Thomas Kunze Russlands Unterwelten
Thomas Kunze
Russlands Unterweiten Eine Zeitreise durch geheime Bunker und vergessene Tunnel
Ch. Links Verlag, Berlin
Meinem Freund Mark Weil geboren am 25. Januar 1952 in Taschkent, ermordet am 7. September 2007 in Taschkent
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet d iese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage, September 2008 © Christoph Links Verlag- LinksDruck GmbH Schönhauser AUee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0 Internet: www.linksverlag.de;
[email protected] Umschlaggesta ltung: KahaneDesign, Berlin unter Verwendung eines Fotos von Stalins Geheimbunker in Samara, dem »Objekt NL 4• Gestaltung und Satz: BildlDruck, Berlin Druck: Eibe Dntckerei Wittenberg GmbH, Lutherstadt Wirtenberg ISBN 978-3-86153-490-7
Inhalt
Zum Geleit Vorwort
7 12
Steinzeitlicher Kulturraum vom Atlantik bis :z:um Ural
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Kungur und eine der ersten Höhlenkarten der Welt
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Die Bilderhöhlen von Kapowa und Ignatjewka
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Die Höhlen auf der »Insel der heiligen Wera «
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Fahrt in die Bronzezeit: Arkaim
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Russland im Minelalter
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Das Höhlenkloster von Kiew
26
Unter dem Moskauer Kreml
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Russischer Pioniergeist und das Ende der Monarchie
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Tunnelbauwerke auf der Transsibirischen Eisenbahnlinie bis 1917
52
Unterirdische Festungen in Nikolajewsk und Wladiwostok
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Propaganda aus dem Gemüsekeller
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Tod in Kellergewölben
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Sowjetmacht und die beiden Lenin-Mausoleen
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Furcht und Größenwahn in der Stalin-Ära
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Voraussetzung für gigantische Bauprojekte: das GULag-System
71
Japanische Tunnel in Russland: das unbekannte Sachalin
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Stalins Kanalbauten und die DreifachUntertunnelung des Moskwa-Wolga-Kanals
80
Auf dem Weg :z:ur europäischen Großmacht
37
Russla nds »Neues j erusalem
>Metro Nummer 2«, einmal das Leben von Millionen Moskauern erleichtern werden, die sich jetzt noch durch Staus und im überfüllten öffentlichen Nahverkehr quälen. Dass die Russen ihren Sinn für unterirdische Geheimnisse nicht verloren haben, beweist der durchschlagende Erfolg des Science-Fiction-Romans >>Metro 2033 «. Sein Autor, Dmitri Gluchowski, wählte ein im Prinzip nicht sehr originelles Sujet: Nach einer Atomkatastrophe gibt es nur noch in der Moskauer Metro Leben, in den Stationen leben Menschen, in den Tunneln Mutanten, und beide Gruppen kämpfen unversöhnlich gegeneinander. Der Leser gerät nicht nur in die bekannte Landschaft des >>Untergrunds «, sondern auch in eine >>Metrowelt«, die ein Spiegelbild, gerrauer gesagt ein Modell des ihm so vertrauten Gesellschaftssystems ist. Thomas Kunzes Buch stimuliert die Gedanken und die Phantasie, indem es den Leser an die Grenze des
Unbekannten führt, Legenden nachspürt und Fragen stellt. Ich glaube, dass dieses Buch eine dankbare Leserschaft finden und die Historiker dazu bringen wird, in ihre Arbeiten neue Aspekte aufzunehmen. Das Letzte und vielleicht das Wichtigste, was mir bei der Lektüre des Textes aufgefallen ist, wird sich dem Leser schon beim Aufschlagen der nächsten Seite eröffnen. Ich meine des Autors lebhaftes Interesse an sowie seine Verbundenheit mit Russland, seinen unermesslichen Weiten, seiner Geographie und Geschichte. Und natürlich des Autors Interesse an den Geheimnissen von Russlands Unterwelten, bei denen es bis zum heutigen Tag schwer ist, Dichtung von Wahrheit zu unterschei-
den, die schöne Legende von dem geschichtlichen Faktum. Um darüber zu schreiben, muss man Russland nicht nur kennen, sondern auch fühlen. Man muss seine Besonderheit und gleichzeitig sein gemeinsames Schicksal mit Europa berücksichtigen. Die Erzählung endet mit einer optimistischen Note - Russland, das für viele Ausländer ein Buch mit sieben Siegeln ist, wird seinen europäischen Charakter in diesem Jahrhundert zeigen. Daran möchte ich glauben. Prof. Dr. Alexander Watlin Historische Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität >> M. W. Lomonossow
The Stalin Subway«- so heißt ein Computerspiel russischen Ursprungs.1 Statt wie üblich als westlicher Held gegen Kommunisten zu kämpfen, verteidigt ein KGBAgent Stalin gegen einen Putschversuch. Das blutige PC-Gemetzel erfreute sich kurz nach Erscheinen in Russland 2 großer Beliebtheit. Kein Wunder, denn die imaginäre Handlung spielt im Moskauer Untergrund, einem Ort, der immer wieder Anlass zu Spekulationen bietet, Spekulationen, mit denen ich schon bald nach meiner Ankunft in Russland Bekanntschaft machte. Als ich Anfang Februar 2005 in Moskau landete, lagen vor mir drei Jahre Russlandaufenthalt. Ich kannte Moskau von einer Reise im Jahr 1979, die ich damals mit dem DDR-Jugendreisebüro >>lntourist> Kiewski Kotlet« nannte, und ein Ausflug nach Gorki, dem Sterbeort des >>Führers der Oktoberrevolutionrussisches Roulette>normalen>ihre « Metro. Zu Spitzenzeiten stellt sich nicht die Frage, ob man einen Sitzplatz bekommt, sondern in den wievielten der im Minutentakt fahrenden Metrozüge man gedrückt wird. Die Moskauer Metro, so hörteich von Jegor, einem Freund und Bankangestellten aus Moskau, sei aber mehr als der für alle nutzbare unterirdische Schienenstrang und diene in seiner Gesamtheit nicht nur dem zivilen Transport von Passagieren. Jegor ist Digger3 und gehört damit zu einem recht gut funktionierenden Netzwerk junger, unkonventioneller Leute, die in einigen russischen Großstädten die Welten unter dem Straßenpflaster erkunden. Tief unter Moskau, so Jegor, gebe es ein weitverzweigtes Netz von Fahrstraßen, Bunkern und geheimen Metrolinien. Bis heute seien diese Anlagen der politischen Elite für den Katastrophenfall vorbehalten. Erst wenige Wochen zuvor war Jegors Bekannter, ein Architekt, bei Restaurationsarbeiten in einem Nachbargebäude des GUM-Kaufhauses auf dem Roten Platz, direkt gegenüber dem zum Kreml gehörenden SpasskiTurm, auf eine unterirdische Fahrstraße gestoßen, die aus dem Kreml heraus Richtung Nordosten führte : >>Derzeit scheint sie nicht benutzt zu werdenBei der Straße handelt es sich um eine breite und asphaltierte Straße, die im Dunkel verschwindet. Ein paar Schützenpanzerwagen stehen dort unten und einige alte Wolgas, die mit Planen abgedeckt sind.« Meine Neugier war geweckt worden, und dies umso mehr, da ich aus Berlin wusste, welche Geheimnisse sich unter Großstädten befinden können. Dort bietet >> Berliner Unterwelten e. V. «, eine >>Gesellschaft zur Erforschung und Dokumentation unterirdischer Bauten «, seit 1999 Führungen durch die Unterwelt der deutschen Hauptstadt an. Als ich begann, mich in Moskau umzuhören, drangen immer neue Gerüchte an mein Ohr: Unter der Oberfläche gebe es eine zweite Stadt; neben der weltbekannten Moskauer Metro existiere eine weitere Untergrundbahn, von deren Vorhandensein nur wenige Eingeweihte etwas wüssten, und dergleichen mehr.
