Plumpudding und Panettone Weihnachtsgeschichten aus aller Welt
Herausgegeben von Anne Spielmann
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Plumpudding und Panettone Weihnachtsgeschichten aus aller Welt
Herausgegeben von Anne Spielmann
Piper München Zürich
ISBN 3-492-11810-0 Originalausgabe November 1993
© R. Piper GmbH & Co. KG, München 1993 Umschlag: Federico Luci, unter Verwendung einer Illustration von D. Ebert Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany
Moderne Weihnachtsgeschichten aus aller Welt: Sie berühren, stimmen nachdenklich, gerade weil sie das traditionelle, glitzernd-harmonisierende Bild des Christfestes in ein realistisches Licht rücken. Weihnachten in der Großstadt, Weihnachten ohne Familie – aber vielleicht mit Freunden –, Weihnachten vor den veränderten Bedingungen unserer Zeit: Die hier versammelten Autoren setzen sich kritisch und manchmal satirisch damit auseinander. Neben berühmten Namen wie Graham Greene, Vladimir Nabokov, William S. Burroughs, Truman Capote oder Italo Calvino stellt der Band auch bei uns weniger bekannte Autoren wie die Tschechin Božena Benešová vor. Anne Spielmann, geboren 1953 in Darmstadt, lebt als freie Lektorin in München.
Vladimir Nabokov Weihnachten
1 Nachdem er vom Dorf zurück durch die verdämmernden Schneefelder zu seinem Herrenhaus gegangen war, setzte sich Slepzow in eine Ecke auf einen plüschgeplosterten Stuhl, den jemals früher benutzt zu haben er sich nicht entsinnen konnte. Solche Sachen passieren nach großen Unglücksschlägen. Nicht der Bruder, sondern eine Zufallsbekanntschaft, ein entfernter Gutsnachbar, dem man nie viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, mit dem man in normalen Zeiten kaum ein Wort wechselt, tröstet einen weise und sanft und reicht einem den fallengelassenen Hut, wenn die Totenmesse vorüber ist und man vor Gram taumelt, einem die Zähne klappern und man vor Tränen nichts mehr sieht. Das gleiche läßt sich von unbelebten Gegenständen sagen. Jedes Zimmer, selbst das behaglichste oder winzigste im wenig benutzten Flügel eines großen Landhauses hat eine unbewohnte Ecke. Und eben in solch eine Ecke hatte sich Slepzow gesetzt. Der Hügel war durch eine hölzerne Galerie, die jetzt unter den Lasten unserer riesigen nordrussischen Schneewehen lag, mit dem Haupthaus verbunden, das nur im Sommer benutzt wurde. Es gab keine Notwendigkeit, es aufzuwecken, es zu heizen: Der Hausherr war nur für ein paar Tage aus Petersburg gekommen und hatte sich im Nebengebäude einquartiert, wo es keinen Aufwand machte, die Öfen aus weißglasierten Kacheln in Betrieb zu nehmen.
Der Herr saß in einer Ecke, auf seinem Plüschstuhl, wie im Wartezimmer eines Arztes. Das Zimmer verschwamm im Dunkel; das dichte Blau des frühen Abends sickerte durch den Filter kristallener Frostfedern auf der Fensterscheibe. Iwan, der ruhige, stattliche Diener, der sich vor kurzem seinen Schnurrbart abgenommen hatte und nun wie sein verstorbener Vater, der Familienbutler, aussah, brachte eine geputzte, vor Licht überfließende Petroleumlampe herein. Er stellte sie auf einen kleinen Tisch und schloß sie geräuschlos in den Käfig ihres roten Schirms. Einen Augenblick lang schienen in einem geneigt hängenden Spiegel sein beleuchtetes Ohr und sein kurzgeschorenes Haar auf. Dann zog er sich zurück, und die Tür knarrte gedämpft. Slepzow nahm seine Hand vom Knie und untersuchte sie langsam. Ein Tropfen Kerzenwachs war in der dünnen Hautfalte zwischen zwei Fingern festgeklebt und hart geworden. Er spreizte seine Finger, und die kleine, weiße Schuppe platzte.
2 Am folgenden Morgen, nach einer Nacht voller unsinniger, bruchstückhafter Träume ohne jede Beziehung zu seinem Gram, gab, als Slepzow auf die kalte Veranda trat, ein Bodenbrett einen fröhlichen Pistolenknall ab, und der Widerschein der bunten Scheiben formte paradiesische Rauten auf den geweißten kissenlosen Fenstersitzen. Die Außentür sperrte zunächst, öffnete sich aber dann mit wohligem Knirschen, und der blendende Frost traf sein Gesicht. Der rötliche Sand, den man vorsorglich auf das Eis gestreut hatte, welches die Stufen der Vorhalle überzog, ähnelte Zimt, und dicke, grünlichblau schimmernde Eiszapfen hingen von den
Traufen. Die Schneewehen reichten bis zu den Fenstern des Nebengebäudes hinauf und hielten den schmucken kleinen Holzbau fest in ihren eisigen Pranken. Wo im Sommer Blumenbeete waren, waren leicht über die Höhe des Schnees vor der Veranda angeschwollene cremeweiße Hügel, und weiter entfernt stand in strahlendem Glanz der Park, wo jedes schwarze Zweiglein in Silber gefaßt war und die Tannen ihre grünen Tatzen unter ihre helle, plumpe Last einzuziehen schienen. In hohen Filzstiefeln und einem kurzen, pelzgefütterten Mantel mit Karakulkragen ging Slepzow langsam einen geraden Pfad, den einzigen, der vom Schnee befreit war, entlang in die blendend ferne Landschaft hinein. Er wunderte sich, noch am Leben zu sein und den Glanz des Schnees wahrzunehmen und zu spüren, wie seine Zähne von der Kälte schmerzten. Er bemerkte sogar, daß ein schneebedeckter Busch einem Brunnen ähnelte und daß ein Hund eine Reihe safrangelber Spuren auf dem Hang einer Schneewehe hinterlassen hatte, die durch die Kruste hindurchgebrannt waren. Ein wenig weiter ragten die Tragebalken eines Stegs aus dem Schnee, und hier hielt Slepzow an. Voll Bitterkeit und Zorn stieß er die dicke, flauschige Decke vom Geländer. Er erinnerte sich lebhaft daran, wie diese Brücke im Sommer aussah. Hier kam sein Sohn gerade über die schlüpfrigen Planken, die mit Weidenkätzchen gefleckt waren, und fing mit seinem Netz geschickt einen Schmetterling, der sich auf dem Geländer niedergelassen hatte. Jetzt sieht der Junge seinen Vater. Auf immer verlorenes Lachen spielt auf seinem Gesicht unter der heruntergezogenen Krempe seines Strohhutes, der von der Sonne dunkel verbrannt ist; seine Hand spielt mit dem Kettchen des Lederbeutels, der an seinem Gürtel befestigt ist, seine lieben, glatten, sonnengebräunten Beine in ihren Sergeshorts und durchnäßten Sandalen nehmen ihre
gewöhnliche fröhliche, weitgespreizte Haltung ein. Vor kurzem erst, in Petersburg, nachdem er noch in seinem Delirium über die Schule, sein Fahrrad, irgendeinen großen orientalischen Nachtfalter gebrabbelt hatte, war er gestorben, und gestern hatte Slepzow den Sarg – schwer, wie es schien, von der Last eines ganzen Lebens – aufs Land überführt, in die Familiengruft bei der Dorfkirche. Es war so still, wie es nur an einem hellen Frosttag sein kann. Slepzow hob ein Bein, trat vom Pfad herunter und nahm -blaue Vertiefungen im Schnee hinterlassend – seinen Weg zwischen Stämmen erstaunlich weißer Bäume hin bis zu der Stelle, wo der Park zum Fluß abfiel. Tief unten funkelten Eisblöcke in der Nähe eines Loches, das in die glatte Fläche von Weiß geschnitten war, und auf dem gegenüberliegenden Ufer standen sehr gerade Säulen von rosa Rauch über den verschneiten Dächern von Holzhütten. Slepzow nahm seine Karakulmütze ab und lehnte sich gegen einen Baumstamm. Irgendwo weit weg spalteten Bauern Holz – jeder Schlag sprang widerhallend himmelwärts –, und jenseits des hellen Silberdunstes der Bäume, hoch über den kauernden Isbas, fing die Sonne den gleichmütigen Glanz des Kreuzes auf der Kirche.
3 Dorthin fuhr er nach dem Mittagessen, in einem alten Schlitten mit hoher, gerader Rückenlehne. Das Skrotum des schwarzen Hengstes klatschte laut in der frostigen Luft, die weißen Federn niedriger Zweige glitten über ihn hinweg, und von den Furchen weiter vorne ging ein silbrigblauer Schimmer aus. Als er angekommen war, saß er etwa eine Stunde beim Grab und ließ eine schwere, wollgeschützte Hand auf dem Eisen des
Geländers ruhen, das seine Hand durch die Wolle verbrannte. Er kam nach Haus mit einem leichten Gefühl von Enttäuschung, als ob er dort in der Grabesgruft weiter von seinem Sohn entfernt gewesen wäre als hier, wo die unzähligen Sommerspuren seiner flinken Sandalen unter dem Schnee erhalten waren. Am Abend ließ er, überwältigt von einem Anfall heftiger Traurigkeit, das Haupthaus öffnen. Als die Tür mit einem gewichtigen Wimmern aufschwang und ein Hauch von besonderer, unwinterlicher Kühle aus dem widerhallenden, eisenvergitterten Vestibül kam, nahm Slepzow die Lampe mit ihrem Blechreflektor aus der Hand des Wächters und betrat das Haus allein. Der Parkettboden knarrte unheimlich unter seinem Schritt. Zimmer nach Zimmer füllte sich mit gelbem Licht, und die Möbel unter ihren Leichentüchern kamen ihm unbekannt vor; anstatt des klirrenden Chandeliers hing ein lautloser Beutel von der Decke, und Slepzows enormer Schatten, der langsam einen Arm ausstreckte, floß über die Wand und über die grauen Vierecke verhängter Gemälde. Er ging in den Raum, der im Sommer das Studierzimmer seines Sohnes gewesen war, stellte die Lampe auf den Fenstersims und öffnete – sich dabei die Fingernägel brechend – die Flügelläden, obwohl es doch draußen schon ganz dunkel war. In dem blauen Glas erschien die gelbe Flamme der leicht rauchigen Lampe, und für einen Augenblick war sein großes, bärtiges Gesicht sichtbar. Er setzte sich am kahlen Schreibtisch nieder und musterte streng unter gesenkter Stirn hervor die fahle Tapete mit ihren Girlanden bläulicher Rosen; einen schmalen, büroartigen Kabinettschrank mit Schubladen von oben bis unten; die Couch und die Sessel unter ihren Schutzhüllen; und plötzlich ließ er den Kopf auf das Pult fallen und begann zu zittern,
heftig, geräuschvoll, preßte zuerst seine Lippen, dann seine feuchte Wange gegen das kalte staubige Holz, dessen jenseitige Ecken er krampfhaft festhielt. Im Pult fand er ein Notizbuch, Spannbretter, Vorräte schwarzer Stecknadeln, und eine englische Keksdose enthielt einen großen, exotischen Kokon, der drei Rubel gekostet hatte. Sein Sohn hatte sich während seiner Krankheit daran erinnert, hatte bedauert, daß er ihn zurückgelassen hatte, hatte sich aber mit dem Gedanken getröstet, daß die Puppe im Innern wahrscheinlich tot war. Er fand außerdem ein zerrissenes Netz: einen Tarlatanbeutel an einem zusammenlegbaren Ring (und das Musselin roch noch nach Sommer und sonnenheißem Gras). Dann bückte er sich tiefer und tiefer, schluchzte mit seinem ganzen Körper und begann, eine nach der anderen die glasbedeckten Laden des Kabinettschrankes herauszuziehen. Im trüben Lampenlicht leuchteten die ebenmäßigen Reihen der Spezimina seidenartig unter dem Glas auf. Hier, in diesem Zimmer, auf ebendiesem Pult, hatte sein Sohn die Flügel seiner Beutetiere gespannt. Zunächst befestigte er das sorgfältig getötete Insekt mit einer Nadel in der korkbelegten Vertiefung des Spannbrettes zwischen den verstellbaren Holzschienen, dann heftete er die noch frischen, weichen Flügel mit festgesteckten Papierstreifen flach an. Nun waren sie längst getrocknet und in den Kabinettschrank überführt worden – die spektakulären Schwalbenschwänze, die blendenden Bläulinge und Feuerfalter und die verschiedenen Fritillarien, von denen einige in Rückenlage befestigt waren, um ihre perlmutternen Unterseiten zur Schau zu stellen. Sein Sohn pflegte ihre lateinischen Namen mit einem Stöhnen des Triumphs oder in einem schelmischen Nebenhin der Verachtung auszusprechen. Und die Nachtfalter, die Nachtfalter, der erste Espenschwärmer vor fünf Sommern!
4 Die Nacht war rauchblau und mondhell; dünne Wolken waren über den Himmel verstreut, den feinen, eisigen Mond berührten sie jedoch nicht. Die Bäume, Massen grauen Frostes, warfen dunkle Schatten auf die Schneewehen, die hier und da in metallischen Funken glitzerten. Im plüschgepolsterten, gutgeheizten Zimmer des Anbaus hatte Iwan einen zwei Fuß hohen Tannenbaum in einem Tontopf auf den Tisch gestellt und war gerade dabei, eine Kerze an der kreuzförmigen Spitze zu befestigen, als Slepzow aus dem Haupthaus zurückkam, durchfroren, mit geröteten Augen und grauverschmiertem Staub auf seiner Wange und einem hölzernen Kasten unter dem Arm. Als er den Weihnachtsbaum auf dem Tisch sah, fragte er abwesend: »Was ist das?« Iwan nahm ihm den Kasten ab und antwortete mit leiser, weicher Stimme: »Es ist doch Feiertag morgen.« »Nein, nimm ihn weg«, sagte Slepzow und runzelte die Stirn, während er dachte: »Sollte es wirklich Weihnachtsabend sein! Wie konnte ich das vergessen?« Iwan beharrte sanft: »Er ist hübsch und grün. Lassen Sie ihn eine Weile stehen.« »Bitte, nimm ihn weg«, wiederholte Slepzow und beugte sich über den Kasten, den er mitgebracht hatte. Er hatte darin die Habseligkeiten seines Sohnes gesammelt – das zusammenlegbare Schmetterlingsnetz, die Keksdose mit dem birnenförmigen Kokon, die Nadeln in ihrer lackierten Büchse, das blaue Notizbuch. Die Hälfte der ersten Seite war herausgerissen, und das übriggebliebene Fragment enthielt einen Teil eines französischen Diktats. Dann kamen tägliche
Eintragungen, Namen gefangener Schmetterlinge und andere Notizen: »Bin bis Borowitschij durchs Moor gegangen…« »Regnet heute. Spielte mit Vater Dame und las dann Gontscharows Fregatte, von tödlicher Langeweile.« »Herrlich heißer Tag. Fuhr am Abend mit dem Rad. Eine Mücke flog mir ins Auge. Fuhr absichtlich zweimal an ihrer Datscha vorbei, sah sie aber nicht…« Slepzow hob den Kopf, schluckte etwas Heißes, Riesiges. Von wem schrieb sein Sohn? »Fuhr wie gewöhnlich mit dem Fahrrad«, las er weiter. »Unsere Augen trafen sich beinahe, mein Schatz, mein Liebling…« »Das ist nicht auszudenken«, flüsterte Slepzow. »Ich werde nie wissen…« Er neigte sich wieder vor und entzifferte gierig die kindliche Handschrift, die aufwärts lief, um dann am Rand nach unten abzufallen. »Heute ein frisches Exemplar des Trauermantels gesehen. Das heißt, der Herbst ist da. Regen am Abend. Sie ist wahrscheinlich abgereist, und wir haben uns noch nicht einmal kennengelernt. Leb wohl, mein Liebling. Ich fühle mich schrecklich traurig…« »Er hat mir nie etwas erzählt…« Slepzow versuchte sich zu erinnern und rieb sich die Stirn mit der Handfläche. Auf der letzten Seite war eine Federzeichnung: die Hinteransicht eines Elefanten – zwei dicke Säulen, die Ränder zweier Ohren und ein winziger Schwanz. Slepzow stand auf. Er schüttelte seinen Kopf und unterdrückte ein neues Aufwallen häßlicher Schluchzer. »Ich – kann – das – nicht – länger – aushalten«, kam seine Stimme stockend unter Stöhnen und wiederholte sogar noch langsamer: »Ich – kann – das – nicht – länger – aushalten…«
»Es ist Weihnachten morgen«, fiel ihm plötzlich wieder ein, »und ich werde sterben. Natürlich. Das ist so einfach. Noch heute nacht…« Er zog ein Taschentuch heraus und trocknete sich die Augen, Bart und Wangen. Dunkle Streifen blieben auf dem Tuch. »…Tod«, sagte Slepzow leise, als ob er einen langen Satz abschlösse. Die Uhr tickte. Frostmuster überlappten sich auf dem blauen Glas des Fensters. Das offene Notizbuch leuchtete strahlend auf dem Tisch, daneben fiel das Licht durch den Musselin des Schmetterlingsnetzes und gleißte auf einer Kante der offenen Dose. Slepzow preßte seine Augen zu und hatte das flüchtige Gefühl, daß das irdische Leben vor ihm läge, vollkommen bloßgelegt und verständlich – und grausig in seiner Traurigkeit, erniedrigend sinnlos, fruchtlos, bar aller Wunder… Da, in diesem Augenblick, ertönte ein Schnappgeräusch -ein dünner Laut, wie wenn ein überdehntes Gummiband reißt. Slepzow öffnete die Augen. Der Kokon in der Keksdose war an seiner Spitze geplatzt, und ein schwarzes, gerunzeltes Wesen von der Größe einer Maus kroch die Wand über dem Tisch hoch. Es hielt inne, klammerte sich mit sechs schwarzen, pelzigen Füßen an die Oberfläche und begann seltsam zu beben. Es war aus der Puppe gebrochen, weil ein von Gram überwältigter Mann eine Blechdose in sein Zimmer gebracht hatte, und die Wärme hatte die stramme Blatt-und-SeideUmhüllung durchdrungen; es hatte so lange auf diesen Moment gewartet, hatte voller Spannung seine Kräfte gesammelt, und nun, nachdem es ausgeschlüpft war, dehnte es sich langsam und wunderbar. Nach und nach entfalteten sich die runzligen Gewebe, die samtenen Randwimpern, das fächergefältelte Geäder festigte sich, als es sich mit Luft füllte. Unmerklich wurde es zu einem geflügelten Ding, so wie ein
reifer werdendes Gesicht unmerklich schön wird. Und seine Flügel – immer noch schwach, immer noch feucht – wuchsen und entfalteten sich weiter, und jetzt hatten sie sich bis zu jener Grenze entwickelt, die ihnen von Gott gesetzt war, und dort auf der Wand war anstelle eines kleinen, lebenden Klumpens, anstelle einer dunklen Maus ein großer Atlasspinner wie jene, die in der indischen Dämmerung vogelgleich die Lampen umfliegen. Und dann taten diese dicken schwarzen Flügel mit ihren glasigen Augenflecken und ihrem purpurnen Flaum, der die gezackten Frontenden überstäubte, einen tiefen Atemzug unter dem Drang eines zärtlichen, hinreißenden, beinahe menschlichen Glücksgefühls.
Miguel Delibes »Und jetzt? Haben wir jetzt Weihnachtsstimmung oder nicht?«
»Sie hat das Jesuskind nie so hingelegt«, sagte Chelo, als sie sich zu Tisch setzte. »Das ist doch gleich; leg es anders hin. Ich habe es nicht einmal gemerkt.« Cati strich sich mit den Händen über ihre heißen Wangen. »Setzt euch«, sagte sie. Raul und Tomas redeten miteinander beim Kamin. Chelo sagte: »Aber Cati, das ist doch gleich. Es kommt nur darauf an, daß das Jesuskind den Ehrenplatz hat, nicht wahr?« Der Stuhl ächzte, als Raul oben am Tisch Platz nahm. Am unteren Ende begann Elvi zu lachen. »Du solltest besser aufpassen mit dem Essen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wohin das noch führen wird.« Da bemerkte Frutos: »Warum haben wir eigentlich kein Kaminfeuer wie letztes Jahr?« Catis Stimme zitterte ein wenig: »Ich fand es nicht so kalt.« Sie hob die schmächtigen Schultern, als wollte sie sich entschuldigen: »Ich weiß nicht…« »Sprich das Gebet«, sagte Toña. Rauls Stimme oben am Tisch dröhnte hohl und mächtig wie der Widerhall eines Donners: »Am Donnerstag habe ich mich gewogen und habe abgenommen, damit du’s nur weißt. Reich mir den Wein herüber, Chelo, bitte schön.« Cati warf ein: »Wenn ihr wollt, mache ich Feuer.«
Ein allgemeines Nein war die Antwort; ein geräuschvolles Nein-Durcheinander. »Sprichst du das Gebet nicht?« fragte Toña. Und Frutos erklärte: »Ich meine nur wegen der Stimmung; kalt ist es nicht.« Cati senkte leicht den Kopf und murmelte: »Herr, gib allen Brot, die Hunger haben, und allen Hunger, die Brot haben.« Als sie geendet hatte, bekreuzigte sie sich. Elvi meinte: »Was für ein originelles Gebet, Cati! Sie hat nie so gebetet.« Rodrigo schaute verstohlen nach links hinüber, zu Cati: »Ich finde es seltsam, sie nicht hier neben mir zu sehen, wie in früheren Jahren.« Tomas, Raul und Frutos redeten davon, wie günstig in den großen Städten ein Seat 600 sei. Und Raul meinte: »Auf langen Fahrten macht er müde. Für die Stadt ist er ideal.« Chelos Augen waren feucht, als sie sagte: »Erinnert ihr euch noch an letztes Jahr! Sie ahnte es voraus! ›Wer weiß, ob es nicht die letzte Weihnacht ist, die wir zusammen verbringen‹, sagte sie. Erinnert ihr euch nicht?« Beklommen schwiegen alle; man hörte nur das Besteck auf den Tellern klappern. Plötzlich platzte Raul heraus: »Seit zwanzig Jahren sagte sie dasselbe. Einmal mußte es ja sein. So ist das Leben, oder nicht?« Cati räusperte sich: »Dieses Gebet habe ich von Pfarrer Martin. Es ist schlicht und schön.« »Ich fahre ohnehin nicht gern schnell, darum ist es mir einerlei, ob der Wagen groß oder klein ist«, sagte Tomas laut. Elvi rümpfte jedesmal ihr spitzes Näschen, wenn sie sich zu reden anschickte: »Raul hat Brot, aber er täte gut daran, Gott zu bitten, daß er ihm keinen Hunger gibt. Sonst weiß ich nicht, wohin das noch führen wird.«
Elena reichte die Schüsseln um den Tisch. Und wenn Elvi zu sprechen anfing, mischte sich ihr ungezwungenes Lachen in die allgemeine Fröhlichkeit. »Nein, danke schön, ich habe genug«, sagte Frutos mit einer knappen Handbewegung. Rodrigo wehrte auch ab. Nachher sagte er: »Sie kochte den Rotkohl anders. Ich weiß nicht genau, woran es liegt, aber er war anders.« Raul wandte sich an Tomas: »Nun gut, aber so sag mir doch, wie viele Kilometer du machst.« »Ohne Kaminfeuer kommt es mir gar nicht wie Heiliger Abend vor, im Ernst«, sagte Frutos. »Es liegt nicht am Kaminfeuer«, platzte Toña dazwischen. Cati neigte sich zu Rodrigo hinüber: »Er ist mit etwas Knoblauch angedämpft, genau wie sie ihn immer kochte.« Elvi rümpfte das Näschen: »Ich denke immer noch an dein Gebet, Cati. Es ist wirklich originell. Aber ich finde es falsch. Um die Sache mit denen, die Hunger leiden, und denen, die keinen Hunger leiden, ins reine zu bringen, scheint es mir nicht nötig, Gott zu belästigen. Es wäre einfacher, denen, die Brot und keinen Hunger haben, zu sagen, daß sie ihr überflüssiges Brot denen geben, die Hunger leiden und kein Brot haben. Auf diese Weise wäre allen geholfen, meint ihr nicht auch?« Tomas warf ein wenig gereizt ein: »Mir kommt es überhaupt nicht auf die Kilometerzahl an. Ich habe kein Bedürfnis, schnell zu fahren, und auf der Strecke ist mir ein Sechshundert genauso recht wie ein ›Mercedes‹; nur das will ich sagen.« »Mir kommt es überhaupt nicht wie Heiliger Abend vor«, sagte Frutos, nachdem er aufmerksam das ganze Zimmer gemustert hatte. »Hier fehlt einfach etwas.« Chelo kniff die Augen zusammen und schaute zu Cati hinüber: »Liebe Cati«, sagte sie, »wenn ich dich so mit halb geschlossenen Augen anschaue, schwarz angezogen, meine ich immer noch, sie sitze hier«, sie neigte sich zu Raul hinüber:
»Raul«, fügte sie hinzu, »mach die Augen halb zu, so, und schau zu Cati hinüber. Nicht wahr, sie erinnert dich an sie?« Cati versuchte einen Bissen hinunterzuwürgen. Toña versuchte einen Bissen hinunterzuwürgen. Raul versuchte einen Bissen hinunterzuwürgen. Schließlich kniff er die Augen zu und sagte: »Ja, vielleicht ist da eine gewisse Ähnlichkeit.« Rodrigo durchkreuzte das Gespräch und wandte sich an Frutos: »Hör doch endlich auf mit der ›Weihnachtsstimmung‹. Es ist nicht die Weihnachtsstimmung. Es ist der Rotkohl; und auch der Brassen. Dieses Jahr schmeckt beides anders.« Frutos zog die Augenbrauen hoch: »Ich weiß nicht, was es ist, aber mir kommt es heute nicht wie Weihnachten vor.« Cati löste nervös und unglaublich behende das Fleisch von ihrem Truthahnflügel. Dann führte sie mit der Gabel winzig kleine Stücke zum Munde. Raul sagte: »Reich mir, bitte, den Wein herüber, Chelo.« Chelo reichte ihm die Flasche. Plötzlich stand sie auf, drehte wortlos das Jesuskind rechtwinklig zur Tischlänge, mit dem Gesicht zu Cati: »Und so?« Elvi meinte: »Gebt euch keine Mühe. Catis seltsames Gebet hat alles verdorben.« Da schrie Toña: »Es ist nicht das Gebet!« »Nun, so tut doch nicht so. Es ist viel gescheiter, noch ein wenig zu trinken«, fiel Raul ein, »die Stimmung kommt von innen.« Und er schenkte ringsum ein. Frutos stand auf und zog eine Schachtel Zündhölzer aus der Tasche: »Warte einen Augenblick«, sagte er. »Habt ihr ein Stück Papier?« Er ging zum Kamin hinüber. Chelo wandte sich an Toña: »Toña, mach bitte die Augen halb zu, so, und schau zu Cati hinüber.« »Laß mich«, gab Toña zurück.
Im Kamin züngelten die Flammen auf. Frutos richtete sich auf, eine Hand auf dem Rücken. Die Augen immer noch auf das Feuer geheftet, rief er laut: »Das ist etwas anderes, nicht wahr?« Und Chelo fügte bei: »Ich weiß nicht, vielleicht, weil wir in Trauer sind oder weil…« Frutos trat zurück und schaute unverwandt in die Flammen: »Und jetzt? Haben wir jetzt Weihnachtsstimmung oder nicht?« Lange sprach niemand ein Wort. Endlich brach Rodrigo das Schweigen und erkundigte sich bei Cati: »Hast du den Truthahn mit Äpfeln gefüllt?« »Ja, natürlich.« Rodrigo zuckte kaum merklich die Achseln. Frutos rückte seinen Stuhl weg und setzte sich wieder. Er schaute immer noch ins Kaminfeuer. Gereizt wandte Toña ein: »Gib dir keine Mühe; es ist nicht das Feuer.« Und Elvi rümpfte ihr Näschen: »Cati, wenn du versuchen wolltest, ein anderes Gebet zu sprechen, vielleicht…« Man hörte ein unterdrücktes Schluchzen. Raul stellte jäh sein Glas auf den Tisch: »Das hat uns noch gefehlt. Jetzt fängt das dumme Ding womöglich noch an zu weinen? Cati, Kind, darf man wissen, was dir fehlt?«
William S. Burroughs Das Weihnachtsfest des Fixers
Es war der erste Weihnachtsfeiertag, und Danny der Autoputzer stand nach zweiundsiebzig Stunden im Bezirksgefängnis vom Entzug gebeutelt und pleite wieder auf der Straße. Es war ein klarer, sonniger, kalter Tag. Danny zitterte vor innerlicher Kälte. Er schlug den Kragen seines fadenscheinigen, speckigen schwarzen Mantels hoch. Die Gegend hier gibt keinen halben Dollar her, dachte er. Er war in den Neunzigern – Westseite. Ein langer Block aus Brownstonehäusern mit billigen Pensionen. Hier und da ein Tannenzweiggebinde in einem sauber geputzten schwarzen Fenster. Dannys Sinne registrierten alles scharf und klar, mit der schmerzhaften Intensität des Entzugs. Das Licht tat seinen geweiteten Pupillen weh. Er kam an einem Wagen vorbei, und seine blaßblauen Augen wanderten seitwärts über den Inhalt dahin, um ihn abzuschätzen. Ein Päckchen lag auf dem Sitz, und das seitliche Kippfenster war nicht verriegelt. Danny ging auf Zehenspitzen – wie auf zehn Füßen. Er schnalzte mit den Fingern und spielte die Pantomime des Sich-plötzlich-an-etwas-Erinnerns und fuhr herum. Niemand in Sicht. Ein schlechter Moment, stellte er fest. Da die Straße leer ist, falle ich doppelt auf. Muß schnell machen. Er streckte die Hand nach dem Kippfenster aus. Eine Tür hinter ihm ging auf. Danny zog einen Putzlappen heraus und begann die Fenster des Wagens zu polieren. Er fühlte, daß der Mann hinter ihm stand.
»Was machen Sie’n da?« Danny drehte sich um und tat überrascht. »Ich dachte nur, Ihre Autofenster könnten das gebrauchen, Mister.« Der Mann hatte ein Froschgesicht und einen Südstaatenakzent. Er trug einen Kamelhaarmantel. »Mein Wagen braucht gar nichts und auch nicht, daß einer was draus klaut.« Danny glitt zur Seite, als der Mann ihn packen wollte. »Ich wollte nix stehlen, Mister. Ich bin auch aus’m Süden. Aus Florida – « »Verdammter Dieb, Kriecher!« Danny machte, daß er wegkam, und dann um eine Ecke. Die Gegend ist zu heiß. Dieser Bauer kriegt es fertig und ruft die Schmiere. Er ging fünfzehn Blocks weit. Der Schweiß lief ihm den Körper herunter. Die Lungen taten ihm weg. Seine Lippen über den gelben Zähnen verzerrten sich zu einem verzweifelten Fletschen. Ich muß unbedingt was auftreiben. Wenn ich bloß anständige Klamotten hätte… Danny sah einen Koffer in einem Hauseingang stehen. Gutes Leder. Er blieb stehen und tat, als suche er nach einer Zigarette. Komisch, dachte er. Kein Schwein zu sehen. Vielleicht noch im Haus und telefoniert nach einem Taxi. Die Straßenecke war nur ein paar Häuser entfernt. Danny holte tief Luft und hob den Koffer auf. Er schaffte es bis zur Ecke. Den Blick hinunter, wieder um die Ecke. Der Koffer war schwer. Ich habe hier schon meinen Druck, dachte er. Vielleicht reicht es für ein Sechzehntel und ein Zimmer. Danny zitterte und zuckte, er fühlte ein warmes Zimmer und Heroin, das in seine Vene floß. Schaun wir mal kurz rein.
Er betrat den Morningside Park. Niemand in Sicht. Jesus, ich hab die Stadt noch nie so leer gesehen. Er öffnete den Koffer. Zwei lange Pakete, eingewickelt in braunes Packpapier. Er nahm eins heraus. Es fühlte sich wie Fleisch an. Er riß das Paket am einen Ende auf, zum Vorschein kam der nackte Fuß einer Frau. Die Zehennägel waren purpurrot lackiert. Angeekelt ließ er das Bein fallen. »Heiliger Jesus!« rief er. »Auf was für Ideen die Leute heute kommen. Beine! Na, ich habe wenigstens einen Koffer.« Er kippte das andere Bein heraus. Keine Blutflecken. Er ließ die Schlösser zuschnappen und ging weg. »Beine!« murmelte er. Er fand den Käufer, der an einem Tisch in Jarrow’s Cafeteria saß. »Ich dachte, du machst heute mal Urlaub«, sagte Danny und stellte den Koffer hin. Der Käufer schüttelte traurig den Kopf. »Ich hab’ ja niemanden. Ein trauriges Weihnachtsfest.« Seine Augen wanderten prüfend über den Koffer, suchten nach Fehlern. »Was ist drin?« »Nichts.« »Wieso, was soll das? Zahl’ ich nicht genug?« »Ich sage doch, es war nichts drin.« »Okay. Also verreist jemand mit einem leeren Koffer. Okay.« Er hielt drei Finger hoch. »Um Himmels willen, Gimpy, gib mir’n Fünfer.« »Du hast jemand andern. Warum gibt der dir nicht den Fünfer?« »Es ist so, wie ich sage. Der Koffer war leer.« Gimpy trat angewidert gegen den Koffer. »Er hat überall Kratzer. Und sieht so dreckig aus.« Er schnüffelte mißtrauisch. »Wieso stinkt er so? Mexikanisches Leder?« »Bin ich vielleicht Lederwarenhändler?«
Gimpy zuckte die Achseln. »Könnte sein.« Er zog eine Rolle mit Geldscheinen hervor, blätterte drei herunter und ließ sie auf den Tisch fallen, hinter den Serviettenspender. »Willst du?« »Okay.« Danny hob das Geld auf. »Hast du George den Griechen gesehen?« »Wo lebst du denn, aufm Mond? Den haben sie vor zwei Tagen mitgenommen.« »Oh… das ist schlecht.« Danny ging hinaus. Wo kriege ich jetzt was her? dachte er. George der Grieche war so lange dagewesen, daß Danny fest mit ihm gerechnet hatte. Sein H war gut und immer korrekt abgewogen. Danny ging zur 103. Straße Ecke Broadway. Keiner in Jarrow’s. Keiner im Automatenrestaurant. »Na klar«, feixte er. »Alle Pusher liegen irgendwo im Bett und pennen. Was kümmert die, wie es anderen Leuten geht? Solange sie ihre Dröhnung in die Vene kriegen. Was kümmert die ein Junkie auf Entzug?« Er wischte sich die Nase mit dem Finger und sah sich verstohlen um. Es in Hadern zu versuchen, hat keinen Zweck. Die nehmen mir bloß mein Geld ab oder geben mir Rattengift. Vielleicht treffe ich Pantopon-Rose, Eighth Avenue Ecke 23. Straße. Im Thompson’s in der 23. Straße war niemand, den er kannte. Jesus, dachte er. Wo sind die bloß alle? Er hielt mit der einen Hand die Ecken seines Mantelkragens zusammen und sah die Straße hinauf und dann hinunter. Da ist ja Joey aus Brooklyn. Den Hut würde ich überall wiedererkennen. »Joey. Heh, Joey!« Joey wandte ihm den Rücken zu, er ging weg. Und dann drehte er sich um. Sein Gesicht war eingefallen wie ein
Totenschädel. Die grauen Augen funkelten unter einem speckigen Filzhut. Joey zog ständig die Nase hoch, und in seinen Augen standen Tränen. Hat keinen Sinn, ihn zu fragen, dachte Danny. Sie sahen einander mit dem Haß der Enttäuschung an. »Nehme an, du hast von George dem Griechen gehört«, sagte Danny. »Ja, hab’ ich gehört. Warst du an der Hundertdritten?« »Ja. Da komme ich gerade her. Keiner da.« »Es ist nirgendwo einer«, sagte Joey. »Ich hab’ nicht mal Tabletten auftreiben können.« »Na, dann frohe Weihnachten, Joey. Mach’s gut.« »Ja. Du auch.« Danny ging sehr schnell. Ihm war ein Quacksalber in der 18. Straße eingefallen. Der Quacksalber hatte ihm natürlich eingeschärft, er solle ja nicht wiederkommen. Trotzdem, es war einen Versuch wert. Ein Brownstonehaus mit einer Karte im Fenster. Dr. med P. H. Zunniga. Danny läutete. Er hörte schleppende Schritte näherkommen. Die Tür wurde geöffnet, und der Arzt sah Danny mit blutig verfärbten Augen an. Er schwankte leicht hin und her und lehnte seinen schweren Körper gegen den Türpfosten. Sein Gesicht war glatt, ein Latino, kleiner, schlaffer roter Mund. Er sagte nichts. Er stand nur einfach an den Pfosten gelehnt da und sah Danny an. Verdammter Alkoholiker, dachte Danny. Er lächelte. »Frohe Weihnachten, Doc.« Der Arzt antwortete nicht. »Sie erinnern sich an mich, Doc.« Danny versuchte, an dem Arzt vorbei ins Haus zu kommen. »Tut mir leid, Sie am Weihnachtsfeiertag zu belästigen, aber ich habe wieder einen Anfall gehabt.« »Anfall?«
»Ja, Gesichtsneuralgie.« Danny verzerrte die eine Hälfte seines Gesichts zu einer schrecklichen Grimasse. Der Arzt wich etwas zurück, und Danny drängte sich in den dunklen Hausflur. »Wir schließen lieber mal die Tür, oder Sie erkälten sich«, sagte er jovial und drückte die Tür ins Schloß. Der Arzt sah ihn an, betrachtete ihn prüfend. »Ich kann Ihnen kein Rezept ausstellen«, sagte er. »Aber Doktor, ich bin krank, wirklich. Ein dringender Notfall, verstehen Sie.« »Kein Rezept. Unmöglich. Ich würde mich strafbar machen.« »Sie haben einen Eid geleistet, Doktor. Ich habe fürchterliche Schmerzen.« Dannys Stimme erhob sich jäh zu einem hysterisch-krächzenden Gegreine. Der Arzt zuckte zusammen und strich sich über die Stirn. »Lassen Sie mich mal überlegen. Ich kann Ihnen eine Tablette geben, sechzehn Milligramm. Das ist alles, was ich im Haus habe.« »Aber Doktor – sechzehn Milligramm…« Der Arzt unterbrach ihn: »Wenn Sie wirklich krank sind, brauchen Sie nicht mehr. Wenn nicht, will ich mit Ihnen nichts zu tun haben. Warten Sie hier.« Der Arzt wankte den Korridor hinunter und hinterließ eine Alkoholfahne. Er kam wieder und ließ eine Tablette in Dannys Hand fallen. Danny wickelte die Tablette in ein Stück Papier und steckte sie weg. »Das kostet nichts.« Der Arzt legte die Hand auf den Türknauf. »Und jetzt, mein Lieber…« »Aber Doc – können Sie es mir nicht injizieren?« »Nein. Die Wirkung hält länger an, wenn Sie es oral einnehmen. Bitte kommen Sie nicht wieder her.« Der Arzt öffnete die Tür.
Na ja, damit gehen wenigstens die Schmerzen weg, und ich habe immer noch eine Anzahlung für ein Zimmer, dachte Danny. Er kannte eine Apotheke, in der sie Nadeln verkauften, ohne zu fragen. Er kaufte eine 26er Insulinnadel und einen Augentropfer, den er sorgfältig auswählte. Tropfer mit gebogener Pipette oder breiter Spitze kamen nicht in Frage. Schließlich nahm er noch einen Babyschnuller, den er statt des Gummikolbens verwenden wollte. Er ging ins Automatenrestaurant und stahl einen Teelöffel. Danny zahlte zwei Dollar für ein Zimmer an, das sechs Dollar in der Woche kostete, es lag in den West-Vierzigern, er kannte den Besitzer. Er verriegelte die Tür hinter sich und legte Löffel, Nadel und Tropfer auf den Tisch neben dem Bett. Er legte die Tablette in die Löffelmulde und tropfte Wasser darauf. Er hielt ein brennendes Streichholz unter den Löffel, bis die Tablette sich auflöste. Er riß einen Streifen Papier ab, feuchtete ihn an und wickelte ihn um das Ende des Tropfers, steckte die Nadel darauf, das feuchte Papier darunter machte die Verbindung luftdicht. Er ließ ein Stückchen Watte, das er aus der Tasche nahm, in den Löffel fallen und zog die Flüssigkeit durch die Nadel in den Tropfer, drückte dann die Nadel in die Watte, um den letzten Tropfen aufzusaugen. Dannys Hände zitterten vor Erregung, und er atmete schnell. Nun, da die Spritze fertig war, brach seine Abwehr zusammen und die Übelkeit des Entzugs überkam ihn. Seine Beine fingen an zu zittern und zu schmerzen. Sein Magen verkrampfte sich. Tränen liefen ihm aus den brennenden, schmerzenden Augen über das Gesicht. Er band sich den rechten Arm mit einem Taschentuch ab, und hielt den Zipfel mit den Zähnen fest. Er zerrte das Taschentuch fest und begann den Arm zu massieren, um eine Vene herauszubringen.
Ich glaube, in die da komme ich rein, dachte Danny und strich mit den Fingern über eine Vene. Er nahm den Tropfer mit der linken Hand auf. Danny hörte ein Stöhnen im Zimmer nebenan. Er runzelte ärgerlich die Stirn. Wieder ein Stöhnen. Er horchte, konnte nicht anders. Er ging durchs Zimmer, den Tropfer in der Hand, und legte das Ohr an die Wand. Das Stöhnen kam in regelmäßigen Intervallen, ein schrecklicher, unmenschlicher Laut, der vom Magen her ausgestoßen wurde. Danny hörte eine ganze Minute lang zu. Er ging zum Bett zurück und setzte sich hin. Weshalb ruft keiner einen Arzt? dachte er ungehalten. Das bringt mich runter. Er streckte den Arm und hielt die Nadel in der Schwebe. Er neigte den Kopf vornüber, horchte wieder. Also, um Himmels willen! Er riß das Taschentuch ab und legte den Tropfer in ein Wasserglas, das er hinter dem Papierkorb versteckte. Er trat in den Gang hinaus und klopfte an die Tür des Nebenzimmers. Niemand antwortete. Das Stöhnen hörte nicht auf. Danny drehte den Türknopf. Die Tür war offen. Die Jalousie war hochgezogen, und das Zimmer war taghell. Er hatte einen alten Menschen erwartet, aber der Mann auf dem Bett war sehr jung, achtzehn oder zwanzig, vollständig bekleidet und lag zusammengekrümmt da, die Hände in den Leib verkrampft. »Was ist denn?« fragte Danny. Der Junge sah ihn an, in den Augen nichts als Schmerz. Schließlich brachte er ein einziges Wort heraus. »Nieren.« »Nierensteine?« Danny lächelte. »Ich meine, ich finde das nicht komisch, Junge. Ich habe nur… ich hab’s so oft vorgetäuscht. Jetzt sehe ich es zum erstenmal, in Wirklichkeit. Ich rufe einen Krankenwagen.«
Der Junge biß sich auf die Lippen. »Die kommen nicht. Da kommt kein Arzt.« Der Junge drückte das Gesicht ins Kissen. Danny nickte. »Die denken, das ist nur wieder so ein Fixer, der ein Riesentheater macht, um einen Druck zu ergaunern. Aber bei dir ist es echt. Vielleicht, wenn ich zum Krankenhaus laufe und die Sache erkläre… Nein, ich denke, das wäre nicht so gut.« »Ich wohne nicht hier«, sagte der Junge dumpf, das Gesicht im Kissen. »Sie sagen, ich bin nicht berechtigt.« »Ja, ich weiß, wie sie sind, die Bürokratenschweinehunde. Ich hatte mal einen Freund, der ist am Schlangenbiß verreckt – im Wartezimmer. Die haben ihm nicht mal zugehört, als er ihnen erklären wollte, daß ihn eine Schlange gebissen hatte. Er hatte einfach nicht genug Durchsetzungsvermögen. Das war vor fünfzehn Jahren, unten in Jacksonville…« Danny verstummte. Plötzlich streckte er seine magere, schmutzige Hand aus und berührte die Schulter des Jungen. »Es – es tut mir leid, Junge. Warte. Ich mache dir einen Schuß.« Er ging in sein Zimmer und holte den Tropfer und kehrte in das Zimmer des Jungen zurück. »Roll den Ärmel hoch, Junge.« Der Junge fummelte mit einer schlaffen Hand am Jackenärmel herum. »Schon gut. Ich mach’ das.« Danny knöpfte den Hemdärmel an der Manschette auf und schob das Hemd und die Jacke zurück, legte einen braunen Unterarm bloß. Danny zögerte, sah den Tropfer an. Schweiß lief ihm die Nase herunter. Der Junge sah zu, wie die Flüssigkeit ins Fleisch floß. Das Gesicht des Jungen entspannte sich nach und nach. Er setzte sich auf und lächelte. »Sagen Sie, das Zeug hilft wirklich«, sagte er. »Sind Sie Arzt, Mister?« »Nein, mein Junge.«
Der Junge legte sich hin und streckte sich aus. »Ich könnte jetzt sofort einschlafen. Ich habe die letzte Nacht kein Auge zugetan.« Seine Augen schlossen sich. Danny ging durchs Zimmer und zog die Jalousie herunter. Er kehrte in sein Zimmer zurück und schloß die Tür, ohne den Riegel vorzulegen. Er setzte sich aufs Bett und sah den leeren Tropfer an. Draußen dämmerte es. Dannys Körper schmerzte vom Entzug, aber es war jetzt ein dumpfer Schmerz, dumpf und hoffnungslos. Wie betäubt nahm er die Nadel vom Tropfer ab und wickelte sie in ein Stück Papier. Dann wickelte er die Nadel und den Tropfer zusammen ein. Er saß mit dem Päckchen in der Hand da. Wo kann ich das verstecken? überlegte er. Plötzlich spürte er, wie ein warmer Strom durch seine Adern schoß und dann in seinem Kopf in tausend goldene speed-balls zerplatzte. O Gott, dachte Danny. Ich muß mir den besten Druck meines Lebens gesetzt haben! Die vegetabilische Gelassenheit des Junk breitete sich in seinem Körper aus. Sein Gesicht wurde schlaff und friedlich, und sein Kopf fiel vornüber. Danny der Wagenputzer nickte ein.
