öffentlichkeit aus. 1991 erscheint die Symboltheorie auf Englisch (Elias 1991b). Das ist dem englischen Soziologen Richard Kilminster in Leeds zu verdanken. Elias hatte das Manuskript noch selbst fertiggestellt. Eine deutsche Übersetzung folgt. Das Buch hat in den Niederlanden und England eine Debatte ausgelöst. Elias hat auch diese Arbeit zu einer soziologischen Theorie der Symbole als dem „Prozeß“-Buch und dem „Über die Zeit“ gleich bedeutsam angesehen. Schließlich erscheint 1991 posthum die kleine Studie über „Mozart. Zur Soziologie eines Genies“ (Elias 1991a). Auch dieses späte Werk verdankt sein Erscheinen der intensiven Arbeit des historischen Soziologen Michael Schröter. Wenn ich Elias bei seiner Arbeit daran gelegentlich gefragt habe, ob er beim Schreiben über „Mozart“ – ein von seinen Zeitgenossen nicht immer verstandenes Genie – nicht Züge von sich selbst festhalte, wies er das brüsk zurück. 3.
Wie kann man mit dem Lesen eines solchen Werkes beginnen?
Das wird auch von den jeweiligen Vorkenntnissen der LeserInnen abhängig sein. Es gibt auch Präferenzen nach dem Alter bzw. der Generationszugehörigkeit oder der ethnisch-sprachlichen Herkunft. Die meisten lesen wohl den anschaulichen und spannenden ersten Band von „Über den Prozeß“; in den zweiten einzudringen ist schon schwieriger. Inzwischen gibt es eine Reihe einfacher „Einführungen“. Für Studierende der Sozialwissenschaften, besonders der ersten Semester, stehen eine Anzahl knapper Auszüge und Überblicke zur Verfügung; das Englische nennt sie „Reader“. Sie liegen ähnlich beispielsweise auch auf Englisch, Französisch oder Spanisch vor. Hilfsweise können wir inzwischen zusammenfassende werkbiographische Überblicke in sozialwissenschaftlichen Wörterbüchern oder kurzen soziologischen „Theorieüberblicken“ finden (bspw. Klassiker der Soziologie: Käsler 302
1999). Auch dies gilt für das Französische. Ältere Leser beginnen gern mit den „Studien über die Deutschen“, denn sie lernen hier etwas über die innerdeutschen Gewalttaten im Übergang vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Sie können besonders mit den „Durchbrechungen des Staatsmonopols der körperlichen Gewalt“ in Deutschland und schließlich dem „Zusammenbruch der Zivilisation“ anfangen (Käsler 1999: 223ff. u. 391ff.). Elias analysiert da ausgesprochen einfühlend und sehr direkt die sozialen Spannungen beim Übergang vom späten Kaiserreich zur Weimarer Republik. Die Leser erfahren hier etwas über das Nebeneinandergelten, über „die Dualität des nationalstaatlichen Normenkanons“, über „einen Moralkanon egalitären Charakters (…), dessen höchster Wert der Mensch ist (…) und einen nationalistischen Kanon nicht-egalitären Charakters, abstammend vom machiavellistischen Kanon der Fürsten und herrschenden Adelsgruppen, dessen höchster Wert ein Kollektiv ist, der Staat, das Land, die Nation, zu der ein Individuum gehört“ (Käsler 1999: 200f.). Das Buch eignet sich auch gut für ethnisch-nationale Minderheiten in Deutschland; sein Verfasser hat sich ja stets selbst als „Außenseiter“ gesehen. Die Übersetzungen dieses Bandes in andere Sprachen haben daher rasch große Aufmerksamkeit gefunden. Wem es gelingt, solche Einsichten über seine eigene Interessenlage auch zum Lesen im Eliasschen Werk zu übernehmen, der wird seinen eigenen Zugang rasch selbst finden. Dafür gebe ich ein einfaches Beispiel. Wie verschieden können die Perspektiven auf ein und dasselbe wissenschaftliche Werk sein? Es geht um das weitgehend vor 1933 verfaßte Werk „Die höfische Gesellschaft“. Seit seinem Erscheinen im Jahr 1969 hat es deutsche und französische Geschichtsforscher zu eigenen Arbeiten angeregt (So etwa: von Kruedener 1973; Müller, R.A. 1995). Das Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen hält 1980 gemeinsame mit der französischen „Historiker Mission in Deutschland“ eine Tagung zu Elias’ Werk ab. Die jüngeren französischen Historiker gehen besonders angeregt auf das Werk ein; in Deutschland wie in Frankreich war es in der breiten Öffentlichkeit intensiv diskutiert worden. Es waren auch deutsche Arbeiten zur Rolle des Hofes im Absolutismus erschienen. Der damalige Leiter der Pariser „Maison des Sciences de l’homme“, des „Hauses der Menschenwissenschaften“, François Furet fragt Elias unwirsch nach seiner wissenschaftlichen Herkunft. Der zu der Zeit zuständige Göttinger Direktor wendet ganz ähnlich ein, es gäbe doch viele Höfe. Welchen er denn meine. „Wieviele >Industriegesellschaften< gibt es denn?“ fragt Elias zurück. „Und dennoch sprechen wir von solch einem Typus.“ Bad darauf hat dieser Historiker einen großen Artikel über „Höfe und höfische Gesellschaft in Deutschland (…)“ veröffentlicht. Am Schluß der Tagung lädt eine zuhörende Historikerin, eine Gräfin, alle Teilnehmer auf ihr großes Schloß in der Nähe zum Abschiedsessen ein. Rechts und links des Weges vom Dorf bis zum Speisesaal begleiten „Dörfler“ mit 303
brennenden Fackeln den Anmarsch der Kongreßteilnehmer. Elias, der rasch noch von weither ein Expemplar seines Buches als Gastgeschenk hat besorgen lassen: „Die Grafen erwarten jetzt sicher einen der ihren (…).“ – Es ist diese Balance zwischen größter Distanz und einfühlsamer Nähe, die das Lesen vieler Eliasscher Werke so unmittelbar faszinierend macht. Viele Soziologen um die Wende zum 21. Jahrhundert sehen das Buch ganz anders. Es ist für sie auch eine Einführung in Elias’ differenzierte Machttheorie (Gleichmann 1981: 773-777; Gleichmann 1982:547-554); er kennt als menschliche Machtquellen nicht allein physische Gewalt, wirtschaftliche Mittel oder Amtsgewalt; sondern seine Analyse fasziniert bis heute, weil er stets aufmerksam das ganze Spektrum affektiver menschlicher Machtquellen mit einbezieht. Die meisten Historiker hingegen sprechen beispielsweise weiter gern in der neutral erscheinenden Beamtensprache, in der dritten Person: Er tat das und das. Sie vernachlässigen meist die erste oder zweite Person der Handelnden in ihren Studien. Einige Pariser Historikerfachschulen sind früh davon abgewichen und haben von Soziologen gelernt. Viele deutsche Historiker legen das Buch beiseite: Über siebzig Jahre alt; wir haben ja soviel mehr Quellen. – Die hochdifferenzierte, vielperspektivische Eliassche Begrifflichkeit nehmen sie kaum wahr. 4.
Was kann mich mit den Ansätzen von Elias praktisch anfangen?
Wie kann ich, wenn ich mit diesen vertrauter bin, mir damit eine neue Perspektive erschließen? Wozu könnte das nützlich sein? Am einfachsten läßt sich das mit einigen Beispielen beantworten. Und dazu eine Vorbemerkung. Nahezu sämtliche Eliassche Arbeiten haben mit dem Synthesenbilden zu tun. Das scheint im Zeitalter des Vorherrschens analytischer Forschung wenig zeitgemäß zu sein. Das Interesse der sich immer weiter „spezialisierenden“ Forscher fördert diese Tendenzen; die einzelnen Disziplinen suchen ihr jeweiliges Forschungsgebiet ganz für sich allein autonom zu kontrollieren. Sie probieren sich auch dadurch zu professionalisieren. Wenn wir erklären sollen, warum Elias auf so viele benachbarte Fachdisziplinen der verschiedensten Sprachgemeinschaften weiterhin nachhaltigen Einfluß hat, ist es gerade das: Er selbst hat von anderen Fächern jeweils soviel wie möglich zu lernen versucht oder aufgenommen. Wichtiger und elementarer ist eine andere Seite unserer Erkenntnishaltung. Die läßt sich von Geschichtsforschern um die Wende zum 21. Jahrhundert nur selten erlernen, obwohl Menschen in einer partiell „globalisierten Welt“ sie stärker als je zuvor benötigen. Das ist das Denken über Generationen hin, das Sich-Interessieren für Ereignisverläufe über Generationengrenzen hinweg, für 304
Langzeitprozesse besonders sozio-psychischer Art (Gleichmann 1988b: 451-462). Und dies beides, Synthesen entdecken und längerfristige Prozesse überblicken, ist für Elias bedeutsamer gewesen als alle anderen erdenklichen Feinheiten, etwa seines Begriffebildens. Viele haben das bald erkannt. Und er selbst hat bis ins höchste Alter hinein von jüngeren beispielhaft gelernt und dies auch deutlich gemacht. Für beides, Synthesen bilden und Langfristprozesse verfolgen, greife ich aus der kaum mehr übersehbaren Vielzahl von Fachgebieten und Nationalsprachen einige Beispiele heraus, soweit sie in deutscher Sprache vorliegen und soweit sie eine originelle Synthese leisten; exemplarisch stets nur ein Werk dieser Autorinnen oder Autoren. Das Erlernen der zeitlichen Langsicht und das Wahrnehmenkönnen von Zusammenhängen ist dem über tägliche Weltereignisse stets wohlinformierten Elias immer auch als eine zentrale Voraussetzung des eigenen politischen Überlebenkönnens bewusst geblieben. Michael Schröter untersucht 1985 „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe (…); sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert“ (Schröter, M. 1985). Und: „Die persönlich begründeten Integrationseinheiten der Verwandtschaft, Herrschaft, Nachbarschaft fungieren als einzige und letzte Einheiten der sozialen Kontrolle.“ – „Der sorgende Staat“ steht 1993 im Mittelpunkt von Abram de Swaans Vergleich der „Wohlfahrt, Gesundheit und Bildung in Europa und den USA der Neuzeit“ (de Swaan 1993). Er vergleicht die zivilisierenden Auswirkungen von Gesundheits-, Sozial- und Schulpolitik in Preußen, Frankreich, den Niederlanden, in Großbritannien und den USA. – 1994 legt Gabriele Overlander eine fesselnde Studie vor über „Die Last des Mitfühlens. Aspekte der Gefühlsregulierung in Berufen am Beispiel der Krankenpflege“ (Overlander 1994). Sie schildert, wie die sozio-psychischen Lasten eines Mitfühlens mit den Patienten in hundert Jahren fast ganz vom ärztlichen auf ein sich verberuflichendes Schwesternpersonal übertragen werden. – Johan Goudsblom untersucht „Feuer und Zivilisation“ 1995 in einer Langfristperspektive (Goudsblom 1995); dabei skizziert er auch Züge des allmählichen Domestizierens, des Verhäuslichen des Feuers durch die Menschen. – Sehr direkt „über das Töten und die Tendenzen der Entzivilisierung“, über die „Geheime Staatspolizei“ berichtet 1995 Hans-Joachim Heuer (Heuer, H.-J. 1995). – Grundlegende „wissenssoziologische Studien über das Verarbeiten von Gefühlen der Fremdheit“, „über Probleme der Peripherie-Zentrums-Migration am türkisch-deutschen Beispiel“ legt Hans-Peter Waldhoff ebenfalls 1995 vor; es ist wirklich eine Arbeit über „Fremde und Zivilisierung“ (Waldhoff 1995). – Ausgeprägt historisch-wissenssoziologisch geht 1999 die umfängliche Arbeit „zur Komplementarität von Staatenbildungsund Intellektualisierungsprozessen“ von Elçin Kürûat-Ahlers vor (Kürûat-Ahlers 2003). Sie skizziert das ganze Denk- und Glaubensgebäude des Islam im Zusammenhang seiner Herrschafts- und Gesellschaftskonzepte. Und sie widmet sich 305
dann vor allem der durch die Machtverluste im 17. Jahrhundert langsam beginnenden „Europäisierung“ oder „Verwestlichung“ eines Teiles seiner Machteliten. Beispiele dieser Art setzen originell und unmerklich die Haltung von Elias fort. Sie unterscheiden sich von vielen überkommenen „theoretischen Ansätzen“ oder auch „erkenntnispolitischen Konzepten“. Sie weiten für die menschlichen Großgruppen, aus deren Erfahrungsraum heraus sie geschrieben sind, den Blick. Sie offerieren ihnen relativ langfristige Sehweisen. Und sie haben weiterhin langfristige Auswirkungen. Einzelne Menschen oder umfassende Großeinheiten lernen nicht nur die ihnen vorgegebenen Handlungsgrenzen besser einzuschätzen; sie können auch wie „Der Fischer im Mahlstrom“ (1983) herausfinden lernen, mit realitätstüchtigerem Handeln die eigene Lage doch etwas zu bessern (Kürûat-Ahlers 2003: 73-183). Es sind solcher Art behutsamster handlungsanweisender Implikationen, die den „Außenseiter“ Elias bei den weniger Etablierten weiterhin weltweit attraktiv bleiben lassen.
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Teil IV Zivilisation, Gewalt und Töten
1. Soziale Wandlungen der Affekt- und Verhaltensstandarde sowie der Identitätsgemeinschaften. Zur Zivilisierung eines vereinten Deutschlands
1. Welche Kräfte haben gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Zivilisierung Deutschlands, die Zähmung der „gescheiterten Großmacht“ (Hillgruber 1980) bewirkt? Zeigt nicht schon ein Überblick, „eine Skizze des Deutschen Reiches 1871-1945“ trotz aller Brüche und Neuanfänge eher „die durchgängigen Linien“ in den „weltpolitischen Ambitionen“ der deutschen Führungsschichten? „Die ‘deutsche Frage’ in der Weltpolitik“ (Hillgruber 1995) wird seit 1945 neu gestellt. 1990 vereinen sich eine weltwirtschaftliche Hegemonialmacht und eine gescheiterte DDR. Ist die „deutsche Frage“ gelöst oder beginnt sie erst? 2. Wer die verhältnismäßig große Kontinuität der deutschen Machtgruppen beobachtet, erkennt sie vor allem im „Bündnis der Eliten“ (Fischer, F. 1979). Wer seine „Studien über die Deutschen“ (Elias 1989a) besonders auf die Verhaltens- und Empfindenswandlungen der Machtgruppen seit Beginn des Kaiserreiches richtet, kann zeigen, wie die Verhaltens- und Normenkanons einer aristokratischen Kriegerkaste allmählich mit denen der Beamtenelite und des Industriebürgertums verschmelzen; während schließlich aus den humanistischen immer stärker nationalistische Mittelklasse-Eliten hervorgehen. Ihnen werden Sozialdarwinismus und Antisemitismus zu einer Art Sozialreligion. Sie bereiten die Untertanen vor, die vierzig Jahre später den Historiker nur noch verzweifelt fragen lassen: „Why did the heavens not darken?“ (Mayer 1988). (Wie) Haben sich daraus schließlich neue Normenkanons, Affektstandarde, Mentalitäten und nationale Selbstbilder der Machteliten beider deutscher Staaten entwickelt?
3. Aus der europäischen Staatenfiguration des 19. Jahrhunderts, aus ihren charakteristischen Machtbalancen, aus der „Weltkriegsepoche von 1914 bis 1945“ entsteht mit der „Zerstörung Europas“ (Hillgruber 1988) um die Mitte des 20. Jahrhunderts ein neues Staatensystem. Die „Strategie der großen Mächte“, „der Zweite Weltkrieg“ (Hillgruber 1985) haben nicht nur den langen Machtverlust Europas eingeleitet – am deutlichsten durch die Prozesse der Dekolonisation markiert, sie haben über verschiedene Staatenkoalitionen zum Entstehen der „Supermächte“ und schließlich mehrerer „Block“bildungen von Staaten geführt. Aber die relative, längere innere Befriedung Europas, an dessen Rändern weiterhin Bürgerkriege und hochgradig kriegerische Spannungsgebiete bestehen, hat auch einen neuen Prozeß des tendenziellen Machtverlustes der meisten europäischen Staaten untereinander eingeleitet. Sie verlieren an „Souveränität“ – wie man es im 19. Jahrhundert gesagt hätte, zugunsten neuer größerer gemeinsamer Überlebenseinheiten. Und in diesen Integrationsprozessen treten viele größere, regionale, auch nationale „partielle Identitätsgemeinschaften“ wieder stärker hervor, können sich selbständiger artikulieren. Welche Chancen könnten diese europäischen Tendenzen für eine Bewahrung anderer Mentalitäten in den Gebieten der ehemaligen DDR bedeuten? 4. Inzwischen hat sich am Ende des 20. Jahrhunderts aber auch ein besonderer Typ von Staatengesellschaften im westlichen Europa herausgebildet – eine tendenzielle Integration von „Staaten“ und „Gesellschaften“. Nahezu jede soziale Handlung eines einzelnen Menschen wird, anders gesagt, hier vom „Staat“ mitbestimmt. Für das 19. Jahrhundert – und in Ostmitteleuropa für das beginnende zwanzigste – hat man noch sagen können: „Wenn etwas als (genuin) europäisch anzusprechen ist, (dann) ist es die Begründung politischer Herrschaft aus dem Prinzip der Nation oder Nationalität“ (Schiedner). Nun beginnen sich neue Grenzen abzuzeichnen zwischen den westeuropäischen Wohlfahrts-Staatengesellschaften und der übrigen Welt. Diese Staatengesellschaften haben sich besonders in Gebieten entwickelt, die nie Generationen oder Jahrhunderte lang unter fremder Herrschaft gelitten haben und deshalb ein weniger tiefes Mißtrauen gegenüber dem „Staat“ gezeigt haben. – Wie verhalten sich Arbeiterschaft, Mittelschichten und Teile der alten Macht- und Bildungseliten der ehemaligen DDR gegenüber den für sie teilweise neuartigen staatlichen Einrichtungen?
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5. Die sozialen Prozesse, die im Verlauf der Transformation von agrarischen in industrielle Produktionsverfahren besonders im europäischen 19. Jahrhundert am offensichtlichsten die sozialen Muster der Gefühls- und Affektstandarde umgeprägt, bestimmte Mentalitäten miterzeugt haben, bezeichnen viele Geschichtsforscher als „Sozialdisziplinierung“. Neue „Zucht- oder Arbeitshäuser“ sollen Menschen, die das Arbeiten „scheuen“, stärker an die Arbeit gewöhnen. „Irren“anstalten sollen die „Verrückten“ weiter von den „Bürgern“ trennen. Aber auch die neuen stehenden Heere sollen der Mehrzahl der vom Lande stammenden Analphabeten eine „Schule der Nation“ werden. Ähnlich wirkt der „Patriarchalismus im industriellen Großbetrieb“ (Tenfelde 1991) auf die Arbeiter in den neuen Fabriken. Wir können hier auch von neuen Zivilisierungsinstanzen sprechen, soweit sie zur vermehrten Fähigkeit einer psychischen Selbststeuerung der einzelnen Menschen beigetragen haben, soweit sie den Einzelnen das „Umsetzen von Fremdzwängen in Selbstzwänge“ erleichtert haben. In vielen westeuropäischen Staaten sind im 20. Jahrhundert die Verwalter der legitimen staatlichen Gewaltpotentiale immer deutlicher getrennt worden von den Einrichtungen der Legitimitätsbeschaffung und noch weit stärker von den Leitungen der Wirtschaftsunternehmen. – Wieweit hat eine über vierzigjährige Militarisierung der staatlichen Bürokratien für die Durchsetzung des Staatsglaubens und auch der industriebetrieblichen Leistungen in der DDR zu anderen Zivilisierungsstandarden geführt? Und ist nicht allein das Arbeitsverhalten in der DDR weit mehr von Fremdzwängen und viel weniger von Selbstzwängen bestimmt worden? 6. Der lange Kampf um das Errichten des „Sozialstaates“ (welfarestate; verzorgingsstaat) und schließlich dessen Etablierung hat die große Mehrheit der StaatsbürgerInnen sozial stärker gesichert und ihre Gefühle und Loyalitäten grundlegend umstrukturiert. Bereits die älteren „Nationalstaaten“ haben eine generalisierte, meist kostenlose Massenerziehung („Schulpflicht“) und eine Einheitssprache eingeführt, die u.a. der früheren kulturellen Zersplitterung entgegenwirken soll. Die meist nur mittelbar mit dem Staat verbundenen sozialpolitischen Institutionen bieten nun allen eine weitgehende „Soziale Sicherheit“ gegen die existentiellen Risiken von Krankheit, Unfall, Altern, Arbeits- und Einkommenslosigkeit. In seiner fünf „Sozialstaaten“ vergleichenden Studie „In the care of the state“ stellt der Niederländer A. de Swaan 1988 fest: Einmal sind die Emotionen und Affekte der Menschen verändert. Und dann hat sich gleichzeitig in diesen zwangsweisen Sys311
temen die Macht der „professions“, der Ärzte, Lehrer, Juristen und anderer akademischer Berufe, beträchtlich vergrößert. Damit sind neue Grenzen zu den NichtSozialstaaten geschaffen worden, deren Menschen jetzt den Eintritt in ein Garantiesystem einer sozialen Sicherung weit attraktiver finden als den bloßen Beitritt zu nationalen Identitäts- oder Sprachgemeinschaften. 7. Die größten gesellschaftlichen Überlebenseinheiten sind für die meisten Menschen in Europa nicht mehr allein die Nationalstaaten. Militärischer, wirtschaftlicher oder rechtlicher Schutz werden jetzt teilweise auch von transnationalen Überlebenseinheiten gewährt. Dementsprechend bilden sich auch neue Identitätsgemeinschaften. Die früheren Nationalismen werden ein Kennzeichen „für schlecht integrierte Territorien“ (Loewenstein 1990). So wächst beispielsweise die positive Identifizierung mit der Europäischen Gemeinschaft im Laufe von 20 Jahren in den Mitgliedstaaten kontinuierlich an (Eurobarometer). Oder eine Untersuchung: „Junge Generationen und Europäische Einigung“ (Weidenfeld/Piepenschneider 1990) stellt fest: „Die Befürwortung eines vereinten Europa ist unter den Jugendlichen ausgeprägter als unter der älteren Generation.“ 8. Wie sehen die Nachbarn Deutschland? Fast immer sind „Selbstbilder“ idealisierter als „Fremdbilder“. Kein Nachbarland hat erkennbar die Vereinigung Deutschlands gewünscht, sie bestenfalls freundlich hingenommen. Im ganzen sehen die meisten Nachbarn die Deutschen wenig freundlich und voller böser Erinnerungen. Generell bemerkenswert ist vielleicht die lange Kontinuität dieser Fremdbilder. Ich muß nicht an die fernen Idealisierungen erinnern; etwa die Begeisterung Deutscher für die Griechen und umgekehrt. Stattdessen zwei Beispiele für relativ unfreundliche Einstellungen: Holländer: „Niederländer über Deutsche“ (Renckstorf/Lange, O. 1990): „Deutsche werden von den befragten Niederländern mithin – so lautet ein zentraler Befund dieser Studie – nicht grundsätzlich anders, sondern eben nur – signifikant – negativer gesehen als die Niederländer.“ Andere konstatieren ganz ähnlich einen „Haß auf die blöden Deutschen“ (moffenhaat) oder ein „anti-deutsches Sentiment“. Die Kenntnisse der Deutschen hat Ernest Zahn 1984 am bündigsten für sie formuliert: „Das unbekannte Holland.“ Polen: Hier ist es etwas anders. Beide Fremdbilder entsprechen einander schon seit langem relativ stark. Um „das Deutschlandbild der Polen“ hat sich eine 312
ganze Literatur gebildet. Das „Polenbild der Deutschen“ ist durch schreckliche Dokumente festgehalten. Die Beziehungen „Deutsche – Polen – Juden“ (JerschWenzel 1987) werden von vielen verdrängt. Wesentlich sind bereits „die polnischen Teilungen und ihre Einwirkung auf die Mentalität der Deutschen und Polen“ (Topolski 1974) gewesen. Die Bemühungen eines Teiles der Politiker und der Intellektuellen haben wechselseitige Kenntnisse vermehrt und Freundschaften begründet. Haben sie auch die Gefühle der meisten Menschen verändert? Können die Zivilisierungsdifferentiale zwischen Deutschen und Polen verringert werden, indem die Grenzen geschlossen werden? – Anders die Niederlande: bitter formuliert etwa W.L. Brugsma (1989): „Deutschland ohne Holland ist sehr gut denkbar; Holland ohne Deutschland nicht.“ 9. Beträchtliche Diskrepanzen in Mentalität und im Haushalten mit den eigenen Affekten tun sich zwischen den Deutschen in Ost und West auf. Viele, besonders in der DDR haben zu diesen Befunden beigesteuert, etwa H.-J. Meyer (1990), letzter Minister für Bildung und Wissenschaft, H.-J. Maaz (1990) oder W. Engler (Engler et.al. 1990; Engler 1992a), L. Marz (1990). 10. Längerfristig hängt die Zivilisierung eines vereinten Deutschlands auch davon ab, wie die Deutschen die Menschen in den ärmeren Ländern der Erde behandeln; viele von ihnen sehen Deutschland als friedliche Reichtumsinsel an, die sie bald aufzusuchen trachten. Und die „Zähmung der Deutschen“ (Schwarz, H.-P. 1985) hängt nicht davon ab, daß die Deutschen „machtbewußter“ werden. Sie hängt davon ab, wie es den ehemaligen Supermächten und den europäischen Staaten gelingt, andere Mittel als die 40jährige schmerzliche „Teilung“ zu erfinden und durchzusetzen, wie etwa das Institutionalisieren der Konferenzen für Sicherheit und Zusammenarbeit etc. – Ich habe alle Fragen beiseite gelassen, die sich „mit Geld“ lösen. Für die Mentalitätswandlungen gilt das kurzfristig kaum. Sie werden hauptsächlich durch langfristige Machtverschiebungen und Veränderungen der Machtbalancen erzeugt, sind kaum „planbar“, manchmal aber veränderbar.
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11. Warum sind die einzelnen Machtquellen der „Machteliten“ der DDR von den Sozialwissenschaften so falsch eingeschätzt worden? Ein wirklicher Kultus des extremen Zurückhaltens von Tatsachendarstellungen und Nachrichten, ein Geheimhalten von all und jedem hat ja alle betroffen, Beobachter und Beobachtete, Beherrschte und Herrschende. Die Auseinandersetzungen darüber beginnen. Sie werden die bisher allein auf die je eigene Gesellschaft zentrierten sozialwissenschaftlichen Analyse- und Denkschemata – vielleicht auch die „Fremdbilder“ anderer Gesellschaften in der eigenen öffentlichen Meinung – verändern. 12. Wie groß die Unterschiede der sozialen Muster von Mentalitäten und Persönlichkeitszügen aufgrund der verschiedenartigen Herrschaftsstrukturen in Ost und West geworden sind, wird inzwischen vielen deutlicher. Neue Befunde dieser Zivilisierungsdifferentiale werden beinahe täglich veröffentlicht. Und wir haben noch lange damit zu tun.
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2. Sind Menschen in der Lage, vom gegenseitigen Töten abzulassen? Zum Verflechten von Militarisierungs- und Zivilisationsprozessen
Dieser Beitrag konzentriert sich auf Probleme des sozialen Aufbaus der Tötungshemmung91, auf die Herausbildung stabilerer staatlicher Gewaltmonopole und auf deren zeitweilige Durchbrechungen. Er erörtert die Forschungsbeiträge verschiedener Spezialistengruppen zu diesen Problemen. Und er ist in vierundzwanzig Thesen unterteilt. Den verbreiteten Sätzen gegen Gewalt und Krieg und besonders den Vorstellungen von einer angeblichen Logik der Destruktion soll eine andere Auffassung entgegengehalten werden. „Menschen sind gewiß in der Lage, das gegenseitige Töten abzuschaffen“ (Elias 1985: 90). Diesen Satz nehme ich weniger als eine utopisch scheinende Hoffnung, sondern eher als die Feststellung einer menschlichen Tatsache, deren Gehalt mindestens einer empirischen Prüfung zugänglich gemacht werden kann.
91 Dieser Beitrag sei Ales Adamovic gewidmet. Er weiß, warum Menschen töten. Und er versteht es auch, das zu sagen.
1. Ich folge nicht den soziologischen „Inkompatibilitätstheoremen“92. In allen Gesellschaften entwickeln sich die „zivil-militärischen Verhältnisse“ (Vogt 1988: 433ff.) mit vielen Widersprüchen und Brüchen. Doch sie sind bisher eine globale Tatsache, die nicht einfach durch Denkbewegungen aus der Welt zu schaffen ist. Und ich versuche zu lernen aus den Einsichten vieler Friedensforscher, wenn sie zum Beispiel die Vorgänge darstellen, in denen sich „Feindbilder abbauen“ (von Bredow 1989); wenn sie etwa eine Demokratisierung der alten Formen von Außenpolitik entwerfen (Bächler 1988) oder eine „Zivilisierung“ europäischer Sicherheitspolitik erörtern (Senghaas 1990; Calließ 1989). Auch den verschiedenen Diskursverläufen der Militarismusdebatten folge ich insofern als sie die Umstände des Entstehens militärischer Tötungspotentiale verständlicher machen. Am meisten beeinflußt das von einigen Militärhistorikern erarbeitete Wissen meine zivilisationstheoretischen Modellannahmen. 2. Eine eigentümliche Figuration von Staaten kennzeichnet Europa im 19. Jahrhundert. Die meisten „europäischen Mächte“ verstehen sich – unbeschadet von oft recht unterschiedlichen Verfassungen – als „Nationalstaaten“, nur wenige noch als große „Reiche“. Europa unterscheidet sich durch diese Ausbildung der „Nationalstaaten“ von den meisten Herrschaftsgebieten der Erde. Innerhalb der meisten der europäischen Staaten sind „legitime physische Gewaltmonopole“ weitgehend durchgesetzt; sie befinden sich in Händen von „Verwaltungsstäben“. So haben es Denker wie Max Weber idealiter gefordert und euphemisch benannt. Zwischen diesen Staaten gibt es zwar einen Austausch von Gütern, Ideen und Menschen; 92 Eine erste Fassung dieses Aufsatzes geht zurück auf einen Eröffnungsbeitrag zur „Ad-hoc-Gruppe: Friedens- und Militärsoziologie“ anläßlich des 25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt/Main am 11. Oktober 1990. Der Verfasser dankt Wolfgang R. Vogt für die Einladung sowie verschiedenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für die Kritik, insbesondere Hanne-Margret Birckenbach. Vielen Beteiligten des „Golfkrieg-Kolloquiums“ im Sommer 1991 an der Universität Hannover hat der Verfasser zu danken – besonders Hans-Heinrich Nolte, Christian Riechers, Dursun Tan und Gert Schäfer für kritische Hinweise und Klaus Christoph für seine Geduld. Ein Dank geht auch an Martin Shaw, Hull.