Doch nicht nur das Zentrum der russischen Hauptstadt soll unterhöhlt sein. In vielen Städten des europäischen Teils Russlands, aber auch in Sibirien und im Fernen Osten kursieren Legenden über die Unterwelt: Das Politbüro der Kommunistischen Partei habe sich angeblich 1941 in der Wolgastadt Samara unterirdische Zufluchtsmöglichkeiten geschaffen, während die deutsche Wehrmacht vor den Toren Moskaus stand. In Chabarowsk (Sibirien) gebe es einen Tunnel, der unter einem der mächtigsten Ströme Russlands, dem Amur, entlangführen soll. Im Fernen Osten, an der Pazifikküste, seien Arbeiten für einen Tunnel unter dem Ochotskischen Meer ausgeführt worden, der nach Stalins Willen das russische Festland mit der Insel Sachalin verbinden sollte. Am Polarkreis sollte der Ob untertunnelt werden. Im Ural vermutet der amerikanische Geheimdienst heute eine gigantische unterirdische Basis für 60 000 Menschen. In Wladiwostok, dem russischen Haupthafen am Pazifik, seien riesige Bunker vorhanden, die vor japanischen Angriffen schützen sollten. In wohl kaum einem anderen Land der Erde wird so ausgiebig über geheimnisvolle Unterwelten spekuliert wie in Russland. Nirgendwo sonst gibt es so viele raunende Berichte über die Existenz geheimer Luftschutzkeller, unentdeckter Tunnelsysteme und unterirdischer Städte. Basieren solche Spekulationen auf Tatsachen? Ist es wirklich so, dass es in Russland unterirdische Bauwerke gibt, von deren Existenz nur wenige Russen, geschweige denn Ausländer et\vas wissen? Einmal in den Bann solcher Gerüchte gezogen, beschloss ich, den Geschichten im Wortsinne auf den Grund zu gehen. Sooft es meine Zeit zuließ, war ich während der drei Jahre meines Aufenthaltes in Russland den Geheimnissen der russischen Unterwelten auf der Spur. Als ich Fotos und Material sichtete, war ich erstaunt, dass sich an der Historie von Höhlen, Katakomben, Tunneln und Bunkern die Geschichte Russlands nachvollziehen lässt. Sie liegen zwar geographisch über ganz Russland verstreut, spiegeln jedoch - jeder Ort für sich und in seiner Zeit - einen Teil der bewegten russischen Geschichte wider. So entschloss ich mich, die spannendsten unterirdischen Objekte, die ich aufgesucht hatte, in chronologischer Reihenfolge in einem Buch zu dokumentieren und den Leser auf eine Zeitreise durch die Geschichte Russlands und seiner unterirdischen Welten mitzunehmen. Dass dies überhaupt möglich wurde, verdanke ich in erster Linie Jegor, mit dem ich in den Jahren meines
Russlandaufenthaltes fast alle Erkundungstouren durch die russische Unterwelt plante und unternahm. Jegors Freunde in den halblegalen Digger-Klubs - meist lose Netze junger Abenteurer und Untergrundforscher, die oft eine Internetseite betreiben - halfen uns im ganzen Land, nicht alle wollten namentlich genannt werden. Außerdem konnte nicht jedes in dem Buch beschriebene unterirdische Objekte fotografisch dokumentiert werden, da ich mich an die Gesetze der Russischen Föderation halten musste und wollte. Das machte die Forschungsarbeit nicht eben einfacher. Im Gegenteil. Manchmal fühlt man sich in russischen Archiven oder Bibliotheken immer noch dem Generalverdacht ausgesetzt, etwas Verbotenes erkunden zu wollen. Nach wie vor gibt es in Russland Städte und Regionen, die gesperrt und nur mit Sondergenehmigung des Inlandsgeheimdienstes FSB4 zu betreten sind. Bis heute ist, zumindest formal, ein altes Gesetz aus dem Jahr 1933 in Kraft, das dem Fotografen von Eisenbahnanlagen mit sofortiger Verhaftung droht. 5 Und es gibt einen neuen präsidialen Erlass aus dem Jahr 2006, der Informationen, die für die Landesverteidigung von Belang sein könnten, zu Staatsgeheimnissen erklärt.6 Der 43 Seiten umfassende »Präsidial-Ukas>Taina « (>> Geheimnis > Gosudarst\vennaja Taina>Staatsgeheimnis >Nelsja! Es ist verboten! « Meist ausgesprochen mit steinerner Miene, ist es die Annvort von Bürokraten jeglicher Couleur auf die höflich gestellte Frage, ob man irgendetwas machen kann oder darf. >>Nelsja! Nelsja! « ist ein Wort, das auch ich bei meinen Recherchen zu diesem Buch gehört habe. Doch viel öfter begegnete mir das andere Russland: ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten und ein Land der >>entwaffnenden> Fritzen>Westen>im Westen> Die Romanows> [Er] musste die[ ... ] Erfahrung machen, dass es sich dabei um eine Gegend handelt, in welcher es auch dem bestgeschulten Beobachter nicht immer gelingen konnte, bis zum Kern einer Sache vorzudringen. Die wahre >res Muscovitares publica<werden; wie sollte dann erst ein vorübergehend dort zu Besuch weilender Ausländer hoffen dürfen, das Geheimnis Russlands zu ergründen? > Jabloko«, die heute einflusslos geworden ist, war er in den 90er Jahren Botschafter seines Landes in den USA und später Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses der Staatsduma, dem russischen Parlament. In Städten wie Perm, so Lukin, gehe es den Menschen seit einigen Jahren deutlich besser. Vorbei seien die Jahre, in denen sie, wenn überhaupt, ihren Lohn nur in Naturalien ausgezahlt bekamen. Auf Perm trifft das zu. Die Stadt hat sich nach dem wirtschaftlichen und politischen Chaos, das Russland in den 90er Jahren erschütterte, schnell entwickelt. Der Abstand zu Moskau, ein Maßstab für jeden Russen, scheint geringer geworden sein. Lukin reiste noch am Abend wieder zurück nach Moskau. Ich aber wollte, obwohl es schon dunkel wurde, noch die 100 Kilometer
Prinzessin Viktoria von Hessen und Prinzessin Louise von Bottenberg besuchten 1914 während einer Russlandreise die Eishöhle von Kungur.
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Gang in die Eishöhle von Kungur. Sie entstand vor mehr als 10 000 Jahren.
Wenn die Temperatur unter minus 30 Grad fällt, reichen die Kristalle bis zum Höhlenboden.
Wissenschaftler aus Kungur feiern alljährlich das Jolkafest (Neujahr) in »ihrer« Eishöhle; die Tanne gehört in jedem Fall dazu.
entfernt liegende Stadt Kungur erreichen, in der zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine der weltweit ersten geographischen Karten eines unterirdischen Höhlensystems entstand. Dort sollte meine Erkundungsreise durch die Unterwelten Russlands beginnen! Der nächste Bus wäre erst am frühen Morgen gefahren. Aber das nach wie vor funktionierende Schwarztaxi-System ließ mich innerhalb weniger Minuten einen Wagen finden. Es funktionierte wie überall in Russland: Man steht mit ausgestrecktem Arm am Rand des Bürgersteiges, macht wippende Bewegungen mit Zeigeund Mittelfinger. Entweder hält ein ältliches Gefährt sowjetischer Bauart oder eine teure Luxuslimousine an. Der Fahrer des sowjetischen Modells benutzt sein eigenes Auto, um für einen Zuverdienst zu sorgen. Der Fahrer der westlichen Limousine hat es leichter. Er nutzt lediglich die Abwesenheit seines Chefs, eines höheren Staatsbeamten oder eines neureichen Unternehmers, um sein Gehalt etwas aufzubessern. Mich brachte Wolodja, ein aus Norilsk im russischen Norden stammender arbeitsloser Arzt, in einem alten Schiguli nach Kungur. Die Stadt ist für russische Verhältnisse mit 68 000 Einwohnern eher klein. Der Name Kungur stammt aus dem Tatarischen und bedeutet >>dunkel, finster Straße der Freiheit«, die ihren Anfang bezeichnenderweise an der örtlichen Strafvollzugsanstalt nimmt. Alte Frauen verkaufen vor dem Höhleneingang Souvenirs. Die Höhle mit ihren über 100 Grotten und 60 Seen wird seit 1948 intensiv erforscht.