Truman Capote Eine Weihnachtserinnerung
Stellt euch einen Morgen gegen Ende November vor! Das Heraufdämmern eines Wintermorgens vor mehr als zwanzig Jahren. Denkt euch die Küche eines weitläufigen alten Hauses in einem Landstädtchen. Ein großer schwarzer Kochherd bildet ihren wichtigsten Bestandteil, aber auch ein riesiger runder Tisch und ein Kamin sind da, vor dem zwei Schaukelstühle stehen. Und gerade heute begann der Kamin sein zur Jahreszeit passendes Lied anzustimmen. Eine Frau mit kurzgeschorenem weißem Haar steht am Küchenfenster. Sie trägt Tennisschuhe und einen formlosen grauen Sweater über einem sommerlichen Kattunkleid. Sie ist klein und behende wie eine Bantam-Henne, aber infolge einer langen Krankheit in ihrer Jugend sind ihre Schultern kläglich verkrümmt. Ihr Gesicht ist auffallend: dem Lincolns nicht unähnlich, ebenso zerklüftet und von Sonne und Wind gegerbt; aber es ist auch zart, von feinem Schnitt, und die Augen sind sherryfarben und scheu. »Oje«, ruft sie aus, daß die Fensterscheibe von ihrem Hauch beschlägt, »es ist Früchtekuchen-Wetter!« Der, zu dem sie spricht, bin ich. Ich bin sieben. Sie ist sechzig und noch etwas darüber. Wir sind Vetter und Base, zwar sehr entfernte, und leben zusammen seit – ach, solange ich denken kann. Es wohnen noch andere Leute im Haus, Verwandte; und obwohl sie Macht über uns haben und uns oft zum Weinen bringen, merken wir im großen und ganzen doch
nicht allzuviel von ihnen. Wir sind jeder des anderen bester Freund. Sie nennt mich Buddy, zum Andenken an einen Jungen, der früher mal ihr bester Freund war. Der andere Buddy starb in den achtziger Jahren, als sie noch ein Kind war. Sie ist noch immer ein Kind. »Ich wußte es, noch eh’ ich aus dem Bett stieg«, sagt sie und kehrt dem Fenster den Rücken. Ihre Augen leuchten zielbewußt. »Die Glocke auf dem Gericht hallte so kalt und klar. Und kein Vogel hat gesungen; sind vermutlich in wärmere Länder gezogen. O Buddy, hör auf, Biskuits zu futtern, und hol unser Wägelchen! Und hilf mir, meinen Hut suchen! Wir müssen dreißig Kuchen backen.« So ist es immer: Jedes Jahr im November dämmert ein Morgen herauf, und meine Freundin verkündet – wie um die diesjährige Weihnachtszeit feierlich zu eröffnen, die ihre Phantasie befeuert und die Glut ihres Herzens nährt -: »Es ist Früchtekuchen-Wetter! Hol unser Wägelchen! Hilf mir meinen Hut suchen!« Der Hut findet sich: ein Wagenrad aus Stroh, geschmückt mit Samtrosen, die in Luft und Licht verblaßten; er gehörte einmal einer eleganteren Verwandten. Zusammen ziehen wir unser Wägelchen, einen wackeligen Kinderwagen, aus dem Garten und zu einem Gehölz von Hickory-Nußbäumen. Das Wägelchen gehört mir, das heißt, es wurde für mich gekauft, als ich auf die Welt kam. Es ist aus Korbgeflecht, schon ziemlich aufgeräufelt, und die Räder schwanken wie die Beine eines Trunkenbolds. Doch ist es ein treuer Diener; im Frühling nehmen wir es mit in die Wälder und füllen es mit Blumen, Kräutern und wildem Farn für unsere Verandatöpfe; im Sommer häufen wir es voller Picknicksachen und Angelruten aus Zuckerrohr und lassen es zum Ufer eines Flüßchens hinunterrollen; auch im Winter findet es Verwendung: als Lastwagen, um Feuerholz vom Hof zur Küche zu befördern, und als warmes Bett für Queenie, unsern zähen kleinen rot-
weißen rattenfangenden Terrier, der die Staupe und zwei Klapperschlangenbisse überstanden hat. Queenie trippelt jetzt neben uns her. Drei Stunden darauf sind wir wieder in der Küche und entkernen eine gehäufte Wagenladung Hickory-Nüsse, die der Wind heruntergeweht hat. Vom Aufsammeln tut uns der Rücken weh: Wie schwer sie unter dem welken Laub und im frostfahlen, irreführenden Gras zu finden waren! (Die Haupternte war schon von den Eigentümern des Wäldchens – und das sind nicht wir – von den Bäumen geschüttelt und verkauft worden.) Krick-kräck! Ein lustiges Krachen, wie lauter Zwergen-Donnerschläge, wenn die Schalen zerbrechen und der goldene Hügel süßen, fetten, sahnefarbenen Nußfleisches in der Milchglasschüssel höher steigt. Queenie bettelt um einen Kosthappen, und hin und wieder gönnt meine Freundin ihr verstohlen ein Krümchen, wenn sie auch beteuert, daß wir’s nicht entbehren können. »Wir dürfen’s nicht, Buddy! Wenn wir mal damit anfangen, nimmt’s kein Ende. Und wir haben fast nicht genug. Für dreißig Früchtekuchen!« In der Küche dunkelt es. Die Dämmerung macht aus dem Fenster einen Spiegel: Unsre Spiegelbilder, wie wir beim Feuerschein vor dem Kamin arbeiten, mischen sich mit dem aufgehenden Mond. Endlich, als der Mond schon sehr hoch steht, werfen wir die letzte Nußschale in die Glut und sehen gemeinschaftlich seufzend zu, wie sie Feuer fängt. Das Wägelchen ist leer, die Schüssel ist bis zum Rande voller Nußkerne. Wir essen unser Abendbrot (kalte Biskuits, Brombeermus und Speck) und besprechen den nächsten Tag. Morgen beginnt der Teil der Arbeit, der mir am besten gefällt: das Einkaufen. Kandierte Kirschen und Zitronen, Ingwer und Vanille und Büchsen-Ananas aus Hawaii, Orangeat und Zitronat und Rosinen und Walnüsse und Whisky und, oh, was für eine
Unmenge Mehl und Butter, und so viele Eier und Gewürze und Aroma – jemine!, wir brauchen wohl gar ein Pony, um das Wägelchen nach Hause zu ziehen! Doch ehe die Einkäufe gemacht werden können, muß die Geldfrage gelöst werden. Wir haben beide keins, abgesehen von kläglichen Summen, mit denen uns die Leute aus dem Haus gelegentlich versehen (ein Zehner gilt schon als sehr viel Geld), oder von dem, was wir auf mancherlei Art selbst verdienen, indem wir einen Ramschverkauf veranstalten oder Eimer voll handgepflückter Brombeeren und Gläser mit hausgemachter Marmelade, mit Apfelgelee und Pfirsichkompott verkaufen oder für Begräbnisse und Trauungen Blumen pflücken. Mal haben wir auch bei einem nationalen Fußballtoto den neunundsiebzigsten Preis gewonnen, fünf Dollar! Nicht etwa, daß wir auch nur eine blasse Ahnung vom Fußball hätten! Es ist vielmehr so, daß wir einfach bei jedem Wettbewerb mitmachen, von dem wir hören. Augenblicklich richtet sich all unsre Hoffnung auf das große Preisausschreiben, bei dem man fünfzigtausend Dollar für den Namen einer neuen Kaffeesorte gewinnen kann (wir schlagen A. M.∗ vor, und nach einigem Zaudern – denn meine Freundin fand es möglicherweise frevelhaft – den Slogan A. M. = Amen!). Unser einziges wirklich einträgliches Unternehmen war, um die Wahrheit zu gestehen, das Unterhaltungs- und Monstrositäten-Kabinett, das wir vor zwei Jahren in einem Holzschuppen auf dem Hof eröffnet hatten. Die Unterhaltung lieferte ein Stereoptikon mit Ansichten aus Washington und New York, das uns eine Verwandte geliehen hatte, die dort gewesen war (als sie entdeckte, weshalb wir es geborgt hatten, wurde sie wütend); in der Monstrositäten-Abteilung hatten wir ein Küken mit drei Beinen, das eine von unsern eigenen Hennen ausgebrütet hatte. Jeder aus der ganzen Gegend wollte ∗
a. m = ante meridiem = vormittags
das Küken sehen. Wir verlangten von Erwachsenen einen Nickel und von Kindern zwei Cents und nahmen gute zwanzig Dollar ein, ehe das Kabinett infolge Ablebens seiner Hauptattraktion schließen mußte. Irgendwie jedoch sparen wir jedes Jahr unser Weihnachtsgeld zusammen, in einer Früchtekuchenkasse. Wir bewahren das Geld in einem Versteck auf: in einer alten, perlenbestickten Geldbörse unter einer losen Diele unter dem Estrich unter dem Nachttopf unter dem Bett meiner Freundin. Die Geldbörse wird selten aus dem sicheren Gewahrsam hervorgeholt, es sei denn, um eine Einlage zu machen oder, wie es jeden Samstag vorkommt, um etwas abzuheben; denn samstags darf ich zehn Cents haben, um ins Kino zu gehen. Meine Freundin ist noch niemals in einem Kino gewesen und hat auch nicht die Absicht, je hinzugehen. »Lieber laß ich mir die Geschichte von dir erzählen, Buddy! Dann kann ich’s mir viel schöner ausmalen. Außerdem muß man in meinem Alter mit seinem Augenlicht schonend umgehen. Wenn der Herr kommt, möcht’ ich ihn deutlich erkennen.« Aber nicht nur, daß sie nie in einem Kino war: Sie hat auch nie in einem Restaurant gegessen, ist nie weiter als zehn Kilometer von zu Hause fort gewesen, hat nie ein Telegramm erhalten oder abgeschickt, hat nie etwas anderes gelesen als das Witzblatt und die Bibel, hat sich nie geschminkt, hat nie geflucht, nie jemandem etwas Böses gewünscht, nie absichtlich gelogen und nie einen hungrigen Hund von der Tür gescheucht. Und nun ein paar von den Dingen, die sie getan hat und noch tut: mit einer Hacke die größte Klapperschlange totgeschlagen, die man jemals hierzulande gesehen hat (mit sechzehn Klappern), nimmt Schnupftabak (heimlich), zähmt Kolibris (versucht’s nur mal!), bis sie ihr auf dem Finger balancieren, erzählt Geistergeschichten (wir glauben beide an Geister), aber so gruselige, daß man im Juli eine Gänsehaut bekommt, hält
Selbstgespräche, geht gern im Regen spazieren, zieht die schönsten Japonikas der Stadt und kennt das Rezept für jedes alte indianische Hausmittel, auch den Warzenzauber. Jetzt, nach beendetem Abendbrot, ziehen wir uns in einen abgelegenen Teil des Hauses in das Zimmer zurück, in dem meine Freundin in einem eisernen Bett schläft, das in ihrer Lieblingsfarbe, Rosa, gestrichen und mit einer bunten Flickerlsteppdecke zugedeckt ist. Stumm und in Verschwörerwonnen schwelgend, holen wir die Perlenbörse aus ihrem geheimen Versteck und schütten ihren Inhalt auf die Flickerldecke: Dollarscheine, fest zusammengerollt und grün wie Maiknospen; düstere Fünfzig-Cent-Stücke, schwer genug, um einem Toten die Lider zu schließen; hübsche Zehner, die munterste Münze, eine, die wirklich silbern klingelt; Nickel und Vierteldollars, glattgeschliffen wie Bachkiesel; aber hauptsächlich ein hassenswerter Haufen bitter riechender Pennies. Im vergangenen Sommer verpflichteten sich die andern im Haus, uns für je fünfundzwanzig totgeschlagene Fliegen einen Penny zu zahlen. Oh, welch ein Gemetzel im August: wieviel Fliegen flogen in den Himmel! Doch es war keine Beschäftigung, auf die man stolz sein konnte. Und während wir jetzt dasitzen und die Pennies zählen, ist es uns, als ob wir wieder Tote-Fliegen-Tabellen aufstellten. Wir haben beide keinen Zahlensinn: Wir zählen langsam, kommen durcheinander und müssen wieder von vorn anfangen. Aufgrund ihrer Berechnungen haben wir zwölf Dollar dreiundsiebzig. Aufgrund meiner genau dreizehn Dollar. »Hoffentlich hast du dich verzählt, Buddy! Mit dreizehn können wir nichts anfangen. Dann gehen uns die Kuchen nicht auf. Oder jemand stirbt daran. Wo es mir doch nicht im Traum einfallen würde, am Dreizehnten aufzustehen!« Es ist wahr: Den Dreizehnten jeden Monats
verbringt sie im Bett. Um also ganz sicherzugehen, nehmen wir einen Penny und werfen ihn aus dem Fenster. Von den Zutaten, die wir für unsere Früchtekuchen brauchen, ist Whisky am teuersten, und er ist auch am schwierigsten zu beschaffen. Das Gesetz verbietet den Verkauf in unserem Staat. Doch jedermann weiß, daß man bei Mr. Haha Jones eine Flasche kaufen kann. Und am folgenden Tag, nachdem wir unsere prosaischeren Einkäufe gemacht haben, begeben wir uns zu Mr. Hahas Geschäftslokal, einem nach Ansicht der Leute »lasterhaften« Fischrestaurant und Tanzcafe unten am Fluß. Wir sind schon früher dort gewesen, und um das gleiche zu besorgen; doch in den voraufgegangenen Jahren hatten wir mit Hahas Frau zu tun, einer jodbraunen Indianerin mit messinggelb gebleichtem Haar, die stets todmüde ist. Ihren Mann haben wir noch nie zu Gesicht bekommen, obwohl wir gehört haben, daß er auch ein Indianer ist. Ein Riese mit tiefen Rasiermessernarben auf beiden Backen. Er wird »Haha« genannt, weil er so düster ist – ein Mann, der nie lacht. Je mehr wir uns seinem Café nähern (einer großen Blockhütte, die innen und außen mit grellbunten Ketten nackter elektrischer Birnen bekränzt ist und am schlammigen Flußufer steht, im Schatten von Uferbäumen, durch deren Zweige die Flechten wie graue Nebel wehen), um so langsamer werden unsere Schritte. Sogar Queenie hört auf zu springen und geht bei Fuß. In Hahas Café sind schon Leute ermordet worden. Aufgeschlitzt. Den Schädel eingeschlagen. Im nächsten Monat wird wieder ein Fall vor Gericht verhandelt. Natürlich ereignen sich solche Vorfälle in der Nacht, wenn die bunten Lämpchen verrückte Muster bilden und das Grammophon winselt. Am Tage ist Hahas Café schäbig und öde. Ich klopfe an die Tür, Queenie bellt, und meine Freundin ruft: »Mrs. Haha, Ma’am? Ist jemand da?«
Schritte. Die Tür geht auf. Das Herz bleibt uns stehen. Es ist Mr. Haha Jones persönlich! Und er ist tatsächlich ein Riese; er hat tatsächlich Narben; er lächelt tatsächlich nicht. Nein, aus schrägstehenden Satansaugen stiert er uns finster an und begehrt zu wissen: »Was wollt ihr von Haha?« Einen Augenblick sind wir zu betäubt, um zu sprechen. Dann findet meine Freundin ihre Stimme wieder, bringt aber nicht mehr als ein Flüstern zustande: »Bitte schön, Mr. Haha, wir möchten gern ein Liter von Ihrem besten Whisky!« Seine Augen werden noch schräger. Nicht zu glauben: Haha lächelt! Er lacht sogar! »Wer von euch beiden ist denn fürs Trinken?« »Wir brauchen den Whisky für Früchtekuchen, Mr. Haha. Zum Backen!« Das ernüchtert ihn. Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Ist doch keine Art, guten Whisky zu verschwenden!« Trotzdem verzieht er sich in das schattige Café und erscheint ein paar Sekunden darauf mit einer Flasche butterblumengelben Alkohols ohne Etikett. Er läßt den Whisky im Sonnenlicht funkeln und sagt: »Zwei Dollar!« Wir zahlen – mit Nickel und Zehnern und Pennies. Plötzlich wird sein Gesicht weich, und er klimpert mit den Münzen in seiner Hand, als ob’s eine Faust voll Würfel wäre. »Ich will euch was sagen«, schlägt er uns vor und läßt das Geld wieder in unsere Perlbörse rutschen, »schickt mir statt dessen einen von euren Früchtekuchen!« »Nein, wirklich«, sagt meine Freundin auf dem Heimweg, »was für ein reizender Mann! In seinen Früchtekuchen tun wir eine ganze Tasse Rosinen extra!« Der schwarze Herd, der mit Kleinholz und Kohle gefüttert wird, glüht wie eine ausgehöhlte Kürbislaterne. Schneebesen schwirren, Löffel mahlen in Schüsseln voll Butter und Zucker, Vanille durchduftet die Luft, Ingwer würzt sie; schmelzende,
die Nase kitzelnde Gerüche durchtränken die Küche, überschwemmen das ganze Haus und schweben mit den Rauchwölkchen durch den Kamin in die Welt hinaus. In vier Tagen haben wir die Arbeit geschafft. Einunddreißig Kuchen, mit Whisky befeuchtet, lagern warm auf Fensterbrettern und Regalen. Für wen sind sie? Für Freunde. Nicht unbedingt für Nachbarn. Nein, der größte Teil ist für Leute bestimmt, die wir vielleicht einmal, vielleicht auch nie gesehen haben. Leute, die unsere Phantasie beschäftigen. Wie der Präsident Roosevelt. Wie Ehrwürden und Mrs. J. C. Lucey, Baptisten-Missionare auf Borneo, die im vergangenen Winter hier einen Vortrag hielten. Oder der kleine Scherenschleifer, der zweimal jährlich durchs Städtchen kommt. Oder Abner Packer, der Fahrer vom Sechs-UhrAutobus aus Mobile, der uns tagtäglich zuwinkt, wenn er in einer Staubwolke vorüberbraust. Oder die jungen Winstons, ein Ehepaar aus Kalifornien, deren Wagen eines Tages vor unserer Haustür eine Panne hatte und die eine Stunde lang so nett mit uns auf der Veranda verplauderten (Mr. Winston machte eine Aufnahme von uns, die einzige, die es von uns beiden gibt). Kommt es wohl daher, weil meine Freundin vor jedermann mit Ausnahme von Fremden scheu ist, daß uns die Fremden, flüchtige Zufallsbekannte, als unsere wahren Freunde erscheinen? Ich glaube, ja. Und die Sammelbücher, in die wir die Danksagungen auf Regierungsbriefpapier und hin und wieder eine Mitteilung aus Kalifornien oder Borneo und die Pennypostkarten vom Scherenschleifer einkleben, geben uns das Gefühl, mit ereignisreicheren Welten verbunden zu sein, als es die Küche mit dem Blick auf einen abgeschnittenen Himmel ist. Jetzt schabt ein dezemberkahler Feigenbaumzweig gegen das Fenster. Die Küche ist leer; die Kuchen sind fort. Gestern
haben wir die letzten im Wägelchen zur Post gefahren, wo der Ankauf von Briefmarken unsre Börse umgestülpt hat. Wir sind pleite. Ich bin deswegen ziemlich niedergeschlagen, aber meine Freundin besteht darauf, zu feiern, und zwar mit einem zwei Finger breiten Rest Whisky in Hahas Flasche. Queenie bekommt einen Teelöffel voll in ihren Kaffeenapf (sie nimmt ihren Kaffee gern stark und mit Zichorie gewürzt). Das übrige verteilen wir auf zwei leere Geleegläser. Wir sind beide ganz ängstlich, daß wir unverdünnten Whisky trinken wollen; der Geschmack zieht uns das Gesicht zusammen, und wir müssen uns grimmig schütteln. Aber allmählich fangen wir an zu singen, und gleichzeitig singen wir beide zwei verschiedene Lieder. Ich kann die Worte meines Liedes nicht richtig, bloß: Kommt nur all, kommt nur all, in der Niggerstadt ist Stutzerball! Aber ich kann tanzen. Stepptänzer im Film, das will ich nämlich werden. Mein tanzender Schatten hüpft über die Wände, von unseren Stimmen zittert das Porzellan; wir kichern, als ob unsichtbare Hände uns kitzelten. Queenie wälzt sich auf dem Rücken, ihre Pfoten trommeln durch die Luft, eine Art Grinsen verzerrt ihre schwarzen Lippen. Innerlich bin ich so warm und feurig wie die zerbröckelnde Glut der Holzscheite und so sorglos wie der Wind im Kamin. Meine Freundin walzt um den Kochherd und hält den Saum ihres billigen Kattunrockes zwischen den Fingerspitzen, als ob er ein Ballkleid wäre. Zeig mir den Weg, der nach Hause führt, singt sie und ihre Tennisschuhe quietschen über den Fußboden. Zeig mir den Weg, der nach Hause führt! Es treten auf: zwei Verwandte. Sehr empört. Allgewaltig mit Augen, die schelten, mit Zungen, die ätzen. Hört zu, was sie zu sagen haben und wie die Worte in zorniger Melodie übereinanderpurzeln: »Ein kleiner siebenjähriger Junge! Der nach Whisky riecht! Bist du von Gott verlassen? Einem Siebenjährigen so etwas zu geben! Mußt verrückt geworden
sein! Der Weg, der ins Verderben führt! Hast wohl Base Kate vergessen? Und Onkel Charlie? Und Onkel Charlies Schwager? Schande! Skandal! Demütigend! Kniet nieder und betet, betet zum Herrn!« Queenie verkriecht sich unter dem Herd. Meine Freundin starrt auf ihre Schuhe, ihr Kinn zittert, sie hebt den Rock, schnaubt sich die Nase und läuft in ihr Zimmer. Lange nachdem die Stadt schlafen gegangen und das Haus verstummt ist und nur noch das Schlagen der Turmuhr und das Wispern der erlöschenden Glut verbleibt, weint sie in ihr Kissen hinein, das schon so naß ist wie ein Witwentaschentuch. »Weine doch nicht!« sage ich zu ihr. Ich sitze am Fußende ihres Bettes und zittere meinem Flanellnachthemd zum Trotz, das noch nach dem Hustensaft vom vorigen Winter riecht; »weine doch nicht!« bitte ich sie und kitzle sie an den Zehen und an den Fußsohlen, »du bist zu alt dafür!« »Das ist’s ja«, schluchzt sie, »ich bin zu alt. Alt und komisch.« »Nicht komisch. Lustig. Mit keinem ist’s so lustig wie mit dir. Laß doch! Wenn du nicht aufhörst mit Weinen, bist du morgen so müde, daß wir nicht fortgehen und den Baum abhacken können.« Sie richtet sich auf. Queenie springt aufs Bett (was sie sonst nicht darf) und leckt ihr die Wangen. »Ich weiß eine Stelle, Buddy, wo es wunderschöne Bäume gibt. Und auch Stechpalmen. Mit Beeren, so groß wie deine Augen. Weit weg im Wald. Weiter, als wir je gewesen sind. Papa hat dort immer unsern Weihnachtsbaum geholt und auf der Schulter nach Hause getragen. Das war vor fünfzig Jahren. Ach, ich kann’s gar nicht mehr abwarten, bis es morgen früh ist.« Am anderen Morgen. Das Gras funkelt im Rauhreif. Die Sonne, rund wie eine Orange und orangerot wie Heißwettermonde, tänzelt über den Horizont und überglüht die
versilberten Winterwälder. Ein wilder Truthahn ruft. Im Unterholz grunzt ein ausgerissenes Schwein. Bald sind wir am Rand eines knietiefen, schnellfließenden Wassers und müssen das Wägelchen stehenlassen. Queenie watet zuerst durch den Bach, paddelt hinüber und bellt klagend, weil die Strömung rasch ist und das Wasser so kalt, um Lungenentzündung zu bekommen. Wir folgen und halten unsere Schuhe und unsere Ausrüstung (ein Beil und einen Jutesack) über den Kopf. Noch fast zwei Kilometer weiter: strafende Dornen, Kletten und Brombeerranken verhäkeln sich in unseren Kleidern; rostrote Kiefernnadeln leuchten mit grellbunten Schwämmen und ausgefallenen Vogelfedern. Hier und dort erinnern uns ein Aufblitzen, ein Flattern und ein schrilles Aufkreischen daran, daß nicht alle Vögel gen Süden gezogen sind. Immer wieder windet sich der Pfad durch zitronengelbe Sonnentümpel und pechdunkle Rankentunnel. Dann ist noch ein Bach zu überqueren: Von einer aufgescheuchten Armada gesprenkelter Forellen schäumt das Wasser um uns her, und Frösche von Tellergröße üben sich im Bauchsprung; Biberbaumeister arbeiten an einem Damm. Am andern Ufer steht Queenie, schüttelt sich und zittert. Auch meine Freundin zittert, aber nicht vor Kälte, sondern vor Begeisterung. Als sie den Kopf hebt, um die kiefernduftschwere Luft einzuatmen, wirft eine von den zerlumpten Rosen auf ihrem Hut ein Blütenblatt ab. »Wir sind gleich dort, Buddy! Riechst du ihn schon?« fragt sie, als ob wir uns einem Ozean nähern. Und es ist wirklich eine Art Ozean. Duftende Bestände von Festtagsbäumen, stachelblättrige Stechpalmen. Rote Beeren, die wie chinesische Ballonblumen blinken, schwarze Krähen stoßen krächzend auf sie nieder. Nachdem wir unseren Jutesack so mit Grünzeug und roten Beeren vollgestopft haben, daß wir ein Dutzend Fenster bekränzen können, machen wir uns daran, einen Baum zu wählen. »Er soll zweimal so groß
wie ein Junge sein«, sagt meine Freundin nachdenklich. »Damit ein Junge nicht den Stern stibitzen kann.« Der Baum, den wir schließlich auswählen, ist zweimal so hoch wie ich. Ein wackerer, schmucker Geselle, er hält dreißig Beilhieben stand, bevor er krachend mit durchdringendem Schrei umkippt. Dann beginnt der lange Treck nach draußen. Wir schleppen ihn wie ein Stück Jagdbeute ab. Alle paar Meter geben wir den Kampf auf, setzen uns hin und keuchen. Aber wir haben die Kraft siegreicher Jäger; das und der starke, eisige Duft des Baumes beleben uns und spornen uns an. Während der Rückkehr zur Stadt, bei Sonnenuntergang die rote Lehmstraße entlang, begleiten uns zahlreiche Komplimente; doch meine Freundin ist listig und verschwiegen, wenn Vorübergehende den in unserem Wägelchen thronenden Schatz loben: was für ein schöner Baum, und woher er käme. »Von da drüben«, murmelte sie unbestimmt. Einmal hält ein Wagen, und die träge Frau des reichen Mühlenbesitzers lehnt sich heraus und plärrt: »Ich geb’ euch ‘n Vierteldollar für den schäbigen Baum!« Im allgemeinen sagt meine Freundin nicht gern nein; aber diesmal schüttelt sie sofort den Kopf: »Auch nicht für ‘n Dollar!« Die Frau des Mühlenbesitzers läßt nicht locker: »‘n Dollar? Ist ja verrückt! Fünfzig Cents – das ist mein letztes Wort. Meine Güte, Frau, ihr könnt euch ja ‘n andern holen!« Anstatt einer Antwort spricht meine Freundin sanft und nachdenklich vor sich hin: »Da hab’ ich meine Zweifel. Zweimal das gleiche: das gibt’s nicht auf der Welt.« Zu Hause. Queenie sackt vor dem Kamin zusammen und schläft, laut wie ein Mensch schnarchend, bis zum nächsten Morgen. Ein Koffer in der Bodenkammer enthält: einen Schuhkarton voller Hermelinschwänze (vom Opernumhang einer merkwürdigen Dame, die mal zu Hause ein Zimmer gemietet hatte), Ketten zerfransten Lamettas, das vor Alter goldbraun
wurde, einen Silberstern und eine kurze Schnur mit altersschwachen, bestimmt gefährlichen, kerzenförmigen elektrischen Birnen. Ausgezeichneter Schmuck, soweit vorhanden, und das ist nicht viel. Meine Freundin möchte, daß unser Baum strahlt »wie ein Baptisten-Fenster« und daß er die Zweige unter Schneelasten von Schmuck niederhängen läßt. Doch die Made-in-Japan-Herrlichkeiten des EinheitspreisLadens können wir uns nicht leisten. Daher machen wir, was wir immer gemacht haben: Wir sitzen mit Schere und Bleistift und Stapel von Buntpapier tagelang am Küchentisch. Ich mache Skizzen, und meine Freundin schneidet sie aus: eine Menge Katzen, auch Fische (weil sie leicht zu zeichnen sind), ein paar Äpfel, ein paar Wassermelonen, ein paar Engel mit Flügeln, die wir aus aufgespartem Silberpapier von HersheyRiegeln zurechtbasteln. Wir benutzen Sicherheitsnadeln, um unsre Kunstwerke am Baum zu befestigen. Um ihm den letzten Schliff zu geben, bestreuen wir die Zweige mit zerschnittener Baumwolle (die wir zu diesem Zweck im August selber gepflückt haben). Meine Freundin betrachtet die Wirkung prüfend und schlägt die Hände zusammen. »Nun sag mal ehrlich, Buddy: sieht’s nicht zum Fressen schön aus?« Queenie versucht, einen Engel zu fressen. Nachdem wir Stechpalmengirlanden für sämtliche Vorderfenster geflochten und mit Bändern umwunden haben, besteht unsere nächste Aufgabe im Fabrizieren von Geschenken für die Familie. Halstücher für die Damen aus Schnurbatik, für die Herren ein hausgemachter Sirup aus Zitronen, Lakritzen und Aspirin, einzunehmen »bei den ersten Symptomen einer Erkältung« sowie nach der Jagd. Aber als es an der Zeit ist, unsre gegenseitigen Geschenke vorzubereiten, trennen wir uns, um im geheimen zu arbeiten. Kaufen würde ich ihr gern: ein Messer mit Perlmuttergriff, ein Radio, ein ganzes Pfund Kirsch-Pralinés (wir haben mal ein paar
gekostet, und seither beteuert sie: »Davon könnt’ ich leben, Buddy, weiß Gott, das könnt’ ich – und hab’ seinen Namen damit nicht ganz unnütz in den Mund genommen.«). Statt dessen baue ich ihr einen Drachen. Und sie würde mir gern ein Fahrrad kaufen. (Sie hat’s mir schon millionenmal gesagt: »Wenn ich’s nur könnte, Buddy! ‘s ist schlimm genug, wenn man im Leben auf etwas verzichten muß, was man selbst gern haben möchte; aber was mich, zum Kuckuck, richtig verrückt macht, ist, wenn man einem andern nicht das schenken kann, was man ihm so sehr wünscht! Doch eines Tages tu’ ich’s, Buddy! Ich verschaffe dir ein Rad! Frag mich nicht, wie. Vielleicht stehle ich’s.«) Statt dessen, davon bin ich ziemlich überzeugt, baut sie mir wahrscheinlich auch einen Drachen – ebenso wie voriges Jahr und das Jahr davor – und ein Jahr noch weiter davor haben wir uns gegenseitig Schleudern gebastelt. Was mir alles recht ist. Denn wir sind Champions im Drachensteigenlassen und studieren den Wind wie die Matrosen; meine Freundin, die mehr Talent hat als ich, kann einen Drachen in die Lüfte schicken, wenn nicht mal so viel Brise da ist, um die Wolken zu tragen. Am Heiligabend kratzen wir nachmittags einen Nickel zusammen und gehen zum Metzger, um Queenies herkömmliches Geschenk, einen guten, abnagbaren Rindsknochen, zu kaufen. Der Knochen wird in lustiges Papier gewickelt und hoch in den Baum gehängt, in die Nähe des Silbersterns. Queenie weiß, daß er da ist. Sie hockt am Fuß des Baumes und starrt, vor Gier gebannt, nach oben: Als es Schlafenszeit ist, weigert sie sich, von der Stelle zu gehen. Ihre Aufregung ist ebenso groß wie meine eigene. Ich zerwühle meine Bettdecken und drehe das Kopfkissen herum, als hätten wir eine sengend-heiße Sommernacht. Irgendwo kräht ein Hahn – irrtümlicherweise, denn die Sonne ist noch auf der andern Seite der Erde.
»Buddy, bist du wach?« Es ist meine Freundin, die von ihrem Zimmer aus ruft, das neben meinem liegt; und einen Augenblick drauf sitzt sie auf meinem Bettrand und hält eine Kerze in der Hand. »Ach, ich kann kein Auge zumachen«, erklärt sie. »Meine Gedanken hüpfen wie Kaninchen herum. Buddy, glaubst du, daß Mrs. Roosevelt unsern Kuchen zum Weihnachtsessen auftragen läßt?« Wir kuscheln uns im Bett zusammen, und sie drückt mir die Hand. »Hab’-dich-lieb«. – »Mir scheint, deine Hand war früher viel kleiner. Ach, mir ist’s schrecklich, wenn du älter wirst! Wenn du groß bist – ob wir dann noch Freunde sind?« Ich antworte, immer! »Aber ich bin so traurig, Buddy! Ich wollte dir so gern ein Fahrrad schenken. Ich hab’ versucht, die Kameenbrosche zu verkaufen, die Papa mir geschenkt hatte. Buddy…« Sie stockt, als sei sie verlegen. »Ich hab’ dir wieder einen Drachen gemacht!« Dann gestehe ich, daß ich ihr auch einen gemacht habe, und wir lachen. Die Kerze brennt so weit herunter, daß man sie nicht mehr halten kann. Sie geht aus, und der Sternenschimmer ist wieder da, und die Sterne kreisen vor dem Fenster wie ein sichtbares Jubilieren, das der Anbruch des Tages langsam, ach, so langsam zum Verstummen bringt. Vielleicht schlummern wir ein bißchen; aber die Morgendämmerung spritzt uns wie kaltes Wasser ins Gesicht; wir sind auf, mit großen Augen und wandern umher und warten, daß die andern aufwachen. Mit voller Absicht läßt meine Freundin einen Kessel auf den Küchenboden fallen. Ich stepptanze vor verschlossenen Türen. Eins ums andere tauchen die Familienmitglieder auf und sehen aus, als ob sie uns am liebsten umbringen würden; aber es ist Weihnachten, daher können sie’s nicht. Zuerst gibt’s ein großartiges Frühstück; es ist einfach alles da, was man sich nur vorstellen kann: von Pfannkuchen und Eichhörnchenbraten bis zu Maisgrütze und Wabenhonig. Was alle in gute Laune versetzt, mich und meine Freundin ausgenommen.
Offengestanden können wir vor Ungeduld, daß es endlich mit den Geschenken losgehen soll, keinen Bissen essen. Leider bin ich enttäuscht. Das wäre wohl jeder. Socken, ein Sonntagsschulhemd, ein paar Taschentücher, ein fertiggekaufter Sweater und ein Jahresabonnement auf eine fromme Zeitschrift für Kinder: Der kleine Hirte. Ich platze vor Ärger. Wahrhaftig! Meine Freundin macht einen besseren Fang. Ein Beutel mit Satsuma-Mandarinen – das ist ihr bestes Geschenk. Sie selbst ist jedoch stolzer auf einen weißwollenen Schal, den ihre verheiratete Schwester ihr gestrickt hat. Aber sagen tut sie, ihr schönstes Geschenk sei der Drachen, den ich ihr gebaut habe. Und er ist auch sehr schön, wenn auch nicht ganz so schön wie der, den sie mir gemacht hat, denn der ist blau und übersät mit goldenen und grünen Leitsternen, und außerdem ist noch mein Name, Buddy, draufgemalt. »Buddy, der Wind weht!« Der Wind weht, und alles andere ist uns einerlei, bis wir zum Weideland hinter dem Haus gerannt sind, wo Queenie hingerast ist, um ihren Knochen zu vergraben (und wo sie selbst einen Winter drauf begraben wird). Dort tauchen wir in das gesunde, gürtelhohe Gras, wickeln an unsern Drachen die Schnur auf und fühlen, wie sie gleich Himmelsfischen an der Schnur zerren und in den Wind hineinschwimmen. Zufrieden und sonnenwarm lagern wir uns im Gras, schälen Mandarinen und sehen den Kunststücken unserer Drachen zu. Bald habe ich die Socken und den fertig gekauften Sweater vergessen. Ich bin so glücklich, als hätten wir beim Großen Preisausschreiben die fünfzigtausend Dollar für den Kaffeenamen gewonnen. »Ach, wie dumm ich auch bin«, ruft meine Freundin und ist plötzlich so munter wie eine Frau, der es zu spät einfällt, daß sie einen Kuchen im Ofen hat. »Weißt du, was ich immer geglaubt habe?« fragt sie mit Entdeckerstimme und lächelt
nicht mich an, sondern über mich hinaus. »Ich hab’ immer gedacht, der Mensch müßte erst krank werden und im Sterben liegen, ehe er den Herrn zu Gesicht bekommt. Und ich hab’ mir vorgestellt, wenn er dann käme, wär’s so, wie wenn man auf das Baptisten-Fenster schaut: schön wie farbiges Glas, durch das die Sonne scheint, und solch ein Glanz, daß man nicht merkt, wenn’s dunkel wird. Und es ist mir ein Trost gewesen, an den Glanz zu denken, der alles Spukgefühl fortjagt. Aber ich wette, daß es gar nicht so kommt. Ich wette, zuallerletzt begreift der Mensch, daß der Herr sich bereits gezeigt hat. Daß einfach alles, wie es ist (ihre Hand beschreibt einen Kreis, der Wolken und Drachen und Gras und Queenie einschließt, die eifrig Erde über ihren Knochen scharrt), und eben das, was der Mensch schon immer gesehen hat – daß das ›Ihn-Sehen‹ war. Und ich – ich könnte mit dem Heute in den Augen die Welt verlassen.« Es ist unser letztes gemeinsames Weihnachten. Das Leben trennt uns. Die Alles-am-besten-Wisser bestimmen, daß ich auf eine Militärschule gehöre. Und so folgt eine elende Reihe von Gefängnissen mit Signalhörnern oder grimmigen, von Reveille-Klängen verpesteten Sommerlagern. Ich habe auch ein neues Zuhause. Aber das zählt nicht. Zu Hause ist dort, wo meine Freundin ist, und ich komme nie dorthin. Und sie bleibt dort und kramt in der Küche herum. Allein mit Queenie. Dann ganz allein. (»Liebster Buddy«, schreibt sie in ihrer wilden, schwer leserlichen Schrift, »gestern hat Jim Macys Pferd ausgeschlagen und Queenie einen schlimmen Tritt versetzt. Sei dankbar, daß sie nicht viel gespürt hat. Ich hab’ sie in ein feines Leinentuch eingewickelt und im Wägelchen zu Simpsons Weideland hinuntergefahren, wo sie nun bei all ihren vergrabenen Knochen ist.«) Ein paar Novembermonate hindurch fährt sie noch fort, alleine Früchtekuchen zu backen; nicht so viele wie früher, aber
einige, und natürlich schickt sie mir immer das »PrachtExemplar«. Sie fügt auch in jedem Brief einen dick in Toilettenpapier eingewickelten Zehner bei: »Geh in einen Film und erzähl mir im nächsten Brief die Geschichte!« Aber allmählich verwechselt sie mich in ihren Briefen mit ihrem andern Freund, mit dem Buddy, der in den achtziger Jahren starb. Immer häufiger ist der Dreizehnte nicht der einzige Tag des Monats, in dem sie im Bett bleibt. Und es kommt ein Morgen im November, der Anbruch eines blätterkahlen, vogelstummen Wintermorgens, an dem sie sich nicht aufraffen kann, um auszurufen: »Oje, ‘s ist Früchtekuchen-Wetter!« Und als das geschieht, weiß ich Bescheid. Der Brief, der es mir mitteilt, bestätigt nur die Meinung, die eine geheime Ader schon erhalten hat und durch die ein unersetzliches Teil meiner selbst von mir getrennt und freigelassen wird wie ein Drachen von einer gerissenen Schnur. Deshalb muß ich jetzt an diesem bestimmten Dezembermorgen, während ich über den SchulCampus wandere, immer wieder den Himmel absuchen. Als ob ich erwarte, ein verirrtes Drachenpaar zu sehen, das, fast zwei Herzen gleichend, gen Himmel eilt.
Herman Bang Ein Weihnachtsabend in der Fremde
»Es liegt Schnee!« rief ich, als ich in der Wohnstube die Vorhänge aufzog. »Nein, zum Teufel!« schrie der Maler, der im Schlafzimmer aus dem Bett fuhr und spärlich bekleidet zum Fenster lief. »Wahrhaftig, es hat geschneit«, sagte er. Es lag viel Schnee: Schneewehen auf der Straße, Schneehaufen vor den Türen. Massenhaft Schnee. Schnee und Schnee. »Dann sitzen die Züge fest«, sagte der Maler. »Ja«, antwortete ich. »Sie kommen niemals über die Berge«, sagte er. »Niemals«, bekräftigte ich und betrachtete die Dächer. Der Schnee lag wie Gebirgsfelsen auf den Dächern. »Na ja, es sind ja noch vier Tage bis Weihnachten«, sagte der Maler. »Und die Post wird mit Schlitten befördert.« Wir trösteten uns mit den Schlitten. Es war in Prag. Wir wohnten vier Mann hoch in einer Vorstadt – ein Maler und ich im zweiten Stock, ein Pianist und ein Student der Rechte im dritten. Für alle vier kochte die Hausmeisterin Suppe, die sie in einer Terrine auftrug. Wir waren alle vier gleich wohlhabend. Im dritten Stock gab man seine Armut zu, im zweiten verbarg man sie, so gut es sich machen ließ.
Darum hatte man auch im zweiten Stock schon im November – es ist gut, so etwas beizeiten zu tun – die vom dritten zum Weihnachtsabend eingeladen. Wir hatten daraufhin Vorbereitungen fürs Fest getroffen. Im Ausland gewöhnt man sich allmählich an alles. Die Redaktionen merken nicht immer sofort, was man schreibt. Einiges landet im Papierkorb, und einiges kommt am Montag zurück. Und wenn die Redaktionen endlich etwas gemerkt haben, haben sie es nicht so eilig, das Honorar zu schicken. Die Postanweisungen kommen unregelmäßig, und manchmal lassen sie Monate auf sich warten. Mit den Verlegern ist es nicht viel besser. Wenn man im Ausland lebt, ist man einer – nun ja, das kann man zwar auch werden, wenn man in der Heimat bleibt –, der draußen steht. So muß man sich beizeiten vorsehen. Das hatten wir getan. Ich war Feuilletonist für fünf Länder. Im letzten Monat hatte ich keines von ihnen verschont. Ich hatte in weihnachtlichem Schnee geschwelgt, während dichter Novembernebel über dem Hradschin lag, und ich hatte für alle die Familienblätter, die aufzutreiben waren, Festglocken erklingen lassen. Auch sonst hatte ich keinerlei journalistische Arbeit versäumt. Politik und soziale Fragen flossen reichlich aus meiner Feder. In den Zeitschriften war ich ernst gewesen, und für die leichteren Blätter hatte ich möglichst kurzweilig geschrieben. Journalisten gewöhnen sich ja mit den Jahren Vielseitigkeit an. Einem deutschen Familienblatt, dessen Herausgeber seine Linie mit den Worten ausdrückte: »Sehr geehrter Herr, unser Blatt wendet sich an die Herzen«, hatte ich Novellen abgeliefert. Die eine trug den Titel »Ophelia aus dem Dorfe«,
einen Titel, der Erfolg verdiente in einem Lande, wo man das große Repertoire so pietätvoll pflegt. Der Maler hatte auch nicht auf der faulen Haut gelegen. Seinen Absatzmarkt fand er in Berlin, und seine Spezialität waren Studienköpfe von Zigeunertypen. Noch nie hatte ich so schwarze Haare, noch nie so große Augen gesehen. Er malte täglich ein Bild. Es gab in ganz Berlin keine einzige Kunsthandlung, die nicht mit einem seiner Zigeuner geschmückt war. Je näher Weihnachten kam, desto geringer wurden die Schönheiten des Formats und desto größer die Rahmen. »So will man es haben«, sagte der Maler, »so eignen sie sich besser als Weihnachtsgeschenk.« Er malte das Leben an sich. Alle Schönheiten glichen einander. »Aber das macht nichts«, sagte er, »wenn man nur für Verbreitung sorgt.« Er verbreitete sie, wie gesagt, über ganz Berlin. Aber der Malerberuf ist ja immer unsicher. Am sichersten sind die Ausgaben für die Rahmen. Man muß sie im voraus bezahlen. Erst dann kann man die Bilder ausstellen, was ja nicht immer besagt, daß man sie verkaufen wird – sofort. Das wußten wir. Und darum war ich mit meinen Zeitungen um so unbarmherziger. Trotzdem freuten wir uns. Die meisten meiner Sachen waren angenommen, so daß wir uns in dem Stadium befanden, wo man Postanweisungen entgegensieht. Ein Tag nach dem andern verging, ohne daß etwas eintraf. Auch die Redaktionssekretärin, die gewöhnlich die Honorarabrechnungen besorgt, hat vor Weihnachten Hochbetrieb, so daß sie kaum Zeit findet, sich mit Postanweisungen abzugeben.
Es wurde der Fünfzehnte: Kein Honorar. Es wurde der Achtzehnte: Noch immer keine Postanweisung. Was die Kunsthandlungen anbelangte, so verhielten sie sich beunruhigend ruhig. Allmählich spannten wir mit der Arbeit ein wenig ab, der Maler und ich. Tagsüber schlenderten wir durch die Straßen, betrachteten die Schaufenster und überlegten, was wir unseren Gästen verehren wollten. Denn es sollte ein richtiges Weihnachtsfest mit Baum und Geschenken werden. Der Neunzehnte neigte sich dem Ende zu. Der Postbote ging am zweiten Stock vorbei. Am Abend sagte der Maler: »Du, das wäre ja reizend, wenn Schnee käme und keine Züge gingen.« »Ja«, antwortete ich gedehnt. An Schnee hatte ich schon selbst gedacht. Ich hatte mich daran gewöhnt, das Schlimmste zu denken. Am Einundzwanzigsten lag also morgens hoher Schnee. Es war ein armseliger Trost, daß ich damit gerechnet hatte. Zuerst trösteten wir uns damit, daß Schneefälle örtlich bedingt sind. Doch dann berichtete die Zeitung, daß seit dem Jahre 1830 keine derartigen Schneemassen mehr aufs ganze Land niedergestürzt wären. In ganz Mitteleuropa war der Verkehr lahmgelegt. Die folgenden Tage waren nicht gerade lustig. Wir sprachen nicht viel. Ich verwünschte die Redaktionen, als ob sie auch an dem Schneefall schuld wären. Unsere Hoffnungen mußten wir nach und nach mit den Verhältnissen in Einklang bringen. »Von Geschenken kann ja keine Rede sein«, sagte der Maler. Wochenlang hatten wir, offen gestanden – denn Erwachsene werden Kinder, wenn man draußen in der Fremde so vereint
ist –, wegen der Geschenke beratschlagt. Es gab kaum einen Gegenstand, den wir nicht in Betracht gezogen hatten. »Nein«, antwortete ich, »davon kann keine Rede sein.« »Aber weißt du«, sagte der Maler, »vielleicht ist es sogar viel netter. Es wäre bloß rücksichtslos, wenn die andern nichts zu geben hätten… und sie können sich ja keine Geschenke leisten…« Ich hoffte es. Inzwischen schneite es weiter, und es blieb dabei bis zum Weihnachtsabend. Unsere Kasse enthielt einen Gulden und ein paar Kreuzer. Der Maler kramte in allen Westentaschen, wie er es in kritischen, geldlosen Augenblicken zu tun pflegte. Er fand nichts. Er hatte wohl längst alles durchsucht. Der alte Veith, der Mann der Hausmeisterin, der uns bediente, schlich unschlüssig in seinen Filzpantoffeln herum und wurde mit dem Aufräumen überhaupt nicht fertig. Der alte Veith trat auf den ganzen Fußballen auf und zog bei jedem Schritt die Knie hoch, als ob er sich fortwährend mit Vorbereitungen zu Turnübungen und Kniebeugen abgäbe. Wenn er uns nicht bediente, befestigte er Fadenenden. Die Hausmeisterin arbeitete mit zwei Schwestern für eine Hemdenfabrik. Die Nähmaschinen ratterten die langen Säume herunter. Der Hausmeister befestigte die Fadenenden. Diese weibliche Beschäftigung hatte ihm mit der Zeit gewisse Handbewegungen verliehen, als ob er immerzu die Nadel durch ein Stück Stoff stäche. Jetzt ging er verlegen umher, zog die Knie hoch, machte ein besorgtes Gesicht und wollte etwas sagen, brachte es aber erst heraus, als er in der Tür stand, wo er sich am Rahmen rieb, als ob es ihn schüttelte. »Es ist wegen des Baumes«, sagte er endlich und wurde kupferrot, der arme Kerl, »ich dachte mir… meine Frau dachte sich, ja, vielmehr meine Frau dachte sich, ob ich nicht… ob
wir nicht den Baum kaufen sollten, denn ich kenne mich ja aus, und so Fremde… so Fremde… die werden nur… die bezahlen wohl das Doppelte…« Der Alte konnte nicht weiter, er war so rot wie Blutstropfen. Wir begriffen, daß er uns bei dem Baum helfen wollte. »Also abgemacht«, sagte er. Er war etwas kühner geworden, als er merkte, daß wir sein Angebot annahmen. Wir schwiegen lange, nachdem er gegangen war. »Je nun, morgen kann ja Post kommen«, sagte der Maler. »Ja-a«, antwortete ich. Keiner von uns erwartete im Grunde noch Post. Im Treppenhaus wurde gesungen und gelacht. Das waren die vom dritten Stock, unsere morgigen Gäste: Sie schienen schon in Feststimmung zu sein. Im zweiten Stock wurde in dieser Nacht nicht viel geschlafen. Um sieben Uhr früh hörten wir den Postboten. Wir hatten nichts anderes erwartet: Jetzt ging er langsam an unserer Tür vorbei. Nichts, nichts. Wir schwiegen. Und wir hörten den Postboten hinausstampfen, und der Hausmeister schlich auf seinen Filzschuhen herein. So leise hatte er sich noch nie bewegt. Je nun, da konnten wir ja aufstehen und Weihnachten feiern. Mit unserer Kasse: ein Gulden. Als wir das Schlafzimmer verließen, nahmen wir Tannenduft wahr. In der Diele stand der Baum. Er stammte sicher von einem Waldesrand, denn er sah aus, als ob ihn mancher rauhe Sturm gezaust hätte. »Der Trottel«, sagte der Maler, der an Veith dachte. Wir betrachteten das schiefe Ding. Wir wußten nicht, wie wir daran etwas aufhängen sollten.
Der alte Veith kam dazu. Er hielt den Kopf schräg und sagte: »Ein hübscher Baum, richtig hübsch. So ist es eben, wenn man sich auskennt.« »Ja, richtig hübsch«, sagten wir mit belegter Stimme. Der Baum wurde im Wohnzimmer auf den Tisch gestellt. Dort stand er in seiner Kahlheit. Es klingelte, und wir fuhren zusammen. Obwohl der Postbote weggegangen war, dachten wir: Vielleicht ist es doch die Post. Es waren unsere Gäste vom dritten Stock. Sie wünschten uns frohe Weihnachten – sie strahlten übers ganze Gesicht -und fragten, wann sie kommen sollten. Ich sagte: »Nun ja… um acht Uhr.« Und der Maler bat sie herein. Aber sie wollten uns bei den Vorbereitungen nicht stören… Das mit den Vorbereitungen war gelungen. Der Maler sagte: »Es muß etwas geschehen.« »Ja«, antwortete ich, ohne einen Einfall zu haben. Der Maler sagte: »Man kann ja Watte auf die Zweige legen.« »Ja«, gab ich zurück, »aber es gehören Kerzen dazu.« Sinnend sagte er: »Man könnte einen Wachsstock benutzen.« »Ja«, stimmte ich zu. Vom Essen sprach keiner. Wir wußten, daß es ums Essen verzweifelt stand. Denn wir hatten das Fest auf dänische Weise mit Gänsebraten und Süßigkeiten feiern wollen – und das hatten wir unseren Gästen gesagt. Schon im November. Der Hausmeister ging weiter ein und aus. Seine Augen schweiften vom einen zum andern. Wir hatten ihn ein wenig satt. Die Lage war nicht so, daß man sie gern mit Fremden teilte. »Sie haben heute viel Zeit, Veith«, sagte der Maler. Auch wir hatten viel Zeit. Jeder saß einfach auf seinem Stuhl und starrte den schiefen Baum an.
»Ja«, stammelte Veith, »heute… heute nähen wir nicht.« Dann fügte er hinzu: »Mutter kocht ein Festessen.« Und plötzlich brach er in einen Wortschwall aus: Sie koche Karpfen, Karpfen blau koche sie. »Das ißt man hier am Weihnachtsabend, auch bei den feinsten Leuten… mit Backpflaumen… ja, das kocht sie… Sie kann ihn übrigens auf alle mögliche Weise kochen, noch aus der Zeit, als wir eine Kantine hatten… Und in Sülze schmeckt er auch köstlich…« Das war eine lange Rede für den Hausmeister. »Ja«, sagte der Maler (wir hatten kaum die Hälfte gehört), »in Sülze ist er sicher gut.« Der Hausmeister nahm einen Anlauf: »Ja, das ist nämlich so… Meine Frau meinte, Sie könnten Karpfen essen… Sie sollten merken, daß Sie in Böhmen sind… Das dachten wir…« Außer Atem sagte er: »Mutter hat uns deswegen heute nacht geweckt.« Ich glaube wahrhaftig, wir hatten beide Tränen in den Augen, der Maler und ich. Wir hatten ja verstanden: Es wurde nicht genäht, weil die Hausmeisterin kochte – für uns Fremde kochte. »Ja, danke. Das wäre wirklich lustig… sehr lustig… einmal nach böhmischem Brauch Weihnachten feiern.« Das sagten wir. Und wir dachten: Die Gäste sind ja zum Glück Böhmen. Ich war nicht ganz sicher, ob Karpfen mit Backpflaumen auch Ausländern schmeckte. Veith strahlte und lief hinaus und herein. Er war wie ein Sieger auf dem Schlachtfeld. Die Tür zur Pförtnerstube ließ er offen. Koch- und Backgeruch zog durchs ganze Haus. Der Maler nahm unseren Gulden und kaufte Wachsmasse. Veith rumorte herum und zog die Knie hoch. Er sprach davon, daß sein Schwiegersohn Eisenbahnschaffner war. Bei der Nordbahn. Ja, das wußte ich.
