Paul Murray
Skippy stirbt Teil 2 HEARTLAND Menschen wie wir, die an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung...
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Paul Murray
Skippy stirbt Teil 2 HEARTLAND Menschen wie wir, die an die Physik glauben, wissen, dass die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur eine Täuschung ist, wenn auch eine hartnäckige. Albert Einstein
Kurz nach Tagesanbruch klingelt das Telefon. Das sanfte elektronische Geräusch zerreißt die Stille des Schlafzimmers wie eine Bombenexplosion. Howard hat die
ganze Nacht darauf gewartet, doch jetzt rührt er sich nicht, so lange, bis es einfach nicht mehr geht. Mit geschlossenen Augen lauscht er auf Halleys Protestgemurmel und das Rascheln der Laken, als sie zum Toilettentisch hinübergreift. »Hallo ... ja, Greg ...« Es ist ein verschlafenes Nuscheln, als hätte sie den Mund voller Laub. »Nein, kein Problem ... nein, nein, ich geb ihn Ihnen ...« Das Bett knarrt, als sie sich zu ihm herumwälzt. »Für dich«, sagt sie. Er öffnet die Augen und blickt in ihre, die ihn noch kaum wach, strahlend blau und fragend ansehen. »Danke.« Er nimmt den Hörer und dreht sich weg. »Hallo?« »Howard?«, krächzt es schroff in sein Ohr. »Greg!« Es soll freudig überrascht klingen. »Ich möchte Sie genau in einer Stunde in
meinem Büro sehen, Howard.« »Ich komme«, sagt Howard lächelnd, und er lächelt auch noch, als die Verbindung abbricht. »Bis gleich.« Er schwingt die Beine aus dem Bett und beginnt sich anzuziehen, wobei er so zu tun versucht, als sei das alles ganz normal. Halley stützt sich auf den Ellbogen und blinzelt in den Tag. »Du gehst weg?«, fragt sie. Ihre nackten Brüste sehen im Morgenlicht aus wie silberne Äpfel, Früchte eines Märchenlandes, das bereits aus seiner Reichweite entschwindet ... »Äh, ja, hab ich dir das nicht gesagt? Ich hab Greg versprochen, mit ihm das Programmheft für dieses Konzert durchzusprechen, das er veranstalten will.« »Aber heute ist doch Samstag.« Sie reibt sich die Nase. »Und es sind Ferien.« Howard zuckt steif mit den Schultern.
»Du kennst ihn ja. Da muss alles auf den Punkt genau stimmen.« »Okay«, gähnt sie, zieht die Decke wieder hoch, seinen verwaisten Teil davon gleich mit. Die Daunen dämpfen ihre Stimme. »Ich find das gut, dass du dich in der Schule jetzt mehr einbringst.« »Tja, nur wenn man was reinsteckt, kriegt man auch was raus.« Howard knöpft seine Jacke zu. »Es dauert nicht lang. Halt mir den Platz warm.« Im Hinausgehen zwinkert er ihr zu, und dabei wird ihm bewusst, dass er das zum ersten Mal tut, seit sie zusammen sind. Die Straßen sind wie ausgestorben, unheimlich geradezu, als wären sie von Amts wegen geräumt worden, damit er schneller vorwärtskommt. Auf dem Schulparkplatz steht nur ein einziges Auto - Gregs -, und die leeren Klassenzimmer und Flure erwecken den Eindruck, als
seien sie nichts weiter als eine aufwendige Fassade, ein riesiger, komplexer Eingangsbereich vor dem einzigen besetzten Raum. Jeder Schritt hallt laut wider, als Howard die Treppe hinaufsteigt, und er kommt sich vor wie in einer griechischen Sage, ein Unglücklicher, der in den Kampf mit dem Minotaurus geschickt wird. Auf der Bank vor dem Rektorat, von Generationen von Schülern die »Todeszelle« genannt, sitzt der lange Brian »Jeekers« Prendergast. Er kaut Nägel und wirkt irgendwie gestrandet, als säße er schon seit Jahrhunderten hier und gehörte zum unbedeutenderen festen Inventar einer Legende. »Ist Mr. Costigan da drin?« Howard zeigt auf die Tür, doch bevor der Junge antworten kann, trompetet es von drinnen: »Kommen Sie rein, Howard.«
Der Automator steht in kämpferischer Pose mitten im Zimmer, als wollte er es gegen jeglichen Neuankömmling verteidigen. Er trägt Freizeitkleidung: hellblaues Hemd, um die Schultern geschlungener gelber Pullover, beige Hose und braune Hush Puppies - alles total unpassend; er sieht aus wie Godzilla in Trainingshosen. »Er ist im Moment leider in einer Besprechung, kann ich ihm etwas ausrichten?« Den Hörer zwischen Wange und Schulter geklemmt, beugt Trudy sich vor und fügt der Liste auf dem Schreibtisch einen weiteren Namen hinzu. »Ja, wir vermuten, dass da ein Magen-Darm-Infekt umgeht... Danke, er ruft Sie später zurück ...« »Verdammt«, murmelt der Automator. Er marschiert im Raum auf und ab und kratzt sich das Kinn, dann erhebt er die
Stimme: »Verdammt, Howard, setzen Sie sich, Mann.« Gehorsam nimmt Howard Trudy gegenüber am Schreibtisch Platz. Die Verwandlung, die bei seinem letzten Besuch bereits im Gange war, ist inzwischen nahezu abgeschlossen: Die hochlehnigen afrikanischen Stühle sind durch ergonomische Büromodelle ersetzt worden, und nur noch das Aquarium an der Tür, in dem die bunten Fische, unbekümmert um all die Veränderungen, wie eh und je gelassen ihre Bahnen ziehen, erinnert an den früheren Inhaber des Zimmers. »Möchten Sie irgendwas, Howard?«, flüstert Trudy beflissen. »Tee? Kaffee? Saft?« »Verdammt, Trudy, du sollst hier keinen Saft anbieten! Die Lage ist ernst!« »Schon gut, Schatz«, entschuldigt sie
sich und legt den Hörer auf, doch im selben Moment klingelt das Telefon erneut. »Büro des kommissarischen Direktors, guten Tag.« »Verdammt«, wiederholt der Automator einleitend, ähnlich einer warm laufenden Kettensäge, und fährt dann lauter fort: »Howard, was zum Teufel... ich meine ... was um Himmels willen ...? »Ich -«, beginnt Howard. »Noch nie in meiner gesamten Laufbahn als Pädagoge, nicht ein einziges Mal, habe ich auch nur annähernd so etwas erlebt wie das, was ich gestern Abend hier gesehen habe. Nicht ein einziges Mal. Verdammt - verdammt, ich hatte Ihnen die Verantwortung übertragen! Hatte ich Ihnen nicht strikte Anweisungen gegeben... Korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber ging eine dieser Anweisungen dahin, die Sache in eine römische Orgie ausarten
zu lassen?« »N -« »Genau, verdammt! Und jetzt das!« Er zeigt auf das Telefon. »Hier rufen schon den ganzen Morgen Eltern an und wollen wissen, warum der kleine Johnny vollgekotzt und noch maulfauler als sonst von einer offiziellen, beaufsichtigten Schulparty heimgekommen ist! Was soll ich denen denn sagen, Howard? >Sie hätten ihn mal eine halbe Stunde vorher sehen sollen, in welcher Verfassung er da noch war