Einzigartig ist der temperaturabhängige Wechsel der Dicke des Höhleneises. Bei Temperaturen unter 30 Grad Celsius, die 2006 das letzte Mal erreicht wurden, ragen die Eiskristalle bis zum Boden. Erst mit dem Anstieg der Temperatur wird die Höhle dann wieder begehbar. Umstritten ist, ob diese Höhle einmal bewohnt war. Finno-ugrische Stämme könnten sie vor rund 1000 Jahren als Lager benutzt haben. Eindeutige Beweise dafür wurden aber bislang nicht gefunden. Zusammen mit einer Studentengruppe der Permer Universität und zwei dänischen Rucksacktouristen hielt ich mich über zwei Stunden in dem Labyrinth auf. Nach einer Weile schaltete die Führerin für einige Minuten das Licht aus. An die entstandene absolute Dunkelheit gewöhnt sich das menschliche Auge nicht. Beklemmende Verlorenheit sprang uns an, ein Gefühl der Ungewissheit von Zeit und Raum bemächtigte sich unser. Erst das wieder aufflammende Licht und der Blick auf
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>>Saal der Zeichen« in der Kapowa·Höhle. Möglicherweise existierte hier nach dem Ende der Eiszeit ein unterirdischer See.
eine im Vorjahr offensichtlich von wissenschaftlichen Mitarbeitern zurückgelassene und mit leeren Bier- und Wodkaflaschen gesäumte »]olka>Siuschebnaja tschertjoshnaja Kniga>Großen Vaterländischen Krieg« Wissenschaftler hierher gesandt habe. Sie hätten in einer Höhle in der Umgebung nach etwas gesucht,
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Steinzeitliche Abbildung von Mammuts in der Kapowa·Höhle, ousge· führt in rotem Ocker.
Im »Endsaal« der lgnatjewka·Höhle beflndet sich die Zeichnung eines Pferdes, die zu den besterhaltenen der Höhle gehört.
seitdem kämen immer mal wieder fremde Leute. Sie stamme eigentlich aus der Region Twer, ihre Familie sei aber 1939 in den Ural umgesiedelt worden. In der Höhle selbst, so Fanja, sei sie irgendwann in ihrer Jugend einmal gewesen, habe aber nichts von Bedeutung sehen können. Die wissenschaftliche Expedition, an die Fanja Iwanowa sich erinnert, gab es tatsächlich. Allerdings fand sie nicht unmittelbar nach dem Krieg statt, sondern erst im Jahr 1958. Damals wurden in dieser Höhle 50 bildliehe Darstellungen aus der Steinzeit entdeckt. Es handelt sich dabei um Abbildungen von Tieren, meist Mammuts, um verschiedene Zeichen sowie verschwommene Farbflecken. Die meisten davon sind im sogenannten Saal der Malereien zu sehen. Diese Höhlengrotte hat einen Durchmesser von 40 Metern. Kurze Zeit später fand man in einer weiteren Höhle im Ural, der Ignatjewka-Höhle in der Nähe von Serpiewka im Kreis Kataw-Iwanowsk, noch mehr steinzeitliche Bilder. Wiederum sind überwiegend Mammuts dargestellt, aber auch eine Frauenfigur und ein rotes Pferd. So sensationell die Entdeckung von Kapowa und Ignatjewka war, so unbekannt blieben im Westen diese russischen steinzeitliehen Bilderhöhlen bis in unsere Zeit hinein. Zu abgeschottet war die Sowjetunion hinter dem Eisernen Vorhang, um der internationalen Forschergemeinde Zugang zu Höhlen im Ural zu ermöglichen. Während sich die Universitäten in den großen UralStädten Tscheljabinsk und Ufa in den 60er, 70er und
80er Jahren noch intensiv der archäologischen und Höhlenforschung widmeten, ist das Interesse daran danach eher zurückgegangen. Immer wieder traf ich in Russland auf Universitätsprofessoren, die den Verlust an wissenschaftlicher Qualität nach dem Untergang der Sowjetunion bedauerten. >>Sicher«, so Anatoli Moisejewitsch, ein Historiker und Emeritus aus Tscheljabinsk, >>damals ging es vor allem darum, alles mit dem Marxismus-Leninismus zu verbinden. Aber jeder wusste das doch, und alle wussten, wie man diesen Schein wahrt. Wenn das Vorwort stimmte und in den Arbeiten ein Dutzend Mal Lenin zitiert war, konnte man aber Forschungsarbeiten publizieren, die heute so gar nicht mehr denkbar sind. Wen interessiert schon Archäologie? Die jungen Leute wollen nur einen Hochschulabschluss, meist sogar zwei. Die wollen sich Ökonom nennen oder Jurist. Aber Geschichte, Archäologie, Höhlenforschung ... ? Nein, das ist nichts für die Jugend von heute. > Bei uns im Ural >gibt es vielleicht noch Dutzende von Höhlen wie die, die Sie gesehen haben. Ich werde es allerdings wohl nicht mehr erleben, dass man sie erkundet. >Insel der heiligen Wera «. Eine der in der Sowjetzeit gesperrten Städte ist Mjass im mittleren Urat. Sie liegt 80 Kilometer von Tscheljabinsk entfernt, der Gebietshauptstadt der gleichnamigen Region. Mjass bleibt mir als einzige Stadt Russlands in Erinnerung, in der das Schwarztaxi-System nicht funktionierte. Vergeblich meine Versuche, ein Auto anzuhalten, um den 15 Kilometer von Mjass entfernten und angeblich 15 Millionen Jahre alten Turgojaksee zu er-
reichen, der als einer der kleinen Brüder des mächtigen Baikaisees gilt. Schließlich schaffte ich es, eines der wenigen offiziellen Taxis zu organisieren, die es in der Stadt gibt. Der Turgojaksee empfing mich mit einer erhabenen Bergkulisse. Bademöglichkeiten und glasklares Wasser locken neuerdings auch wohlsituierte Russen an. Am Seeufer haben sich Hotels und Erholungsheime etabliert. Die Gegend um den Turgojaksee ist bereits seit fünf Jahrtausenden besiedelt. Die Insel im See, bekannt als >>Insel der heiligen Wera «, bietet einen weiteren Einblick in Russlands vorgeschichtliche Unterwelt. Die Überlieferung besagt, eine Frau namens Wera habe im 17. Jahrhundert auf dieser Insel in Höhlen gelebt. Nach einer Legende flüchtete die junge Frau auf die Insel, da ihre Eltern sie zwingen wollten, einen Mann zu heira-
Sumpf am Turgojaksee. Auf der »Insel der heiligen Wera« sollen Neandertaler gelebt haben.