»Das ist übrigens eine gute Stellung bei der Nordbahn… wegen der Bäder. So Badegäste sparen nicht an einem Groschen, wenn sie allein in einem Abteil sein wollen.« »Nein, natürlich nicht.« »Außerdem haben sie einen Verbraucherverein«, sagte er. »Einen Verbraucherverein?« wiederholte ich, obwohl es mich nicht sonderlich interessierte. »Ja, und sie bekommen alles… den besten Wein… aus Tropau. Sie wissen ja, das ist der beste Wein, reiner Wein… Sie bekommen ihn für dreißig Kreuzer.« Er kehrte mir den Rücken. »Ja, wir haben noch ein paar Flaschen… wenn…« So geschah es, daß wir auch zu Wein kamen – zu dreißig Kreuzer die Petroleumflasche, vom Verbraucherverein der Eisenbahnschaffner. Der Maler kehrte zurück, und ich berichtete es ihm. »Das wird ja ein gemeinschaftliches Festessen«, sagte er. »Na ja«, antwortete ich, »aber wir haben eigentlich nur die Watte beigesteuert – und das Wachs.« Von einem alten Rittermantel, den der Maler unter seinen Sachen hatte, trennten wir Golddraht ab; das wurde der Flitter für den Baum. Veith lief weiter herauf und hinunter, herein und hinaus. Er war so geräuschvoll, und er meinte es so gut. Er brachte Gläser, und er brachte Flaschen: Wir mußten unbedingt den Wein der Eisenbahnschaffner kosten. Er stieß mit an und sagte: »Meine Tochter bekommt ihn jedesmal nach der Niederkunft zur Stärkung.« Wir lachten – zum erstenmal – und leerten die Gläser. Der Maler bestreute die Zweige mit Watte und hängte den Flitter auf. Es sah ein bißchen armselig aus. »Zum Teufel«, sagte der Maler, »von dem Wachsstock ist nicht viel zu sehen.« Er hatte recht.
Ich wußte nicht, warum, aber der Hausmeister wollte unbedingt, daß wir mit ihm ins Untergeschoß gingen. Wir müßten uns die Karpfen anschauen, erklärte er, und Mutter habe auch gebacken. Da wir es dem Alten nicht gut abschlagen konnten, folgten wir ihm. Unten hatte die Hausmeisterin die Nähmaschinen in einen Winkel geschoben und einen sauber geschrubbten Tisch mitten auf die Straße gestellt. Sie kochte und schmorte, so daß sie ganz in Dampf eingehüllt war. Der Hausmeister schlich ab und schloß die Tür hinter sich. »Ja, das ist eine Veränderung«, sagte die Frau und lachte über ihr rundes, gutes Gesicht, »aber Feste muß man feiern.« Darüber redete sie eine ganze Weile, bis sie plötzlich in ärgerlichem Tone sagte: »Veith ist ein alter Dummkopf… Da hat er mir doch einen Zehnguldenschein in die Hand gedrückt, einfach so. Dafür muß beim Krämer noch eingekauft werden, und wir haben doch keine Zeit! Nun müssen Sie sich aber beeilen.« Wir traten zu ihr und ergriffen ihre Hände. »Ja«, sagte sie geschäftig, »ich mache zweierlei Karpfengerichte, so daß Sie wählen können. Das hier ist also Karpfen blau…« Sie blieb bei ihren Fischen, von etwas anderem wollte sie nichts hören. Wir stiegen wieder die Treppe hinauf – mit dem erhaltenen Schein. Es dunkelte. In der Stube stand der Baum mit der weißen Watte. Der alte Veith deckte den Tisch. Wir gingen aus, um für die zehn Gulden der Hausmeisterin einzukaufen. Wir beschlossen, Kerzen zu nehmen und richtigen Flitter, um die viele Watte ein wenig aufzuputzen. Wir kauften vorsichtig wie arme Leute, die auf dem Boden ihrer Geldbörse angelangt sind.
Als wir den Laden verließen, sagte der Maler: »Du, wir müssen noch etwas aufsparen, es kommen noch mehr Tage, und wer weiß, wann wir Geld bekommen werden.« Sicher geschah es zum erstenmal in seinem Leben, daß er an den nächsten Tag dachte. Aber in der letzten Zeit hatten wir ja wirklich sparsam gelebt. Ich meinte, wir müßten alles Geld ausgeben: Die Hausmeistersleute hatten solche Freude daran, als ob es ihr eigener Weihnachtsbaum wäre. Als wir nach Hause kamen, war es dunkel. Der Maler erzählte von Weihnachten in seiner Heimatstadt in der Mark Brandenburg. Um vier Uhr früh wurden die Kinder geweckt, und dann gingen sie mit großen Wachslichten in den Händen durch die Straßen zur Kirche. »Wie achteten wir darauf, daß die Kerzen nicht ausgeblasen wurden. Ganz behutsam traten wir auf und sahen mit großen runden Augen auf die Flamme. Dann sangen wir Weihnachtslieder, als wir uns der Kirche näherten.« Er erzählte weiter von seiner Heimat und seiner Kindheit. Ich hörte wohl nur halb zu und dachte an meine eigene Heimat. Auf einmal sagte ich: »Du, ob man vielleicht ein Telegramm bekommt?« »Hast du denn einen Menschen, der dir telegraphieren könnte?« »Ach ja«, sagte ich und dachte: Früher waren es viele. »Na, ich habe keinen«, sagte der Maler. Danach schwiegen wir eine Weile. Veith weckte uns. Er kam mit zwei brennenden Kerzen in alten Dubleeleuchtern. Er sagte, auf dem Tisch müßte doch Licht sein. Bald war es auch soweit, daß wir unsere Gästen erwarten konnten. Die brennenden Kerzen beleuchteten den gedeckten Tisch. Der Eindruck war erträglich.
Alle Schüsseln der Hausmeisterin wurden gebraucht. Sie waren, wie Veith erklärte, bei einer »Gelegenheit« gekauft worden und sahen aus, als hätten sie ein bewegtes Dasein hinter sich. Das Tischtuch war zumindest reichlich, es hing auf allen Seiten auf den Boden hinunter, und es war grob wie eins der ehelichen Bettücher. Die Gäste klingelten. Sie waren festlich gekleidet und strahlten. Wir tauschten Weihnachtsgrüße aus – mir saß das Herz im Halse – und sagten, es sei doch ein böhmisches Weihnachtsfest geworden – im Hinblick auf Frau Veiths Kochkunst. Veith öffnete mit einem »Gesegnete Mahlzeit« die Eßzimmertür, und wir gingen alle zu den Karpfen hinein. Anfangs war es ein bißchen still. Die Böhmen aßen, und wir Wirte blickten meistens ein wenig geistesabwesend auf die vielerlei Teller. Der alte Veith war wie in einem Rausch. Er brachte so gewaltige Schüsseln herein, als ob er noch seine Kantine hätte und eine halbe Division füttern müßte. Bei jeder neuen Schüssel, die er brachte, glänzte sein Gesicht, als ob er einer Kinderschar die Tür zum Weihnachtsbaum aufmachte. Er bot die Karpfen herum – Karpfen sauer und Karpfen süß und plauderte: »Ja, ja, Herr Pianist, Sie wissen wohl, daß es eine tschechische Mahlzeit ist… Ja, ja, Karpfen ist ein Festessen…« Er nötigte uns unentwegt, seinen blauen Fisch zu verzehren. Zwetschgensauce war seine Leibspeise. »Wahrhaftig, die Soldaten liebten die Zwetschgensauce anno sechsunddreißig… Aber schwer war das, recht schwer, wenn die Preußen aßen…« Das war 1836 gewesen, als Herr Veith die Kantine geführt hatte. Mit seiner Fischschüssel in der Hand schilderte er des langen und breiten, wieviel die Preußen essen konnten. »Man bekam
ja einen Gulden im Tag für jeden Mann, aber aufpassen mußte man. Denn die Kerle aßen, was sie sahen.« Doch Veith hatte sein Verfahren: Wenn sie ins Quartier kamen, waren sie, versteht sich, so hungrig wie gierige Wölfe. »Dann aber«, sagte Veith und hielt den Finger an die Nase, während er die Augen zusammenkniff, »dann mochten sie sich ruhig vollstopfen, was sie nur konnten, am ersten Tage. Am nächsten Tage hatte der Appetit schon nachgelassen.« Veith lachte laut; diese List war seine Lebenstat. Und wir andern mußten mitlachen, obwohl wir die Geschichte zum zwanzigsten Male hörten. Veith sah so glücklich aus, als ob er auch heute einen Gulden pro Kopf bekäme. Dann winkte er mich ins Schlafzimmer. »Sie sind ein bißchen still«, sagte er. »Schenken Sie tüchtig ein. Der Wein ist gut, unverfälscht.« Es kreisten die Krüge mit dem Eisenbahnerwein, der bischofssüß war. Noch mehr Fisch kam, und die Stimmung begann sich zu beleben. Der Pianist erzählte von Weihnachten daheim in Brüx, als sie wohlhabend waren und sein Vater noch lebte. Sein Vater war Gerber gewesen. Am Weihnachtsabend wurden zwei große Kessel voller Karpfen in der Diele aufgestellt, und seine Mutter teilte die blauen Fische an jeden Armen aus, der sich meldete. »So war es eben in den kleinen Städten, müssen Sie wissen«, sagte er, »man teilte.« Der Maler und ich sahen einander an – wir wollten mit dem alten Veith anstoßen. Er trocknete sich erst den Mund mit dem Hemdärmel – er war in Sonntagstracht mit schwarzer Weste und weißschimmernden Hemdärmeln –, bevor er mit uns beiden anstieß. Der Pianist erzählte weiter von daheim in Brüx: Alle Gesellen und Lehrlinge wurden am Abend bewirtet.
Der Student, dessen Vater Amtsvorsteher in einem kleinen Ort war, hörte auf zu essen und schaute gleichsam mit einem langen Blick auf sein Weihnachtsfest zurück. »Nun ja«, sagte er, »wir waren sechzehn Kinder…« Als ob damit alles gesagt wäre. Und er beugte den mageren Hals, der von dem Beamtenhunger in seiner Kindheit Zeugnis abzulegen schien. Die Krüge kreisten, und alle redeten. Die Hausmeisterin hatte sich aus ihrem Untergeschoß heraufgeschlichen und war ins Schlafzimmer geschlüpft. Der Maler holte sie zu uns herein, und alle stießen mit ihr an. Mit gefalteten Händen stand sie in den Strümpfen da und sagte: »Es ist doch etwas Schönes um die Jugend.« So blieb sie stehen und betrachtete mit froh glänzenden Augen den Tisch mit den Karpfen und den beiden Kerzen. Wir hoben die Tafel auf, und der Maler zündete den Baum an. Er erstrahlte recht hübsch mit seiner Watte und dem Flitter von dem Rittermantel. Aber wir vier wurden wieder ein wenig stiller, bis der Pianist vorschlug, zu singen. Er sang vor. Aber es ging nicht richtig. Wir versuchten ein Lied nach dem andern, während der Baum sanft strahlte. Wir kannten jedoch nicht dieselben Lieder, und so fiel das Singen dahin… Am besten war es wohl, beim Baum weiterzuessen. Veith brachte viele Süßigkeiten; es gab Gebäck und Eingemachtes. Und gut war es, daß es so viel zu essen gab, denn das Gespräch ging ein bißchen träge, bis wir alle vier stumm saßen. Im Eßzimmer hörte ich Schleichschritte. Das war Mutter Veith, die wieder heraufgekommen war. Sie stand bei der Tür und sah mit großen Augen auf den schiefen Baum. Unsere Gäste gingen. Der Maler und ich saßen vor der gelöschten Tanne.
Veith machte sich im Eßzimmer zu schaffen. Wir hörten ihn nicht hereinkommen, doch da rumorte er mit einem Stuhl, und als ich mich umdrehte, merkte ich, daß er etwas auf dem Herzen hatte. Schließlich sagte er mit ganz unsicherer Stimme: »Ja, Sie müssen uns entschuldigen – wir konnten es ja nicht besser machen!« Der Maler und ich hatten Tränen in den Augen. Veith war gegangen, und wir saßen lange stumm. Dann erzählte der Maler von anderen Weihnachtstagen und anderen Weihnachtsfesten. Er erzählte von einem Weihnachtsfest in München – einem heidnischen Fest mit reichen, schönen Frauen, mit Wein und Witz und einem riesigen Rosenstock statt eines Tannenbaumes. Und er erzählte – ohne Sentimentalität, aber vielleicht ein wenig wehmütig – von dem Freund, der damals die Seele des Festes war, eine Art Dichter, zweiundzwanzig Jahre alt, plötzlich tatenfreudig in München aufgetaucht. Er hatte ein wenig Talent und viel Energie. Mit weicher Stimme und gefühlvollem Vortrag umkleidete er die Gedichte, die er überall vorlas. Es kam ein Jahr, wo eine ganze Stadt ihn verhätschelte – vielleicht nur, weil es in diesem Augenblick keinen andern zu verhätscheln gab. Das war ein Jahr wie ein Märchen, so voller Erfolg und Gunst… Er nahm es, glaube ich, wie etwas, das so sein mußte. Und eigentlich war er ganz anspruchslos, und er teilte auch mit dem einen und dem andern. Aber der Publikumsrausch war kurz, und Groll und Gleichgültigkeit dauerten länger. So geht es immer, wenn sich das Publikum hat überrumpeln lassen. »Er wachte jetzt auf, mein Bester, und das hat der Mann nie verziehen. Nun schrieb er viel talentvollere Sachen als damals
– sogar ein Buch, das gut ist, glaube ich –, aber er blieb vom Leben abgeschlossen und von allen Unternehmungen. Weil diejenigen, die das Wort führten, befürchteten, sie würden sich an ihm die Finger verbrennen, wenn sie nur seinen Namen nannten. Er kam nie mehr hinein. Es war, als hätte man einen Kreis gezogen, und er stand draußen.« »Und nahm er das schwer?« fragte ich. »Schwer!« sagte der Maler. »Immer schwerer… Das war wohl eine Zeit… Ich glaube, er setzte sich andere Ziele – innerlichere, wenn ich so sagen darf. Er, den die Witzblätter – sie beschäftigen sich noch immer ab und zu mit ihm; hast du nicht bemerkt, daß sie noch nach zehn Jahren beharrlich auf einem ›Gegenstand‹ herumhacken, obwohl er alle Aktualität verloren hat, und daß man erst wirklich tot ist, wenn auch sie schweigen – er, den diese Blätter noch immer einen Reklameheld nennen, er ist eine menschenscheue Seele geworden, glaube ich, die in Winkeln umherschleicht und sich nur Frieden wünscht… in Ruhe gelassen zu werden.« Sinnend fuhr der Maler fort: »Aber vielleicht leidet er manchmal doch darunter, daß so viele seiner Kräfte brachliegen. Vielleicht schmerzt ihn das. Bayern ist nämlich ein kleines Land. Und er sagt sich vielleicht selbst, daß es in einem kleinen Land immer nur einige wenige Tüchtige gibt – so daß man ihn am Ende brauchen kann –, also auch für ihn eine Arbeit, die ihn hinaushebt übers tägliche Leben und sich in Jahrzehnten zu Ergebnissen zusammenreiht. Er sagt sich manchmal bekümmert, daß man auch ihn hätte brauchen können. Denn er hatte wirklich Tatkraft in sich und wohl auch ein wenig Eigennutz – etwas von dem Drang, der dazu treibt, zum Vorteil für alle zu handeln, von dem Drang, der Gesellschaftsführer schafft, große und kleine. Davon hatte er etwas. Und möglich ist es auch, daß er mitunter, wenn er die anderen und sich selbst mißt, die andern, die statt seiner zu
Stellung und Einfluß gelangt sind, daß er dann bei sich selbst denkt, daß sie nur Macht haben, um sie zu fühlen und zu besitzen, wohingegen er sie zum Wirken benutzt hätte. Aber jetzt hilft das ja nicht mehr. Außerdem können die andern alles ebenso gut machen wie er – dort in München. Es gibt nichts Dümmeres, als zu glauben, daß gerade auf mir größeres Gewicht liegt. Was ein anderer nicht zu machen vermag, kann ja von zwei andern gemacht werden.« Der Maler schwieg eine Weile. Dann sagte er: »Wie deutlich erinnere ich mich an unseren letzten gemeinsamen Weihnachtsabend. Nach dem Essen saßen wir in seinem Wohnzimmer vor dem Feuer. Damals hatte er noch seine Stellung, aber es fing schon an, halbdunkel um ihn zu werden…« Wir saßen stumm. Auf einmal sagte er: »Du siehst aus, als ob du lauschst.« »Lauschen… ich… Nein, hätte ich auf etwas lauschen sollen?« »Was weiß ich?« erwiderte er. »Du sahst nur so aus.« Nach und nach brannten die Kerzen am Baum. Und die Glocke an der Wohnungstür begann zu läuten. Es waren Geschenke über Geschenke, Blumen über Blumen. Das ganze Zimmer füllte sich. Draußen in der Nacht saßen wir wieder vor dem Feuer. Ich blickte mich in dem geschmückten Zimmer um. »Du«, sagte ich, »ich lauschte wirklich auf etwas.« »Ja, das sah ich… Und worauf?« »Auf die Türglocke«, antwortete ich und wies auf das Zimmer draußen. »Ich möchte nicht gern, daß man dich heute abend vergißt.« Er lachte – und lächelte dann ein wenig wehmütig. »Mein Gott, dazu kann man ja nichts sagen… Es gibt solche
Gelegenheiten, wo man merkt, daß man dumm genug war, sich verhätscheln zu lassen.« Er schwieg, und wir saßen wieder stumm. Der Maler sagte: »Du redest nicht viel.« »Nein…« »Du könntest aber versuchen…« »Ach«, sagte ich, »vielleicht denke auch ich daran, daß es im Leben sonderbar auf und ab geht… und meistens abwärts wie bei deinem Freund.« »Tja«, sagte er. »Weißt du, woran ich denke«, fuhr er fort. »Ich hätte Lust, Mutter Veith zu malen, wie sie vor den beiden Kerzen stand und sagte: ›Es ist doch etwas Schönes um die Jugend.‹ Herrgott, die guten Leutchen, die guten Leutchen.« Der Maler erhob sich und begab sich zur Ruhe. Ich saß noch eine Weile vor dem gelöschten Baum. Im Zimmer war es ganz dunkel. Draußen in der Diele ging jemand sehr leise. Es war der alte Veith, der sehen wollte, ob wir zu Bett gegangen waren. Ich rieb ein Streichholz an und machte Licht. Die Vergoldung der Veithschen Kaffeetassen glänzte. Es waren Sonntagstassen mit vielen Aufschriften. Drinnen im Eßzimmer lagen schützende Teller über den vielen Karpfenresten. Ich sagte mir: Morgen gibt es wieder Karpfen. Ich wußte, Frau Veith wünschte, daß die Reste aufgegessen wurden. Drüben im Hinterhaus war eine Bäckerei. Durch die Fenster sah ich die Gesellen vor dem langen Trog arbeiten. Sie feierten überhaupt kein Weihnachtsfest. Aber eine Stadt muß ja Brot haben. Am folgenden Morgen kamen die Geldanweisungen. Sie waren tatsächlich auf den Bergpässen hängengeblieben. Sogar der Maler erhielt Geld. Kunstfreunde hatten sich seiner Zigeuner erbarmt.
»Das ist es eben«, sagte er, »man muß sich darauf verstehen, das passende Format zu wählen.« Er nahm die Einzahlungsscheine fächerförmig zusammen und betrachtete sie. »Weißt du«, sagte er, »wenn man nur fleißig ist und arbeitet, daß es dampft, dann kommt doch etwas herein.« »Manchmal ein bißchen spät«, sagte ich. Und wir lachten beide. Aber wir aßen einige Tage auswärts und überließen die Karpfen und den Wein der Eisenbahnschaffner den Veiths. So undankbar ist nun einmal die Welt.
Federigo Tozzi Das Weihnachtsschwein
Bis zum Weihnachtsfest fehlten nur noch zwei Tage. Der Himmel war grau verhangen, und es konnte durchaus sein, daß es regnen würde. So dachte auch Gano, und er wußte nicht, ob er das Schwein unter der Remise oder auf der Tenne schlachten sollte, wo es mehr Platz gab. Doch Gesualda, seine Schwägerin, die auf die Rückkehr ihres Mannes Fiore aus dem Bezirkskrankenhaus wartete, überzeugte ihn, auf die Tenne zu gehen. Sie hätte ihm nicht helfen können, weil sie das Kind stillen mußte, aber vom Nachbarhof waren eigens zwei Männer herübergekommen. Gano öffnete das Tor des Pferchs, und das Schwein kam heraus im Glauben, daß man ihm noch einen Eimer mit Weizenkleie zu fressen geben wollte. Es war so fett, daß es sich kaum bewegen konnte, ja, man mußte es sogar mit der Peitsche schlagen, damit es sich auf den Beinen hielt: Bei jedem Schritt fiel es hin. Die beiden Männer fesselten es an den Füßen. Um das nicht mit ansehen zu müssen, ging Gesualda weiter weg; aber dennoch hörte sie das Grunzen und empfand Mitleid. Einer der Männer nahm eine Schüssel, um das Blut aufzufangen, und Gano nahm das geschliffene Messer. Ein wenig später hörte das Grunzen auf, und das Schwein, dessen Füße nun wieder frei waren, lag ausgestreckt auf der Tenne. Die Mischlingshündin hatte jetzt keine Angst mehr, näher zu kommen, und beschnupperte es bellend.
Die Männer nahmen einen anderen Strick und hängten das Schwein zwischen zwei Zypressenstämmen mit dem Kopf nach unten auf. Danach begannen sie, seine Borsten zu entfernen: einer von ihnen schüttete kochendes Wasser über das Schwein, und die anderen schabten es schnell ab. Die Haut wurde rosig und dampfte. Danach weideten sie es vermittels eines geraden Schnitts aus. Die Hunde der anderen Bauern wurden vom Geruch des Fleisches angelockt und kamen aus allen Richtungen herbeigelaufen. Die Hündin biß auf sie ein, weil sie die Blutlachen allein auflecken wollte; jetzt, wo das Blut erkaltet war, troff es in Fäden zwischen den Zähnen des Schweinerüssels herunter. Gesualda sah sich das im Eimer aufgefangene Blut an. Es war gut, beinahe schwarz. Auch die Bauern waren davon bespritzt worden, und es gelang ihnen nicht, die Hunde fortzujagen, die auch sie ablecken wollten. Nachdem die Männer den Schnitt mit den Händen geweitet hatten, fielen die Innerein von selbst heraus und Gano breitete sie auf einem Brett aus, um sie anschließend zu waschen. Sie lösten die Leber und die Lungen heraus und banden sie mit einem Stück Schnur an eine andere Zypresse. Dann trennten sie den Kopf ab. Jetzt mußte das Schwein nur noch gevierteilt werden, doch Gesualda wollte, daß sie damit auf Fiore warteten. Er hätte schon längst da sein müssen! Sie schaute die Straße hinunter, indem sie sich mitten in die Sträucher drängte, um so von dort aus bis zur Biegung sehen zu können. Fiore mußte mit dem Postwagen von Monteroni eintreffen oder möglicherweise auch zu Fuß. Aber zu sehen war nur der Mann von der Straßenmeisterei, der Steine aufsammelte, um sie dann auf den Schlamm zu legen. Und wenn es anfing zu regnen? Gano wollte nicht
länger warten. Als er zu seiner Schwägerin hinübersah, schüttelte er den Kopf. Aber bei ihr konnte man sowieso niemals recht behalten! Auch die beiden Männer hatten es eilig und waren gespannt darauf herauszufinden, wieviel Fleisch und Fett das Schwein erbrachte. Sie hatten nämlich eine Wette abgeschlossen, wer die richtige Menge erraten würde. Sie befühlten das Fleisch und strichen mit ihren Händen darüber, sie steckten ihre Finger in den Schnitt, um die Rippen zu betasten, sie nahmen den Schweinskopf in ihre Hände und besahen die roten Lungen, die an der frischen Luft zu trocknen begannen. Gesualda wollte, daß Fiore alles Weitere übernahm, weil er sich besser darauf verstand und weil sie wußte, wieviel Freude es ihm machen würde. Doch auch ihr kam es jetzt so vor, als müßte sie noch tausend Jahre auf die Verkostung des Fleisches warten, und die Gier bemächtigte sich ihrer immer stärker. Hätte sie nicht das Kind an ihrer Brust getragen, wäre sie Fiore entgegengelaufen! »Was sollen wir tun, Gano?« »Es wäre natürlich besser gewesen, wenn wir auf meinen Bruder gewartet hätten, aber da wir sowieso nicht auf ihn gewartet haben, ist es besser, daß wir die Sache zu Ende bringen. Sonst sind wir am Mittag noch immer hier. Wenigstens die Schinken hätten wir schon einsalzen können! Das mußt du zugeben, Gesualda!« Die beiden Männer wollten nichts sagen und blieben stumm, fluchten aber gleichwohl im stillen. Da fing die Frau an zu weinen. Darüber geriet Gano in Zorn und sprach kein Wort mehr mit ihr, um nicht grob zu werden. Gesualda sah sein Gesicht und hatte Angst. Gano sagte: »Und wenn es zu regnen anfängt?« Er ließ seine Wut an den Hunden aus und warf mit Steinen und zerbrochenen Ziegeln nach ihnen.
Der Wind brachte die Zypressen zum Ächzen, an denen das Schwein aufgehängt war, das ganz leicht hin und her schaukelte. Schließlich sah auch die Frau ein, daß man mit der Arbeit weitermachen müsse; und nachdem sie das Kind in ein Strohkörbchen gelegt hatte, ging sie den Männern zur Hand. Sie brachte die prächtigen Fleischbrocken in ihrer Schürze ins Haus und verschloß augenblicklich die Türe, damit keine Katzen hereinkommen konnten. Sie geriet ins Schwitzen, als sie die Treppen hinauf und herunter stieg, doch das Fleisch war dermaßen viel, daß sie den ganzen Tag hätte weitermachen können, ohne Müdigkeit zu spüren. Die Männer priesen das Schwein: Es hatte wirklich gewaltige Schenkel und war durch und durch gesund. Gesualda hatte ihren Mann fast vergessen! Fetter Speck und mageres Fleisch: die ganze Küche war voll damit. Doch als sie die Arbeit hinter sich gebracht hatten und Gesualda ihr Kind wieder auf den Arm nahm, schlug sie sich mit der Hand an den Kopf: »Und mein Fiore?« Und wieder begann sie, ihn mit einer solchen Ungeduld zu erwarten, daß sie wie betäubt war. Sie konnte keine Minute ruhig bleiben und hätte sich am liebsten auf die Tenne gestürzt. Dann blieb sie stehen, stellte sich auf ihre Zehenspitzen, reckte den Hals und horchte, ob kein Wagen kam. Nichts, gar nichts! Die Straße war im Nebel wie ausgestorben. Fiore war in den Krieg gezogen, bevor das Mädchen geboren war, und wer weiß, wie er reagieren würde, wenn er es zum ersten Mal sah. Es war ein schönes, rundliches Mädchen, dem unter der kleinen Mütze schon ein feiner Haarschopf hervorquoll. Es versuchte auch schon zu sprechen, brachte jedoch nur Speichel hervor.
Gesualda mußte ihr den Mund mit dem Taschentuch abwischen, damit nicht auch das Lätzchen und das saubere Kleidchen durchnäßt würden. »Der Papa kommt! Der Papa kommt! Jolanda! Weißt du’s noch nicht, daß der Papa kommt? Kennst du ihn noch nicht, deinen Papa? Du wirst sehen, wie schön er ist! Du mußt den Papa anlächeln! So, ja so! Du Goldschatz!« Und das kleine Mädchen bewegte sich lebhaft in seinen Windeln, bis es dann mit offenem Mund ein Lächeln hervorbrachte, das tief innen in der Kehle begann. Endlich hört man ein dumpfes Geräusch: gewiß ein Wagen. Ob er darin sein wird? Gesualda zwängt sich durch die Sträucher und weiter auf die Straße. Der Wagen hält an: Zwischen den beiden Planen des Wagens hat eine Hand dem Fahrer ein Zeichen gegeben, der mit dem Kopf andeutet, daß er verstanden hat. Der Wagen steht still. Gesualda läuft mit stockendem Herzen hinüber. »Fiore!« Er weiß nicht, ob er zuerst seine Frau umarmen oder das Kind nehmen soll, und so umarmt er sie alle beide. Aus dem Wagen schaut man ihnen zu und grüßt. Fiore aber hat ein Bein, das nicht zu dem anderen zu passen scheint. Seine Frau bemerkt das und wird bleich, ohne aber wirklich zu begreifen. Da klopft Fiore mit einem Stock, den er in seiner Hand hält, dagegen und sagt mit unsicherem Lächeln: »Das hier ist aus Holz!« Seine Frau wird noch bleicher, und das Kind entgleitet beinahe ihren Armen. »Ich hab’ dir nichts davon geschrieben, weil du dir sonst wer weiß was vorgestellt hättest!« »Heilige Madonna, und was soll jetzt werden?«
»Ich kann trotzdem gut laufen, ich kann sogar damit arbeiten.« Gesualda war davon nicht sonderlich überzeugt. Und als der erste Schrecken vorüber war, fing sie an zu weinen. »So beruhige dich doch! Sieht so etwa der Empfang aus, den du mir bereitest?« fragte er sie lächelnd. Da umarmte ihn seine Frau noch einmal und wollte ihn nicht mehr loslassen. Sie sagte: »Siehst du, wie deine Jolanda aussieht?« »Wird sie noch gestillt?« »Ja, aber sie fängt auch schon an, Brei zu essen.« Fiore kitzelte Jolanda am Kinn, doch sie lächelte nicht. »Das ist der Papa, verstehst du?« Er sah ihr in die Augen und war glücklich. Da nahm er sie und küßte sie überallhin. Aber er wollte gleich sehen, wie sie beschaffen war. Gesualda nahm dem Kind das Mützchen ab, da küßte Fiore ihm die Haare. Danach löste sie dem Kind auch die Windeln, und er betrachtete es im ganzen. Er nahm die Füßchen, legte seine Hand auf den Nabel, und das Kind begann zu strampeln. »Sie friert! Du kannst sie nachher noch sehen; im Haus ist der Herd angezündet.« »Du hast recht: Deck sie wieder zu.« Jetzt lachte das Kind und strampelte in alle Richtungen, so als wolle es sich aus den Windeln befreien. »Halt! Du tust dir weh!« Und Fiore sagte: »Sie ist kräftig wie ein junges Kälbchen! Und dir ist es immer gut ergangen?« »Gott sei Dank, ja. Aber ich habe mir deinetwegen solche Sorgen gemacht, daß ich lieber selbst krank geworden wäre!« Gano hatte die Stimme seines Bruders gehört und kam, laut mit den Holzgaloschen klappernd, die Treppe herunter. Sie schüttelten sich die Hände und umarmten sich. Die beiden
anderen Männer grüßten Fiore mit hochgekrempelten Hemdsärmeln oben von der Loggia herunter. Gano sagte: »Bist du wieder ganz gesund?« »Ich bin zufrieden.« »Von wegen gesund!« rief Gesualda. Da erzählte Fiore alles: Er war von einer Handgranate verwundet worden, und so hatte man ihm das Bein abnehmen müssen. Doch ein außerordentlich tüchtiger Professor in Rom hatte ihm ein Holzbein gemacht und ihm beigebracht, wie man damit umgeht, als wäre es das eigene. Dort waren auch Gräfinnen und Baroninnen, die brachten Blumen und halfen den Soldaten beim Gehen, solange diese noch kein Holzbein hatten. Fiore erzählte dies alles mit einer Dankbarkeit, die ihn zufrieden stimmte. Und dann sagte er: »Übrigens muß ich an eine von ihnen schreiben, um ihr zu sagen, wie’s mir geht. Sie hat mir ihre Adresse gegeben.« Und er zog aus seiner Tasche eine Visitenkarte hervor, die ganz zerknittert war. Als er aber sah, daß seine Frau und sein Bruder noch immer nichts sagten, fügte er hinzu: »Außerdem werde ich trotzdem arbeiten wie zuvor. Das ist das wichtigste für uns und unseren Hof. In Rom, wo sie mir dieses Bein verpaßt haben, habe ich auch gelernt, Gartenarbeit zu verrichten. Hier, ums Haus herum, ist die Erde frisch und gut, auch für die Blumenzucht. Und außerdem ist es eine Südlage. Glaubt ihr etwa nicht, daß ich arbeiten kann? Jetzt seht erst einmal, wie ich gehe!« Er warf den Stock weg und ging durch die ganze Tenne. Dann kam er zurück. Seine Frau traute sich nicht, zu lächeln. Fiore sagte: »Nun verärgert mich bloß nicht! Ich sage euch, das Bein funktioniert prächtig!« Und Gano antwortete: »Dann wollen wir auch nicht mehr darüber sprechen!«
Fiore fragte: »Was tun die beiden Männer hier?« Gesualda verbarg ihr Gesicht hinter dem kleinen Kind und hätte nicht den Mut gehabt, ihm zu antworten. Doch Gano, obwohl auch er sich innerlich nicht ruhig fühlte, antwortete: »Vorhin haben wir das Schwein geschlachtet!« Fiore drehte sich abrupt herum und streckte seinen Arm aus: »Ohne daß ich gesehen habe, wie es lebendig aussah!« »Ich hatte die Männer bereits rufen lassen, daß sie helfen sollten! Und dein Wagen hatte Verspätung.« »Das stimmt, aber ich hätte es gerne selber geschlachtet. Und warum hast du, Gesualda, ihnen nicht gesagt, daß sie warten sollten?« Seine Frau zitterte und hielt den Blick gesenkt. Da sagte Gano: »Sie hat keine Schuld, sondern ich. Aber warum kommst du denn nicht ins Haus und siehst dir an, wieviel Fleisch es gebracht hat?« Fiore stieg vor den anderen hinauf: Eigentlich wollte er schimpfen, doch dann berührte er mit zitternden Händen all die Fleischklumpen und dachte bereits an die Mengen von Bratwürsten und Salami, die dabei herauskommen würden. Gesualda stand hinter ihm. Die drei Männer sahen ihn an und erwarteten, daß er ein paar Flüche ausstoßen würde. Doch die große Fleischmenge hatte Fiore besänftigt, und, zu seiner Frau gewandt, sagte er: »Heute brätst du für jeden von uns hier ein Kotelett. Dieses Jahr werden wir ein fettes Weihnachtsfest haben.« Und auch er weinte gerührt.
Sean O’Faolain Ein feines Pärchen
Als Maxer Creedons Schiff am Tage vor Weihnachten in New York anlegte, ging Maxer in einen Drugstore, von wo aus er einen Mann namens Bannin anrufen wollte, den er von Texas her kannte. Während er mit dem Zeigefinger die lange Spalte der BAN im Telefonbuch hinabglitt, blieben seine Augen an dem Namen Bandello haften. Mrs. L. Bandello, 235, 47ste Straße. Ohne den Finger von dem Namen Bandello fortzunehmen, sah er mit halbem Blick den Mann hinter der Bar – und sah ihn doch nicht. Bandello! Seit der Zeit, da er ein kleiner Dreikäsehoch gewesen, hatte er diesen Namen immer wieder gehört. Und noch heute konnte er Wort für Wort die Geschichte von Tante Lily und dem Italiener wiederholen, die seine Mutter – Gott hab sie selig! – so oft erzählt hatte. »Je ja, die arme Lil! Ich möchte nur wissen, was aus ihr geworden ist! Ein Italiener hat ihr den Kopf verdreht. Er ging von Haus zu Haus und verkaufte Heiligenfiguren. Ein hübscher Mensch namens Bandello. Und eines schönen Oktobermorgens, ehe auch nur eine Menschenseele ans Aufstehen dachte, wartete sie schon unter dem großen Baum beim Kreuz von Ballyroche auf ihn, und dann gingen sie die River-Road in Cork hinunter, und das war das letzte, was man von ihnen sah. Bis auf den heutigen Tag kein Sterbenswörtchen, nur der Brief, den der Priester in New York an unsern Vater schrieb, worin zu lesen stand, daß sie glücklich verheiratet sei.« – Und jedesmal, wenn die Geschichte aus war, fing sie an, die Jahre nachzurechnen, und
als Maxer sie das letztemal gehört hatte, da hieß es: »Und das ist nun schon vierunddreißig Jahre her!« Maxer steckte sein Geldstück in den Schlitz und drehte die Nummer. Als ihm eine Frauenstimme antwortete, mußte er über den unverfälschten Corker Dialekt lachen. »Ich heiße Maxer Creedon«, sagte er. »Wollte nur mal fragen, ob Sie vielleicht meine Tante Lil sind?« Sie stellte ein paar Fragen, und dann sagte sie: »Komm am Weihnachtstag zu mir!« »Gern, Tante Lil, ich komme! Ich bringe auch etwas mit, um auf deine Gesundheit anzustoßen!« Mittags aß er auf dem Schiff – es gab ein Festtagsessen – und gegen halb vier steckte er eine Flasche Jamaika-Rum in die Tasche seiner Windjacke und zog los. Kaum erblickte er die alte Frau, die sich über des Geländer des dunklen Treppenabsatzes beugte, da sah er auch schon seiner Mutter Augen. Und sowie er oben war, schlang sie ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. Dann zog sie ihn an beiden Händen ins Zimmer und schalt: »Warum bist du denn nicht schon zum Mittagessen gekommen?« »Ich wußte nicht, ob ich zum Essen kommen durfte, Tante Lil. Ich dachte, ich solle dich nur besuchen.« »Allmächtiger Gott! Um eins hatte ich alles fertig. Den lieben langen Vormittag war ich in der Küche, und seit ein Uhr hab’ ich auf dich gewartet. Soll ich etwa ein ganzes Weihnachtsessen allein verspeisen? Und du läßt mich warten und warten, und nun ist alles verdorben!« Sie sank gegen seine Schulter, vergoß einen Tränensegen und schluchzte: »Du bist ihr wie aus den Augen geschnitten!« Er konnte nichts weiter tun als ihr auf den Rücken klopfen und in den dicken Schnee vor den Fensterscheiben schauen – und dann auf den schöngeschmückten Tisch. Schließlich sagte
er: »Aber Tante Lil, ich möchte ja sehr gern ein bißchen essen!« Da kam Leben in sie: »Natürlich, du mußt alles aufessen, was ich für dich gekocht habe! Alles bis aufs letzte Krümchen! Du elender Strick du! Hättest doch pünktlich sein können!« Sie sah seiner Mutter sehr ähnlich, nur größer war sie. Und sie war genauso energisch und kommandierte noch mehr als seine Mutter. Da saßen sie nun und aßen Entenbraten und Erbsen und Apfelmus und Preiselbeeren. Sie fragte ihn nach seinem Vater und seiner Mutter, und er sagte, es gehe beiden ›ausgezeichnet‹. Dann fragte sie nach seinen Brüdern und Schwestern, und er sagte, es gehe ihnen ›ausgezeichnet‹. Danach fragte sie nach ihren eigenen Schwestern und Brüdern, die seine Onkel und Tanten waren, und obwohl er seit zehn Jahren nicht mehr in Ballyroche gewesen war, sagte er, es gehe allen ›ausgezeichnet‹. Und schließlich fragte sie, wie es ihm selbst gehe, und er sagte: »Ausgezeichnet!« Dann fragte er, warum sie denn zum Teufel nie nach Hause geschrieben habe. Nicht ein einziges Mal! »Nicht ein einziges Mal«, lachte sie, wie ein unartiges kleines Mädchen. Er sagte: »Wie meine Mutter erzählen würde: ›Und bis auf den heutigen Tag kein Sterbenswörtchen!‹ – Du bist mir eine ganz Schlimme!« Da stand sie auf und schaltete das elektrische Licht an. Das Zimmer war altmodisch und düster und vollgepfropft mit dunklen Möbeln. Die Schneeflocken tupften unablässig mit ihren Pfötchen an die Fensterscheiben und vergingen wie ebenso viele Erinnerungen. Er fragte: »Hast du immer hier gewohnt, Tante Lil?« »Ja, das ist mein Heim.«
»Und dein Mann ist gestorben?« »Mein Mann war immer sehr gut zu mir. Er hat mich geliebt und auf Händen getragen. Er war Direktor in einem Warenhaus. Uns ging’s immer ausgezeichnet. Vor vierundzwanzig Jahren kam er bei einem Eisenbahnunglück ums Leben. Aber er hatte ausgezeichnet für mich vorgesorgt.« Sie holte eine eingerahmte Fotografie vom Büffet: ein heiterer, hübscher Italiener blickte zuversichtlich in die Welt. Dann zeigte sie ihm ihr eigenes Bild, das in ihren jungen Jahren aufgenommen worden war. Das dritte war die Fotografie eines Knaben, aber die brachte sie nicht herbei… »Er sah sehr gut aus, dein Mann«, meinte Maxer. »Ja, großartig! Mein Sohn lebt natürlich noch. Er hat eine Polin geheiratet. Heute abend will ich sie besuchen, es geht ihnen ausgezeichnet. – Aber sag mir doch, wie lange ist es her, seit du in Ballyroche warst? Den Hof haben sie wohl noch? Und jetzt haben sie sicher Autos und Elektrizität und lauter moderne Einrichtungen?« »Haha, kein Gedanke daran«, lachte Maxer. »Immer noch die alte Wirtschaft! Zwölf Kühe haben sie und ein Ponywägelchen. Wenn du morgen hinfahren würdest, könntest du keinen Unterschied entdecken.« Sie blickte ihn ein Weilchen an. Dann sprang sie auf. »Ich hab’ ja noch etwas für dich! Was du sehr gern ißt! Kürbiskuchen! Hab’ ich dir zuliebe gebacken.« Maxer konnte Kürbiskuchen nicht ausstehen, aber er mußte ihn verdrücken. »Arbeitet dein Sohn in New York, Tantchen?« »Ja, er hat eine ausgezeichnete Stelle: Direktor in einem Warenhaus! Aber erzähl mir doch auch von dir!« Er erzählte ihr allerlei aus seinem Leben. Dann erwähnte er, daß sein Schiff nächstens nach London fahre, und von dort aus würde er vielleicht auf einen Sprung nach Irland gehen.
»Meinst du, nach Cork?« »Natürlich. Wo soll ich denn sonst hinwollen. Sie werden sich schrecklich freuen, wenn sie hören, daß ich dich besucht habe. Werden mich tüchtig ausfragen nach dir!« Beide schwiegen. Sie schloß die Augen. Dann stützte sie den Kopf in die Hand. Schließlich wischte sie sich mit dem Handrücken über die Nase und schlug mit der geballten Faust auf den Tisch. Dem hübschen Italiener mitten ins Gesicht. Sie starrte das Bild an, packte es und schleuderte es quer durchs Zimmer, wo es an der gegenüberliegenden Wand zerschellte. Und dabei zischte sie ihn wütend an: »Warum bist du hergekommen? Hab’ ich jemals einen von euch um irgend etwas gebeten in all den vierundvierzig Jahren? Hab’ ich in meinem ganzen Leben auch nur einen Cent von euch bekommen? Einen einzigen Cent?« Maxer erhob sich langsam. »Ich habe dich besucht, weil Weihnachten ist und weil ich dachte, dir eine Freude zu machen.« Sie stand auch auf: »Oder weil du ein bißchen spionieren wolltest? Kannst ruhig nach Cork gehen und ihnen erzählen, was du willst. Kannst ihnen erzählen, daß ich am Verhungern bin, wenn sie das gern hören wollen, die lausigen, miserabligen Saukerle die!« »Du brauchst dir keine Gedanken zu machen«, sagte Maxer und knöpfte seine Jacke zu, »was ich denen in Cork erzählen könnte. Mich haben sie an die Luft gesetzt, als ich sechzehn Jahre alt war. Seit zehn Jahren bin ich nicht mehr zu Hause gewesen. Nicht mal meinen Nasenzipfel bekommen die in Cork zu sehen. Und nun kann ich dir ja gleich alles sagen: Mutter starb, als ich noch ein kleiner Bursche war. Vater heiratete wieder, und dafür hab’ ich ihn gehaßt…« An der Tür drehte er sich um: »Tut mir leid, daß ich’s dir so beibringen mußte. Ich wollt’s dir verheimlichen, daß sie tot ist. Ich wußte,
daß ihr zusammengehalten habt wie Pech und Schwefel. Und sie war immer stolz auf dich! – Danke fürs Essen!« »Stolz auf mich? Sechs Briefe hab’ ich ihr geschrieben, und sie hat nie geantwortet!« »Sie hat keinen einzigen bekommen. Niemand hat je einen Brief von dir bekommen. Nur vom Priester kam einer, in dem er schrieb, daß du verheiratet bist.« »Nie im Leben war ich verheiratet! Das hat er bloß so geschrieben. Der Italiener hat mich schon in Boston sitzenlassen. Mein Baby hab’ ich hier in Brooklyn bekommen. In der Pfarrgemeinde. Wenn sie dir etwas andres gesagt hat, so waren’s lauter Lügen, ja, Lügen! Ich habe ihr geschrieben, und ich hab’ auch meinem Vater geschrieben. Ich hab’ ihnen wieder und wieder geschrieben und um Hilfe gebeten. Sie dachten gar nicht dran, den Federhalter in die Hand zu nehmen. Jeden Tag meines Lebens hab’ ich arbeiten müssen. Mußte arbeiten, um meinen Jungen großzuziehen. Vor zwanzig Jahren ist er hier aus diesem Zimmer fortgelaufen und hat das liederliche Mädchen geheiratet, und seitdem hab’ ich weder ihn zu Gesicht bekommen noch sonst jemand von meinen Angehörigen. Bis du kamst.« Maxer starrte sie an. Sie watschelte auf ihn zu und legte ihm schüchtern die Hand auf den Arm: »Verzeih, aber ‘s ist die Wahrheit. Ich wollte dich nicht anschreien. Hast ja keine Schuld. Möchtest du etwas trinken? Soll ich uns ein bißchen Rumpunsch machen? Weil Weihnachten ist?« Maxer warf seine Mütze aufs Büffet und setzte sich. Er sah in die tanzenden Flocken, und die Hände hingen ihm schlaff und schwer zwischen den Knien herunter, so daß er aussah wie ein großer betrübter Affe. Die Tante lief emsig in die Küche und setzte den Teekessel auf. Sie machte zwei große Gläser Rumpunsch mit allem, was dazugehört: mit Zitrone und Zimtstangen und Würfelzucker. Dann saß sie neben ihm und
blickte ihm liebevoll ins Gesicht. Er sah sie an und seufzte. Sie stießen mit den Gläsern an: »Ach, Tantchen«, sagte er, »wir sind ein feines Pärchen! Also auf uns beide!« »Ein feines Pärchen«, kicherte sie verschmitzt. Sie hielt seine Hand und tätschelte sie. Die Augen liefen ihr wieder über, und sie fragte: »Hat sie überhaupt je von mir gesprochen?« »Immer wieder, und wie!« rief er. »Deshalb will mir das alles nicht in den Kopf. Dauernd sprach sie von dir! Und dabei weinte sie immer. Tantchen, glaubst du ganz bestimmt, daß sie wußte, wie schlecht ‘s dir ging?« Die roten Augen blinzelten müde. »Sechs Briefe können nicht verlorengehen. Sie wußte es. Vater wußte es. Alle wußten es. Jetzt kommt’s nicht mehr drauf an. Anfangs konnte ich’s nicht verstehen, aber als ich meinen Jungen großziehen mußte, lernte ich’s verstehen. Er war mir lieber als alles in der Welt und kam vor allem andern. Und deine Mutter hat es auch schwer gehabt, euch großzuziehen, und sie hatte euch auch lieber als alles in der Welt. Eine harte Welt ist’s, mein Lieber, und niemand kann so hart sein wie eine Mutter, die sich um ihre eigenen Kinder sorgt. Ich bin froh, daß sie wenigstens von mir gesprochen hat. Das ist besser als gar nichts.« »Sie hätte dir doch schreiben können.« »Ja.« Sie machten sich mehr Punsch, wieder und wieder, bis sie die Flasche Rum verbraucht hatten, und erzählten sich dabei von den Leuten in Ballyroche und zogen tüchtig über sie her. »Bei Gott, Tantchen«, lachte er, »du bist ein prachtvolles Mädchen! Aber du hast ein verdammt scharfes Mundwerk!« Sie kicherte: »Wirst wohl selbst ein Teufelskerl sein. In jedem Städtchen ein anderes Mädchen!« Er zog den Kopf ein und lachte: »Halb so wild!«
Sie hielten sich bei der Hand und nickten sich vergnügt zu. »Ich bin aber froh, daß ich herkam, Tantchen!« »Und ich erst!« Als er aufbrechen wollte, ging sie ins Schlafzimmer und kam mit fünfzig Dollar zurück, die sie ihm in die Brusttasche stopfte. »Dein Weihnachtsgeschenk«, sagte sie barsch. Er mußte es annehmen. Dann ging er fort. Er stieß den Schnee in spritzenden Fontänen vor sich her und kehrte zufrieden auf sein Schiff zurück. Jedesmal, wenn Maxers Schiff in New York anlegt, ruft er sie sofort an. Jedesmal zittert seine Hand, wenn er das Geldstück einwirft, und er hält den Atem an, bis er ihre Stimme hört, die im schönsten Corker Tonfall ruft: »Hallo…?« Dann ziehen sie gemeinsam durch die Stadt, gehen ins Kino und essen nachher Entenbraten. Sie unterhalten sich über Cork und die Verwandten in Ballyroche, und immer endet die Sache mit mehreren Gläsern Rumpunsch, wobei sie die ganze Verwandtschaft zum Kuckuck wünschen. Die Leute schmunzeln, wenn sie die beiden sehen. Sie halten sie für Mutter und Sohn.