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aber eine verläßlichere Kontrolle der Tötungsmittel besteht nicht. Und die völkerrechtlichen Regelungen sind vergleichsweise bescheiden. Nach mächtigen europäischen Kriegen, die größere Teile der Welt mit verwickeln, ist um die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht allein „die Zerstörung Europas“ (Hillgruber 1988) eingeleitet. Die älteren „Großmächte“ sind geschwächt. Die Prozesse der Dekolonisierung haben begonnen. Über etwa eine Generation lang stehen sich zwei nuklear gerüstete „Supermächte“ waffenstarrend gegenüber. Sie bestimmen maßgeblich über Krieg und Frieden mit in den von ihnen beeinflußten Gebieten der Erde. Das Zentrum der einen Supermacht wird in dem Maße geschwächt, wie dort die sieben Jahrzehnte währende Einparteienherrschaft verfällt. Während sich das Spannungsniveau innerhalb der Union der sowjetischen Republiken beträchtlich erhöht und sie einiges von ihrer vormaligen Hegemonialposition verliert, entspannt sich ihr Verhältnis zu dem „Block“ der vielen von ihr stärker abhängig gewesenen Staaten. Es bilden sich mehrpolige Machtkonstellationen zwischen den Staaten. Das führt zu großenteils gewaltlosen Umwälzungen der Regierungen und erlaubt im Jahre 1990 sogar die Vereinigung zweier deutscher Staaten ohne Gewalttat. An den Rändern Europas mögen sich hochgradige Spannungen und bürgerkriegsähnliche Phasen fortsetzen. Doch erstmals ist ein Kern europäischer Staatsgesellschaften über etwa ein halbes Jahrhundert hinweg friedlicher und enger verbunden als je zuvor. 3. Wodurch wird dieses relative Eindämmen der Gewalttat hauptsächlich bewirkt, einer Gewalttätigkeit, die das Verhältnis der Staaten Europas untereinander so viele Jahrhunderte lang gekennzeichnet hat? Das Entstehen von enger miteinander verbundenen demokratischen Nationalstaaten, die in ihren wechselseitigen Ansprüchen relativ konsolidiert sind, gehört zu den Bedingungen, unter denen sich die wechselseitige Gewalttat verringern kann. Sie sind jeweils die verhältnismäßig größten menschlichen Angriffs- und Verteidigungseinheiten geworden. Und diese Tatsache befördert die tendenzielle Ausbreitung dieses Staatentyps über die meisten Räume der Erde – zumal dort, wo sich junge Staaten bilden. Als Prinzip der anscheinend einzig möglichen menschlichen Überlebenseinheit breitet es sich selbst in Gebieten aus, wo sich – wie etwa in Teilen Asiens – das „National“staatsprinzip in vielen Fällen doch eher als „Fiktion“ (Anderson 1983) erweist. Wenn man den Nationalismus-Begriff zum Zwecke der soziologischen Untersuchung zu standardisieren versucht, damit er sich ohne die Untertöne gefühlsmäßiger Mißbilligung oder Zustimmung verwenden läßt (Elias 1989: 198f., 317
210ff.), kann man in den nationalen Normenkanons der europäischen Industriestaaten unschwer zwei einander widersprechende Verhaltensforderungen entdecken. Die allmähliche Nationalisierung des Empfindens, des Gewissens und der Ideale von Angehörigen derjenigen gesellschaftlichen Großeinheiten, die wir im 20. Jahrhundert „Nationalstaaten“ nennen, erhält ihre Impulse aus zwei unterschiedlichen Richtungen. Und die daraus entstandenen Normenkanons enthalten deshalb oftmals miteinander unvereinbare Postulate. Von den alten Kriegerkasten, in den meisten europäischen Staaten also vom Adel, sind diejenigen Forderungen ausgegangen, wonach das Überleben des „Staates“ im Zweifelsfall mit dem Tode vieler Einzelner gesichert werden muß. Und umgekehrt entspringen die Verhaltensanforderungen, wonach das Überleben jedes einzelnen Menschen stets und unbedingt den sozialen Vorrang hat, aus den meist nach der Französischen Revolution formulierten Menschenrechtskatalogen der neuen Mittelschichten. Die einzelnen modernen Industriestaaten Europas haben aus diesen widersprüchlichen Forderungen ganz unterschiedliche Synthesen hervorgebracht. Der moderne niederländische Staat etwa tendiert deutlicher dazu, dem Überleben jedes Einzelnen Vorrang einzuräumen als es beispielsweise das Deutsche Reich generationenlang praktiziert hat. Da hatte stets die „Staatsräson“ über das Leben des Einzelnen zu bestimmten gehabt. Die friedlichen Reaktionen der Deutschen auf den Golfkrieg – und besonders das reservierte Verhalten der jüngsten Generation – signalisieren einen deutlichen Wandel des nationalen Verhaltenskanons zugunsten der Menschenrechtsforderungen. Das steht im deutlichen Gegensatz beispielsweise zur „überwältigenden Zustimmung“ der Engländer, die in einigen Hinsichten differenzierter ist (Shaw/Carr-Hill 1991). 4. Wer die sozialen Chancen ermessen will, das gegenseitige Töten zu verringern, zu erschweren oder abzuschaffen, muß sich auch näher mit denjenigen Menschen befassen, die es berufsmäßig erlernen und lehren. Und er wird das Herstellen der Tötungsmittel und deren Ausbreitung über die Erde kaum außer Acht lassen können. 5. Die neuzeitlichen Prozesse der Bildung von „Staaten“ als den modernen großen Überlebenseinheiten (Elias 1985) der Erde sind durch eine gemeinsame Entwicklungstendenz gekennzeichnet – trotz aller Verschiedenheit im Einzelnen. Dort 318
formen sich (wenigstens in Ansätzen) Monopole der (legitimen) physischen Gewaltsamkeit. Die mögen sich in unterschiedlichen Phasen ihrer Entwicklung befinden. Oder sie wechseln zeitweilig ihre Entwicklungsrichtung, werden zum Beispiel für längere Zeit durchbrochen. Aber die menschlichen Großgemeinschaften der Erde, ethnisch-sprachliche oder regionale, haben unter den gegenwärtigen Bedingungen des Weltstaatensystems nur dann längerfristige Chancen als solche Großeinheiten wirklich zu überleben, wenn es ihnen gelingt, ebenfalls „Staaten“ zu gründen. Hier scheinen, um Beispiele von den Rändern Europas zu nennen, „Palästinenser“ größere Chancen zu haben als „Kurden“. Und diese Umstände begründen oft den Waffenbedarf gerade der „jungen Staaten“. In einigen der jüngsten Staaten gelingt es tatsächlich relativ bald, sämtliche Gruppen zu entwaffnen. In anderen Gebieten bestehen zwar seit langem „Staaten“; doch mächtige Gruppen darin erreichen oft, ebenso lange bewaffnet zu bleiben. Afrika, Lateinamerika oder das südliche Asien sind reich an derartigen Beispielen. In einigen der großen Staaten ist das durchschnittliche Gewaltniveau höher als in Westeuropa; und Polizeibehörden raten Bürgern dort sogar, sich selbst zu bewaffnen – so in den USA. In einigen Großstaaten wie etwa in Indien sind zwar die permanenten Kriege auf dem Subkontinent seit der englischen Herrschaft sehr stark eingedämmt worden, das tägliche Gewaltniveau ist dennoch unvergleichlich hoch geblieben. Einige größere Staaten mit relativ hohem eigenem Gewaltniveau verfügen über nukleare Waffen wie etwa Brasilien; andere wenden chemische Waffen gegen Menschen im eigenen Staat an, wie zum Beispiel der Irak. 6. Die Theoreme zum Zivilisationsprozeß, wie sie N. Elias im Jahre 1939 entwirft, sind hauptsächlich gewonnen worden am Beispiel der Staatenbildung Frankreichs bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Eine langfristige Verringerung innerstaatlicher Gewalttat ist darüber hinaus wirklich nachgewiesen für Frankreich von etwa 1800 an (Chesnais 1982); nach außen hat dem für mehrere Generationen das Konzept einer „defensiven Armee“ (1866-1940) entsprochen (Challener 1955). Und die Verringerung öffentlicher Gewalttat ist nachgewiesen worden für „Holland“ für den Zeitraum von 1648 bis 1965 (Zwaan 1984). 7. Eine längerfristige Verringerung der Gewalttaten zwischen den Staaten ist schwerlich festzustellen. Für „die Menschenverluste Europas vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ 319
verzeichnet eine „Bilanz der Kriege“ im Jahre 1960 (Urlanis 1960) – absolut und relativ – einen kontinuierlichen Anstieg der Opfer im Zeitraum von rund 350 Jahren. Die als besonders hoch eingeschätzten Menschenverluste der Sowjetunion werden dabei für russische Historiker gegen Ende des 20. Jahrhunderts auf Grund der nun weniger geheim gehaltenen Quellen offenbar zum ersten Mal einer genaueren Prüfung zugänglich. Verluste in den Kriegen von 1815 bis 1914 nach Ländern Nationale Befreiungsund KoloBürgernialkriege kriege in Tausend 92 141 21 112 38 -152 78 94 -1 110 47 --3 -30 5 6
Verteilung der Kriegsopfer von Kriege 1815 bis 1914 nach zwiKriegsgruppen und schen Ländern Staaten Länder Rußland 439 Frankreich 243 Türkei 322 Spanien 10 Österreich-Ungarn* 40 Großbrtannien 23 Balkanländer 122 Deutschland 64 Niederlande -Italien 18 Sonstige europäische Länder 5 1 Zusammen 1 286 451 * Bis 1867 Kaiserreich Österreich (Urlanis 1965: 335)
320
-480
Gesamtzahl 672 376 360 240 134 134 169 67 30 29 6 2 217
Nationale BefreiKriege ungszwiund Koloschen BürgernialZusamStaaten kriege kriege men in % zur Gesamtzahl jedes Landes 65 14 21 100 65 5 30 100 89 11 -100 4 63 33 100 30 70 -100 17 1 82 100 72 28 -100 95 -5 100 --100 100 62 17 21 100 83 58
17 20
-22
100 100
Zahl der europäischen Kriege von 1600 bis 1945 Insgesamt: gefallene und gestorbene Soldaten und Offiziere im gesamten Zeitraum 3 300 5 372 3 457
Dauer der Periode (in Jahren) 100 101 15
Jahresdurchschnittszahl an Gefallenen und Gestorbenen (in 1000) 33 53 230
Perioden Jahre 17. Jahrhundert 1600-1699 18. Jahrhundert 1700-18001 Napoleonische Kriege 1801-1815 Von 1815 bis zum Ersten Weltkrieg 1815-1914 2 217 99 22,4 Erster Weltkrieg2 1914-1918 9 059 4 1/4 2 132 Zwischen den beiden Weltkriegen 1918-1939 1 336 21 64 Zweiter Weltkrieg 1939-1945 über 30 0003 6 über 5 000 1 Einschließlich des Jahres 1800, des letzten Jahres der Revolutionskriege. 2 Ohne nichteuropäische Länder, aber einschließlich der Türkei. 3 Einschließlich der Verluste der nichteuropäischen Länder und der Verluste der Zivilbevölkerung.
Zahl der europäischen Kriegsopfer nach Jahrhunderten In Kriegen Gefallene und Gestorbene Jahrhundert (in Mill.) 17. 3,3 18. 5,2 19. 5,5 20. über 40,0* * Im Zweiten Weltkrieg einschließlich der nichteuropäischen bevölkerung (Urlanis 1965: 364f.)
Jahresdurchschnittszahl an Gefallenen und Gestorbenen Jahre (in 1000) 100 33 100 52 100 55 60 etwa 700 Länder und der Verluste unter der Zivil-
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Vergleich der Dynamik der Zahl der Gefallenen und Gestorbenen mit der Dynamik der Bevölkerungszahl Jahresdurchschnittszahl an Gefallenen und Gestorbenen
Bevölkerungszahl Perioden Jahre Europas I. Vormonopolistischer Kapitalismus Herausbildung der kapitalisti1600-1699 100 100 schen Produktionsweise 1700-1788 133 132 Industriekapitalismus 1789-1897 188 253 II. Imperialismus 1898-1959 etwa 2 000* 425 * Im Zweiten Weltkrieg einschließlich der Verluste der nichteuropäischen Länder und der Verluste unter der Zivilbevölkerung. (Urlanis 1965: 366f.)
Zahl der Opfer in den größten Kriegen Kriege Dreißigjähriger Krieg Spanischer Erbfolgekrieg Nordischer Krieg Österreichischer Erbfolgekrieg Siebenjähriger Krieg Revolutionskriege Russisch-türkischer Krieg 1806-1812 Napoleonische Kriege Russisch-türkischer Krieg 1828/29 Krimkrieg Bürgerkrieg in den USA Deutsch-französischer Krieg Russisch-türkischer Krieg 1877/78 Russisch-japanischer Krieg Balkankriege 1912/13 Erster Weltkrieg Bürgerkrieg in der UdSSR Nationalrevolutionärer Krieg in Spanien 1936-1939 Zweiter Weltkrieg (Urlanis 1965: 367f.)
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Gefallene und gestorbene Soldaten und Offiziere (in 1000) 600 700 300 450 550 1 100 225 3 105 205 309 538 188 190 139 224 9 442 800 450 über 30 000 (einschließlich Zivilbevölkerung)
8. Die langfristige Zunahme der Opfer entwickelt sich auf weite Strecken hin parallel zum Organisieren des Tötens sowie zum Herstellen und Differenzieren der Tötungsmittel. Das lange Nebeneinander der beiden Prozesse ist bisher vorwiegend allein für die einzelne Staatenbildung erkundet worden. Eine Mehrzahl von Geschichts- und Sozialforschern beschränkt ihre wissenschaftliche Neugier noch immer auf das Entstehen der eigenen Staatsnation – als bestünden moderne Staaten überhaupt ganz unabhängig voneinander. Doch es mehren sich Versuche, wenigsten einige globale längerfristige Tendenzen zusammenzufassen. Auf der „Jagd nach mehr Gewalt“ im Weltmaßstab verschränken sich, folgen wir etwa W. McNeill, technologische, militärische und gesellschaftliche Entwicklungen immer stärker. Die „Vorherrschaft Chinas“ besonders im 10. und 11. Jahrhundert beruht vor allem auf seiner unvergleichlich intensiven Kommerzialisierung, seinem teilweise hohen Niveau einer bereits großbetrieblich organisierten Eisen- und Stahlproduktion bei gleichzeitig meist realisierter ziviler Kontrolle der Armeen (McNeill 1982: 24ff.; 1984: 33ff.). Vom Mittelalter an intensivieren sich dann die Anstrengungen im Hinblick auf eine wirksamere Gewaltorganisation in Europa, wie es beispielsweise im Gefolge H. Delbrücks, M. Howard am „Krieg in der europäischen Geschichte“ zeigt; er schildert im Zusammenhang, wie die Verfügung über Produktion und Kontrolle von Tötungsmitteln in langen zeitlichen Schüben in die Hände von immer spezialisierteren Gruppen gelangt. Er skizziert, wie aus den mittelalterlichen „Ritter“heeren, den rasch anmietbaren „Söldner“heeren allmählich die kriegerischen Aktionen der „Kaufleute“ werden, der „Bankiers“, die seit dem 16. Jahrhundert den Fürsten Kriege finanzieren und schließlich helfen, „Kolonien“ zu erobern. Für sie gilt, Geld sei das Wesen des Krieges, „pecunia nervus belli“ (Howard 1976: 38; 1981: 56); oder aus der Sicht derjenigen Franzosen gesagt, die Söldner zu beschaffen hatten und dabei an „die Schweizer“ dachten: „Pas d’argent, pas des Suisses“. Mit der allmählichen Bürokratisierung der nun im 18. Jahrhundert „stehenden Heere“, ihrer „Nationalisierung“ im Gefolge der Französischen Revolution beginnt um etwa 1840 die „Industrialisierung des Krieges“ (W. McNeill, 1984; 198), die Kriegsführung mit „Ingenieuren“ (Howard 1976: 116) und mit „Physikern“. 9. Wie das Erleben des Tötens als eines Massenereignisses im gemeinsamen Gedächtnis der großen menschlichen Überlebenseinheiten bewahrt wird – ob überhaupt eine nennenswerte Erinnerung daran verbleibt und zu welchen sozialen Wandlungen 323
die bleibende Erinnerung dann tatsächlich führt, – derartige Fragen haben bisher nur wenige Menschen im Zusammenhang zu beantworten versucht. In vielen nationalen Schriftkulturen finden wir Tendenzen einer Antikriegsliteratur. Doch in den meisten Nationalstaaten haben bisher Literaturen den Vorrang gehabt, die das Töten romantisieren oder mythologisieren. Kriegerische Erlebnisse oder bestimmte Kriege werden noch immer weiter verherrlicht. Während diese Gewalttaten von einigen Geschichtsforschern wenigstens in den Chronologien der Ereignisse erkundet werden, sind sie aus den theoretischen Modellen der Sozialforscher weitgehend eliminiert worden. Im Gedächtnis vieler einzelner Menschen hinterläßt das Erleben des massenhaften Tötens dagegen tiefe Spuren. Sie prägen die Persönlichkeit ein Leben lang. Und in ungezählt vielen Fällen sind sie Ausgangspunkt schwerer Neurosen (Leed 1979: 163ff.), dem oft einzigen „Fluchtweg aus dem Labyrinth der Erfahrungen des industrialisierten Krieges“. Individuelle Zeugnisse des erlebten Schreckens finden wir genug. Sie werden manchmal verglichen mit den sozial verallgemeinerten, den „literarisch“ gewordenen Erfahrungen, um „die beharrlich fortdauernde Erinnerung“ an den Krieg selbst besser zu verarbeiten (Fussell 1975). Doch welche strukturellen Umformungen der sozialen Standards des Empfindens und Fühlens, des sozialen Habitus etwa in der nächsten Generation daraus erwachsen, ist kaum zu erkennen. Was lernen ganze Gesellschaften aus der Erinnerung der vielen einzelnen Menschen an den Schrecken? Worin anders mag „der Sinn des Erinnerns“ (Grosser 1990: 258) zu finden sein als darin, zu lernen vom Töten abzulassen? 10. Nimmt die Angst der Menschen mit der Erfahrung des industrialisierten Tötens zu? Wie anders wäre der lange Frieden zu erklären, der die wechselseitige „Politik der nuklearen Abschreckung“ begleitet hat? Die Angst der Lebenden vor dem Töten und vor dem Tode hat überall zur Erhöhung der Macht der Lebenden gedient. „Da die Bewirtschaftung der menschlichen Ängste zu den bedeutendsten Quellen der Macht von Menschen über Menschen gehört, entwickelten sich auf dieser Basis Herrschaftssysteme in Hülle und Fülle“ (Elias 1982b: 52/57). Und die gemeinsame Todesverdrängung in modernen Gesellschaften (Nassehi/Weber, G. 1989) mag dazu beitragen. Aber moderne Staatsbürger können sich von denjenigen Menschen, die töten, stärker sozial distanzieren; und damit können sie deren Macht bisweilen verringern. Beschränken wir uns auf deutsche Beispiele, kann das die Lage des deutschen Offizierskorps nach 1945 gut veranschaulichen. „Offiziere“ stehen mindes324
tens seit dem 18. Jahrhundert stets an der Spitze der gesellschaftlichen Rangordnung in Deutschland. Nach dem Jahre 1945 befinden sie sich erstmals am untersten Ende der Skala beruflichen Prestiges. Ja, für kurze Zeit sind sie praktisch sozial geächtet worden. Selbst haben sie das als gemeinsamen Machtverlust erlebt. Es ist ein Ergebnis ihrer Art, den Krieg zu führen, gewesen, mit dem sie den größten Teil Europas überzogen haben. Viele von ihnen hatten sich an dem planmäßigen Ermorden der zivilen Bevölkerung durch die sogenannten Einsatzgruppen besonders in der Sowjetunion beteiligt, hatten die Massaker der „Truppe des Weltanschauungskrieges“ (Krausnick/Wilhelm, H.-H. 1981) geduldet oder unterstützt. Ein Kenner der deutschen Offiziere befindet eine Generation später: „Auf dem Gebiet des Kriegsvölkerrechts, einer der wichtigsten Errungenschaften zwischenstaatlicher Kulturleistungen, bietet sich das Bild eines absoluten Versagens, der militärischen Führung. (...) So muß der Krieg gegen die Sowjetunion (...) über den allgemeinen Unrechtsgehalt des Angriffskrieges hinaus als ein von der Wehrmacht-, Heeres-, Luftwaffen- und Marineführung mitgeplantes kriminelles Ereignis gewertet werden, das den absoluten Tiefpunkt der deutschen Militärgeschichte darstellt“ (Messerschmidt 1988: 243, 251). Und mit einigem Verständnis dafür, „daß die schon 1957 in der Bundeswehr stehenden 44 Wehrmachtsgenerale und -admirale, die mehr als 10.000 ehemaligen Wehrmachtsoffiziere und die vielen Unteroffiziere“ wohl überwiegend eine neue politische Einstellung gefunden hätten, kämpft er darum, daß die gegenwärtigen militärischen Führer sich von jener „Tradition“ stärker sozial distanzieren (Messerschmidt 1988: 251). Eine Mehrzahl der Staatsbürger – und besonders der jüngsten – hat das vermutlich getan; anders ist der Zivilisierungsschub schwerlich zu erklären, wie ihn der breite Unwillen sich am fernen „Golfkrieg“ stärker zu engagieren offengelegt hat. Eine andere Chance, sich stärker sozial distanzieren zu können vom Erlernen des Tötens besteht in der „Wehrdienstverweigerung“. Gemessen daran, wie sich viele militärische Führer im Krieg 1939 bis 1945 gegenüber ihren Soldaten verhalten haben, ist die Einführung dieses Institutes zusammen mit dem Wiederbeginn der generellen Wehrpflicht als ein weiterer Zivilisierungsschub der deutschen Gesellschaft verstanden worden. Gemessen an jenen Soldaten, die zu ihrem Wehrdienst auch durch reale Todesdrohungen gezwungen worden sind (Messerschmidt/Wüllner 1987), haben ein halbes Jahrhundert später Wehrpflichtige einen Machtzuwachs gegenüber ihrem nationalen Staat erfahren. Immer mehr junge Männer können sich nun weigern, das Töten auch nur zu erlernen. Sie sind jetzt – zivilisationstheoretisch gesprochen – eher in der Lage, unabhängiger von den Fremdzwängen ihres Staates sich seelisch selbst zu steuern. Für die Mehrzahl der Frauen hat dies im Hinblick auf die Appelle des Staates, das Tötungstabu zu durchbrechen, schon lange gegolten. Die Stärke der Tötungshemmungen ist beträchtlich gewachsen. Die große Mehrzahl jener Jugendlichen, die nun in Friedens325
zeiten zum Wehrdienst bereit sind, tut das jetzt „mit schlechtem Gewissen“ (Birckenbach 1985). Könnten an solche neuen Stimmungslagen nicht die vielen Konzepte einer „sozialen Verteidigung“ praktisch anschließen? 11. Dennoch sind die langen sozialen Prozesse des Militarisierens der Staaten und Gesellschaften eine soziale Tatsache. Die Gewaltpotentiale zum massenweisen Töten konzentrieren sich nicht nur in den „National“staaten des europäischen 19. und 20. Jahrhunderts. Sie haben sich auf die Staatenwelt der ganzen Erde ausgeweitet (Ross, A.L. 1987). Besondere Militarisierungsschübe bilden einen wesentlichen Zug des deutschen Staatenbildungsprozesses. Und nicht nur von den Nachbarstaaten wird das Entstehen Deutschlands mit der Geschichte seiner Armee gleichgesetzt. Die Veränderungen des Jahres 1990 könnten deshalb einen säkularen Wandel einleiten; denn erstmals stehen drei größere Armeen (neben verschiedenen kleineren) auf deutschem Boden friedlich nebeneinander. Sie haben sich kurz zuvor nur als Gegner betrachten können. Die anderen kleineren, scheinen ihren Weg nach Hause selbständig zu finden. Die eine deutsche wird aufgelöst beziehungsweise in der anderen aufgenommen. Der großen fremden Armee zahlen die Deutschen ihren Sold und ihren Aufenthalt, ihre Heimreise und darüber hinaus in ihrer fernen Heimat neue Wohnungen. Ein halbes Jahrhundert zuvor haben Deutsche noch mehrere Millionen sowjetischen Soldaten als Kriegsgefangene durch unmenschliche Behandlung, besonders durch Hunger und Seuchen getötet (Streit, Ch. 1978; Nolte 1991: 57ff.). Haß und soziale Verachtung hatten sich auf die sowjetischen Soldaten besonders konzentriert. Während etwa 57 % aller russischen Gefangenen in Deutschland gestorben sind, sind zu gleicher Zeit von den englischen und amerikanischen Gefangenen etwa 3,5 % verstorben. Ein derartiger verhältnismäßig grundlegender Wandel der Einstellungen gegenüber den Bürgern der Sowjetunion ist Ausdruck eines weiteren Entwicklungsschubes in Richtung auf eine Zivilisierung der Deutschen. Er gründet vornehmlich auf dem inzwischen erreichten Niveau intensiverer Verflechtungen zwischen den Staaten, den Gesellschaften und den wirtschaftlichen Großeinheiten. Das läßt sich messen am stärkeren Austausch von Menschen, Gütern oder Nachrichten. Und es kann auf Dauer gesichert werden durch den weiteren Ausbau weiterreichender Verteidigungs- und Überlebenseinheiten wie den Systemen der gegenseitigen Sicherheit und Zusammenarbeit (Senghaas 1990). Die Deutschen vollziehen den Übergang aus einer von Kriegeridealen dominierten in eine zivilere Gesellschaft später als viele andere Europäer. Vom 19. 326
bis weit in das 20. Jahrhundert hinein beherrscht eine vom Adel bestimmte Kriegerkaste nicht nur das preußisch-deutsche Offizierskorps und die Diplomatie, beeinflußt also die meisten Außenbeziehungen des Staates maßgebend. Seinen jahrzehntelangen Kampf, das nach den napoleonischen Kriegen reformierte preußische Heer durch die Verfassung zu zähmen, hat das deutsche Bürgertum verloren. Viele Besitz- und Industriebürger übernehmen nun weitgehend Attitüden und Ehrenkodex, doch auch Macht- und Gewaltphantasien der Offiziere. Hinter dem großen Heeres- und Verfassungskonflikt von 1860-1866 stehen zuletzt königliche Berater, deren Ideal nicht nur eine Armee des reinen Kommißgehorsams ist, „d.h. eine Armee als königliches Hofgefolge und als Staat im Staate, losgelöst aus aller Verbindung mit dem politischen Leben der Nation, sondern der königliche Absolutismus schlechthin“ (Ritter, G. 1954: 206). In der Zeit von 1871-1914 wird dann die preußisch-deutsche Armee „Staat im Staate“; so hatten es etwa angloamerikanische Beobachter wohl schon immer eingeschätzt (Craig 1955: 241). Um so mehr hatten sie sich darüber gewundert, wie „die Begeisterung des Volkes für die Armee sogar noch größer geworden“ sei. Aber auch viele Angehörige des mächtigen Bildungsbürgertums in Kirchen, Schulen oder der Justiz identifizieren sich weitgehend mit der führenden adlig-militärischen Kaste; zählen selbst beispielsweise zu der „satisfaktionsfähigen Gesellschaft“ (Elias 1989). Eins der erschreckendsten, weltbekannt gewordenen Zeugnisse für die Kriegsbegeisterung deutscher Gelehrter und prominenter Professoren im Kaiserreich, für den Superioritäts- und Weltmachtwahn der Bildungselite, bleibt die „Erklärung der Hochschullehrer“ und Künstler „an die Kulturwelt“ vom 23.10.1914. Sie wird mit angeregt von dem Altphilologen Ulrich von WilamowitzMoellendorf und in „zehn fremde Sprachen“ veröffentlicht (vom Brocke 1985). Eine Mehrzahl der deutschen Historiker übernimmt „die argumentative Führungsrolle im Ersten Weltkrieg“ (Bruch, R. vom 1986: 89). Sie hatten schon lange zu ihren Aufgaben gezählt, die „Macht“ des eigenen Staates legitimieren zu helfen. Sogar noch unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkrieges und angesichts der im Namen dieses deutschen Staates verübten Untaten wird diese Entwicklungslinie von „Staatskunst und Kriegshandwerk“ (Ritter, G. 1954) eigentümlich ambivalent monumentalisiert. „Kommt doch das einheitliche Phänomen der militaristischen Staatsräson Preußens nie recht in Sicht: es wird aufgespalten in zwei Gegensätzlichkeiten“, befindet ein wohlwollender Rezensent (Dehio 1955: 230, 222). Er meint, bei Ritter glichen „‘Staatsräson’ und ‘Militarismus’ den Figuren eines Wetterhäuschens, die eigentlich nie gleichzeitig sichtbar sind. Bei gutem Wetter tritt die erste Figur, bei schlechtem die zweite hervor.“ Auf einem derart militärisch geprägten Hintergrund der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs und mit einem so weit militärisch bestimmten Bild vom eigenen Staat lebt ein Großteil der deutschen Machteliten bis hinein in die Zeit 327
nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit ist der eigentliche Zivilisierungsschub schärfer zu erkennen, den die Gesellschaft der Bundesrepublik bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts erfährt. Entsprechend werden nun ihre Machteliten und besonders die Streitkräfte im Jahre 1990 auch von anderen Staaten als friedfertiger geworden eingeschätzt (Heuer, U. 1989). Ohne die vor allem im 19. und 20. Jahrhundert durchlaufenen Militarisierungsphasen ist die deutsche Gesellschaft um das Jahr 1990 schwerlich zu begreifen. Sicher ist das öffentliche Interesse an einer umfassenden wirtschaftlichen Durchdringung staatlicher Tötungspotentiale in den Generationen seit Beginn des Kaiserreichs beträchtlich gewachsen. Doch der tiefe Graben zwischen den wenigen Menschen, die sich etwa mit der „Geschichte der Kriegskunst“ befassen, wie es der immer noch kompetenteste Kenner H. Delbrück genannt hatte, und denjenigen Sozialforschern, die sich mit umfassenden Denkmodellen „ziviler“ Gesellschaften befassen – und nur mit diesen allein – dieser intellektuelle und professionelle Gegensatz besteht noch immer. Vergeblich hat sich seit dem Jahre 1900 jemand wie Hans Delbrück bereits bemüht darauf hinzuwirken, die Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte zu verstehen. Und so sind auch die im 19. Jahrhundert aufkommenden Sozialwissenschaften in ihren soziologischen wie in ihren marxistischen Varianten im Hinblick auf die organisierte Gewalttat nur zu wenig wirklichkeitsgerechten Denkmodellen gelangt (Joas/Steiner, H. 1989). Im Grunde ist jene modelltheoretisch folgenreiche Denkspaltung bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts erhalten geblieben. Und von ein paar Ausnahmen abgesehen gilt ein Befund wie der A. Hillgrubers (1972: 133) noch immer: „So bedeuten die Absage an Delbrücks Versuch, die Geschichte des Militär- und Kriegswesens in die allgemeine Geschichte zu integrieren, und der Rückzug auf Kultur- und Geistesgeschichte die erneute Überlassung der Kriegsgeschichte an die Militärfachexperten mit der darin eingeschlossenen Problematik und den davon ausgehenden Gefahren einer schlichtweg der Praxis dienenden Hilfslehre für aktuelle militärstrategische und militärtechnische Planungen.“ Zu den Ausnahmen zählen vielleicht auch einige der im Nuklearzeitalter aufkommenden „war intellectuals“ (Unger, F. 1989). Das ganze Werk von Norbert Elias ist zentriert um Probleme der längerfristigen Verringerung der menschlichen Gewalttat als Machtquelle sowie um die Frage, was dies, wo es überhaupt gelingt, für die seelischen Wandlungen der Menschen bedeutet; wie sie dann von ihren anderen Machtchancen dort Gebrauch machen, wo die Gewalttat als Machtquelle nicht mehr verwendet wird. Erstmals beginnt Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine Theoriedebatte auch unter englischen Soziologen. Sie gehen aus von einer Kritik der bisherigen „Gesellschafts“modelle (Shaw 1989). Diese hätten die „Gewalt“ im Zusammenhang des Entstehens der „Nationalstaaten“ nicht genug berücksichtigt (Giddens 1985) oder hätten die Bedingungen von Krieg und Frieden nie modelltheoretisch hinreichend mit einbezo328
gen (Creighton/Shaw 1987; Shaw 1988). Ein soziologisches Zwischenergebnis jener englischen Debatte sind pazifistische Theoriemodelle, die für das Nuklearzeitalter eine „postmilitärische Gesellschaft“ entwerfen (Shaw 1991b). 12. Ein Beispiel für die umfassende Militarisierung einer deutschen Staatsgesellschaft hat die Deutsche Demokratische Republik geboten. Hier ist eine lange deutsche Überlieferung fortgesetzt worden. Ähnlich wie über den preußischen und den hitlerischen Staat muß wohl auch hier gesagt werden, daß „scheinbar ein Dilemma zwischen dem Eliteanspruch des Heeres und den Notwendigkeiten der Militarisierung der Massen im Sinne der konservativen Militärs gelöst wurde“ (Hillgruber 1974: 148). Dieser Militarisierungsschub der rund vier Jahrzehnte bestehenden Deutschen Demokratischen Republik hat sich ganz im Gegensatz zu dem erklärten Staatsglauben seiner Machteliten vollzogen, was die meisten Bürger genau wahrgenommen haben. Diese Militarisierung hat sich durchaus im mehrfachen Sinn des Wortes vollzogen, wenn wir die bisher in der internationalen Debatte gewonnenen Unterscheidungen anwenden (Berghahn 1986). Die symbolische Dominanz der Nationalen Volksarmee hat nahezu sämtliche gesellschaftlichen Teilbereiche beeinflußt. Organisationspraktiken, Zeichen- oder Kleidungsgebrauch und Kulturtechniken des Militärs haben die meisten Organisationen in Sport, Kultur oder im Schulwesen durchdrungen; nahezu jegliche „Mobilisierung“ der vielen einzelnen Bürger hat die Staatspartei mit Hilfe militärartiger Sozialpraktiken zu erreichen versucht. Aber wir werden auch davon ausgehen müssen, daß die militärische Gewalt direkt nahezu sämtliche zivilen Aktivitäten zu dominieren gesucht hat. Eine separate zentrale Unterdrückungsbürokratie, „Schwert und Schild“ der Staatspartei, ist in ihrem sichtbaren Teil nach militärischen Rangordnungen gegliedert gewesen und durchweg in Uniform aufgetreten. Sie hat nahezu jede erdenkliche gesellschaftliche Teileinheit und selbst intimste Beziehungen zwischen den Menschen zu kontrollieren gewußt. Und darüber hinaus ist das, worauf sich Militärs gewöhnlich vorbereiten und was sie tatsächlich zu tun haben – das Töten – auch gegenüber den eigenen Bürgern praktiziert worden. Die „geheimen Protokolle des Todes“ über die Opfer der „Grenztruppen an der Mauer (Filmer/Schwan, H. 1991) bezeugen das. Kaum auszudenken, was die in den „Bezirkshauptstädten“ und in anderen Zentren vorgefundenen eigenen Waffenlager der „Staatssicherheit“ oder die in allen größeren Industrieunternehmen bereitgehaltenen „Betriebskampfgruppen“ weiter hätten anrichten können. Diejenigen, die als Angehörige der „Grenztruppen“ an der „Mauer“ eigene Bürger getötet haben, sind dafür ausgezeichnet worden, wie es 329
beim Militär üblich ist, wenn jemand bedrohliche Feinde getötet hat. Gleichzeitig und im deutlichen Gegensatz zum ordentlichen „military way“ (Vagts 1937) haben diese militärischen Führer fortwährend versucht, alle Zeugen und Zeugnisse des Tötens zu verheimlichen oder zu beseitigen. Gibt es bessere Beweise dafür, wie stark die erworbene Tötungshemmung selbst bei diesen Menschen noch gewesen ist, die vorgeblich doch aufgrund militärischer Befehle, also eigentlich rechtmäßig getötet haben? Anders gesagt, man wird diesen Verlust an Mitgefühl mit den eigenen Staatsbürgern, die eine Militärorganisation eigentlich zu beschützen hat, zivilisationstheoretisch sicher einen Prozeß der Dezivilisierung nennen müssen. Wahrscheinlich ist es noch treffender, angesichts solcher Ereignisse von Alarmzeichen eines Prozesses selbstdestruktiver Zivilisierung (Engler 1991b) zu sprechen. 13. Wie auch immer die Selbstzerstörung der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik oder das Überdauern einiger Züge ihrer Sozialstruktur erklärt werden mögen, Sozialforscher können dabei nur erfolgreich sein, wenn sie sich zuvor auch ein genaueres Bild zu machen wissen von den im Deutschen Reich einstmals vorausgegangenen Militarisierungsschüben. Warum haben Sozialwissenschaftler – innerhalb und außerhalb der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – die eigentlichen Machtquellen der Herrschaftseliten der Einparteiendiktatur so wenig realitätstüchtig einzuschätzen vermocht? (Gleichmann 1991) Überzeugende Antworten auf diese Art von Fragen dürften die Sozialwissenschaften nachdrücklich verändern. Die meisten Sozialforscher haben vorrangig oder allein auf die Herrschaftsstruktur der Staatspartei geblickt. Die wenigsten haben gleichzeitig auf die anderen Abhängigkeitsebenen geachtet. Im Gegenteil, modelltheoretisch und in der praktischen Menschenbeobachtung haben sie die oberste Dependenzebene des gesamten Herrschaftsaufbaus meist vernachlässigt. Sie haben kaum danach gefragt, wie sehr die Parteidiktatoren denn selbst und unmittelbar von der Hegemonialmacht abhängig gewesen sind. Viele der führenden Funktionäre haben ja ihre persönlichen Abhängigkeiten von der fremden Staatsmacht selbst zu wenig beachtet, wie sie nun gestehen; und deshalb vor allem haben sie die tiefgreifenden Machtverschiebungen in der Partei- und Staatsspitze der fremden Hegemonialmacht nicht ernst genug genommen. Und noch weniger politische Funktionäre (wie deren soziologische Beobachter) haben sich der untersten Abhängigkeitsebene überhaupt zugewendet, der Herausbildung DDR-spezifischer Mentalitäten vieler Bürger, denn diese haben sich vielfach durch erworbene Techniken umfassender psychischer Indifferenz gegen militante Herrschaftsüberforderungen seelisch zu panzern gelernt. Oder sie hatten den langen Befehlsketten des Staatsapparates unauffällige 330