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Fahrt in die Bronzezeit: Arkaim
Eingang zu einer der Höhlen auf der »Insel der heiligen Wera«. Die Decke bilden übereinandergeschichtete Steinplatten.
ten, den sie nicht liebte. Sie solllange in einer Erdhütte gelebt und erfolgreich die Heilkunst praktiziert haben. Wera gehört sicherlich ins Reich der Legenden, die Höhlen jedoch existieren. Die Urai-Außenstelle der Russischen Akademie der Wissenschaften initiierte 2004 eine archäologische Exkursion mit überraschendem Ergebnis. N icht ausschließen wollen die Archäologen, dass auf der Insel bereits vor undenkbar langer Zeit, vor etwa 100 000 Jahren, Neandertaler gelebt haben. Ausgrabungen, die endgültigen Aufschluss darüber geben sollen, stehen noch aus. Gesichert ist, dass die Höhlen auf der Insel vor ungefähr 3500 bis 4000 Jahren durch Menschenhand entstanden sind. Sie dienten nicht zu Wohnzwecken. Da die Insel bewaldet ist, wäre es einfacher und praktischer gewesen, Gräben mit Holz zu überdecken. Wahrscheinlich handelte es sich um einen kultischen Ort. Die Bauweise der Höhlen zeugt von einer für die damalige Zeit erstaunlichen Baukultur: Ein kunstvoll aus Steinplatten konstruiertes bogenförmiges Gewölbe spannt sich über die unterirdische Anlage. Nach diesem Prinzip sind Jahrtausende später, im 18. Jahrhundert n. Chr., weitere Erdhütten gebaut worden, die sich in der N ähe befinden. Sie dienten sogenannten Altgläubigen als Schutz, die sich im 17. Jahrhundert einer Kirchenreform in Russland verschlossen hatten, sich dann vor Verfolgungen durch Staat und Kirche zu retten suchten und in abgelegene Gebiete flohen. 22
Noch in Moskau war ich auf den vergilbten Aushang eines kleinen Reisebüros gestoßen, auf dem eine >>unterirdische Stadt und Festung der uralten Arier>Land der Städte«, einem eindrucksvollen Denkmal bronzezeitlicher Kultur, das sich über ein Areal mit einem Durchmesser von 350 Kilometern erstreckte. Archäologen konnten bisher mehr als 20 antike Städte aus der Zeit von 2000 bis 1700 v. Chr. nachweisen. Sie reichten allesamt bis an die Schwelle der Zivilisation heran, überschritten sie aber nicht. Ihre Kultur wird als Sintasch-Kultur bezeichnet. Möglicherweise bestand sogar eine Verbindung zwischen den Urat-Kulturen und dem mykenischen Griechenland. Da das Reisebüro schon seit Monaten geschlossen hatte und weitere Recherchen erfolglos blieben, entschloss ich mich, vom Turgojaksee aus Arkaim auf eigene Faust zu erkunden. Doch wo sollte ich nach diesem verheißungsvollen Ort suchen? Er ist auf keiner Karte verzeichnet. Lediglich auf einigen Internetseiten finden sich Routenempfehlungen. Ihren Angaben zufolge sollte Arkaim in der Nähe der Stadt Magnitogorsk liegen, sechs Autostunden von der Gebietshauptstadt Tscheljabinsk entfernt. Um sieben Uhr am Morgen ging es los. Da es Sonntag war, gab es kaum Verkehr auf den Straßen, und zügig näherten wir uns Magnitogorsk. Bis kurz vor der Stadt genossen wir noch die traumhafte Landschaft der asiatischen Ausläufer des Urals. Dann tauchte Magnitogorsk auf- wie aus dem Nichts, denn die Stadt war von den Dunstwolken der örtlichen Chemieindustrie eingenebelt. Ein penetranter, beißender Gestank lag in der Luft, dem die Einwohner lebenslang ausgesetzt sind. In Magnitogorsk begann das Suchen. Keinem der Passanten, die wir fragten, war bekannt, dass sich in unmittelbarer Nähe die Überreste einer bronzezeitlichen Stadt befinden, die angeblich bereits bewohnt war, als in Ägypten die Pharaonen regierten. Ich war kurz davor, aufzugeben, als ein weiterer Passant, bei
Bis 1991 war die Region um Magnitogorsk Sperrgebiet. Die Luftaufnahme von Arkaim wurde vermurlieh in den 70er Jahren gemacht.
Schema von Arkaim. Innerhalb der beiden Verteidigungsringe lagen die Wohnstätten; in der Mitte gab es einen zentralen Platz.
dem ich mich erkundigte, ein Mann um die 60, plötzlich sagte: ••Nehmt dort die zweite Straße nach links, fahrt bis zum Ende, dann nach rechts abbiegen ... « Auf einmal unterbrach er seine Erklärungsversuche: »Dawaite, wmeste! (Los, zusammen!)- das findet ihr sonst sowieso nie! « Ohne zu fragen setzte er sich auf den Rücksitz. Mein neuer Führer hieß Oleg, und wahrlich, ich hätte keinen besseren treffen können. Der ehemalige
Offizier der Roten Armee war früher in der Gegend stationiert gewesen, in die ich wollte. Von unterirdischen Anlagen wusste Oleg nichts. Aber er konnte mir erklären, warum so wenige Bewohner von Magnitogorsk überhaupt etwas mit Arkaim verbinden: »Bis 1991 war das gesamte Gebiet um Magnitogorsk militärisches Sperrgebiet.« Nach einer weiteren Stunde Fahrt über staubige Nebenstraßen hatten wir das Ziel erreicht. Mich überraschte die enorme Ausdehnung der Anlage. Darüber hinaus erstaunte mich in Anbetracht der kaum erhältlichen Informationen die Betriebsamkeit. Auf Archäologen und einige Touristen trafen wir hier ebenso wie auf Hare-Krishna-Anhänger, Wünschelrutengänger oder Esoteriker, die geheime Energien und Spiritualität suchten. Obskure Theorien ranken sich um den Ort: Sewa, ein Geschichtsstudent aus Tscheljabinsk, der mich gemeinsam mit Oleg durch Arkaim führte, behauptete steif und fest, dieser Ort sei das eigentliche Ziel des Russlandfeldzuges von Adolf Hit!er gewesen. In Arkaim habe Hitler den Kraftpunkt der Welt gesehen. Fest steht, dass die Entdeckung des »Landes der Städte« im Südural eine große archäologische Sensation im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bedeutete. Mit Arkaim hatte man nichts Geringeres als eine befestigte Wohnstadt aus der Bronzezeit gefunden. Ich blieb zwei Tage in Arkaim. Sewa, der Student, verfügte über ein erstaunliches Wissen über den Ort. 1956, so erzählte er, seien für militärische Zwecke Luftaufnahmen gemacht worden. Sie zeigten schon damals die zwei markanten Ringwälle und den zentralen Platz. Doch in einem militärischen Sperrgebiet sei an wissenschaftliche Forschung nicht zu denken gewesen. Diese setzte erst 30 Jahre später ein. 1987 entdeckte eine archäologische Expedition der Universität Tscheljabinsk einen einzigartigen Komplex archäologischer Denkmäler der Bronzezeit. Man erschloss 8055 der 20 000 Quadratmeter großen Urstadt. Die Stadt Arkaim soll zwischen 1800 und 1600 v. Chr. entstanden sein. Sie bestand aus zwei Verteidigungsringen, zwei Ringen von Wohnstätten innerhalb der Verteidigungswälle, einem zentralen Platz sowie einer Ringstraße, die einst eine Holzpflasterung und Regenkanalisation gehabt haben soll. Die Wissenschaftler der ersten Expeditionsreise untersuchten 29 Wohnstätten, Teile des inneren und äußeren Verteidigungsringes und einen Teil des Zentralplatzes. Das restliche Territo-
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Kegelförmige Hügel, sogenannte Kurgane, waren charakteristisch für Arkaim.
ln den Kammern der Kurgone wurden die Toten bestattet. Die Abbildung zeigt das Innere des rekonstruierten Kurgans »Temir«.