Grace Paley Die lauteste Stimme
Es gibt da eine gewisse Gegend, wo Müllschlucker dröhnen, Türen knallen, Geschirr zerkracht; jedes Fenster ist der Mund einer Mutter, welcher die Straße bittet, endlich aufzuhören, anderswo rollschuhlaufen zu gehen, nach Hause zu kommen. Meine Stimme ist die lauteste. Da ist meine eigene Mutter, die hat noch einen genauso langen Atem wie ich, und der Kaufmann ermannt sich und spricht sie an: »Frau Abramowitz«, sagt er, »man soll vor seinen Kindern keine Angst haben.« »Ach, Herr Bialik«, antwortet meine Muter, »wenn Sie zu ihr oder ihrem Vater ›Ssch‹ sagen, sagen sie: ›Im Grabe wird Ruhe sein‹.« »Von Coney Island bis zum Friedhof«, sagt mein Papa. »Es ist dieselbe U-Bahn; es kostet dasselbe.« Ich stehe gleich beim Gurkenfaß. Mein kleiner Schlingel macht winzige Strudel in der Sole. Ich höre einen Augenblick auf, um auszurufen: »Campbell’s Tomatensuppe. Campbell’s Gemüsesuppe mit Rindfleisch. Campbell’s k-l-are Brühe…« »Sei still«, sagt der Kaufmann, »die Etiketten gehn ab.« »Bitte, Shirley, sei ein bißchen still«, bittet meine Mutter. In der Gegend stöhnt die ganze Straße: Sei still! Sei still!, raubt aber dem glücklichen Refrain in meinem innern Ich nicht ein Tüttelchen oder ein Jota. Da gibt es auch, aber gleich um die Ecke, ein rotes Backsteingebäude, das schon seit vielen Jahren alt ist. Jeden
Morgen stehen die Kinder davor in Zweierreihen, die gerade sein müssen. Sie sind nicht beleidigt. Sie warten sowieso. Ich bin gewöhnlich unter ihnen. Ich bin sogar die erste, weil ich mit »A« anfange. Eines kalten Morgens tippte mir der Ordner auf die Schulter. »Geh nach Raum 409, Shirley Abramowitz«, sagte er. Ich tat, was man mir sagte. Ich ging eilig eine Abwärtstreppe hinauf nach Raum 409, der Sechstkläßler enthielt. Ich mußte ohne mich zu rühren am Pult warten, bis Herr Hilton, ihr Lehrer, Zeit hatte zu sprechen. Nach fünf Minuten sagte er: »Shirley?« »Was?« flüsterte ich. Er sagte: »Nu! Nu! Shirley Abramowitz! Man hat mir erzählt, du hättest eine besonders laute, klare Stimme und läsest mit viel Ausdruck. Kann das stimmen?« »O ja«, flüsterte ich. »Wenn das so ist, dann sei nicht albern; ich könnte gut eines Tages dein Lehrer sein. Sprich laut, sprich laut.« »Ja!« schrie ich. »Jetzt kommen wir der Sache näher«, sagte er. »Nun, Shirley, kannst du ein Band in dein Haar tun oder eine Klemme? Es ist zu wüst.« »Ja!« brüllte ich. »Nun, nun, beruhige dich.« Er wandte sich zur Klasse. »Kinder, keinen Mucks. Schlagt auf Seite 39. Lest bis Seite 52. Wer fertig ist, fängt wieder von vorne an.« Er sah mich nochmals prüfend an. »Nun, Shirley, ich nehme an, du weißt, daß Weihnachten kommt. Wir studieren ein schönes Stück ein. Die meisten Rollen sind vergeben. Aber ich brauche noch ein Kind mit einer starken Stimme, viel Stehvermögen. Weißt du, was Stehvermögen ist? Du weißt es? Kluges Kind. Weißt du, ich habe gehört, wie du gestern ›Der Herr ist mein Hirte‹ in der Schulversammlung vorgelesen hast. Ich war sehr beeindruckt.
Wunderbarer Vortrag. Frau Jordan, deine Lehrerin, spricht in hohen Tönen von dir. Jetzt hör mal zu, Shirley Abramowitz, wenn du die Rolle bekommen und in dem Stück mitspielen willst, dann sprich mir nach: ›Ich schwöre, daß ich härter arbeiten will als je zuvor.‹« Ich blickte zum Himmel und sagte sofort: »Oh, ich schwöre.« Ich küßte meinen kleinen Schlingel und sah Gott an. »Das ist das Leben eines Schauspielers, meine Liebe«, erklärte er. »Wie das eines Soldaten, nie säumig oder ungehorsam gegen seinen General, den Regisseur. Alles«, sagte er, »absolut alles wird von dir abhängen.« An dem Nachmittag kratzten und schrubbten am ganzen Gebäude Kinder die Truthähne und Maisbündel von den Klassenzimmerfenstern. Adieu Thanksgiving. Den nächsten Morgen brachte ein Ordner rotes und grünes Papier aus dem Büro. Wir machten neue Formen, hängten sie an die Wände und klebten sie an die Türen. Die Lehrer wurden glücklicher und glücklicher. Ihre Köpfe klingelten wie die Glocken der Kindheit. Meine beste Freundin Evie zog sonst das Unglück an, aber sie bekam keine einzige Eintragung wegen Schwatzen. Wir lernten »Stille Nacht« ohne Fehler. »Wie wunderbar!« sagte Fräulein Glace, die Praktikantin. »Wenn man denkt, daß einige von euch nicht einmal die Sprache sprechen!« Wir lernten »Deck the Halls« und »Hark! The Herald Angels«… Sie schämten sich nicht, und uns war es nicht peinlich. Oh, aber als meine Mutter von all dem hörte, sagte sie zu meinem Vater: »Mischa, du weißt nicht, was da vor sich geht. Cramer ist Vorsitzende des Eintrittskartenkomitees.« »Wer?« fragte mein Vater. »Cramer? O ja, eine aktive Frau.« »Aktiv? Aktiv muß einen Grund haben. Hör zu«, sagte sie traurig, »ich sehe mit Überraschung, daß meine Nachbarn Tralala machen zu Weihnachten.«
Meinem Vater wollte dazu nichts einfallen. Dann entschied er: »Du bist in Amerika! Clara, du wolltest hierherkommen. In Palästina würden die Araber dich bei lebendigem Leibe auffressen. Europa, da hast du Pogrome gehabt. Argentinien ist voll von Indianern. Hier hast du Weihnachten… Schöner Witz, was?« »Sehr komisch, Mischa. Was ist aus dir geworden? Wenn wir in ein neues Land gekommen sind vor langer Zeit, um Tyrannen zu entgehen, und statt dessen in ein schleichendes Pogrom geraten, wo unsere Kinder eine Menge Lügen lernen, was soll daran witzig sein? Ach, Mischa, dein Idealismus geht dahin.« »Dein Sinn für Humor auch.« »Den hatte ich nie, aber Idealismus hattest du eine Menge.« »Ich bin noch derselbe Mischa Abramowitz, ich habe mich nicht ein Jota geändert. Da kannst du jeden fragen.« »Da brauchst du bloß mich zu fragen«, sagte meine Mama, sie ruhe in Frieden. »Ich kenne die Antwort.« Mittlerweile mußten auch die Nachbarn darüber nachdenken, was sie sagen sollten. Martys Vater sagte: »Wissen Sie, er hat eine sehr wichtige Rolle, mein Junge.« »Meiner auch«, sagte Herr Sauerfeld. »Nicht mein Junge!« sagte Frau Kling. »Ich habe zu ihm gesagt nein. Die Antwort ist nein. Wenn ich sage nein!, dann meine ich nein!« Die Frau des Rabbi sagte: »Es ist abstoßend!« Aber niemand hörte auf sie. Unter dem engen Himmel von Gottes großer Weisheit trug sie eine erdbeerblonde Perücke. Jeder Tag war laut und voller Erfahrung. Ich war rechte Hand. Herr Hilton sagte: »Was würde ich ohne dich anfangen, Shirley?«
Er sagte: »Deine Mutter und dein Vater sollten Gott jeden Abend auf den Knien danken, daß er ihnen ein Kind wie dich gegeben hat.« Er sagte auch: »Es ist eine ungetrübte Freude, mit dir zu arbeiten, mein liebes, liebes Kind.« Manchmal sagte er: »Um Himmels willen, was habe ich mit dem Manuskript gemacht? Shirley! Shirley! Finde es.« Dann antwortete ich ruhig: »Hier ist es, Herr Hilton.« Ab und zu, wenn er sehr müde war, rief er aus: »Shirley, ich habe einfach genug davon, diese Kinder anzuschreien. Würdest du Ira Pushkov sagen, er soll erst reinkommen, wenn Lester zum zweitenmal auf den Stern zeigt?« Dann brüllte ich: »Ira Pushkov, was ist los mit dir? Blödian! Herr Hilton hat dir schon fünfmal gesagt, du sollst erst reinkommen, wenn Lester zum zweitenmal auf den Stern zeigt.« »Ach Clara«, fragte mein Vater, »was macht sie da bis sechs Uhr, daß sie nicht mal die Teller auf den Tisch stellen kann?« »Weihnachten«, sagte meine Mutter kalt. »Ho! Ho!« sagte mein Vater. »Weihnachten. Was schadet es? Schließlich, aus der Geschichte kann jeder lernen. Wir wissen aus der Lektüre, daß dies auch ein Feiertag aus heidnischen Zeiten ist, Kerzen, Lichter, sogar Chanukka. Also wissen wir auch, daß es nicht ganz und gar christlich ist. Wenn sie also denken, daß es ein privater Feiertag ist, so sind sie bloß unwissend, nicht patriotisch. Was zur Geschichte gehört, gehört allen Menschen. Willst du ins Mittelalter zurückgehen? Ist es besser, sich den Kopf mit einem gebrauchten Rasierapparat zu scheren? Schadet es Shirley, wenn sie lernt, den Mund aufzumachen? Das tut es nicht. Also wird sie vielleicht eines Tages nicht mehr zwischen Küche und Laden leben. Sie ist kein Dummkopf.«
Ich danke dir, Papa, für deine Freundlichkeit. Das gilt für mich bis auf den heutigen Tag. Ich bin dumm, aber ich bin kein Dummkopf. Den Abend küßte mich mein Vater und sagte mit großem Interesse an meiner Karriere: »Shirley, morgen ist dein großer Tag. Glückwunsch.« »Spar’s dir«, sagte meine Mutter. Dann machte sie alle Fenster zu, um einer Mandelentzündung vorzubeugen. Am Morgen schneite es. An der Straßenecke war für uns von einer freundlichen Stadtverwaltung ein Baum geschmückt worden. Um seinem eisigen Schatten auszuweichen, gingen unsere Nachbarn drei Blocks östlich davon, wenn sie einen Laib Brot kauften. Der Schlachter zog schwarze Rollos vor seinen Fenstern runter, damit die bunten Lichter nicht auf seine Hühner schienen. Oh, nicht so ich. Auf dem Weg zur Schule warf ich dem Baum mit beiden Händen einen Kuß der Toleranz zu. Armes Ding, es war ein Fremder in Ägypten. Ich ging geradewegs ins Auditorium, an den glotzenden Kindern vorbei. »Geh nur, Shirley«, sagten die Ordner. Vier Jungen, groß für ihr Alter, hatten schon mit ihrer Arbeit als Requisiteure und Bühnenarbeiter begonnen. Herr Hilton war nervös. Er war nicht einmal glücklich. Immer wenn er einen Satz anfing, endete er mit einem trauervollen Blick auf die Seite. Er saß zusammengesunken in der Mitte der ersten Reihe und bat mich, Fräulein Glace zu helfen. Ich tat das, obwohl sie meine Stimme zu resonanzreich fand und sagte: »Angabe!« Eltern kamen schon an, lange bevor wir fertig waren. Sie wollten einen guten Eindruck machen. Zwischen den Metern von Vorhängen hindurch spähte ich hinaus ins Publikum. Ich sah meine verlegene Mutter. Ira, Lester und Meyer wurden von Fräulein Glace an ihre Bärte geklebt. Sie hätte beinahe vergessen, den Stern auf
seinen Draht zu fädeln, aber ich erinnerte sie daran. Ich hustete ein paarmal, um meine Kehle freizumachen. Fräulein Glace blickte um sich und sah, daß alle ihre Kostüme anhatten und auf der richtigen Stelle darauf warteten, ihre Rollen zu spielen. Sie flüsterte: »In Ordnung…« Dann: Jackie Sauerfeld, der hübscheste Junge in der ersten Klasse, teilte die Vorhänge mit seinem mageren Ellbogen und rief mit einer hohen Stimme aus: »Liebe Eltern hier, bereit sind wir, zu zeigen euch ein Weihnachtsspiel. Die Geschichten wir berichten und auch mit Pantomime viel.« Er verschwand. Meine Stimme brach sofort aus der Seitenkulisse hervor und versetzte Ira, Lester und Meyer einen gewaltigen Schock, die zwar darauf gewartet hatten, aber trotzdem überrascht waren. »Ich denke zurück, ich denke zurück, an das Haus, in dem ich geboren bin…« Fräulein Glace riß den Vorhang auf, und da war es, das Haus – ein alter Heuboden, wo Celia Kornbluh im Stroh lag mit Cindy Lou, ihrer Lieblingspuppe. Ira, Lester und Meyer bewegten sich langsam von der Seitenkulisse auf sie zu, wobei sie manchmal auf einen sich bewegenden Stern und manchmal vorwärts auf Cindy Lou zeigten. Es war eine lange Geschichte, und es war eine traurige Geschichte. Ich sprach sorgfältig all die Wörter über meine einsame Kindheit aus, während Klein-Eddie Braunstein die Bühne auf und ab wanderte mit seinem Schäferstab, nach Schafen suchend. Ich brachte wieder die Einsamkeit zur
Sprache und wie ich überhaupt nicht verstanden wurde außer von ein paar Frauen, die niemand mochte. Eddie war zu klein dafür, und Marty Groff nahm seinen Platz ein, er trug den Gebetsschal seines Vaters. Ich kündigte zwölf Fremde an, und die Hälfte der Jungen aus der vierten Klasse versammelte sich um Marty, der auf einer Apfelsinenkiste stand, während meine Stimme feierlich tönte. Sorgenvoll und laut deklamierte ich über Liebe und Gott und den Menschen, aber wegen des schrecklichen Betrugs von Abie Stock kamen wir plötzlich zu einem berühmten Augenblick. Marty, dessen Erinnerung beschwörende Zunge ich war, wartete am Fuße des Kreuzes. Er starrte verzweifelt ins Publikum. Ich stöhnte: »Mein Gott, mein Gott, warum hat du mich verlassen?« Die Soldaten, die Scheiche waren, ergriffen den armen Marty, um ihn zum Sterben anzunageln, aber er schüttelte sie ab, wandte sich wieder zum Publikum und reckte seine Arme gen Himmel, um Verzweiflung und das Ende anzuzeigen. Ich murmelte aus voller Kehle: »Der Rest dieser Stadt – in dieser Welt – nun weiß, ich werde das ewige Leben haben.« Den Abend besuchte Frau Kornbluh unsere Küche auf ein Glas Tee. »Wie geht’s der Jungfrau?« fragte mein Vater mit einem Blick der Anteilnahme. »Für einen Mann mit einer Tochter machen Sie Ihren Mund ziemlich weit auf, Abramowitz.« »Hier«, sagte mein Vater freundlich, »nehmen Sie Zitrone, das wird Ihre Laune versüßen.« Sie debattierten ein bißchen auf Jiddisch, fielen dann in einen Matsch von Russisch und Polnisch. Was ich als nächstes verstand, war mein Vater, der sagte: »Wie dem auch sei, es war ganz gewiß eine schöne Sache, das müssen Sie zugeben, uns mit den Überzeugungen einer andern Kultur bekannt zu machen.«
»Nun, ja«, sagte Kornbluh. »Bloß… Sie kennen Charlie Turner – der entzückende Junge in Celias Klasse – ein paar andere? Sie haben sehr kleine Rollen oder überhaupt keine Rollen gekriegt. Sehr gegen den guten Geschmack, wollte mir scheinen. Schließlich ist es ihre Religion.« »Ach«, erklärte meine Mutter, »was sollte Herr Hilton machen? Sie haben sehr kleine Stimmen; warum sollten sie schließlich brüllen? Die englische Sprache, die können sie auswendig von Anfang an. Sie sind blond wie Engel. Finden Sie es so wichtig, daß sie mitspielen? Weihnachten… das ganze Drum und Dran… es gehört ihnen doch schon.« Ich horchte und horchte, bis ich nicht mehr horchen konnte. Zu müde kletterte ich aus dem Bett und kniete. Ich machte eine kleine Kirche aus meinen Händen und sagte: »Höre, o Israel…« Dann rief ich in Jiddisch aus: »Bitte, gute Nacht, gute Nacht. Ssch.« Mein Vater sagte: »Selber Ssch«, und knallte die Küchentür zu. Ich war glücklich. Ich schlief sofort ein. Ich hatte für alle gebetet: meine redende Familie, entfernte Vettern, Vorübergehende und all die einsamen Christen. Ich erwartete, daß man mich hörte. Meine Stimme war ganz gewiß die lauteste.
Božena Benešová Der Zigeunerprinz Der kleine Bohumír Vlach freute sich schon sehr auf den Heiligen Abend. Seit den Ferien zählte er die Tage bis Weihnachten, und als der Dezember begonnen hatte, sogar die Stunden. Die großen, Zahlen gingen zwar nur schwer in sein siebenjähriges Köpfchen hinein, aber da er nun einmal alles auf der Welt genau und bis in alle Einzelheiten kennenlernen wollte, plagte er sich jeden Tag, wenn er rechnete, mit größter Ausdauer mit den komplizierten Zahlen ab. Nicht selten wurde er deshalb ausgelacht. Besonders tat sich sein großer Bruder Hans hervor, der in die Sekunda der Realschule ging und den Kleinen oft in verletzender Weise neckte, wenn er sich bei seinen ungewohnten Rechenaufgaben auch nur ein ganz klein bißchen geirrt hatte. Dann gab es viele hämische Bemerkungen. Hans lachte so sehr über ihn, daß sogar der Vater einstimmte und den kleinen Bohusch auf jede nur mögliche Weise verulkte; denn Hans war schon von jeher der Liebling des Vaters. Aber auch die kleine Andulka, die noch kaum einen Satz von fünf Wörtern nachplappern konnte, hielt die Zeit für gekommen, sich über ihren größeren Bruder Bohusch lustig zu machen, und sie wiederholte immer, was die andern sagten: »Unser Bohusch wird bestimmt kein großer Gelehrter werden, nein, bestimmt nicht…« Bohusch war dabei, als führe ein glühendes Eisen durch seine Brust; er ertrug den Spott nur schwer, aber er konnte sich beherrschen. Er wußte ja, die Zeit war gekommen, da das Christkind alles besonders scharf beobachtete und sich jedes Vergehen genauestens aufschrieb, und um nichts in der Welt
hätte er Mißfallen erregen mögen. Bereits vor einer Woche hatte er dem Christkind einen kleinen Brief geschrieben, in dem er alle seine Wünsche aufgezählt und gleichzeitig versprochen hatte, immer brav und fleißig zu sein, sich nichts zuschulden kommen zu lassen und niemals zu trotzen. Trotz und Zorn waren nämlich seine häufigsten Sünden. Nun durfte er doch nicht böse werden, und die Vorfreude in seinem Herzen gab ihm auch die Kraft, sich über die Unannehmlichkeiten hinwegzusetzen. Mit jedem Tage schien ihm alles schöner und feierlicher zu werden. Mitte Dezember fühlte er sich bereits wie im siebenten Himmel und lächelte oft selig vor sich hin. Besonders morgens, wenn er geweckt wurde und bedachte, zehn Stunden seien wieder in aller Stille vorübergeeilt, ohne daß er selbst etwas davon gespürt hatte, erfüllte ihn große Fröhlichkeit. Dann glaubte er aus weiter Ferne bereits Tannenduft zu riechen, der mit jedem Tag näher kam. Schnell schloß er dann noch für einen kurzen Augenblick die Augen und sah alles so lebendig vor sich wie im schönsten Traum. Er sah einen hohen Lichterbaum und einen reich gedeckten Gabentisch. Auf schönen Tellern lagen Apfelsinen, Datteln und Feigen, weiche Butterkuchen und knuspriges Mandelgebäck, große Bonbons in durchsichtigem Papier mit langen Fransen, kleine Pastillen, kleiner als ein Stecknadelkopf, süße Zuckerwatte, die aussah wie Schnee, der unterwegs auf die Geschenke des Christkinds gefallen war. Es gab insgesamt drei solche Teller, und einer davon gehörte immer ihm. Unter dem Weihnachtsbaum standen drei niedrige, mit grünem Seidenpapier bedeckte Tischchen, und eines davon gehörte ebenfalls ihm, und darauf lagen… Bohusch empfand jedesmal eine besondere Freude, wenn er in seinen Gedanken bis hierher gekommen war, aber eine Gewißheit lag nicht darin. Er gab sich Mühe, sich alles so
genau wie möglich auszumalen: Auf seinem grünen Tischchen würde sicher eine neue Wintermütze mit Pelz liegen, auch eine Schießscheibe mit einer kleinen Pistole und Gummibolzen würden dabei sein, Dinge, die er sich gewünscht hatte und die er gut gebrauchen konnte. Eine solche Mütze hatte jeder Junge in seiner Klasse, der etwas auf sich hielt, und ein Schießwerkzeug gehörte schließlich auch zu jedem richtigen Jungen, ganz gleich ob Bogen, Gewehr oder Pistole. Wenn man so folgsam war, daß man sich nicht einmal eine Schleuder baute, hatte man wohl das Recht, vom Christkind wenigstens eine Scheibe mit Gummibolzen zu erwarten. Ja, Mütze und Pistole würden doch sicher auf dem grünen Tischchen liegen… Aber ob auch noch ein Käfig mit einem Kanarienvogel darauf stehen würde? Diese Frage beschäftigte ihn schon seit Wochen. So ein lebendiger, singender und umherhüpfender Kanarienvogel schien ihm das schönste Spielzeug auf der Welt zu sein. Ach, und wie mustergültig würde er ihn pflegen: Das beste Futter würde er ihm kaufen, von seinem Hörnchen würde er ihm täglich ein Stück geben, dann auch zwei Näpfchen mit Wasser, das eine zum Trinken und das andere zum Baden. Und er würde ihm beibringen, so schön zu singen, wie noch niemals ein Kanarienvogel gesungen hatte. Er kannte ja viele Lieder, er konnte den Kuckucksruf nachmachen, er konnte gurren wie eine Turteltaube und pfeifen wie ein Fink, und das alles würde er auch seinen Kanarienvogel lehren und noch vieles andere… Sollte es denn nicht möglich sein, einem Kanarienvogel auch das Sprechen beizubringen…? Wer konnte es wissen! Niemals erzählte er jemand von diesem herrlichen Plan, aber er dachte viel darüber nach. Wenn schon ein dummer Star und ein aufgeblasener Papagei sprechen konnten, warum sollte es dann nicht auch ein Kanarienvogel erlernen, sein Vogel, den er zu jeder Stunde, die er ihm widmete, dazu anhalten würde?
Zuerst müßte man es mit ein paar einfachen Wörtern versuchen, so wie es die Mutter vor zwei Jahren mit der kleinen Andulka versucht hatte: ta-ta, ma-ma, Bo-bo; und wenn er alles begriffen haben würde, könnte man die Arbeit fortsetzen. Niemandem wollte er etwas davon sagen, sondern dem Kanarienvogel alles heimlich beibringen; und dann würde auf einmal der Tag kommen, an dem das Tierchen von seinem Stänglein herabrufen würde: »Bohusch ist ein braver Junge, habt den Bohusch alle sehr gern«… Das ganze Haus würde darüber staunen und sich freuen. Bei diesen Gedanken lächelte Bohusch ganz verklärt und freute sich so darüber, daß er sonst nichts sah und hörte. Wie sonderbar jedoch, daß solche Augenblicke immer seltener wurden, je näher der Festtag heranrückte. Zu Hause war es nun nicht mehr schön, es gab keine ruhige Minute, in der man ein bißchen nachdenken konnte. Zwei Tage lang mußten alle in der Küche sitzen, weil in den anderen Räumen der Fußboden frisch gestrichen wurde. Dann wieder durfte man in der ganzen Wohnung nichts anfassen, und wenn irgendwo noch ein freies Plätzchen war, so kam ganz sicher Hans, machte sich mit seinem großen Reißbrett breit und zeichnete. Und dann jagte er die »Kinder« fort und sprach von Bohusch und Andulka wie von zwei völlig gleichwertigen Personen! Bohusch geriet darüber oft in Zorn und konnte sich nur schwer beherrschen, nicht loszuschimpfen. Das Schlimmste war jedoch, daß sich auch die Mutter verändert hatte und nicht mehr so lieb war wie sonst. Niemand durfte sich aber deshalb bei ihr beklagen; denn sie faßte sich dann sogleich an den Kopf und jammerte, wieviel Arbeit sie habe und wie schwer das Leben sei. Mit niemandem konnte man auch nur ein Wort sprechen, ja, man konnte nicht einmal in ganz wichtigen Angelegenheiten etwas fragen. Andulka schwatzte zwar immer etwas von der guten Stube mit
rosafarbenen Seidenvorhängen, von einem Teppich und einem Tischtuch, auf dem ein Bilderbuch liegen würde, aber die Jungen interessierte das nicht im geringsten. Hans verstopfte sich herausfordernd die Ohren, auch wenn er nicht lernte, und Bohusch erzählte stolz etwas vom »Salon«. Seine neue Mütze würde ihm gut passen und gut stehen, und mit einem einzigen Gummibolzen könne man jemand zu Boden strecken. Darauf weinte Andulka kläglich und ging zum Vater, um sich über Bohusch zu beschweren, der dann Schläge bekam. Der Vater war jetzt überhaupt immer sehr gereizt; denn in seiner Kanzlei häufte sich gerade vor den Feiertagen noch mehr Arbeit als sonst. Und wenn er nach Hause kam, war er müde und wollte unbedingt Ruhe haben. Es war also nicht daran zu denken, mit ihm etwa ein vertrauliches Gespräch anzuknüpfen. Bohusch wußte nur zu gut, daß Kinder vor dem Heiligen Abend ganz besonders brav sein sollten, aber niemals war ihm das Bravsein schwerer gefallen als gerade jetzt. Am letzten Abend vor dem Festtag konnte Bohusch lange keinen Schlaf finden, und das Weinen war ihm nahe. Er dachte daran, wie er vorm Zubettgehen zum hinteren Zimmer geschlichen war, wie er dort durch das Schlüsselloch geschaut und nichts gesehen hatte. Es war ganz finster darin und kein Laut zu hören. Vielleicht bekäme er nicht einmal einen Kanarienvogel, ja vielleicht überhaupt nichts, nicht einmal ein Weihnachtsbäumchen. Er ballte die Fäuste und fiel in einen sehr unruhigen Schlaf. Verdrossen und niedergeschlagen stand er am Morgen auf und konnte nicht begreifen, daß gerade heute jener lang ersehnte und genau vorausberechnete Tag sein sollte. Es regnete ununterbrochen, alles war unfreundlich, und ein Unglück nach dem andern stieß ihm zu. Nach dem Frühstück bekam er wieder Schläge, ohne sich irgendeiner Schuld bewußt zu sein. Nur weil er den Vater ernst und erstaunt
gefragt hatte, warum er denn auch heute in die Kanzlei gehen müsse, da doch ein so hoher Feiertag sei. Und der Vater, der sich eigentlich die gleiche Frage stellte und nach einer Antwort suchte, ließ seinen Zorn an dem armen Bohusch aus. »Warum? Weil ich kein solcher Faulpelz bin wie du«, antwortete er schroff. »Aber Hans geht doch auch nicht in die Schule, und der Herr Lehrer auch nicht«, wußte Bohusch mit Nachdruck einzuwenden. Er hatte gar nichts Böses sagen wollen, aber es mußte doch etwas Schlimmes gewesen sein; denn der Vater wurde zornig und sagte, er könne keine Jungen leiden, die immer widersprächen; und wenn er heute noch einmal – nur ein einziges Mal -ein trotziges Gesicht bei ihm sähe, würde er dafür sorgen, daß er sich diesen Heiligen Abend für alle Zeiten merke. Zu allem Unglück kam auch noch Hans und beklagte sich über ihn; er erzählte, Bohusch habe am vorangegangenen Abend vor dem Schlüsselloch gekniet und in das hintere Zimmer geschaut. »Weißt du«, sagte Hans zum Vater, »so ein kleiner Junge scheint noch daran zu glauben. Wenn er erst Gymnasiast ist, dann…« »Du verdienst überhaupt nichts vom Christkind! Der Herr Lehrer hat sich auch über dich beschwert, wie zerstreut du jetzt seist, und die Mutter möchte am liebsten weinen, weil du ihr überall im Wege stehst. Andulka hat keine Ruhe vor dir, und nun muß ich gar noch hören, daß du herumspionierst. Und dabei ziehst du ein Gesicht, als wolltest du die ganze Stadt anzünden… Du verdienst nichts und bekommst auch nichts! Ich werde noch mit dem Christkind sprechen!«
Dann ging er schnell fort, und Bohusch schluckte ein paar große Tränen hinunter. Nicht nur die Weihnachtsfreude war ihm vergangen, sondern auch der Glaube an die Gerechtigkeit. Wenn er sich auch noch so sehr bemühte, an das Christkind und seine Liebe zu glauben, so konnte er sich doch nicht ganz von dem Gedanken freimachen, zwischen dem Christkind und dem Vater müsse irgendein Zusammenhang bestehen, der doch recht auffällig sei. Und außerdem hatte der Vater das Einvernehmen noch besonders betont. »Ich werde ihm sagen… Ich werde es fragen… Es hat auch sehr darüber geklagt, im Himmel sei dieses Jahr alles sehr teuer…«, so und ähnlich hatte der Vater vom Christkind gesprochen. Und heute hatte er gar noch viel schrecklichere Worte gebraucht, heute, am entscheidenden Tag! Bohusch saß über seinen ›Illustrierten Geschichten für kleine Kinder‹, aber er schaute die Bildchen gar nicht an und dachte nur immer: Wenn der Vater so ungerecht ist, wie kann das Christkind gerecht sein? Die Mutter vertraute ihm die kleine Andulka an und sagte, er solle auf sie achtgeben; aber er tat es nicht. Ein Glück nur, daß sie heute so schön brav und ruhig war, in der Ecke beim Ofen spielte und eine Puppenstube baute. Erst gegen Mittag bemerkte Bohusch wie sie das eigentlich gemacht hatte: Auf Hansens Reißbrett hatte sie aus Schulbüchern Wände errichtet, und die Löschblätter aus den Heften dienten als rosarote Vorhänge. Der Federkasten von Hans war das Sofa und seine schöne saubere Zeichnung der Teppich. Andulka strahlte vor Freude, aber Hans, der die ganze Zeit über ›Die Abenteuer im dunklen Afrika‹ gelesen und nichts von alledem bemerkt hatte, was um ihn herum geschah, schrie plötzlich, als würde er ausgepeitscht, und sein ganzer Zorn richtete sich wiederum gegen den armen Bohusch. Er zankte so lange mit ihm, bis die Mutter atemlos und erhitzt aus
der Küche gelaufen kam; ihre Hände waren dick mit Mehl bedeckt. Hans klagte ihr sogleich sein Leid und sagte: »Der Humir ist der ekelhafteste Kerl auf der ganzen Welt. Wenn er Gymnasiast wäre, käme er in den Karzer. Aber weil er erst in die Volksschule geht, muß er den Rohrstock zu spüren bekommen… Humir!… Humir!« Bohusch war gewaltig in Wut geraten, nicht etwa wegen der Klagen, die Hans gegen ihn vorbrachte, auch nicht wegen der Drohungen, sondern einzig und allein über das abscheuliche Wort »Humir«. Von allen Wörtern auf der Welt haßte er dieses am meisten, für ihn gab es kein schmachvolleres Schimpfwort. Hans wußte das genau und nannte ihn so, wenn er ihn am schärfsten treffen wollte. Und was für ein unschuldiges Gesicht er dabei machte! »Was ist das doch für ein alberner Junge«, sagte er dann immer, »daß er sich wie ein Truthahn aufplustert, wenn man seinen Namen ein bißchen abkürzt. Froh sollte er darüber sein, denn es klingt doch fast wie Lumir∗…« Und Bohusch könnte nicht sagen, warum ihn das Wort so ärgerte, er wußte sich keinen Rat. Obwohl heute der Heilige Abend war, war er so in Zorn geraten, daß er auf Hans losstürzte. Sicher wäre es zu einer Rauferei gekommen, wenn die Mutter nicht dazwischengetreten wäre. Und wie sie dabei aufseufzte und ihre mehlbestäubten Hände rang! »Gerade heute muß das passieren«, warf sie Bohusch vor, »am heutigen Tage, an dem alle Menschen einander lieben und sich freuen sollen! An einem solchen Tage, an dem die Eltern ihren Kindern so viel Schönes bescheren, sollten auch die Kinder ihren Eltern etwas Freude bereiten… O Bohusch, Bohusch!« ∗
Sagenhafter alttschechischer Sänger
Eine schöne Bescherung ist das! dachte sich Bohusch und hätte wohl mit den Zähnen geknirscht, wenn ihm nicht die beiden vorderen Schneidezähne gefehlt hätten. Für ihn gab es auch tatsächlich nicht die geringste Freude. Er schaute weder den Bruder noch die kleine Schwester an, schlich betrübt umher und war unglücklich und hungrig. Und dazu diese Ungewißheit im Herzen! Es wurde bereits dunkel, als er zur Mutter in die Küche ging, fest entschlossen, nun die entscheidende Frage zu stellen. Sie wies ihn aber sogleich hinaus, schaute dabei nicht einmal von ihren Kochtöpfen auf, und ihre Stimme klang sehr abweisend. »Mutter«, bat der Junge zitternd und wollte ihr um den Hals fallen, »sag mir nur ein einziges Wörtchen, und dann will ich sofort gehen. Sag mir nur, ob im hinteren Zimmer nicht etwas piepst?« Die Mutter schob seine Arme beiseite und knetete weiter den Teig für die Weihnachtsstollen. »Für Trotzköpfe und Raufbolde gibt es dort nichts«, sagte sie nur streng. »Gut«, sagte Bohusch und bemühte sich, einen entschiedenen Ton anzuschlagen. »Ich brauche eine Mütze; der Vater hat es selbst gesagt. Aber es ist mir einerlei, ob sie mir das Christkind bringt oder ob er sie selbst kaufen geht. Und Gummibolzen sind nur so ein dummes Spielzeug, die knallen ja nicht einmal. Ich will sie gar nicht haben.« Die Mutter hörte einen Augenblick lang mit dem Teigkneten auf und warf Bohusch einen seltsamen Blick zu. Erst am gestrigen Abend hatte sie aus ihren eigenen Ersparnissen die schönste Scheibe und die Bolzen gekauft und malte sich ständig aus, wie Bohusch sich freuen würde, wenn er sie sähe. »Du bist wirklich ein undankbarer und garstiger Junge!« rief sie und weinte fast, »der Vater sagt es auch immer.«
Bohusch verzog das Gesicht. »Wenn ihr nur Hans und Andulka habt. Vater hat Hans, du hast Andulka. Da kann ja ich ein garstiger Junge sein.« Und seine Worte waren so vermessen, daß die Mutter vor Zorn und Schmerz zitterte. »Du wirst mich noch ins Grab bringen, du böser und trotziger Humir!« schrie sie und ahnte gar nicht, welch schwere Kränkung sie ihm damit zufügte. Bohusch wurde bleich und verstummte für eine Sekunde. Als er sich einmal beim Schaukeln auf einem Balken einen Holzsplitter unter den Fingernagel eingezogen hatte, war ihm genauso zumute gewesen. Er fühlte keinen Schmerz, sondern war vor Schreck und Entsetzen ebenso starr gewesen wie jetzt, da er dieses verhaßte Wort aus dem Munde der Mutter hören mußte. »Ich brauche ja schließlich nicht bei euch zu wohnen!« stieß er erst nach einer Weile hervor und blickte nach der Tür. »Meinetwegen«, sagte die Mutter, »geh, wohin du willst. Geh meinetwegen zu den Zigeunern. Und am besten sofort. Ohne dich wird es bei uns schöner sein, als wenn du da bist.« »Gut, ich gehe zu den Zigeunern«, wiederholte Bohusch, und die Augen brannten ihm, als er aus der Küche ging. Im Korridor hingen Mantel und Mütze. Er überlegte keine Sekunde und nahm sie vom Haken. Sein Entschluß stand fest; er zog sich schnell an und ging hinaus auf die Straße. »Da kommt der Humir, Humir geht zu den Zigeunern!« sprach er bei jedem Schritt vor sich hin, damit Wut und Kummer nicht etwa abnähmen, und er schritt so kräftig aus, daß ihm der dünne Straßenschlamm bis an den Rock spritzte. Er wußte genau, wohin er gehen mußte. Immer geradeaus die Straße entlang bis zu einer Lichtung, dann links den Feldweg bis zu den kleinen Häusern am Fluß. Von dort aus konnte man schon die Behausung der Zigeuner sehen.
Und er ging immer weiter. Rasch war es dunkel geworden, immer seltener begegnete der Knabe einem Fußgänger auf der Straße. Er hörte wie Weihnachtslieder gesungen wurden, aber auch das konnte ihn nicht im geringsten beeindrucken, ja es war ihm vielmehr, als trieben sie ihn immer weiter von der Stadt weg. Nachdem er den Holzschlag erreicht hatte und zum Flusse abbog, wurde der Weg beschwerlich. Der Schlamm blieb an seinen Schuhen kleben, und bei jedem Schritt glitt der Junge aus. Aber er achtete nicht darauf und ging immer schneller. Deutlich konnte er bereits die kleinen Häuser am Wasser und die Lichter in den Fenstern erkennen; also konnte er nicht fehlgegangen sein. Wenn er von dort die Richtung auf die Brücke einschlug, kam er zu den Zigeunern. Sie hatten ein hübsches Häuschen. Es war ein schöner geschlossener Wagen, wie ihn die Komödianten haben, die durch die Welt ziehen, nur mit dem Unterschied, daß der Wagen der Zigeuner keine Räder hatte. Er stand ganz fest auf der Erde, war grün angestrichen, hatte zwei kleine Fenster und einen richtigen Schornstein. Der Schornstein rauchte manchmal. Schon oft, wenn Bohusch bei einem Spaziergang mit seinem Vater in diese Gegend gekommen war, hatte er den innigen Wunsch gehegt, einmal in dieses grüne Häuschen eintreten zu dürfen, um zu sehen, wie denn die Zigeuner lebten und was sie kochten. Den Zigeuner, der dort wohnte, kannte er vom Sehen ebenfalls gut. Die Zeiten waren schon lange vorbei, da man ihm mit dem Zigeuner Daniel Angst einjagen wollte und er sich auch tatsächlich vor ihm fürchtete. Er wußte, Daniel war ein anständiger Zigeuner, der den Leuten Kessel und Töpfe ausbesserte; er hatte eine schwarze Zigeunerin zur Frau und zwei schwarze Zigeunermädchen, von denen das älteste bereits zur Schule ging.
Und als er so auf dem öden Feldweg dahinschritt und immer nur an das grüne Häuschen dachte, hörte er hinter sich plötzlich schwere Schritte, und es wurde ihm etwas unheimlich zumute, als diese Schritte aus der Finsternis näher kamen. Bohusch hielt den Atem an, und sein Herz pochte heftig. Ein paar Minuten später waren ihm die Schritte schon dicht auf den Fersen, und als er sich umwandte, stand neben ihm ein großer breitschultriger Mann mit so schwarzen Augen, daß auch in der Finsternis die blitzenden Augensterne aus dem Weiß der Augäpfel hervorleuchteten. Bohusch sah sich einem bärtigen Gesicht und einem struppigen Haarschopf gegenüber. Es war der Zigeuner Daniel, und der Junge erkannte ihn sogleich wieder. Er nahm artig die Mütze ab und grüßte ihn, wie es unter Christen üblich ist. Daniel dankte für den Gruß und betrachtete den kleinen Bohusch vom Kopf bis zu den schlammbespritzten Schuhen. »Wer bist du denn eigentlich?« fragte er ihn barsch. »Ich bin Bohumír Vlach, Schüler der zweiten Klasse.« »Und wohin willst du?« »Geradewegs zu Euch«, antwortete Bohusch ohne Umschweife mit lauter Stimme, und dabei blickte er dem Zigeuner fest in die schwarzen Augen. Daniel lachte trocken. »Junge, du bist deinen Eltern davongelaufen«, sagte er und richtete seinen gewaltigen Zeigefinger direkt auf Bohuschs Gesicht. »Nein, ich bin nicht davongelaufen; meine Mutter hat mich selbst zu den Zigeunern geschickt«, sagte Bohusch, und Zorn und Schmerz über die Erniedrigung kehrten aufs neue in sein Herz zurück. Da mußte Daniel noch mehr lachen; er faßte den Jungen an der Schulter und schob ihn vor sich her.
»Also marsch!« befahl er mit tiefer, näselnder Stimme. »Lauf schnell, damit wir um so früher zu Hause sind! Meine Leute warten ohnehin schon mit dem Abendessen auf mich. Ich bin nur schnell noch in die Stadt Bier trinken gegangen, weil ja heute so ein hoher Festtag ist.« Eine Weile später kamen sie an den letzten Häusern vorüber, bogen unterhalb des Berges in einen Fußweg ein, durchquerten eine kleine Schlucht, und ehe es sich Bohusch recht versah, stand er schon vor dem kleinen Zigeunerhäuschen. »Geh nur hinein«, drängte Daniel und hob ihn etwas in die Höhe, damit er bei der Dunkelheit nicht über die zwei Stufen stolperte, die zur Türe führten; und dann half er ihm auch noch über die Schwelle. Dem Jungen kam es seltsam vor, daß man bei den Zigeunern sogleich in die Stube trat. Weder einen Korridor noch ein Vorzimmer gab es dort und auch keine Küche – alles war in einem einzigen Raum untergebracht. Auf dem Fußboden war das Nachtlager, und der Tisch hatte keine Beine, sondern ruhte auf einem Pfahl. Aber an den Fenstern waren Vorhänge, und an der Wand hingen ein Kreuz und ein buntes Bild, genau wie im Klassenzimmer. Das Kreuz bestand jedoch hier nur aus zwei kleinen Holzleisten, und das Bild war von einer Zichorienpackung abgelöst worden. »Hier bringe ich euch einen Gast mit«, sagte Daniel und schob den kleinen Bohusch sogleich an den Tisch heran. »Seine Mutter hat ihn angeblich zu uns geschickt. Wenn das wirklich wahr ist, soll er auch mit uns zu Abend essen.« Daniel war so groß, daß er fast bis an die Decke des Raumes reichte. Seine erstaunlich laute und näselnde Stimme dröhnte durch den ganzen Raum; er gab seinen beiden Mädchen, die an dem Tisch ohne Beine saßen, ein Zeichen und befahl ihnen, für Bohusch Platz zu machen.
Und ehe er es sich versah, saß er auch schon zwischen den beiden Zigeunerkindern an dem ungedeckten, aber blankgescheuerten Tisch. Er wußte nicht, wie ihm geschah, was er sagen und wohin er die Augen wenden sollte. Er fühlte, nun müsse er tapfer aushalten, und es wäre schrecklich, wenn er jetzt etwa anfinge zu weinen oder wenn er die Flucht ergriffe. Es war ihm klar, daß er nicht nachgeben durfte, und um nichts in der Welt wollte er aussehen wie einer, der sich fürchtet oder der seine Handlungsweise bereut. Das ältere Zigeunermädchen kannte er gut. Es war Genovefa, die mit ihm in die Schule ging. Anfangs hatte allerdings niemand neben ihr sitzen wollen, aber bald hatten alle erkannt, daß ja gar kein Grund bestand, sich von ihr fernzuhalten. Sie gab immer gute Antworten, wenn sie auch eine etwas ungewohnte Aussprache hatte; ihre Schulsachen hielt sie ebenfalls immer in Ordnung, sie hatte auch immer saubere Hände und das Haar ordentlich gekämmt. Sie trug zwei kurze, dicke, aber unglaublich feste Zöpfe. In jeden war ein rotes Bändchen sorgfältig eingeflochten und umschloß jede einzelne Haarsträhne für sich. Das Ganze wurde auf diese Weise fest zusammengehalten, und nicht ein einziges schwarzes Haar konnte sich lösen. Diese Frisur trug sie auch heute, und Bohusch konnte nun aus nächster Nähe sehen, wie die blutroten Bänder das schwarze Haar bändigten. An seiner anderen Seite saß das zweite Mädchen, das etwa fünf Jahre alt sein mochte und Majdalenka gerufen wurde. Es trug zwar noch keine Zöpfe, aber sein Gesicht war von so üppigem schwarzem Lockenhaar umrahmt, daß nur die Augen und die Zähne hervorleuchteten. Und sie blitzten genauso wie bei dem alten Daniel. Eine Weile saßen sie und sprachen kein Wort, bis schließlich die alte Zigeunerin kam, die bis dahin in der Ecke vor ihrem
niedrigen Herd gehockt hatte, und eine große Schüssel Grützbrei brachte, der mit Honig übergossen war. »Das ist also der Junge, der seiner Mutter durchgegangen ist?« sprach sie ihn an. »Er ist nicht durchgegangen, sondern sie hat ihn selbst zu uns geschickt«, antwortete Daniel an Bohuschs Stelle und lachte wieder in seinen schwarzen Bart hinein. »Wenn er bei uns bleiben soll, soll er auch mit uns essen«, entschied die Zigeunerin ebenso wie ihr Mann und legte Bohusch einen Blechlöffel hin. Daniel erhob sich und betete laut. Er sprach das Vaterunser und die Bitte um Gottes Segen; er betete feierlich und mit besonderer Betonung, schlug dann das Kreuz, und es sah aus, als sei er im Zweifel gewesen, mit welcher Hand er es eigentlich tun müßte. »Liebe Kinder«, sagte er dann mit besonderem Nachdruck, als er das Gebet beendet hatte, »heute ist ein großer Feiertag, Christus der Herr ist uns in Bethlehem geboren in einem Stall. In jeder christlichen Familie wird dieser Tag gefeiert, und auch in unserer christlichen Familie wird er deshalb festlich begangen. Die Zigeuner sind gute Christen…« Er wußte nicht, was er weiter sagen sollte, bekreuzigte sich noch einmal und begann zu essen. Er tauchte seinen Löffel in die Schüssel, und nach ihm seine Frau, dann Genovefa und Majdalenka, und allen schmeckte es so gut, daß auch Bohusch unwillkürlich den Blechlöffel in die Hand nahm und mit den Zigeunern aus der gleichen Schüssel aß. Er hatte den ganzen Tag fast nichts gegessen, war hungrig wie ein Wolf, und der Grützbrei mit Honig schmeckte ihm sehr gut. Der Brei nahm immer mehr ab, plötzlich waren sie auf dem Boden der Schüssel angelangt, und die Blechlöffel stießen an den Ton.
»Mutter, wir möchten noch etwas haben«, sagte Daniel, »die Kinder haben noch Hunger und ich auch.« Die Zigeunerin brachte gekochte Backpflaumen, und das herrliche Mahl begann von neuem. Dann bekam jedes Kind noch eine mit Honig bestrichene Oblate, und das war für sie geradezu ein Leckerbissen. Schließlich wurde auch eine Strohschale mit Äpfeln und Nüssen auf den Tisch gestellt. Wie stark müssen die Zigeuner sein, dachte Bohusch, als er sah, wie die kleine Majdalenka die harten Nüsse mit der bloßen Hand zerdrückte, während er kaum in der Lage war, eine von ihnen entzweizuschlagen; und er schämte sich fast seiner weißen Hände. Noch immer konnte er nicht ganz fassen, wie es zugegangen war, daß er nun inmitten der Zigeuner saß, am Heiligen Abend gemeinsam mit ihnen gegessen hatte und eigentlich alles so seltsam und auch wieder so einfach war wie im Märchen. Einen Augenblick lang war ihm beklommen zumute, aber dann fühlte er sich wieder ganz frei, als ob das alles selbstverständlich wäre. »Iß nur«, forderten ihn seine Gastgeber von Zeit zu Zeit auf. »Und wenn man dich fragen sollte, wie es bei den Zigeunern zugeht, dann erzähle nur, was du hier gesehen hast.« Nachdem sich alle sattgegessen hatten, versuchte Genovefa aus einem kleinen roten Apfel ein Teufelchen zu machen, aber es gelang ihr nicht. Sie glaubte, der Teufel sei schon fertig, wenn man ihm ein glattes Gesicht schnitt und Hörner an den Kopf steckte. Sie hatte keine Ahnung, daß er auch noch Augen, eine Nase und eine ellenlange Zunge haben mußte. Darauf verstand sich nun Bohusch ganz ausgezeichnet. Er verlangte ein Messer und zeigte den Mädchen, wie man so etwas macht. So gut war ihm der Luzifer gelungen, daß sogar Daniel und seine Frau nicht genug darüber staunen konnten.
»Als ob er lebendig wäre!« sagten sie immer wieder, und die kleine Majdalenka zog den Teufel an seiner roten Zunge und lachte ihn aus, wobei alle ihre rabenschwarzen Locken durcheinanderwirbelten . »Ja, der sieht aus, als sei er lebendig«, bestätigte Bohusch freudig, »aber er kann auch Theater spielen.« Plötzlich war er fröhlich, und nicht einmal der Gedanke, was man wohl jetzt zu Hause mache, beschwerte ihn mehr. Zu Haus spielte nur Hans mit den Teufeln Theater, während er und Andulka immer zuschauen mußten, und das machte ihm schon lange keine Freude mehr. Hier ließ es sich dagegen viel schöner spielen. Genovefa und Majdalenka hielten den Atem an, als Bohusch seine Teufelchen herrichtete und dann noch zwei Stückchen Holz und zwei Tüchlein verlangte. Man brachte ihm zwei Tücher, wie sie die Zigeuner tragen; das eine war rot und mit weißen Blumen verziert, und Genovefa hatte es immer in der Schule, und das andere für den Sonntag war aus zimtfarbener Seide, mit langen schwarzen Fransen; die Zigeunerfrau nahm es aus einer Truhe, die unter dem Fenster stand. Dieses Tuch bekam der größere Teufel, der Luzifer, den Bohusch an eine Holzleiste gespießt hatte und in der linken Hand hielt, als Königsmantel, während der kleinere Teufel mit dem leichten Tüchlein in seiner Rechten hin und her sprang und sich vor Luzifer tief verneigte. Alle hörten aufmerksam zu, als die Teufel einander von den bösen Menschen auf der Erde erzählten, von den ungehorsamen und trotzigen Kindern, von den bösen Stiefmüttern, von den reichen Leuteschindern, die alle miteinander die ewige Verdammnis verdienten. Das Spiel verlief so, daß der alte Luzifer den jüngeren Teufel in die Welt gesandt hatte, um auszukundschaften, wie es dort zuginge, und nun hörte er den Bericht an, ehe er die Sünder bestrafte.