Persönlichkeitsmuster entgegengehalten, mit deren Hilfe sie bisweilen jede Nachachtung stumm zu verweigern wußten. Manches an derartigen Sozialpraktiken des Sich-Verweigerns ähnelt durchaus den früheren Psychotechniken von Soldaten, die sich jeglicher Lernanmutung zu verweigern suchten, sobald die disziplinäre Gewaltsamkeit sie vollends zu überwältigen gedroht hatte. Jedenfalls lassen sich im Jahre 1990 für die rund vierzig Jahre getrennten deutschen Gesellschaften beträchtliche Unterschiede in den vorherrschenden Sozialisations- und Individuationsmustern feststellen. 14. Aber nicht allein totale seelische Indifferenz und umfassende Lernverweigerung gegenüber dem einen diktatorischen Machtzentrum, dem „zentralen Arbeitsherren der Gesellschaft“ (Bahro 1977), dem Politbüro, haben die in vierzig Jahren anders gewordenen Sozialisationsmuster der Beherrschten ausgemacht. Auch die autoritären Persönlichkeitsmuster der eigentlichen Funktionärsschicht signalisieren die Zivilisierungsdifferentiale zwischen den deutschen Teilgesellschaften. Der Einzelne hat in jenen übermäßig zentralisierten Befehlszusammenhängen eher dazu geneigt, stets auf fremde Anleitung zu warten. Sind die fremden Impulse zum eigenen Tun ausgeblieben, hat er lieber mit ängstlich-konformem Verhalten zu reagieren bevorzugt, als etwas selbst zu verantworten. Nun äußern gerade Angehörige der Unterdrückungsorganisation mit den militärischen Rängen (Engler 1990: 55) „Überlegenheits- und Schuldgefühle“ zugleich; und besonders die einstigen Angehörigen auf den untersten Rängen, „Profiteure und Benachteiligte zugleich“, signalisieren Symptome der eigenen IchSchwäche. Ihr „Pendeln zwischen dem Bedürfnis nach Bindung und der Lösung aus derartigen Bindungen, zwischen hypertrophierten Selbstbildern und äußerster Verzweiflung ist eine der auffälligsten Formen einer lebensgeschichtlich mißglückten Ich-Wir Balance“. Und damit wird ein Nerv jener militärartig von oben bis unten befehlswirtschaftlich strukturierten Gesellschaftsverfassung offen gelegt. Zwischen der Staatsspitze und den persönlichsten intimen Beziehungen jedes einzelnen Bürgers ist nahezu jedes soziale Gebilde zerstört worden oder gleich bei seinem Aufkommen verhindert worden, welches Dank der Initiative eines einzelnen Menschen auch dessen eigene Ich-Stärke auf Dauer hätte stabilisieren können. Eine äußerst einfühlsame Analyse von öffentlichen Bekundungen enttäuschter Parteimitglieder und -funktionäre gelangt 1990 zu dem zivilisationstheoretisch knappen Schluß (Engler 1991a: 55), „daß es in den realsozialistischen Gesellschaften über Jahre und Jahrzehnte hinweg gelang, all jene Verkehrsformen und Institutionen zu zerstören, die sich der selbstbewußten und anhaltenden Initiative der 331
Individuen selbst verdanken. Das fast völlige Fehlen von Intermedien, Organen der Zivilgesellschaft, die sich zwischen den Staat und den Bürger, die Parteizentralen und die ‘einfachen’ Mitglieder hätten schieben können, setzte die jeweils letztgenannten dem Zugriff der Macht unmittelbar aus. Aller sozialen Räume des Schutzes gegenüber Macht und der öffentlichen reflexiven Brechung von Machtstrategien beraubt, blieben widerständige Verhaltensweisen die Ausnahme. Wenn die Last und die Verantwortung für die Infragestellung geschichtlich schon überlebter Fremd- und Selbstzwänge bei vereinzelten Einzelnen liegt, ist die soziale Not des Beginnens groß.“ – Um die Mitte des 20. Jahrhunderts hatten angloamerikanische Kritiker für die auffallend enge Symbiose zivil-militärischer Institutionen die Bezeichnung der „Kasernengesellschaft“ aufgebracht (Berghahn 1986: 110). Selbst, wenn man den Begriff allein modelltheoretisch verwenden möchte, war er doch in extremer Überspitzung gebildet worden. Und er sollte zuletzt vor allem den militär-industriellen Komplex der Vereinigten Staaten kennzeichnen. Wie weit entfernt von jener Wirklichkeit solch ein Begriff damals gewesen ist, wird jetzt schlagartig beleuchtet, wenn man an die kaum übersehbare Vielfalt intermediärer Organisationen und Institutionen denkt, die das alltägliche Leben dort gleichzeitig den einzelnen Individuen anbietet. Viele realsozialistische Staaten dagegen hatten nahezu sämtliche intermediären, von ihnen nicht unmittelbar selbst kontrollierten Organisationen zerstört und damit letztlich auch sich selbst. So hat es für die vielen vereinzelten Individuen schließlich über manche konvergierende Ziele oder Feindbilder hinaus nur ein schlechthin einigendes Grundbedürfnis gegeben: „das Bedürfnis, nach eigenem Gutdünken am Weltverkehr teilzunehmen. Das vor allem war es, was den Satz ‘Wir sind das Volk’ im ungeschmälerten Plural wahr machte“ (Engler 1990: 53). 15. Im Vergleich zu der langen Entwicklung des „Militarisierens“ sind die Prozesse der Zivilisation weit weniger erforscht worden. Auch der wissenschaftliche Gebrauch des Wortes „zivil“ ist daher sehr vielgestaltig. Im älteren Sinne ist „zivil“ alles gewesen, was dem bürgerlichen Stand zugehört. Es hat den Gegensatz gebildet zu „militärisch“ und – rechtlich gesehen – zu „kriminal“. Alle Menschen in Uniform und besonders Militär verstehen immer noch als „zivil“ alle diejenigen, die nicht in einer Uniform erscheinen. Im Grunde schließen die meisten Friedensforscher, wenn sie von „Zivilisierung“ sprechen, allein an dieses militärische Verständnis von „zivil“ an (von Bredow; Senghaas 1990; von Weizsäcker 1990). In einem zweiten weiteren Zusammenhang hat sich dann daraus die Bezeichnung „civil“ für „civil rights“, für sämtliche Bürger- und Menschenrechte herausgebildet, aber auch bei332
spielsweise für „civil society“ oder „civil religion“. Und erst in dritter Hinsicht bezieht sich „zivil“ oder „zivilisieren“ auf eine Verfeinerung aller Lebensgewohnheiten, auf sichtbar „geschliffene“ Sitten. „Beschaven“ heißt niederländisch wörtlich „behobeln“ und dann erst Verfeinern der Umgangsformen. Ähnliches gilt für das französische „civiliser“ und das englische „civilizing“. Manchmal wird im Deutschen immer noch ein Gegensatz zu „Kultur“ betont. „Zivilisation“ wird dann im Sinne der älteren bildungsbürgerlichen Kulturkritik als Sammelbegriff genommen für alle negativen Auswirkungen moderner industriegesellschaftlicher Entwicklungen. Der englische Begriff „Civilization“ enthält in der Regel weniger derart kulturpessimistische Auffassungen. Er ist im Gegenteil oftmals mit betont fortschrittsoptimistischen Haltungen verbunden worden. Hier wird häufig an eine kriegs- und kulturgeschichtliche Denktradition angeknüpft, die in den Kriegen hauptsächlich Mittel sieht, welche den „menschlichen Fortschritt“ vorangebracht hätten (Nef 1963). Ähnliche Denkhaltungen haben sich fast ausschließlich in solchen Gesellschaften bewahrt, die in ihrem Inneren über viele Generationen hinweg selbst keine Kriege erlebt haben (oder die aus den Kriegen anderswo beträchtliche Gewinne zu ziehen vermocht haben). In einer historisch-soziologischen Fassung des Begriffs der Zivilisation, von der ich hier ausgegangen bin, läßt sich sehr vereinfacht sagen: Im Prozeß der Zivilisierung erlernen Menschen aufgrund ihrer natürlichen Anlagen die Möglichkeiten ihrer Trieb- und Affektregelung im Sinne ihrer jeweiligen besonderen sozialen Zivilisierungsmuster. „Sozialisierung und Individualisierung eines Menschen sind daher verschiedene Namen für den gleichen Prozeß“ (Elias 1986: 89). Wenn daher alle Menschen der Notwendigkeit unterworfen sind, „Fremdzwänge in Selbstzwänge umsetzen“ zu müssen, erwächst daraus eine soziologische Hauptaufgabe, die Wandlungen derjenigen Machtzentren näher zu bestimmen, von denen die deutlichsten Fremdzwänge auf die einzelnen Individuen ausgehen. Im Eliasschen Untersuchungsbeispiel ist das der „Staat“ gewesen, in seinem Kern vor allem die Herausbildung der französischen Einherrschaft, des Königtums zusammen mit den Wandlungen der Verhaltens- und Empfindensmuster (hauptsächlich der französischen) „weltlichen Oberschichten“ bis hinein in das 18. Jahrhundert. Wer somit derartige Fragestellungen modelltheoretisch auf die Zivilisierung Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert überträgt und sich dafür auch nur mit Andeutungen begnügen muß, wird wenigstens einige der neuartigen Machtzentren benennen, von denen affektdämpfende Sozialisationsmuster ihren Ausgang genommen haben.
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16. Bereits bei dem Versuch, erste Vorfragen zu klären, wie wir uns ein einfaches Modell der Zivilisierung Deutschlands denken können, fallen krasse Mißverhältnisse auf. Unser Wissen von einigen Zivilisierungsinstanzen ist relativ groß. Von anderen können wir praktisch nichts wissenschaftlich herausfinden. Viele Umstände der rigorosen Arbeitsdisziplinierung durch Fabriken und Industrieherren sind verhältnismäßig genau erforscht worden. Die verbreitete Bezeichnung dieser Vorgänge einer oft gewaltsamen Eingewöhnung der Arbeitenden, „Sozialdisziplinierung“, sei danach, folgt man ihren maßgebenden Interpreten (Schulze 1987), von N. Elias übernommen. Das Entstehen staatlicher Bürokratien ist verhältnismäßig gut bekannt, die Durchsetzung des staatlichen Steuermonopols in ihren Grundzügen deutlich, aber welche Auswirkungen die Steuerdisziplinierung auf die Steuerpflichtigen gehabt hat, scheint die Forscher bisher wenig zu interessieren. Spezifische Zwangsverhältnisse für jeden einzelnen Bürger sind durch den modernen Wohlfahrtsstaat begründet worden, indem die Mehrzahl aller Angehörigen dieses Sozialstaates nun gegen elementare Lebensrisiken, gegen Krankheit, Unfall, Alter, Arbeits- und Einkommenslosigkeit versichert sind. Hier haben wir ein erstes, fünf Staatsgesellschaften vergleichendes Modell davon, wie wir uns langfristiger die Auswirkungen dieser Sozialstaatstätigkeiten vorzustellen haben. Vom Staat umsorgt, „In the Care of the State“ (de Swaan 1988), stabilisiert sich das Gleichmaß der affektiven Selbstregulierung der meisten „Sozialstaatsbürger“. Und die meisten kritischen Lebenssituationen verlieren für sie viel an bedrohlicher Schärfe. Damit wird der zivilisatorische Abstand gegenüber den Zuständen deutlich, wie sie etwa in denselben Staaten bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts geherrscht haben. Gleichzeitig macht dieses sozialstaatliche Zivilisierungsniveau verständlicher, warum es über alle erdenklichen Kulturgegensätze hinweg für Menschen in aller Welt immer attraktiver wird. Nur über die Ausbildung einer stärkeren Tötungshemmung ist dabei weniger zu erfahren. Sicher ist es richtig, die dauerhafte Alphabetisierung, das heißt meist vor allem ein kostenfreies Schulsystem, auch als integrierten Bestandteil der modernen Wohlfahrtsstaaten zu begreifen (de Swaan). Und wir werden annehmen können, solche Kulturtechniken, die jedem Einzelnen prinzipiell den Zugang zu mehr Wissen eröffnen, wirken langfristig eher in Richtung auf eine Sicherung einer verstärkten Hemmung der Tötungsbereitschaft als auf deren mögliche Entfesselung. Doch über gesichertes Wissen dazu verfügen wir nicht.
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17. Wir müssen erstaunt zur Kenntnis nehmen, daß die Organisationen des modernen Staates, denen es unter bestimmten Umständen allein obliegt zu töten, zu den am wenigsten bekannten zählen. Besonders Armeen sind, wenn eine generelle Wehrpflicht für alle männlichen Staatsbürger besteht, eine der zentralsten Instanzen sozialer Disziplinierung. Aber gerade die kritischen Erforscher der „Sozialdisziplinierung“ während des 19. Jahrhunderts haben die deutsche Armee dabei ausgelassen. In einer frühen Phase der Reformen des preußischen Heeres haben sich einige Reformer die „Armee als Schule der Nation“ (Höhn 1963) gewünscht. Aber bereits vor 1948 haben die bürgerlichen Gegner angesichts der oft recht ungebildeten Offiziere jene Forderungen umgekehrt, die Nation solle doch eine „Schule der Armee“ werden. Eine längere Erziehung des einzelnen jungen Mannes durch die Armee bedeutet auch in friedlichen Zeiten, eine Disziplinierung des Einzelnen, im rechten Augenblick seine Tötungshemmung kontrolliert zu durchbrechen. Die modernen deutschen historischen Erforscher der sozialen Massendisziplinierung haben auch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts diesen zum Verständnis der deutschen Gesellschaft so zentralen Verhaltensbereich ganz außer Acht gelassen. Wer sich darüber genauer informieren will, ist nach wie vor auf eine weitgehend Militär oder Kriege apologetisch darstellende Literatur angewiesen. Auch für das Realverständnis der unterschiedlichen Sozialisation in das Geschlechterverhältnis von Generationen hinein wäre eine genauere Kenntnis dieser militärischen Disziplinierungsprozesse unerläßlich notwendig. Wenn wir uns zudem daran erinnern, wie lange das preußisch-deutsche Heer außerhalb jeder zivilen Verfassung gestanden hat, wird die Dringlichkeit, hierüber mehr zu erfahren, noch verständlicher. Sollten wir hier eines der Zentraltabus deutscher Geschichtsforscher vorfinden? Einige Vermutungen weisen in diese Richtung. Das Thema der Erforschung des Massendisziplinierens innerhalb des preußisch-deutschen Heeres scheint über rund fünfzig Jahre einem früheren Verfassungsrechtslehrer allein überlassen worden zu sein, der als ehemaliger SS-“Oberführer“ für seine zahlreichen militärgeschichtlichen Schriften nicht einmal kompetente Kritiker findet, von Ausnahmen abgesehen (Wette 1975). Nur noch die innere Organisationsgeschichte der Geheimen Staatspolizei im Rahmen einer Geschichte der deutschen Polizei zwischen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik scheint deutschen Geschichtsforschern ferner zu liegen.
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18. Auch für das Verhältnis des Schulsystems zur militärischen Erziehung, in einem generationenlang von der Armee bestimmten Staat keine Nebensache, sind wir wesentlich auf Vermutungen angewiesen. Im wilhelminischen Kaiserreich stehen „Militär und Schule“ (Messerschmidt 1978) in einem besonderen Spannungsverhältnis. Es läßt sich nur vermuten, daß die militärische Durchdringung vieler Schulen der ehemaligen DDR unmittelbar an preußische Überlieferungen angeschlossen hat. Für die unvergleichlich gewalttätige Massendisziplinierung deutscher Soldaten im Kireg lassen sich vierzig Jahre danach einige Zeugnisse finden. Keine andere Armee hat in jenem Krieg so viele eigene Soldaten so schnell zu Tode gebracht wie die Justiz der deutschen Wehrmacht. Zwischen 1940 und 1945 hat die „Wehrmachtjustiz“ (Messerschmidt/Wüllner 1987: 87) etwa 35.000 bis 50.000 Todesurteile gefällt; sie ließ töten, um die Disziplin zum Töten zu vergrößern. Während beteiligte Offiziere unter anderem wegen derartiger Exzesse als ganzer „Stand“ zeitweilig geächtet worden sind, haben es die Juristen verstanden, sich ihrer Verantwortung ganz zu entziehen. Gleichzeitig müssen wir uns angesichts derartiger Disziplinierungsgewalttaten auch die modernen Veränderungen vor Augen führen, die es für junge Männer bedeutet, wenn sie sich legal ihrer „Wehrpflicht“ entziehen können. Im Vergleich zur Generation ihrer Väter oder Großväter haben sie einen realen persönlichen Machtzuwachs erfahren. 19. Kein Modell der „Zivilisierung Deutschlands“ könnte entworfen werden ohne klare Angabe seiner Phasen der Entzivilisierung oder, prozeßtheoretisch gesprochen, ohne Aussagen darüber, wie zivilisatorische Prozesse sich umgekehrt haben. Wie jedoch Sozialforscher und Gesellschaftshistoriker, um es wissenschaftsorganisatorisch zu formulieren, über den Verlauf der deutschen Gesellschaftsgeschichte besonders des 20. Jahrhunderts generelle Aussagen treffen können, ohne dabei nicht ständig diejenigen staatlichen Organisationen einzubeziehen, die das Tötungstabu massenweise durchbrochen haben, bleibt nicht nur den Menschen außerhalb Deutschlands unverständlich; oder, organisations- und militärgeschichtlich gesprochen, das Erziehen zum Tötungstabu wie das Erziehen zur Entfesselung der Tötungshemmung sollte jenen Organisationen nicht allein überlassen bleiben und ihren Historikern erst recht nicht in der geschichtlichen Betrachtung. Die Frage, welche sozialen Wirkungen von den das legitime Gewaltmonopol beanspruchenden Or336
ganisationen auf die gesamte Gesellschaft ausgehen, muß auch für deutsche Sozialforscher ein Zentralproblem sein. 20. Wer das Töten verringern helfen will, wird sorgfältiger nach den gesellschaftlichen und seelischen Bedingungen fragen, unter denen Menschen dazu gebracht werden, berufsmäßig zu töten. Die persönlichen Zeugnisse dafür sind spärlich. Biographien oder autobiographische Selbstdarstellungen verraten wenig. Selbst vergleichbare Zeugnisse von Opfern (Adamovic) geben uns nur partielle Einblicke. Und die umfängliche „Psychiatrie der Verfolgten“ lasse ich an dieser Stelle beiseite. Vermutlich müssen wir zum besseren Verständnis unsere gewohnte Blickrichtung ganz umkehren. In seinem Werk über „The Destruction of the European Jews“ äußert sich R. Hilberg (1961: 1076) zu den seelischen Problemen der Täter: „Die schwerwiegendsten Probleme des Vernichtungsprozesses waren nicht administrativ, sondern psychologischer Natur. Allein schon der Gedanke an eine drastische Endlösung bedurfte der Fähigkeit der Täter, mit tiefsitzenden psychologischen Hemmungen und Widerständen fertig zu werden. Die psychologischen Hemmungen unterschieden sich in einer bedeutenden Hinsicht von den administrativen Schwierigkeiten: Ein administratives Problem konnte gelöst und aus dem Weg geräumt werden; die psychologischen Probleme hingegen forderten eine ständige Auseinandersetzung. Sie ließen sich unter Kontrolle halten, aber niemals lösen. Die Kommandeure der Einsatzgruppen achteten stets wachsam auf die geringsten Anzeichen psychologischer Instabilität. Im Herbst 1941 schockierte der höhere SS- und Polizeiführer Rußland Mitte, von dem Bach, Himmler mit der Bemerkung: „Sehen Sie in die Augen der Männer des Kommandos, wie tief erschüttert sie sind. Solche Männer sind fertig für ihr ganzes Leben. Was züchten wir uns damit für Gefolgsmänner heran? Entweder Nervenkranke oder Rohlinge!“ Eine andere Studie widmet sich den Menschen, die berufsmäßig wohl die stärkste Tötungshemmung erwerben, den Ärzten. Der Psychiater Robert J. Lifton hat 1986 seine Befragungen von den in den Konzentrations- und Vernichtungslagern tätig gewesenen deutschen Ärzten veröffentlicht. Er konstatiert (wie andere es bereits ähnlich gefunden hatten) eine tendenzielle Spaltung des Ichs. Und seine verzweifelte Deutung bleibt, es sei zu „einer Brutalisierung des Ichs“ gekommen. Zivilisationstheoretisch ist auf „die Gebrechlichkeit der Gewissensbildung“ verwiesen worden (Elias 1982b: 79f.). „Die Selbstzwangapparaturen, die bei der Verdrängung des Todes in unseren Gesellschaften im Spiele sind, lösen sich offenbar verhältnismäßig schnell auf, wenn die staatliche Fremdzwangapparatur – 337
oder, je nachdem, auch die von Sekten und Kampfgruppen – auf überzeugende kollektive Glaubensdoktrinen gestützt, das Steuer herumwirft und den Befehl zum Töten von Menschen gibt.“ Deshalb sei es neben den Fragen nach persönlicher Schuld für die Verhütung des Massentötens wichtig zu fragen, wie die Täter das Töten selbst psychisch verarbeiten. Eindrucksvolle Zeugnisse für die Indoktrinierung zum Töten und für das gleichzeitige Hinnehmen des Getötetwerdens als etwas Gutem stellen die „Testamente der iranischen Kriegsfreiwilligen“ dar (Gholamasad 1989). Und wie wenig bei fortschreitender zivilisatorischer Individualisierung den modernen Armeen eine Ideologie „kleiner Kampfgruppen“ (Lippert 1989) noch zum Entfesseln von Tötungsbereitschaft nützen kann, ist verhältnismäßig gut bekannt. 21. Zu den offenbaren Forschungstabus von Soziologen und Gesellschaftshistorikern zählen nicht nur die von den tötenden Organisationen ausgehenden beängstigenden Wirkungen auf die ganzen Gesellschaften. Auch über eine militärische Technikgeschichte, die nicht bloß apologetisch vorgeht, verfügt die wohlhabende Industriegesellschaft nicht. Und welche Wirkungen hat das praktische Miterleben der Schrecken eines langen Krieges für die Davongekommenen und für die folgenden Generationen? An der Tabuisierung dieser Art von Fragen läßt sich rasch erkennen, wie sehr die meisten modernen Soziologen und Gesellschaftshistoriker auf eine Perspektive der dominanten Machteliten eingeübt sind. Immer wieder kommen Untersuchungen des Dreißigjährigen Krieges und seiner Folgen auf. Doch im Unterschied zum fernen 17. Jahrhundert lassen sich für die weit schrecklicheren Kriege des 20. Jahrhunderts millionenfach Zeugnisse und lebende Zeugen finden. Für die deutschen Erfahrungen kommt ein knapper Forschungsüberblick zu dem Schluß: „Der Umgang der Gesellschaft mit Millionen von Krüppeln, Witwen und Waisen, Ausgebombten und Flüchtlingen gilt, von den oben erwähnten regionalund lokalgeschichtlichen Studien abgesehen, bis heute als ein Thema eher für Feuilletonredakteure und Sachbuchautoren denn für Historiker. Und wem es gar einfallen sollte, sich für jenen außerordentlich gesellschaftlichen Vorgang zu interessieren, der allein in Deutschland rund 20 Millionen Männer ihrer gewohnten Lebenswelt entriß und einer meist mit unmittelbarer Gefahr für Leib und Leben verbundenen militärischen Verwertung unter radikal veränderten Existenzbedingungen zuführte, ist fast völlig auf eine in der Regel geschönte, nicht selten auch offen apologetische Erinnerungsliteratur zurückgeworfen. Eine ‘Sozialgeschichte des Schlachtfeldes’ liegt, mit Ausnahme marginaler Vorarbeiten (...) noch immer außerhalb des Blickfeldes deutscher Sozial- und Militärhistoriker. Sie wird es bleiben, 338
solange sich diese nicht der komplementären Natur ihrer Fragestellungen und Methoden bewußt werden“ (Wegner 1990: 110f.). Hier werden Realerlebnisse einer Verflechtung von Prozessen einer langfristigen Militarisierung und Zivilisierung beleuchtet, die sich in das kollektive Gedächtnis ganzer Gesellschaften zutiefst einprägen. In den Phantasien auch vieler Intellektueller spielen Krieg und Militär deshalb durchaus eine Rolle (Negt/Kluge 1992). Sie verbleiben auch meist als durch und durch traumatische Erinnerungen im Gedächtnis der einzelnen Überlebenden. Und nur insofern als solche Kriegserfahrungen die Bereitschaft der vielen Einzelnen zu töten dämpfen könnten, ließe sich vielleicht auch von einem zivilisatorischen Fortschritt ganzer Gesellschaften aufgrund und nach Kriegen sprechen. Aber kollektiv stehen die traumatischen Erlebnisse den modernen Gesellschaften als Erinnerungstatsachen, die geschichtswissenschaftlich überprüft wären, nicht zur Verfügung. Öffentliche Diskurse oder Reflexionen über diese traumatischen Erlebnisformen finden (außerhalb kriegsverherrlichender Kunstäußerungen) auf diese Weise kaum statt. Für moderne Friedensforscherinnen und Friedensforscher, die angewidert von der Vergangenheit glauben, ihre ethischen Ziele ließen sich allein durch den festen Blick in eine bessere Zukunft verwirklichen, eröffnet sich hier ein weites Feld zivilisationstheoretisch unbekannter gesellschaftlicher Schlüsseltatsachen. 22. Militarisierung und Zivilisierung bilden zwei analytisch unterscheidbare miteinander eng verflochtene soziale Prozesse. Aber weiteres Theoretisieren sollte nicht einfach an die Stelle von Bemühungen um mehr Tatsachenwissen treten. „Die miliär-soziologische Literatur erschöpft sich bisher in der Theoretisierung der (unzureichenden) historischen Literatur und kommt zu entsprechend problematischen Ergebnissen.“ (Geyer 1978: 257) „Auch Industrialisierung der Kriegsführung und Industrialisierung des Militärs“ (Geyer 1978: 1980) sind eng verflochten. Natürlich müssen wir immer noch sagen, aus den von keinem Einzelnen geplanten durchaus verschieden gerichteten sozialen Prozessen entsteht, was von niemandem beabsichtigt worden ist; und das ganze ist dennoch aus den Handlungen vieler Einzelner hervorgegangen. „Und dies ist eigentlich das ganze Geheimnis der gesellschaftlichen Verflechtung“ (Elias 1939/1997: I. 221). Doch bleibt solch ein Befund modelltheoretisch ein halbes Jahrhundert später unbefriedigend: Aber zum Beispiel die „Rational-choice-Modelle“ vom „rationalen“ Handeln der vielen Einzelnen scheinen noch weniger brauchbar zu sein; denn sie operieren mit dem Menschenbild eines seiner Affekte entledigten, rein kognitiv handelnden Menschen. 339
Das Entfesseln der gesellschaftlichen Gewalttat und der darauf so oft folgenden Gegengewalt läßt sich ohne die mächtigen kollektiven Gefühlsaufwallungen, von denen die Menschen gleichzeitig ergriffen werden, überhaupt nicht verstehen. Die meisten Sozial- und Geschichtsforscher vernachlässigen diesen Gefühlsrausch der Gewalttat völlig. Das gilt vor allem auch für die auf Terror, Krieg und Militär spezialisierten wissenschaftlichen Beobachter. Ähnlich wird das Erforschen und die mögliche Ausbreitung des Friedens meist allein als kognitiv zu leistende Aufgabe definiert. Daraus entstehen typische Intellektuellenprojektionen in die Zukunft. Die am eigenen Schreibtisch gebotene Vernünftigkeit im Handeln wird unmittelbar auf das massenhafte Handeln aller anderen Menschen übertragen. Die Vorstellungen von Sozialwissenschaftlern in ihren Szenarios, ihren system- und spieltheoretischen Modellen kennen keine Gefühle, nicht eigene, nicht die Gefühle derjenigen, die zur Gewalttat aufrufen, andere dazu mobilisieren oder dazu verführen, und schon gar nicht den Gefühlsrausch derer, die vielleicht als erste oder als potentielle Opfer ihrerseits zur Gewalttat schreiten. Sind Naturforscher an solchen Bemühungen um Frieden beteiligt (von Weizsäcker 1990), wird das Bild, das sie sich von anderen Menschen machen, noch mechanistischer, noch weiter entfernt von den Möglichkeiten des kollektiven Gefühlsrausches, den das Töten wie das unmittelbare Erleben des Tötens auslöst. Wenn das unmittelbare Erleben des Tötens Menschen regelmäßig in äußerste Erregung und oftmals in völlige Verwirrung ihrer Gefühle versetzt, hat es sich stets auch als wirksamstes Erzwingungsmittel erwiesen, andere Menschen zum Befolgen des eigenen Willens zu bewegen. Wer das Vermeiden der öffentlichen Gewalttat oder das Einhalten des Friedens erforschen will, muß daher das Erzeugen und vor allem das Vermeiden eines solchen kollektiven Gefühlsrausches selbst als zentralen Forschungsgegenstand erkennen. Andernfalls bleiben die meisten der intellektuellen Modelle Frieden zu finden, für (und oftmals auch gegen) die meisten Politiker und Militärs unwirksam und unrealistisch. Die langen Prozesse des Militarisierens und des Zivilisierens berühren sich im Hinblick auf die Formen des industrialisierten Tötens daher in einem zentralen Punkt. In der vorindustriellen Kriegsführung haben die Tötenden die Folgen ihres eigenen Handelns meist selbst miterlebt zusammen mit den für sie entsprechenden seelischen Folgen. Mit Anbruch des Nuklearzeitalters hatte die momentane seelische Unbeteiligtheit des Tötenden ein neues Stadium seiner extremsten eigenen Distanzierung erreicht (Anders, G. 1982). Wenn das Ausbilden einer stabileren eigenen Fähigkeit, sich in seinen Gefühlen selbst zu steuern und seine eigenen Affekte auch gerade im Moment von äußerst bewegenden Anlässen zu beherrschen, für die Mehrzahl der Menschen ein erfolgreiches Voranschreiten der Zivilisation bedeutet, dann wären die Tötungsingenieure des technologisch modernsten Militärs als weit „zivilisierter“ zu bezeichnen, als 340
es ihre beruflichen Vorgänger einstmals gewesen sind. Bedenken wir allein die bisher öffentlich bekannt gewordenen Selbstdarstellungen der führenden militärischen Tötungsingenieure des Golfkrieges, sie beanspruchen öffentliche Achtung und nationalen (oft auch „professionellen“) Ruhm für eine „rein technische Höchstleistung“. Die meisten Denkmodelle der Friedensforschung unterscheiden sich in ihrer extrem kognitiven Beschränkung auf juridisch-technische oder auf vorgeblich naturwissenschaftlich objektivierende Konstruktionen kaum von denen der militärindustriellen Tötungsingenieure. Solange es nicht gelingt, die soziale Unfähigkeit zum Mitgefühl mit den Opfern sozial nachdrücklich zu ächten oder – anders gesagt – die öffentlichen Feinderklärungen (gegenüber einzelnen anderen Großgruppen) durch politische Führer zu ächten, schreitet die Militärindustrialisierung der Welt voran. 23. Der Golfkrieg hat unter anderem wieder einmal deutlich gemacht, wie eng das soziale Gebilde geworden ist, das bis vor kurzem noch weltweit militärischindustrieller Komplex genannt werden müßte (von Bredow 1983: 82ff.). Anders gesagt, es wachsen die Zweifel, ob „militärische“ und „zivile“ Bereiche überhaupt abgrenzbar sind. „Bedeutet dies, daß wir heute einer allgemeinen Definition des Militarismus-Phänomens nicht näher sind als die Forscher in der Mitte des 19. Jahrhunderts?“ (Berghahn 1986: 131). Für das Deutschland gegen Ende des 20. Jahrhunderts läßt sich sicher sagen: „Es ist schmerzlich, die Nachkriegsgesellschaft als Produkt und Folge des nationalsozialistisch geprägten gesellschaftlichen Wiederaufbaus zu betrachten; denn das hieße anerkennen, daß die deutsche Gesellschaft der Gegenwart ihre Wurzeln in der Gewalt hat.“ Und wir haben es unter anderem auch mit einer „transnationalen Integration von Produktion und Destruktion“ zu tun (Geyer 1978: 268). Die Liste über „deutsche Lieferanten und Unterlieferanten von Produkten, die sich zur Herstellung von Rüstungsgütern eignen“ für den Irak, liest sich wie eine repräsentative Auswahl angesehener Firmen; ganz ähnlich (Der Spiegel 1990: 44, 33, 37; 118) die „Firmen, deren Produkte, Pläne und sonstige Leistungen nach Erkenntnissen der Ermittlungsbehörden für den Bau der Giftgasanlage im lybischen Rabita verwendet wurden“. „Tödliche Waffen für die Dritte Welt“ (Koppe/Koch 1990) werden praktisch unkontrolliert versandt. Eine letzte schmerzliche Einsicht verdeutlicht deshalb, warum die Frage nach dem gesellschaftlichen und seelischen Aufbau einer stabilen individuellen Tötungshemmung am Ende des 20. Jahrhunderts wichtiger geworden ist als je 341
zuvor. Die unkontrollierte und schwer kontrollierbare Verteilung von Tötungsmitteln aller Art über die Erde bezeugt das. „Sozialhistorikern und Soziologen fällt es oft schwer zu glauben, daß das, was sie die ‘Fordsche Verbindung’ nennen – die entstehende enge Verbindung zwischen Massenproduktion und Massenkonsum – etwas mit Krieg zu tun haben kann. Begrifflich und historisch gesehen ist diese Ungläubigkeit das Ergebnis einer kollektiven Verdrängung, die in der gesellschaftlichen Gedankenwelt der Nachkriegsära fest verwurzelt ist. Man könnte sogar behaupten, daß genau dies das Stillschweigen ausmacht – die Gründe hierfür bedürfen noch der Erklärung –, das die Intellektuellen wahren müssen. Es ist zunächst das Stillschweigen über den gewalttätigen Ursprung der ‘Fordschen Verbindung’, das in den 50er Jahren nirgends auftrat, sondern ein Produkt der gewalttätigen 40er Jahre ist. Und es erfordert das Verdrängen einer altüberkommenen Gedankenwelt, die stets den Krieg als brennende Begierde betrachtet hatte – als die Bemühung, dem Verfall einen monumentalen Ausdruck zu verleihen (...). In Deutschland ist dieser Akt der Verdrängung jedenfalls deutlich sichtbar. Er führte zur Zersetzung der nationalsozialistischen Strategie des gesellschaftlichen Wiederaufbaus durch staatliche Intervention und brachte die Unterdrückung der Erinnerung an die gewalttätigen Ursprünge der heutigen Gesellschaft mit sich. In Bezug auf letzteres teilt Deutschland die allgemeine Lage westlicher Länder“ (Geyer 1990: 266). Voranschreitende Instrumentalisierung des modernen Kriegführens wirkten seit langem in Richtung auf eine Lockerung der bisher als eigentliches Zentrum des Staates gedachten legitimen Gewaltmonopols. Das Verteilen der Tötungsmittel über die Erde verdeutlicht nur, daß ein Kreis von Personen, die als Träger eines legitimen Gewaltmonopols des Staates zu bezeichnen wären, realitätstüchtig kaum mehr abzugrenzen ist. Hatten sich die allmähliche „Professionalisierung“ des Offizierskorps und tendenzielle Monopolisierung der Gewalt noch wechselseitig zu bedingen vermocht – „wo Kriege nicht mehr neben, sondern nur noch mit der gesamten Gesellschaft gefochten werden können, steht die Bestimmung des militärischen Gewaltmonopols erneut zur Debatte“ (Geyer 1978: 264). Und: „Die gesellschaftlichen Folgen dieser Industrialisierung der Kriegsführung sind die Auflösung der Monopolisierbarkeit organisierter staatlicher Gewalt in einer speziellen Organisation. Hier liegt die eine Grenze der liberalen Theorien über die Zuordnung von Militär und Politik.“ Bereits für die deutsche Rüstung während des Zweiten Weltkrieges ließ sich sagen (Geyer 1978: 285): „In dem Maß, in dem Gewaltanwendung gesamtgesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Organisationen erforderte, setzte sich nicht allein der Prozeß der Differenzierung des Militärs zu einer komplexen Großorganisation der Gesellschaft fort, sondern die Unterscheidung zwischen ‘Militär’ 342
und ‘Zivil’ entlang institutioneller Linien war funktional überhaupt nicht mehr zu erreichen: Sie wurde zur Macht- und Einflußfrage, (...).“ Fragen nach dem Aufbau der Tötungshemmung fokussieren nur einen winzigen Punkt im gewalttätigen Weltgeschehen. Dahinter sollten nicht die eigentlich entscheidenden Probleme moderner militärischer Gewaltanwendung vergessen werden (Geyer 1978: 271): „Die Vergesellschaftung der Gewaltanwendung wurde von verschiedenen Seiten angegangen, nicht aber als ein einheitlicher Grundzug interpretiert. Diese Vergesellschaftung der Gewaltanwendung aufgrund der Industrialisierung der Kriegsführung, d. h. die nach militärischen Bedürfnissen (aber nicht unbedingt vom Militär) gesteuerte Einbeziehung der gesamten Bevölkerung und der volkswirtschaftlichen Kapazitäten mit dem Ziel organisierter und geplanter Gewaltvorbereitung, -androhung, und -anwendung, und die gleichzeitige Sozialisierung der Gefahr, d.h. die Ausweitung des Leidens an der Gewalt auf die gesamte Bevölkerung, müßte aber der zentrale Gegenstand der modernen Militärgeschichte sein.“ – Und nicht auch aller anderen Sozialwissenschaftler?