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rium der Stadt wurde zunächst nur geophysikalisch untersucht. Im inneren Kreis Arkaims gab es 27 Wohnstätten mit Brunnen, Kellern und Feuerstellen, im äußeren Ring 60 Wohnhäuser. Die vier Tore der Festung waren nach den vier Himmelsrichtungen ausgerichtet. Der innere Ring hatte einen Durchmesser von 85, der äußere von 145 Metern. Die Stärke des Walls betrug am Fuß drei bis fünf Meter. Die Einwohner von Arkaim waren Sonnenanbeter. Verzierungen auf dem Geschirr, das bei Ausgrabungen zu Tage gefördert wurde, zeigen unter anderem Hakenkreuze, alte Sonnensymbole. Nach Meinung russischer Archäologen befand sich hier die Heimat der legendären Arier. Die Indoeuropäer gelten als Schöpfer des Zoroastrismus, der Religion der Feueranbeter und ersten Religion in der Welt. Der Zoroastrismus verbrei-
Rekonstruierte Wohnstätte in Arkaim.
tete sich später in Zentralasien und auf dem Gebiet des heutigen Iran. Doch was war dran an der »unterirdischen Stadt Arkaim «, mit der das Moskauer Reisebüro geworben hatte? Unweit der Urstadt Arkaim erheben sich kegelförmige Hügel. Dort, so Sewa, vermutete man zunächst den Einstieg in eine unbekannte Unterwelt. >>Als ich vor zwei Jahren begann, in den Semesterferien hier zu arbeiten, kamen einmal zwei Tourismusmanager aus Moskau zu Besuch«, erzählte er. >>Doch denen war das alles hier nicht spektakulär genug.« Dabei ist Arkaim einer der phantastischsten Orte, die es in Russland gibt. « Bei den kegelförmigen Hügeln handelt es sich um sogenannte Kurgane, in deren Kammern die Toten bestattet wurden. Die drei bis fünf Meter breiten Grab-
kammern waren teilweise mit Holz bedeckt. Die Wissenschaftler fanden bei ihren Ausgrabungen Einzel-, Paar- und Gruppengräber mit Bronzemessern, Harpunen, Schmuck, Pferdegeschirr, Speerspitzen und Pfeilen aus Bronze als Grabbeigaben. Da die Grabkammern sehr groß waren, entstand die Legende über die »Unterirdische Stadt Land der Städte>Land der Städte>Tainy podsemnoi Moshvy« (Geheimnisse des unterirdischen Moskau) heißt das Werk der Historikerin Taisija Belousowa, die sich vor allem mit den Anfängen unterirdischer Baukunst im Mittelalter beschäftigt.1 Auch aus einem zweiten Grund hatte Jegor nichts dagegen, mir bei der Literatursuche und -auswertung zu helfen. Einer seiner Digger-Freunde war zehn Tage zuvor vom russischen Inlandsgeheimdienst FSB vorgeladen worden. Eine Internetseite, in deren Forum unterirdische Erkundungstouren durch Moskau beschrieben wurden, war für diese wachsamen Herren der Stein des Anstoßes gewesen. Jegors Freund ist zwar unmittelbar nichts widerfahren, doch das Gespräch mit den Geheimdienstleuten war auf jeden Fall dazu angetan, die Lust auf Einstiege in die Moskauer Unterwelt zumindest vorläufig zu dämpfen. Dadurch erweiterte sich unser zeitlicher Rahmen, gemeinsam den Faden zur historischen Bestandsaufnahme der russischen Unterwelt aufzunehmen und ihm durch die Zeitläufe der russischen Geschichte zu folgen. Im Frühmittelalter und im Mittelalter entstand in Russland eine Vielzahl von Anlagen im Untergrund. Baumeister schufen wahre Meisterwerke. Hierzu gehören Labyrinthe, Tunnel und Katakomben als Teil von Klöstern, Kirchen und Festungen. Die meisten davon sind bis heute nicht zugänglich. Von der Existenz solcher Anlagen wussten in Russland immer nur wenige Menschen. Dieses Wissen wurde in den meisten Fällen 26
mündlich weitergegeben, was zu einer schwierigen Quellenlage führt. Immer wieder findet man - mehr oder weniger zufällig- unterirdische Gänge. Viele von ihnen wurden im Verlauf der Jahrhunderte zugemauert und fielen der Vergessenheit anheirn. Kein Wunder also, dass dabei Phantasien häufig die Fakten überlagern. Die älteste und sagenumwobenste, die ausgedehntesteund zugleich berühmteste unterirdische Anlage der Russen aus jener Zeit ist Petscherskaja Lawra, das Höhlenkloster von Kiew.2 Es hat sich über die Jahrhunderte zu einem von Mauern umgebenen, 28 Hektar umfassenden Klosterkomplex mit über 80 Gebäuden entwickelt. 1990 wurde ihm von der UNESCO der Weltkulturerbe-Status verliehen. Die Anlage breitet sich malerisch über zwei Hügel mit einem dazwischenliegendem Tal aus. Hier am Dnjepr schlug vor rund 1000 Jahren- fast zeitgleich mit der Herausbildung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation- die Geburtsstunde des ersten russischen Staates, der Kiewer Rus . Ein Kiewer Großfürst christianisierte die Rus, und das Kiewer Höhlenkloster gehört bis zum heutigen Tag zu den heiligsten Orten der Russen. Als 1991 die Sowjetunion zerbrach und 16 ehemalige Unionsrepubliken unabhängig wurden, schmerzte Russland der Verlust der Ukraine besonders. Kiew gilt als >> Mutter der russischen Städte> Orangene Revolution>Museum des Atheismus « umgewandelt, die Höhlen geschlossen. 1941 durfte es seinen Betrieb wieder aufnehmen; Mönche, die bis dahin den Stalin'schen Repressalien noch nicht zum Opfer gefallen waren, kehrten zurück. 1961, in den Jahren der Kirchenverfolgung durch den KPdSUChefNikita Chruschtschow, wurde das Kiewer Höhlen-
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klostererneut geschlossen und 1965 ein zweites Mal in ein Museum umgewandelt. Erst seit 1991 gehört es wieder der orthodoxen Kirche und ist heute ein funk tionierendes Mönchskloster. Ich war natürlich begierig, mehr als ein »normaler« Besucher zu erfahren bzw. zu sehen zu bekommen. Auf meine entsprechende Bitte verständigte sich Pjotr mit einem anderen Mönch, der blasshäutig und mit einem langen grauen Bart in einer Gebetsnische saß. Beide führten mich durch eine geheime Tür, hinter der sich die Katakomben fortsetzen; Besucher gab es dort keine mehr. Ein paar Mönche in der N ähe schauten erstaunt auf, ihr Gespräch erstarb augenblicklich, und fragende Stille machte sich breit, als sie mich »Eindringling> Du darfst mitkommen, Pater Leonid kennt deine Heimatstadt Leipzig und die Russisch-Orthodoxe Kirche dort. Er sagt, du gehörst zu uns.« Von weißgetünchten niedrigen Gängen führen Nischen und kleine Kapellen ab. In einfachen Schreinen liegen verstorbene Mönche, deren Körper nicht der Verwesung anheimgefallen sind. Pjotr erklärte mir flüsternd die Bestattungsriten: Man wusch ihnen die Körperteile, die unbedeckt waren, faltete ihnen die Hände auf der Brust, bedeckte ihr Gesicht und legte sie auf ein Brett. Auf diesem Brett wurde der Verstorbene dann in eine N ische geschoben. Diese Nische wurde zum Höhlenkorridor hin mit einer Ikone verschlossen, manchmal gar zugemauert. Nach drei Jahren öffnete man die Ni-
Gang, der die Katakomben des Kiewer Höhlenklosters mit der Außenwelt verbindet.