Bohusch spielte ausgezeichnet, sogar die Stimme wußte er geschickt zu verändern. Bald war der Teufel böse, bald schmeichelte er wieder oder ließ sein höllisches Lachen erschallen. Und der jüngere Teufel erzählte mit piepsender Stimme, was er auf seinen Wanderungen von den Großen und den Kleinen erfahren hatte. Am besten gefiel allen, wenn inmitten dieses Gesprächs hie und da ein Hahn krähte oder die Turteltauben gurrten. Da jauchzten nicht nur die kleinen Mädchen, sondern auch die erwachsenen Zigeuner laut auf, und Bohusch geriet bei seinem Spiel immer mehr in Ekstase. Er hatte sich gerade etwas sehr Interessantes ausgedacht: »Und was hast du dann noch in der Stadt gesehen; was hast du bei Herrn Vlach auf dem Marktplatz Nr. 5 gesehen?« fragte gerade Luzifer in tiefstem Baß seinen Boten, »welches von seinen Kindern ist am bravsten?« Der kleine Teufel verneigte sich so tief, daß er mit seinen Hörnern den Tisch berührte, und meldete dann, am bravsten sei der Bohusch, aber dem täten zu Hause alle unrecht, und sie gäben ihm häßliche Namen. Und wenn er einen Kanarienvogel hätte, wäre er noch viel braver! Aber… Er konnte jedoch den Satz nicht mehr zu Ende sprechen, denn in diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Zigeunerhäuschens, und auf der Schwelle stand der Vater. Er stand eine ganze Weile dort und brachte vor Staunen kein Wort über die Lippen. Da saß sein Bohusch, sein lieber, goldhaariger Junge, tatsächlich am Tisch bei den Zigeunern, er saß vor der ganzen Zigeunerfamilie, aus deren schwarzem Knäuel sein heller Kopf hervorlugte, er saß da, ganz erhitzt und aufgeregt, und spielte ihnen Theater vor! »Bohusch, Bohusch!« rief der Vater endlich, »was hast du uns angetan, wohin bist du bloß gegangen?«
»Hochwohlgeborener Herr, er hat nur befolgt, was ihm daheim befohlen wurde. Und da er nun zu uns kam, haben wir ihn auch aufgenommen. Er wird Ihnen bestätigen, daß er in einer ordentlichen, christlichen Familie gewesen ist, in der man auf Ordnung hält und in der die Geburt unseres Herrn Jesus Christus gebührend gefeiert wird.« So selbstbewußt sprach der Zigeuner Daniel, daß Herr Vlach ein bißchen verwirrt wurde und mit Staunen seinen Bohusch ansah. »Vater«, erklärte Bohusch ganz ernst, »hier war es wirklich sehr schön!« Und dann hatte er plötzlich an allem große Freude, er freute sich darüber, daß er hier mit den Zigeunerkindern spielte, und darüber, daß nun der Vater gekommen war und der Zigeuner Daniel so schön gesprochen hatte. »Wie haben wir uns um dich gesorgt«, sagte der Vater dann leise. »Das Abendessen ist uns verleidet worden, und das Christkind hat schon dreimal vergebens an unserer Tür geläutet.« »Geläutet hat es?« fragte der Junge begierig, und im selben Augenblick hatte er seinen Mantel in der Hand und die Mütze auf dem Kopf. Als der Vater in seinen Augen so viel strahlende Freude und doch auch so viel Ungewißheit sah, da konnte er nicht länger an sich halten und verriet noch mehr. »Ja, es hat geläutet«, sagte er lächelnd, »und die ganze Wohnung ist schon vom Duft des Weihnachtsbaumes erfüllt, und es riecht nach den vielen süßen Sachen, und als ich dann schließlich am hinteren Zimmer vorüberging, war mir, als hörte ich darin irgend etwas. Es schien mir, als hüpfe dort ein lebendiger Kanarienvogel in seinem Bauer umher und zwitschere.«
»O mein Gott«, jauchzte da Bohusch auf, und seine Augen füllten sich mit Tränen, aber diesmal waren es keine Tränen des Trotzes. In seiner übergroßen Freude reichte er die eine Hand Genovefa und die andere der kleinen Majdalenka und versprach ihnen: »Ich werde vom Christkind einen großen Teller voll Zuckerwerk und Bonbons und süßen Früchten bekommen, aber ich werde das alles nicht anrühren. Ich werde euch den ganzen Teller bringen, und es soll so sein, als ob ihn das Christkind bei uns für euch hinterlassen hätte.« Da strahlten die beiden schwarzen Zigeunermädchen über das ganze Gesicht, die Zigeunerfrau segnete Bohusch, und Daniel füllte ihm die Taschen mit Äpfeln und Nüssen, und alle riefen, was für ein lieber und braver Junge Bohusch doch sei. Und dann küßte Herr Vlach seinen Sohn so zärtlich, wie er ihn nur geküßt hatte, als er noch ein kleines Kind war, und Bohusch flüsterte ihm ins Ohr, er werde niemals, niemals mehr widersprechen und trotzig sein. Die Familie Vlach dachte noch lange an dieses Abenteuer, das sich Bohusch an jenem Heiligen Abend geleistet hatte. Hans gab ihm dafür den Spitznamen »Zigeunerprinz« und glaubte, ihm damit einen Streich zu spielen wie einst mit dem Namen »Humir«. Aber er hatte sich gründlich geirrt. Bohusch war niemals auch nur ein klein bißchen böse darüber, wenn er »Zigeunerprinz« genannt wurde, ja er hatte es sogar gern; denn damit verbanden sich für ihn liebe und freudige Erinnerungen. Auch als er schon ein ernster, großer Junge war, dachte er noch gern daran, wie er mit den Zigeunern aus einer Schüssel gegessen, wie er vor ihnen Theater gespielt und wie er alle Süßigkeiten, die er am Weihnachtsabend bekommen, den beiden Zigeunermädchen geschenkt hatte.
Christopher Hope Meine gute Fee Nicodemus war ein großer Geber. Und das war merkwürdig, wo er doch so dünn war. Seine Hemdbluse hatte einen rechteckigen Ausschnitt, und er verschwand fast darin. Bloß diese Ärmchen und in langen, schlotternden Shorts seine Beine, die von den Knien an bis zu den wackligen Knöcheln immer magerer wurden. Sein Bartflaum war schwärzer als sein Gesicht. Nicht einmal zu sagen hatte er viel, nur »ja« und »nein« und »nimm das, mein kleiner Herr«. Er sah nach nichts aus, aber kaum winkte er oder klatschte in die Hände, kam plötzlich etwas zum Vorschein. Er gehörte zum Haus. »Wenn er nicht gehustet hätte, als wir in die Garage gingen, hätte ich ihn nie gefunden!« sagte mein Vater zu Gus Trupshaw. Verwahrt in der Dunkelheit, zusammen mit einem blauen Rudge-Fahrrad ohne Räder, einem hölzernen Kleiderständer, zwei kaputten Leitern, einer Kiste Trotter’s Geleebonbons aus »dem Herzen Südafrikas« – limonengrün und hart von der Feuchtigkeit wie ein Stück Seife -und einer Werbebroschüre für New Consolidated Goldfields, die zu ihren Direktoren auch Sir G. S. Harvie-Watt, Bart. T. D. Q. C, M. P. zählte. Spätnachts, im Bett, wenn ich nicht einschlafen konnte und an Vampire und den Tod dachte, sagte ich den Namen laut vor mich hin, in all seiner knisternden Herrlichkeit. Badminton hatte königliche Verbindungen. Alle seine sandigen Straßen waren nach englischen Königen und Königinnen benannt: Henry Street und Edward Avenue und Charles Road. Um die Verbindung aufrechtzuerhalten, gaben
die Nachbarn ihren Hunden königliche Namen: Nero und Dschingis und Arthur. Als mein Vater 1946 aus dem Kriegsdienst entlassen wurde, kam er heim und kaufte ein Haus auf dem neuen Gelände für ehemalige Militärangehörige. Eine halbfertige Anlage von Spekulationsobjekten inmitten unwegsamer Steppe. Beinahe wutentbrannt arbeiteten unsere Väter wie die Furien mit Spaten und Schaufeln und legten Beete und Steingärten an; oft trugen sie noch Teile ihrer Uniform, eine Mütze der Luftwaffe, einen Sam Browne und fluchten über den Schiefer und die Hitze und die Einbrecher. Die Einbrecher lebten – wie jeder wußte – auf einem mit Eukalyptusbäumen bestandenen Flecken, wo das Gelände zu einem kleinen schäumenden Fluß abfiel. Jenseits des Flusses und der Eukalyptusbäume erstreckte sich der eisenharte rote Boden bis zu heißen, unwegsamen Hügeln in der Ferne. Die Einbrecher aus dem Eukalyptuswäldchen quälten die ganze Siedlung. Männer schliefen mit ihren Armeerevolvern neben ihren Betten. Wenn Butter und Mehl aus den Vorratskammern verschwanden, oder Alkoholisches aus dem Schnapsschränkchen, sagten die Leute, daß ihre Bediensteten mit den Einbrechern unter einer Decke steckten, und sie tuschelten, daß die Einbrecher gut im Abnehmen von Schlüsselabdrücken in Seifenstücken seien. Die Hunde wurden größer. Attila und Julius und Adolf geiferten in den Hinterhöfen. Und wenn sie keinen Einbrecher zum Beißen fanden, bissen sie an deren Stelle die Nachbarn oder Tanten auf Besuch oder sich gegenseitig. Väter sprangen mitten in der Nacht aus ihren Betten und rannten nackt in die samtige afrikanische Nacht, wild mit ihren Pistolen um sich schießend. Ich bekam nie einen Einbrecher zu Gesicht. Aber ich glaubte an sie, so wie ich an Gott und Sir G. S. Harvie-Watt glaubte. Davon abgesehen passierte nicht viel. Eine Zeitlang glaubten wir, daß bei Mr. und Mrs. Strydom am Ende der Straße ein
Leprakranker im Garten arbeitete. Und manchmal zog sich Maggie, ein ungefähr neunjähriges Nachbarmädchen, ihre Kleider aus und rannte splitternackt im Haus herum, und wir alle versuchten nicht hinzuschauen. Mittwochs kam der Wassertanklaster, und die Straßen wurden zu Flüssen, und wir jagten barfuß hinter dem Wasser her und waren glücklich. Nicodemus schaute uns dabei zu und klatschte in die Hände. Dann wurde Margot Van Reen Witwe. Sie lebte ein paar Häuser weiter mit ihrem Mann Alec, der als Oberstleutnant vom Krieg zurückgekehrt war und angefangen hatte, einen Steingarten entlang des Vorderzauns anzulegen. Eines Tages, als er gerade Namaqualand-Gänseblümchen einpflanzte, die im Winter blühen würden, kippte er um. Mein Vater gab der Regierung schuld. »Das haben wir davon. Die Soldatenbelohnung. Ein verdammt blödes Land. Ich bin in den Krieg gezogen, um die Nazis zu bekämpfen und komme zurück, um festzustellen, daß das Land von eingefleischten Faschisten regiert wird. Danke bestens!« Ungefähr um diese Zeit trat mein Vater dem Fackelkommando bei. So um die fünfundzwanzig ehemalige Soldaten, die die eingefleischten Faschisten haßten, trafen sich heimlich und klebten nach Einbruch der Dunkelheit ihr Emblem – eine Fackel, die aussah, als würde sie aus einer Eiswaffel herauswachsen – auf alle Briefkästen in der Siedlung. Alle standen morgens auf und schauten die Aufkleber auf ihren Briefkästen an, als sei ihnen die ganze Sache ein Rätsel. Als Mrs. Van Reen ihren Mann verlor, lief sie im Regen herum und schien es gar nicht zu merken. Sie trug meistens Weiß, und mit ihrem blonden Haar und dem blassen Gesicht sah sie aus, als wäre sie aus Dunst. Sie putzte ihre Fenster nie. Und wenn man sie auf der Straße traf und »Guten Morgen, Mrs. Van Reen« zu ihr sagte, drehte sie sich um und weinte.
Und wenn man fragte, »Wie geht es Ihnen?« – sagte sie Sachen wie, »Ich sehne mich nach dem Winter. Der Herbst hat mir beinahe den Rest gegeben.« Und wenn man dann noch einen Versuch unternahm und sagte: »Na ja, der Winter ist nicht mehr weit. Es ist schon November«, dann wandte sie ihr Gesicht zum Himmel, schlug die Augen auf und bewegte ihre Lippen, als betete sie zu jemandem. »Nur zu, Margot. Nimm ihn, wann immer es dich überkommt.« Mein Vater war mit Nicodemus zu Mrs. Van Reens Haus marschiert und schob ihn ihr zu. »Er hat nichts Besonderes gelernt. Aber nimm ihn. Mit meinen besten Empfehlungen. Er kann ein bißchen im Haus aushelfen. Oder im Garten. Er ist nicht der Hellste, aber er ist eifrig, und er braucht nichts.« Das stimmte. In seinem kleinen Raum hinter unserer Garage schlief er auf einer dünnen blauen Matratze auf einem eisernen Bettgestell. Zwei Uniformen aus weißem Kattun, großgeschnittene weite Shorts, Hemdblusen mit rechteckigem Ausschnitt. Sowohl die Hemdblusen als auch die Shorts waren rot gepaspelt. Ein Spiegel im roten Plastikrahmen hing an einem Nagel, und daneben hatte er ein Foto geklebt, aus einer Zeitung ausgeschnitten, von Mussolini in militärischer Uniform. »Das ist ein glücklicher fetter Kerl!« Nicodemus zeigte auf den Diktator. Dann näherte er sein eigenes Gesicht dem Spiegel. »Und das hier ist ein dummer dünner Kerl.« Nicodemus konnte nur geben. Es war eine innere Kraft, die ihn dazu drängte. Als hätte er Schlagseite nach Steuerbord oder ein kaputtes Bein. Er machte und gab. Schleudern waren seine Spezialität, das Y-Stück schnitt er aus den grünen Ästen des Eukalyptusbaums; war die Rinde abgeschält, ließ er sie in der Sonne trocknen. Das Gummiband bastelte er aus alten
Schläuchen, und für die Schlinge benutzte er die Zungen seiner eigenen Sandschuhe. »Guter Gott!« rief meine Mutter, als sie ihn in seinen zungenlosen Schuhen herumhumpeln sah. »Das war das letzte Mal, daß ich ihn mit gutem Schuhzeug versorgt habe!« Er liebte französische Strickarbeiten. Tagelang trug ich einen hohen knallrosa Hut in der Siedlung, bis meine Mutter mir sagte, ich solle ihn ausziehen, weil Mr. Strydom sagte, ich wüchse wie »ein rosa Bruder« auf. Und ein paar Tage später traf ich zufällig Lloyd Briggs in dem kleinen dunklen Wald hinter Swirskys Apotheke, und er schnitt mir den Handrücken mit einem Stück Glas auf, dabei sagte er: »Das hat man davon, wenn man rosa Hüte trägt.« Ich ging nach Hause zu Nicodemus, es tat nicht sehr weh, aber ich war verwirrt und ziemlich beunruhigt über das Blut, das auf meine Beine spritzte. Er stillte die Blutung und verband die Wunde so schön, daß ich wirklich weinte. Als meine Mutter mich sah, schrie sie und nahm mich schnurstracks mit zu Swirsky, um seinen fachmännischen Rat einzuholen. »Ich weiß wirklich nicht, was dieses Kind sich angetan hat. Nun mal ehrlich, Martin! All das und Weihnachten vor der Haustür. Was wird dir als nächstes einfallen?« Swirsky, in seinem weißen, hauchdünn gebügelten Kittel, entfernte die Bandage und untersuchte die Wunde. »Sie ist sauber«, verkündete er, »und der Verband ist großartig angelegt.« »Das möchte ich schwer hoffen«, erwiderte meine Mutter grimmig, »das war mein bestes Teetuch. Irisches Leinen, wenn’s recht ist. Besten Dank, Mr. Nicodemus!« »Wer ist Nicodemus?« wollte Swirsky wissen.
»Er gehört zum Haus«, sagte meine Mutter. »Verreisen Sie, Mr. Swirsky?« Es wurde gemunkelt, daß Swirsky mindestens zweimal im Jahr nach Rhodesien fuhr. »Zuhause ist da, wo das Herz ist«, sagte Swirsky. Immer wenn Nicodemus etwas Schönes zustande gebracht hatte, ging er in die Knie und lehnte sich in der Hocke zurück, blies die Backen auf, daß ihm die Augen fast aus dem Kopf sprangen. Ich wußte, was er meinte. Der dumme dünne Kerl war der glückliche fette geworden – er hatte sich in Mussolini verwandelt. Ohne Zweifel erledigte er eine ganze Menge in Margot Van Reens Haus. Er putzte die Fenster und vollendete den Steingarten, während sie ihm dabei vom Küchenfenster aus zuschaute, als erwarte sie, daß der Fluch, der ihren Mann getötet hatte, auch Nicodemus umbrächte. Weihnachten luden wir sie zum Mittagessen ein, und ich erinnere mich, wie sie meinen Vater über den Putenbraten hinweg anlächelte und sagte: »Ihr Nicodemus! Er ist ein Champion!« »Ich hoffe, er bereitet Ihnen keine Schwierigkeiten«, sagte meine Mutter. »Martin, sitz gerade und versuche nicht zu atmen, wenn du ißt. Nicodemus hat unser Essen gekocht. Glauben Sie mir, ich muß jeden Handgriff überwachen.« Nicodemus kam mit einem Teller dampfendem Kürbis herein. Mrs. Van Reen winkte, ein kleines Windmühlenwinken, so als würde sie einen Spiegel polieren. Nicodemus bleckte durch den Dampf hindurch seine Zähne, dann verbeugte er sich mit einer Hand hinter dem Rücken und stellte den Teller vor Mrs. Van Reen ab, wie ein Butler oder ein richtiger Kellner. Als er hinausgegangen war, sagte mein Vater: »Er ist kein schlechter alter Kauz.« »Er ist ein Schatz«, sagte Margot Van Reen. »Er ist meine gute Fee!«
Später am Nachmittag gingen wir alle zusammen zu der Weihnachtsfeier in die Vorschule. Mr. Swirsky spielte immer den Weihnachtsmann. Anfangs gab es Leute, die dagegen protestierten, weil er Jude war. Aber Swirsky sagte: »Haltet mich nicht für einen Juden – ich bin neutral.« Er sah fett und wütend aus in seinem roten Mantel und Kapuze und flauschigem Schnurrbart. »Maggie ist zuerst dran!« Seine grauen Hosen kamen unter dem Mantel zum Vorschein, und innerhalb von zwei Minuten ohrfeigte er Leute und schrie, »wenn ihr Gören nicht still seid, mach’ ich den Laden dicht!« Als Nicodemus erschien und sich hinten auf dem Boden niederließ, zog Swirsky seine Kapuze herunter, und ich sah, wie sein eigener Schnurrbart sich sträubte, unter dem wattigen Schnurrbart anzuliegen. Swirskys eigener Schnurrbart war wütend und gewetzt wie das Messer eines Mörders. »Sayonara!« Er zeigte auf die Tür. »Arrivederci!« »Kann ich meinen Brief dem Weihnachtsmann vorlesen?« wollte Maggie wissen. Alle drehten sich um. Man hörte seiner Sprache an, daß Mr. Swirsky wirklich gerne reiste. Sein Schnurrbart sah noch schneidiger aus. Als würde er einen Krieg planen. »Er tut keinem etwas zuleide«, sagte die Stimme im Hintergrund des Raums, wo alle Erwachsenen standen. »Es ist Weihnachten, Mr. Swirsky.« »Niemand hat ihn eingeladen«, sagte Swirsky. »Ich habe es getan«, sagte Margot Van Reen. Ohne auf eine Aufforderung zu warten, las Maggie ihren Brief vor. Lieber Weihnachtsmann, Könntest Du mir ein Zelt bringen und einen Schwamm und ein Springseil und das wär’s – Alles Liebe von Maggie
Swirsky zerrte an seiner Kapuze und schlug auf seinen Bart, um ihn festzukleben. Dann zog er Maggie auf sein Knie: »Was denkste denn, was das ist – Weihnachten?« Er gab ihr einen Wasserball. Alle Erwachsenen lachten. Alle außer Nicodemus, der seinen Kopf hob, als hätte er eine Vision, und Tränen strömten über sein Gesicht. »O glückliche Tage!« sagte mein Vater. »Man kann sich immer auf Nicodemus verlassen, daß er noch irgendwo etwas hervorkramt.« Irgendwann im Januar traf ich Mrs. Van Reen auf der Henry Avenue. Sie trug blaue Seide und winkte mir zu: »Nicodemus baut mir eine Liebeslaube. Ich fühle mich wie die Lady von Shallot. Seit Alec starb, habe ich es gespürt: Ich habe auf die Rückkehr meines Ritters vertraut.« Im Februar stand es da, ein Sommerhaus, und Nicodemus hatte die Pfosten eingelassen und Spaliere hochgezogen und Gartenwicken gepflanzt und ein rankendes Gewächs namens Peachadilla, das laut Mrs. Van Reen im Juli blühen würde. Sie saß in ihrem Sommerhaus und trank Tee aus einer kleinen blauen Tasse. Eines Abends fand ich Nicodemus auf seinem Bett liegend, er trug einen weißen Vollbart, der hinter seinen Ohren befestigt war. Er starrte in den Spiegel und lächelte. Als er mich sah, tätschelte er meine Hand. »Glücklich! Glücklich, mein kleiner Herr.« Dann drehte er sich wieder auf die andere Seite und starrte in den Spiegel. Er hatte einen üppigen Rauschebart. Seine Augen waren weit offen. Er schaute Mussolinis Bild an und dann sich selbst, und ich konnte sehen, wie glücklich er war. Dann begannen am Morgen Geschenke auf den Türschwellen zu liegen. Gestrickte Schals; Schleudern und Drachen; Schilfrohrflöten und kleine Fahrräder, aus Kleiderbügeln zurechtgebogen, und alles war in Weihnachtspapier
eingepackt. Es war das Papier, das Nicodemus vom Boden aufgehoben hatte, als Mr. Swirsky die Geschenke verteilt hatte. »Jemand hat es auf uns abgesehen«, sagte Gus Trupshaw. »Herrgott noch mal, wie kann man bloß im Februar Weihnachten feiern?« »Gus, hör mal – kannst du dir vorstellen, wie es erst im Juli aussehen wird?« Mein Vater fuhr sich mit dem Finger über die Kehle. »Das ist ausgesprochen scheußlich.« »Ganz schön unverschämt«, sagte meine Mutter. Das Fackelkommando ließ Lichter bringen, sie nahmen die Hunde, ihre Fackeln brannten in der Dunkelheit, und sie waren wieder glücklich. Plötzlich waren sie nachts mit der Aussicht unterwegs, alle Einbrecher in dem Eukalyptuswäldchen zu fangen. Es war ein bißchen wie im Krieg – sie machten wieder Jagd auf Deutsche. Alle Hunde, die die Nachbarn und die Tanten und sich gegenseitig gebissen hatten, konnten jetzt etwas Richtiges jagen. Schüsse fielen, aber Gus Trupshaw sagte hinterher, daß es Platzpatronen gewesen seien. Sie brachten ihn in Mrs. Van Reens Garten zur Strecke. Um den Hunden zu entkommen, kletterte er auf das Dach des Sommerhauses und kroch zum Rand und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Er hielt seine Hand gegen die Stirn gepreßt, um hinter den blendenden Fackeln etwas zu erkennen. Margot Van Reen kam in einem rosa Nachthemd herausgelaufen. Sie trat nach meinem Vater, sie biß Gus Trupshaw. Aber die Jäger ignorierten sie. Sie begannen die Spaliere zu schütteln, sie zertrampelten die Peachadillaranken; sie zerrupften die Wicken. Und als sie ihn hatten, fuhren sie mit ihm in einem Mini Morris davon, eine Decke über seinem Kopf. »Um ihn vor den Hunden zu retten«, sagte Gus Trupshaw. »Ihr Scheißkerle!« brüllte Margot Van Reen. »Was habt ihr mit seinem Bart gemacht?«
Aber später schien es ihr gutzugehen. Sie erwähnte Nicodemus nie. Sie begann zu lächeln. Als es Juli wurde, sagte sie glücklich: »Herbst ist eine schöne Jahreszeit, nicht wahr? So fruchtbar!« Sie trug rote Kleider und Strohhüte. Eines Tages im Juli kam Swirsky meine Mutter besuchen, und sein Schnurrbart war äußerst gefährlich. Er war unter seine Nase geklemmt wie das Wurfmesser eines Piraten. Er und meine Mutter gingen in die Küche und verschlossen die Tür. Als er ging, hörte ich, wie er sagte: »Ich bin en route.« Meine Mutter sagte ruhig: »Wird sie es bekommen?« »Zu weit fortgeschritten, um zu unterbrechen. Sie kam zur Apotheke, wollte etwas gegen ihre geschwollenen Beine. O ja, sie bekommt es, und sie ist froh wie der Mops im Haferstroh. Und sie bleibt.« »Und Sie verlassen uns?« fragte meine Mutter. »Kapstadt«, sagte Swirsky. »Ich dachte bloß, daß Sie es wissen sollten.« »Warum ich?« »Na ja, er gehörte Ihnen. Korrekterweise sollten Sie es zuerst erfahren.« »Ich habe nicht um ihn gebeten«, sagte meine Mutter sehr eisig. »Ich habe es Ihnen bereits gesagt – er gehörte zum Haus.« Sie sagte zu meinem Vater: »Es ist alles schön und gut für ihn. Swirsky kann kommen und gehen wie es ihm paßt. Er ist Junggeselle. Aber wie steht’s mit den anderen?« »Jesus weinte!« sagte mein Vater. Jede Nacht betete ich, daß es aufhören sollte. Ich fragte Gott. Ich fragte Sir G. S. Harvie-Watt, Bart, von den New Consolidated Goldfields. In der Zwischenzeit wurde sie runder und runder. Nicodemus hatte uns etwas hinterlassen. Wir beobachteten es. Wir schauten weg. Aber es hörte nicht auf. Etwas kam zu uns.
William Boyd Das nächste Schiff von Duala
Dann gab es eine Razzia im Bordell. O Gott, er war ins Spinoza runtergegangen, um Patience ihr Werk vorzuhalten. Als Morgan hingekommen war, war sie gerade nicht frei gewesen, also hatte er so etwa eine halbe Stunde lang mit dem Eigner gequatscht, Baruch – wie seine gebildeteren Kunden den winzig kleinen levantinischen Zuhälter neckisch nannten –, und den Mädchen zugesehen, wie sie lustlos unter den Deckenventilatoren tanzten. Sein Zorn war fast verraucht, aber als er schließlich in Patience’ Verschlag geführt wurde, brachte er doch noch einen Wutanfall zusammen. »Hey!« hatte er gebrüllt und seine gräuliche Unterhose runtergelassen. »Schau dir, verdammt nochmal, diese Scheiße an!« Doch dann war sein Redeschwall von dem Getriller und Gestampfe Sergeant Mbeles und seiner Sittenpolizei unterbrochen worden.
Der Tag hatte schlecht angefangen. Morgan wachte heiß und verschwitzt auf, seine Laken fühlten sich wie feuchte Binden an. Drei Dinge kamen ihm beinahe gleichzeitig in den Sinn: Es war Heiliger Abend, in vier Tagen würde er mit dem nächsten Schiff von Duala nach Hause fahren, und in seiner Lendengegend spürte er einen dumpfen Schmerz. Er stemmte seine zweihundertzwölf Pfund aus dem Bett und ging ins Bad. Dort wurde seine vorsichtige, von dem unbekannten Schmerz ausgelöste Diagnose durch den Anblick seines trüben,
gegabelten und eitrigen Urins auf erschreckende Weise bestätigt. Bevor er ins Büro ging, schaute er im Krankenhaus vorbei. Drinnen war es kühl, die Luft kam aus der Klimaanlage. Draußen lagerten sich im Schatten des breiten, überhängenden Daches Mütter und Kinder. Und drinnen beichtete er reumütig einem kalvinistischen schottischen Arzt, jung und unnachgiebig professionell, seine wöchentlichen Besuche bei Patience im Spinoza. Dann führte ihn eine dicke schwarze Schwester in ein Vorzimmer, wo er sich keusch hinter einen Wandschirm zurückzog und eine Urinprobe ablieferte. Das helle Plätschern seines Strahls auf dem dünnen Glas der Flasche schien von den gefliesten Wänden ohrenbetäubend widerzuhallen. Flüchtig, fast verächtlich teilte der Arzt ihm mit, daß das Ergebnis des Tests morgen zur Verfügung stehen werde. Dem Gefühl der Demütigung und seinem aufkeimenden Zorn gab er nach, als er seine Arbeit im Büro des Bezirkshochkommissariats von Nkongsamba begann; er wies hemdsärmelig alle heutigen Visaanträge ab, erhob Einwände gegen die Empfehlungen älterer Missionare als Kandidaten für die nächsten Geburtstagsehrungen und stauchte – als erlesenen Höhepunkt seines heutigen Spleens – herrisch einen Angestellten in der Registratur zusammen, weil er beim Briefesortieren Fu-fu aß. Er fühlte sich allmählich etwas besser. Die Angst vor einer häßlichen Kavalierskrankheit nahm in dem Maße ab, wie sich die Zeit zwischen das Jetzt und seinen Besuch in der Klinik schob. Nach dem Essen gab die Klimaanlage den Geist auf. Morgan verabscheute die Sonne, und wegen seiner Beleibtheit waren seine drei Jahre in Nkongsamba drei Jahre scheinbar ständigen Schwitzens, heftiger Ausschläge und allgemeinen Unwohlseins gewesen. Er hatte die Versetzung freudig angenommen, war
stolz gewesen, Familie und Freunden erzählen zu können, er sei im diplomatischen Dienst, und hatte begeistert die Literatur über Westafrika gelesen, mit wachsender Verzweiflung zuerst bei Joyce Cary, dann über Graham Greene bis hin zu Gerald Durrell und Conrad eine Erfahrung gesucht, die auch nur entfernt mit der seinen übereinstimmte. Als auf dem Stoff des cremefarbenen Tropenanzugs, den er sich so eilfertig gekauft hatte, in den Achselhöhlen Schimmel zu sprießen begann -eine schleichende, grünliche Färbung, die schließlich bis zu der festgeknöpften Klappe einer Brusttasche vordrang –, hatte er ihn fürderhin aufgegeben und mit ihm alle Hoffnung, seinem öden und gleichförmigen Leben einen literarischen Kitzel zu verleihen. Aber Gott sei Dank würde er das alles bald hinter sich lassen, mit dem nächsten Schiff von Duala, den dampfenden Wald, die aufsässigen Eingeborenen, die kleinen schwarzen Fliegen, die zweischillingstückgroße Stichbeulen hervorriefen. Was würde ihm fehlen? Das starke, kalte Bier und natürlich Patience mit ihrer Stellung, bei der sie das Kreuz durchbog, dem sachlichen Sex und ihrem glatten schwarzen Körper, der seltsam nach Amby roch, einem Mittel zum Aufhellen der Haut, das sich hierzulande sehr gut verkaufte. Nach der Arbeit kam Morgan nach Hause. Im Verlauf des Nachmittags hatte es einen unerwarteten Regenguß gegeben. Die Luft war schwer und feucht, am Himmel hingen dicke Gebirge aus violetten Kumuluswolken. Er stieg die Treppe zu seiner Veranda hinauf und rief seinem Hausboy Pious, er solle Bier bringen. Dort auf dem Verandatisch lag seine KeatsAusgabe, das einzige Erbe seiner Jahre an einer namenlosen Universität. Das Buch war ihm beim Packen in die Hände gefallen, und er hatte es beim Frühstück mit nostalgischen Anwandlungen durchgeblättert. Achtlos draußen im Regen liegengelassen, lag es nun aufgeschwollen und anscheinend leicht dampfend in der Spätnachmittagssonne – ein grotesker
Ziegelstein aus Pappmache. Er hob es auf und brüllte nach Pious. Er stellte sich unter die kalte Dusche und ließ den kalten Wasserstrahl so sein Gesicht hinunterlaufen, daß er ihm das dünner werdende Haar an die Stirn klatschte. Der erschrockene Pious hatte die triefnassen gesammelten Werke mitten ins Gesicht bekommen, und als er losgekrabbelt war, um sie aufzuheben, hatte Morgan ihm bösartig mit dem Stiefel in den Arsch getreten. Er lächelte, dann runzelte er die Stirn. Diese jähe Bewegung hatte, obwohl sie Pious zu einem befriedigenden Aufjaulen gebracht hatte, ihm selbst geschadet. Der Schmerz pochte ihm wie ein Blinklicht in den Hoden, die, davon war er überzeugt, inzwischen spürbar größer geworden waren. Er zählte langsam von eins bis zehn. Alles verschwor sich gegen ihn, er begann sich unsicher zu fühlen, beinahe verfolgt. Nur noch drei Tage bis zur Abfahrt des Schiffes, dann weg, Gott sei Dank, endgültig. Der gehorsame, gezüchtigte Pious brachte ihm den Gin auf die Veranda. Morgan goß fünf Zentimeter davon in ein Glas voll Eis, fügte etwas Bitterlimonade und einen Schuß Wasser dazu. Er verabscheute dieses Getränk, aber es schien das Passende; das Ende eines Tropentages, ein Glas bei Sonnenuntergang und so. Es war jetzt dunkel und unerträglich feucht. Heute nacht würde es einen Sturm geben. Dicke Schmeißfliegen, die der Regen hervorgelockt hatte, schwirrten und sirrten um ihn herum. Mit ungelenken Flügelschlägen landete eine in seinem Gin und ertrank dort rittlings auf den Eiswürfeln. Das Hemd klebte ihm am Rücken, das drohende Summen eines Moskitos klang ihm im Ohr. Im Garten zirpten geisteskrank die Grillen. Er würde sich aufmachen und dieser Patience den Marsch blasen.
In Sergeant Mbeles stinkiger Arrestzelle bekam Morgan zwei Stunden, um diesen Entschluß zu bereuen. Schließlich gelang es ihm, Mbele, einen grinsenden, halsstarrigen Mann, mit Hilfe einer Bestechung von dreißig Kobo damit zu beeindrucken, daß er als Erster Sekretär am Hochkommissariat diplomatische Immunität besitze und es als persönlichen Gefallen betrachten würde, wenn der Sergeant ihn in seinem Bericht nicht erwähnte. Seine Exzellenz bewundere, obwohl selbst Ausschweifungen nicht abgeneigt, bei seinen Untergebenen einen Sinn für Anstand. Als er aus der Polizeistation kam, beschloß Morgan auf der Stelle, seinen Wagen vor dem Spinoza stehenzulassen und statt dessen in den Club zu gehen – zehn Minuten zu Fuß – und sich zu betrinken. Der Erholungs-Club, wie er anregenderweise genannt wurde, war in den Glanztagen des Empire für die in Nkongsamba lebende Ausländergemeinde errichtet worden. Das lange, verschachtelt angelegte Gebäude mit den hohen Decken, das umgeben war von einem zweifarbig gestreiften Golfplatz und ebensolchen Tennisplätzen, bewahrte durch sein livriertes Personal und die Luftpostausgaben englischer Tageszeitungen etwas von der Unbeschwertheit und dem Tenor jener Tage. Als Morgan hinkam, wurde ihm klar, daß ein ruhiges Sichbetrinken nicht anstand. Gerry und die Pacemakers dröhnten aus dem Ballsaal, überall hingen Girlanden aus farbigen Lichtern und Luftschlangen. Die Weihnachtsfeier. Mißmutig und schlecht gelaunt bahnte Morgan sich brutal seinen Weg durch die Menge um die Bar und trank sehr rasch drei große Gin. Einigermaßen wiederhergestellt, setzte er sich auf einen Barhocker und überblickte die Szene. Die Männer trugen weiße Smokingjacken oder Tropenanzüge, sie schwitzten und sahen apoplektisch aus. Die Frauen trugen die Moden von vor zehn Jahren zur Schau und wirkten angestrengt und unbehaglich. Es
waren nur wenige junge Leute da, junge Leute kamen nicht aus freien Stücken in die Tropen, sondern nur, wenn man sie hinschickte, so wie Morgan. »Ähm, entschuldigen Sie«, ein Zupfen an seinem Ellbogen, »Mr. Morgan, oder?« Er sah sich um. »Ja. Hallo. Mrs Brinkit, ja? Äh, warten Sie. Geburtstag der Königin, Hochkommissariat, letztes Jahr?« »Stimmt.« Sie schien außer sich vor Freude, daß er sich daran erinnert hatte. Sie war groß und schlank und um ein Haar attraktiv. In den Dreißigern, gegen Ende vermutlich. Sie trug ein trägerloses Abendkleid, das viel knochige Brust und Schulter freilegte. Ihre Nase war rot, sie war leicht angetrunken, doch das war Morgan ja auch. »Doreen«, sagte sie. »Bitte?« »Doreen. So heiße ich.« »Gott, ja. Tut mir leid. Und Ihr Ehemann, äh, George, wie geht es ihm?« »Eigentlich heißt er Brian. Er wäre gekommen, aber Tom, unser Dackel, ist weggelaufen, und Brian ist schon den ganzen Abend draußen und sucht nach ihm. Er will nicht, daß er sich die Tollwut holt.« »A la recherche du Tom perdu, wie?« Morgan lachte über seinen Witz. »Wie bitte?« sagte Doreen verständnislos lächelnd und schwankte sanft gegen ihn. Morgan trank noch viel mehr und tanzte mit Doreen. Sie wurden sehr vertraulich, eher aus dem Zwang der Umstände – sie waren beide allein, unattraktiv und darauf aus, es zu vergessen – als aus Lust heraus. Um Mitternacht küßten sie sich, und sie steckte ihm ihre Zunge ins Ohr. Von Brian keine Spur. Morgan erinnerte sich jetzt an sie. Sie war auf der Cocktailparty im Hochkommissariat gewesen. Brinkit klein,
kahl und schüchtern. Doreen fünfzehn Zentimeter größer als er. Brinkit hatte ihm von seinem Wunsch erzählt, aus Afrika wegzugehen und Tierarzt in Devon zu werden. Wollte Kinder, Familie. Es gebe nichts Besseres. Afrika sei kein Ort für Kinder, sehr riskant, was die Gesundheit angehe. Und auch kein Ort für dich, hatte Morgan gedacht, als er sich die kleinen Augen des Mannes und seine zarten, ernsten Gesichtszüge ansah. Etwas später, in einer dunklen Ecke des Ballsaals, zierte Doreen sich und zischte: »Nein! Morgan! Aufhören… also wirklich, nicht hier.« Darauf einladender: »Passen Sie auf, warum soll ich Sie nicht nach Hause fahren. Der Transporter steht draußen.« Atemlos vor Erregung und Gier entschuldigte Morgan sich für einen Augenblick. Auf dem Weg zur Toilette überlegte er, daß es letzten Endes womöglich gar kein so schlechter Tag gewesen war. O Gott. Eine echte weiße Frau. Aber eine fünfminütige Sitzung voll brennender Schmerzen in der Herrentoilette brachte ihm mit schrecklicher Klarheit wieder zu Bewußtsein, welch alptraumhafte Bedeutung der Text von Jerry Lee Lewis’ »Great Balls of Fire« hatte. Er torkelte aus der Toilette – mit tränenden Augen, zusammengebissenen Zähnen – und stieß mit einem kleinen, festen Gegenstand zusammen. Durch den Tränenschleier schimmerten die Züge seines Arztes, und es formte sich ein Mund wie eine frisch genähte Wunde. »Ach, Morgan, Sie! Na, ich will nicht zu viele Worte darüber verlieren. Ihnen morgen einen Weg ersparen. Schlechte Nachrichten, fürchte ich. Sie haben Gonorrhöe.« Als ob er das nicht gewußt hätte. Der VW-Bus war an einem Weg geparkt, der ein paar Meilen außerhalb der Stadt von der Hauptstraße abging. Rundherum ragte der Dschungel hoch auf. Gnadenlos prasselte heftiger
Regen nieder. Vom unzureichenden Schein einer Leselampe erleuchtet, lagen Morgan und Doreen Brinkit hinten auf den umgeklappten Rücksitzen. Doreen stöhnte ohne Überzeugung, während Morgan sich an ihren Hals drückte. Er war nicht voll bei der Sache. Seine Gedanken wurden von einem einzigen Bild beherrscht, das dort Wurzeln geschlagen hatte, als er die erschreckende Nachricht vernommen hatte, das Bild einer fauligen Gurke rittlings auf zwei eiternden schwarzen Oliven. Mit einem Schauder machte er sich los und nahm große Schlucke aus der Flasche Gin, die er gekauft hatte, bevor sie den Club verlassen hatten. Sein Gehirn schien in seinem Schädel wie verrückt Räder zu schlagen. Verfluchtes Land! brüllte er innerlich auf. Verfluchte dreckige Patience! Drei vergammelte Jahre, nur um am Ende mit einem Tripper dazustehen. In Selbstmitleid badend, nahm er einen tiefen Schluck. Eine gespannte, verdrossene Wut stieg in ihm auf. Zerstreut schaute er sich um. Doreen zupfte gerade am Oberteil ihres Kleides, das, ganz Tüll und Taft, mit Bakelit und Walfischknochen verstärkt war. Sie zog es herunter und entblößte einen lächerlichen Büstenhalter mit Halbschalen, der ihre Brustwarzen wie Kanapees auf einem Cocktailtablett darbot. Morgans Wut wurde von einem genauso heftigen Lustkrampf abgelöst. Was zum Teufel, er hatte seinen Platz auf dem nächsten Schiff von Duala, er war am Abdampfen. Sie verlangte verzweifelt danach. Er langte nach oben und schaltete die Leselampe aus. Aber irgendwo in dem ausgedehnten vorkoitalen Gerangel, als Doreens Kleid wie eine Ziehharmonika um ihre Taille hing, Morgans Hose über den Knien, der Regen auf das Blechdach trommelte und die Luft vor Schweiß und heftigem Atem suppig war, zog Morgan Bilanz. Vielleicht passierte es, als Doreen, während Morgan zwischen ihren bleichen Unterschenkeln steckte, hauchte: »Na los, Morgan, keine
Bange, keine Bange, mir kann gerade nichts passieren«, und Morgan zu der wasserüberspülten Windschutzscheibe aufschaute und Bilder durch seine Gedanken flatterten wie Fledermäuse, die in einem Zimmer ein offenes Fenster suchen. Er dachte an seine vor Bazillen strotzenden Hoden, er dachte an den jämmerlichen Brian Brinkit, der im strömenden Regen nach seinem verdammten Dackel suchte, dann stellte er sich vor, Doreen zu schwängern, seinen fauligen Samen in ihrem Leib, Brians unschuldiges Erschrecken über das infizierte Ungeheuer, das er unbeabsichtigt gezeugt hatte. Er stellte sich auch Brian infiziert vor, eine ekelerregende Spirale der Ansteckung, ein kleiner septischer Karbunkel, der hinter ihm in Afrika schwärte. Und gerade als Doreens Ächzen unter ihm allmählich in ein Crescendo überging, wurde ihm klar, daß das, nein, daß das trotz allem – Patience, Keats, Pious, Mbele, der stinkigen Hitze und dem Tripper – einfach nicht drin war. Er zog sich zurück und setzte sich schwer atmend auf. »Was ist denn los, Morgan?« Überrascht, mit einem Funken Ärger in der Stimme. Was zum Teufel konnte er sagen? »Es tut mir leid, Doreen«, fing er jämmerlich an und ging verzweifelt alle plausiblen Ausreden durch. »Aber… na ja, äh… hm, ich halte es nicht für fair gegenüber Brian. Ich meine… er ist da draußen und sucht nach Tom, bei dem Regen.« Und ohne es zu wollen, lachte er, ein halb unterdrücktes, spöttisches Prusten, und Doreen brach schlagartig in Tränen aus und versuchte sich schluchzend zuzudecken. Morgan saß da und trank den Gin leer. »Raus!« Morgan sah sich erschrocken um. Mit zerwühltem Haar und verschmierter Wimperntusche kreischte ihn Doreen an. »Verflucht, raus mit dir! Wie kannst du es wagen, mich so zu behandeln! Du Dreckskerl, du fettes, widerliches Schwein!« Sie fing an, mit den Fäusten auf ihn einzutrommeln, und schob
ihn dabei mit überraschender Kraft immer weiter nach hinten. Irgendwie sprang die Tür auf. »Moment mal, Doreen! Es gießt. Reden wir drüber.« Sie schlug ihm mit der leeren Ginflasche auf Kopf und Schultern und schrie dabei die ganze Zeit Obszönitäten. Morgan fiel hinten aus dem Transporter. Sekunden später hoppelte er aus dem Weg, als sie wie wild im Rückwärtsgang die Straße hinunterfuhr. Er setzte sich auf die Bankette, in seinem Rücken war der Dschungel; der Regen durchnäßte ihn völlig. »O mein Gott«, sagte er. Er wischte sich das nasse Haar aus der Stirn. Aus irgendeinem seltsamen Grund fühlte er sich übermütig, plötzlich ungeheuer erleichtert. Er kam auf die Füße und bemerkte ungerührt, daß seine Hose dreckverschmiert war. Und während der Regen auf seinen Kopf niederprasselte, fühlte er sich einen kurzen ruhigen Moment lang ganz heiter und glücklich. Warum? Er konnte sich wirklich nicht sicher sein. Trotzdem… Er ging den Weg entlang, eine massige, triefende Gestalt, summte erst still vor sich hin; dann pumpte er sich spontan die Lungen voll und brach in einem tiefen, donnernden Cockney-Baß, der sich in die Dunkelheit und über die Bäume ergoß, los: »O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter…« Auf seinem Weg tirilierten die Zikaden.
John McGahern Weihnachten
Außer einer Eisenbahnkarte gaben sie mir, bevor ich aus dem Heim kam, um für Moran zu arbeiten, einen Brief. Sie schärften mir ein, Moran den Brief ungeöffnet zu übergeben, weshalb ich ihn im Zug aufmachte; er lautete, daß er sich, da ich ein Amtsmündel sei, sofort mit den Wärtern in Verbindung zu setzen habe, falls ich Schwierigkeiten machen oder weglaufen sollte. Ich zerriß den Brief, denn ich hatte so eine Idee, daß ich womöglich Schwierigkeiten machen oder weglaufen könnte, und ich beschloß, wenn man mich fragte, zu sagen, daß ich ihn verloren hätte; aber Moran fragte nach keinem Brief. Er und seine Frau behandelten mich gut. Das Essen war nahrhafter als im Heim, am Sonntag gab es immer Braten, und als das Wetter streng wurde, nahmen sie mich mit in die Stadt und kauften mir Gummistiefel, einen Mantel und eine Mütze mit Klappen, die bis über die Ohren gingen. Wenn Moran nach der täglichen Arbeit in den Pub gegangen war, durfte ich, während Mrs. Moran strickte, am Kamin sitzen und Radio hören – am meisten gefielen mir die Hörspiele –, und Mrs. Moran sagte mir, sie würde einen Pullover für mich zu Weihnachten stricken. Manchmal fragte sie mich nach dem Leben im Heim, und wenn ich ihr davon erzählte, seufzte sie: »Du mußt recht froh sein, statt dessen bei uns zu sein«, und ich antwortete ihr dann, daß ich es sei, und das stimmte. Ich ging für gewöhnlich zu Bett, bevor Moran nach Hause kam, weil sie
dann oft stritten und ich der Meinung war, in diesem Teil ihres Lebens keinen Platz zu haben. Moran verdiente sich seinen Lebensunterhalt damit, daß er Äste oder für den Handel untaugliches Holz, das die Sägemühlen nicht verwerten konnten, billig aufkaufte und es zerschnitt, um es als Brennholz wiederzuverkaufen. Ich lieferte das Holz mit einem alten Klepper aus, den Moran den Kesselflickern abgekauft hatte. Jedesmal, wenn ein Feuer aus Ästen angezündet wurde, kreischte der Klepper – es war ein sehr menschliches Kreischen – und rannte los, und das war so ziemlich das einzige Mal, daß er rannte, um sich dann steif und zufrieden mit den Nüstern in die Schwaden des Holzrauchs zu stellen. Wenn Moran gut gelaunt war, konnte es ihn sehr belustigen, ein Feuer anzuzünden, um die Aufregung des Kleppers bei der Aussicht auf Rauch zu erleben. Es gab keinen Grund, warum dieses Leben nicht hätte lange so weitergehen sollen, wenn ich nicht so einen blödsinnigen Wunsch gehabt hätte, der einen noch blödsinnigeren Wunsch bei Mrs. Grey auslöste, und was passierte, war, wie ich seitdem wußte, das übliche, wenn die Leute ihr Glück, oder wie man es nennen will, von anderen erwarten. Mrs. Grey war Morans beste Kundin. Sie war aus Amerika gekommen und hatte sich oben auf dem Adlerberg ein riesiges Haus gebaut, nachdem ihr Sohn im Luftkampf über Italien ums Leben gekommen war. In den nackten Ästen über uns hatte das Tauwetter an dem Abend aufgehört, als wir die Fuhre für Mrs. Grey aufluden. Von dem Tröpfeln an den verwelkten Blättern war nichts mehr übrig, der Wald war in die Stille des weißen Frostes eingeklemmt, die nur durch den Lärm irgendeines Vogels im Unterholz unterbrochen wurde. Moran baute sorgfältig die letzten Scheite in den Steigen auf dem Karren auf, und ich warf ihm den Sack Heu zu, durch den die Fuhre größer aussah,
als sie war. »Vergiß nicht, bei Murphy im Laden ihr Paraffin mitzunehmen«, sagte er. »Nein, das vergesse ich nicht.« »Sie müßte dir dieses Weihnachten ein gutes Trinkgeld geben. Wir könnten für Weihnachten was gebrauchen.« Er würde das Geld dazu gebrauchen, sich Fusel in die Kehle zu schütten. »Zeit, loszufahren«, sagte ich. »Es wird Nacht, bevor du dort bist«, entgegnete er. Der Karren holperte über die Wurzeln zwischen den Bäumen, ich spürte den kalten Stahl des Zaumzeugs in der Hand neben den rauhen schwarzen Lippen, den Dampf des Atems, der sich zu beiden Seiten in der Luft verflüchtigte. Wir gingen über die Koppeln zu dem Pfad um den See, die Räder schnitten zwei Spuren in das weiße, starre Gras, das Gras, das dem Eisen nachgab, knirschte. Ich mußte das Holztor am Fuß des Hügelkamms öffnen. Die kleinen, beschlagenen Hufe wankten zwischen den beiden Wellen aus Gras in den Radspuren hügelan, der alte Leib schwankte bei jedem Ruck des Gestänges, wenn die Räder von einer Furche in die nächste fielen. Der See war zugefroren; ein Spiegel, getrübt von den weißen Flecken der Quellen, und auf den Firsten von Oakport über der Bucht waren rosige Sonnenstreifen aufgepfählt. Im Wald setzte wieder die Kettensäge ein. Er würde sägen, solange es noch Tag war. »Kein Spaß, sich so seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ein oder zwei Glas, um sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen, dieser ganze Sch… amott. Vielleicht wäre es besser, wir würden im Bett bleiben, unsere Energie aufheben, weniger essen«, aber trotz allem, was er sagte, kaufte er weiterhin McAnnish billig die Äste ab, wenn die Boote die Stämme den Fluß hinunter zur Mühle gebracht hatten. Ich band den Klepper an die Kirchentür und ging zu Murphys Laden hinüber.