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3. Gewalttätige Menschen. Die dünne Schale ihrer Zivilisierung und ihre vielen ambivalenten Auswege
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Die Gewalttat von Menschen zu einem Zentralthema genaueren Nachdenkens zu machen und die gemeinsame Selbstreflexion darüber verstärken – das heißt, menschliche Gewalttätigkeit auch zu einem zentralen Forschungsgegenstand der „Sozialwissenschaften“ zu entwickeln. Wer könnte diesem Vorhaben nicht zustimmen? Doch warum fällt es den meisten so schwer, besonders die Umstände kollektiver Gewalttaten auch tatsächlich zu erforschen? Bereits das Vorhaben, die bescheidensten Anzeichen und die so dünne Schale einer Zivilisierung von Verhältnissen der Menschen zu sich selbst, zueinander und vor allem in den Beziehungen zwischen moderneren Staatsgesellschaften zu einem sozialwissenschaftlichen Forschungs- und Denkmodell zu machen, das ist ein kleiner konstruktiver Beitrag gewesen in Richtung auf eine intensivere Gewaltreflexion, hin zum Erkennen jenes schmalen Grates, den die Menschen zu begehen lernen, die sich der Gewalttat zu enthalten vermögen. Der „Prozeß der Zivilisation“ hat auch den universalen Geltungsanspruch jenes umfassenden Glaubens an „die Kultur“ einzugrenzen versucht, als deren sozialer Träger sich nicht allein das Bildungsbürgertum deutscher Zunge einmal verstanden hat. Doch sind die Eliasschen Theoreme auch eine hinreichende Antwort gewesen auf die das 20. Jahrhundert prägenden Massenmorde vom Typus „Auschwitz“, „Gulag“ oder „Hiroshima“? Bieten sie auch brauchbare Orientierung für Gegenwart und Zukunft? Können daraus auch gerade diejenigen Interpreten, die „Legislators and Interpretors“ (Bauman 1987), lernen? Die als Modernisierer, als rationale „Gärtner des Gartens Staat“ vermeint haben, durch massenmordende Grausamkeiten die erst zu „Fremden“ gemachten Menschen, das „Unkraut“ ihres „Gartens Staat“, ein für allemal „ausrotten“ zu können? Natürlich befassen sich viele einzelne Menschenwissenschaften mit dem Irrationalen (und) der Gewalttat. Der Eindruck, sie täten das nicht, ist verständlich, doch empirisch leicht zu widerlegen. Rechtswissenschaftler, Juristen helfen vermittels von „Verfassungen“ etwa das monopole Recht staatlicher Tötungsspezialisten zu legitimieren. Sie beurteilen Gewalttaten des einzelnen Menschen, Kriminologen spezialisieren sich aufs Erforschen von dann „Verbrechen“ genannten Sonderformen der Gewalttat Einzelner. Sobald ein individuell „ratio-
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naler“ Motiv- und Verhaltenskern dieser Gewalttäter nicht mehr zu erkennen ist, geraten solche Täter in die Obhut von Spezialisten für das Irrationale, Experten für unsere Phantasien, Tagträume oder Wahnwelten, für alles, was in die rationalisierenden Menschenmodelle der anderen Wissenschaften nicht mehr hineinpaßt. Läßt sich dieses „Abweichen“ vom sozial erwünschten Denken und Fühlen des Einzelnen als „Krankheit“ bezeichnen, weisen wir es den „Psychiatern“ zu. Ist das abweichend Absonderliche vielleicht eine Schwäche von Jungen, Alten oder Armen, wird es zur „Arbeit“ der Sozialarbeiter. Was solche Menschenwissenschaftler bisher nicht erforschen, das sind alle kollektiven Gewalttaten. Sämtliche Versuche, sie zu erklären oder praktikable soziale Therapien daraus abzuleiten, könnten die überkommenen rationalen Menschenmodelle der Moderne zum Einsturz bringen. So werden differenziertere Unterscheidungen und umfassendere Zusammenhangsmodelle nötig. Um die Vernünftigkeit der Schreckenstaten, die „Terroratio“, nachvollziehbarer zu machen, hat Jan Philipp Reemtsma wenigstens drei Bezugsebenen zu beachten empfohlen (Reemtsma 1991). Verschiedenste soziale Prozeßmodelle auf mehreren Ebenen hat Norbert Elias entwickelt. Von Sozialwissenschaftlern fordert er, dabei die Balance zwischen intensivem Engagement und sozialer Distanzierung besser beherrschen zu lernen. Darin geht Zygmunt Bauman viel weiter. Er fordert und skizziert deshalb einen entwickelteren, relativ autonomen sozialwissenschaftlichen Theorietypus. Entschiedener im Nachdenken über „die Moderne und den Holocaust“, wendet sich Zygmunt Bauman gegen das in der wissenschaftlich-technischen Intelligenz zum sozialen Standard gewordenen „Erzeugen moralischer Indifferenz“ (Bauman 1992a: 32ff.). Er erinnert daran: „Die Mechanismen des Massenmords bauten auf dem zivilisierten Verhaltenskodex auf und koordinierten kriminelle Taten in der Weise, daß den Vollstreckern sogar noch Gewissenskonflikte erspart blieben“ (Bauman 1992a: 125). Sein „Resümee“ deshalb: „(...) die Folge ist eine Situation, in der politische und militärische Macht ohne wirksamen sozialen Gegenpol ist“ (Bauman 1992a: 126). Die Massenvernichtungsprozesse sind „das Ergebnis eines rationalen Problemlösungsverhaltens“ (Bauman 1992a: 223). Und in umfänglichen Untersuchungen des „Endes der Eindeutigkeit“ gibt er allen sozialen Ambivalenzen, die im bürokratisch-wissenschaftlichen Rationalisierungsprozeß des Westens so sträflich vernachlässigt werden, nicht nur mehr Raum. Er skizziert „den Gegenangriff der Ambivalenzen“. Er betont und übernimmt auch selbst Freuds zur Gewohnheit gewordene Einsicht, „Begriffe auf und zwischen den Grenzen zu verorten“ (Bauman 1992b: 232f.). Er weist hin auf die Eigeninteressen der modernen wissenschaftlich-technischen Intelligenz an der „Selbst-Reproduktion ihres Fachwissens“. Er entwirft vor allem aber Theorieansätze, wie mit den „Ambivalenzen“, den vielen „fremden“, den
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offenkundig „anders“ lebenden Menschen auszukommen besser gelernt werden könnte. Die tendenzielle Auflösung der im europäischen 19. Jahrhundert wohl kurz vorhanden gewesenen „legitimen physischen Gewaltmonopole“ wird gegen Ende des 20. Jahrhunderts von vielen Forschern festgestellt (besonders detailliert in Geyer 1993; vgl. Gleichmann 1992). Ähnlich werden die mit den „eingehegten“ Gewalttaten verbunden gewesenen „Sicherheiten zerstört“, „die für das moderne Lebensgefühl von größter Bedeutung gewesen“ sind. Damit lösen sich erkennbare „Grenzen des Krieges“ mehr und mehr auf. Bereits das einfache Berichten über einen gegenwärtigen „Krieg“ wird planmäßig-rational umorganisiert in „inszenierte Information“ (Grewenig 1993). Das große Schisma der Menschenwissenschaften im Erkennen- und Verstehenwollen der kollektiven Gewalttat erhält im Europa des 19. Jahrhunderts seine bisher organisierte Gestalt. Genauere Zeitpunkte und jeweilige wissenschaftliche Führungsrollen der Disziplinen in einzelnen Staatsgesellschaften differieren naturgemäß stärker. Nur wenn diese langen sozialen Prozesse des (Fach-)Wissenschaftsentstehens unnachsichtig sorgfältig einer bewußteren sozialwissenschaftlichen Reflexion wieder zugänglich gemacht werden, können Sozialforscher hoffen, mit dem ihnen verfügbaren Forschungswissen auch die jetzt bestehenden kollektiven menschlichen Gewaltpotentiale überhaupt genauer wahrzunehmen. Sie können, anders gesagt, endlich damit beginnen, angesichts der tatsächlichen Destruktionspotentiale auch die soziale Realmacht der staatszentrierten Träger der physischen Gewalttat wirklichkeitsgerechter einzuschätzen, werden sie in ihre idealisierenden Denkmodelle von den bisher angeblich „zivilen Gesellschaften“ gründlicher einbeziehen. Woran die einzelfachlichen Theorietypen sich auch orientieren, am Marktmodell, an Kommunikationstheorien, ja, selbst an den meisten Macht- oder Herrschaftstheorien – als gesamtgesellschaftliche Zusammenhangsmodelle menschlichen Überlebens haben sie nur soziale Orientierungsaufgaben erbringen können, seit und insoweit sie die darin jeweils gegebenen kollektiven Gewaltpotentiale völlig ausblenden. Setzt sich diese lebensgefährliche Tendenz intellektueller Geringschätzung gemeinsamer Gewalttaten fort? Erkennen manche spezialisierten Beobachter der Gewaltpotentiale vielleicht sogar zutreffend Signale eines planvollen Wiederabschottens wissenschaftlichen Erforschens unserer Gewalttaten und potentiale vor der Weltöffentlichkeit, weil ein inzwischen weltberühmt gewordenes Spezialforschungszentrum wieder in die alten Mauern des Gewaltrühmens umzieht (Wette 1993)? Das forcierte Abspalten der Menschenwissenschaften, schließlich deren völlige Trennung vom Erforschen der gemeinsamen Gewalttat und das Organisieren der einzelstaatlichen Gewaltmonopole sind deutlich zwei parallel laufende soziale 347
Prozesse. Das Deutsche Reich hat wegen der gegen Ende des 19. Jahrhunderts gerade führenden Position seiner Geschichtsforscher das internationale Modellbeispiel dafür abgegeben. Die Niederlagen des liberalen Bürgertums in Preußen nach den „Befreiungskriegen“ erleichtern der Regierung die Durchsetzung der „allgemeinen Wehrpflicht“, führen zur wachsenden Vormachtstellung des Militärs im jungen Nationalstaat. Vorrangig bieten nun akademische Historiker dem herrschenden Bildungsbürgertum die nationale Orientierung. Das Einbeziehen der militärischen Kriegs- und Gewaltgeschichte, ihre Etablierung in den Universitäten lehnen sie brüsk ab. Das genau hat Hans Delbrück mit seinem um 1900 begonnenen Monumentalwerk vergeblich versucht. Seine überhaupt erste „Geschichte der Kriegskunst im Rahmen einer politischen Geschichte“ wird zu einem Modellunternehmen mit universalem Anspruch. Doch auch die anderen Industriestaaten des 20. Jahrhunderts, in denen sich Geschichts- und Sozialwissenschaften festzusetzen beginnen, folgen so oder ähnlich jenem gewaltgeschichtlichen Spaltungsmuster. Zum Ende des 20. Jahrhunderts fristet die geschichtliche Vergegenwärtigung der organisierten Gewaltpotentiale in den zentralen Bildungseinrichtungen bestenfalls ein Randdasein. Öfter dient sie dem Ausbilden des militärischen Leitungspersonals. Große Historikerkongresse spiegeln diese anhaltende intellektuelle Geringschätzung deutlich wider. Nur wenige Geschichtsforscher bemühen sich darum, diese etablierte organisatorische Wissenschaftsspaltung zu überbrücken oder aufzuheben (für deutsche Beispiele ausführlicher in Gleichmann 1992). Sie suchen die erforderlichen Synthesen beider im öffentlichen Bewußtsein noch unabhängig scheinenden Geschichtsverläufe herzustellen. Sie integrieren die lange Entwicklung der organisierten Gewaltpotentiale ganz selbstverständlich mit der „politischen“ und „gesellschaftlichen“ Geschichte. 9. Was sind die dringlichsten Aufgaben der Geschichts- und Sozialforscher? Wie können sie zur bewußteren Verarbeitung jener „Irritationserfahrungen“ beitragen, die der innerstaatliche Terror hinterläßt? Wie kann jene kollektive Denklähmung sich lösen, zu der die Schreckenslager führen samt jener „institutionalisierten Paranoia“, die das gesamte Gesellschaftsgefüge nebst dessen staatlicher Leitung durchdringen? Wie läßt sich jene verbreitete Duldungsstimmung zerstören, die vielerorts die wenig geplanten, spontanen Gewalttaten zumal in Krisenlagen fördern hilft? 10. Gehen wir davon aus, es gibt ein strukturelles Nebeneinander der wissenschaftsgesellschaftlichen Orientierungsmittel. Auf den langfristigen gesellschaftlichen Rationalisierungsprozeß haben sich die Wissenschaftsmethoden eingestellt; auf das Ambivalentwerden gemeinsamer menschlicher Handlungen werden sie sich mehr einstellen müssen – wenn Zygmunt Baumans behutsame Forderungen Wirklichkeit werden, den tatsächlich bestehenden Andersartigkeiten und den relativen 348
Offenheiten kollektiven menschlichen Tuns auch in den Sozialwissenschaften realitätstüchtiger zu begegnen. Nehmen wir an, beide Orientierungsmittel entwickeln sich nebeneinander weiter, dann stellen sich den rationalistischen Forschungsverfahren durchaus noch Sphären staatsgesellschaftlicher Gewaltpotentiale, die bisher sozialwissenschaftlich wenig durchdrungen worden sind. Ein Teil des sich auf die Gewaltanwendung vorbereitenden staatlichen Leitungspersonals wird inzwischen in relativer Öffentlichkeit auch akademisch geschult. „Die Bundesrepublik Deutschland bietet als einziger Staat in Europa und in der NATO ihren Offizieren während ihrer Ausbildung ein volles akademisches Studium mit zivil anerkanntem Abschluß an“, wird dieser Bundeswehreinrichtung attestiert (Klein, P./Lippert/Meyer, G.M. 1993: 298), und weiter darüber: „(...) die Abschaffung der Universitäten wäre für die Streitkräfte eine bildungspolitische Katastrophe.“ Und dennoch erfahren wir im gleichen Zusammenhang das Selbstzeugnis eines Beteiligten: „Daß sich der Mensch vor den Menschen schützen muß, ist eine täglich den Bürgern auferlegte, schmerzliche Erfahrung. Man braucht „Schutzmänner“ für den Frieden. Aber sie dürfen selbst nicht als Gefahr und Risiko empfunden werden. Auch Beschützer bedürfen der Einbindung, Kontrolle und der Verankerung in die Lebensordnung der Menschen, deren Frieden und Freiheit sie bewahren sollen“ (Schwarz, G. 1993: 150). In Gesellschaften, die sich in ihren Selbstinterpretationen so gern als „offen“ bezeichnen, bleiben die Bildungsziele dieser „Beschützer“ im Einzelnen stets strittig. „Bildung ist ein Medium der Orientierung, um deren Umsetzung zu ringen ist – zeitgemäß – wieder und wieder“ (Bald, D. 1992: 188). 11. Ein anderer Teil des staatlichen Lenkungspersonals hat sich vorzubereiten aufs Aufrechterhalten der monopolen innerstaatlichen Gewaltmittel. Ihm wird im deutschen Sprachraum ein akademischer, öffentlich zugänglicher Ausbildungsprozeß bisher verwehrt – abgesehen vom gelegentlichen Rechtsstudium. Nirgends wird ein individuell gewähltes akademisches Studium zur Voraussetzung einer Leitungskarriere gemacht. Daraus scheint dann wie selbstverständlich zu folgen, daß praktisch jede Selbstvergegenwärtigung der eigenen Gewaltgeschichte in der höheren Polizeiausbildung fehlt. So vermag dieser Berufsstand sich praktisch ganz zu bewahren vor der Selbstreflexion jener „Irritationserfahrungen“ oder der „institutionalisierten Paranoia“, welche er selbst maßgebend mitverursacht hat. Wo es denn innerhalb Deutschlands Ansätze zu einer selbstverfaßten Geschichte der Polizei gibt, wird die Periode von 1933 bis 1945 einfach fortgelassen (Heuer, H.-J. 1995). Hier schlummern mächtige Potentiale dysfunktionalen Gewalthandels und Ambivalentwerdens eines staatlichen Teilverbandes, der sich als besonders rational handelnd versteht. 349
12. Einen weiteren Teil des Führungspersonals in den Staatsgesellschaften bilden diejenigen Menschen, die sich mit dem Konzipieren der größten Gewaltmittel befassen. Die naturwissenschaftlich-technische Intelligenz ist den Sozialgeschichtsforschern bisweilen ins wissenschaftliche Blickfeld geraten. Gelegentlich haben sich auch Wissenschaftshistoriker mit einzelnen dieser gewalttechnischen Spezialisten befaßt. Da finden sich Unterschiede in den einzelnen Disziplinen der Naturforscher oder Ingenieure. Doch in das jeweilige fachspezifische Berufsbewußtsein und -bild dringen diese besonderen beruflichen Anteile an den Gewalttaten kaum ein – bei Physikern beispielsweise tiefer als bei Chemikern. Allen gemeinsam ist meist die feste seelische Panzerung des Berufsbewußtseins gegenüber jeglicher Reflexion über den eigenen Anteil am Erzeugen und Verwenden etwa der Massengewaltmittel. Darin gleichen sich nahezu alle auf der Naturforschung gründenden akademischen Berufsgruppen. Gerät einmal die offenkundige eigene Beteiligung an den großen Gewaltmitteln unter zu starken öffentlichen Druck, fungiert die gemeinsame Abwehr sofort. Beispielsweise wird versucht, sehr generelle „Berufsethiken“ zu fördern. So treffen wir etwa im universitären Milieu auf eine große Diskussionsbereitschaft gegenüber allgemeinen Ethikproblemen. Die Einrichtung von „Ethikkommissionen“ wird in der Regel sogleich begrüßt. Voraussetzung aber bleibt das strikte Sichbeschränken auf die allgemeinsten Fragen. Sobald jedoch die jeweiligen berufsinternen „Ethik“probleme veröffentlicht werden oder gar der realgeschichtliche Anteil einer bestimmbaren Disziplin am Konzipieren gefährlicher Gewaltmittel erforscht werden soll, wird alles angstvoll blockiert. Was also werden derartige Ethikkommissionen wissenschaftlich Neues bringen? Auch hier ruhen beträchtliche Ambivalenzpotentiale. Verringert sich deren Bedrohlichkeit, wenn diese technische Intelligenz etwa die früheren Furchtutopien aufgibt und statt dessen ihre jeweiligen „Expertenszenarios“ propagiert? Oder wenn wir ästhetisierend glauben gemacht werden, wir lebten eben in einer Gesellschaft des „Risikos“. Niemand wird die Wortmacht Intellektueller überschätzen. Doch auch hier ist deren Fertigkeit gefragt, in Verbindung mit fachspezifischen Kenntnissen sich von den Einzelberufsinteressen stärker als andere distanzieren zu können. 13. Paradigmatisch vermag ein höheres Distanzierungsniveau auch gegenüber den überlieferten Wegen des raschen Feindefindens, der intellektuellen Feinderklärung werden; oftmals ist es allein Folge und Ausdruck übersteigerter Bindungen an die eigene Überlebensgemeinschaft, sei diese der tägliche Lebenskreis einzelner Intellektuellengruppen oder etwa deren „Nation“ im ganzen (Bauman 1993). Denker wie Zygmunt Bauman kommen den akuten Bedrohungen modernen staatlichen Massentötens dann viel näher, sobald es ihnen gelingt, 350
auch sich selbst in Zeiten gesteigerten öffentlichen Unsicherheitsgefühls jeglicher Ausflüchte etwa in Nationalismen zu enthalten. Solche stärkeren Distanzierungsschritte gegenüber dem modernen rational-bürokratischen Staat im ganzen werden heuristisch notwendig, wenn dessen organisierte Gewaltpotentiale überhaupt begreiflich werden sollen; besonders dafür bietet Zygmunt Baumans Studie von „Moderne und Ambivalenz“ ein soziologisches Forschungsparadigma. Selbst entstammt der Autor einer nationalen Überlieferung, in welcher die traditionelle Skepsis der Intellektuellen gegenüber jedem „starken Staat“ zutiefst verwurzelt ist; sie haben den rationalen Staat stets nur als gewalttätige Fremdherrschaft von Nachbarn erleben können. Um so stärker wird deshalb denjenigen Denkern, die intellektuelle Nachachtung zuteil, denen es trotz der eigenen Prägung durch Schreckenserfahrungen gelingt, ihre doch lange angesammelten Feind-, Haß- oder Rachebedürfnisse persönlich zu überwinden. Lassen sich wirkliche Erkenntnisfortschritte in einer stärker reflektierenden, einer stets „empirischen“ und „theoretisch“ arbeitenden Sozialforschung überhaupt ausmachen, ohne zugleich auf die erkenntnisbemühten Menschen, die intellektuellen Träger derartigen Gesellschaftswissens zu achten? So wird noch eine erkenntnisfördernde Balance von intellektuellem Engagement und emotionaler Distanzierung hier beachtlich. Größere Distanzierung der Sozialforscher zu ihrem Herkunftsstaat verbindet sich notwendig mit stärkerer Fremdheit gegenüber derjenigen staatlichen Überlebenseinheit, in der sie wissenschaftlich arbeiten (von der Dunk 1991). Vermutlich kann diese diffizile Balance manchem intellektuellen Gefühlshaushalt im Verhältnis zu staatsorganisierten Gewalttaten weit schärfere Erkenntnischancen eröffnen. Sicher gilt das auch für das Durchschauen der „psychosozialen Funktionen“ des Krieges (Mentzos 1993) und für ein Nachdenken über die Chancen einer mittel- oder wenigstens kurzfristigen Gewaltprophylaxe.
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4.