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Im Höhlenkloster be~nden sich mehrere Grabnischen mit mumi~ zierten Leichen.
sehe wieder, nahm die Überreste der Leichname heraus und bestattete sie. Beim Öffnen der Grabnischen fand man aber auch Körper vor, die nicht verwest waren. In diesen Fällen blieb der Tote in der N ische. Auf Ikonen wurden dann die geistlichen Taten des Mönches beschrieben. >> Mönche, die höchste Vollendung im Gebet und in der Schweigsamkeit anstrebten> ließen sich schon zu Lebzeiten in kleinen Zellen einmauern. Die Verbindung zur Welt blieb ein kleines Fenster. Zwei Mal pro Woche erschien ein Bruder und reichte etwas Speise und Wasser in die Zelle. Wenn aus dem Fenster keine Antwort mehr kam und das Essen unangetastet blieb, bedeutete es, dass der Mönche seine Askese vollendet hatte. > Das Wunder der Nichtverwesung ist für uns Menschen bestimmt, die wir uns auf dem Weg zur Ewigkeit befinden, die wir in unserem Glauben gestärkt werden müssen und die wir geistigen Trostes bedürfenKiewer Typs> Goldenen Horde «5 stehen, deren Khane in Sarai an der unteren Wolga residierten. In dieser Zeit, die von der russischen Geschichtsschreibung als>> Tatarenjoch« bezeichnet wird, spielten viele der unterirdischen Anlagen eine wichtige Rolle. Dort brachten die Fürsten der Rus Schätze, Waffen und
Munition vor den mongolisch-tatarischen Besatzern in Sicherheit. Nach dem Fall von Kiew verschob sich das Zentrum des russischen Reiches nach Osten. Der Metropolit, der bis 1229 noch in den Trümmern von Kiew gehaust hatte, verlegte seinen Sitz zunächst nach Wladimir. 1328 übertrug der Tatarenkhan Usbek dem Moskauer Fürsten Iwan- wahrscheinlich weil dieser gut dafür zahlte- den Großfürstentitel von Wladimir. Als Iwan Kalita (1283-1341) begründete er das Moskauer Großfürstentum und setzte die Vorherrschaft Moskaus über Russland durch. Jegors Digger-Freunde in Moskau kamen nicht zur Ruhe. Nach dem Verhör eines Freundes von ihm durch den FSB traf dieses Schicksal nun noch einen weiteren Bekannten. Mittlerweile ahnte Jegor die Ursache für die Nervosität des Geheimdienstes. Mitte 2006 kamen beim Abriss des riesigen Hotels >>Rossija«, gleich gegenüber dem Kreml, Gänge zum Vorschein, die möglicherweise Teil des geheimnisumwitterten unterirdischen 31
Bei Abrissarbeiten am Hotel »Rassija« nahe dem Kreml stieß man 2006 auf unterirdische Gänge. Schnell wurde die Baustelle abgeriegelt.
Blick über den Kreml und den Roten Platz. ln der Bildmitte ist das lenin·Mausoleum zu sehen.
Netzes aus der Sowjetzeit sind. Der FSB war sofort zur Stelle, um die Absicherung zu übernehmen . Der Bauherr des neuen Hotel komplexes, das anstelle des >> Rossija « entsteht, erklärte gegenüber der Presse: »Einige Leute in Zivil haben meinen Arbeitern den Zugang zu einem Teil der Baustelle verwehrt.« 6 Infolge der Entdeckungen unter dem Hotel »Rossija« befragte der Geheimdienst auch einige Moskauer Journalisten, die über ein geheimes Straßen- und Tunnelsystem unter Moskau spekuliert hatten. Außerdem hatte ein Digger in einem Internet-Forum über verschiedene Einstiege in die Unterwelt nahe dem Kreml berichtet. Nun hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass die Digger-Szene stärker unter Kontrolle gebracht werden sollte. Die Sensibilität der russischen Sicherheitskräfte ist verständlich. Im Kreml, von wo aus früher die Zaren und später die Parteiführer der KPdSU regierten, haben heute die Präsidenten der Russischen Föderation ihren Sitz. Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn in nur 300 Meter Entfernung vom Weißen Haus in Washington Versuche unternommen würden, in die unteren Etagen des Präsidentensitzes zu gelangen. Der Kreml ist das Herzstück Russlands. Der Moskauer Stadtgründer, J uri Dolgoruki (deutsch: J uri Langhand, 1090-1157), ließ ihn 1156 errichten. Die hölzernen Verteidigungsanlagen des ersten Moskauer Kremls wurden aber durch häufige Brände regelmäßig zerstört. Während der Regierungszeit von Großfürst Dmitri Donskoi (1350-1389) entstand in den Jahren
1366 bis 1368 der steinerne Kreml. Die Chroniken erwähnen zwar keinerlei unterirdische Anlagen, aber der Kreml, der auf einem hohen und wasserlosen Hügel stand, hatte gewiss schon in früher Zeit Wassertunnel zu den Flüssen Neglinnaja und Moskwa. Kreml, zu Deutsch Festung, gibt es in allen größeren russischen Städten, die im Mittelalter gegründet wurden. Der Moskauer Kreml aber, in dem das russische Staatsoberhaupt residiert, ist legendenumwoben wie kaum ein anderes Bauwerk in der Welt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein dienten die unterirdischen Anlagen des Kremls nicht nur der Wasserversorgung, sondern auch der geheimen Versorgung mit Waffen oder Munition und als Verlies für Gefangene. Seit 1991 gibt es außerdem ernstzunehmende Hinweise und Anzeichen, dass völlig abgeschottet von der Außenwelt unter dem Kreml eine geheime Metrostation und ein tief gelegener Bunker existieren.7 Im Mittelalter gelangte die Meisterschaft unterirdischer Baukunst auf zwei Wegen nach Moskau: aus den nordwestlichen Fürstentümern der Rus sowie aus der Kiewer Rus im Süden des Landes. In der weiteren Umgebung Moskaus findet man ebenfalls viele Städte mit unterirdischen, geheimen Anlagen: In Tula und Kolomna gibt es zum Beispiel unterirdische Festungsanlagen und in Twer Gänge unter Kirchen. Vor allem der als » Tatarenbezwinger >Va-
terländischen Krieg>der Schreckliche«, wirklich gegeben habe. Wo sonst, wenn nicht unter dem Kreml, hätte man sie sicher aufbewahren können? Die Bibliothek soll wertvollste Bücher umfasst haben, die Sophia Paläologos aus Konstantinopel als Morgengabe nach Moskau mitbrachte, als sie den Großfürsten Iwan III. heiratete, sowie Bücher, die später Iwan der Schreckliche selbst gesammelt hatte. Einige russische Historiker glauben, dass die Sammlung irgendwann aufgelöst und in verschiedenen Klosterbibliotheken untergebracht worden sei. Andere wiederum mutmaßen, sie sei verbrannt. Eine dritte Gruppe ist der Meinung, die Bibliothek lagere noch in einem geheimen unterirdischen Versteck. Vermutet wird sie an verschiedenen Orten im Untergrund: in Alexandrowskaja Sloboda, der ehemaligen Residenz Iwans IV. im Gebiet Wladimir, 11 im Kyrillo-Belooserski-Kioster bei Wologda oder eben unter dem Moskauer Kreml. Als Stalin dort residierte, gestattete er 1933 dem Archäologen Ignati Jakowiewirsch Stelezki, nach dieser Bibliothek zu graben. Dessen Suche blieb aber ohne Erfolg, nicht zuletzt, weil man ihm die Fortführung seiner Arbeiten untersagte, nachdem er auf zahlreiche Gänge und Räume unterhalb des russischen Machtzentrums gestoßen war. 12 Iwan der Schreckliche, der erste Moskauer Großfürst, der sich auch zum Zaren krönen ließ, 13 machte Russland in den Auseinandersetzungen um das Erbe der >> Goldenen Horde « zum eurasischen Großreich. Unter ihm wurden in Moskau in einem bis dahin nicht da gewesenen Umfang unterirdische Anlagen gebaut. Das geschah nun nicht mehr durch italienische, sondern durch russische Baumeister. Zar Iwan IV. hat sich im wahrsten Sinne des Wortes in die Erde eingegraben. Vom Opritschnaja-Palast, 14 wo die berüchtigte Leibgarde Iwans IV. ihren Sitz hatte, führten unterirdische Gänge zum Kreml und weiter aus der Stadt Moskau heraus. Ihre Reste entdeckte man zu verschiedenen Gelegenheiten: beim Abriss oder Neubau von Häusern, bei Straßenbauarbeiten und schließlich beim Bau der Moskauer Metro. Iwan IV. fürchtete Aufstände von Bauern genauso wie Angriffe des Adels, also der Bojaren. Nur in den
Iwan IV. besaß eine sagenhafte Bibliothek, die verschollen ist. Historiker vermuten sie in einem geheimen unterirdischen Versteck.