»Ich will Mrs. Greys Paraffin.« Der Laden war voller Männer. Sie saßen auf dem Tresen oder auf Obstkisten aus Holz und umgedrehten Eimern entlang der Wand. Anfangs belästigten sie mich. Ich dachte mir, es wäre kaum anders, als in einem fremden Land in einen Laden zu gehen, ohne die Sprache zu können, aber sie kapierten schnell, daß sie mich nicht hochbringen konnten, so drückten sie sich aus. In der Hoffnung auf eine Reaktion, warfen sie mir Tomaten an den Hinterkopf, aber größtenteils ließen sie mich in Ruhe, als sie merkten, daß keine Reaktion kam. Wenn ich für sie etwas übrig hatte, dann von Angst gedämpfte Verachtung: Ich war hier, und sie waren dort. »Ihr Paraffin willst du, was? Ich wüßte schon, was für Paraffin ich ihr besorgen würde, wenn ich die Gelegenheit wie du hätte«, sagte Joe Murphy von der Mitte des Tresens aus, wo er thronte, und rings an den Wänden erscholl loyales Gelächter. »So richtig ihr Paraffin«, rief jemand und bekam darauf noch mehr Beifall, und als dieser erstarb, bat eine Stimme: »Ehe du vom Tresen steigst, Joe, schmeiß uns eine Apfelsine rüber.« Joe streckte sich nach dem Regal und warf die Apfelsine dem Mann zu, der auf einem Sack spanischer Zwiebeln saß. Als er sich vorstreckte, um die Frucht aufzufangen, fiel der rote Netzsack um, und er landete hart auf den Zwiebeln. »Willst du mir die Zwiebeln etwa mit deinem dreckigen Plumparsch verbeulen. Die bezahlst du mir aber gleich, ja?« rief Joe, als er seine dicken Beine vom Tresen stemmte. »Jedermann schaut heutzutage, daß er seine Zwiebeln bekommt.« Der Mann versuchte sich mit einem nervösen Lachen zu verteidigen, während er den Netzsack aufstellte und sich auf einer Apfelsinenkiste einen anderen Sitzplatz suchte. »Du hast deine Zwiebeln bekommen, jetzt zahl dafür.« »Er soll für seine Zwiebeln zahlen«, riefen sie.
»Du mußt ihr erst ihr Paraffin besorgen.« Joe nahm die Büchse, ging zu dem Faß, das auf niedrigen Blöcken in der Ecke stand, und drehte den Messinghahn auf. »So, jetzt besorg ihr so richtig ihr Paraffin, das sie braucht. Es ist Weihnachten«, sagte Joe wieder, als er den Deckel fest auf die Büchse schraubte und das kraftlose schwarze Haar ihm über das aufgedunsene Gesicht fiel. »So richtig ihr Paraffin«, und das beifällige Johlen folgte mir zur Tür hinaus. »Er hat keine Miene verzogen, der kleine Dreckskerl. Die Jungen aus dem Heim sind aus schlechtem Holz geschnitzt«, hörte ich mit großer Befriedigung, als ich die Büchse Paraffin fest zwischen den Scheiten auf dem Wagen verstaute. Das Eis über den Schlaglöchern in der Straße spiegelte die ersten Sterne wider. Fahrradlichter – es war Beichtabend – näherten sich zögernd aus dem Dunkel. Obwohl ich dem vollen Schein ihrer Lampen ausgesetzt war, konnte ich die Radfahrer nicht erkennen, die als dunkle Gestalten hinter ihren Lampen vorbeiradelten, und das legte die Angst bloß, die ich in dem Laden gespürt, aber unterdrückt hatte. Ich nahm einen Stock und schlug den widerwilligen Klepper, daß er die Fuhre, so schnell er konnte, bergan zog. Nachdem ich die Scheite im Schuppen aufgeschichtet hatte, klopfte ich an die Hintertür, um zu fragen, wohin ich das Paraffin stellen sollte. Mrs. Grey öffnete die Tür. »Es ist die letzte Fuhre bis nach Weihnachten«, sagte ich, als ich die Büchse hinstellte. »Das habe ich nicht vergessen.« Sie lächelte und hielt mir eine Pfundnote hin. »Ich möchte es lieber nicht annehmen.« Das war der erste Fehler, beim Spiel um einen höheren Einsatz.
»Du mußt etwas bekommen. Außer dem Brennholz hast du uns so viele Nachrichten aus dem Dorf heraufgebracht, daß wir gar nicht gewußt hätten, was wir ohne dich hätten tun sollen.« »Ich will kein Geld.« »Was soll ich dir dann zu Weihnachten schenken?« »Was immer Ihnen geeignet scheint.« Ich dachte, das sei für einen Jungen aus dem Heim gut gesagt. »Dann muß ich ein wenig darüber nachdenken«, sagte sie, als ich den Klepper aus dem Hof führte, fiebrig vor blödsinniger Freude. »Mit dem Paraffin und dem Holz hat alles geklappt?« Moran strahlte, als ich eintrat; es roch nach warmem Essen. Er hatte sich seine guten Kleider angezogen und beendete gerade müde und zufrieden seine Mahlzeit am Kopf des großen Tisches. »Alles geklappt«, antwortete ich. »Du hast den Klepper gefüttert und eingestellt?« »Ich habe ihm zerstoßenen Hafer gegeben.« »Ich wette, Mrs. Grey war sehr erfreut.« »Sie hat erfreut ausgesehen.« Ich sah förmlich, wie er seine Hand offenhielt. »Hast du also was rausgeholt?« »Nein.« »Willst du damit sagen, sie hat dir nichts gegeben?« »Nicht heute abend, aber vielleicht gibt sie mir noch was vor Weihnachten.« »Vielleicht, aber sie hat bei der letzten Fuhre immer ein Pfund gegeben«, sagte er mißtrauisch. Mit seiner vorherigen Zufriedenheit war es vorbei. Er nahm Mütze und Mantel, um zur Erleichterung auf ein oder zwei Glas zu gehen. »Wenn es in den nächsten paar Stunden eine internationale Krise gibt, weißt du, wo ich zu finden bin«, sagte er im Gehen zu Mrs. Moran.
Mrs. Grey kam am Heiligen Abend mit einer großen Schachtel an. Sie roch nach Parfüm und Gin und trug einen Pelzmantel. Sie setzte sich nicht, weil sie sich, wie sie sagte, sputen mußte, und forderte mich auf, den roten Zwirn und das Papier aufzumachen. In der Schachtel stand ein Spielzeugflugzeug. Es war weiß und blau angemalt. Die Reifen rochen nach frischem Gummi. »Warum ziehst du es nicht auf?« Ich schaute auf in das blöde lächelnde Gesicht, die Augen, die bis zum Rand voll Tränen waren. »Zieh es für Mrs. Grey auf«, hörte ich Morans Stimme. Ich war unfähig, etwas zu tun. Moran nahm mir das Spielzeug aus der Hand und zog es auf. Als es über den Zement raste, blinkte am Heck ein Licht an und aus, und die Propeller drehten sich. »Ein zu großzügiges Geschenk von Ihnen«, sagte Moran mit seiner diplomatischen Stimme. »Ich hielt es für recht artig, als er das Geld zurückwies. Mein eigener armer Junge wünschte sich zu Weihnachten immer ein Modellflugzeug.« Sie war wieder den Tränen nahe. »Eine Tragödie. Wir alle fühlen mit Ihnen«, sagte Moran. »Bedank dich bei Mrs. Grey für dieses reizende Geschenk. Es ist viel zu gut.« Ich konnte meine Wut nicht länger zurückhalten: »Ich finde, es taugt nichts«, und fing an zu weinen. Danach kann ich mich nur noch vage an Morans Stimme erinnern, als er sie, um Verzeihung und Nachsicht bittend, zur Tür begleitete. »Ich hätte es besser wissen müssen und keinem Heimjungen trauen dürfen«, sagte Moran, als er zurückkam. »Nicht nur, daß du mich um das Pfund gebracht hast, du gehst auch noch hin und beleidigst die Frau und ihren toten Sohn. Du kehrst schleunigst wieder dahin zurück, wo du hergekommen bist,
mein Früchtchen.« Er stieß das Flugzeug mit seinem Stiefel an, als wollte er dagegen treten, traute sich aber nicht aus Achtung vor dem Geld, das es gekostet hatte. »Du wirst dieses Weihnachten jedenfalls einen guten Flug damit haben.« Die Glocken schlugen, es waren noch zwei Stunden bis zur Christmette; und während Moran in den Pub eilte, um vor der Messe noch etwas zu trinken zu bekommen, fing Mrs. Moran an, die Vorhänge von den Fenstern zu nehmen und in jedes Fenster eine einzelne, brennende Kerze zu stellen. Als wir später in die Kirche unterwegs waren, brannten in den Fenstern aller Häuser Kerzen, und die Kirche flammte vor Licht. Ich schämte mich der kleinen alten Frau, hatte Angst, man würde mich bei ihr erkennen, als wir zwischen den vollgestopften Bänken zu dem Sitzplatz gingen, den ein Ordner uns auf der Frauenseite anwies. In dem Geruch aus brennendem Wachs, Blumen und feuchtem Gemäuer, zog ich die braunen Perlen und das schwarze Gebetbuch mit dem goldenen Kreuz auf dem Einband heraus, die man mir im Heim gegeben hatte, und begann mich auf die Stunden voller Langeweile einzustellen, die die Christmette verhieß. Es kam anders. Ein betrunkener Wachtmeister namens Mullins war an den Ordnern, die an der Tür aufpaßten, vorbei in die Seitenkapelle der Frauen gewischt. Als die Messe begann, sagte er der Frau des Schullehrers, wie leicht man ihren Hintern habe begrapschen dürfen, als sie noch in der Bar gearbeitet hatte, ehe sie den Pelz der Ehrbarkeit anlegte. »Und jetzt, o mein Gott, ‘n preisgekrönter Rosengarten hätt’ bei all seiner Großartigkeit keine Chance.« Die Ordner hielten eilends Rat, ob sie ihn hinauswerfen sollten oder nicht, und kamen zu dem Schluß, daß der Skandal vermutlich geringer sein würde, wenn sie ihn ließen, wo er war. In seiner trunkenen Benommenheit blieb er ruhig, bis der Monsignore auf die Kanzel stieg, um
seine alljährliche Stunde des Friedens und der frohen Botschaften anzufangen. Sobald er einsetzte: »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. An diesem Weihnachtstag, meine herzlich geliebten Kinder in Christo, wünsche ich…«, wachte Mullins auf und applaudierte mit einem herzhaften: »Hört, hört. Ganz meiner Meinung. Sie sind ein Mann ganz nach meinem Herzen. Nieder mit den Heuchlern!« Der Monsignore schaute zu dem Polizisten hin und dann zu den Ordnern, aber als ihm ein abermaliges »Hört, hört!« entgegenschallte, klappte er seine Notizen zu, wünschte mit giftiger Stimme allen ein heiliges und fröhliches Weihnachtsfest und stieg wütend von der Kanzel, um damit die kürzeste Christmette zu beschließen, die die Kirche je erlebt hatte. Dies war jedoch noch nicht das Ende des Spektakels. Als die Kommunikanten von vorne zurückkamen, entdeckte Mullins den Steuereinnehmer, der in sich gekehrt, mit gebeugtem Kopf und steif gefalteten Händen den Gang entlangging, und rief: »Da ist der größte Heuchler der Gemeinde!«, was fast alle erheiterte. Als ich an den angezündeten Kerzen in den Fenstern vorbeiging, dachte ich an Mullins wie an einen Freund und war zum erstenmal stolz darauf, Amtsmündel zu sein. Ich ging Moran und seiner Frau aus dem Weg, und vom Boden aus belauschte ich sie voll Freude dabei, wie sie an Mullins herummäkelten. Als die Stimmen erstarben, begab ich mich leise nach unten, nahm eine Schachtel Streichhölzer und das Flugzeug und ging in den Stall des Kleppers. Ich trug einen Haufen trockenes Stroh zusammen, und als ich es anzündete und der Rauch aufstieg, gab der Klepper sein menschliches Kreischen von sich, bis ich ihn losband und er seine Nüstern in die Rauchschwaden stecken konnte. Im Licht des brennenden Strohs stellte ich das blau-weiß angemalte Spielzeug vor die
Wand und fing an, dagegen zu treten. Mit jedem Tritt schoß es mir von neuem süß ins Blut. Dafür, daß es so ein schönes Spielzeug war, bedurfte es nur weniger Tritte, um es völlig zu verunstalten, und im Schein der letzten Flammen trat ich es auf dem Stallboden platt, während der Klepper mich bereits mit der Nase stupste, damit ich auf dem ersterbenden Feuer Stroh nachlegte. Dann wurde ich wieder ruhig, und ich war froh, den ungeöffneten Brief, den ich Moran hatte geben sollen, im Zug zerrissen zu haben. Ich spürte, daß aus der Asche bereits ein neues Leben zu wachsen begonnen hatte, aus der Blödsinnigkeit menschlicher Wünsche.
Louise Erdrich Ich verrückter Hund beiß mich selbst, um mich zu trösten
Wer ich bin, ist bloß die Gewöhnung an das, was ich immer war, und was aus mir wird, ist dann das, was dabei rauskommt. Das ging mir zum falschen Zeitpunkt auf. Ich stand in einer Schlange, fast mit der Bewährung durch. Bei Walgreens, der Filiale mitten in Fargo. Meinen Einkauf hatte ich auf dem Arm, und ich ließ mich von den Weihnachtsliedern aus dem Lautsprecher berieseln. Ich wollte diesen riesigen Plüschpapagei kaufen mit lila Flügeln und einem gelben Schnabel. Eigentlich war es ein Tukan, hab’ ich später im Knast erfahren. Du glaubst, du kennst dich genau, zum Beispiel ab wieviel du ihn klauen würdest. Wie du reagieren würdest, wenn du erwischt wirst. Aber dann spazierst du plötzlich mit einem Plüschtukan aus der Tür, bloß um zu sehen, ob es wieder so läuft mit dem Erwischtwerden, und es läuft auch wieder so, obwohl mich zunächst keiner angehalten hat. Das Motiv war mein Weihnachtsgeschenk für meine Freundin. Und es war komisch, weil ich eigentlich das Geld für ein Geschenk hatte, auch wenn es nicht sehr groß oder üppig ausfallen durfte. Ich dachte gleich an Dawn, als ich den Vogel sah, und wünschte mir, ich hätte ihn für sie auf dem Jahrmarkt gewonnen, obwohl wir nie auf einem Jahrmarkt waren. Ich stellte mir vor, wie ich mit sechs Softbällen alle hölzernen Milchkannen traf oder vielleicht beim Ringewerfen gewann.
Aber die Dinger haben immer einen Drall oder sind auf der einen Seite schwerer, und das ist der zweite Grund. Ich hätte diesen Tukan nie für Dawn gewinnen können, weil das Ganze sowieso Betrug ist. Scheiß drauf, dachte ich also und ließ den Vogel mitgehen. Draußen auf der Straße war so ein Tag, wie ich sie am liebsten habe, ein mieser Tag mitten im Winter, wo der Schnee nichts ist als ein paar harte graue Klumpen und auf dem Mittelstreifen das Gras staubig rausguckt. Ich mochte den Geruch in der Luft, den getrockneten Matsch, die kleiner werdenden nassen Flecken und den düsteren Himmel, der nach Schnee aussah. Der unvermeidliche Gaffer drehte sich nach mir um. Dieser Vogel war richtig groß und flauschig, mit Grün unter den flatschigen Flügeln und dick ausgestopften orangenen Füßen. Ich weiß nicht, wieso sie bei Walgreens so’n komisches Ding hatten. Vielleicht eine große Werbeaktion, vielleicht irgendso’n Gag für die Weihnachtszeit. Und dann rief der Geschäftsführer an der Tür hinter mir her. Ich war halb die Straße runter, als ich ihn hörte. »Kommen Sie zurück!« Zeigte wahrscheinlich auch noch auf mich, obwohl das völlig überflüssig war, auffallen tat ich auch so und noch mehr, als ich losrannte. Erst klemmte ich mir den Vogel unter den Arm. Aber das brachte mich aus dem Gleichgewicht. Also preßte ich ihn mir an die Brust; das war auch nicht besser. Rückblickend hätte ich ihn wegwerfen und durch die Hinterstraßen abhauen und verschwinden sollen. Hab ich natürlich nicht getan – sonst wäre das alles nicht passiert, was passiert ist. Ich setzte mir den Vogel auf die Schultern und hielt ihn unterm Kinn an den dicken Füßen fest, und dann preschte ich los, als ob ich eine Goldmedaille gewinnen wollte, legte alles in die Beine. Ich sprang über Kantsteine, wieselte zwischen alten Männern in
langen grauen Mänteln und Babys in Buggies durch, schoß im hohen Bogen über Motorhauben weg, bis ich zum Bahnhof kam, wo ich, als ob ich da irgendwo angekommen wäre, was ja gar nicht stimmte, zur Tür reinschlüpfte und aus dem Fenster guckte. Eine wachsende Menschenmenge kam mit dem Geschäftsführer hinterher. Darunter eine Polizistin, ein paar von den Rumsitzern aus dem Einkaufszentrum, Passanten. Sie stolperten und redeten alle auf einmal und machten große Kreise mit den Armen, um den Tukan zu beschreiben, und kamen näher. Aber da wendete sich mein Glück, ob zum Guten oder Schlechten ist nicht zu sagen. Der Wagen fuhr auf den Parkplatz, mit einem stabilen Plastikgepäckträger auf dem Dach. Ein Mann und eine Frau sprangen raus, sie hatten schon fast den Zug verpaßt und ließen den Motor laufen. Ich ging wieder aus der Halle und stellte mich vors Auto. In dem Augenblick kam es mir vor, als ob die Geschichte irgendwo hinwollte mit mir. Ich knipste die Verschläge am Dachträger auf und stopfte den Vogel rein. Niemand schien mich zu bemerken. Ermutigt stieg ich ein. Ich ergriff das Steuer. Ich legte einen Gang ein, und wir rollten los, rückwärts vom Parkplatz. Ich schaltete, drehte an der Kreuzung und guckte nach links und nach rechts. Ich weiß nicht, was Sie in dieser Lage tun würden. Das frag’ ich Sie. Du sitzt in einem Auto. Es gehört dir nicht, aber im Augenblick ist das egal. Du guckst zur einen Seite die Straße hoch. Alles frei. Du guckst zur anderen Seite, und da palavert immer noch ein Haufen Leute, und alle versuchen dich mit Händen und Füßen zu beschreiben. Beide Richtungen führen direkt aus der Stadt raus. Nach Norden ist frei, wo du niemanden kennst. Und nach Süden? Ich blieb im Leerlauf stehen.
Meine Eltern. Es ist nicht, daß ich was gegen sie hab’ oder so. Ich kann sie bloß nicht sehen. Ich kann die Augen zumachen und das Gesicht meiner Schwester hinter meinen geschlossenen Lidern sehen, aber nicht die Gesichter meiner Eltern. Wo der Blick aus ihren Augen meinem begegnen sollte, nichts. Das ist alles. Ich sollte nicht auf der Farm auftauchen, nicht mit dem Tukan. Schon gar nicht mit dem Auto. Ich dachte noch ein paar Sekunden nach. Der Vogel auf dem Dach. Er war für Dawn. Man könnte sagen, Dawn hätte mir diese Sache eingebrockt, dann sollte sie mich da auch rausholen. Aber sie wohnte nicht mehr in Fargo, sie lebte jetzt weiter südlich. Sie lebte in Colorado, was das Ganze später noch komplizierter machte, weil ich über die Bundesstaatsgrenze mußte, und alles, bloß um ihr diesen Vogel zu bringen, und dann ergab sich noch eine Schwierigkeit, was mir allerdings zu dem Zeitpunkt noch gar nicht aufging, als die Frau vom Bahnhof, die, die das Auto stehenlassen hatte, urplötzlich im Rückspiegel auftauchte. Ich hatte mich gerade nach Süden in Bewegung gesetzt, als ich von hinten einen dumpfen Knall hörte. Es kam so überraschend. Das müssen Sie sich vorstellen. Sie war da auf dem Kofferraum und hing fest wie ein Magnet. Sie langte nach den Halterungen vom Dachträger, kriegte einen besseren Halt und lag jetzt breit über der Heckscheibe. Sie war eine kleine Frau. Im Seitenspiegel sah ich ihre blauen Absätze in der Luft, den Rand eines schwarzen Mantels. Ich hörte sie so unmenschlich verzweifelt kreischen, daß ich vor lauter Entsetzen das Gaspedal durchtrat. Wir müssen schnell an den Leuten vorbeigerauscht sein, aber der Eindruck war wie im Traum, so langsam. Ich sah die Gesichter der Menge, wie die Münder aufklappten, Hände sich ausstreckten und griffen, als ich um die Ecke fuhr und die Frau hin und her trudelte wie ein Seehund im Wasser. Dann flog sie
vom Kofferraum und mähte die Leute mit ihrem Schwung um, so daß sie in einem Haufen unter ihr lagen. Sie landete in ihren Armen. Sie legten sie hin, als ob sie ein lebendiger Torpedo wäre, und rannten weiter hinter mir her. »Skandinavier«, dachte ich, weil meine Oma dort herkommt, »die geben den Geist nicht auf.« Ich wollte einfach losbrüllen, ihnen laut sagen: »Gut, er ist geklaut, und wenn schon. Dann ist er eben weg! Ist doch bloß ein billiger Plüschvogel, und das Auto stelle ich irgendwo ab. Ehrenwort.« Ich fing an, Selbstgespräche zu führen. »Nach dem Öl guck’ ich in Sioux Falls. Keine Panik.« Da passierte das Schlimmste, und mit einem Mal verstand ich die Frau mit den nach hinten verdrehten Augen und den kleinen Absätzen, die in die Luft ragten. Ich verstand die Gesichter der Leute in der Menge, ihre blökenden Stimmen, »B… b… baby«. Als vom Rücksitz Geschrei ertönte. Meine erste Reaktion war Unglaube. Dann hielt ich an. Ich war mit einem ziemlichen Zahn über die Panoramastrecke gefahren, aber ich kannte die Aussicht ja auch schon. Ich war fast unten am Fluß und hatte beschlossen, von da aus die 30 zu nehmen und die Autobahn zu meiden, wo sie dauernd Streife fahren. Ich parkte und wirbelte wie wild geworden herum. Ich drehte mich zweimal auf meinem Sitz. Und sah das Baby immer noch nicht. Ich war nicht auf dem neuesten Stand der Technik. Es saß in einem festen runden Ding, eine Form wie ein großer Fußball, und war schräg über die Brust und quer über den Bauch angeschnallt, fest in ein weiches Polster gedrückt. Über seinem Kopf war ein kleines Karoding aus Plastik befestigt, ein Schlüsselbund und Plastikbälle, die außer Reichweite baumelten. Ich hatte noch nie ein so kleines Kind gesehen, so klein, daß es noch gar kein Kind war. Das Gesicht war winzig und dunkel, beinahe rötlich oder kupferfarben, und die gespreizten
Finger auf den Backen waren winzig wie Spatzenfüßchen. Neben ihm in einem Beutel hing ein Fläschchen mit Saft. Ich steckte ihm das eine Ende in den Mund, und es saugte. Aber es konnte das Fläschchen nicht festhalten. Ich legte ihm das Ding immer wieder in die Hand, und es packte nicht zu. »Ach, leck mich«, sagte ich schließlich und schoß wieder los. Es fing wieder an zu schreien, und ich wünschte, ich wüßte, was ich tun sollte, damit es aufhört. Ich mußte langsam fahren, um im Verkehr durchzukommen. Sirenen sausten vorbei, unterwegs zur Autobahn, heulten so laut vorbei, daß ich überrascht war. Dieses Auto, dieser Dachträger obendrauf, ich fiel dermaßen auf. Ich dachte, vielleicht parke ich beim alten King Leo’s, steig’ aus und lauf los. Aber dann war ich dran vorbei. Ich dachte, es ist wohl besser, ich fahr’ durch nach Süden zur Grenze nach South Dakota oder in die Sandhügel, wo ich mich in Viehschuppen verstecken kann. Also fuhr ich nach Süden weiter. Über mir hingen die Wolken tiefer und tiefer, so daß ich meinte, jetzt würde es wohl bald anfangen zu schneien. Weiße Weihnachten wie in der Musik im Drugstore. Ich konnte gut auf Schnee fahren, und dies Auto hatte anständige Reifen, das fühlte ich. Sie blieben griffig und kamen nie ins Schwimmen. Sie rollten einfach, brummten unter mir dahin, alle vier in ein und dieselbe Richtung, so eintönig, daß nach einer Zeitlang alles wieder seine Richtigkeit zu haben schien. Das Baby nickte ein, hörte auf zu schreien. Es hatte da auch nichts verloren, oder? Ich mußte mir über meine Lage klarwerden. Es hatte keinen Zweck, mir im nachhinein zu sagen, tja, du hättest den verfluchten Vogel gar nicht erst klauen sollen, denn ich hatte ihn geklaut, und danach war es, na, wie Sie sehen, als ob ich mich dem Verlauf der Dinge fügte, wie sie kamen.
Natürlich lag ungefähr auf halber Strecke ein Bulle auf der Lauer, was ich hatte kommen sehen, bloß nicht, ob er vor mir oder hinter mir auftauchen würde. Da hatte ich nun die Antwort. Der Streifenwagen bog aus einem Feldweg ein und schaltete seine bunten Lichter ein und sauste hinter mir her. Ich ging auf achtzig, und wir fuhren, fuhren, daß das gefrorene Wasser auf den Feldern auf beiden Seiten von uns vorbeifetzte wie Schals und der silberne Schnee aus dem Nichts angewirbelt kam, und was vorne auf uns zuschoß, ein Terror aus Straße und Erde war. Ich hatte nicht richtig Angst. Hab’ ich nie, und das ist mein Problem. Ich hatte das sichere Gefühl, daß sie nicht schießen würden. Ich fuhr stur weiter, und dann, als wir um eine Kurve fuhren, als wir an einen Bahnübergang kamen, weiß ich noch, wie ich hörte, daß der Plastikdachträger aufsprang. Ich guckte automatisch in den Rückspiegel und sah, wie der Vogel vom Himmel stürzte, groß und plüschig, ein lila Blitz, und seinen gelben Schnabel durch die Windschutzscheibe stieß und die Polizisten so aus der Bahn warf, daß sie schleuderten, sich einmal überschlugen und mit solcher Wucht wieder aufkamen, daß das Auto sich richtig hinstellte und vor Schreck stehenblieb. Ich fuhr weiter. Der Dachträger wurde ganz weggerissen, und ich überlegte, daß das Auto jetzt weniger auffällig war. Das hätte ich mir von vornherein überlegen sollen, aber dann wäre der Vogel nicht ausgeschlüpft und der Streifenwagen nicht demoliert. Ungefähr an dem Punkt allerdings, wo der Tukan nun futsch war, kam mir der Gedanke, daß ich vielleicht keinen Grund mehr hatte, in diesem Stil weiterzufahren. Ich fing an, mir zu überlegen, ich könnte einfach an der nächsten Farm halten, das Auto mit dem Baby stehenlassen und weiter nach Süden trampen. Ich dachte, wenn ich am Heiligabend bei Dawn aufkreuze, selbst ohne Geschenk, wird sie mich schon
nicht rausschmeißen. Sie würde mich aufnehmen müssen und mich auf der Couch schlafen lassen. Sie lebte jetzt mit einem zusammen, einem Typen, der zehn Jahre älter ist als ich, fünf Jahre älter als sie. Mittlerweile hatte er sie wahrscheinlich groß ausgeführt, in Restaurants und in den Zoo, war mit ihr in der Wildnis Zelten gefahren und Skilaufen. Sie würde rumgekommen sein, und ich würde immer noch derselbe sein wie vor einem Jahr. Und da war ich froh über den Tukan, weil ich mit dem lächerlich ausgesehen hätte. Wie ein Schulkind mit einem Stofftier da aufzutauchen, wo sie doch jetzt mehr Geschmack hatte. Ich hätte ihr Pralinen schicken sollen, eine kleine rotgrüne Schachtel. Ich wollte, das hätte ich getan. Und dann blickte ich von der Straße vor meiner Nase auf und merkte, daß es schneite. Es war nicht, wie wenn es sonst schneit, von Anfang an nicht. Es war wie im Gedicht oder in der Geschichte aus der zweiten Klasse, wo der Himmel herunterstürzt und alle müssen los, dem König Bescheid sagen. Es kam runter wie ‘ne Wand. Ich dachte mir, na gut, laß es runterkommen. Und ich fuhr weiter. Ich weiß, was Sie sagen wollen, Sie fragen sich, Sie denken, was ist mit dem Kind hinten bei ihm drin, diesem Baby von bloß drei Wochen, dem kleinen Mason Joseph Andrews? Weil er ja einen Namen hatte und alles, aber wie sollte ich den denn wissen? Ich redete mit ihm. Ich bin gut im Fahren bei Schnee, aber ich muß beim Fahren reden. Ich erzähl’ das jetzt ruhig, ist egal. Ich sagte: »Du kleiner Scheißkerl, was machst du hier!« So war mir zumute. Ich machte das Fenster auf, Schnee verklebte die Windschutzscheibe, und ich konnte die Straße vor uns nicht erkennen. Ich guckte auf den Randstreifen, versuchte dem gelben Strich zu folgen, der von einer weißen Schlangenlinie zugedeckt war. Das ging gut, obwohl ich meine ganze Konzentration brauchte, und die ging flöten, wenn er
brüllte. Mir dröhnten die Ohren. Er schrie, und bei mir kam das an wie Wind, wie Geräusche, die aus seiner Mutter kamen. Ich schlug auf das Plastikei ein und fühlte die Gurte nachgeben, fühlte das Auto auf der Straße wegrutschen. Ich lenkte in eine Reifenspur, kurvte am gestrichelten Gelb lang, und dann war Schnee unter mir, und ich fuhr trotzdem mit gleichmäßigem Tempo weiter, obwohl der Boden sich ganz hohl und unsicher anfühlte. Die Spuren liefen zusammen und wurden dann wieder breiter, so daß mir mit einem Schlag eins klar wurde: Ich war der Spur eines Schneemobils gefolgt und war jetzt irgendwo von der Straße abgekommen. Wie in einem Zeichentrickfilm, wie da, wo Dumbo losfliegt und ihm aufgeht, daß er oben in der Luft nichts zu suchen hat, kriegte ich die Panik und blieb stecken. Da war ich nun böse dran, da draußen auf dem Feld, in einem Sturm, der noch drei Minuten oder auch drei Tage dauern konnte. Ich blieb sitzen und dachte nach, bis das Baby verzagte und einschlief. Und noch was. Das Auto war weiß. Schwerer zu entdecken denn je. Und nichts von alledem hatte ich vorausgesehen oder geplant. Ich konnte mich nicht erinnern, was sie jeden Herbst in der Zeitung schrieben, die Ratschläge, was man bei einem Blizzard machen soll. Ob man auf der Straße bleiben soll, beim Auto, oder zu Fuß losgehen, um Hilfe zu holen. Da war das Baby. Es war hilflos, wirkte aber gar nicht so hilflos. Jetzt weiß ich, daß ich den Motor hätte laufenlassen sollen, mit Heizung an, aber zu dem Zeitpunkt hab’ ich nicht nachgedacht. Außer, daß ich das Spielzeuggebamsel von seinem Sitz abgerissen und an die Antenne gehängt hab’, als ich ausstieg, und ich hab’ auch seine Decken drin gelassen, hab’ keine einzige mitgenommen. Ich hab’ bloß fest die Arme um mich geschlungen und bin Richtung Süden losgestapft.
Weil ich nicht einen Moment stehengeblieben bin, hab’ ich den Sturm überlebt, obwohl ich leicht zu schnappen war, als er nachgelassen hatte, und mir ein Ohr abgefroren ist. Schon gut, Sie wissen, daß dem Baby eh nichts passiert ist. Das haben Sie erfahren. Unterkühlt, ja, aber es ist durchgekommen. Sie haben mich vor Gericht gefragt, warum ich es nicht mitgenommen hab’, unter meiner Jacke, und ich hab’ gesagt, es hat doch überlebt, oder? Was beweist, daß ich richtig gehandelt hab’. Aber jetzt sehe ich das manchmal anders, jetzt, wo ich hier schon einige Zeit allein in Mandan sitze, so viel Zeit am Stück, hätte gar nicht gedacht, daß ich so viel habe. Ich denke an diesen Jungen. Er wird erwachsen werden, aber schon jetzt bin ich wichtiger für ihn geworden als sein leiblicher Vater, weil ich ihm beigebracht hab’, was ich über Kälte wußte. Sie sickert ein, setzt sich für immer fest, stimmt’s? Und über Leute. Die verlassen einen, du kannst sagen, was du willst, da kommt nichts zurück. Da ist bloß die Leere ringsumher, und du mittendrin, wie wenn du unten im Brunnen sitzt und hochsingst, und zwar genauso, bis du dir weh tust, bis du ein verrückter Hund bist, der bloß noch sich selber beißt, um sich zu trösten, weil es kein Erbarmen gibt und keine Hand, die hilft, und keine Frau, die dich in den Arm nimmt, wenn du nach Hause kommst. Ich weiß, daß ich dem Jungen was beigebracht hab’ in den Stunden, die ich Richtung Süden marschiert bin. Ich weiß, daß ich für immer in ihm drinsitzen werde, kalt und schwarz, ungefähr münzgroß vielleicht, ein kleines Ding, wo er hinfaßt und dran abrutscht. Und er wird sagen, was ist das, und das Schreckliche ist, er wird nicht wissen, daß es ein dünnes Stück Eis ist, das ich ihm eingepflanzt hab’, genauso eins wie ich in mir herumtrage, was ich auch nie gewollt hab’, ebensowenig wie er.
Frank Moorhouse Aus einem Buschtagebuch: Trekking in den Heartlands mit der falschen Person an Weihnachten
Dieses Jahr an Weihnachten zog er mit seiner guten Freundin, der dekadenten Belle, in die Budawang Ranges. Während er vierzig geworden war, hatten sie es in Motelzimmern und Restaurants entlang der Küste bunt getrieben, die Bettlaken waren von Champagner durchnäßt und voll von all den Gerüchen und Flüssigkeiten, die sich bei derartig dunklen Liebesspielen, auf die er und Belle eigenartigerweise verfielen, aus zwei Körpern herausholen lassen. Doch sobald sich die Liebenswürdigkeiten der Konversation erschöpft hatten, waren die Unterhaltungen in den Restaurants unergiebig sadistisch geworden. Er hatte sich immer intensiver auf ein Gespräch mit sich selbst über das »Vierzigwerden« eingelassen, weil sie ja zu jung war, um für sein Vierzigwerden Mitgefühl aufzubringen. Und er versuchte sich über den Verlust seiner jungen festen Freundin hinwegzutrösten, die in Übersee und »verliebt« war. Er hatte auch Sehnsucht nach einem Zuhause, das kam an Weihnachten heraus. Seine Familie war dieses Jahr an Weihnachten nicht in der Stadt, aber seine Sehnsucht nach einem Zuhause hatte sich von seiner Familie in der Großstadt auf die Wildnis hin verlagert, die circa fünfzig Kilometer von der Küstenstadt, in der er aufgewachsen war, – hinter ihr – begann: Dort lag der Sassafras Bush in den Budawang Ranges.
Bevor sie die Stadt verließen, hatte er Campingzeug in das Auto gepackt, und sie fuhren so tief in den Busch, wie die Straße es zuließ. Dann ließen sie das Auto stehen und machten sich mit Rucksäcken auf den Weg. Während sie tiefer in die Wildnis vordrangen, blickte er sich immer wieder nach Belle um, um zu sehen, ob sie unter dem schwülwarmen Tag und dem Busch litt. Er kannte die schleichende Hysterie und Angst, die der australische Busch hervorrufen kann. Sie sah, daß er sich nach ihr umdrehte, und sagte: »Ich komm’ schon zurecht. Hör auf, dich die ganze Zeit nach mir umzuschauen.« Sie gingen etwa eine Stunde lang und kamen an einen Aussichtspunkt, den Mitchell Lookout. »Das hier ist der Mitchell Lookout«, sagte er, »aber wie du sehen kannst, ist es kein Aussichtspunkt im Sinne der Rotarier.« Es war ein Felsvorsprung mit begrenzter Sicht auf die Schlucht. »Aussichtspunkte verdanken wir der Naturverehrung des europäischen achtzehnten Jahrhunderts, die die Rotary Clubs fortgeführt haben. Der Bewuchs ist zu dicht – den Fluß da unten kannst du nicht sehen. Da mußt du mir schon glauben.« »Ich sehe, daß der Bewuchs zu dicht ist.« »Komischerweise ist das einzige, was du vom Mitchell Lookout aus ganz deutlich sehen kannst, die gegenüberliegende Seite der Schlucht – man könnte dort noch einen Aussichtspunkt festlegen, mit Aussicht auf den Mitchell Lookout.« Er sah, wie sie zur anderen Seite hinüber und wieder zurück schaute. Sie bewegte leise den Mund, um anzudeuten, daß sie es nicht besonders komisch fand.
»Ich geh’ nicht wegen der schönen Aussicht in den Busch«, sagte er. »Ja, und – weshalb gehst du in den Busch?« »Ich geh’ in den Busch, um mich verschlingen zu lassen. Ich geh’ nicht in den Busch, um mir seltsame Naturgebilde anzuschauen – ich steh’ nicht staunend vor Gottes Werk.« Aus Gründen, die er nicht erklären konnte und die er in seinem Tagebuch nicht aufzeichnete, entschloß er sich, das Zelt auf dem Felsvorsprung über der Schlucht aufzustellen. »Du wirst schon merken, daß es okay ist, auf dem Felsen zu schlafen«, sagte er, »es ist wirklich viel besser, als du dir vorstellen kannst.« »Wenn du’s sagst«, erwiderte sie und lud ihren Rucksack ab. »Ich geh’ in den Busch wegen der reinen, unanalysierten sinnlichen Erfahrung«, sagte er, »und nicht, um die Dinge bei ihrem geologischen Namen zu nennen oder Vögel und so weiter.« »Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen, daß du die Namen der Vögel und Steine nicht kennst.« Er schnitt Adlerfarn zum Daraufliegen, es war eher eine Geste in Richtung einer bestimmten Idee von Bequemlichkeit. »Das wird ja echt viel nützen«, sagte Belle. »Es ist eine Geste.« Er stellte das Zelt auf, beschwerte jede Ecke von innen mit Steinen und befestigte die Halteseile an Steinen. »Ich habe sogar schon Steine als Kissen benutzt«, sagte er. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da und machte sich die lackierten Fingernägel mit einer Nagelfeile sauber. In diesem Moment bezweifelte er, daß sie schon jemals einen Stein als Kissen benutzt hatte und daß es wirklich okay war, auf dem Felsboden zu schlafen. »Na also«, sagte er, »das Zelt steht.«
Sie drehte sich zu ihm, stand auf und sah zwar in das Zelt, ging aber nicht hinein. »Wie wär’s mit was zu trinken?« fragte sie. »Klar – es ist die Happy Hour. Jede Stunde kann eine glückliche Stunde sein.« Darüber lachte sie in sich hinein. Er machte sich am Gepäck zu schaffen, richtete die Drinks. »Ich koche das Weihnachtsessen. Das ist mein Beitrag«, sagte sie. »Nein«, sagte er, »ist schon okay – ich bin’s gewöhnt, auf offenem Feuer zu kochen.« »Jetzt paß mal auf – du bist vielleicht in der vierten Generation Australier, aber du bist nicht der einzige, der auf offenem Feuer kochen kann, verdammt.« »Schon gut, schon gut.« Während sie ihre Bourbons tranken, bezweifelte er, daß sie auf offenem Feuer kochen konnte. Er überlegte, was von dem Essen zu retten war. »Ich habe auch meine Erfahrungen mit Australien gemacht«, sagte sie. »Weißt du, was du machen mußt, wenn du dich im Busch verirrst?« fragte er sie. »Nein, ich wollte mich zwar jetzt nicht auf eine Prüfung einlassen, aber sag du’s mir. Was mach’ ich, wenn ich mich im Busch verirre?« »Du bleibst, wo du bist, mixt dir einen trockenen Martini, und innerhalb von ein paar Minuten kommt jemand, der dir sagt, daß du es falsch machst.« »Haha. Gerade im Moment hätte ich gar nichts gegen einen trockenen Martini.« Er hatte sie nie kochen sehen. Restaurants und Luxushotels, das war ihre Beziehung.
»Aber es war doch meine Idee, hier heraus in den Busch zu kommen – laß mich kochen.« »Ich koche.« »Okay – wenn du damit glücklich bist.« »Ich bin damit recht glücklich, Hemingway.« Sie machte ein niedrig und langsam brennendes Feuer, genau richtig, und stellte die Pfännchen und das Campingkochgeschirr auf die Holzkohle. Nicht ganz so, wie er es gemacht hätte, aber er sagte nichts. Die Holzkohle sieht stabil aus, bis die Sachen umkippen und auslaufen, wenn das Holz verbrennt. Sie hockte dort am Feuer. Erst setzte sie die Kartoffeln auf die Holzkohle. Sie setzte das Kaninchen auf – das sie nicht selbst gejagt hatten, er hatte die Gewehre nicht mitgenommen – und bestrich die Stücke mit Senf, während sie »lapin moutarde« vor sich hinmurmelte und in sich hineinlachte. Sie wickelte die Kaninchenstücke in Silberfolie und schob sie mit einem flachen Stecken weit in die Glut hinein. Dann bekreuzigte sie sich. Sie setzte die Maiskolben zum Kochen auf, kandierte die Karotten mit Zuckertütchen aus dem Motel, setzte die Bohnen auf. Dann machte sie die Hummercremesuppe warm, schüttete einen Schuß von ihrer Bloody Mary hinein, sagte wieder etwas vor sich hin, das er nicht mitbekam. Vielleicht einen Zigeunerzauber. Sie setzte den Plumpudding zum Warmwerden auf und mixte vorsichtig eine süße Soße dazu. Sie hockte dort an dem qualmenden Feuer, rührte die Töpfe um und rückte sie hin und her, wie es richtig war, legte von hinten her zur richtigen Zeit ein Stück Holz nach, um schnell etwas mehr Hitze zu bekommen, all das, mit einer Art primitiver Sicherheit, wie er dachte. Er kippte aus einer Offiziersflasche aus dem Ersten Weltkrieg Bourbon und
reichte sie ihr ab und zu. Ihm gefiel der Gedanke, daß die Flasche womöglich einem der Liebhaber seiner Urgroßmutter gehört hatte. Sie hockte schweigend da und konzentrierte sich ganz auf das, was sie machte. Er kippte den Bourbon und wurde ab und zu zu einem Offizier im Ersten Weltkrieg. Sie hockte da in einer Haltung, die zu der primitiven Weise, Dinge zu tun, gehörte, als der Mensch, vor ein paar tausend Jahren vielleicht, auf dem offenen Feuer kochte. Oder vor nicht allzulanger Zeit, während der Besiedlung. Er setzte sich auf einen Felsen etwas weiter weg und nahm mit seinem Schweizer Kompaß und den topographischen Karten des Staatlichen Kartographischen Instituts im Maßstab 1:25000 ein paar Positionsbestimmungen vor. Er versuchte, einige der weit entfernt liegenden Gipfel zu identifizieren. »Wolken vor dem God’s Mountain«, sagte er. »Schön«, sagte sie, ohne aufzublicken. Er sah immer wieder zu ihr hin und erfreute sich an ihrer Haltung, ihren Bewegungen. Er machte eine Flasche 1968er Coonawarra Cabernet Shiraz auf. »Fertig«, sagte sie und murmelte etwas vor sich hin. Sie servierte das Essen genau zur richtigen Zeit, alles war richtig, die richtige Kochzeit, nichts war verkocht, nichts war kalt, keine Asche, kein Staub im Essen. Sie servierte es auf den Wegwerftellern, die sie gekauft hatten. Er machte ihr ein Kompliment dafür. »Tu nicht so überrascht«, sagte sie. Sie verspeisten ihr Weihnachtsessen und tranken den Wein aus Guzzini-Bechern, die er zusammen mit der übrigen Ausrüstung gekauft hatte, und während sie das taten, erfüllte ein weißer Nebel die Schlucht und hörte da auf, wo sie saßen, so daß sie sich über ihm befanden und sich fühlten, als würden
sie in einem Flugzeug über den Wolken aus dem Fenster schauen. Der Nebel erreichte beinahe die Höhe des Vorsprungs, auf dem das Zelt stand und sie aßen. »Gott, ist das schön«, sagte er und starrte auf den Nebel hinunter. »Ich hab’ gedacht, du stehst nicht auf Gottes Werk.« »Na ja, ich such’ nicht danach. Wenn er es vor meinen Augen vollbringt, dann weiß ich es durchaus zu schätzen.« Während sie das Fleisch von einem Kaninchenknochen nagte, sah sie auf den Nebel hinunter, als würde sie ihn taxieren – ästhetisch?, theologisch? Sie aß mit den Fingern, mit den lackierten Nägeln. »Ist nicht schlecht«, sagte sie nachdrücklich. Es war warm und gab Buschfliegen, die sie störten, und sie verscheuchte sie dauernd mit der Hand und verfluchte sie dabei. »Zisch ab, du Ekel«, sagte sie. »Ich hab’ mit den Fliegen meinen Frieden geschlossen«, sagte er. »Im australischen Busch mußt du früher oder später aufhören, auf die Fliegen zu schießen, und sie einfach sein lassen.« »Ich laß sie aber nicht«, sagte sie, »ich mach’ ihnen die Hölle heiß.« »Wie du willst.« »Darauf kannst du dich verlassen.« »Du hast das Essen perfekt hingekriegt.« »Danke, aber du bist nicht der einzige Mensch in Australien, der auf dem offenen Feuer kochen kann.« Dann lachte sie und sagte: »Ehrlich gesagt, war es das erstemal, daß ich auf offenem Feuer Essen gemacht habe.« »Es war perfekt. Du hast ganz primitiv ausgesehen – du hättest aus der Zeit der ersten Siedler stammen können.«
»Ich bin mir sehr primitiv vorgekommen«, sagte sie, »um die Wahrheit zu sagen.« »Ich meine es im besten Sinn.« »Das habe ich angenommen.« Sie saßen mit vom Essen schmierigen Händen da, eingehüllt in den Feuerrauch, Essen und Wein im Atem. Belle legte die Beine in die dunstige Sonne. Sie starrte ihn ausdruckslos an, während ihre Hand automatisch die Fliegen wegscheuchte, und dann fing sie an, ihre Kleider auszuziehen. Sie trieben es auf dem Felsvorsprung, umgeben vom Nebel. Sie spielten mit der Vorstellung von Belles nacktem Körper auf dem Felsvorsprung, den blauen Flecken, den Abschürfungen. Er hielt ihren Kopf an den Haaren und drückte ihr die Arme auf den Boden, so daß ihr die Fliegen übers Gesicht krabbelten. Sie wehrte sich, konnte sich aber nicht ausreichend regen, um sie von ihrem Gesicht fernzuhalten. Sie kam und er kam. Sie tranken und wurden schläfrig, während sie aus kühler Entfernung beobachteten, wie das Feuer herunterbrannte.
Während der Nacht stand er auf, weil er gern mitten in der Nacht das Zelt verließ, um nackt herumzustreifen. Er sagte sich, daß er, obwohl er sich im Busch nicht immer ganz wohl fühlte – tatsächlich fühlte er sich dort manchmal mißgestimmt –, lieber dort draußen war und sich mißgestimmt fühlte, als daß er gar nicht dort war. »Was um Himmels willen treibst du denn da draußen?« rief Belle aus dem Zelt. »Ich muß pissen.« Er kroch ins Zelt zurück. »Einen Moment lang hab’ ich gedacht, du hältst Zwiesprache mit der Natur«, sagte sie. »Ich hab nur nach dem Rechten gesehen.«
Am Morgen sagte er: »Na, war doch zum Schlafen auf dem Felsen.« »Ja, zum Schlafen«, sagte sie und lächelte, »und zum Vögeln auch.« »Der Fels verrät unserem Körper Dinge, die unser Verstand nicht zu begreifen vermag.« »Laß mich mit der Scheiße in Ruhe.« Es war noch immer neblig und die Luft schwer von Feuchtigkeit, aber kalt war es nicht. Jetzt wollte keiner von beiden noch länger im Busch bleiben, obwohl sie anfangs davon gesprochen hatten, »ein paar Tage lang« zu bleiben. Er dachte, daß er womöglich geblieben wäre, wenn er allein gewesen wäre. Sie brachen ihr Lager ab. »Ich mach’s gern auf dem Felsen«, sagte sie, »ich hab’ anscheinend schon blaue Flecken.« »Aber hast du genug blaue Flecken abgekriegt?« fragte er sie, wie bei einem Ritual, und beschloß, den Witz nicht noch einmal zu machen, weil er so schlaff war; über das, was die Schlaffheit für ihre Beziehung bedeutete, wollte er nicht nachdenken. »Haha.« Der Himmel war grau. Die Feuchtigkeit machte alles ein wenig stiller als gewöhnlich, und der diesige Himmel trübte alles ein wenig ein, einschließlich ihrer beider Stimmung. Sie luden sich ihre Rucksäcke auf und gingen los. »Ich weiß alles über Unterwürfigkeit und Selbstachtung, aber für eine Schlampe wie mich ist inzwischen alles ein Spiel.« Er machte eine Handbewegung, um anzudeuten, daß er darüber kein Urteil abgeben wollte. »In mir steckt mehr als das, verdammt«, sagte sie.