Über massenhaftes Töten sprechen lernen93
Menschen, die schon als Kinder oder Jugendliche einen schrecklichen Krieg und dessen unmittelbare Folgen erleben, vergessen das alles nur selten. Wie aber im gemeinsamen Gedächtnis der großen menschlichen Überlebenseinheiten, Staaten oder Ethnien,. das Töten als Massenereignis bewahrt wird, ob überhaupt eine nennenswerte Erinnerung daran verbleibt und wozu ein gemeinsam bleibendes Sicherinnern führen kann, das folgt den verschiedenartigsten Deutungen und Wegen. Es mag planvoll heroisiert, romantisiert oder auch mythologisiert werden; manchmal mag es auch zu erklärten Antikriegshalten hinleiten. Geschichtsforscher dagegen erkunden längere Ereignisketten anhand von Quellen; in den Studien von Sozialforschern ist das gegenseitige Töten als Massenereignis nur selten anzutreffen. Jedenfalls haben das gegenseitige Massentöten vor allem Altersgruppen von Autoren untersucht, die in ihrem Lebensalter den Ereignissen zeitlich nahe sind. Wie mögen fachhistorische Reaktionen einmal aussehen von denen, die von einem Massentöten nur noch aus der entferntesten Vergangenheit erfahren können? Im Gedächtnis vieler überlebender einzelner Menschen kann das Erleben massenhaften Tötens tiefe Spuren hinterlassen. Es kann eine Persönlichkeit ein Leben lang prägen, gänzlich zerstören oder in vielen Fällen Ausgangspunkt schwerer anhaltender psychischer Störungen werden. Die hier versammelten Studien zeigen Beispiele solch erlebten Schreckens. Doch zu welchen strukturellen Umformungen besonders der sozialen Standards des Empfindens und Fühlens für das Konfliktlösen ganzer Gesellschaften ohne das Töten auf lange Sicht führen kann, das bleibt weitgehend offen. Und wie mögen sich gemeinschaftliche Reaktionen 93 Dieser Text war ursprünglich das Nachwort zu einem anderen Buch (Gleichmann/Kühne. (Hrsg.) (2004): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert.) In gewisser Hinsicht dient es nun auch hier, dem neuen Zweck durch geringfügige Bearbeitung angepasst, wenn nicht als Nachso doch als Schlusswort. Es macht deutlich, über welch langen Zeitraum der Autor sich mit Fragen der Gewalt und des Tötens befasst hat. Wie er durch das über das massenhafte Töten Sprechen lernen auch praktische Zivilisierung versucht. Das Synthesen bilden zeigt er als zentrale Voraussetzung, vielleicht auch Folge praktischer Zivilisierung durch Kommunikation. Und bedeutet nicht „communicare“ ursprünglich zusammenführen? (Anm. d. Herausgebers).
von Menschen formen, die über sehr lange Zeiträume hinweg ein Massentöten unmittelbar nicht mehr erleben? Das Präzisieren historisch-sozialwissenschaftlicher Fragen ist ein langwieriger sozialer Prozess. Noch viel länger dauert es meist, solche Fragen in die alltägliche Praxis der je davon betroffenen Menschen zu übertragen und sie in praktischen sozialen Handlungen wirksam werden zu lassen. So hat etwa Michael Geyer Ansätze hierzu nun umfassend dargestellt (Geyer 2004). Als im am Ende der Achtziger Jahre, aufmerksam gemacht durch einen Historikerkollegen, zum „Arbeitskreis Historische Friedensforschung“ gekommen bin, hat mich sehr erstaunt, wie eine Mehrzahl der Teilnehmer ihre Fragen doch oft in militärgeschichtlicher Sicht erörtert hat. Ich hatte einen Satz meines gerade erst verstorbenen Lehrers Norbert Elias im Ohr, den er in seiner „Humana conditio“, seinen „Beobachtungen zur Entwicklung der Menschheit am 40. Jahrestag eines Kriegsendes (8. Mai 1985)“ (Elias 1985) formuliert hatte: „Menschen sind nicht in der Lage, den Tod abzuschaffen. Aber sie sind ganz gewiß in der Lage, das gegenseitige Töten abzuschaffen.“ Es sind die Gelassenheit und – vor allem – die Selbstgewissheit des über achtzigjährigen Elias gewesen, die mich da fasziniert haben; denn er selbst hatte den Ersten Weltkrieg als junger „Kriegsfreiwilliger“ an einer der schlimmsten Stellen (Somme-Schlacht) durchlitten und den Zweiten Weltkrieg in Frankreich und England in armseligstem Exil überlebt. Nun nehme ich an kriegsgeschichtlichen Diskussionen teil, in denen anfangs vom eigentlichen Töten meist weniger die Rede ist. Bald habe ich mich auf die Suche nach Fachkundigen gemacht, die direkter vom Massentöten zu sprechen vermochten und einige davon in einem Buch versammelt (Gleichmann/Kühne 2004). Wenn wir es tatsächlich verringern wollen, müssen wir zuallererst auch darüber sprechen lernen. Und das haben inzwischen doch viele historisch Arbeitende nachhaltig gelernt, am anschaulichsten und lapidarsten sicher dargestellt in Dave Grossman’s „On killing“ (Grossman 2004). Auch Hans-Heinrich Nolte beschreibt die Untaten der tötenden Deutschen in Russland sehr direkt (Nolte 2004). Rolf Pohl konzentriert sich fachkundig auf die „Psychogenese von Massenmördern“ (Pohl 2004). Über die „atomare Vergeltung“ hat besonders Detlef Bald gearbeitet (Bald, D. 2004). Bernd Greiner fokussiert auf die US-amerikanischen Kriegsverbrechen in Vietnam (Greiner, B. 2004). Während ein bisher wenig beachteter Aspekt, die geschlechtsspezifischen Gewalttaten in Kriegen, von Gabi Zipfel untersucht wird (Zipfel 2004). Und eine „intimere“ noch explizitere Studie über das Töten hat Joanna Bourke schnell bekannt werden lassen (Bourke 2004). Aribert Reimann vergleicht das Töten im „Krieg der Sprachen“ durch eine historische Semantik in Deutschland und England (Reimann 2004). Mit der Frage nach dem „Warum sagen die Soldaten nicht, was sie tun?“ erforscht Klaus Latzel das „Töten und Schweigen“ (Latzel 2004). Eines der schrecklichten 354
Massaker durch die Deutschen an den Juden in Russland von 1941, die „Irreführung der Opfer“ sowie den „Mord der Erinnerung“ hat Wolfram Wette aufgehellt (Wette 2004). Und der juristisch vorgebildete Politikwissenschaftler Joachim Perels hat danach gefragt, wie die Justiz im „Dritten Reich“ mit den „Tötungsverbrechen“ umgegangen ist (Perels 2004). Die medienkundige Annette Jander hat sich der „Kriegsberichterstatterinnen“ angesichts der „Kultur des Todes“ im 20. Jahrhundert angenommen (Jander 2004), Irmgard Wilharm hat solche Fragen an die Filme der Nachkriegszeit gestellt (Wilharm 2004) und Dirk Niefanger an die Literatur (Niefanger 2004). Doch wie können wir das Erforschen in diesen Richtungen weiter fördern? Die im hier zitierten Band versammelten Beiträge können anregen, offensichtliche Leerstellen der Forschung bzw. das völlige Fehlen gesicherten Wissens zu benennen oder die fachlich einzelwissenschaftlichen Fragen voranzutreiben. Auf jeden Fall soll der Band daran erinnern und dazu anregen, ein breiteres Zusammenhangswissen über das massenhafte gegenseitige Töten in Staatsgesellschaften und Ethnien unmittelbar zu fördern. Nur ein auch einzelfachlich weitgehend gesichertes Synthesenbilden kann helfen, Einseitigkeiten oder Missbräuche des Wissens vom wechselseitigen Töten zu beenden oder doch wenigstens weiter zu verringern. Erst wenn eine Einzelperspektiven berücksichtigende oder fächerübergreifende Diskussion in den historischen Sozialwissenschaften sicherer voranschreitet, könnten allmählich an die Stelle von macht- oder wertesetzenden Weltsichten fundierte Kenntnisse treten, die zum praktischen Lernwissen auch der jüngsten Mitglieder von Staatsgesellschaften beitragen, bzw. dem hinzugefügt werden. Dann erst wird das gesellschaftliche Wissen vom gegenseitigen Massentöten allmählich alle größeren sozialen Gruppen einer weiteren Staatengemeinschaft zuverlässig erreichen und verlässlich befrieden. Wie lassen sich solche Dialoge längerfristig einrichten? Wie können wir allmählich wenigstens die entscheidenden weiterführenden Fragen finden? Einen letzten Aspekt gibt es in Zukunft weit stärker zu beachten. Erst allmählich habe ich das beim eigenen Sprechen in verschiedenen fachlichen und geographischen Umgebungen realisieren gelernt. Als ich 1992 meine Frage „Sind Menschen in der Lage, vom kollektiven gegenseitigen Töten abzulassen?“ (Gleichmann 1992) vor Kollegen aus Politikwissenschaft und Psychologie vorgetragen habe, bin auch auf kühle Resonanz gestoßen. Dann 1996 sind die Reaktionen der Leser beträchtlich größer gewesen (Gleichmann 1996). In den beteiligten einzelnen menschenwissenschaftlichen Disziplinen sind Interesse, Kompetenz und fachwissenschaftlicher Blickwinkel auf das Töten recht unterschiedlich gewesen (Gleichmann 2001). So gesehen scheint die Aufgabe eines wissenschaftlichen Synthesebildens doch fern zu sein. Doch weit schwieriger ist es gewesen, in verschiedenen Staaten zum Massentöten Stellung zu nehmen. Ich hatte Vorerfahrungen in England, in Polen und 355
einige Jahre in Amsterdam/Niederlande. Am 10.4.1998 habe ich dazu in Paris in der Université de Nanterre vorgetragen, am 23.6.1998 in Bogotá in Kolumbien und nochmals am 24.6.1998 in Bucaramanga (Gleichmann 1998b). Am 11. Feb. 1999 habe ich meine Thesen vor der Polizei-Führungsakademie in Münster-Hiltrup referiert. Durch solche Erfahrungen lässt sich – oftmals sehr drastisch – rasch lernen, wie trotz aller „Globalisierungstendenzen“ das Abschaffen gegenseitigen Tötens auch in globaler Perspektive sehr langsam vorangehen wird.
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Erstveröffentlichung der Texte
Teil I 1. Gleichmann, P.R. (1964): Soziologische Bemerkungen zur „Anpassung der Wohnung an den Menschen“. In: Aufsätze, Berichte, Informationen. BArbAI. 1/1964. Dem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, der auf einer Tagung der Akademie der Dioszöse Rottenburg und des Landesgewerbeamts Baden-Württemberg anläßlich der Ausstellung „Heimat deine Häuser“ im Landesgewerbeamt gehalten wurde. 2. Gleichmann, P.R. (1976): Raumtheorien und Architektur. Einige Stichworte zu den materialen Formen der architektonischen Verständigung über Raumvorstellungen. In: Hofer, G./Kisker, K.P. (Hrsg.): Die Sprache des Anderen. Bibliotheka Psychiatrica. Nr. 154: 62-68 3. Gleichmann, P.R. (1979): Zum langfristigen Verhäuslichen der menschlichen Vitalfunktionen – insbesondere zu den Harn- und Kotentleerungen. In: Medizin Mensch, Gesellschaft. 4: 96-152 4. Gleichmann, P.R. (1976): Wandel der Wohnverhältnisse, Verhäuslichung der Vitalfunktionen, Verstädterung und siedlungsräumliche Gestaltungsmacht. In: Zeitschrift für Soziologie. 1976. 5. Jg. Heft 4: 319-329. Vortrag, gehalten am 05.03.1976 in Warschau auf Einladung der Polnischen Akademie der Wissenschaften bei einem Seminar von Raum- und Stadtplanern sowie Soziologen. 5. Gleichmann, P.R. (1980): Schlafen und Schlafräume. In: Journal für Geschichte 2. Heft 1: 14-19 6. Gleichmann, P.R. (1982): Nacht und Zivilisation. Vortrag vor dem Deutschen Werkbund am 13.11.1982. In: Faust, V. (Hrsg.) (1982): Compendium Psychiatricum. Sonderdruck aus: Schlafstörungen: 27-47 7. Gleichmann, P.R. (1987): Architektur und Zivilisation. Eine Skizze. In: Architese. Heft 2. Bd. 17: 4060 8. Gleichmann, P.R. (1999): Sich ein Bild machen von Zugängen zur Soziologie? In: Lenk, W./Rumpf, M./Hieber, L. (1999): Kritische Theorie und politischer Eingriff. Hannover. Offizin
Teil II 1. Gleichmann, P.R. (1984): Soziologisches Orientierungswissen. Über den Beitrag von Norbert Elias zu einer soziologischen Entwicklungstheorie – Eine kommentierte Selbsteinschätzung. Vortrag 22. Deutscher Soziologentag Universität Dortmund am 11.10.1984 2. Gleichmann, P.R. (1989): Zum Austausch wissenschaftlichen Wissens. Ein Beitrag zu Ideal und Wirklichkeit der „interdisziplinären“ Denkarbeit von Wissenschaftlern. Thesen zu einem Kolloquium am 16.01.1989 am Institut für Soziologie der Universität Hannover 3. Gleichmann, P.R. (1993): Intellektualisierungsprozesse und Wissenssynthesen. Über gesellschaftliche Intellektualisierungsprozesse. In: Berliner Journal für Soziologie. Bd. 3. Heft 1: 89-101
4. Gleichmann, P.R. (1994): Soziologisches Orientierungswissen für europäische Staatsgesellschaften. Vortrag, gehalten am 23.08.1994 auf dem Europäischen Forum. Alpbach/Tirol 5. Gleichmann, P.R. (2003): Metamorphosen der sozialen Frage. Eine historische Soziologie. Rezension zu Robert Castel. In: Soziologische Revue. 2003. Heft 1
Teil III 1. Gleichmann, P.R. (1987): Der Prozeß der Zivilisation. Zum 90. Geburtstag von Norbert Elias. In: Neue Zürcher Zeitung vom 22.06.1987. Nr. 141: 23 2. Gleichmann, P.R. (1987): Norbert Elias. Aus Anlaß seines 90. Geburtstages. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 39. Jg. Heft 2: 406-417 3. Gleichmann, P.R. (1988): Zur historisch-soziologischen Philosophie von Norbert Elias. In: Jüttemann, G. (1988): Wegbereiter der Historischen Soziologie. München/Weinheim. Beltz. PsychologieVerlags-Union 4. Gleichmann, P.R. (1991): Das Deutschland-Bild von Norbert Elias und Elias-Bilder der Deutschen. Engagiert-distanzierte Bemerkungen zu einem europäischen Soziologen. Vortrag auf der Gedenktagung für Norbert Elias, 19.10.1991. Essen 5. Gleichmann, P.R. (1991):“Wofür habe ich überhaupt gelebt? Persönliche Erinnerungen an Norbert Elias 22.6.1897-1.8.1990. In: Utopie-kreativ. Diskussion sozialistischer Alternative. Heft 7: 92-98 6. Gleichmann, P.R. (2000): Einige Schritte voran in den Menschenwissenschaften – Norbert Elias. In: Buckmiller, M./Heimann, D./Perels, J. (Hrsg.) (2000): Judentum und politische Existenz. Hannover. Offizin
Teil IV 1. Gleichmann, P.R. (1990): Soziale Wandlungen der Affekt- und Verhaltensstandarde sowie der Identitätsgemeinschaften. Zur Zivilisierung eines vereinten Deutschlands. In: Loccumer Protokolle 54/90. Loccum: 19-25 2. Gleichmann, P.R. (1992): Sind Menschen in der Lage, vom gegenseitigen Töten abzulassen? Zum Verflechten von Militarisierungs- und Zivilisationsprozessen. In: Seifert, J. et.al. (Hrsg.) (1992): Logik der Destruktion. Der zweite Golfkrieg als elektronischer Krieg und die Möglichkeiten seiner Verarbeitung im Bewußtsein. Frankfurt/Main. Materialis Verlag 3. Gleichmann, P.R. (1993): Gewalttätige Menschen. Die dünne Schale ihrer Zivilisierung und ihre vielen ambivalenten Auswege. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 2. 1993. 6 4. Gleichmann, P.R. (2004): Nachwort. In: Gleichmann, P.R./Kühne, Th. (Hrsg.) (2004): Massenhaftes Töten. Kriege und Genoziede im 20. Jahrhundert. Essen. Klartext-Verlag
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Publikationsliste Peter R. Gleichmann
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Gleichmann, P.R. (1979): Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen. In: Gleichmann, P.R. et.al. (1979): Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. Frankfurt/Main Gleichmann, P.R. (1979): Keine Architektur für Augenschmaus: „Funktionenspiele, Entwicklungsarbeit und Architekturräume bei J. B. Bakema. In: Der Architekt. Essen. 9/1979: 407 Gleichmann, P.R. (1979): Norbert Elias liest aus seinen Gedichten und Nachdichtungen bei uns am Freitag, den 22.06.1979 um 20 Uhr. Tonbandnachschrift vom 27.06. bis 01.07.1979. Manuskript Gleichmann, P.R. (1979): Städte reinigen und geruchlos machen, menschliche Körperleerungen und ihre Verhäuslichung. In: Sturm, H. (Hrsg.) (1979): Ästhetik und Umwelt. Tübingen. Gunter Narr Verlag Gleichmann, P.R. (1979): Veranderingen in het beheer van woonhuizen. In: Deen & J. van der Weiden (Hrsg.) (1979): Sociologie en gebouwde omgenin: 25-63 Gleichmann, P.R. (1979): Wandlungen im Verwalten von Wohnhäusern. In: Niethammer, L. (Hrsg.) (1979): Wohnen im Wandel. Beiträge zur Geschichte des Alltags in der bürgerlichen Weltgesellschaft. Wuppertal. Hammer: 65-88 Gleichmann, P.R. (1979): Zur zivilisationssoziologischen Begriffsbildung. In: Deutsche Gesellschaft für Soziologie. 19. Dt. Soziologentag. TUB-Dokumentation aktuell. 3/1979: 176 Gleichmann, P.R. (1980): Einige soziale Wandlungen des Schlafens. In: Zeitschrift für Soziologie. 9: 236-250 Gleichmann, P.R. (1980): Schlafen und Schlafräume. In: Journal für Geschichte. Heft 2: 14-19 Gleichmann, P.R. (1980): Vidanges déjections et machines hydrauliques. In: Culture Techniques. Paris. Nr. 3 Gleichmann, P.R. (1981): „Zum Entstehen einer Machttheorie“. Referat in der Ad-hoc-Gruppe Zivilisationsprozess und Figurationssoziologie. In: Schulte, W. (Hrsg.) (1981): Soziologie in der Gesellschaft. Tagungsberichte Nr. 3 beim 20. Deutschen Soziologentag Bremen 1980. Bremen Gleichmann, P.R. (1981): Enkele sociale veranderingen von het slapen. De Gids. 144-3: 197-214 Gleichmann, P.R. (1982): Des villes propres et sans odeur. La vidange du corps humain: Equipements et domesticatio. In: URBI, Arts, histoire et ethnologie des villes. V: 88-100 Gleichmann, P.R. (1982): Nacht und Zivilisation. Vortrag vor dem Deutschen Werkbund am 13.11.1982. In: Faust, V. (Hrsg.) (1982): Compendium Psychiatricum. Sonderdruck aus: Schlafstörungen: 27-47 Gleichmann, P.R. (1982): Vorwort. In: Fritz, H.-J. (1982): Menschen in Büroarbeitsräumen. Über langfristige Strukturwandlungen büroräumlicher Arbeitsbedingungen mit einem Vergleich von Klein- und Großraumbüros. München. H. Moos Gleichmann, P.R. (1983): Anmerkungen zum Entstehen der Machtforschung. Entwicklungszüge der körperlichen Gewalt als Machtquelle. In: Heckmann, F./Winter, P. (Hrsg.) (1983): 21. Deutscher Soziologentag 1982. Beiträge der Sektions- und ad-hoc-Gruppen. Opladen: 547- 554 Gleichmann, P.R. (1983): Über das „architektonische“ Denken. In: Schweger, P.P./Schneider, W./Meyer, W. (Hrsg.) (1983): Architekturkonzeptionen. Architekten berichten. Stuttgart Gleichmann, P.R. (1984): Soziologisches Orientierungswissen. Über den Beitrag von Norbert Elias zu einer soziologischen Entwicklungstheorie – Eine kommentierte Selbsteinschätzung. Vortrag 22. Deutscher Soziologentag Universität Dortmund am 11.10.1984 Gleichmann, P.R. (1985): „Sauberkeit“ und Zivilisation. In: archithese 1-85. Januar/Februar: 24 Gleichmann, P.R. (1987): Architektur und Zivilisation. In: archithese. Heft 2. Bd. 17: 40-60 Gleichmann, P.R. (1987): Architektur und Zivilisation. In: Loccumer Protokolle 62/87. Loccum: 23-30 Gleichmann, P.R. (1987): Der Prozeß der Zivilisation. Zum 90. Geburtstag von Norbert Elias. In: Neue Zürcher Zeitung vom 22.06.1987. Nr. 141: 23 Gleichmann, P.R. (1987): Norbert Elias – aus Anlaß seines 90. Geburtstages. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 39. Jg.: 406-417
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Gleichmann, P.R. (1987): Norbert Elias on his Ninetieth Birthday. In: Theory, Culture and Society. 6/1989: 59-76 Gleichmann, P.R. (1988): Zur historisch-soziologischen Psychologie von Norbert Elias. In: Jüttemann, G. (Hrsg.) (1988): Wegbereiter der Historischen Psychologie. München-Weinheim. Beltz Psychologie-Verlags-Union Gleichmann, P.R. (1989): Deutsche Gesellschaftsgeschichte für Soziologen (Rezension). In: Soziologische Revue. Jg. 12. Heft 1: 2-81 Gleichmann, P.R. (1989): Wie läßt sich die „Interdisziplinäre“ Denkarbeit von Wissenschaften fördern? – Thesen zu Ideal und Wirklichkeit von Forderungen nach mehr „Interdisziplinarität“, Referat bei einer Diskussionsveranstaltung des Fachbereichs Geschichte, Philosophie, Sozialwissenschaften der Universität Hannover und der Abteilung für Geschichte der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover am 16.01.1989 Gleichmann, P.R. (1989): Zivilisierung Deutschlands. Neun Thesen. In: Zapf, W./Hailer, M./Hoffmann-Nowotny, H.-J. (Hrsg.) (1989): Kultur und Gesellschaft. Zürich. SeismoVerlag Gleichmann, P.R. (1989): Zum Austausch wissenschaftlichen Wissens. Ein Beitrag zu Ideal und Wirklichkeit der „interdisziplinären“ Denkarbeit von Wissenschaftlern. Thesen zu einem Kolloquium am 16.01.1989 am Institut für Soziologie der Universität Hannover Gleichmann, P.R. (1990): „Polska Lokalna – Wie können die zurückgebliebenen Gegenden Polens aktiviert werden?“. In: Nachrichtenblatt zur Stadt- und Regionalsoziologie. 1/90 Gleichmann, P.R. (1990): „Wofür habe ich überhaupt gelebt?“ Norbert Elias 22.06.1897-01.08.1990. In: links. Nr. 9/90: 42 Gleichmann, P.R. (1990): Soziale Wandlungen der Affekt- und Verhaltensstandarde sowie der Identitätsgemeinschaften. Zur Zivilisation eines vereinten Deutschlands. In: Loccumer Protokolle 54/90. Loccum: 19-25 Gleichmann, P.R. (1991): „Wofür habe ich überhaupt gelebt?“ Persönliche Erinnerungen an Norbert Elias 22.06.1897-01.08.1990. In: Utopie kreativ. Diskussion sozialistischer Alternative. Heft 7: 92-98 Gleichmann, P.R. (1991): Das Deutschlandbild von Elias und Elias-Bilder der Deutschen. Engagiertdistanzierte Bemerkungen zu einem europäischen Soziologen. Vortrag auf der Gedenktagung für Norbert Elias am 19.10.1991. Essen Gleichmann, P.R. (1991): Osservazioni coinvolte e distaccate su un sociologo europeo. In: Rassegna Italiana di Sociologia. 32. Jg. Nr. 4: 401-425 Gleichmann, P.R. (1992): Sind Menschen in der Lage vom gegenseitigen Töten abzulassen? Zur Verflechtung von Militarisierungs- und Zivilisationsprozessen. In: Seifert, J. et.al. (Hrsg.) (1992): Logik der Destruktion. Der zweite Golfkrieg als elektronischer Krieg und die Möglichkeiten seiner Verarbeitung im Bewußtsein. Frankfurt/Main. Materialis Verlag Gleichmann, P.R. (1993): Gewalttätige Menschen. Die dünne Schale ihrer Zivilisierung und ihre vielen ambivalenten Auswege. In: Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 2. 1993. 6 Gleichmann, P.R. (1993): Intellektualisierungsprozesse und Wissenssynthesen. Über gesellschaftliche Intellektualisierungsprozesse. In: Berliner Journal für Soziologie. Bd. 3. Heft 1: 89-101 Gleichmann, P.R. (1993): Von der allmählichen Verdrängung des Schlafs – Stichworte zu einer kulturgeschichtlichen Synthese. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28.07.1993. Nr. 172 Gleichmann, P.R. (1994): Nachwort. In: Overlander, G., Die Last des Mitfühlens. Aspekte der Gefühlsregulierung in sozialen Berufen am Beispiel der Krankenpflege. Frankfurt/Main Gleichmann, P.R. (1994): Rezension zu Duindam, J. Macht en mythe. Een kritische analyse van de hoftheorieen van Norbert Elias en Jürgen von Krüdener. Rijksuniversiteit Utrecht 1992. In: Historische Zeitschrift. Bd. 259. 2: 413f.
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Gleichmann, P.R. (1994): Rezension zu Israëls, H./Komen, M./de Swaan, A. (Hrsg.) (1994): Over Elias. Erinneringen en anekdotes. Amsterdam. Het Spinhuis und in: Amsterdams Sociologisch Tijdschrift. Jg. 20. H. 4: 145f. Gleichmann, P.R. (1994): Soziologisches Orientierungsmittel für europäische Staatsgesellschaften. Vortrag, gehalten am 23.08.1994 auf dem Europäischen Forum. Alpbach/Tirol Gleichmann, P.R. (1994): Vorwort. In: Kürûat-Ahlers, E. (1994): Zur frühen Staatenbildung von Steppenvölkern. Berlin. Duncker & Humblot Gleichmann, P.R. (1996): Sind Menschen in der Lage, das kollektive gegenseitige Töten abzuschaffen? In: Berliner Debatte INITIAL. 2/1996: 93-101 Gleichmann, P.R. (1998a): Wohnen. In: Häussermann, H. (Hrsg.) (2000): Großstadt. Opladen. Leske & Budrich: 272-281 Gleichmann, P.R. (1998b): Son capaces los seres humanos de dejar de matarse mutuamente? In: Weiler, V. (Hrsg.) (1998): Figuraciones en processo. Bogota: 75-100 Gleichmann, P.R. (1999): Sich ein Bild machen von Zugängen zur Soziologie? In: Lenk, W./Rumpf, M./Hieber, L. (Hrsg.) (1999): Kritische Theorie und politischer Eingriff. Hannover. Offizin Gleichmann, P.R. (2000): Einige Schritte voran in den Menschenwissenschaften – Norbert Elias. In: Buckmiller, M./Heimann, D./Perels, J. (Hrsg.) (2000): Judentum und politische Existenz. Hannover. Offizin Gleichmann, P.R. (2000): Sind Menschen dazu in der Lage, das gegenseitige Töten abzuschaffen? In: Claussen, B. (Hrsg.) (2000): Staatsgesellschaften. Berlin/Cambridge. Glienicke: 189-210 Gleichmann, P.R. (2000): Vorwort. In: Wolf, R. (2000): Sozial verwaltetes Wohnen. Empirische Fallstudie einer Großwohnanlage. Frankfurt/Main. Campus: 13-16 Gleichmann, P.R. (2001): Sind Menschen dazu in der Lage, das gegenseitige Töten abzuschaffen? In: Voigt, G. (Hrsg.) (2001): Staatsgesellschaft. Berlin. Glienicke: 189-210 Gleichmann, P.R. (2003): Ansichten eines historischen Soziologen. Sozial-räumliche „Funktionalität“ von Universitätsbauten. In: Auffarth, S./Pietsch, W. (Hrsg.) (2003): Die Universität Hannover: Ihre Bauten – Ihre Gärten – Ihre Planungsgeschichte. Petersberg. Michael Imhof Verlag: 231-237 Gleichmann, P.R. (2003): Metamorphosen der sozialen Frage. Eine historische Soziologie. Rezension zu Robert Castel. In: Soziologische Revue. 2003. Heft 1 Gleichmann, P.R. (Hrsg.) (1976): Wohnungsforschung und Siedlungsplanung Gleichmann, P.R./Fritz, H.-J. (1977): Beobachtungen über Büroarbeit und Großraum-Architektur. In: Angewandte Sozialforschung Wien. AIAS-Informationen 6/1977 Gleichmann, P.R./Goudsblom, J./Korte, H. (Hrsg.) (1977): Human Figurations. Essays for/Aufsätze für Norbert Elias. In: Amsterdams Sociologisch Tijdschrift. Amsterdam Gleichmann, P.R./Goudsblom, J./Korte, H. (Hrsg.) (1979): Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. Frankfurt/Main. Suhrkamp Gleichmann, P.R./Goudsblom, J./Korte, H. (1984) Macht und Zivilisation. Frankfurt/Main. Suhrkamp Gleichmann, P.R./Kürûat-Ahlers, E./Waldhoff, H.-P. et.al. (1994): Migrantenprotest als Integrationschance? Identitätsbildung und ihre intellektuellen Trägergruppen bei diskriminierten Einwanderungsminoritäten am türkisch-deutschen Beispiel. Universität Hannover. Manuskript Gleichmann, P.R./Kühne, Th. (Hrsg.) (2004): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen. Klartext-Verlag Gleichmann, P.R. (unbekannt): Einige langfristige Wandlungen im Denken der Architekten. In: Stadt. Marginalien zum „Außenhaus“. 29. Jg. H. 11 Gleichmann, P.R. (unbekannt): Zur Soziologie der nordamerikanischen Stadtgemeinden.