geheimen Kammern seiner Paläste fühlte er sich sicher. Er schien in seiner beispiellosen Brutalität selbst finsteren Unterwelten entstiegen. Nachdem er als 17-Jähriger 1547 zum Zaren gekrönt worden war, erneuerte er Russland mit eiserner Hand. Er gründete das erste russische Parlament und reformierte die Gesetzgebung sowie das Heer. Parallel dazu überzog er das ganze Land mit einem Terror bislang unbekannten Ausmaßes. Vor 35
Bei Ausgrabungen im Alexandergarten in den 70er Jahren stieß man auf alte Stadtbefestigungsanlagen und unterirdische Gänge.
allem die >> Üpritschniki «, seine Geheimpolizei, war gefürchtet. Die Gewaltherrschaft traf nicht nur seine Feinde, sondern auch die eigene Familie - in einem Wutanfall erschlug er seinen Lieblingssohn Iwan. Überall im Land wurden Menschen grundlos verfolgt, gefoltert und getötet. In seinem Drang zur Alleinherrschaft ließ er ganze Familien hinschlachten. Den Angehörigen der Bestraften warf man die abgeschlagenen Köpfe ihrer Verwandten vor die Füße. Die Zahl der von dem sadistischen Zaren eigenhändig Ermordeten wird auf mehr als 4500 geschätzt.15 Das Interesse des misstrauischen Zaren an unterirdischen Bauten machte Schule. Iwans Vertraute verbanden so ihre Moskauer Residenzen mit dem Kreml. Maljura Skuratow, der oberste Henker des Zaren, ließ seine Wohnsitze in Moskau regelrecht unterhöhlen.
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Von seinem Haus an der Soljanka führte ein Gang zum Fluss Moskwa. Die Soljanka-Straße im Moskauer Zentrumsbezirk Kitai Gorod bot immer wieder Anlass zu Spekulationen über unterirdische Gänge von enormen Ausmaßen. 16 Im Jahr 2001 wurden sie endgültig bestätigt. Als die Straße im Zuge von Bauarbeiten aufgerissen wurde, sahen die Passanten zu ihrer Überraschung nicht nur Gänge, sondern breite Fahrstraßen für schwere Lastkraftwagen, die zu einem bis heute bestehenden, unterirdischen Straßensystem gehören. Ihre Neugierde konnten die Schaulustigen nur kurz befriedigen. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Baustelle weiträumig abgesperrt und die Straßenbauarbeiten unter strikter Geheimhaltung fortgesetzt, ähnlich wie fünf Jahre später beim Hotel >>Rossija «.
Auf dem Weg zur europäischen Großmacht
Russlands »Neues Jerusalem« In Anbetracht der Beunruhigung in der Moskauer Digger-Szene konzentrierte sich Jegors und mein Ehrgeiz darauf, zunächst unterirdische Anlagen in Moskaus Umgebung in Erfahrung zu bringen, die am Beginn der Neuzeit entstanden sind. Bei der Beschäftigung mit dieser Epoche, so unsere Annahme, war eine Einmischung der staatlichen Geheimnisschürzer kaum zu erwarten. Nikita Minon, der berühmteste Mönch der russischen Geschichte, der es bis zur Patriarchenwürde brachte, ließ Mitte des 17. Jahrhunderts unweit von Moskau unterirdische Kirchenräume ausheben. Diese Kirche, die man noch heute über eine in die Tiefe führende Steintreppe erreicht, ist Bestandteil und zugleich Mittelpunkt einer Klosteranlage im heutigen Moskauer Oblast (Bezirk) . In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts stieß man im Kloster auf einen Tunnel, der die Zelle des Patriarchen und die Hauptkathedrale miteinander verband.1
Unscheinbarer Eingang zur unterirdischen Kapelle des Klosters, das im 17. Jah rhundert entstand.
Als ich das Kloster das erste Mal besuchte, traf ich auf eine et\va 80-Jährige, die im kleinen Laden, der zum Kloster gehört, Kerzen verkaufte. Die alte Frau hilft den Mönchen seit den 90er Jahren bei der Bewirtschaftung, nachdem das Kloster wieder seiner Bestimmung zugeführt wurde. »Es kommen wenige Ausländer zu uns, früher war das anders «, klagte sie schwerverständlich aus fast zahnlosem Munde. Mit >> früher>Neu·Jerusalem«. Bei Moskau sollte ein Stück des heiligen Landes kopiert werden.
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Hauptkathedrale des Klosters »Neues Jerusalem«.
Nachdem ich ihr ein paar Kerzen abgekauft hatte, entging ich nur mühsam ihrem Versuch, mir die gesamte Familiengeschichte zu erzählen. Ihrer innigen Umarmung entkam ich aber nicht. Mit den Worten >> Viel Glück, mein Söhnchen! > Druschba! >NeuJerusalem > Russisches Palästina >Heiligen Patriarchen von Moskau und ganz RusslandImperator« (Kaiser). Er tolerierte keinen Patriarchen mehr neben sich und ließ nach dem Vorbild der Lutheraner eine Synode bilden, um fortan die Russisch-Orthodoxe Kirche zu führen. Erst über 200 Jahre später, am 5. November 1917, wurde wieder ein Patriarch gewählt. 2 Trotz darauffolgender mehr als 70-jähriger kommunistischer Herrschaft ist der orthodoxe christliche Glabe tief im russischen Volk verwurzelt und wird auch >> der russischen Glaube« genannt.
Der sumpfige Untergrund von St. Petersburg In Moskau gibt es rund ein Dutzend sogenannter Digger-Klubs. In St. Petersburg, der zweitgrößten Stadt Russlands, ist das anders. Dort wagen sich nur Einzelne in den Untergrund der Stadt. Mit ihnen wollte ich Kontakt aufnehmen und fuhr vom Leningrader Bahnhof in Moskau in die Stadt an der Newa. Die Geschichte von St. Petersburg ist untrennbar mit Peter dem Großen verbunden. Unter ihm stieg Russland zur europäischen Großmacht auf, auch wenn er zu Lebzeiten umstritten war - zu radikal verletzte er religiöse und traditionelle Vorstellungen der Russen, zu fortschrittlich erschienen seine Neuerungen: In seiner Regierungszeit reformierte er die Verwaltung, das Militär, das Steuerwesen, die Schulen, die Kirche und die Wirtschaft. Oft waren die Reformen sprunghaft, nicht immer er-
Unter Peter dem Großen verlor Moskau an Bedeutung. St. Petersburg wurde 1712 neue russische Hauptstadt und blieb es bis 1918.
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St. Petarsburg wurde auf sumpAgem Untergrund errichtet. Die histo· rische Zeichnung zeigt Peter den Großen als Baumeister.