»Du mußt aber ein bißchen so sein, um in den Busch zu gehen. Es ist ganz leicht, daraus eine Selbstbestrafung zu machen.« »Das hab’ ich mir gerade gedacht.« Sie gingen mit ein paar Metern Abstand. Sie kamen in einiger Entfernung an einem Rudel grauer Känguruhs vorbei, die ihnen beim Vorbeimarschieren grüblerisch nachschauten. Belle und er gaben einander mit einem Blick zu verstehen, daß sie die Känguruhs gesehen hatten. »Noch mehr von Gottes Werk«, rief sie ihm zu. Während der Wanderung wurde ihm klar, daß es ihm Unbehagen bereitete, mit Belle hier draußen zu sein. Wenn er – auf dem Papier – auf das Weihnachtsfest zurückblickte, das sie gerade zusammen verbracht hatten, war es ungetrübt, erinnerungswert, ein wirklich schönes Ereignis – der Nebel in der Schlucht, das perfekte Essen, das Lagerfeuer, der gute Wein. Belle nackt auf dem Felsen, er mitten in der Nacht auf dem Vorsprung, die melancholische Wildnis. Das Unbehagen rührte daher, daß Belle in seinem Leben nicht mehr am rechten Platz war. Die Wildnis von Budawang war der Ort seiner Kindheitsprüfungen, seiner Erfahrung mit dem Busch im Rahmen der Familie, die an den Grundfesten rührte, an den primitiven Grundfesten. Dort hatte er sich seine Männlichkeit erworben. Sie gehörte nicht in dieses Album. Er sah auf sie zurück, wie sie den Weg hinaufmarschierte, sich in ihren Keds, die von der Feuchtigkeit des Busches durchnäßt waren, durch das sumpfige Gelände kämpfte. Er sah sie wieder am Feuer, hockend wie eine Wilde. Er empfand eine ungeheure Zärtlichkeit für sie. Sie hatten oft gesagt, daß sie beide nicht die Art Mensch seien, mit dem sie wirklich gern Weihnachten oder
Geburtstage verbringen wollten, aber sie fanden keinen besseren. Dadurch, daß er Belle an seinem vierzigsten Geburtstag und an Weihnachten hierher mitgenommen hatte, hatte er in der Landschaft eine unauslöschliche und unpassende Erinnerungsspur hinterlassen. Aber Belle war irgendwie auch eine Verkörperung seiner Urgroßmutter, das hatten sie in Katoomba am Grab seiner Urgroßmutter gespürt. Doch hier war nicht das Gebiet seiner Urgroßmutter. Dann kam ihm ein Gedanke, eine splitternde Beobachtung, die Budawangs und die Blue Mountains von Katoomba waren zwar Teil des Great Dividing Range, aber in seinem Kopf waren es verschiedene Gebirge, verschiedene Bezirke. Seine Urgroßmutter und Belle gehörten nach Katoomba, dem heruntergekommenen Kur- und Badeort. Dort hatte seine Urgroßmutter ihre Reize und ihre Schönheit eingesetzt, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihr Vermögen zu machen. Die Budawangs waren der Ort, wo er Pfadfinder und Offizier gewesen war. Die Teile paßten noch immer nicht ganz zusammen. Er holte Belle ein und berührte sie zärtlich. »Tut mir leid mit dem Schlamm«, sagte er. »Ich komm’ schon zurecht. Ich werd’ damit fertig.« Hier hatte er als Junge gelernt, »damit fertigzuwerden«. »Ich besorg’ dir ein neues Paar Keds.« »Die sind aus den Staaten.« »Ich laß ein Paar rüberschicken.« »Machst du ja doch nicht.«
In einem Motel an der Küste duschten sie sich den Schlamm vom Körper, trockneten die Feuchtigkeit, schalteten die
Klimaanlage auf warm und betranken sich langsam, auf dem Boden liegend. Belle hatte ein Handtuch um ihr nasses Haar geschlungen und trug einen Seidenkimono. Sie war wie eine Katze, die wieder heimgefunden hat. Er breitete die Karte von Neusüdwales aus. »Das ist mein Herzland«, er zeigte es ihr, »das englischgrüne Tafelland um Bowral und Moss Vale, die alten Goldfelder, die Seen von Jindabyne, das neue Skigebiet, bis runter nach Bega, wo mein Vater mich dem Mann vorstellte, der eine Bibliothek mit tausend Büchern über Geheimnisvolles und Übernatürliches besaß, bis nach Kiama, wohin ich mit meiner Schulfreundin in unsere elenden Flitterwochen fuhr, nachdem wir in der anglikanischen Kirche unserer Heimatstadt geheiratet hatten. Und Milton, wo ich in einer alten Nachrichtenagentur zehn Jahrgänge der Zeitschrift Champion entdeckte.« Er erzählte ihr, daß er ein aufsässiger, aber äußerst tüchtiger Pfadfinder gewesen sei, die Küste rauf und runter Fußball gespielt habe, dort als Soldat im Manöver gewesen sei, an der ganzen Küste gesurft habe, im ganzen Busch gewesen sei und dort gejagt habe. »Du bist ein sehr sentimentaler Mensch«, sagte sie, während sie sich auf einen Kratzer am Bein Salbe rieb. »Nein, das finde ich nicht.« »Ich finde schon.« »Ich finde nicht.« »Dann eben ein sentimentaler Säufer.« »Das ist ein anderes Gebiet.« Er zog einen Kreis um Katoomba und den Janolan-CavesBezirk. »Das Gebiet meiner Urgroßmutter.« »Das haben wir schon gehabt.«
»Und da ist das Gebiet meines Großvaters.« Er machte einen Kreis um die Stadt. »Er hat dort in einem Hotel Selbstmord begangen. Aber das war nicht sein Gebiet. Vielleicht hat er, so wie er war, gar kein Gebiet gehabt.« Aber keiner von beiden sei je in diesem Gebiet erwähnt worden, erzählte er ihr und zeigte dabei auf den ersten Kreis. Belle lehnte an seiner Schulter, täuschte Interesse vor; einen Moment lang wurde sie jemand anderer, der an seiner Schulter lehnte und auf die Karte schaute, ein gutgelaunter später Gast auf einer dahinsiechenden Party. »Gehen wir«, sagte er. »Laß uns das Zimmer zahlen und in die Stadt zurückfahren. Ich glaube es ist vorbei.«
Zwei Wochen später fuhr er wieder in die Budawangs und campte wieder an der gleichen Stelle, allein. Der Ausflug diente dazu, den Fehler auszulöschen, mit Belle hierhergekommen zu sein. Als er am Mitchell Lookout im Busch saß, wurde ihm die Vergeblichkeit seiner Anstrengung klar. Daß er zurückgekommen war, um es auszulöschen, hatte die Spur nur noch tiefer gemacht. Wann immer er von nun an in dieser Gegend wäre, würde er daran denken, mit der falschen Person hierhergekommen zu sein, er hatte seine Urgroßmutter mit in das harte Land genommen, wo sie nicht hingehörte. Er würde über Belle lachen, wie sie beim Kochen dahockte, über die Fliegen auf ihrem Gesicht und darüber, wie sie sagte: »Ich bin damit recht glücklich, Hemingway.«
William Faulkner Das wäre fein!
1 Wir konnten hören, wie das Wasser in die Badewanne lief. Wir blickten auf die Geschenke, die auf dem Bett herumlagen, wo Mama sie in buntes Papier eingewickelt hatte, mit unsern Namen drauf, damit Großvater gleich wußte, wem sie gehörten, wenn er sie vom Baum nahm. Für jeden war ein Geschenk da, bloß nicht für Großvater, weil Mama sagte, Großvater wäre zu alt, um noch Geschenke zu bekommen. »Das da ist deins!« sagte ich. »Ach was!« sagte Rosie. »Komm endlich und geh in die Wanne, wie’s deine Mama dir gesagt hat!« »Ich weiß, was drin ist«, sagte ich. »Wenn ich wollte, könnt’ ich’s dir verraten!« Rosie blickte ihr Geschenk an. »Ich kann’s abwarten, bis daß die Zeit da ist, daß ich’s haben soll.« »Wenn du mir ‘n Nickel gibst, will ich’s dir verraten«, sagte ich. Rosie blickte ihr Geschenk an. »Ich hab’ keinen Nickel«, sagte sie. »Aber am Weihnachtsmorgen hab’ ich einen, weil Mr. Rodney mir dann meinen Zehner gibt.« »Dann weißt du ja sowieso, was drin ist, und bezahlst mir nichts mehr«, sagte ich. »Geh zu Mama, sie soll dir ‘n Nickel borgen!« Da packte mich Rosie beim Arm. »Du kommst mir jetzt und gehst in die Wanne!« sagte sie. »Du immer mit deinem Geld!
Wenn du mit einundzwanzig nicht ‘n reicher Mann bist, kommt’s höchstens davon, weil die Polizei ‘s Geld abgeschafft hat – oder dich!« Ich ging also baden und kam wieder, und die Geschenke lagen noch immer auf Mamas und Papas Bett herum, und man konnte es schon beinah riechen, Weihnachten, und wenn sie morgen mit dem Feuerwerk loslegen, dann kann man’s auch hören. Bloß noch heute nacht – und morgen steigen wir in die Bahn (bloß Papa nicht, weil der über Heiligabend im Mietstall bleiben muß) und fahren zu Großvater, und dann ist morgen abend da und Weihnachten, und Großvater nimmt die Geschenke vom Baum und ruft laut unsere Namen, und auch mein Geschenk für Onkel Rodney, das ich von meinem eigenen Zehner gekauft habe, ist dabei; und nach ‘ner Weile macht Onkel Rodney dann den Schreibtisch von Großvater auf und trinkt ‘n Schluck aus Großvaters Medizinflasche, und vielleicht schenkt er mir wieder ‘n Vierteldollar fürs Helfen, wie vorige Weihnachten, und nicht bloß ‘n Nickel wie im Sommer, als er Mama und uns besucht hatte und wir mit Mrs. Tucker geschäftlich zu tun hatten, ehe Onkel Rodney nach Hause fuhr und für die Compress-Gesellschaft zu arbeiten anfing – und das wäre fein! Oder vielleicht sogar ‘n halben Dollar, und ich dachte, ich könnt’s kaum noch abwarten. »Mein Gott nochmal, ich kann’s kaum abwarten«, sagte ich. »Was war das?« fuhr Rosie mich an. »Mein Gott nochmal? Mein Gott nochmal? Laß das bloß deine Mama hören, wie du rumfluchst, dann kannst du’s aber garantiert abwarten! Du sprichst immer von ‘nem Nickel – aber für ‘n Nickel könnt’ ich ihr glatt verraten, was du eben gesagt hast!« »Wenn du mir ‘n Nickel gibst, dann sag’ ich’s ihr selber«, sagte ich. »Du gehst mir jetzt ins Bett!« fuhr Rosie mich an. »‘n Junge von sieben Jahr, und flucht schon!«
»Wenn du mir versprichst, daß du ihr nichts verrätst, dann sag’ ich dir, was für ‘n Geschenk du bekommst, und du kannst mir den Nickel am Weihnachtsmorgen geben«, sagte ich. »Mach, daß du ins Bett kommst!« fuhr Rosie mich an. »Du immer mit deinem Nickel! Wenn ich glauben könnt’, daß auch bloß einer von euch ‘n Geschenk für Großvater kaufen wollte, und wenn’s auch bloß für ‘n Zehner wär’, dann tät ich selber noch ‘n Nickel zulegen!« »Großvater will keine Geschenke«, sagte ich. »Er ist schon zu alt dafür.« »Hah«, sagte Rosie. »Zu alt, ja? Und wenn nun alle sagten, du wärst zu jung, um ‘n Nickel zu bekommen, wie würde dir ‘n das passen, he?« Und damit knipste sie das Licht aus und ging. Aber ich konnte die Geschenke auch noch im Feuerschein sehen: die für Onkel Rodney und Großmutter und Tante Louisa und Tante Louisas Mann, Onkel Fred, und Kusine Louisa und Vetter Fred und das Baby und Großvaters Köchin und unsere Köchin, die Rosie nämlich, und vielleicht sollte einer auch Großvater was schenken, nur müßt’ es dann vielleicht Tante Louisa sein, weil sie und Onkel Fred bei Großvater wohnen, oder vielleicht auch Onkel Rodney, weil der auch bei Großvater wohnt. Onkel Rodney hat Papa und Mama immer ein Geschenk gegeben, aber vielleicht wär’s bloß Zeitverschwendung für Onkel Rodney und auch für Großvater, wenn Onkel Rodney ihm was schenkte, denn mal hab’ ich Mama gefragt, warum Großvater sich immer das Geschenk ansieht, das Onkel Rodney ihr und Papa schenkt, und warum er deswegen so wütend wird, und da fing Papa an zu lachen, und Mama sagte, Papa sollte sich was schämen, denn Onkel Rodneys Schuld wär’s schließlich nicht, wenn seine Freigebigkeit größer wär’ als seine Geldtasche, und Papa sagte, ja wirklich, das ist nicht Onkel Rodneys Schuld, denn er hätte noch keinen Menschen gesehen, der sich so viel
Mühe gibt, zu Geld zu kommen, wie Onkel Rodney, und Onkel Rodney hätte alles Menschenmögliche versucht, ausgenommen Arbeit, und wenn Mama zwei Jahre zurückdenken wollte, dann könnte sie sich wohl an die Zeit erinnern, als Onkel Rodney seinem guten Stern hätte danken können, daß er in der Verwandtschaft einen Mann gefunden hatte, dessen Freigebigkeit – oder wie Mama es sonst nennen wollte – um mindestens fünfhundert Dollar kleiner war als seine Brieftasche; und Mama sagte, sie dulde es nicht, daß Papa behaupte, Onkel Rodney hätte das Geld gestohlen; das wäre bloß böswillige Verleumdung gewesen, wie Papa ganz gut wüßte; und Papa wäre wie die meisten Männer gegen Onkel Rodney voreingenommen, sie wüßte nicht, warum, und wenn Papa es bedaure, daß er Onkel Rodney die fünfhundert Dollar geliehen habe, als der gute Name der Familie auf dem Spiel stand, dann sollte er’s nur sagen, Großvater würde das Geld schon irgendwie aufbringen und es Papa zurückzahlen; und dann fing sie an zu weinen, und Papa sagte: Also laß schon, laß schon; und Mama weinte und sagte, Onkel Rodney wäre eben das Nesthäkchen, und das wäre wohl der Grund, weshalb Papa ihn haßte, und Papa sagte: Also laß schon, laß schon, um Gottes willen, laß schon. Papa und Mama wußten nämlich nicht, daß Onkel Rodney immerzu geschäftlich zu tun hatte, als er letzten Sommer bei uns war, und sie wußten genausowenig wie die Leute in Mottstown, daß er auch letzte Weihnachten geschäftlich zu tun hatte, als ich ihm zum erstenmal geholfen habe und dafür einen Vierteldollar von ihm bekam. Er sagte nämlich, wenn er lieber mit Damen geschäftlich zu tun hätte statt mit Herren, dann ginge das niemand was an, nicht mal Mr. Tucker. Er sagte, ich liefe ja auch nicht herum und erzählte allen Leuten was über Papas Geschäft, und ich sagte, jeder wüßte, daß Papa den Mietstall hätte, und das brauchte ich sowieso keinem zu
erzählen; und Onkel Rodney sagte, dafür wäre jedenfalls die Hälfte von dem Nickel, und ob ich weiter Nickels verdienen wollte, oder ob ich wollte, daß er jemand anders anstellt. Ich hab’ also weiter für ihn gearbeitet und hinter Mr. Tuckers Zaun aufgepaßt, bis er rauskam und in die Stadt ging, und dann bin ich am Zaun entlang zur Straßenecke, bis Mr. Tucker nicht mehr zu sehen war, und dann hab’ ich meinen Hut auf den Zaunpfahl gehängt und mußte ihn dort lassen, bis ich Mr. Tucker zurückkommen sah. Nur kam er nicht zurück, solange ich da war, weil Onkel Rodney immer schon vorher fertig war, und dann kam er an, und dann gingen wir zusammen nach Hause, und er hat Mama erzählt, wie weit wir spazierengegangen wären, und Mama sagte immer, wie gut es für Onkel Rodneys Gesundheit wäre. Er hat mir dann zu Hause bloß den Nickel gegeben. Es war nicht soviel wie letzte Weihnachten, als er mit der andern Dame, der in Mottstown, geschäftlich zu tun hatte, aber das war bloß einmal, und er war den ganzen Sommer bei uns zu Besuch, deshalb bekam ich in der Zeit viel mehr zusammen als ‘n Vierteldollar. Und überhaupt war’s das andere Mal Weihnachten, und er hatte gerade ‘n Schluck aus Großvaters Medizinflasche genommen, eh er mir den Vierteldollar gab, und deshalb gibt’s diesmal vielleicht sogar ‘n halben Dollar. Ich kann’s kaum abwarten.
2 Aber endlich wurde es doch hell, und ich zog meinen Sonntagsanzug an und ging an die Haustür und hielt nach der Mietskutsche Ausschau, und dann ging ich in die Küche und fragte Rosie, ob’s nicht beinah Zeit wäre, und sie sagte mir, der Zug käme erst in zwei Stunden. Bloß daß wir die Kutsche hörten, noch während sie’s mir sagte, und deshalb dachte ich,
es wäre Zeit, und wir müßten abfahren und in den Zug steigen, und das wäre fein, und dann könnten wir zu Großvater fahren, und dann wär’s heut abend geworden, und dann wär’s morgen früh, und diesmal würd’s vielleicht ‘n halber Dollar werden, mein Gott nochmal, das wäre fein! Dann kam Mama angerannt, sogar ohne ihren Hut, und sie sagte, es wär’ ja noch zwei Stunden Zeit, und sie wäre noch nicht mal angezogen, und John Paul sagte: Yes, Ma’am. Aber Papa hätte ihn geschickt und gesagt, John Paul sollte Mama sagen, Tante Louisa wär’ da, und Mama sollte sich beeilen. Wir stellten also den Korb mit den Geschenken in die Kutsche, und ich saß neben John Paul auf dem Kutschbock, und drin im Wagen fragte Mama laut wegen Tante Louisa, und John Paul sagte, Tante Louisa wäre in einem gemieteten Buggy gekommen, und Papa hätte sie zum Frühstücken ins Hotel gebracht, weil sie schon vor Tagesanbruch aus Mottstown abgefahren wäre. Und vielleicht war Tante Louisa nach Jefferson gekommen, um Papa und Mama zu helfen, ein Geschenk für Großvater auszusuchen. »Denn wir haben für jeden eins«, sagte ich, »und für Onkel Rodney habe ich eins mit meinem eigenen Geld gekauft.« Da fing John Paul an zu lachen, und ich fragte, warum; und er sagte, es wär’ die Idee, ich könnte Onkel Rodney was schenken, was er gut gebrauchen könnte; und ich sagte, warum, und John Paul sagte, weil ich wie’n Mann gebaut wäre, und ich sagte, warum, und John Paul sagte, er könnte drauf wetten, daß Papa Onkel Rodney gern was schenken würde, ohne erst bis Weihnachten zu warten, und ich sagte, was, und John Paul sagte, was zu arbeiten. Und da hab’ ich John Paul erzählt, daß Onkel Rodney die ganze Zeit so gearbeitet hätte, als er letzten Sommer bei uns zu Besuch war, und John Paul hörte auf mit Lachen und sagte, ja, sicher, er glaube auch, alles, was ‘n Menschen dauernd in Gang hält, Tag
und Nacht, das nennt er Arbeit, egal, wieviel Spaß es dann schließlich war; und ich sagte, jedenfalls arbeitet Onkel Rodney jetzt, er arbeitet im Büro von der CompressGesellschaft, und da lachte John Paul mächtig und sagte, natürlich, da müßte erst ‘ne ganze Gesellschaft kommen, um Onkel Rodney zur Arbeit zu pressen. Und dann fing Mama an zu rufen, er solle direkt ins Hotel fahren, und John Paul sagte: No, Ma’am. Papa hätte gesagt, wir sollten direkt zum Mietstall fahren und dort auf ihn warten. Wir fuhren aber doch zum Hotel, und Tante Louisa und Papa kamen raus, und Papa half Tante Louisa zu uns in die Mietskutsche, und Tante Louisa fing an zu weinen, und Mama rief, Louisa, was ist denn? Was ist passiert? Und Papa sagte: Warte doch! Warte! Denkt an den Nigger! Damit meinte er John Paul, und deshalb war’s wohl ein Geschenk für Großvater, das nicht angekommen war. Und dann sind wir schließlich doch nicht mit der Bahn gefahren. Wir fuhren zum Mietstall, und sie hatten schon die leichte Reisekutsche angespannt und warteten auf uns, und Mama weinte jetzt und sagte, Papa hätte nicht mal seinen Sonntagsanzug an, und Papa fluchte und sagte, zum Teufel mit dem Anzug, und wenn wir Onkel Rodney nicht erwischten, eh die andern ihn schnappen, dann könnte Papa ja die Sachen anziehen, die Onkel Rodney jetzt anhätte. Wir stiegen also rasch in die Reisekutsche, und Papa zog die Vorhänge zu, und da konnten Mama und Tante Louisa weinen, soviel sie wollten, und Papa rief John Paul zu, er sollte nach Hause fahren und von Rosie den Sonntagsanzug einpacken lassen und Rosie an die Bahn bringen; jedenfalls wäre das fein für Rosie. Und wir fuhren nicht mit der Bahn, aber wir fuhren schnell, und Papa kutschierte und fragte, ob denn kein Mensch wüßte, wo er wäre, und Tante Louisa hörte ein Weilchen auf zu weinen und sagte, Onkel Rodney wäre gestern abend nicht zum Essen gekommen, doch gleich nach dem Essen wär’ er gekommen,
und Tante Louisa hätte schon so ‘ne schreckliche Ahnung gehabt, sowie sie seine Schritte unten im Flur gehört hätte, und Onkel Rodney wollte ihr nichts sagen, eh sie nicht in seinem Zimmer waren, und die Tür wurde zugemacht, und dann sagte er, daß er zweitausend Dollar haben müßte, und Tante Louisa sagte, wo in aller Welt könnte sie zweitausend Dollar hernehmen, und Onkel Rodney sagte, frage doch Fred, das ist Tante Louisas Mann, und George, das ist Papa, sag ihnen, sie müßten’s eben ausspucken; und Tante Louisa sagte, dabei hätte sie immer das schreckliche Gefühl gehabt, und sie hätte gerufen, Rodney, Rodney! Was… und Onkel Rodney hätte angefangen zu fluchen und hätte gesagt: Verdammt, fang jetzt nicht an zu winseln und zu weinen; und Tante Louisa sagte zu Rodney: Was hast du diesmal gemacht? Und dann hörten beide schon, wie an die Tür geklopft wurde, und Tante Louisa sah Onkel Rodney an, und da wußte sie die Wahrheit, noch ehe sie Mr. Pruitt und den Sheriff zu sehen bekam, und dann hätte sie gesagt: Erzähl’s nicht Pa! Verheimliche es vor Pa! Er überlebt’s nicht… »Wer?« fragte Papa. »Mister – wer?« »Mr. Pruitt«, sagte Tante Louisa und weinte wieder. »Der Präsident von der Compress-Gesellschaft. Sie sind erst im vorigen Frühling nach Mottstown gezogen. Du kennst ihn doch nicht.« Sie ging also runter an die Haustür, und es war Mr. Pruitt mit dem Sheriff. Und wegen Großvater hätte sie Mr. Pruitt angefleht und ihm geschworen, daß Onkel Rodney so lange im Haus bleiben würde, bis Papa käme, und Mr. Pruitt hätte gesagt, wie schrecklich es für ihn wäre, auch deshalb, weil’s gerade zu Weihnachten war, und darum würde er ihnen wegen Großvater und Tante Louisa Zeit lassen bis einen Tag nach Weihnachten, wenn Tante Louisa ihm versprechen würde, daß Onkel Rodney nicht versuchte, Mottstown zu verlassen. Und
Mr. Pruitt hätte ihr den Scheck gezeigt, und sie hätte mit ihren eigenen Augen Großvaters Unterschrift darunter gesehen, und sogar Tante Louisa hätte erkennen können, daß Großvaters Name… und da sagte Mama: Louisa, Louisa! Denk an Georgie! und damit meinte sie mich, und Papa fluchte und schrie: Wie zum Teufel wollt ihr das vor ihm geheimhalten? Wollt ihr die Zeitungen verstecken? Und Tante Louisa weinte wieder und sagte, bald würde es jeder wissen, und sie könnte weder hoffen noch erwarten, daß einer von uns je wieder den Kopf hochtragen könnte, sie hoffte bloß, daß man’s vor Großvater geheimhalten könne, denn er würd’s nicht überleben. Dann weinte sie ganz schrecklich, und Papa mußte neben einem Bach anhalten und absteigen und sein Taschentuch eintauchen, damit Mama Tante Louisas Gesicht abwischen konnte, und dann holte Papa die Medizinflasche aus der Wagentasche und tat ein paar Tropfen auf das Taschentuch, und Tante Louisa roch daran, und dann trank Papa einen Schluck von der Medizin in der Flasche, und Mama sagte: George! und Papa trank noch mehr von der Medizin, und dann tat er so, als wollte er Mama und Tante Louisa die Flasche anbieten, damit sie auch einen Schluck nehmen sollten, und er sagte: »Ich würd’s begreifen! Wenn ich ‘ne Frau eurer Familie wäre, würde ich auch zu trinken anfangen. Jetzt erklär’ mir mal endlich die Sache mit den Papieren!« »Es ist wegen der Eisenbahn-Pfandbriefe von Ma«, sagte Tante Louisa. Wir fuhren jetzt wieder schnell, weil die Pferde sich ausgeruht hatten, während Papa das Taschentuch angefeuchtet und von der Medizin getrunken hatte, und Papa sagte, ja, ja, was ist denn mit den Eisenbahn-Pfandbriefen? und drehte sich ganz plötzlich auf dem Kutschbock herum und sagte: »Eisenbahn-Pfandbriefe? Willst du etwa sagen, daß er mit dem
verdammten Schraubenzieher auch den Schreibtisch deiner Mutter aufgebrochen hat?« Mama rief, George, wie kannst du bloß, aber Tante Louisa redete jetzt, redete sehr rasch und weinte jetzt nicht, noch nicht, und Papa blickte nach rückwärts und fragte, ob Tante Louisa sagen wolle, daß die fünfhundert, die er vor zwei Jahren auszahlen mußte, nicht alles waren? Und Tante Louisa sagte, daß es zweitausendfünfhundert seien, sie wollten bloß nicht, daß Großvater es merke, deshalb hätte Großmutter ihre Pfandbriefe als Sicherheit für den Wechsel hergegeben, und jetzt sagten sie, Onkel Rodney hätte Großmutters Wechsel und ihre Pfandbriefe von der Bank gegen Pfandbriefe aus dem Safe im Büro der Compress-Gesellschaft ausgelöst, denn als Mr. Pruitt entdeckt hätte, daß die Pfandbriefe von der CompressGesellschaft fehlten, hätte er sie gesucht und in der Bank gefunden, und als er im Safe der Compress-Gesellschaft nachsah, hätte er nichts weiter als den Scheck über zweitausend Dollar mit Großvaters Unterschrift gefunden, und obwohl Mr. Pruitt noch kein Jahr in Mottstown wohnte, hätte sogar er gleich gewußt, daß Großvater den Scheck nicht unterschrieben hätte, und außerdem war er nochmal bei der Bank gewesen, und dort hätte Großvater gar keine zweitausend Dollar, und Mr. Pruitt hätte gesagt, daß er bis nach Weihnachten warten wolle, wenn Tante Louisa ihm schwören würde, daß Onkel Rodney nicht weglaufe, und Tante Louisa hätt’s getan und wäre wieder nach oben gegangen und wollte Onkel Rodney anflehen, Mr. Pruitt die Pfandbriefe zu geben, und sie wäre in Onkel Rodneys Zimmer getreten, wo er gerade eben noch gewesen wäre, und das Fenster stand offen, und Onkel Rodney war weg. »Der Teufel soll ihn holen!« sagte Papa. »Und du glaubst, keiner weiß jetzt, wo die Papiere sind?«
Jetzt ging es schnell, weil wir den letzten Berg hinunterfuhren, in das Tal, wo Mottstown liegt. Bald würde der Geruch wieder da sein, bloß noch heute und heute abend, und dann ist Weihnachten, und Tante Louisa saß mit einem Gesicht da, das war so weiß wie’n weißgestrichener Zaun, auf den’s geregnet hat, und Papa sagte: »Wer zum Teufel hat ihm überhaupt so einen Posten verschafft?« Und Tante Louisa sagte: »Mr. Pruitt.« Und Papa fragte: »Wie denn? Wenn doch Mr. Pruitt nur ein paar Monate in Mottstown gelebt hat.« Und da fing Tante Louisa wieder an zu weinen und hielt sich nicht mal’s Taschentuch vors Gesicht, und Mama sah Tante Louisa an und fing auch an zu weinen, und Papa nahm die Peitsche und zog den Pferden einen derben Hieb über, obwohl sie doch so schnell liefen, und er fluchte: »Verdammt und zugenäht! Ich seh’s schon, Pruitt ist verheiratet, was?« Dann sahen wir’s auch. Überall an den Fenstern waren Stechpalmenkränze, wie bei uns zu Hause in Jefferson, und ich sagte: »In Mottstown brennen sie auch Feuerwerk ab, genau wie bei uns in Jefferson.« Und Tante Louisa und Mama weinten jetzt furchtbar, aber nun sagte Papa: »Laßt doch; laßt doch, denkt an Georgie«, und das bin ich nämlich, und Tante Louisa sagte: »Ja, ja, die geschminkte Person! Kutschiert den ganzen Nachmittag allein in einem Buggy die Straßen auf und ab, und das einzige Mal, wo Mrs. Church ihr einen Besuch gemacht hat, und auch bloß wegen Mr. Pruitts Stellung, da hatte sie nicht mal ‘n Korsett an, und Mrs. Church hat mir erzählt, ihr Atem hätte nach Alkohol gerochen!« Und Papa sagte: »Laßt doch! Laßt doch!« Und Tante Louisa weinte immer mehr und sagte, Mrs. Pruitt wäre schuld dran, denn Onkel Rodney wäre jung und leicht zu beeinflussen, weil er noch nie Gelegenheit gehabt hätte, ein nettes Mädchen kennenzulernen und zu heiraten, und Papa fuhr jetzt schnell
auf Großvaters Haus zu und rief: »Heiraten? Rodney und heiraten? Zum Teufel, was für’n Spaß hätte er davon, aus seinem eignen Haus zu schleichen und zu warten, bis es dunkel ist, und sich hinters Haus zu schleichen und die Regenrinne raufzuklettern und in ein Zimmer rein, wo keine andre drin ist als bloß seine eigene Frau?« Und Mama und Tante Louisa weinten also ganz mächtig, als wir vor Großvaters Haus ankamen.
3 Und Onkel Rodney war nicht da. Wir gingen rein, und Großmutter sagte, daß Mandy, Großvaters Köchin, nicht gekommen sei, um das Frühstück zu machen; und als Großmutter die Emmeline, also Tante Louisas Kindermädchen, zu Mandys Hütte auf den Hinterhof geschickt hatte, da war die Tür von innen verriegelt gewesen, aber Mandy habe nicht geantwortet, und da sei Großmutter selbst hingegangen, und Mandy habe keine Antwort gegeben, und deshalb sei Vetter Fred durchs Fenster geklettert, und Mandy sei weg gewesen. Onkel Fred war gerade aus der Stadt gekommen, und er und Papa hatten beide gerufen: »Verriegelt? Von innen? Und keiner drin?« Und dann sagte Onkel Fred zu Papa, er solle reingehen und sich mit Großvater unterhalten, und Papa wollte schon gehen, aber Tante Louisa hielt Papa und Onkel Fred fest und sagte, sie würde sich mit Großvater unterhalten, und die beiden sollten lieber gehen und ihn suchen, und Papa sagte: »Wenn der Esel bloß nicht versucht hat, sie jemandem zu verkaufen.« Und Onkel Fred rief: »Großer Gott, Mann, weißt du denn nicht, daß der Scheck schon vor zehn Tagen ausgestellt wurde?« Und wir gingen also rein und fanden Großvater, wo er in seinem Stuhl
angelehnt dasaß, und er sagte, daß er Papa erst morgen erwartet habe, er sei weiß Gott froh, endlich überhaupt jemand zu sehen, denn heute früh sei er aufgewacht, und die Köchin war fort, und Louisa sei schon vor Tau und Tag irgendwohin geflitzt, und jetzt könne er nicht mal Onkel Rodney finden, damit der runterginge und ihm seine Post und ein, zwei Zigarren hole, und Gott sei Dank sei’s nur einmal im Jahr Weihnachten, und deshalb sei er verdammt froh, wenn’s vorbei sei, nur daß er jetzt lachen müsse, denn immer, wenn er das wegen Weihnachten vor Weihnachten sage, lache er dabei, und erst nach Weihnachten lachte er nicht mehr, wenn er das wegen Weihnachten sagte. Dann holte Tante Louisa sich Großvaters Schlüssel aus der Tasche und schloß den Schreibtisch auf, den Onkel Rodney immer mit seinem Schraubenzieher aufmachte, und holte Großvaters Medizin raus, und Mama sagte zu mir, ich solle gehn und Vetter Fred und Kusine Louisa suchen. Onkel Rodney war also nicht da. Ich hab’ bloß am Anfang gedacht, vielleicht würde ich nun nicht mal ‘n Vierteldollar bekommen und vielleicht diesmal sogar überhaupt nichts, darum konnte ich am Anfang nichts andres denken, als daß es immerhin Weihnachten war, und das war ja wenigstens etwas. Ich ging da nämlich ums Haus rum, und nach ‘ner Weile kamen Papa und Onkel Fred raus, und ich konnte sie durchs Gebüsch sehen, wie sie an Mandys Tür klopften und »Rodney! Rodney« oder so riefen. Dann mußt’ ich mich tiefer ins Gebüsch verkriechen, weil Onkel Fred dicht an mir vorbei mußte, als er zum Holzschuppen ging, um die Axt zu holen und Mandys Tür aufzubrechen. Aber Onkel Rodney konnten sie nicht reinlegen. Wenn Mr. Tucker ihn nicht reinlegen konnte, nicht mal in Mr. Tuckers Haus, dann hätten sich Onkel Fred und Papa denken können, daß sie ihn auch nicht im Hinterhof seines eigenen Papas reinlegen konnten. Ich hätt’ sie
also gar nicht zu hören brauchen. Ich hab’ bloß gewartet, bis Onkel Fred nach einem Weilchen aus der aufgebrochenen Tür rauskam und zum Holzschuppen ging und die Axt nahm und das Schloß und den Haken und die Krampe von der Schuppentür abmachte und zurückging, und dann kam Papa aus Mandys Hütte, und sie nagelten das Schloß vom Holzschuppen an Mandys Tür und schlossen sie zu und gingen hinten rum hinter Mandys Hütte, und ich konnte hören, wie Onkel Fred das Fenster zunagelte. Und dann gingen sie wieder ins Haus. Aber es kam gar nicht drauf an, ob Mandy in ihrer Hütte war und nicht raus konnte, denn bald kam der Zug aus Jefferson mit Rosie und Papas Sonntagsanzug, und nun war Rosie also da und konnte für Großvater und uns kochen, und damit war ja alles in Ordnung. Aber Onkel Rodney konnten sie nicht reinlegen. Das hätte ich ihnen gleich sagen können. Ich hätte ihnen erzählen können, daß Onkel Rodney manchmal bis nach dem Dunkelwerden warten wollte, eh er mit seinen Geschäften anfing. Und deshalb hat’s nicht weiter geschadet, daß ich erst spät am Nachmittag von Vetter Fred und Kusine Louisa weg konnte. Es war spät, und bald würden sie unten in der Stadt anfangen, das Feuerwerk abzubrennen, und dann würden wir es auch hören, und so konnte ich zwischen den Latten, mit denen Papa und Onkel Fred das hintere Fenster vernagelt hatten, gerade noch sein Gesicht erkennen und wie unrasiert es war, und er fragte mich, wo ich zum Teufel so lange geblieben wäre, denn er hatte ja gehört, wie der Zug aus Jefferson vor dem Mittagessen eingelaufen war, noch vor elf Uhr, und er lachte, weil Papa und Onkel Fred ihn in die Hütte eingesperrt hatten, wo es doch genau das war, was er gern wollte, und ich sollte mich gleich nach dem Abendbrot rausschleichen, und ob ich glaubte, daß ich’s könnte. Und ich hab’ ihm geantwortet, letzte Weihnachten wär’s ein Vierteldollar gewesen, und
damals hätt’ ich mich nicht aus’m Haus schleichen müssen, und er lachte und sagte, ein Vierteldollar, ein Vierteldollar, und ob ich schon zehn Vierteldollar auf einmal gesehen hätte, und das hatte ich nicht, und er sagte, ich müßte gleich nach dem Abendbrot mit dem Schraubenzieher da sein, und dann würde ich zehn Vierteldollar sehen, und ich sollte dran denken, daß nicht mal der liebe Gott wüßte, wo er wäre, und deshalb sollte ich mich rasch fortscheren und wegbleiben, bis ich nach dem Dunkelwerden mit dem Schraubenzieher wiederkäme. Und auch mich konnten sie nicht reinlegen. Ich hab’ nämlich den ganzen Nachmittag den Mann beobachtet, und er dachte, ich spiele bloß, und vielleicht hat er gedacht, weil ich von Jefferson bin statt von Mottstown, wüßt’ ich nicht, wer er wäre. Aber ich hab’s doch gewußt, denn einmal, als er am Hofzaun entlangging und stehenblieb, um sich seine Zigarre wieder anzuzünden, da hab’ ich das Abzeichen unter seiner Kragenklappe gesehen, als er das Streichholz angezündet hat, und da hab’ ich gewußt, er ist so was wie Mr. Watts in Jefferson, der die Nigger fängt. Und ich hab’ am Zaun gespielt und konnte hören, wie er stehenblieb und mir zusah, und ich hab’ gespielt, und er sagte: »Tag, mein Kleiner! Morgen kommt ja wohl wieder der Weihnachtsmann zu dir, was?« »Yes, Sir«, sagte ich. »Du bist doch Miss Sarahs Junge aus Jefferson, was?« sagte er. »Yes, Sir«, sagte ich. »Willst Weihnachten bei deinem Großvater feiern, was?« sagte er. »Ob dein Onkel Rodney heut nachmittag zu Hause ist?« »No, Sir«, sagte ich. »O je«, sagte er. »Das ist zu ärgerlich! Ich wollt’ ihn gern eine Minute sprechen. Er ist wohl in der Stadt, was?« »No, Sir«, sagte ich.
»So, so«, sagte er. »Er ist wohl irgendwohin zu Besuch gefahren, was?« »Yes, Sir«, sagte ich. »O je«, sagte er, »das ist zu ärgerlich! Ich wollte ihn gern geschäftlich sprechen. Aber vielleicht hat’s noch ‘n bißchen Zeit.« Dann sah er mich an und fragte: »Weißt du ganz genau, daß er nicht mehr in der Stadt ist?« »Yes, Sir«, sagte ich. »So, so. Weiter wollt’ ich nichts wissen«, sagte er. »Wenn du vielleicht deiner Tante Louisa oder deinem Onkel Fred davon erzählst, kannst du ihnen ja sagen, daß ich weiter nichts wissen wollte.« »Yes, Sir«, sagte ich. Und er ging weg. Und er ist nicht wieder an unserm Haus vorbeigekommen. Ich hab’ aufgepaßt, aber er ist nicht wiedergekommen. Hat mich nicht reinlegen können.
4 Dann wurde es allmählich dunkel, und in der Stadt unten fingen sie an, Feuerwerk abzubrennen. Ich konnte es hören, und bald würden wir die Leuchtkugeln und die Raketen sehen, und dann würde ich die zehn Vierteldollar haben, und ich dachte an den Korb mit Geschenken, und ich dachte, daß ich eigentlich in die Stadt runtergehen könnte, wenn ich mit der Arbeit für Onkel Rodney fertig wäre, und für einen Zehner von meinen zehn Vierteldollars könnte ich ein Geschenk für Großvater kaufen und es ihm morgen geben, und vielleicht gibt er mir, weil ihm sonst keiner was geschenkt hat, dann auch statt dem Zehner diesmal ‘n Vierteldollar, und dann hätt’ ich elf Vierteldollar (bis auf den einen Zehner), und das wäre doch wirklich fein! Aber ich hatte keine Zeit, um’s zu tun. Wir
gingen also zum Abendbrot, das Rosie auch hatte kochen müssen, mit Mama und Tante Louisa, und die hatten Puder im Gesicht, wo sie geweint hatten, und mit Großvater; den ganzen Nachmittag hatte Papa ihm geholfen, einen Schluck aus seiner Medizinflasche zu nehmen, solange Onkel Fred in der Stadt war, und Onkel Fred kam zurück, und Papa ging auf den Flur raus, und Onkel Fred sagte, er hätte überall gesucht, in der Bank und bei der Compress, und daß Mr. Pruitt ihm geholfen hätte, aber sie hätten keine Spur von ihm finden können, weder von ihm noch von dem Geld, und Onkel Fred hatte es schon befürchtet, denn vorige Woche hatte Onkel Rodney mal abends einen Wagen genommen, und Onkel Fred hätte herausbekommen, daß Onkel Rodney nach Kingston an die Hauptstrecke gefahren und dort in den Schnellzug nach Memphis gestiegen sei, und Papa sagte, Teufelnocheins, und Onkel Fred sagte, nach dem Essen wolln wir zu ihm und es weiß Gott aus ihm rausquetschen, denn ihn haben wir wenigstens. Ich hab’s auch Pruitt gesagt, und er sagte, wenn wir zu ihm halten, dann will er warten und uns Zeit lassen. Onkel Fred und Papa und Großvater kamen zusammen zum Essen, Großvater zwischen ihnen, und er sagte, Weihnachten ist Gott sei Dank bloß einmal im Jahr, also hurra! und Papa und Onkel Fred sagten, so ist’s recht, Pa, mach nur immer so weiter, Pa! und Großvater machte immer so weiter, bis er plötzlich zu rufen anfing: Wo’s der verdammte Junge, und damit meinte er Onkel Rodney, und er hätte die größte Lust, selber in die Stadt zu gehen und Onkel Rodney aus dem verdammten Billardsaal zu holen, damit er heimkommt und seine Verwandten begrüßt. Und wir aßen also Abendbrot, und Mama sagte, sie wollte die Kinder nach oben bringen, und Tante Louisa sagte, nein, Emmeline könnte uns zu Bett bringen, und daher gingen wir die Hintertreppe rauf, und Emmeline sagte, sie hätte heut schon das Frühstück extra
machen müssen, und wenn die Leute glaubten, sie würde die schöne Weihnachtszeit über dauernd Extra-Arbeit machen, dann wären sie nicht so gescheit, wie sie’s ihnen zugetraut hätte, und es schiene ihr ganz so, als wäre das hier ein Haus, wo man lieber nicht sein sollte, und wir gingen also ins Kinderzimmer, und nach einer Weile ging ich wieder die Hintertreppe runter, und mir fiel auch ein, wo der Schraubenzieher zu finden ist. Dann konnte ich ganz deutlich das Feuerwerk in der Stadt unten hören, und der Mond schien jetzt, aber ich konnte trotzdem immer noch die Leuchtkugeln und die Raketen sehen, die in den Himmel aufstiegen. Dann kam Onkel Rodneys Hand aus der Ritze im Fensterladen und nahm den Schraubenzieher. Ich konnte sein Gesicht jetzt nicht sehen, und es lachte nicht grade, es klang nicht grade, als ob er lachte, es kam bloß daher, weil er hinter dem Laden so schnaufte. Denn ihn konnten sie nicht reinlegen. »All right«, sagte er. »Das macht also zehn Vierteldollar! Aber halt! Bist du ganz sicher, daß keiner weiß, wo ich bin?« »Ja«, sagte ich. »Ich hab’ am Zaun gewartet, bis einer kam und mich gefragt hat.« »Wer?« sagte Onkel Rodney. »Der Mann mit dem Abzeichen«, sagte ich. Da fluchte Onkel Rodney. Aber er fluchte nicht aus Wut. Es klang genauso, wie es klingt, wenn er lacht, bloß die Worte waren anders. »Er hat gefragt, ob du irgendwohin zu Besuch gefahren wärst, und ich hab’ ›Yes, Sir‹ gesagt«, sagte ich. »Gut so!« sagte Onkel Rodney. »Eines Tages wirst du weiß Gott ein ebenso guter Geschäftsmann sein wie ich. Und du sollst auch nicht mehr lange für mich lügen. Jetzt hast du also deine zehn Vierteldollar, nicht wahr?« »Nein«, sagte ich. »Ich hab’ sie noch nicht.«
Da fluchte er wieder, und ich sagte: »Ich kann meine Mütze aufhalten, und du kannst sie reinfallen lassen, dann geht keiner daneben.« Da fluchte er schrecklich, aber nicht laut. »Ich denk’ nicht dran, dir zehn Vierteldollar zu geben«, sagte er, und ich wollte schon anfangen, du hast’s versprochen – als Onkel Rodney weitersprach: »… weil ich dir nämlich zwanzig Vierteldollar geben will.« Und ich sagte, fein, und er beschrieb mir, wie ich das richtige Haus finden könnte und was ich tun sollte, wenn ich’s gefunden hätte. Nur mußt’ ich diesmal keinen Zettel mitnehmen, denn Onkel Rodney sagte, es wär’ eine Arbeit für zwanzig Vierteldollar und deshalb zu wichtig, um es auf n Zettel zu schreiben, und außerdem brauchte ich keinen Zettel, denn ich würde sie doch nicht kennen, und seine Stimme zischte immer noch aus dem Fensterladen raus, wo ich ihn nicht sehen konnte, und sie klang immer noch so, wie wenn er fluchte, als er sagte, Papa und Onkel Fred hätten ihm einen Gefallen getan, als sie Tür und Fenster zunagelten, und sie hätten nicht mal so viel Grütze, um das zu wissen. »Fange an der Hausecke an und zähle drei Fenster ab. Dann wirfst du ‘ne Handvoll Kies ans Fenster. Und wenn das Fenster aufgeht – egal, wer’s ist, du kennst sie doch nicht –, dann sag’ einfach, wer du bist, und dann: ›In zehn Minuten ist er mit dem Buggy an der Ecke. Bringen Sie den Schmuck mit!‹ Sag’ das nochmal!« sagte Onkel Rodney. »In zehn Minuten ist er mit dem Buggy an der Ecke. Bringen Sie den Schmuck mit!« sagte ich. »Sag lieber: ›Bringen Sie den ganzen Schmuck mit!‹« sagte Onkel Rodney. »Bringen Sie den ganzen Schmuck mit«, sagte ich. »Gut«, sagte Onkel Rodney. Dann sagte er: »Na und? Worauf wartest du noch?«
»Auf die zwanzig Vierteldollar«, sagte ich. Onkel Rodney fluchte wieder. »Denkst du, ich bezahle dich, eh du deine Arbeit getan hast?« sagte er. »Du hast was von einem Buggy gesagt«, sagte ich. »Vielleicht vergißt du, mich zu bezahlen, eh du wegfährst, und vielleicht kommst du erst zurück, wenn wir schon wieder abgereist sind. Und außerdem: Als wir damals im vorigen Sommer kein Geschäft machen konnten, weil Mrs. Tucker krank wurde, da wolltest du mir den Zehner nicht geben und hast gesagt, du könntest auch nichts dafür, daß sie krank ist.« Da fluchte Onkel Rodney hinter der Ritze leise, aber fürchterlich und sagte dann: »Hör mal! Ich hab’ die zwanzig Vierteldollar jetzt nicht bei mir. Ich hab’ nicht mal einen einzigen Vierteldollar bei mir. Und ich kann nur welche bekommen, wenn ich hier raus bin und das Geschäft abschließe. Und ich kann’s nicht heute abend abschließen, wenn du mir nicht hilfst. Hast du’s verstanden? Ich komme dir gleich nach. Ich warte an der Ecke im Buggy, wenn du zurückkommst. Geh jetzt los! Mach schnell!«
5 Ich ging also über den Hof, bloß daß der Mond jetzt schon hell schien, und ich ging hinter dem Zaun entlang, bis ich auf die Straße kam. Und ich konnte das Feuerwerk knallen hören, und ich konnte sehen, wie die Leuchtkugeln und die Raketen in den Himmel aufstiegen, aber das ganze Feuerwerk war unten in der Stadt, und darum konnte ich in der Straße nichts weiter sehen als die Kerzen und die Weihnachtskränze. Und dann kam ich an den Weg und ging rauf bis zum Stall, und ich konnte das Pferd im Stall hören, aber ich wußte nicht, ob es der richtige Stall war, aber sehr bald kam Onkel Rodney hinter der
Stallecke hervor, wie mit einem Satz, und sagte, da bist du ja, und er zeigte mir, wo ich stehen und zum Haus rüberhorchen sollte, und er ging wieder in den Stall. Ich konnte aber nichts andres hören als Onkel Rodney, der das Pferd anschirrte, und dann pfiff er, und ich ging wieder zurück, und er hatte das Pferd schon vor den Buggy gespannt, und ich fragte, wessen Pferd und Buggy ist das denn, es ist viel magerer als das von Großvater. Und Onkel Rodney sagte, es ist jetzt mein Pferd, wenn bloß der verdammte Mond nicht so hell schiene. Dann ging ich den Weg zurück bis zur Straße, und weil niemand kam, hab’ ich im Mondschein mit dem Arm gewinkt, und der Buggy kam heraus, und ich stieg ein, und wir sind rasch losgefahren. Die Seitenvorhänge waren vorgezogen, darum konnte ich die Leuchtkugeln und die Raketen unten in der Stadt nicht sehen, aber ich konnte die Schwärmer hören, und ich dachte, vielleicht fahren wir mitten durch die Stadt, und vielleicht hält Onkel Rodney und gibt mir ‘n paar von den zwanzig Vierteldollars, dann könnt’ ich für Großvater ein Geschenk für morgen kaufen, aber dazu kam’s nicht; Onkel Rodney schob bloß eben den Seitenvorhang auf, ohne zu halten, und da könnt’ ich das Haus sehen und die beiden Magnolienbäume, aber wir hielten erst, als wir an der Ecke waren. »Und jetzt«, sagte Onkel Rodney, »wenn das Fenster aufgeht, sagst du: ›In zehn Minuten ist er an der Ecke. Bringen Sie den ganzen Schmuck mit!‹ Egal, wer’s ist. Du brauchst nicht zu wissen, wer’s ist. Du mußt sogar vergessen, was für’n Haus es ist. Verstanden?« »Yes, Sir«, sagte ich. »Und dann zahlst du mir die…« »Ja«, sagte er und fluchte. »Ja. Mach, daß du runterkommst!« Ich kletterte also runter, und der Buggy fuhr weiter, und ich ging die Straße entlang. Und das Haus war ganz dunkel, bis auf ein einziges Licht, es war also das richtige, zwischen den
beiden Bäumen. Ich ging also durch den Garten und zählte die drei Fenster ab, und ich wollte gerade Kies ans Fenster schmeißen, als eine Dame hinter einem Strauch hervorgerannt kam und mich packte. Sie versuchte immerzu, mir was zu sagen, nur könnt’ ich’s nicht verstehen, und außerdem hatte sie nicht genug Zeit, viel zu sagen, denn ein Mann kam hinter einem andern Strauch hervorgerannt und packte uns beide. Bloß daß er sie am Mund erwischt hatte, denn das merkte ich an den Lauten, die sie hervorblubberte, während sie sich loskämpfen wollte. »So, mein Kleiner«, sagte er. »Was gibt’s denn jetzt? Bist du der Richtige?« »Ich arbeite für Onkel Rodney«, sagte ich. »Dann bist du der Richtige«, sagte er. Jetzt kämpfte und blubberte die Dame ganz mächtig, aber er hielt ihr den Mund zu. »Schon gut. Also was gibt’s?« Ich wußte nur nicht, daß Onkel Rodney auch mit Männern Geschäfte machte. Aber vielleicht mußte er’s, seit er für die Compress-Gesellschaft arbeitete. Und außerdem hatte er mir gesagt, ich würde sie doch nicht kennen, also hatte er vielleicht das gemeint. »Er sagt: ›In zehn Minuten an der Ecke!‹« sagte ich. »Und den ganzen Schmuck mitbringen! Er hat mir gesagt, ich müßt’s zweimal sagen. Und den ganzen Schmuck mitbringen.« Die Dame kämpfte und blubberte noch viel wilder, deshalb mußte er mich vielleicht loslassen, damit er sie mit beiden Händen festhalten konnte. »Den ganzen Schmuck mitbringen«, sagte er und hielt die Dame mit beiden Händen fest. »Das ist eine gute Idee! Das ist großartig! Ich kann’s verstehen, daß er gesagt hat, du müßtest es zweimal sagen. Gut! Geh du jetzt wieder an die Ecke und warte, und wenn er kommt, sagst du ihm, sie sagt: ›Er soll
kommen und ihr tragen helfen.‹ Sag ihm das auch zweimal, verstanden?« »Und dann bekomm’ ich meine zwanzig Vierteldollar?« sagte ich. »Zwanzig Vierteldollar, so?« sagte der Mann und hielt die Dame fest. »Die sollst du also bekommen, ja? Das ist nicht genug! Sag ihm noch: ›Sie sagt, du sollst mir auch ein Schmuckstück schenken!‹ Verstanden?« »Ich will bloß meine zwanzig Vierteldollar«, sagte ich. Dann gingen er und die Dame wieder ins Gebüsch hinein, und ich ging auch weg, zur Straßenecke, und ich konnte wieder die Leuchtkugeln und die Raketen unten in der Stadt sehen und die Schwärmer knallen hören, und dann kam der Buggy an, und Onkel Rodney zischte hinter dem Seitenvorhang, genauso wie hinter Mandys Fensterladen. »Ja, und?« sagte er. »Sie sagt, du sollst kommen und ihr tragen helfen«, sagte ich. »Was?« sagte Onkel Rodney. »Hat sie gesagt, daß er nicht da ist?« »Nein. Sie hat gesagt, du solltest kommen und ihr tragen helfen, und das sollt’ ich zweimal sagen.« Dann sagte ich: »Wo sind meine zwanzig Vierteldollar?« denn er war schon vom Buggy runtergesprungen und lief über den Bürgersteig und ins schattige Gebüsch rein. Ich ging also auch ins Gebüsch und sagte: »Du hast gesagt, du würdest sie mir geben, wenn ich…« »Ja doch, ja«, sagte Onkel Rodney. Er schlich jetzt geduckt unter den Büschen hin, und ich konnte ihn schnaufen hören. »Ich geb’ sie dir morgen. Ich geb’ dir morgen dreißig Vierteldollar! Jetzt scher dich zum Teufel nach Hause! Und wenn sie bei Mandys Hütte waren, dann weißt du von nichts. Lauf jetzt! Rasch!«
»Ich möchte aber die zwanzig Vierteldollar lieber jetzt haben«, sagte ich. Er lief jetzt ganz rasch und geduckt durch die schattigen Büsche, und ich war dicht hinter ihm, denn als er herumfuhr, hätte er mich fast umgestoßen, aber ich sprang noch rechtzeitig aus dem Gebüsch, und er stand da und beschimpfte mich, und dann hat er sich gebückt, und ich sah, daß er einen Stock in der Hand hatte, und da hab’ ich kehrtgemacht und riß aus. Dann ging er weiter, immer geduckt im Schatten, und ich ging wieder zum Buggy, weil wir am Tag nach Weihnachten wieder nach Jefferson fahren würden, und wenn Onkel Rodney nicht vorher wiederkäme, würde ich ihn erst im nächsten Sommer wiedersehen, und dann hätte er vielleicht mit einer andern Dame geschäftlich zu tun, und mit meinen zwanzig Vierteldollar würd’s mir wie mit dem Nickel gehen, damals, als Mrs. Tucker krank wurde. Deshalb hab’ ich am Buggy gewartet, und ich konnte die Raketen und die Leuchtkugeln aufsteigen sehen und die Schwärmer unten in der Stadt knallen hören, nur daß es jetzt spät war, und vielleicht waren alle Läden geschlossen, und ich konnte kein Geschenk für Großvater kaufen, auch wenn Onkel Rodney jetzt wiederkäme und mir meine zwanzig Vierteldollar gäbe. Deshalb hab’ ich mir bloß das Knallen von den Schwärmern unten angehört und gedacht, ich könnte ja Großvater sagen, daß ich ihm ein Geschenk hatte kaufen wollen, und dann gibt er mir vielleicht immerhin fünfzehn Cents statt bloß ‘n Zehner, aber da fingen sie plötzlich hinten bei dem Haus, wo Onkel Rodney hingegangen war, auch damit an, Schwärmer abzuknallen. Bloß daß sie fünf schnell hintereinander losließen, und als sie keine mehr abknallten, dachte ich, vielleicht würden sie nach ‘ner Minute auch Raketen und Leuchtkugeln loslassen. Aber das haben sie nicht getan. Sie haben bloß ganz schnell hintereinander die fünf Schwärmer abgeknallt und hörten dann
auf, und ich stand am Buggy, und dann kamen Leute aus ihren Häusern raus und riefen sich was zu, und dann sah ich, wie Männer zu dem Haus rannten, wo Onkel Rodney hingeschlichen war, und dann kam ein Mann ganz schnell aus dem Garten gelaufen und ging die Straße entlang zu Großvaters Haus hin, und ich hab’ zuerst geglaubt, es wär’ Onkel Rodney, und er hätte den Buggy vergessen, aber dann sah ich, daß er’s nicht war. Aber Onkel Rodney kam gar nicht wieder, und deshalb ging ich weiter und zu dem Vordergarten, wo die Männer waren, weil ich trotzdem auf den Buggy achtgeben und Onkel Rodney sehen konnte, wenn er aus den Büschen schlich, und ich kam zu dem Vordergarten und sah sechs Männer, die trugen was Langes, und dann liefen zwei andre Männer mir entgegen und hielten mich auf, und der eine sagte, verflucht noch eins, das ist einer von den Kleinen, der eine aus Jefferson. Und da konnte ich sehen, daß das, was die Männer trugen, ‘n Fensterladen war mit was drauf, das war in eine Decke eingewickelt, und deshalb dachte ich zuerst, sie wären gekommen, um Onkel Rodney zu helfen, den Schmuck zu tragen, bloß daß ich Onkel Rodney nirgends gesehen habe, und dann rief einer von den Männern: »Wer? Einer von den Kleinen? Verflucht noch eins, den muß jemand nach Hause bringen!« Der Mann hob mich also auf, aber ich sagte ihm, ich müßte auf Onkel Rodney warten, und der Mann sagte, Onkel Rodney käme jetzt nicht, und ich sagte, aber ich will auf ihn warten, und dann sagte einer von den Männern hinter uns, verflucht, schafft ihn doch hier raus! und wir gingen weg. Der Mann nahm mich huckepack auf seinen Rücken, und da konnte ich sehen, wie die sechs Männer im Mondschein den Fensterladen mit dem Bündel drauf trugen, und ich hab’ den Mann gefragt: »Gehört es Onkel Rodney?« Und der Mann hat gesagt: »Nein,
wenn’s überhaupt jemandem gehört, dann gehört es jetzt deinem Großvater.« Und daher wüßt’ ich dann, was es war. »‘s ist ‘ne Rinderkeule!« sagte ich. »Ihr wollt sie zu Großvater bringen.« Da machte der andere Mann einen komischen Grunzer, und der, auf dem ich ritt, sagte: »Ja, man kann’s wohl so nennen«, und ich sagte: »‘s ist ein Weihnachtsgeschenk für Großvater! Von wem ist es? Ist es von Onkel Rodney?« »Nein«, sagte der Mann. »Nicht von dem. Es ist von den Männern in Mottstown. Von allen Ehemännern in Mottstown.«
6 Dann konnten wir Großvaters Haus sehen. Und alle Lampen brannten jetzt, sogar die auf der Veranda, und ich konnte Leute auf dem Flur sehen, ich konnte Damen mit Kopftüchern sehen, und noch andere gingen den Gartenweg hinauf zur Veranda, und dann konnte ich jemand im Haus hören, es klang wie Singen, und dann kam Papa aus dem Haus und den Gartenweg entlang zur Gartentür, und wir gingen ihm entgegen, und der Mann setzte mich ab, und ich sah auch Rosie an der Gartentür stehn und warten. Nur daß es jetzt nicht mehr wie Singen klang, denn es war keine Musik dabei, und deshalb war’s vielleicht wieder Tante Louisa, und vielleicht konnte sie jetzt Weihnachten ebensowenig leiden, wie Großvater immer sagte, daß er’s nicht leiden könne. »‘s ist ein Geschenk für Großvater«, sagte ich. »Ja«, sagte Papa. »Geh du jetzt mit Rosie weg und geh schlafen! Mama kommt bald zu dir. Aber bis sie kommt, mußt du ein ganz braver Junge sein. Höre auf Rosie! Hier, Rosie! Bring ihn weg! Schnell!«
»Nicht nötig, mir das zu sagen«, sagte Rosie. Sie nahm mich bei der Hand. »Komm mit!« sagte sie. Bloß daß wir nicht in den Garten gingen, denn Rosie kam aus der Gartentür raus, und wir gingen die Straße rauf. Und dann dacht’ ich, vielleicht gehn wir hintenrum, um den Leuten auszuweichen, aber das taten wir auch nicht. Wir gingen einfach die Straße entlang, und ich fragte: »Wo gehen wir hin?« Und Rosie sagte: »Wir sollen in ‘nem Haus von einer Dame schlafen, die heißt Mrs. Jordan.« Wir gingen also weiter. Ich sagte nichts. Denn Papa hatte vergessen, etwas darüber zu sagen, daß ich aus dem Haus geschlichen war, und wenn ich jetzt vielleicht zu Bett ginge und brav wäre, würde er’s vielleicht bis morgen vergessen. Und überhaupt war die Hauptsache, daß ich Onkel Rodney und meine zwanzig Vierteldollar zu fassen bekäme, eh wir wieder nach Hause führen, und vielleicht wird das morgen auch noch gut. Wir gingen also weiter, und Rosie sagte: »Da drüben ist das Haus«, und wir gingen in den Vordergarten, und auf einmal sah Rosie das Opossum. Es saß auf einem Persimonenbaum in Mrs. Jordans Garten, und ich könnt’ es bei dem Mondschein auch gut sehen, und ich schrie: »Lauf! Lauf und hol’ Mrs. Jordans Leiter!« Und Rosie sagte: »Laß mich in Ruh mit ‘ner Leiter! Du kommst jetzt zu Bett!« Aber ich hab’ nicht gewartet. Ich bin aufs Haus zugelaufen, und Rosie hinter mir drein, und sie schrie: »Du, Georgie! Gleich kommst du her!« Aber ich blieb nicht stehen. Wir könnten die Leiter holen und das Opossum erwischen und es Großvater schenken, zusammen mit der Rinderkeule, und es würde nicht mal ‘n Zehner kosten, und dann würde Großvater mir vielleicht sogar
auch einen Vierteldollar schenken, und wenn ich dann die zwanzig von Onkel Rodney bekäme, dann hätt’ ich einundzwanzig Vierteldollar, und das wäre fein!