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Editorische Nachbemerkung
Für die Bearbeitung der in diesem Buch zusammengefügten Schriften von Peter Gleichmann galt das Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs. Dem neuen Kontext angepasst wurden in einigen Fällen die Titel. Das lässt sich am Verzeichnis der Erstveröffentlichungen überprüfen. Ansonsten wurden offenkundige Fehler korrigiert und geringfügige Kürzungen in den Kapiteln I.1. und IV.4. vorgenommen. Die Arbeiten sind thematisch in vier Abschnitte gegliedert. Innerhalb dieser sind sie chronologisch angeordnet. So ist innerhalb der thematischen Auffächerung die intellektuelle Entwicklung für den Leser nachvollziehbar. Dem Band ist ein sehr ausdifferenziertes Register angefügt. Dies erscheint angemessen bei einem Wissenschaftler, für den die Begriffsarbeit eine so zentrale Rolle spielt. Trotzdem hat Peter Gleichmann stets auf die Grenzen der Sprache hingewiesen und auf die nonverbalen Schichten der Kommunikation. Deshalb ist das Buch von Zeichnungen des Autors gleichsam eingefasst. Hannover, Hans-Peter Waldhoff
Register
Abhängigkeit der sozialen Chancen 40 Abhängigkeit des Wohnungsmarktes 26 Abhängigkeit(en) 13, 26, 40, 69, 87, 122, 123, 124, 157, 191, 192, 208, 223, 260, 287, 292, 300, 330 Abhängigkeit(en), fundamental(e) 292 Abhängigkeit(en), gegenseitige 13, 69, 87, 191, 192, 260, 300 Abhängigkeit(en), von der Natur 123, 124 Abhängigkeitsfiguration 130 Abhängigkeitsstrukturen 170 Abstieg, sozialer 26, 42, 147 Abwehr, gemeinsame, kollektive 350 Acham, Karl 169, 359 Achenbach, Andreas 103 Ackerknecht, Dieter 359 Adamovic, Ales 315, 337, 359 Adler, Hans G. 52, 359 Adler, Leo 386 Adorno, Theodor W. 141, 242, 248, 251, 253, 283, 299, 302, 359, 365, 369, 389 Affekt(e) 8, 16, 72, 78, 89, 91, 97, 104, 114, 122, 126, 137, 138, 157, 158, 159, 160, 176, 261, 262, 266, 267, 275, 278, 300, 309, 311, 312, 313, 333, 334, 340, 341, 358, 369, 391 Affektbalancen 90, 91 Affektbeherrschung 78 Affektgefüge 91 Affekthaushalt 159, 266, 278 Affekthaushalt der Forscher 278 Affektinterdependenz 72 Affektive Bindungen 104, 158, 176, 261
Affektive Valenzen menschlicher Bindungen 158, 261 Affektivitätsniveau 114, 122 Affektkontrollen 126 Affektresonanzen 160 Affektstandard(e) 309, 311 Affektsublimierung 17, 204 Affektverschiebungen 158 Afheldt, Horst 387 Aggression(en) 11, 17, 19, 20, 22, 65, 203, 206, 366 Aggressionen, Zurücknehmen der 17, 203 Ahrends 33, 359 Aich, Prodosh 73, 359 Akademiker 193 Akademiker, Industrieakademiker 190 Akademisch 15, 20, 22, 56, 127, 139, 142, 168, 170, 171, 173, 174, 175, 176, 180, 186, 187, 196, 197, 202, 203, 206, 207, 208, 212, 215, 235, 236, 237, 238, 248, 264, 273, 277, 280, 283, 288, 289, 294, 312, 348, 349, 350, 366 Akademisierung der Architektenausbildung 128 Akkulturationsprozess(e) 270 Albertin, Lothar 359, 363 Allardt, Erik 202, 359 Altwegg, Jürg 192, 359 Amsterdam 110, 138, 143, 144, 145, 147, 148, 154, 208, 209, 235, 242, 243, 245, 248, 257, 270, 285, 288, 289, 293, 295, 297, 356, 359, 360, 361, 362, 364, 369, 370, 371, 372, 374,
375, 376, 378, 379, 380, 383, 384, 385, 387, 389, 392 Analytische Methoden, Verfahren, Wissenschaftslehre 14, 15, 19, 38, 45, 47, 56, 77, 82, 94, 106, 109, 115, 126, 129, 136, 142, 146, 153, 157, 158, 159, 163, 165, 168, 169, 178, 179, 183, 192, 199, 206, 212, 213, 219, 220, 234, 238, 241, 242, 245, 250, 258, 261, 264, 266, 267, 268, 273, 286, 300, 303, 304, 314, 332, 339, 364, 370, 371, 376, 384, 392 Analzone 68 Anders, Günther 20, 341, 359 Anderson, Benedict 317, 359 Angst, Ängste 16, 20, 59, 60, 65, 66, 67, 72, 76, 99, 100, 102, 104, 105, 116, 119, 122, 200, 215, 236, 260, 270, 291, 324, 331, 338, 350, 364, 366, 386 Angst, Ängste, Weltängste 215 Angstsyndrome 60 Annales (französische Historikerschule) 157, 218 Anthropologie 55, 56, 72, 131, 210, 234, 235, 239, 243, 247, 361, 375, 384 Antisemitismus 309 Appellcharakter Marxscher Begriffe 250 Apuleius, Lucius 110 Arbeit 5, 10, 11, 12, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 22, 26, 28, 29, 31, 34, 35, 36, 37, 40, 41, 42, 45, 47, 48, 50, 51, 53, 54, 60, 61, 65, 73, 75, 78, 82, 83, 84, 85, 87, 88, 89, 90, 91, 93, 95, 96, 97, 99, 104, 108, 109, 111, 112, 113, 115, 116, 118, 120, 121, 122, 126, 128, 129, 131, 132, 135, 136, 137, 139, 141, 147, 153, 154, 155, 158, 159, 162, 163, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 174, 175, 176, 178, 179, 180, 182, 185, 191, 198, 201, 202, 204, 208, 209, 211, 212, 213, 214, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 227, 228, 229, 233, 234, 237, 238, 242, 243, 244, 245, 251, 255, 257, 258, 261, 263, 264, 265, 267, 268, 269, 271, 274, 275, 277, 278, 283, 285, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 294, 297, 298, 299, 301, 302, 303, 304, 306, 310, 311, 313, 327, 331, 334, 346, 351, 354, 359, 360, 364, 366, 370, 373, 374, 379, 381, 383, 385, 386, 393 Arbeit, Arbeitsrecht 111 Arbeit, Berufsarbeit 87 Arbeit, Büroarbeitsräume 368, 390 Arbeit, Hausarbeit 45, 78, 87, 112 Arbeit, Industriearbeit 97, 136, 381
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Arbeit, Industriearbeiterschaft 91 Arbeit, Landarbeit 37, 88, 110, 136 Arbeit, Lohnarbeitsgesellschaft 227, 228, 229 Arbeit, Nachtarbeit 109, 111, 112, 113, 115, 121 Arbeit, Schichtarbeit 97, 111, 112, 113, 115, 360, 366, 379, 382 Arbeit, Zwangsarbeit 73, 222, 223 Arbeiterbewegungen 93 Arbeiterhäuser 91, 135 Arbeiterklasse 91, 228 Arbeitsdisziplinierung 334 Arbeitsfähigkeit 224, 228 Arbeitshäuser 223, 311 Arbeitsherren 96, 175, 331 Arbeitskraft 26, 27, 28, 31, 50, 111, 171, 221 Arbeitslosenhilfe 217 Arbeitsmarkt 26, 29, 31, 36, 40, 48, 54, 171, 223, 224, 225 Arbeitsmonopol 222 Arbeitsordnung 223 Arbeitsplatz 26, 27, 28, 31, 35, 37, 42, 48, 53, 60, 82, 96, 112, 113, 147, 227 Arbeitspolizei 223 Arbeitsräume 108, 122 Arbeitsrecht 110, 225, 227 Arbeitsteilung 32, 61, 82, 85, 118, 122, 166, 167, 168, 176 Arbeitsunfähigkeit 224, 228 Arbeitswissenschaft 364, 371, 383, 384 Arbeitswut 198 Arbeitszeit 109, 110, 113, 115, 122, 227, 372 Architekt(en) 10, 35, 43, 44, 45, 47, 55, 60, 61, 68, 72, 81, 95, 107, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 134, 139, 140, 147, 191, 197, 364, 382, 383, 389, 390, 392 Architektendenken 130, 139 Architekten-Planer 129 Architektonisch 7, 10, 14, 55, 57, 58, 59, 61, 71, 125, 128, 133, 135, 138, 272, 357, 361, 369, 389, 390 Architektonisierung 135 Architektur 7, 9, 10, 11, 14, 23, 35, 43, 44, 45, 47, 55, 57, 58, 59, 60, 61, 65, 68, 71, 72, 81, 94, 95, 107, 125, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 138, 139, 140, 141, 147, 148, 156, 191, 197, 272, 357, 361, 369, 370, 374, 376, 380, 381, 382, 389, 390, 392 Architektur als physisches Gewaltmittel 9 Architektur, Gartenarchitektur 148
Architektur, Homo architectonicus 133 Architekturentwicklung als Teilbereich zivilisatorischer Vorgänge 125 Architekturhistoriker 131 Architekturkritik 55, 61, 71, 389 Architekturkünstler 128 Architekturlehren 131, 138 Architekturphotographie 10, 59 Architekturphotographie – unbelebte 10 Architekturphotographie, -abbildungen, -zeichnungen 10, 16, 56, 57, 58, 59 Architekturpsychologen 60, 147 Architektursoziologisch 11, 14 Architekturtheorie 61, 94, 126, 127, 129, 131, 139, 140, 376 Arendt, Hanna 224 Aristophanes 248 Armee, Erziehung durch 335 Arndt, Helmut 359, 361 Atomkraftwerke 130 Atteslander, Peter 359 Auffarth, Sid 149, 359, 370, 392 Auschwitz 19, 237, 241, 271, 291, 345 Außenseiter 22, 158, 159, 170, 177, 200, 208, 209, 234, 238, 244, 252, 253, 261, 276, 294, 295, 301, 303, 306, 366 Außenseiterbeziehung 234 Bachelard, Gaston 105, 218, 359 Bächler, Günther 316, 359 Baecker, Dirk 169, 359 Bahrdt, Hans Paul 10, 46, 50, 123, 165, 219, 359, 381 Bahro, Rudolf 331, 360 Bakema, Jacob Berend 390 Balance zwischen intensivem Engagement und sozialer Distanzierung 346 Bald, Detlef 349, 354, 360 Baldamus, Wilhelm 177, 360 Baldung, Hans, genannt Grien 102 Bärmark, Jan 360 Baron, Alfred 33, 360 Basch, C.J. 107, 360 Bauman, Zygmunt 19, 80, 345, 346, 349, 351, 360 Baumann, Rolf 360 Baumgart, Ralf 286, 360 Bauprozesse 129, 130 Beamte 37, 72, 89, 91, 94, 128, 177, 221, 379 Beamtenelite 309 Beamtensprache vieler Historiker 304
Beattie, Alan 60, 360 Beck, Ulrich 290, 360 Becker, Walter 111, 113, 114, 360, 379, 383 Becker-Schmidt, Regina 383 Begriff(e) 13, 22, 32, 33, 35, 55, 97, 115, 122, 126, 127, 133, 136, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 165, 166, 191, 196, 206, 207, 208, 215, 219, 229, 238, 246, 250, 253, 258, 260, 261, 263, 264, 268, 273, 274, 277, 280, 281, 300, 304, 333, 346, 362, 382 Begriff(e), Messbegriff 157, 261 Begriff(e), Raumbegriff 55 Begriff(e), Wissenschaftsbegriff 196 Begriff(e), Zeitbegriff 115, 122, 159, 162 Begriffe, auf Menschen bezogene 160, 246, 260, 273 Begriffe, Dynamisierung soziologischer 158, 238 Begriffe, prozessuale 260 Begriffebildungstechniken 273 Begriffeentwicklung 268 Begriffesoziolgie, psychoanalytisch vorgehende 273 Begriffesoziologie 162, 273 Begriffevermeiden 207, 215 Begriffsbildung 160, 206, 246, 264, 265, 268, 272, 273, 274, 276, 278, 305, 369, 390 Begriffsbildung, vielperspektivische 264, 274 Begriffsbildungsstrategie 17, 208 Begriffswahl 160, 208 Ben-David, Joseph 182, 198, 360 Bensman, Joseph 386 Benthem van den Bergh, Godfried van 194, 360 Berghahn, Volker R. 329, 332, 341, 360, 363, 382 Bergler, Reinhold 77, 360 Bernheim, Ernst 165, 166, 170, 178, 179, 180, 360 Bernstein, Eduard 387 Berr, Henri 179, 180, 218, 360 Berufsbewusstsein, seelische Panzerung des 350 Berufsgruppen, akademische 173, 350 Berufsideale als Gruppenglauben 268 Bett 53, 87, 88, 89, 91, 92, 94, 95, 96, 97, 121 Bewusstsein(s) 13, 123, 181, 214, 233, 272, 291, 348, 358, 383, 391 Bewusstsein, gesellschaftliches 245 Bewusstseinssynthese 263
397
Bild(er) 7, 8, 20, 22, 39, 43, 55, 56, 57, 58, 59, 61, 64, 65, 87, 92, 95, 102, 110, 120, 123, 138, 141, 142, 143, 145, 146, 147, 156, 170, 183, 194, 211, 213, 228, 239, 251, 269, 272, 274, 282, 283, 284, 285, 325, 328, 330, 340, 357, 358, 362, 370, 378, 381, 384, 391, 392 Bild(er), Abbild 43, 56, 57, 58, 59, 61, 64, 87, 110, 145, 146, 156, 384 Bilderfeindlichkeit 56 Bilderkrieg 56, 362 Bildinhalte 146 Bildüberflutung 56 Bildwirklichkeit 56 Bion, Wilfred R. 11, 12, 13, 14, 15, 21, 360 Birckenbach, Hanne-Margret 316, 326, 360 Bloch, Ernst 138, 361 Bloch, Marc 156, 180 Blok, Anton 245, 361 Blomert, Reinhard 5, 213, 241, 257, 361 Bödeker, Hans Erich 170, 361 Boer, Pim den 170, 361 Boerner, Peter 252 Boettcher, Erik 361, 374 Bogner, Artur 246, 361 Böhme, Erich 283 Bolte, Karl Martin 389 Borkenau, Franz 249 Borneman, Ernest 79, 361 Boudon, Raymond 184, 361 Bourdieu, Pierre 21, 139, 176, 181, 182, 188, 192, 243, 294, 361, 374 Bourke, Joanna 354, 361 Bourricaud, François 184, 361 Bovary, Emma 93 Braak, Menno ter 194, 361 Brake, Klaus 361, 377 Braudel, Fernand 218 Bräutigam, Walter 77, 361 Brecht, Julius 28, 32, 34, 361 Bredow, Wilfried. von 316, 333, 341, 361, 362 Breidach, H.J. 34, 362 Brentjes, Burchard 106, 362 Breysig, Kurt 362 Bright, Arthur A. Jr. 107, 108, 362 Brinkgreve, Christien 243, 248, 257, 362 Brock, Bazon 56, 362 Brocke, Bernhard vom 170, 180, 197, 279, 327, 362 Brubacher, Georg 362
398
Bruch, Rüdiger vom 327, 362 Brugsma, W.L. 313, 362 Bruin, K. 248, 362 Brunkhorst, Hauke 188, 362 Brunner, Otto 362, 368 Brunt, E. 248, 362 Brunt, L. 247, 362 Bruyn, Bartholomäus der Ältere 102 Buck, Peter 362, 366 Buckle, Henry Thomas 180 Buckmiller, Michael 358, 362, 370, 392 Bühl, Walter L. 188, 362 Bujard, Otker 359 Burguière, André 234 Burkhardt, Friedlinde 362, 365 Calder, William M. 362 Calließ, Jörg 316, 362, 369 Calvin, Jean 195 Canter, David 362, 374 Caravaggio, Micheangelo Merisi Amerighi da 102 Carpentier, James 362 Carr-Hill, Roy A. 318, 384 Carsten, Francis Ludwig 247, 360 Castel, Robert 7, 16, 217, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 224, 225, 226, 228, 358, 362, 392 Catalani, Carla 363 Cauquelin, Anne 114, 363 Cazamian, Pierre 362 Cellini, Benvenuto 101, 102, 363, 370 Challener, Richard D. 319, 363 Chapman, Dennis 26, 42, 43, 45, 363 Chartier, Roger 234, 287, 363 Chesnais, Jean-Claude 319, 363 Chirot, Daniel 363 Chombard de Lauwe, P.H. 45, 46, 363 Chomsky, Noam 183, 363 Christadler, Marieluise 192, 359, 363 Christian, Paul 361 Christoph, Klaus 316, 383 Claessens, Dieter 241, 242 Clark, George N. 107, 363 Claussen, Bernhard 363, 392 Colbert, Jean-Baptiste 128, 222 Collins, Peter 127, 363 Comte, Auguste 162, 235, 374 Conze, Werner 362, 368 Corregio, Antonio Allegri 102 Craig, Gordon Alexander 327, 363 Crary, Jonathan 145, 363
Crawshaw, D.T. 57, 58, 59, 363 Creighton, Colin 329, 363 Cullingworth, John B. 46, 73, 363 Curtis, Jude 60, 360 Dach, Simon 99, 100, 103, 116, 119, 122, 363, 380 Dahrendorf, Ralf 219, 363 Dales, Richard C. 182, 185, 363 Dalty, C.D. 57, 58, 59, 363 Dann, Otto 213, 363 Darwin, Charles 155, 252 Davis, Mike 385 Dean, John P. 25, 363 Debray, Régis 192, 200, 363 Dehio, Ludwig 327, 363 Delbrück, Hans 20, 21, 323, 328, 348, 363 Delorme, M. 202, 363 Denkarbeit 7, 128, 159, 163, 165, 166, 169, 170, 176, 178, 179, 190, 194, 211, 245, 252, 357, 391 Denken, über Generationengrenzen hinweg 305 Denkgemeinschaft(en) 17, 61, 128, 176, 177 Denkhaltung(en) 333 Denkkollektiv(e) 17, 61, 367, 382 Denkkonzepte 61 Denkmodell(e) 167, 168, 169, 173, 182, 184, 197, 272, 274, 275, 277, 284, 341, 345, 347 Denkparadigmen 19, 187 Denkschema 14, 60, 61, 83, 146, 186, 314 Denkschritte 258 Denkspaltung(en) 14, 15, 16, 19, 328 Denktradition 239, 333 Denkweisen 127 Denkwerkzeuge 273, 274 Deutsche Frage 309, 373 Deutsche, deutsch 8, 12, 20, 26, 33, 35, 41, 51, 54, 68, 75, 94, 100, 107, 108, 111, 128, 134, 143, 159, 170, 172, 174, 185, 186, 189, 192, 193, 195, 196, 197, 198, 199, 202, 204, 205, 209, 213, 217, 218, 219, 225, 229, 233, 234, 235, 241, 242, 243, 244, 246, 248, 251, 252, 255, 269, 270, 271, 272, 276, 277, 282, 284, 285, 288, 289, 292, 294, 295, 298, 299, 301, 302, 303, 304, 305, 309, 312, 313, 316, 317, 318, 322, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 331, 333, 335, 336, 337, 338, 339, 342, 343, 345, 348, 349, 354, 357, 358, 360, 361, 362, 363, 364, 365, 366, 367, 368, 370, 372, 373,
374, 375, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 385, 386, 387, 389, 390, 391, 392 Deutschland 8, 16, 28, 29, 33, 36, 46, 48, 63, 68, 110, 175, 180, 192, 194, 196, 197, 199, 202, 212, 213, 217, 218, 225, 227, 245, 269, 270, 271, 275, 277, 280, 295, 298, 299, 303, 309, 312, 313, 320, 325, 326, 334, 336, 339, 341, 342, 349, 354, 358, 360, 361, 363, 364, 367, 368, 369, 370, 376, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384, 391 Devereux, George 14, 15, 72, 364 Deverson, Henry James 114, 364 Diamond, Edwin 96, 364 Dichter, Ernest 47, 364 Diderot, Denis 110 Dilly, Heinrich 139, 364 Distanzieren, vom Erlernen des Tötens 325 Distanzierung 17, 20, 22, 89, 97, 121, 126, 159, 168, 190, 192, 205, 213, 234, 235, 249, 250, 252, 259, 262, 267, 268, 272, 274, 275, 278, 284, 285, 286, 302, 341, 346, 351, 365 Distanzierung, extremste 20, 341 Distanzierungsfunktion 205 Distanzierungsmöglichkeit 89 Distanzierungsniveau 262, 350 Distanzierungsschritte gegenüber dem modernen rational-bürokratischen Staat 351 Distanzierungsschub, sozialer 16, 102 Disziplin(en), akademische, wissenschaftliche 15, 16, 153, 161, 166, 167, 168, 169, 174, 175, 176, 178, 179, 180, 197, 207, 208, 212, 217, 218, 244, 248, 264, 273, 275, 277, 283, 288, 304, 347, 350, 355, 359, 380, 384 Disziplin(en), menschenverachtende Praktiken ihrer Berufsangehörigen 15, 168 Disziplinierung, Tötungshemmung kontrolliert zu durchbrechen 335 Dockès, Pierre 134, 364 Dogan, Mattei 213, 364 Dohnanyi, Klaus von 242 Dölling, Irene 361, 364 Druck, sozialer 51, 91, 112, 350 Druck, staatlicher 51 Duerr, Hans Peter 260, 288, 364, 365, 373, 383 Duindam, Jeroen F. 287, 288, 364, 370, 392 Duke, Alastair C. 364 Dülffer, Jost 364, 368 Dunk, Hermann W. von der 182, 198, 351, 364
399
Dunning, Eric 245 Durkheim, Émile 218 Durth, Werner 127, 364 Eberstadt, Rudolf 79, 80, 364 Edgerton jr., Samuel Y. 134, 364 Edholm, Otto G. 111, 364 Edsman, Carl-Martin 104, 364 Eggebrecht, Arne 364, 383 Eichener, Volker 286, 360 Eicher, Joanne Bubolz 77, 382 Eichmann, Adolf 271 Eigentum 32, 33, 35, 127, 136 Einfühlung 273, 292 Einsichten über eigene Interessenlage 303 Eisler, Rudolf 382 Eitner, Gustav 364, 377 Elektrisches Licht, Elektrizität 103, 106, 107, 108, 109, 124, 135, 360 Elektrizitätslehre 107 Elias, Norbert 5, 7, 8, 9, 10, 11, 13, 14, 17, 18, 19, 45, 56, 61, 63, 68, 71, 72, 73, 75, 78, 90, 97, 112, 114, 115, 126, 133, 138, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 160, 161, 162, 163, 165, 167, 178, 179, 181, 183, 190, 201, 203, 204, 205, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 219, 229, 231, 233, 234, 235, 236, 237, 238, 239, 241, 242, 243, 244, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 255, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 309, 315, 317, 318, 319, 324, 327, 328, 333, 334, 338, 340, 346, 354, 357, 358, 360, 361, 362, 363, 364, 365, 366, 367, 369, 370, 371, 372, 373, 374, 375, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 383, 384, 385, 387, 389, 390, 391, 392 Elsheimer, Adam 102 Elster, Ludwig 29, 366, 372 Empirisch-theoretisch 153, 245, 246, 263, 273 Energiekonzerne 124 Engagement und Distanzierung 126, 159, 213, 234, 235, 252, 258, 262, 268, 275, 284, 286, 302, 365 Engagierte Distanzierung 8, 22, 181, 269, 272, 275, 278, 285, 358, 391 Engels, Friedrich 387
400
England, englisch, britisch 18, 42, 46, 48, 63, 64, 65, 74, 92, 106, 110, 169, 174, 185, 186, 192, 193, 194, 196, 198, 202, 204, 207, 208, 209, 218, 225, 227, 233, 234, 238, 241, 242, 245, 252, 257, 269, 275, 280, 282, 285, 288, 289, 293, 298, 299, 300, 302, 305, 318, 319, 326, 329, 333, 354, 356, 370, 381 Engler, Wolfgang 16, 189, 198, 199, 207, 260, 272, 289, 294, 313, 330, 331, 366 Enträumlichung 55, 146 Entwicklung, des Verhältnisses zu sich selbst 262, 273 Entwicklungsstand einer Gesellschaft 157, 261 Entwicklungstheorie des menschlichen Synthesenbildungsvermögens 292 Epstein, Helen 366 Erdheim, Mario 14, 18, 366 Erinnerung(en) 8, 16, 20, 21, 22, 79, 102, 122, 146, 147, 149, 219, 249, 281, 285, 289, 292, 312, 323, 324, 339, 342, 353, 355, 358, 384, 387, 391 Erinnerungsfähigkeit 147 Erinnerungstatsache 339 Erinnerungsvermögen 10, 16, 141, 147 Erkenntnisfortschritt(e) 17, 351 Erkenntnisgewinn(en) 178, 192, 377 Erkenntnisgewinnen 178, 192 Erkenntnisgewinnen, Integration von getrennten Verfahren 178 Erkenntnishaltung 15, 22, 272, 274, 275, 278, 305 Erkenntnismethode(n) 11, 15, 168, 187, 206, 235 Erkenntnismethode(n), analytisch-reduktionistische 15, 168 Erkenntnismethode(n), Synthesevorgänge als 11, 235 Erkenntnisprozess(e) 22, 162, 205, 273 Erlernen eines psychoanalytischen Verständnisses 22, 300 Erzherzog Ludwig Viktor zu Wien 90 Etablierten-Außenseiter-Theorem 244, 261 Euler, Manfred 29, 47, 49, 51, 53, 366 Europa, europäisch 7, 8, 11, 16, 17, 18, 20, 27, 32, 66, 69, 80, 88, 93, 100, 102, 104, 107, 111, 121, 128, 132, 134, 141, 142, 148, 154, 156, 182, 183, 185, 188, 189, 191, 192, 195, 199, 201, 202, 203, 204, 205, 207, 209, 211, 212, 213, 218, 220, 221, 222, 229, 233,
235, 239, 245, 252, 254, 257, 269, 276, 277, 280, 289, 298, 299, 305, 310, 311, 312, 313, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 323, 325, 326, 327, 347, 349, 358, 360, 362, 364, 366, 369, 372, 373, 377, 379, 380, 383, 386, 387, 391, 392 Evans, Archibald A. 115, 366 Existenzrisiken 32, 82, 84 Exkremente 12, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69 Fahrtmann, F. 366, 382 Faraday, Michael 107, 366 Faust, Volker 99, 357, 366, 390 Feinderklärungen 341, 351 Fellner, Günter 170, 180, 366 Ferber, Christian von 34, 82, 85, 366, 367 Fest, Joachim 183, 367 Feuer 103, 104, 105, 106, 119, 305, 359, 367, 371 Feuer, Fegefeuer 105 Feuerschutz, soziale Instanzen des 106 Fey, Walter 46, 52, 53, 72, 367 Filmer, Werner 330, 367 Fischer, Fritz 197, 309, 367 Fitch, James Marston 108, 131, 367 Flandrin, Jean-Louis 88, 367 Flap, Henk D. 153, 367 Flashar, Hellmut 362 Flaubert, Gustave 93 Fleck, Christian 202, 367 Fleck, Ludwik 17, 60, 61, 83, 166, 176, 177, 247, 360, 367 Fleming, Paul 103, 122, 367, 377 Flemming, Jens 364 Flüchtling 18, 293, 339 Fontaine, Stanislas 365 Forbes, Robert J. 104, 106, 367 Foret, J. 367 Fornfeist, Detlef 75, 367 Forscher 14, 16, 17, 18, 20, 67, 97, 114, 117, 118, 127, 130, 132, 136, 142, 160, 169, 170, 172, 173, 174, 176, 177, 179, 180, 185, 186, 187, 189, 190, 191, 196, 197, 206, 209, 211, 213, 218, 233, 235, 241, 244, 246, 247, 251, 264, 265, 267, 268, 269, 271, 273, 275, 276, 277, 278, 280, 287, 294, 300, 301, 303, 304, 305, 311, 316, 323, 324, 328, 330, 333, 334, 336, 337, 339, 340, 341, 347, 348, 350, 351, 353 Forscher, Humanforscher 275 Forscher, Laborforscher 170
Forscher, Mentalitätsforscher 267 Forscher, Wissenschaftsforscher 169 Forschung, (er)forschen 16, 17, 18, 19, 20, 22, 43, 47, 49, 57, 68, 77, 78, 94, 95, 96, 97, 102, 111, 115, 118, 121, 128, 129, 139, 146, 153, 159, 160, 162, 167, 170, 174, 175, 176, 178, 190, 196, 198, 206, 208, 217, 218, 243, 245, 246, 247, 249, 250, 266, 278, 280, 294, 298, 299, 301, 304, 315, 335, 336, 338, 340, 341, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 354, 355, 358, 359, 360, 364, 365, 368, 376, 378, 379, 380, 382, 383, 384, 385, 389, 390, 391, 392 Forschung, (er)forschen, Atomforschung 198 Forschung, (er)forschen, Baugeschichtsforschung 128 Forschung, (er)forschen, Biographieforschung 217 Forschung, (er)forschen, Forschergruppen 176, 218, 276, 278 Forschung, (er)forschen, Friedensforschung, -forscher 316, 333, 339, 341, 354, 359, 364, 373, 386, 387 Forschung, (er)forschen, Geschichtsforschung, -forscher 20, 132, 136, 169, 170, 172, 173, 179, 180, 185, 191, 206, 211, 213, 218, 246, 251, 264, 271, 280, 287, 303, 305, 311, 324, 336, 340, 348, 353 Forschung, (er)forschen, Großforschung 174 Forschung, (er)forschen, Industrieforschung 174 Forschung, (er)forschen, Kulturforschung 247 Forschung, (er)forschen, Naturforschung, -forscher 14, 20, 186, 189, 190, 196, 197, 206, 340, 350 Forschung, (er)forschen, Pharmaforschung 174 Forschung, (er)forschen, Raumforschung 368, 389 Forschung, (er)forschen, Schichtarbeitsforschung 115 Forschung, (er)forschen, Schlafforschung, -forscher 77, 95, 96, 97, 117, 121 Forschung, (er)forschen, Sexualforschung 250 Forschung, (er)forschen, Traumforschung 96 Forschung, (er)forschen, Unfallforschung 379
401
Forschung, (er)forschen, Utopieforschung 386 Forschung, (er)forschen, Verhaltensforschung 249, 266 Forschung, (er)forschen, Wirtschaftsforschung 364 Forschungsgebiet 304 Forschungsgegenstand 118, 301, 341, 345 Forschungsmethoden 16 Forschungsmuster 170 Forschungspraxis 175 Forschungsprogramm 153, 211, 212, 238, 239, 367 Forschungsschwerpunkte 174 Forschungstabus 20, 22, 338 Forschungsthema 18, 294 Fortschritt 125, 161, 163, 167, 168, 180, 251, 333, 339, 385 Foucault, Michel 57, 58, 145, 286, 367 Foulkes, Siegmund H. (Fuchs) 204, 242, 248, 258, 266, 287, 367 Frankfurter Schule 264 Frankreich, französisch 18, 32, 54, 63, 64, 80, 88, 89, 110, 128, 157, 159, 169, 170, 185, 186, 188, 192, 194, 196, 200, 202, 204, 205, 213, 217, 218, 219, 221, 225, 226, 227, 228, 229, 234, 235, 237, 238, 241, 243, 245, 247, 252, 266, 269, 270, 271, 288, 292, 293, 294, 298, 299, 300, 302, 303, 305, 318, 319, 320, 322, 323, 333, 334, 354, 359, 361, 363, 365, 370, 373 Frazer, James George 104, 105, 367 Freidson, Eliot 171, 186, 187, 206, 367 Fremd- und Selbstbilder 200, 213, 271, 273, 274, 309, 312, 313, 314, 331 Fremde 17, 203, 306, 345, 386 Fremdheitserfahrungen 17, 203, 305, 351, 386 Fremdherrschaft 351 Freud, Sigmund 11, 12, 13, 17, 68, 96, 97, 106, 116, 156, 158, 207, 238, 245, 248, 266, 272, 275, 276, 291, 346, 367 Freudenthal, Herbert 104, 105, 367 Freund, Gisèle 243 Frey, René L. 75, 368 Freyer, Hans 218 Friedeburg, Ludwig von 295, 298 Frieden 20, 102, 114, 178, 316, 317, 324, 326, 329, 340, 349, 359, 361, 374, 377, 386, 387 Friedrich, H. 241
402
Fritz, Hans-Joachim 108, 132, 368, 390, 392 Fröhlich, G. 287 Fromm, Erich 248 Fuld, W. 215, 368 Funke, Rainer 368 Furet, François 243, 303 Fussell, Paul 324, 368 Gabel, Joseph 203, 368 Ganzheitsbetrachtung 248, 258 Gebietsherrschaftseinheit(en) 85 Gedächtnis 147, 215, 323, 324, 339, 353, 371, 376 Gedichte 100, 102, 103, 117, 118, 214, 215, 237, 252, 254, 290, 291, 298, 302, 363, 364, 365, 367, 369, 372, 373, 377, 380, 385, 390 Gefühl(e) 20, 22, 52, 63, 67, 100, 127, 137, 139, 159, 211, 212, 213, 214, 215, 273, 278, 291, 300, 305, 311, 313, 317, 340, 341, 351, 361 Gefühl(e), Mitgefühl 330, 341 Gefühl(e), Peinlichkeitsgefühl 67, 121 Gefühls- und Affektstandarde 311 Gefühlsaufwallungen 340 Gefühlsausbrüche 300 Gefühlsbalancen 278, 305, 391 Gefühlsbindungen 122 Gefühlshaushalt 351 Gefühlsrausch der Gewalttat 340 Gefühlsregulierung 305, 380, 391 Gefühlsstau 377 Gehirn 157, 249 Geiger, Theodor 187 Gella, Aleksander 183, 368 Gellner, Ernest 213, 368 Gemeindewirtschaft 81, 82, 83 Gemeindewirtschaft, als Voraussetzung der Verhaltensnormen des Städters 82 Gemünd, Wilhelm 34, 368 Gerths, Hans 158, 238 Geschichte 20, 48, 50, 107, 130, 136, 139, 143, 156, 166, 173, 179, 180, 198, 205, 219, 227, 229, 239, 241, 243, 260, 263, 269, 270, 271, 295, 303, 323, 325, 326, 328, 336, 337, 338, 339, 343, 348, 349, 357, 359, 360, 361, 362, 363, 364, 368, 369, 372, 373, 374, 376, 377, 378, 379, 380, 381, 382, 384, 386, 387, 390, 391, 392 Geschichte der Kriegskunst (Delbrück) 20, 328, 348, 363 Geschichte, Baugeschichte 130, 139