Dieses kleine Holzhaus wurde 1703 innerhalb von drei Tagen für den Zaren gebaut; heute ist es Teil eines Museums.
folgreich, doch er stellte Russland vollkommen »auf den Kopf«. Dabei ging es nicht nur um Äußerlichkeiten- so befahl er etwa den Bojaren, westliche Kleidung zu tragen und sich die Bärte abzuschneiden - , sondern um die grundlegende Neuausrichtung Russlands nach Westen, für die die Gründung von Sr. Petersburg im Jahr 1703 das Symbol schlechthin ist. Nur neun Jahre später wurde die junge Stadt zur Hauptstadt Russlands erhoben, was sie bis 1918 bleiben sollte. Erst Lenin zog mit seiner Regierung wieder nach Moskau zurück. Für Moskau, das Peter I. als Sinnbild des rückwärtsgewandten >> Erzrussischen « verachtete, bedeutete der Verlust des Hauptstadtstatus eine Zäsur. Die russischen Architekten wurden vom weiteren Aufbau Moskaus ferngehalten. Der Stadt wurde nur noch dann Aufmerksamkeit zuteil, wenn es kriegerische Ereignisse erforderten. Im Mündungsdelta der Newa in die Ostsee hingegen entstand das neue St. Petersburg, eine auf 44 Inseln mit 68 Kanälen und Flussarmen gelegene Stadt, die eine selten anzutreffende stilistische Geschlossenheit der Architektur auhveist. Ein Bekannter meines Moskauer Freundes Jegor namens Alexander gehört zu den wenigen Diggern in St. Petersburg. Er ist Student und absolviert gerade ein zweites Hochschulstudium, nachdem er bereits ein Geschichtsstudium abgeschlossen hat. Nichts Ungewöhnliches für junge Menschen in Russland. Seine Stadt, so erklärte er mir, sei für Untergrundgänger eher uninter-
essant: Im Vergleich zu Moskau, wo seit dem frühen Mittelalter im Untergrund Verteidigungs- und Schutzanlagen entstanden sind, fänden sich in Sr. Petersburg nur wenige unterirdische Bereiche. Selbstverständlich gebe es unter der Peter-und-Paui-Festung Katakomben, die einst als Gefängnis dienten/ und natürlich hätten einige Paläste der Adligen Kellergewölbe, in denen sich Kabale und Morde ereigneten. Aber dies ließe sich nicht mit der Moskauer >>Unterwelt« vergleichen, denn St. Petersburg, das >>Venedig des Nordens«, sei an dieser Stelle in erster Linie aus militärisch-strategischen Überlegungen heraus entstanden. Die Schlüsselstellung zwischen Ostsee und Ladogasee, zwischen den Einflussbereichen von Schweden und Russen habe den Standort der Festungs- und Hafenstadt Petersburg in einem unwirtlichen Sumpfgebiet bestimmt. Der vorwiegend sandige Boden liege knapp über dem Meeres- und Grundwasserspiegel. Nur ein ausgeklügeltes Drainagesystem halte ihn trocken und tragfähig. Aber statische Probleme, schloss Alexander, seien vorprogrammiert und selbst der Bau von Kellern vielerorts unmöglich. Eine Besonderheit bringt die sumpfige Lage der Stadt jedoch mit sich. Die St. Petersburger Metro ist aus diesem Grund die am tiefsten gelegene Untergrundbahn der Welt. Sie führt zwischen 50 und 75 Metern unter den sumpfigen Bodenschichten entlang, die tiefste Station (Admiralitejskaja), die sich derzeit im Bau befindet, liegt 102 Meter unter der Erde.4 Das Schienennetz der
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Metro in St. Petersburg ist bei weitem nicht so ausgedehnt wie das in Moskau, doch die Stationen sind nicht weniger beeindruckend. Jede Einzelne hat ihren eigenen Stil, von dem von Stalin bevorzugten >>Zuckerbäckerstil>Na prawa !>Für mich wäre es schon sehr interessant, die Metroschächte zu erkunden, um zu sehen, ob es in dieser Tiefe Luftschutzbunker gibt, die an das Metrosystem angeschlossen sind«, sagte Alexander und ergänzte: >>Seit dem Skandal von 2002 gibt es aber keine derartigen Versuche mehr.>Seitdemist für Digger die Erkundung der St. Petersburger Unterwelt ganz schwierig geworden. Es ist schier unmöglich, sich nach Betriebsschluss noch unten in den Metrostationen aufzuhalten. Früher haben wir die Milizionäre und Sicherheitsleute der UBahn überlisten können. Heute ist die Bewachung einfach zu gut.
Venedig des Nordens« bezeichnet, da mehrere Kanäle und Flüsse die Stadt durchziehen.
Katakomben unter der Peter·und-Paui·Festung (Petropawlowskaja Kre· post) in St. Petersburg, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstand.
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Das verschollene Bernsteinzimmer In der russischen Exklave Kaliningrad, der ehemaligen ostpreußischen Hauptstadt Königsberg, sind Grabungen und Forschungen im Untergrund hingegen etwas Selbstverständliches. Seit Jahrzehnten wird unter der Stadt das Bernsteinzimmer vermutet. Zar Peter der Große brachte es 1716 aus Deutschland als Geschenk von Friedrich Wilhelm I. (1688-1740), dem legendären »SoldatenkönigTapete aus Bernstein Panorama der Schacht von Stalingrad
Fünf Kilometer westlich von dieser Kreuzung begann die 23. Schützendivision der Roten Armee ihren VorstoßPanorama der Schlacht von StalingradSprawka« (Bescheinigung) darüber, dass dort, wo sie damals wie heute wohnten bzw. wohnen, 1942/43 Kampfhandlungen stattgefunden ha50
ben. Durch ein kommunales Gesetz aus dem Jahr 2006 kommen sie dann in den Genuss von 200 Rubel (etwa sechs Euro) mehr Rente. Außerdem müssen sie nur 50 Prozent der Kommunalabgaben zahlen. Swetlana geht in ihrer Arbeit auf. Sie diskutiert mit ihren Gästen, die eigentlich nichts anderes wollen als einen Zettel mit einem Stempel, leidenschaftlich Fronrverläufe. Bei den Wohnorten der drei Männer war sie sich sicher, bei dem Wohnort der Frau nicht. Die >>Sprawka« bekamen alle. Mit Tränen der Freude in den Augen verließ schließlich auch die weißhaarige Rentnerin das Büro. Swetlana Argazewa harte mir am Telefon bestätigt, dass Zarizyn Anfang des 20. Jahrhunderts untertunnelt worden sei. Sie selbst sei vor vielen Jahren einmal unter Tage gewesen. Ein Zugang zum Tunnel gebe es am Ufer der Wolga, an den zweiten Zugang könne sie sich nur
Ein zweiter Tunnelzugang zum Kanalisationssystems, am Ufer der Wolga gelegen, ist inzwischen durch illegale Bauarbeiten zugeschüttet worden.
noch bruchstückhaft erinnern. Wir begannen gemeinsam mit der Suche nach diesem Eingang, der sich in der Nähe eines Bahndammes befinden sollte. Zwei Stunden lang umkreisten wir förmlich die vermutete Stelle hinter einer abgelegenen Garagensiedlung. Als wir schon aufgeben wollten, trafen wir auf ein obdachloses Paar, das sich nahe dem Bahndamm im Gestrüpp eine Art Waldhaus gebaut hatte. In ihrer unnachahmlichen Art sprach Swetlana die beiden gestikulierend an, erzählte, ohne sie zunächst auch nur zu Wort kommen zu lassen, von der architektonischen Beschaffenheit des Tunnels und davon, dass dort im Untergrund 1942/43 sogar ein Divisionsstab der Roten Armee sein Hauptquartier gehabt habe. Die beiden verwahrlosten Gestalten verstanden nicht viel von der Erzählung, beim Wort >>Tunnel> Investor « zur Rechenschaft gezogen werden würde. Resigniert bemerkte Swetlana: >>Dollarscheine in entsprechender Zahl haben eben eine größere Überzeugungskraft als manches Zeugnis unserer Geschichte.
Transsib