Geschichte, Geistesgeschichte 328 Geschichte, Gesellschaftsgeschichte 271, 337, 386, 391 Geschichte, Gewaltgeschichte 20, 348, 349 Geschichte, Kriegsgeschichte 328, 386 Geschichte, Kunstgeschichte 139, 364 Geschichte, Menschheitsgeschichte 180 Geschichte, Naturgeschichte 362 Geschichte, Organisationsgeschichte 336 Geschichte, Planungsgeschichte 359, 392 Geschichte, Sittengeschichte 365 Geschichte, Sozialgeschichte 339, 372, 387 Geschichte, Wirtschaftsgeschichte 376, 379 Geschichte, Wissenschaftsgeschichte 156 Geschichte, Zeitgeschichte 385, 387 Geschichtsforscher 130, 350 Geschichtswissenschaft(en) 20, 166, 173, 178, 180, 207, 217, 235, 238, 251, 265, 272, 277, 284, 287, 294, 339, 348, 359, 361, 362, 366, 374, 386, 387 Geschichtswissenschaft(en), in Frankreich 217 Gesellschaft 10, 11, 16, 20, 21, 25, 26, 29, 30, 32, 33, 34, 35, 40, 42, 45, 47, 51, 53, 54, 73, 75, 81, 91, 95, 97, 104, 107, 108, 114, 115, 122, 123, 127, 132, 140, 142, 143, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 161, 166, 168, 169, 171, 175, 177, 179, 181, 182, 183, 184, 188, 190, 191, 192, 193, 196, 200, 201, 202, 204, 205, 207, 210, 211, 213, 217, 219, 220, 221, 222, 223, 228, 229, 234, 236, 238, 239, 241, 242, 248, 250, 251, 253, 254, 258, 261, 263, 268, 269, 271, 274, 276, 277, 280, 281, 286, 287, 288, 292, 294, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 310, 314, 316, 317, 324, 325, 326, 327, 328, 331, 332, 333, 334, 335, 337, 338, 339, 342, 343, 345, 347, 349, 350, 353, 355, 357, 358, 360, 364, 365, 366, 369, 371, 374, 375, 377, 379, 380, 383, 384, 385, 387, 390, 391, 392 Gesellschaft, Stammesgesellschaften 207 Gesellschaft, Zivilgesellschaft 332 Gesellschaftstypen 181 Gesichtsmuskulatur 249 Gestaltpsychologen 248 Gewalt 8, 9, 10, 14, 16, 18, 19, 20, 21, 51, 78, 100, 123, 126, 128, 137, 138, 156, 158, 167, 181, 182, 188, 198, 204, 207, 213, 222, 223, 233, 241, 247, 250, 260, 261, 268, 270, 271, 280, 288, 300, 303, 304, 307, 311, 315, 317, 319, 323, 324, 326, 327, 328, 329, 331, 340,
342, 343, 345, 346, 347, 348, 349, 350, 351, 353, 354, 361, 364, 369, 371, 376, 379, 387, 390 Gewalt- und Steuermonopol 156, 268, 270 Gewaltentwicklung 19 Gewaltgebrauch der deutschen Machtzentren 269 Gewaltkontrolle 126, 247 Gewaltmittel 9, 128, 167, 198, 300, 349, 350 Gewaltmonopol 11, 20, 78, 133, 156, 158, 188, 198, 238, 268, 270, 300, 315, 316, 342, 347, 348 Gewaltmonopol, Lockerung des staatlichen 342 Gewaltorganisation 204, 207, 323 Gewaltreflexion 345 Gewalttat 20, 22, 100, 138, 204, 233, 241, 247, 270, 280, 303, 317, 319, 324, 328, 340, 345, 346, 347, 348, 350, 351, 354 Gewalttat, Entfesseln der gesellschaftlichen 340 Gewalttat, langfristige Verringerung innerstaatlicher 319 Gewalttaten, kollektive, gemeinsame 20, 204, 346, 347, 348 Gewaltverhältnisse 14 Geyer, Michael 204, 340, 342, 343, 347, 354, 366, 368 Ghana 233, 242, 257, 285, 290, 298 Gholamasad, Dawud 338, 368 Giddens, Anthony 142, 245, 329, 368 Giedion, Siegfreid 131 Gilbreth, Frank Bunker 94 Ginsberg, Morris 253 Gleichmann, Peter R. 5, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 21, 22, 38, 42, 71, 77, 84, 118, 121, 132, 137, 165, 193, 203, 205, 206, 207, 210, 243, 245, 248, 249, 253, 257, 275, 282, 285, 287, 288, 289, 291, 294, 304, 305, 330, 347, 348, 353, 354, 355, 357, 358, 360, 361, 368, 369, 370, 371, 374, 376, 377, 379, 380, 381, 382, 385, 387, 389, 390, 391, 392, 393 Gnielcyk, P. 360 Godschalk, J.J. 143, 241, 370 Godschalk-Hessenauer, Hes 143, 241 Goebel, Gerhard 138, 370 Goerdt, W. 382 Goethe, Johann Wolfgang von 9, 13, 14, 93, 101, 102, 363, 370
403
Göhnerswil 81, 370 Goldin, Grace 385 Goldman, Merle 183, 185, 195, 370 Goldstein, Kurt 248, 249, 266 Gölz, Walter 55, 370 Gombrich, Ernst H. 56, 370 Gossaert, Jan, genannt Mabuse 102 Goudsblom, Johan 5, 71, 241, 244, 245, 247, 257, 264, 268, 282, 286, 287, 288, 289, 305, 370, 371, 389, 392 Gouldner, Alvin Ward 170, 174, 184, 187, 371 Grandjean, Etienne 77, 371 Grauhan, Rolf-Richard 82, 83, 84, 371 Gray, J.H. 371 Greiner, Bernd 354, 371 Greiner, Ulrich 283, 294, 371 Grene, Marjorie 371, 381 Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen 166, 187, 202, 207, 208, 212, 215, 218, 238, 264, 280 Grenzen, zwischen Sprachgemeinschaften oder Staaten 190, 203, 208, 229, 270, 294, 313, 330 Grewenig, Adi 347, 371 Griese, Hartmut 371, 386 Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 100 Grochla, Erwin 368, 371, 389 Grohs, Gerhard 242 Grosser, Alfred 324, 371 Grossman, Dave 354, 371 Gruben, R. 385 Gründer, Karlfried 382 Grundrissrationalisierung 95 Gruppentherapeut, Gruppentherapie 204, 242, 258, 275, 293 Gruppentherapeutische Erfahrung 293 Grymer, Herbert 376 Gryphius, Andreas 99, 122, 371 Gumin, Heinz 169, 371 Gut, Albert 40, 371 Haas, Ernst B. 182, 371 Habermas, Jürgen 39, 57, 200, 209, 228, 371 Hackstein, Rolf 111, 371 Haeckel, Ernst 155 Haferkamp, Hans 371, 375 Hagstrom, Warren O. 176, 371 Hahn, Alois 138, 372 Hailer, Martin 391
404
Hamm, Bernd 82, 372 Hampe, Asta 33, 372 Handlungspotentiale 188 Handlungspotentiale, Entwicklung alternativer 188 Harbers, Hans 247, 372 Harberts, H. 379 Hartig, Hans 106, 372 Hartmann, Ludo Moritz 366 Hausen, Karin 363, 372 Hauser, Arnold 128, 372 Häussermann, Hartmut 370, 372, 392 Heckmann, Friedrich 369, 372, 390 Heerma van Voss, Arend-Jan 210, 298, 372 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 287 Heil, Karolus 81, 372 Heilbron, Johan 294, 372 Heimann, Dietrich 358, 362, 392 Heintschel, Hella 104, 372 Heintz, Peter 36, 372 Heisenberg, W. 361, 372 Heißenbüttel, Helmut 372, 373 Hennock, P. 29, 372 Herborth, Friedhelm 5 Herkner, Heinrich 115, 372 Herlyn, Ulfert 80, 372 Herrschaft 14, 15, 18, 71, 79, 81, 96, 127, 133, 136, 137, 156, 158, 189, 197, 210, 226, 246, 270, 286, 300, 305, 310, 314, 316, 317, 319, 324, 330, 347, 351, 383 Hess, Henner 73, 372 Hesse, Hans Albrecht 171, 372 Heuer, Hans-Joachim 305, 350, 372 Heuer, Jürgen 30, 372 Heuer, Uwe 328, 372 Hieber, Lutz 357, 392 Hilberg, Raul 337, 372 Hildesheimer, Wolfgang 254 Hillgruber, Andreas 309, 310, 317, 329, 364, 373 Hillmer, G. 360 Hilterscheid, Hermann 81, 82, 83, 373 Himmler, Heinrich 337 Hinz, Michael 5, 260, 373 Hirschman, Albert O. 85, 188, 373 Historiker 20, 157, 165, 166, 170, 172, 173, 178, 199, 204, 218, 219, 234, 238, 243, 246, 251, 264, 268, 271, 277, 285, 288, 292, 303, 304, 309, 320, 327, 337, 338, 339, 348, 354, 362, 375, 386
Historische Psychologie 165, 235, 259, 263, 264, 265, 268 Historische Wissenssoziologie 302 Historisch-soziologisch 7, 8, 201, 217, 218, 233, 235, 251, 261, 268, 287, 302, 333, 358, 369, 370, 374, 376, 391, 392 Historisch-wissenssoziologisch 281, 306 Hitler, Adolf 238, 378, 387 Hitzler, Ronald 243, 373 Hobbes, Thomas 244 Hobrecht, James 64 Hobsbawm, Eric J. 213, 218, 373 Hoeges, Dirk 285, 373 Hofer, Gunter 357, 369, 373, 389 Hoffmann, Christoph Ludwig 92 Hoffmann, Manfred 73, 74, 82, 373 Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim 391 Höfische Gesellschaft 91, 155, 205, 210, 234, 238, 241, 251, 258, 268, 269, 276, 286, 287, 288, 292, 298, 300, 303, 365 Hofmann von Hofmannswaldau, Christian von 103, 116, 254, 372, 373 Höhn, Reinhard 335, 373, 387 Holl, Karl 364, 373, 387 Holzhey, Helmut 165, 168, 373 Holzkamp, Klaus 56, 267, 373 Hönigswald, Richard 241, 249, 297 Honthorst, Gerrit van 102 Horkheimer, Max 248 Howard, Michael 168, 323, 373 Huber-Weidmann, Hermann 373 Hugenotten 18, 204, 270, 293, 365 Hugo, Victor 225 Huizinga, Johan 266, 373 Humboldt, Wilhelm von 175 Hünecke 33, 373 Huss, Melusine 290 Husserl, Edmund 156, 297 Identität 191, 263, 312, 370, 384, 392 Identitätsgemeinschaften 8, 309, 310, 312, 358, 391 Iggers, Georg G. 166, 170, 361, 374 Illich, Ivan 374 Individualisierung 31, 54, 147, 194, 236, 247, 258, 263, 301, 333, 338 Individualisierungsschübe, gesellschaftliche 185 Industrie 10, 27, 31, 32, 35, 47, 48, 91, 97, 107, 108, 110, 111, 123, 136, 139, 148, 167,
170, 171, 173, 174, 175, 176, 219, 223, 226, 270, 292, 318, 330, 360, 373 Industrie, Großindustrie 96, 174, 197, 311 Industriebürgertum 309, 327 Industriegesellschaften 20, 25, 29, 32, 33, 34, 48, 51, 54, 82, 104, 108, 111, 127, 166, 171, 184, 186, 191, 192, 220, 303, 318, 322, 338, 348 Industriekapitalismus 171, 322 Industrielle Revolution 25 Industrielle Staatsgesellschaften 104, 108, 127, 166, 184, 192 Industrielle Vergesellschaftung 32, 48 Industriestaaten 20, 111, 191, 220, 318, 348 Inklusion 16, 220 Integration, Integrierung 16, 17, 82, 156, 158, 169, 170, 178, 204, 219, 220, 224, 228, 236, 237, 244, 260, 262, 265, 267, 305, 310, 342, 370, 392 Integration, Integrierung, geschichtlicher Zeugnisse und psychologischer Befunde 17, 153, 156, 169, 236, 244, 260 Integration, Integrierung, von Tatsachenwissen 18, 22, 131, 162, 176, 245, 265 Integration, Integrierung, Wissensintegration 18, 22, 265 Integrieren und Desintegrieren 162 Integriert 13, 22, 82, 131, 137, 153, 156, 159, 173, 176, 220, 235, 247, 250, 258, 261, 265, 267, 275, 312, 328, 335, 348 Intellektualisierungsprozess(e) 7, 181, 182, 184, 195, 199, 205, 306, 357, 369, 391 Intellektuelle Diskurse 182, 185, 200 Intellektuelle Reichweite 153, 202 Intellektuelle, intellektuell 16, 17, 19, 20, 21, 131, 141, 142, 153, 159, 170, 174, 175, 181, 182, 183, 184, 185, 187, 188, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 201, 202, 203, 205, 211, 212, 213, 233, 234, 239, 243, 244, 248, 255, 269, 270, 279, 280, 282, 285, 297, 298, 302, 313, 328, 339, 341, 342, 347, 348, 350, 351, 359, 361, 362, 363, 364, 369, 370, 373, 377, 379, 382, 383, 384, 387, 392, 393 Intellektuellenprojektionen 340 Intelligenz 19, 127, 170, 174, 176, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 187, 189, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 197, 198, 199, 200, 270, 272, 275, 346, 350, 371, 373, 375, 376, 378, 382, 384
405
Intelligenz, Bildungsintelligenz 195 Intelligenz, wissenschaftlich-technische 19, 174, 181, 182, 184, 185, 190, 197, 198, 346, 350 Interdependenz 13, 69, 72, 90, 107, 111, 114, 115, 122, 123, 133, 156, 158, 161, 182, 198, 210, 213, 220, 258, 262, 300 Interdependenzketten 90, 111, 156, 198 Interdependenzprozess 107 Interdependenzwissen 182 Interdisziplinarität, interdisziplinär 7, 165, 169, 171, 172, 173, 174, 175, 178, 179, 243, 280, 299, 357, 365, 373, 375, 383, 384, 389, 391 Israëls, Han 285, 289, 369, 374, 385, 392 Jander, Annette 355, 374 Janssen, Jörn 370 Jaspers, Karl 239, 249 Jeeninga, W. 143, 147, 374, 387 Jersch-Wenzel, Stefi 313, 374 Joas, Hans 328, 374, 384, 386 Jöckel, Sabine 267, 374 Jockusch, P. 32, 374 John, M. 136, 374 Johnston, James W. 386 Jokisch, Rodrigo 374 Jonas, Wolfgang 108, 374, 376 Jonge, Derk de 45, 374 Journalisten 184, 185, 204, 282, 283, 284, 293 Jovanovic, Uros J. 374 Juden, jüdisch 234, 253, 270, 292, 295, 297, 313, 355, 358, 362, 372, 374, 377, 392 Jüres, Ernst August 219, 381 Juristen 131, 142, 172, 185, 192, 197, 312, 336, 345 Jüttemann, Gerd 173, 247, 249, 358, 369, 374, 391 Kafry, Ditsa 106, 374 Kaiser Augustus 129 Kaiser, G. 187, 374 Kaldor, Mary 374 Kanalisation 12, 63, 66, 67, 68, 137 Kanalisationsgegner 67 Kant, Immanuel 180 Karger, Fritz 282 Karmaus, Wilfried 114, 374 Käsler, Dirk 303, 374 Katona, George 26, 49, 374 Kautsky, Karl Johann 387 Kehlkopf 249
406
Keller, Rolf 85, 374 Kellogg, Frank B. 387 Kentler, Helmut 77, 374 Kersting, Hanno 219, 381 Kiersch, Gerhard 359 Kilminster, Richard 200, 207, 212, 275, 286, 302, 374, 375 Kimmel, Adolf 359 Kisker, Klaus Peter 357, 369, 373, 389 Klasen, Ludwig 88, 89, 91, 134, 375 Klein, Alexander 45, 95, 375 Klein, Paul 349, 360, 375, 383 Kleinspehn, Thomas 257, 375 Kleitman, Nathaniel 97, 121, 375 Klöckeis, E. 45, 52, 382 Kluge, Alexander 339, 379 Knorr-Cetina, Karin D. 166, 169, 170, 360, 375 Knudsen, Jonathan B. 361 Kob, Janpeter 81, 375 Koch, Egmont R. 342, 375 Kocka, Jürgen 165, 168, 172, 180, 375 Koella, Werner P. 77, 375 Kögler, Alfred 82, 375 Kognitiv 16, 77, 159, 267, 273, 340, 341 Kognitive Beschränkung 341 Komen, Mieke 374, 385, 392 Kommunikation 15, 22, 57, 71, 80, 81, 83, 89, 90, 114, 128, 131, 132, 142, 145, 162, 169, 191, 198, 200, 249, 260, 282, 291, 347, 353, 366, 371, 372, 393 Kommunikation, Mieterkommunikation 80 Kommunikationsmittel 71, 114, 128, 131, 142 Kommunikationsmöglichkeiten der Menschen 249 Kommunikationstheorie 169, 347 Konrád, György 170, 175, 199, 375 Kontrollchancen 132, 157, 205, 262 Kontrolle(n) 30, 69, 91, 106, 113, 128, 130, 137, 138, 157, 159, 165, 174, 251, 262, 305, 317, 323, 337, 349 Kontrolle(n) des richtigen Benehmens 69 Kontrolle, Grundkontrolle 156, 157, 261 Kontrolle, Naturkontrolle 168, 186, 262 Kontrolle, Raumkontrolle 133 Kontrollinstanzen 66 Kontrollmethode 32 Kontrollstruktur 136 Kontrolltypen 262
Kopernikus, Nikolaus 122 Koppe, Holger 342, 375 Körper(s) 12, 14, 18, 59, 60, 63, 64, 65, 75, 78, 96, 98, 100, 121, 131, 133, 134, 135, 160, 259, 261, 266, 271, 299, 303, 369, 387, 390 Körper(s), Entleeren des 7, 12, 63, 64, 65, 68, 69, 77, 131, 132, 357, 390 Körperbeherrschung 66 Körperfunktionen 63, 66, 78, 112, 137 Körpergeräusche 78 Körpergeruch 78 Körperpflege 25, 44, 63, 77 Körperregulierung 65 Körperreinigung 137 Körpersinne 71 Korte, Hermann 204, 247, 257, 285, 289, 297, 370, 375, 376, 383, 389, 392 Körting, Johannes 376 Koselleck, Reinhart 280, 362 Kostof, Spiro 128, 376 Kot 12, 64, 66, 67, 68 Kotre, John 147, 376 Krall, Gustav 52, 376 Krämer, K.-D. 360 Krämer-Badoni, Thomas 85, 376 Kranendonk, Willem H. 287, 288, 376 Krankenhaus 52, 60, 92, 95, 113 Kratzsch, E. 130, 376 Krauch, Helmut 359 Krausnick, Helmut 325, 376 Kravagna, Christian 376 Kreuzer, Helmut 198, 376 Krieg 18, 20, 27, 28, 32, 33, 50, 51, 53, 54, 93, 100, 101, 119, 174, 196, 197, 200, 204, 205, 213, 218, 219, 235, 237, 241, 242, 255, 266, 270, 271, 282, 285, 297, 298, 299, 300, 310, 315, 316, 317, 318, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 327, 328, 333, 335, 336, 338, 339, 340, 341, 342, 343, 347, 348, 351, 353, 354, 358, 360, 362, 363, 364, 368, 370, 373, 374, 376, 378, 382, 383, 384, 385, 386, 391, 392 Kriegeridealen 327 Kriegerkaste 309, 318, 327 Kriegsführung 20, 323, 340, 341, 343, 368 Krohn, Roger 375 Kruedener, Jürgen von 303, 376 Kruft, Hanno-Walter 129, 376 Krumrey, Horst-Volker 73, 114, 246, 376 Kruse, Lenelis 55, 56, 376
Kuczynski, Jürgen 108, 185, 374, 376 Kuhlmann, Jürgen 204, 375, 376 Kuhn, Thomas S. 83, 177, 178, 179, 376 Kühne, Thomas 353, 354, 358, 360, 361, 368, 370, 371, 374, 376, 377, 379, 380, 381, 382, 387, 392 Kühne-Büning, Lidwina 376 Kuiper, Yme 153, 367 Kultur 17, 26, 32, 50, 54, 72, 104, 135, 145, 160, 187, 188, 191, 198, 200, 203, 217, 253, 254, 264, 269, 270, 279, 288, 298, 324, 325, 328, 329, 333, 335, 345, 355, 366, 371, 374, 375, 376, 379, 384, 391 Kulturkonservativ 300 Kulturzusammenstöße 270 Kürşat, Elçin (Kürşat-Ahlers) 5, 13, 18, 207, 279, 306, 370, 371, 376, 392 Kurth, M. 375 Kuzmics, Helmut 5, 246, 287, 288, 361, 376, 381 Kwasniewicz, Wladyslaw 202, 377 Lamarck, Jean-Baptiste 155 Lange, Olaf 312, 381 Langsicht 153, 190, 238, 260, 267, 305 Lantos, Barbara 377 Lappenberg, Johann Martin 367, 377 Läpple, Dieter 134, 377 Lärmer, Karl 377, 383 Lassalle, Ferdinand 387 Latzel, Klaus 355, 377 Le Goff, Jacques 185, 234, 243, 377 Lebensgefühl 347 Lebenstheorem 237 Ledoux, Claude-Nicolas 129 Leed, Eric J. 324, 377 Lehmbrock, J. 46, 359 Leiblichkeit 61, 71, 78, 160 Leicester 208, 242, 245, 249, 257, 285, 289, 298, 301, 365 Lemert, Charles C. 184, 377, 382 Lenin, Vladimir I. 108, 377 Lenk, Wolfgang 357, 392 Lepenies, Wolf 188, 285, 301, 365, 366, 377 Lernen 8, 19, 22, 40, 56, 63, 69, 78, 89, 106, 125, 126, 135, 140, 147, 159, 165, 176, 177, 179, 180, 187, 196, 199, 200, 212, 241, 260, 268, 273, 286, 300, 302, 303, 304, 305, 306, 316, 318, 324, 325, 333, 345, 346, 353, 354, 356, 360, 387 Lernprozess(e) 176, 201, 206, 236, 273
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Lernprozess, Lernprozesse 176, 201, 206, 236, 273 Levin, Lennart 165, 377 Lévi-Straus, Claude 239, 249 Lévy-Bruhl, Lucien 266 Liefmann-Keil, Elisabeth 34, 377 Lifton, Robert Jay 168, 338, 377 Lind, Ingemar 377 Linde, Hans 108, 132, 377 Linder, Wolf 81, 82, 83, 85, 371, 377 Lindken, Theodor 362 Linfert, C. 57, 377 Lippe, Rudolf zur 134, 377 Lippert, Ekkehard 338, 349, 375, 377, 386 Lipsmeier, Antonius 57, 377 Loewenstein, Bedrich 312, 377 Logau, Friedrich von 100, 109, 116, 377 Longerich, Peter 377 Lowe, Adolf 248 Löwenthal, Richard 248 Lübbe, Hermann 183, 377 Ludes, Peter 384 Ludwig XIV. 88, 128 Ludwig XV. 88 Ludwig XVI. 88 Luhmann, Niklas 10, 177, 179, 192, 272, 274, 371, 377 Lust 67, 105, 118, 291 Lutz, Dieter S. 361, 372 Maaz, Hans-Joachim 313, 377 Maché, Ulrich 377 Machiavelli 244 Macht 15, 16, 20, 21, 22, 29, 71, 73, 82, 84, 85, 88, 90, 114, 126, 129, 134, 136, 139, 140, 145, 158, 167, 170, 171, 172, 173, 175, 176, 182, 183, 187, 188, 191, 193, 195, 197, 198, 200, 205, 210, 213, 222, 223, 238, 241, 250, 253, 258, 261, 269, 275, 276, 279, 292, 293, 298, 302, 304, 306, 309, 310, 312, 313, 314, 317, 324, 325, 327, 328, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 336, 338, 343, 346, 347, 348, 350, 361, 363, 364, 368, 370, 374, 380, 383, 389, 390, 392 Macht- und Gewaltphantasien 327 Macht, Allmacht 378 Macht, berufliche 172, 187 Macht, Großmacht 309, 317, 373 Macht, Hegemonialmacht 309, 331 Macht, Klassenmacht 375 Macht, Organisationsmacht 82, 85, 276
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Macht, siedlungsräumliche Gestaltungsmacht 7, 71, 82, 84, 85, 357, 369, 389 Macht, soziologisch 147, 210 Macht, Staatsmacht 198, 331 Macht, Weltmacht 172, 198 Macht, Weltmachtwahn 327 Macht, Wortmacht 350 Machtasymmetrie 158, 261 Machtbalance(n) 85, 128, 140, 198, 213, 310, 313 Machtbeziehung 15, 261 Machtchancen 158, 276, 328 Machtdenken 210 Machtdifferentiale 170, 173, 238, 258, 389 Machtelite(n) 20, 21, 139, 191, 199, 213, 279, 306, 309, 314, 328, 329, 338 Machtergreifung 298 Machtforschung 369, 390 Machtgefälle 293 Machtgefüge 73, 90, 176 Machtgeltung 200 Machtgewichte 258 Machtgewinn(e) 197 Machtgruppen 309 Machtinterdependenz(en) 213 Machtkämpfe 302 Machtlehren 261 Machtmittel 158 Machtmodelle 223 Machtprestige 195 Machtquelle(n) 158, 171, 172, 253, 261, 276, 304, 314, 328, 330, 369, 390 Machtrelationen 210, 213 Machtstruktur der Höfe 292 Machtstrukturen 367 Machttheorie 11, 14, 22, 157, 158, 210, 234, 238, 250, 258, 261, 267, 268, 276, 286, 304, 369, 390 Machtungleichheiten 261 Machtverlagerungen 182, 183 Machtverlust 188, 213, 310, 325 Machtverminderung 197 Machtverschiebungen 29, 71, 191, 313, 331 Machtzentren 88, 114, 126, 129, 182, 188, 198, 200, 250, 258, 269, 331, 333, 334 Machtzuwachs 134, 167, 198, 325, 336 Mackenthun, W. 382 MacKenzie, Norman 96, 377 Maclean, Ian 368, 378 Maler, Malerei 16, 57, 87, 102, 134, 138
Mangold, C. 378 Mann, Floyd C. 379 Mannheim, Julia 248, 377 Mannheim, Karl 159, 181, 235, 238, 241, 248, 253, 267, 274, 275, 297, 300, 373, 378 Marazza, Ettore 106, 378 Marcuse, Herbert 248 Martin, Bernd 364 Martins, Herminio 366 Marx, Karl 110, 158, 159, 173, 180, 194, 218, 224, 226, 238, 250, 253, 261, 265, 267, 272, 274, 276, 279, 280, 286, 378, 379, 387 Marz, Lutz 313, 366, 378 Maso, Benjo 207, 362, 375, 378 Massenmorde 19, 22, 346 Massenmorde vom Typus Auschwitz, Gulag oder Hiroshima 19, 345 Maurice, Marc 115, 378 Mayer, Arno J. 309, 378 Mcleughlin, Quin. 379 McNeill, William H. 218, 243, 323 Mechler, Achim 372 Mehrdimensionales Modell der Wissenschaften 264 Mehrebenenanalyse 157, 245, 250 Mehrebenen-Prozessanalyse 165 Meid, Volker 377 Meja, Volker 365, 377, 384 Melbin, Murray 114, 124, 378 Mennell, Stephen 247, 286, 288, 371, 375, 378 Menschen als Bezugsgröße soziologischer Modellbildung 272 Menschenbild(er), Bild(er) von Menschen, 16, 20, 131, 133, 210, 239, 276, 301, 340 Menschenbild(er), Bild(er) von Menschen, der Architekten 131 Menschenbild(er), Bild(er) von Menschen, mechanistische 20, 340 Menschenmodell(e) 278, 346 Menschenmodell(e), rationale der Moderne 346 Menschenverluste 319, 386 Menschenwissenschaften 8, 9, 13, 20, 21, 168, 207, 236, 239, 268, 289, 297, 303, 345, 347, 348, 355, 358, 370, 381, 392 Menschenwissenschaften, Schisma der 20, 347 Menschenwissenschaftler 262, 275, 278, 346, 375
Mentalität(en) 266, 309, 310, 311, 313, 314, 331, 364, 377, 378, 385 Mentzos, Stavros 351, 378 Menzel, Adolph von 103 Merleau-Ponty, Maurice 55, 378 Messerschmidt, Manfred 325, 336, 378 Meyer, Georg-Maria 349, 375 Meyer, Gert 349, 364, 375 Meyer, H.-J. 313, 378 Meyer, Hansgünther 198, 199, 378 Meyer, Wilhelm 383, 390 Meyer-Ehlers, Grete 45, 378 Michel, Andrée 45, 378 Mies van der Rohe, Ludwig 131 Milinski, A.I. 57, 60, 381 Militär, militärisch 20, 96, 100, 128, 134, 192, 196, 197, 213, 270, 271, 297, 312, 316, 323, 325, 327, 328, 329, 331, 333, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 343, 346, 348, 354, 360, 368, 374, 378, 387 Militär, militärisch, postmilitärisch 329 Militärfachexperte 328 Militärgeschichte 316, 325, 336, 337, 339, 343, 354 Militärgeschichtsforschung 387 Militärindustrie, militärindustriell 341 Militarisieren, Militarisierung 8, 20, 311, 315, 316, 326, 327, 328, 329, 333, 339, 341, 358, 360, 361, 362, 363, 368, 373, 382, 384, 391 Militarisieren, Militarisierung und Zivilisierung 8, 20, 315, 339, 341, 358, 391 Militärorganisation 330 Militärtechnik 192, 328 Miller Lane, Barbara 128, 378 Mills, Charles Wright 22, 158, 238 Milosz, Czeslaw 199, 378 Mitchell, William J. Thomas 146, 378 Mitscherlich, Alexander 79, 378 Mittelalter 29, 87, 90, 98, 104, 106, 127, 128, 133, 156, 181, 185, 220, 223, 229, 246, 266, 288, 300, 323, 373, 377, 378, 381 Mitternacht 99, 371 Modell der Modelle 179, 264 Modell(e) 9, 11, 13, 17, 20, 22, 59, 67, 88, 128, 158, 159, 179, 220, 221, 222, 223, 227, 236, 237, 249, 258, 261, 263, 265, 266, 267, 269, 273, 274, 275, 278, 279, 286, 324, 334, 336, 340, 341, 380 Modell(e) des Gehirns 249 Modell, Gesellschaftsmodell 132
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Modellbildung 272 Modelltheoretisch 22, 168, 170, 247, 258, 262, 264, 265, 267, 284, 328, 330, 332, 334, 340 Moderne, modern 15, 19, 20, 21, 25, 27, 30, 32, 35, 52, 57, 60, 67, 68, 71, 72, 75, 78, 79, 97, 118, 126, 128, 129, 130, 136, 145, 146, 147, 148, 175, 177, 182, 183, 186, 188, 190, 199, 207, 210, 222, 223, 224, 226, 229, 235, 269, 271, 277, 279, 292, 318, 323, 324, 333, 334, 335, 336, 338, 339, 341, 342, 343, 346, 347, 351, 359, 360, 361, 362, 363, 366, 372, 374, 376, 384, 387 Mohler, Armin 169, 371 Moltmann, Jürgen 378, 385 Mommsen, Wolfgang J. 375 Monopolisierung(en) 108, 126, 158, 171, 250, 343 Montandon, Alain 288, 378 Montefiore, Alan 378 Moralische Indifferenz, Erzeugen von 19, 346 Morgenthaler, Fritz 239, 380 Mörth, Ingo 287, 288, 376, 381 Morus, Thomas 138, 291, 365 Mott, Paul E. 112, 379 Mottek, Hans 108, 379 Moulin, Raymonde 139, 379 Moulton, David G. 386 Mozart, Wolfgang Amadeus 18, 209, 254, 284, 285, 293, 302, 365 Mueller, E. 26, 374 Mulkay, Michael 375 Müller, Achatz von 364 Müller, Hildegard 382, 386 Muller, Philippe 40, 379 Müller, Rainer A. 303, 379 Müller-Seitz, Peter 113, 379 Münstermann, Jörg 111, 112, 113, 114, 379 Nacht 7, 16, 64, 87, 97, 99, 100, 101, 102, 103, 108, 109, 111, 112, 113, 116, 117, 118, 119, 122, 123, 284, 357, 381, 382, 390 Nadig, Maya 14, 366 Napoleon Bonaparte 192, 196 Nassehi, Armin 324, 379 Nation 168, 244, 270, 303, 310, 311, 327, 335, 351, 359, 363, 365, 368, 373, 380 Nationalismen 312, 351 Nationalsozialismus 18, 19, 214, 378, 379, 381
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Nationalsozialisten 270, 298 Nationalsozialistisch 15, 197, 233, 244, 282, 294, 342 Nationalstaaten 20, 172, 211, 311, 312, 316, 317, 318, 324, 329, 348, 378 Nationalstaaten, demokratische 317 Natur 13, 63, 68, 101, 104, 122, 123, 124, 126, 130, 139, 154, 156, 157, 167, 169, 174, 190, 196, 197, 205, 211, 250, 259, 262, 267, 337, 339, 377 Natur, außermenschliche 250 Natur, innere, menschliche 13 Nauta, Lolle Wibe 194, 379, 380 Nedelmann, Birgitta 202, 359, 367, 377, 379 Nef, John U. 333, 379 Negt, Oskar 183, 188, 290, 339, 379 Neufert, Ernst 95, 135, 379 Neumann, Franz L. 244, 379 Neurosen 324 Neustadt, Ilja 242, 298 Newman, John Henry 13, 379 Newman, Oscar 57, 61, 74, 80, 379 Niederlande, niederländisch, Holland 18, 48, 74, 87, 89, 143, 147, 148, 174, 192, 193, 194, 195, 202, 227, 233, 234, 242, 243, 245, 247, 252, 255, 257, 268, 271, 280, 282, 285, 288, 289, 293, 294, 299, 302, 305, 311, 312, 313, 318, 319, 320, 356, 369, 370, 373, 380, 381, 387 Niefanger, Dirk 355, 379 Niestroy, Brigitte 379 Niethammer, Lutz 390 Nipperdey, Thomas 196, 271, 379 Noack, Paul 379 Nolte, Hans-Heinrich 172, 316, 326, 354, 380 Nowotny, Helga 367, 380, 391 Objektivierende Konstruktionen 341 Objektivistische Verfahren von Sozialforschern 278 Objektivität 32, 33, 36, 49, 61, 259, 275 Oesterley, Hermann 363, 380 Oestreich, Gerhard 383 Offe, Claus 82, 380 Offiziere 192, 271, 321, 322, 325, 327, 335, 336, 343, 349, 375, 383 Öls, Monika 360 Omnipotenz 14, 59 Oppenheimer, Franz 81, 380 Oppolzer, Alfred 364
Organisation(en) 20, 40, 84, 127, 197, 198, 210, 238, 329, 332, 335, 337, 338, 343, 373 Organisation(en), tötende 20, 338 Orientierungsverlust 60 Orientierungswissen, soziologisches 7, 151, 201, 206, 212, 357, 358, 390 Orientierungswissen, symbolisches 184 Ory, Pascal 185, 200, 380 Österreich, österreichisch 17, 88, 170, 202, 227, 234, 243, 282, 298, 320, 322, 366 Österreich-Ungarn, österreichisch-ungarisch 218, 320 Oudvorst, A.F. van 194, 380 Overlander, Gabriele 305, 370, 380, 391 Pächt, Otto 377, 380 Papcke, Sven 380, 385 Paradigma des Betriebs 60 Paradigma, Paradigmen, Denkparadigmen 19, 187 Paradigma, Paradigmen, paradigmatisch 19, 55, 60, 128, 146, 179, 186, 187, 211, 218, 222, 223, 350, 366, 386 Paradigma, Paradigmen, paradigmatisch, Fachparadigma 187 Paradigma, Paradigmen, paradigmatisch, Forschungsparadigma 351 Parias, Louis-Henri 380 Parin, Paul 239, 380 Parin-Matthey, Goldy 380 Parsons, Talcott 238, 239, 246, 249, 253, 272, 273, 374 Passeron, Jean Claude 139, 361 Paulinyi, Akos 364 Pehnt, Wolfgang 81, 380 Pels, Dick 194, 379, 380 Perels, Joachim 355, 358, 362, 380, 392 Perron, Emile du 194 Perspektive(n) 14, 17, 20, 21, 56, 58, 59, 80, 88, 134, 141, 142, 156, 160, 161, 189, 202, 206, 213, 214, 245, 250, 264, 271, 274, 288, 299, 303, 304, 305, 338, 355, 356, 361, 377 Perspektive(n), Langzeitperspektive(n) 250, 305 Perspektive(n), linearperspektivisch 134 Perspektive(n), mehr-, vielperspektivisch 88, 141, 206, 214, 245, 264, 274, 304 Perspektive(n), soziologische 156, 160, 202 Perspektive(n), zeitperspektivisch 189 Petersma, Errit 370, 381 Pettenkofer, Max von 68
Pevsner, Nikolaus 93, 128, 380 Phantasie(n) 22, 81, 141, 159, 194, 199, 215, 291, 339, 346 Phantasie(n), Bauphantasien 138 Phantasie(n), Gewaltphantasien 327 Phantasie(n), Größenphantasien 191 Phantasie(n), Masturbationsphantasien 293 Phantasie(n), Zeitphantasien 189 Phantasie(n), Zukunftsphantasien 189, 194 Phantasiegehalt 183, 262 Phantasiegeladenheit 207 Phantasiegeleitet 147 Phantasiegesättigt 138 Phantasienbilden 159 Philosophen 131, 142, 146, 162, 175, 176, 177, 185, 192, 200, 206, 211, 248, 249, 375 Philosophie 10, 55, 141, 142, 159, 162, 165, 168, 169, 175, 177, 183, 189, 194, 199, 204, 235, 236, 239, 241, 245, 246, 249, 250, 251, 257, 258, 259, 260, 263, 264, 270, 272, 273, 274, 277, 278, 284, 285, 292, 294, 297, 301, 358, 359, 360, 366, 379, 381, 382, 391 Philosophie, Erkenntnis-, Existenzphilosophie 239, 249, 274, 278 Philosophie, Geschichtsphilosophie 165, 235, 292, 360 Philosophie, Individualphilosophie 159 Philosophie, Sozialphilosophie 274 Physikalische Strömungslehre 14, 60 Physiker 167, 169, 190, 197, 210, 252, 261, 263, 275, 278, 323, 350 Picasso, Pablo 254 Picht, Robert 359 Piepenschneider, Melanie 312, 387 Pietsch, Wolfgang 149, 359, 370, 392 Pirenne, Maurice H. 61, 380 Planungsdenken, sensorisch depriviertes 10, 60 Plessner, Helmut 244, 380 Pohl, Rolf 354, 380 Pöhler, Willi 83, 381 Polanyi, Michael 126, 137, 176, 381 Polen, polnisch 123, 185, 199, 202, 203, 205, 245, 270, 295, 313, 356, 357, 369, 374, 378, 385, 391 Popitz, Heinrich 219, 381 Popper, Karl Raimund 239, 246, 249, 273 Pörksen, Uwe 146, 381 Prak, Niels L. 139, 381 Predtetschenski, W.M. 57, 60, 381
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Preiser, K. 379 Preußen, preußisch 20, 33, 35, 110, 170, 196, 205, 247, 270, 305, 327, 335, 336, 348, 363 Price-Williams, Douglass R. 56, 381 Pross, Helge 78, 381 Prozess(e), Theorie sozialer 281, 365 Prozessmodell(e) 13, 130, 190, 244, 258, 261, 264, 346, 365 Prozessmodell(e), Mehrebenenprozessmodell 258 Prozess-soziologisch 260 Prozesstheorie 245, 250, 281, 381 Prozesstheorie, soziologische 17, 245 Psychiater 15, 55, 248, 275, 338, 346 Psychisch 14, 16, 21, 71, 72, 98, 139, 156, 214, 239, 256, 258, 260, 261, 263, 305, 311, 331, 338, 353 Psychische Gefahrenzonen 98, 121 Psychoanalyse(n) 11, 18, 156, 204, 235, 239, 260, 266, 277, 282, 287, 359, 362, 366, 367, 380, 387 Psychoanalyse(n), ethnologische 18, 239, 366 Psychoanalytisch 9, 12, 17, 21, 22, 67, 160, 162, 208, 239, 248, 257, 267, 273, 275, 287, 300, 383, 385 Psychogenese 155, 266, 354, 380 Psychologen 172, 173, 197, 236, 248, 261, 264, 268, 287 Psychologie 8, 17, 156, 158, 165, 173, 178, 179, 207, 233, 235, 238, 241, 245, 249, 250, 257, 259, 263, 264, 265, 267, 268, 275, 287, 294, 297, 355, 358, 359, 361, 365, 369, 370, 373, 374, 377, 385, 391 Psychologie, dynamische 17, 156, 245 Psychologie, Kulturpsychologie 178 Psychologie, Langzeitpsychologie 257, 287 Psychologie, Sozialpsychologie 287, 358, 359, 361, 365, 367, 369, 373, 384, 391 Psychologie, Variablenpsychologie 268 Putz, Christa 379 Rademaker, Leonardus 370, 381 Radkau, Joachim 130, 167, 381 Raschke, Joachim 178, 381 Rasmussen, Steen Eiler 131, 381 Rationalisieren 80, 94, 95, 96, 97, 123, 136, 227, 250, 346, 349, 361, 379 Rationalisieren, Dialektik des 123 Rationalisierungsprozess 346, 349 Rationalisierungsschübe 97 Rationalität 60, 123, 138
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Rationalität, Pegel der 123 Raumabbildung 57, 59 Raumerleben 14, 55 Raumstörungen 14, 55 Rechtsradikale 237, 241 Reemtsma, Jan Philipp 346, 381 Regionalplanung, mit Zügen der Zwangssozialisation 86 Rehberg, Karl-Siegbert 18, 241, 245, 288, 294, 366, 381 Reich, Emmy 28, 381 Reich, Wilhelm 248, 266 Reill, Peter Hanns 170, 361, 381 Reimann, Aribert 354, 381 Reimbold, Ernst Thomas 100, 381 Reinle, Adolf 139, 381 Reiter, R. 381 Rembrandt Harmenszoon van Rijn 102 Renckstorf, Karsten 312, 381 Rennert, Helmut 57, 58, 59, 381 Ribeiro, Darcy 239, 381 Richarz, Bernhard 381 Richelieu, Kardinal 222 Richter, Siegfried 362 Ricken, Herbert 127, 382 Riebandt 47, 49, 382 Riechers, Christian 316 Rittel, Horst 359 Ritter, Gerhard 327, 363, 382 Ritter, Joachim 200, 373, 382 Ritzel, Günther 362 Roach, Mary Ellen 77, 382 Rodenstein, Marianne 376 Rodriguez Lores, Juan 382 Rohde, Horst 375 Rohde, Johann J. 382 Rohwer, Jürgen 382, 386 Rosenau, Helen 138, 382 Rosenau, James N. 114, 382 Rosenmayr, Leopold 45, 52, 376, 382 Ross, A.L. 326, 382 Ross, George 192, 382 Rossi, Peter H. 38, 39, 41, 42, 43, 382 Röttger, R. 382 Rubens, Peter Paul 102 Rumpf, Mechthild 357, 392 Rürup, Reinhard 123, 363, 372, 382 Rutenfranz, Joseph 112, 113, 114, 382 Rykwert, Joseph 138, 382 Saage, Richard 188, 189, 382
Saint-Simon, Herzog Louis de 88 Salomon, Hermann 68 Sartre, Jean-Paul 192, 239, 249, 382 Schäfer, Gert 316 Schäfer, H. 79, 382 Schäfer, Lothar 382 Schäfers, Bernhard 85, 365, 382 Scham, Schamgefüge 65 Scham, Schamgefühl 63, 65, 66, 78, 89, 132, 288, 364, 383 Scham, Schamwände 63 Scham, Schamzonen 78 Scheffel, Helmut 215, 382 Schelsky, Helmut 168, 175, 183, 382, 383 Schildt, Axel 130, 383 Schlaf, entdecken als Gegenstand der Wissenschaften 87 Schlafbegriff 97 Schlafentzug 95, 97, 373 Schlafforschung 77, 95, 96, 97, 117, 121 Schlaflabor 97 Schlafräume 7, 87, 88, 89, 90, 91, 93, 94, 95, 96, 97, 121, 137, 357, 369, 390 Schlafstörungen 91, 95, 97, 357, 366, 373, 390 Schleier, Hans 170, 383 Schlesien, schlesisch 203, 205, 270 Schmidt, Cees 246, 383 Schmoller, Gustav von 381, 383 Schnauber, Herbert 110, 111, 383 Schneider, Helmuth 109, 364, 383 Schneider, Wolfgang 381, 383, 390 Schnelle, Thomas 382 Schnore, Leo F. 42, 383 Schreier, Wolfgang 107, 383 Schröter, Alfred 379 Schröter, Michael 204, 208, 210, 215, 241, 246, 257, 260, 302, 305, 383 Schulte, Werner 365, 369, 383, 390 Schulte-Altendornburg, M. 375 Schulze, Winfried 334, 383 Schumpeter, Joseph Alois 181, 188, 190, 383 Schwan, Bruno 54, 383 Schwan, Heribert 330, 367 Schwarz, G. 349, 383 Schwarz, Hans-Peter 313, 383 Schwarz, R. 168, 383 Schwatlo, Carl 89 Schweger, Peter P. 369, 383, 390 Schwentker, Wolfgang 375
Scotson, John L. 238, 261, 295, 365, 366 Seelisch 15, 18, 20, 67, 103, 121, 236, 266, 272, 275, 325, 328, 331, 337, 341, 342, 350, 374 Segal, David R. 376 Seibt, Gustav 283, 383 Seifert, Jürgen 358, 369, 383, 391 Selbstbild(er) 200, 271, 273, 274, 309, 312, 331, 366 Selbstbild(er), nationale 271, 309 Selbstdistanzierte Einfühlung 292 Selbstdistanzierung 17, 22, 160 Selbstkontrolle 63, 64, 91, 160, 190, 241, 268, 291 Selbstzwang 67, 96, 126, 134, 156, 207, 236, 260, 300, 311, 332, 333, 338 Senghaas, Dieter 316, 327, 333, 383 Sering, Max 381, 383 Sexualgeschehen 63, 77, 79, 121, 131 Shaw, Martin 316, 318, 329, 363, 383, 384 Shils, Edward Albert 183, 188, 191, 193, 384 Siberski, Elias 60, 72, 384 Sicht von oben 14, 59 Siebel, Walter 384 Simmel, Georg 56, 158, 163, 238, 384 Simson, Otto von 128, 384 Sinnesorgane 16, 141, 262 Sinneswahrnehmung 131 Sirinelli, Jean-François 185, 200, 380 Smith, Adam 224 Snow, Charles P. 198, 384 Sobotschinski, Arnim 36, 37, 47, 54, 384 Soldaten 18, 101, 237, 241, 271, 285, 321, 322, 325, 326, 331, 336, 354, 375, 377, 381 Somatische Vollzüge 79 Sombart, Werner 218, 279, 362 Sonnemann, Rolf 362, 384 Sonntag, Heinz Rudolf 381 Sontheimer, Kurt 183, 384 Sozialdarwinismus 252, 309 Sozialdisziplinierung 16, 311, 334, 335, 383 Soziale Bewegungen 81, 178, 189, 194 Soziale Bewegungen, als Träger neuer Versuche von Synthesen wissenschaftlichen Wissens 178 Soziale Frage 7, 16, 217, 220, 222, 228, 358, 362, 392 Sozialforscher 17, 118, 132, 142, 160, 173, 185, 209, 235, 241, 246, 265, 269, 273, 275,
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276, 277, 278, 300, 323, 324, 328, 330, 337, 347, 348, 351, 353 Sozialpolitik 25, 30, 35, 84, 225, 226, 229, 311, 367, 377, 383 Sozialreligion 309 Sozialstaat(en) 16, 137, 173, 197, 202, 219, 220, 225, 226, 227, 228, 229, 277, 311, 334 Soziogenese 80, 266, 385 Soziologe, Gemeindesoziologe 82 Soziologe, Sportsoziologe 250 Soziologen 10, 20, 36, 38, 44, 45, 82, 131, 148, 153, 157, 158, 172, 176, 177, 182, 201, 202, 204, 206, 208, 213, 218, 229, 233, 235, 236, 243, 246, 249, 250, 253, 261, 264, 265, 269, 274, 275, 283, 284, 285, 286, 290, 291, 294, 301, 302, 304, 329, 338, 342, 357, 358, 360, 391, 392 Soziologie 5, 9, 10, 11, 14, 17, 19, 34, 41, 77, 132, 141, 142, 143, 146, 147, 148, 149, 154, 155, 158, 159, 160, 162, 165, 166, 177, 182, 194, 200, 201, 202, 203, 204, 209, 211, 217, 218, 219, 229, 234, 236, 237, 238, 239, 241, 242, 243, 245, 247, 249, 250, 251, 252, 253, 257, 258, 259, 260, 261, 263, 265, 267, 268, 272, 273, 274, 275, 277, 280, 284, 285, 286, 287, 294, 297, 299, 301, 302, 303, 316, 357, 358, 359, 362, 389, 390, 391, 392 Soziologie des Erkennens 274 Soziologie, als eine destruierende, reduzierende Wissenschaft 14, 285 Soziologie, Arbeitssoziologie 219 Soziologie, Betriebssoziologie 219, 363 Soziologie, Figurationssoziologie 243, 245, 367, 390 Soziologie, Herrschaftssoziologie 158, 238 Soziologie, Intellektuellensoziologie 200 Soziologie, Kultursoziologie 143, 160, 192, 247, 376 Soziologie, Militärsoziologie 204, 316 Spaltung 15, 16, 20, 193, 224, 225, 239, 338 Spaltungsmuster, gewaltgeschichtliches 20, 348 Spannungen 9, 16, 66, 75, 90, 91, 114, 121, 128, 129, 161, 182, 211, 238, 248, 290, 303, 310, 317, 336, 381 Spannungsachse 16 Spannungsbalancen 114, 238 Spannungsfiguration 182, 248 Spannungsgebiete 310 Spannungsgefüge 90, 129, 161
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Spannungsniveau 182, 317 Spannungsverhältnis 75, 336 Spengler, Oswald 132 Spoerri, Theodor 56, 384 Sprachforscher 117 Sprenger, Gerhard 285, 384 Staat(en), absolutistische(r) 92 Staat(en), mehrsprachige(r) 17, 203 Staat(en), nationalsozialistische(r) deutsche(r) 233, 244, 294 Staatenbildung, Staatsbildung 18, 156, 207, 213, 237, 277, 294, 306, 319, 323, 326, 376, 392 Staatsbürger 16, 220, 224, 227, 311, 324, 325, 330, 335 Staatsgesellschaft(en), Staatengesellschaft(en) 7, 11, 21, 104, 108, 114, 115, 122, 127, 142, 153, 154, 156, 158, 166, 168, 175, 182, 183, 184, 188, 190, 191, 192, 201, 204, 205, 207, 212, 277, 294, 300, 310, 317, 329, 334, 345, 347, 349, 350, 355, 358, 363, 386, 392 Stadt, Städte, städtisch 10, 12, 25, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 44, 46, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 64, 66, 68, 71, 72, 73, 75, 78, 79, 80, 82, 83, 84, 85, 86, 88, 92, 93, 100, 101, 102, 104, 106, 110, 121, 126, 128, 130, 133, 134, 140, 147, 149, 185, 203, 214, 221, 222, 223, 234, 242, 248, 253, 270, 283, 285, 297, 299, 301, 330, 359, 360, 371, 372, 373, 376, 377, 378, 380, 389, 390, 391, 392 Stadt, Städte, städtisch, Geburtsstadt 203 Stadt, Städte, städtisch, Großstadt 28, 31, 32, 37, 38, 40, 42, 47, 49, 51, 54, 72, 83, 85, 93, 106, 359, 368, 372, 389, 392 Stadt, Städte, städtisch, Handelsstadt 93 Stadt, Städte, städtisch, Hansestadt 242 Stadt, Städte, städtisch, Heimatstadt 234, 253, 270, 285, 297 Stadt, Städte, städtisch, Industriestadt 35, 48, 270 Stadt, Städte, städtisch, Innenstadt 39, 42, 44, 52, 147 Stadt, Städte, städtisch, Kernstadt 85 Stadt, Städte, städtisch, Kleinstadt 37, 82, 270 Stadt, Städte, städtisch, Mittelstadt 33 Stadt, Städte, städtisch, Stadtrand 29, 52, 372, 386 Stadt, Städte, städtisch, Stadtregion 25, 28, 48, 85, 86
Stadt, Städte, städtisch, Universitätsstadt 36 Stadtplanung, -planer 28, 31, 80, 81, 84, 128, 139, 140, 228, 357, 369, 380 Staubach, Hermann 31, 34, 384 Steenhuis, Aafke 163, 255, 384 Stehr, Nico 365, 377, 384, 385 Stein, Maurice Robert 386 Steiner, Helmut 328, 374, 384, 386 Stern, William 248 Steuermonopol(e) 156, 268, 270, 300, 334 Stichweh, Rudolf 166, 384 Stieler, Kaspar 117, 118, 384 Stirn, Hans 111, 384 Stoffwechsel 66, 131 Stöhr, Martin 378, 385 Stolk, Bram van 243, 257, 362, 372, 384 Straus, Erwin 55, 385 Streit, Christian 326, 385 Ströker, Elisabeth 55, 56, 385 Strzelewicz, Willy 250, 385 Stumpf, Reinhard 368 Sturgis, Russel 93, 385 Sturm, Hermann 390 Summer, Walter 78, 385 Sutcliffe, Anthony 128, 140, 385 Swaan, Abram de 204, 207, 257, 287, 294, 305, 311, 334, 335, 374, 385, 392 Symboltheorie 11, 201, 211, 278, 280, 281, 292, 302 Synthese(n), von historischer Psychologie und Soziologie 263 Synthese(n)bildungsvermögen 292 Synthese(n)niveau 22, 153, 178, 180, 209, 245, 251, 265, 278, 281, 287 Synthesefähigkeit 22, 265 Synthesefähigkeit, der einzelnen und der Gruppen 22, 265 Synthesenarbeit 245 Synthesenbilden, Synthesen bilden 9, 10, 14, 18, 19, 21, 22, 123, 126, 142, 153, 154, 162, 169, 187, 190, 206, 207, 211, 212, 218, 244, 258, 262, 265, 268, 281, 284, 286, 292, 302, 304, 305, 353, 355, 356 Synthesenbilden, Synthesen bilden, als Menschheitsprozess 211 Synthesenbilden, Synthesen bilden, aus natürlichen Ereignisketten und dem sozialen Geschehen 123 Synthesenbildungsstrategie 212 Synthesevorgänge 11, 21, 163, 235
Synthesevorgänge, als gesellschaftlicher Prozess und als wissenschaftliche Erkenntnismethode 11 Szelényi, Iván 170, 175, 199, 375 Sztompka, Piotr 359, 379 Tan, Dursun 316 Taschwer, Klaus 380 Taverne, Ed 138, 385 Taylor, Frederick Winslow 94 Technik 10, 14, 19, 20, 54, 59, 67, 69, 74, 78, 103, 106, 107, 108, 123, 131, 132, 135, 145, 156, 161, 168, 197, 221, 263, 265, 268, 272, 331, 338, 362, 363, 373, 377, 381, 384 Technik, Beleuchtungstechnik 103, 106 Technik, Elektrotechnik 107 Technik, Gesundheitstechnik 69 Technik, Haustechnik 74, 131, 135 Technik, Städtetechnik 132 Technikgeschichte 20, 263, 338, 372, 386 Teilung 16, 136, 313, 385 Tenbruck, Friedrich H. 160, 191, 192, 385 Tenfelde, Klaus 311, 385 Teuteberg, Hans Jürgen 378, 385 Thadden, Rudolf von 243 Theoretisch 12, 17, 43, 55, 60, 85, 94, 125, 133, 153, 155, 173, 236, 237, 245, 246, 251, 252, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 267, 272, 276, 277, 284, 286, 306, 324, 351, 361, 365, 376 Theorie(n) 9, 11, 18, 19, 22, 75, 126, 129, 130, 134, 139, 153, 154, 155, 157, 162, 165, 187, 188, 194, 202, 208, 211, 215, 235, 237, 238, 245, 246, 250, 251, 260, 265, 267, 268, 272, 276, 277, 279, 281, 283, 284, 287, 294, 300, 301, 302, 303, 329, 343, 346, 347, 357, 361, 365, 371, 372, 376, 377, 379, 380, 381, 392 Theorie(n) harmonisch abgeschlossene 21, 277 Theorie(n) und Biographie 283 Theoriearbeit 129, 155, 245 Theoriedeutung 383 Theorienbilden 11, 236, 277, 280, 284 Theorienkonstrukteure 208 Theorietypus 19, 126, 346, 347 Thompson, Edward P. 385 Thompson, John D. 385 Thomsen, J. 45, 385 Thünen, Johann Heinrich von 361 Thürstein, U. 81, 385
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Tibi, Bassam 247, 385 Tillich, Paul 248 Tilly, Charles 218, 361 Tittmann, Julius 371, 385 Topolski, Jerzy 313, 385 Toqueville, Alexis von 225 Töten(s) 8, 10, 14, 16, 19, 20, 21, 168, 213, 233, 237, 241, 256, 271, 305, 307, 315, 318, 323, 324, 325, 326, 330, 335, 336, 337, 338, 339, 340, 341, 353, 354, 355, 358, 360, 361, 369, 370, 371, 376, 377, 380, 381, 387, 391, 392 Töten(s), gegenseitiges 8, 21, 213, 233, 237, 241, 315, 318, 353, 354, 355, 358, 369, 370, 391, 392 Töten(s), industrialisiertes 20, 324, 341 Töten(s), Massentöten(s) 21, 256, 338, 351, 353, 354, 355, 356 Tötungshemmung 315, 326, 330, 335, 337, 338, 342, 343 Tötungsingenieure 341 Tötungsmittel 317, 318, 323, 342 Tötungsmittel, Verteilung über die Erde 318, 342 Toynbee, Arnold J. 132 Traum 87, 95, 97, 116, 123, 149, 183, 226, 346, 364, 367, 374, 377 Traum, Tagträume 346 Trauma 18, 163, 213, 291, 339 Traumatische Erlebnisse 339 Traumatische(n) Ängste(n) 291 Traumdeutung 95, 97 Traweek, Sharon 385 Treibel, Annette 5, 361 Treiber, Hubert 111, 386 Triade der Grundkontrollen 156, 157, 261 Trieb(e) 11, 12, 57, 58, 68, 72, 91, 105, 106, 126, 138, 260, 333, 386 Trieb(e), Aggressionstriebe 11 Trieb(e), Triebaufbau 260 Trieb(e), Triebbindung 105 Trieb, Michael 57, 58, 386 Triebkontrollen 91, 105 Triebumsetzungen 12, 68 Triebziele 138 Troitzsch, Ulrich 123, 386 Turk, Amos 78, 386 Überlebenseinheit(en) 17, 156, 177, 182, 190, 206, 250, 258, 310, 312, 317, 318, 323, 327, 351, 353
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Ueberschär, Gerd R. 386 Unbewusstes/n 12, 15, 17, 18, 22, 61, 67, 97, 270, 272, 291, 366 Unger, Fritz 328, 386 Unger, Roberto Mangabeira 386 Universität(en) 10, 20, 60, 100, 143, 144, 145, 148, 149, 170, 174, 175, 177, 185, 195, 196, 200, 209, 229, 233, 234, 242, 243, 248, 266, 270, 285, 289, 290, 295, 297, 298, 299, 316, 348, 349, 357, 359, 369, 370, 374, 376, 381, 382, 383, 390, 391, 392 Universität(en) Hannover 10, 290, 316, 357, 359, 370, 374, 376, 381, 391, 392 Unseld, Siegfried 252, 282, 290 Untersuchungsgegenstände 97, 268, 269, 278 Untersuchungsgegenstände, menschliche 268, 278 Urinieren 12, 64, 65, 69, 300 Urlanis, Boris C. 320, 321, 322, 386 USA, (Nord-)Amerika 27, 39, 41, 42, 50, 54, 66, 73, 74, 88, 92, 107, 131, 145, 177, 194, 197, 198, 204, 209, 217, 218, 234, 243, 251, 257, 267, 288, 305, 319, 322, 326, 327, 332, 354, 372, 380, 385, 386, 392 Ussel, Jos van 257, 386 Vagts, Alfred 244, 330, 386 van der Meer, Joannis, Jan Vermeer 102 Velsen, B.Th. van 362 Verein für Socialpolitik 91 Vergangenheitswissen 244 Verhaltens- und Empfindungsstandarde 8, 73, 74, 95, 120, 136, 158, 246, 269, 309, 358, 369, 376, 391 Verhaltensnorm(en) 69, 82, 114 Verhäuslichung 7, 9, 11, 12, 63, 66, 69, 71, 75, 77, 78, 79, 96, 106, 121, 132, 136, 137, 305, 357, 369, 389, 390 Verhäuslichung, der Techniken unserer Affektbeherrschung 78 Verrips, K. 371 Verstädterung 7, 26, 48, 63, 71, 72, 74, 79, 84, 125, 126, 140, 357, 369, 371, 389 Verstädterung, zivilisierte 79 Vertreibung 18, 204, 270, 293, 365 Vexierräumlichkeit 60 Vidich, Arthur J. 82, 386 Vielvölkergemisch, osteuropäisches 17, 203 Visiotypen 146, 147, 381 Vitalfunktionen 7, 9, 11, 12, 13, 16, 18, 63, 69, 71, 75, 78, 79, 131, 357, 369, 389, 390
Vitalfunktionen, soziale Modellierung der 78 Vitruv 129, 130 Vogt, Wolfgang R. 316, 362, 377, 386 Voigt, Gerhard 370, 378, 386, 392 Voss, R. 375 Voßkamp, Wilhelm 365, 386 Vries, Gerard de 379 Wachtler, Günther 377, 386 Wagemann, Ernst 367, 386 Wagner, M. 385 Waldhoff, Hans-Peter 5, 13, 17, 203, 305, 370, 371, 386, 392, 393 Wallén, Göran 360 Wallerstein, Immanuel 184, 218, 219, 243, 386 Wanderung 28, 34, 36, 39, 42, 48, 53, 54, 85, 270, 372 Wanderung, Abwanderung 85, 373 Wanderung, Pendelwanderung 34, 384 Wanderungsgewinn 48, 53 Warwick, Donald P. 379 Wasmuth, Guenther 375, 386, 387 Wasmuth, Ulrike C. 386 Weber, Alfred 241, 253, 266, 297, 366 Weber, Georg 324, 379 Weber, Marianne 297 Weber, Max 97, 135, 158, 173, 180, 187, 218, 235, 236, 238, 242, 250, 260, 261, 265, 272, 273, 275, 276, 279, 286, 297, 300, 316, 375, 386 Weber, Wolfgang 172, 386 Weeber, Rotraut 81, 386 Wegner, Bernd 339, 367, 386 Wehler, Hans-Ulrich 174, 196, 271, 365, 368, 386, 387 Wehrdienstverweigerung als Zivilisierungsschub der deutschen Gesellschaft 325 Weiden, J. van der 143, 387, 390 Weidenfeld, Werner 312, 387 Weiler, V. 370, 387, 392 Weizsäcker, Richard von 242, 333, 340, 387 Weltkrieg, Erster 18, 32, 33, 51, 93, 205, 237, 266, 285, 300, 321, 322, 327, 354, 362 Weltkrieg, Zweiter 213, 218, 219, 271, 310, 321, 322, 327, 328, 343, 354, 382, 386 Weltmarkt 174, 381 Wertheimer, Max 248, 266 Werturteils- oder Positivismusstreit 159, 235, 262 Westernhagen, Dörte von 387
Wette, Wolfram 336, 347, 355, 373, 386, 387 Wewetzer, Karl-Hermann 382 Whitley, Richard 366, 375 Wiehn, Erhard Roy 183, 387 Wielenga, Friso 362, 387 Wieser, Friedrich 366 Wieser, Stefan 77, 387 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 197, 327, 362 Wilharm, Irmgard 355, 387 Wilhelm, Hans-Heinrich 325, 376 Wilson, Bryan 245 Wilterdink, Nico 243, 246, 387 Winch, Peter 378 Winter, P. 369, 372, 390 Wissen(s), Affektgebundenheit menschlichen 262 Wissen(s), berufliches 137, 138, 186, 206 Wissen(s), gesellschaftswissenschaftliches 9, 10 Wissen(s), schweigendes 126, 137, 176 Wissen(s), über Naturvorgänge, außermenschliche Geschehenszusammenhänge 123, 157, 205, 262 Wissen(s), über zwischenmenschliche Ereignisse, gesellschaftliche Zusammenhänge 157, 205, 262 Wissen(s), wissenschaftliches 7, 9, 10, 22, 125, 126, 163, 165, 166, 169, 177, 178, 182, 186, 206, 265, 357, 391 Wissens- und Synthesenniveau 281 Wissenschaft(en), Ingenieur- 131, 167, 173, 174 Wissenschaft(en), Natur- 131, 132, 166, 167, 168, 169, 170, 173, 174, 190, 198, 236, 249, 251, 341, 350, 375, 376, 384 Wissenschaft(en), Sozial- 10, 15, 19, 20, 38, 83, 96, 115, 123, 126, 132, 141, 147, 149, 154, 156, 160, 172, 175, 177, 184, 191, 194, 197, 202, 206, 208, 210, 217, 218, 219, 235, 247, 251, 255, 262, 263, 265, 272, 273, 275, 276, 277, 278, 279, 287, 294, 297, 299, 301, 302, 314, 328, 330, 340, 343, 345, 346, 347, 348, 349, 354, 355, 359, 366, 374, 382, 386, 391 Wissenschaftlergruppen 268 Wissenschaftlich 10, 11, 13, 14, 15, 16, 17, 19, 21, 22, 95, 106, 125, 126, 129, 141, 142, 146, 156, 162, 166, 167, 169, 170, 173, 174, 176, 177, 178, 179, 181, 182, 184, 185, 186,
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187, 190, 191, 194, 196, 197, 198, 206, 208, 214, 233, 235, 237, 239, 257, 262, 271, 274, 275, 277, 289, 290, 291, 298, 303, 323, 333, 334, 346, 347, 350, 351, 359, 364, 376, 382, 384 Wissenschaftsmodelle 167, 168, 273 Wissenschaftssoziologie, wissenschaftssoziologisch 158, 162, 165, 170, 177, 234, 247, 250, 262, 275, 277, 359, 384 Wissenschaftsspaltung 348 Wissenschaftstheorie 13, 165, 167, 169, 177, 178, 238, 249, 278, 366 Wissenschaftstheorie, soziologische 165, 249 Wissenspotential 184, 186 Wissenssoziologie, Soziologie des Wissens, wissenssoziologisch 9, 11, 12, 15, 17, 19, 159, 165, 179, 201, 202, 203, 211, 245, 250, 262, 267, 268, 274, 280, 281, 286, 297, 301, 305, 366, 373, 384 Wissenssynthesen 7, 11, 181, 205, 211, 280, 357, 391 Wissenstheorie, soziologische 10, 154, 159, 272, 278 Wissensvermittlung 185 Wissenszersplitterung 205 Wittgenstein, Ludwig 239, 249, 286 Wohlauf, Gabriele 386 Wohlfahrts-Staatengesellschaften 310 Wohnung 7, 25, 26, 27, 29, 30, 31, 32, 33, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 44, 45, 46, 49, 50, 51, 53, 54, 65, 72, 73, 74, 75, 78, 79, 80, 85, 91, 93, 94, 95, 97, 107, 108, 113, 127, 326, 357, 360, 367, 368, 389 Wohnung, Altbauwohnung 42 Wohnung, Eigentumswohnung 30, 36, 47 Wohnung, Kleinwohnung 40, 85, 94, 95 Wohnung, Mietwohnung 32, 36, 37, 39, 73 Wohnung, Neubauwohnung 32, 42 Wohnung, Normalwohnung 35, 74, 75, 80 Wohnung, Stadtwohnung 36 Wohnungsforschung 370, 392 Wohnungsfrage 25, 30, 31, 32, 35, 364, 372 Wohnungsreform 25, 47, 48, 84, 94 Wolandt, Gerd 249 Wollstein, Günter 364 Wouters, Cas 257, 375, 384 Wright, Frank Lloyd 131, 389 Wüllner, Fritz 325, 336, 378 Wundt, Wilhelm 266 Zahn, Ernest 194, 312, 387
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Zahner, Hanni 45, 387 Zapf, Wolfgang 391 Zeit 5, 11, 12, 13, 30, 31, 36, 38, 40, 43, 44, 47, 48, 50, 53, 64, 65, 68, 80, 81, 88, 92, 97, 103, 104, 107, 113, 115, 121, 122, 123, 131, 146, 159, 160, 161, 170, 172, 174, 178, 180, 184, 185, 189, 197, 200, 202, 205, 208, 209, 211, 221, 223, 235, 242, 243, 244, 245, 251, 254, 262, 266, 268, 270, 274, 278, 279, 280, 281, 284, 286, 287, 290, 291, 292, 293, 294, 298, 299, 302, 303, 319, 325, 326, 327, 328, 365, 366, 371, 378 Zentralstaat 9, 128, 270 Zentraltheorie, sozialwissenschaftliche 161, 163, 247, 265, 277 Zinn, Hermann 360 Zipfel, Gabi 354, 387 Zivilisation, Begriff der 123, 132 Zivilisation, Prozess der 8, 18, 201, 205, 233, 242, 243, 244, 245, 248, 257, 258, 261, 265, 268, 272, 278, 286, 291, 299, 345, 358, 365, 366, 367, 376, 391 Zivilisationsprozess(e), zivilisatorischer Prozess, zivilisatorische Wandlungen 8, 11, 18, 75, 78, 82, 87, 92, 95, 105, 125, 126, 130, 155, 157, 207, 211, 212, 213, 237, 243, 252, 261, 277, 278, 279, 315, 319, 337, 358, 364, 373, 381, 383, 390, 391 Zivilisationstheorie(n) 9, 10, 14, 18, 19, 125, 160, 161, 201, 204, 237, 238, 243, 279, 280, 284, 361, 370, 390, 392 Zivilisationszwänge 124 Zivilisierung 8, 11, 13, 16, 19, 21, 96, 126, 137, 201, 293, 299, 306, 309, 313, 316, 326, 330, 333, 334, 336, 339, 345, 353, 358, 362, 365, 366, 386, 391 Zivilisierung der Eltern 293, 365 Zivilisierung des Essens 11, 299 Zivilisierung des Essens und des Darübersprechens 299 Zivilisierung Deutschlands 8, 16, 309, 313, 326, 334, 336, 358, 391 Zivilisierung Beziehungen zwischen moderneren Staatsgesellschaften 345 Zivilisierung von Verhältnissen der Menschen zu sich selbst 345 Zivilisierungsschub 325, 328 Zucker, Paul 128, 387 Zusammenfügen von Theoriewissen und Integration von Tatsachenwissen 22, 265
Zusammenhang von Themenwahl und eigenem Schicksal 18, 22, 294 Zusammenhangswissen 9, 14, 21, 126, 209, 211, 245, 255, 260, 262, 355 Zuwanderung 28, 53, 270
Zwaan, Ton 247, 319, 387 Zwang, Zwänge 26, 27, 48, 65, 66, 67, 91, 106, 113, 114, 115, 126, 134, 156, 167, 190, 193, 207, 223, 224, 236, 260, 263, 271, 300, 376
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Aachen Muffetter Weg, 09.05.1977
Über den Autor 1932 geboren in Berlin als erstes von fünf Kindern; Studium der Architektur an den Technischen Hochschulen Hannover und Graz; Tätigkeit in verschiedenen Archtitektur- und Planungsbüros in Finnland und Holland; 1958 Diplom und Assistententätigkeit an der Technischen Hochschule Hannover; Studium der Soziologie in Göttingen; ab 1960 wissenschaftlicher Mitarbeiter von Hans Paul Bahrdt T.H. Hannover; 1962 Promotion; Gastdozent an der University of Manchester, England; Wissenschaftlicher Oberassistent für Gemeindesoziologie an der T.H. Hannover; Forschungsaufträge. 1970 Habilitation zur Soziologie des Wohnens, Technische Universität Hannover; Gastdozentur an der University of Leicester, England; 1976/77 Lehrstuhlvertretung am Institut für Soziologie an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen; seit 1978 Professor für Soziologie an der Universität Hannover; 1983/84 Professor für Soziologie an der Universiteit van Amsterdam; lebt in Hannover.