Maxim Gorki Weihnachtsphantome
Meine Weihnachtserzählung war beendet. Ich warf die Feder hin, erhob mich vom Schreibtisch und schritt im Zimmer auf und ab. Es war Nacht, und draußen wirbelte der Schneesturm durch die Luft. Seltsame Laute erreichten mein Ohr wie von leisem Flüstern oder Seufzen; sie drangen von der Straße her durch die Wände meiner kleinen Kammer, die zu drei Vierteln von dunklen Schatten eingehüllt wurde. Es war der Schnee, den der Wind an die Mauern preßte und gegen die Fensterscheiben peitschte. Ein leichter, weißer, unerkennbarer Gegenstand flog an meinem Fenster vorbei und verschwand, einen kalten Schauder in meiner Seele zurücklassend. Ich trat zum Fenster, blickte auf die Straße hinaus und legte meinen Kopf, der von der mühsamen Anspannung der Einbildungskraft erhitzt war, an die kühle Scheibe. Die Straße lag in verlassener Stille. Ab und zu riß der Wind durchsichtige Schneewölkchen vom Pflaster und ließ sie wie zarte weiße Schleier durch die Luft fliegen. Gegenüber meinem Fenster brannte eine Laterne. Ihre Flamme zitterte und flackerte im heftigen Kampf mit dem Wind. Der Lichtschein warf sich wie ein breites Schwert in die Luft, und der Schnee, der vom Dach des Hauses in diesen Lichtstreifen geweht wurde, glühte für einen Augenblick wie ein schillerndes Funkengewand auf. Das Herz wurde mir traurig und kalt, als ich diesem Spiel des Windes zusah. Ich entkleidete mich schnell, blies die Lampe aus und legte mich zum Schlafen nieder.
Als das Licht gelöscht war und Dunkelheit mein Zimmer erfüllte, wurden die Geräusche vernehmbarer, und das Fenster starrte mich wie ein großer weißer Fleck an. Das unablässige Ticken der Uhr bezeichnete das Vergehen der Sekunden. Bisweilen wurde ihr flinkes Vorstürmen vom Surren und Knirschen des Schnees übertönt, doch bald vernahm ich wieder den leisen Schlag der Sekunden, die der Ewigkeit anheimfielen. Mitunter war ihr Geräusch so deutlich und genau, als ob die Uhr in meinem Schädel stünde. Ich lag im Bett und dachte an die soeben vollendete Geschichte und überlegte, ob sie mir wohl Erfolg einbringen würde. Diese Geschichte handelte von zwei Bettlern, einem blinden Greis und seiner Frau, die in stiller, scheuer Zurückgezogenheit ihren Lebensweg gingen, der ihnen nur Ängste und Demütigungen bot. Am Morgen vor Weihnachten hatten sie ihr Dorf verlassen, um im Nachbarort Almosen zu sammeln, damit sie tags darauf die Geburt Christi auf festliche Weise feiern könnten. Sie wollten das nächste Dorf aufsuchen und zum frühen Gottesdienst zurück sein, die Säcke voller Krumen, die man ihnen um Christi willen gespendet hatte. Ihre Hoffnungen (so ging meine Erzählung weiter) erfüllten sich natürlich nicht. Sie erhielten nur karge Gaben, und es war schon sehr spät, als die beiden, ermattet von des Tages Mühen, endlich beschlossen, zu ihrer kalten, verlassenen Lehmhütte zurückzukehren. Mit ihrer leichten Bürde auf den Schultern und mit schwerem Kummer im Herzen schleppten sie sich über die schneebedeckte Ebene; die alte Frau ging voran, und der alte Mann, der sich an ihrem Gürtel festhielt, folgte ihr. Es war eine dunkle Nacht, Wolken bedeckten den Himmel, und für zwei bejahrte Menschen war der Weg zum Dorf immer noch sehr lang. Ihre Füße sanken im Schnee ein, und der Wind
wirbelte ihn auf und wehte ihn ihnen ins Gesicht. Stumm und vor Kälte zitternd stapften sie weiter und weiter. Müde und vom Schnee geblendet, war die Alte vom Weg abgeirrt, und sie wanderten nun ziellos quer durchs Tal aufs offene Feld hinaus. »Sind wir bald zu Hause? Achte darauf, daß wir die Frühmesse nicht versäumen«, murmelte der Blinde hinter den müden Schultern seiner Frau. Sie sagte, sie wären bald zu Hause, und ein neuer Kälteschauder rann durch ihren Leib. Sie wußte, daß sie den Weg verloren hatte, aber sie getraute sich nicht, es ihrem Mann zu sagen. Manchmal schien es ihr, als trüge der Wind Hundegebell an ihre Ohren, und sie schlug die Richtung ein, aus der diese Laute kamen; bald aber vernahm sie das Bellen von der anderen Seite. Schließlich verließen die Kräfte sie, und sie sagte zu dem Alten: »Vergib mir, Väterchen, vergib mir um Christi willen. Ich bin vom Weg abgeirrt und kann nicht mehr weiter. Ich muß mich niedersetzen.« »Du wirst erfrieren«, entgegnete er. »Laß mich nur ein Weilchen ausruhen. Und selbst wenn wir erfrieren, was macht es? Unser Leben auf dieser Erde ist gewiß nicht süß.« Der Alte seufzte tief und willigte ein. Sie ließen sich im Schnee nieder, einer mit dem Rücken zum andern, und sie sahen aus wie zwei Lumpenbündel – dem Wind zum Spiele. Er trieb Schneewolken gegen sie, bedeckte sie mit scharfen, spitzen Kristallen, und die Alte, die leichter gekleidet war als ihr Mann, fühlte sich gar bald in der Umarmung einer seltenen, köstlichen Wärme. »Mütterchen«, rief der Blinde, der vor Kälte zitterte, »steh auf, wir müssen weiter!«
Aber sie war eingeschlummert und murmelte im Schlaf nur halb verständliche Worte. Er wollte sie aufrichten, doch es fehlte ihm die Kraft. »Du wirst erfrieren!« schrie er, und dann rief er über das offene Feld laut um Hilfe. Aber sie fühlte sich so warm, so gemütlich! Nach einigen vergeblichen Bemühungen setzte sich der Blinde in dumpfer Verzweiflung wieder im Schnee hin. Er war jetzt fest überzeugt, daß alles, was ihm widerfuhr, der ausdrückliche Wille Gottes wäre und daß es für ihn und seine betagte Frau kein Entrinnen gäbe. Der Wind wirbelte und tanzte in ausgelassener Fröhlichkeit um sie herum, bestreute sie lustig mit Schnee und trieb ein vergnügtes Spiel mit den Kleiderfetzen, die ihre alten Glieder bedeckten, welche vom langen Dasein in Not und Armut müde waren. Auch den Alten überkam jetzt ein Gefühl köstlich tröstender Wärme. Auf einmal wehte der Wind liebliches, feierliches, melodisches Glockengeläut an seine Ohren. »Mütterchen!« rief er und fuhr auf. »Es wird zur Messe geläutet. Schnell, laß uns gehen!« Aber sie war schon dorthin gegangen, von wo es keine Rückkehr mehr gibt. »Hörst du? Es läutet, sage ich dir. Steh auf! Ach, wir werden zu spät kommen!« Er wollte sich erheben, stellte jedoch fest, daß er sich nicht zu bewegen vermochte. Da begriff er, daß sein Ende nahe war, und er betete leise: »Herr, sei der Seele deiner Diener gnädig. Vergib uns, o Herr! Wir haben beide gesündigt. Habe Erbarmen mit uns!« Da dünkte es ihn, daß über das Feld ein strahlender Tempel Gottes, eingehüllt in eine hellfunkelnde Schneewolke, auf ihn zuschwebte – ein kostbarer, wundersamer Tempel. Er bestand ganz aus flammenden Menschenherzen und ähnelte selbst
einem Herzen, und mitten darin stand Christus in eigener Person auf einem Piedestal. Bei dieser Vision erhob sich der Alte und fiel vor der Schwelle des Tempels auf die Knie. Er gewann sein Augenlicht wieder und gewahrte den Heiland und Erlöser. Und von seinem erhöhten Standort aus sprach Christus mit holder, wohllautender Stimme: »Herzen, die in Mitleid erglühen, sind die Gründer meines Tempels. Tritt ein in meinen Tempel, du, der du im Leben nach Mitleid gedürstet, du, der du Elend und Erniedrigung erlitten hast, gehe ein in deinen ewigen Frieden!« »O Herr«, sagte der Alte, dem das Augenlicht wiedergegeben war, und weinte vor Freude, »du bist es wahrlich, o Herr!« Und Christus lächelte gütig auf den alten Mann hinunter und auf seine Lebensgefährtin, die durch das Lächeln des Heilands wieder zum Leben erwacht war. Und so erfroren die beiden Bettler draußen in dem offenen schneebedeckten Feld. Ich rief mir die verschiedenen Einzelheiten der Erzählung ins Gedächtnis zurück und fragte mich, ob sie mir wohl so gut und rührend geraten war, daß sie beim Leser Mitleid erregte. Es schien mir, ich könnte die Frage bejahend beantworten; denn ich glaubte, daß die Geschichte die gewünschte Wirkung unbedingt erzielen würde. Mit diesem Gedanken schlief ich ein, recht zufrieden mit mir selbst. Die Uhr tickte weiter, und ich hörte im Schlaf das immer heftiger werdende Jagen und Brausen des Schneesturms. Die Laterne wurde ausgeblasen. Immerzu brachte der Sturm draußen neue Geräusche hervor. Die Fensterläden klapperten. Die Zweige der Bäume neben der Tür klopften an die Metallplatte des Daches. Es seufzte, stöhnte, heulte, brauste und pfiff, und all dies vereinte sich bald zu einer schwermütigen Melodie, die das Herz mit Traurigkeit erfüllte, bald zu einer leisen, weichen Weise gleich einem
Wiegenlied. Es hatte die Wirkung einer phantastischen Geschichte, von der die Seele wie in Bann gehalten wurde. Plötzlich aber – was war denn das? Der schwache Fleck des Fensters entflammte in bläulichem, phosphoreszierendem Licht, und das Fenster wurde immer größer, bis es die ganze Ausdehnung der Wand einnahm. In dem blauen Licht, das den Raum erfüllte, erschien auf einmal eine dichte weiße Wolke, in der Funken aufglühten wie von zahllosen Augen. Wie vom Winde umhergewirbelt, drehte und kreiselte die Wolke, begann sich aufzulösen, wurde immer durchsichtiger, zerbrach in winzige Stückchen und verströmte in meinen Körper eisige Kälte, die mir Angst machte. Etwas wie unzufriedenes, zorniges Gemurmel drang aus den Wolkenfetzen, die immer deutlicher Form gewannen und eine meinen Augen vertraute Gestalt annahmen. Dahinter im Winkel gewahrte ich eine Kinderschar, vielmehr die Schatten von Kindern, und hinter ihnen tauchte neben mehreren weiblichen Gestalten ein graubärtiger alter Mann auf. »Woher kommen diese Schatten? Was wollen Sie?« Das waren die Fragen, die mir durch den Kopf gingen, während ich diese seltsame Erscheinung erschrocken betrachtete. »Woher wir kommen und von wannen wir sind?« antwortete eine strenge, ernste Stimme feierlich. »Kennst du uns nicht? Denk einmal nach!« Stumm schüttelte ich den Kopf. Ich kannte sie nicht. In rhythmischer Bewegung schwebten sie durch die Luft, als ob sie zu den Klängen des Sturmes einen feierlichen Tanz vollführten. Halb durchsichtig, kaum erkennbar in ihren Umrissen, schwankten sie leicht und lautlos rings um mich, und plötzlich erkannte ich in ihrer Mitte den blinden Greis, der sich am Gürtel seiner bejahrten Frau festhielt. Tiefgebeugt humpelten sie an mir vorbei, mit vorwurfsvollem Blick die Augen auf mich richtend.
»Erkennst du sie jetzt?« fragte dieselbe ernste Stimme. Ich wußte nicht, war es die Stimme des Sturmes oder die Stimme meines Gewissens; aber sie hatte einen befehlenden Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Ja, das sind sie«, fuhr die Stimme fort, »die traurigen Helden deiner erfolgreichen Geschichte. Und auch alle andern sind Helden deiner Weihnachtsgeschichten – Kinder, Männer und Frauen, die du zum Vergnügen des Publikums erfrieren ließest. Schau, wie viele es sind und wie jämmerlich sie aussehen, die Ausgeburten deiner Phantasie!« Eine Bewegung ging durch die schwankenden Gestalten, und zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, erschienen im Vordergrund. Sie sahen aus wie zwei Schneeblumen oder wie die Mondscheibe. »Diese Kinder«, sprach die Stimme, »hast du unter dem Fenster jenes wohlhabenden Hauses, in dem der strahlende Christbaum brannte, erfrieren lassen. Sie betrachteten den Baum – erinnerst du dich? – und sie erfroren.« Lautlos schwebten meine armen kleinen Helden an mir vorbei und verschwanden. Sie schienen sich in dem blauen, nebelhaften Licht aufzulösen. An ihrer Stelle erstand ein Weib mit kummervollem, abgezehrtem Gesicht. »Dies ist die arme Frau, die am Weihnachtsabend heimeilte in ihr Dorf, um ihren Kindern ein paar billige Weihnachtsgeschenke zu bringen. Auch sie hast du erfrieren lassen.« Voller Scham und Furcht starrte ich die schattenhafte Frau an. Sie verschwand gleichfalls, und neue Gestalten tauchten abwechselnd auf. Es waren lauter traurige, stumme Phantome mit einem Ausdruck unbeschreiblicher Wehmut im düsteren Blick. Und wieder hörte ich die ernste Stimme mit verhaltener Betonung sprechen: »Warum hast du diese Geschichten
geschrieben? Gibt es nicht genug wirkliches, faßbares und sichtbares Elend in der Welt, daß du noch mehr Not und Kummer erfinden mußt und deine Einbildungskraft bemühen, um Bilder von aufrührender, realistischer Wirkung zu malen? Willst du die Menschen aller Lebensfreude berauben, willst du ihnen den letzten Tropfen des Glaubens an das Gute nehmen, indem du nur Böses schilderst? Warum läßt du in deinen Weihnachtserzählungen Jahr für Jahr Kinder oder Erwachsene erfrieren? Warum? Was bezweckst du?« Ich war bestürzt über die merkwürdige Anklage. Jeder schreibt Weihnachtsgeschichten nach dem gleichen Schema. Man nimmt einen armen Knaben oder ein armes Mädchen oder etwas Ähnliches und läßt sie irgendwo unter einem Fenster erfrieren, hinter dem gewöhnlich ein Christbaum steht, der seinen Strahlenglanz auf sie wirft. Das ist Mode geworden, und ich folgte der Mode. In diesem Sinne antwortete ich. »Wenn ich diese Menschen erfrieren lasse«, sagte ich, »tue ich es zum denkbar besten Zweck. Indem ich ihren Todeskampf schildere, wecke ich im Publikum menschliche Gefühle für diese Unglücklichen. Ich möchte die Herzen meiner Leser rühren, weiter nichts.« Eine seltsame Bewegung lief durch die Menge der Phantome, als ob sie spöttischen Widerspruch gegen meine Worte erheben wollten. »Siehst du, wie sie lachen?« fragte die geheimnisvolle Stimme. »Warum lachen sie?« gab ich kaum hörbar zurück. »Weil du so töricht redest. Du willst durch deine Schilderungen erdachten Elends in den Herzen der Menschen edle Gefühle hervorrufen, während wirkliches Elend und Leid für sie nichts anderes ist als ein alltägliches Schauspiel. Bedenke, seit wie langer Zeit schon manche bestrebt waren, in
den Herzen der Menschen edle Gefühle zu wecken, überlege, wie viele Männer ihre Begabung für diesen Zweck eingesetzt haben, und dann wirf einen Blick auf das wirkliche Leben! Narr, der du bist! Wenn die Wirklichkeit sie nicht rührt und wenn ihr Empfinden durch die grausame, erbarmungslose Not und durch den bodenlosen Abgrund tatsächlicher Bosheit nicht beleidigt wird, wie kannst du dann hoffen, daß die Erzeugnisse deiner Einbildungskraft sie bessern würden? Glaubst du wirklich, du könntest das Herz eines Menschen rühren, indem du ihm von einem erfrorenen Kind erzählst? Das Meer des Elends brandet gegen den Damm der Herzlosigkeit, es tobt und braust dagegen an, und du willst es beschwichtigen, indem du ein paar Erbsen hineinwirfst!« Die Phantome begleiteten diese Worte mit ihrem stummen Lachen, und der Sturm stieß ein schrilles Hohngelächter aus; aber die Stimme sprach unaufhörlich weiter. Jedes Wort, das sie sagte, wurde mir wie ein Nagel ins Hirn getrieben. Es war unerträglich, und ich konnte es nicht länger aushalten. »Das ist alles Lüge, Lüge!« schrie ich in höchstem Zorn. Als ich aus dem Bett sprang, fiel ich kopfüber in die Dunkelheit, und immer rascher und immer tiefer sank ich in den klaffenden Abgrund, der sich plötzlich vor mir auftat. Das Pfeifen, Heulen, Brausen und Lachen folgte mir hinab; die Phantome jagten mich durch das Dunkel, grinsten mir ins Gesicht und verhöhnten mich. Am Morgen erwachte ich mit heftigen Kopfschmerzen und in sehr schlechter Stimmung. Als erstes las ich meine Geschichte von dem blinden Bettler und seiner Frau nochmals durch, und dann zerriß ich das Manuskript in kleine Fetzen.
Pierre Gripari Wer sind Sie, Herr Weihnachtsmann?
»Sie möchten den Weihnachtsmann sprechen?« fragt mich der Engel mit mißtrauischer Miene. »Ja, ich möchte den Weihnachtsmann sprechen.« »Sind Sie sicher?« »Ja.« »Wollen Sie wirklich zum Weihnachtsmann?« »Ja, zum Weihnachtsmann.« Der Engel sieht mich kopfschüttelnd an. Dann fügt er zögernd hinzu: »Wollen Sie nicht lieber… zum Christkind?« Ich stelle mich dumm: »Zum Christkind? Warum denn zum Christkind?« »Überlegen Sie es sich noch«, sagt der Engel gütig. »Meinen Sie nicht, daß Sie statt dem Weihnachtsmann lieber mit dem Christkind sprechen sollten?« »Ich glaube nicht.« »Und warum? Haben Sie etwas gegen das Christkind?« »Ich habe nichts gegen das Christkind, aber in meiner Angelegenheit muß ich mit dem Weihnachtsmann sprechen.« »Wie Sie wünschen«, seufzt der Engel. Er führt mich durch einen langen Gang. Auf der rechten Seite sind Fenster, durch die man andere Gebäude erblickt, auf der linken Türen, an denen ich nacheinander lese:
CHRISTKIND Lager Ohne Anklopfen eintreten CHRISTKIND Buchhaltung Beim Eintritt anklopfen CHRISTKIND Sekretariat Anklopfen, dann eintreten CHRISTKIND Vorstand Anklopfen, nicht eintreten Vor dieser letzten Tür bleibt der Engel stehen und sagt: »Da sind wir.« Ich antworte so höflich wie möglich: »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Glauben Sie denn, ich kann nicht lesen? Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich zum Weihnachtsmann will!« Er läßt sich nicht aus der Fassung bringen: »Schon, aber das ist ein Fehler. Das Christkind sollten Sie sprechen…« »Herrgott…« Der Engel fällt mir entsetzt ins Wort: »Nicht fluchen, um Himmels willen!« »Verzeihung, ich wollte sagen: halleluja nochmal! Ein für allemal, nein, nein und nochmals nein, ich will nicht das Christkind sprechen, sondern den Weihnachtsmann! Und nur den Weihnachtsmann! Haben Sie verstanden? Haben Sie begriffen? Den Weihnachtsmann!« Diesmal hat es bei dem Engel gefunkt. Er zerdrückt mit dem Zeigefinger eine verstohlene Träne und geht weiter. Ganz am
Ende des Gangs kommen wir zu einer seltsam staubigen hölzernen Wendeltreppe. Übellaunig gibt mein Führer von sich: »Da unten, ganz unten. Man wird Ihnen schon Auskunft geben…« »Danke.« Doch als ich bereits hinuntersteige, fügt er schnell hinzu: »Wissen Sie, es ist nie zu spät…« Der Kerl ist hartnäckig! Boshaft vergnüge ich mich damit, ihn an der Nase herumzuführen, ihm noch eine Chance zu geben: »Zu spät wozu?« Er zögert, er stottert: »Also, ich will sagen… Sie können immer noch… Falls Sie… ich weiß nicht… falls Sie lieber doch… Kommen Sie ruhig zurück… Nur keine falsche Scham… Es gibt mehr Löcher im Himmel für eine reuige Nadel als für neunhundertneunundneunzig Kamele… Falls Sie nach reiflicher Überlegung vielleicht doch Lust haben, zu ihm…« »Zu wem?« Er flüstert zaghaft: »Nun… zum Christkind…« Ich antworte sanft, mit mildem Lächeln: »Geh, laß dich rupfen, du Hendl!« Der Engel zuckt zusammen, unterdrückt ein Schluchzen und zieht ab. Ich steige die Stufen hinab. Ganz unten gelange ich in muffige, schlecht beleuchtete Kellerräume mit niedriger Decke, wo dennoch eine unglaubliche Geschäftigkeit herrscht: Engel kommen und gehen, tragen Akten, Pakete, Päckchen, ziehen Wagen hinter sich her… Manche fahren sogar elektrische Gepäckzüge wie die, die man in den Bahnhöfen sieht. Sie gehören offenbar einer niedrigen Engelkaste an, ihre Glorienscheine sind stumpf, ihre Flügel zerzaust… Überall liegt Spielzeug herum, nach Arten zusammengehäuft. Es ist billige Ware: unbewegliche Puppen, Plastikfigürchen, schlecht
gemalte Bilderbücher, auf Pappe aufgenähtes Gerät für die Puppenküche… Ich spreche einen Engel im Arbeitsanzug an, der eine Ladung Miniraketen in einem Flaschenkorb befördert: »Verzeihung! Zum Weihnachtsmann, bitte?« »Hier entlang.« Ich gehe in die angegebene Richtung, bis ich in eine Werkstatt voll geflügelter Lastwagen komme. Neben einer Benzinzapfsäule steht ein Mechanikerengel, ebenfalls im Arbeitsanzug, die Flügel voll Schmieröl, und raucht eine Zigarette. Ich gehe auf ihn zu: »Verzeihung, ich suche den Weihnachtsmann.« Auch er antwortet mir mit einer Kopfbewegung: »Da drüben!« Ich wende mich nach da drüben und finde ein Büro, das durch eine mit Fenstern versehene Bretterwand von der Werkstatt abgetrennt ist. Drinnen müht sich ein abweisendes, häßliches Tippfräulein mit Fledermausflügeln an einer Schreibmaschine ab. »Verzeihung, ich suche den Weihnachtsmann.« »Was wollen Sie von ihm?« »Ich komme wegen eines Interviews.« »Sind Sie angemeldet?« »Ja. Ich habe mich sogar verspätet…« »Für welche Zeitschrift?« »Für Lunatika…« »Gut, dort drüben.« Mit einer Kopfbewegung (das scheint wirklich die Art des Hauses zu sein!) deutet sie auf eine kleine, weiße, kaum wahrnehmbare Tür in der Bretterwand. Ich bedanke mich, gehe hin und klopfe an. Eine rauhe Stimme antwortet: »Herein!« Ich gehe hinein. Vor mir, hinter einem klapprigen, abgenutzten und wackligen Tisch sitzt ein bärtiger Greis, ganz
weiß und fast glatzköpfig. Er hat ein kariertes Hemd und eine schwarze Hose an, deren Beine in roten Stiefeln stecken. Sein Gesicht ist geschwollen, wettergegerbt, kupferfarben, voll von wie mit roter Tinte gezeichneten Äderchen, die von den Backenknochen ausgehen und unter dem Schnurrbart verschwinden. Seine dicken, knotigen Hände wühlen in einem Berg von Briefen, die er nacheinander liest, wobei er mit einem Blaustift Notizen macht. »Habe ich die Ehre, mit dem Weihnachtsmann zu sprechen?« »Ja. Was wollen Sie?« »Ich komme von der Zeitschrift Lunatika…« »Ja richtig! Lunatika…« Er scheint vollkommen verwirrt. Suchend blickt er in dem kleinen Raum herum: »Dann nehmen Sie Platz… oder besser, hm… versuchen Sie, einen Stuhl zu finden…« Sitzgelegenheiten sind tatsächlich Mangelware im Büro des Weihnachtsmanns. Es gibt schon einen Sessel, er hat aber nur drei Beine. Er lehnt hilflos an der Rückwand in schräger Lage, wie eine Frau, die sich hingibt, oder ein untergehendes Schiff. Da ist auch ein Stuhl, aber vollgepackt mit Aktenstößen in sehr ungewissem Gleichgewicht… Ich rühre lieber nicht daran! »Nehmen Sie diese Kiste da!« sagt der Weihnachtsmann. Ich rücke die Kiste heran, wische den Staub von ihr ab… Ich lasse mich darauf nieder und ziehe mein Notizbuch und den Kugelschreiber aus der Tasche. »Whisky?« fragt der Weihnachtsmann. »Nein danke, ich trinke nicht. Aber wenn Sie Lust haben, lassen Sie sich durch mich nicht stören.« »Ich werde mir einen genehmigen«, sagt er. Er gießt sich ein großes Glas ein und trinkt einen Schluck. Ich gehe sofort zum Angriff über: »Wer sind Sie, Herr Weihnachtsmann?«
Er schaut mich mit großen Augen an, mit halb erhobenem Glas. »Wer ich bin?« »Nun ja, wer sind Sie?« »Aber… Ich bin der Weihnachtsmann!« Verflixt! Man sieht, daß der Weihnachtsmann es nicht gewohnt ist, interviewt zu werden. Ich erkläre: »Was bedeutet das für Sie, der Weihnachtsmann zu sein? Wie fühlen Sie sich dabei?« Er zuckt mit den Achseln: »Ich weiß nicht… Wie soll ich mich schon dabei fühlen?« Der Kerl ist wirklich nicht kooperativ. Ich muß also nachhelfen: »Aber es ist doch sicher wunderbar, der Weihnachtsmann zu sein! All die Briefe, die Sie bekommen, all die Freude, die Sie bringen, all die kleinen Kinder, die an Sie glauben, die Sie lieben, die Sie vergöttern…« Der Weihnachtsmann nickt matt: »Ja, ja, natürlich, es ist wunderbar… Die Briefe, die kleinen Kinder… Natürlich… Wollen Sie nicht doch einen Whisky?« »Nein danke, wirklich nicht.« »Dann werde ich, wenn Sie gestatten…« Und er schenkt sich ein zweites Glas ein. Er schnuppert daran, verkostet die Hälfte und wiegt dann nachdenklich den Kopf, den Blick ins Leere gerichtet. Ich glaube, er fühlt sich unbehaglich, besorgt, ein bißchen traurig. Ich versuche, ihn zum Sprechen zu bringen: »Das geht sicher nicht von alleine… Sie müssen wahnsinnig viel Arbeit haben!« »O ja.« »Die ganze Korrespondenz am Jahresende… Die Beschaffung, der Transport… Die Abschaffung der Kamine in den modernen Gebäuden…« »O ja.«
»Und die Engelsverwaltung macht die Dinge sicher auch nicht leichter…« »O nein!« Jetzt reicht’s mir allmählich. Wie lange soll das noch so weitergehen? Bildet er sich vielleicht ein, daß ich die Fragen und Antworten bis zum Schluß alleine machen werde? Warte nur! Ich lasse ihn zum dritten Mal einschenken, und genau in dem Augenblick, als er zum Trinken ansetzt, lande ich meinen Schlag: »Und das Christkind?« Diesmal habe ich ihn! Er läuft rot an und antwortet eisig: »Ich habe mit dem Christkind nichts zu tun.« »Gewiß…« »Das Christkind macht in seiner Abteilung, was es will, und ich mache, was ich will, in der meinen. Ich bin ihm keine Rechenschaft schuldig!« »Selbstverständlich!« Seine Stimme wird schärfer. »Also wenn Sie bis in mein Büro gekommen sind, um über das Christkind zu reden, dann tut es mir leid. Sie hätten sich nicht zu bemühen brauchen. Mit ihm sollten Sie sprechen, nicht mit mir! Es wartet ja nur darauf! Es wird Sie mit offenen Armen empfangen! Ich dagegen, ich habe Ihnen nichts zu sagen!« Jetzt schreit er mich tatsächlich an. »Aber, aber, Herr Weihnachtsmann, seien Sie doch nicht eingeschnappt… Ihretwegen bin ich gekommen, nur Ihretwegen! Und das war gar nicht so leicht!… Sie können sich denken, daß ich von der Kampagne weiß, die das Christkind und seine Günstlinge gegen Sie gestartet haben… Aber gerade deshalb möchte ich Ihnen eine Möglichkeit bieten, Ihren Standpunkt darzulegen, die Dinge ins rechte Lot zu rücken! Die Zeitschrift Lunatika stellt sich Ihnen zur Verfügung! Sie möchte Ihre Plattform sein!«
Jetzt sagt der Alte nichts mehr. Er trinkt, gießt den vierten Whisky ein… Dann herrscht lange Schweigen. Aber nun bin ich zuversichtlich, ich weiß, daß er reden wird. Sein Auge ist klar, sein Gesicht hat sich belebt. Die Nase über sein Glas gebeugt, als ob er ihm etwas anvertraute, murmelt er mit dumpfer Stimme: »Das Christkind! Ich bitte Sie! Ein alter Esel von dreiunddreißig Jahren und mehreren Jahrhunderten! Sich in diesem Alter noch Christkind nennen zu lassen! So etwas Kindliches!« Er leert sein Glas auf einen Zug. Als er nachgießen will, wage ich schüchtern: »Sie trinken zuviel, Herr Weihnachtsmann.« »Na und? Was macht Ihnen das aus? Ich sterbe nicht daran, da können Sie beruhigt sein!« Aus Trotz wahrscheinlich trinkt er noch einen Schluck. Dann wischt er sich den Schnurrbart ab und kehrt zu seinem Thema zurück: »Sie natürlich, Sie haben keine Ahnung… Sie sind nur ein Erdling und sehen das vom Standpunkt Ihres kleinen Sonnensystems… Bei uns hier, bei uns ist Krieg! Dem Jesuskind die schönen Büros, die reinlichen Lagerräume, die tadellose Kartei, die fleißigen Sekretärinnen, die beste Ware! Mich verbannt man hierher in diese jämmerliche Kammer, die nie gefegt wird, mit einer Tippse, die keine Rechtschreibung kann, mitten in das allgemeine Durcheinander… Und ich habe nur den schlimmsten Ramsch zu verschenken! Allen alten Plunder, den die Händler nicht mehr wollen, bekomme ich: Zinnsoldaten, die auseinanderfallen, Puppen, aus denen die Holzwolle quillt, Teddybären, die schon vom Anschauen fadenscheinig werden, Schundhefte, die Werke der Klassiker in Kurzfassungen, den ganzen Ausschuß… Wenn ich wenigstens in Ruhe arbeiten könnte! Aber nein, man schießt aus dem Hinterhalt, man belauert mich, man spioniert mir
nach! Die Hälfte meiner Engel und sogar meine Sekretärin sind Spitzel des Christkinds. Und wissen Sie warum?« »Weil es Gott ist, wahrscheinlich?« Der Weihnachtsmann verschluckt sich. Er hustet, er ringt nach Luft: »Weil es Gott ist? Und ich? Bin ich vielleicht kein Gott? Natürlich bin ich einer, und schon viel länger als er! Vor ihm war ich der Gott der Wintersonnenwende, mein Fest war der 25. Dezember, das Fest der Hoffnung…« Sein Zorn ist verraucht. Er hebt den Kopf, seine Augen sind leicht gerötet, die Stimme wird sehr sanft. Träumerisch fährt er in singendem Tonfall fort, als ob er die Übersetzung eines Hymnus rezitierte: »Sie wußten das vielleicht nicht, aber ich bin der Gott der Hoffnung. Ich bin das Samenkorn unter dem Schnee, der Winterschlaf, das unterirdische, geduldige Wirken… Ich bin der Herr des fruchtbaren Schweigens, der stillen Hartnäckigkeit, der unbeirrbaren Berufung, der hinausgeschobenen Pläne, der langfristigen Projekte… Ich bin der Gott der unverbrüchlichen Treue, der unerschütterlichen Beharrlichkeit und des unauslöschlichen Grolls. Ich bin auch der Gott der verhinderten Talente, der verkannten Genies, der tapfer ertragenen und mutig überwundenen Prüfungen… Sie kennen hoffentlich die Märchen von Aschenputtel und vom häßlichen Entlein? Es sind sehr alte Mythen, Legenden aus meinem Reich… Ich bin der Gott all derer, die schweigen, aber nicht aufgeben.« Ein schöner Ausspruch, muß ich sagen! Ich notiere ihn sofort. »Aber Herr Weihnachtsmann, alles, was Sie mir da erzählen, ist nicht sehr kindlich… Ihre Gegner könnten behaupten, die Geschichte vom Christkind wende sich viel direkter an die Kleinen…« Was habe ich da nur gesagt! Schlagartige Verwandlung. Der Weihnachtsmann fährt hoch und donnert schäumend: »Ha! Das glauben Sie wirklich! Herzig, die Geschichte vom
Jesulein! Rührend, idyllisch! Dieser verzärtelte Rotzjunge, der unter den Röcken seiner Mutter nach Ägypten flieht, während alle Neugeborenen seines Landes für ihn hingemordet werden! Dafür muß er die Kinder wohl lieben! Das ist er ihnen schuldig! Wenn er sich seither nur gebessert hätte: Aber nein, er ist immer noch so grauenhaft egoistisch! Wissen Sie zum Beispiel, wo im letzten Krieg bei den Luftangriffen die Bomben hinfielen?« »Ungefähr überallhin, nehme ich an.« »Eben nicht! Nicht überallhin! Niemals auf die Kirchen. Wissen Sie auch, warum?« »Hm… nein.« »Weil die Kirchen die Häuser des Jesuskindes sind, verstehen Sie! Und als gutem Hausbesitzer liegt ihm sehr an seinen Gebäuden. Deshalb schickte er jedesmal, wenn eine Stadt bombardiert wurde, seine Engel zu den Kirchen, um sie abzuschirmen und die Bomben auf die Wohnviertel abzulenken, auf Männer, Frauen und wieder mal kleine Kinder!« Der Weihnachtsmann ist außer sich. Er gießt sich mehrere Gläser nacheinander ein, ich komme mit dem Zählen nicht mehr nach. Allmählich wird mir Angst: »Herr Weihnachtsmann, Sie sollten wirklich nicht so viel trinken…« »Was befürchten Sie denn? Daß ich mir eine Leberzirrhose hole? Ich bin doch unsterblich!« »Wie Sie wollen. Aber sagen Sie, Herr Weihnachtsmann…« »Was denn noch?« »Was Sie erzählen, ist natürlich hochinteressant… Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Ihnen noch eine Frage stelle…« »Ja?« »Und die Moorleichen?« »Welche Moorleichen?«
»Tun Sie nicht so, als ob Sie von nichts wüßten. Bekanntlich wurden in den dänischen Mooren vollkommen erhaltene Menschenleichen gefunden, Überreste von Individuen, die zumindest teilweise einem Ritualmord zum Opfer gefallen waren, zu Ehren des Gottes der Wintersonnenwende… das heißt zu Ihren Ehren, Herr Weihnachtsmann!« Ich bin auf einen neuerlichen Wutanfall gefaßt, aber nein. In großen Mengen beruhigt ihn der Alkohol offensichtlich. Mit verschwommenem Blick antwortet er bedächtig: »Ja, ja, ich erinnere mich… Na und? Ich bin ein Gott, nicht wahr… Und wir Götter haben allesamt mit der Menschenfresserei begonnen… Der alte Jude wie die anderen auch: Denken Sie nur an Isaak, die Tochter des Jephtha… an das Jesuskind selbst…« »Wieso das Jesuskind?« Dem Weihnachtsmann fällt der Kopf auf die Brust. Seine Stimme wird schlafwandlerisch: »Jaa, das Jesuskind… Die Erlösung war ein Ritualmord, was sonst… Ich jedenfalls habe nie das Blut meines eigenen Sohnes gefordert, ich habe ihn auch nicht einen ganzen Tag lang foltern lassen, nur um mich daran zu ergötzen…« (Wir erinnern daran, daß die Redaktion jede Verantwortung für die Aussagen des Weihnachtsmanns ablehnt!) Etwas beunruhigt stehe ich auf: »Nun, Herr Weihnachtsmann, ich danke Ihnen. Wir werden alle Ihre Erklärungen veröffentlichen, und ich bin überzeugt, daß sie unsere Leser sehr interessieren werden. Haben Sie noch etwas hinzuzufügen?« Der Weihnachtsmann öffnet den Mund. Mühsam bringt er mit heiserer Stimme hervor: »Schreiben Sie: Wenn das Christkind weiter diesen idiotischen Krieg gegen mich führt, ist es selber schuld… Die Kinder werden vielleicht nicht mehr
an mich glauben… aber an das Christkind genausowenig. Und das geschieht ihm dann recht!« Nach dieser nüchternen Erklärung kippt er vornüber in den Papierkram und schläft augenblicklich ein. Leben Sie wohl, Herr Weihnachtsmann, und trinken Sie nicht so viel! Eine Zirrhose, an der man stirbt, ist schon nicht sehr angenehm, aber was muß erst eine Zirrhose sein, an der man nicht einmal sterben kann!
Michail Soschtschenko Eine Weihnachtsgeschichte
Heute schreibt keiner mehr Weihnachtsgeschichten. Wohl deshalb, weil in unserem Leben kaum etwas von Weihnachten übriggeblieben ist. Sämtliches weihnachtliches Teufelstreiben, alle Totenrituale und Wundertaten sind, wie man so sagt, in den Bereich der kulturellen Überlieferung entflohen. Die Toten sind übrigens geblieben. Und über einen Toten möchte ich nun, liebe Bürger, erzählen. Dieses wahrhaftige Märchen hat sich vor Weihnachten ereignet. Im September. Und erzählt hat es mir ein Arzt für innere und Kinderkrankheiten. Jener Arzt war ziemlich alt und schon ganz ergraut. Ob es diese Geschichte war, die ihn ergrauen ließ, oder ob er einfach von selbst grau geworden ist, ist unbekannt. Jedenfalls hatte er graue Haare und eine heisere und gebrochene Stimme. Ob er sich wegen dieser Geschichte seine Stimme mit dem Suff ruiniert hat oder einfach so, ist ebenfalls unbekannt. Aber das ist hier nicht die Frage. Der Arzt saß einmal in seinem Büro und dachte: »Heutzutage kommen nur noch Patienten, die nichts einbringen. Jeder will auf Kosten der staatlichen Krankenversicherung behandelt werden. Niemand mehr geht zum privaten Arzt. Es fehlt nicht viel, und ich kann den Laden dichtmachen.« Plötzlich klingelt es.
Ein Bürger mittleren Alters kommt herein und klagt über Unwohlsein. Sein Herz, so sagt er, höre immer wieder auf zu schlagen, und überhaupt habe er das Gefühl, als ob er gleich nach diesem Besuch beim Arzt sterben würde. Der Arzt untersuchte den Mann – er konnte nichts dergleichen feststellen. Gesund wie ein Fisch im Wasser, rosarote Backen, Schnurrbart nach oben gezwirbelt. Und auch sonst alles an seinem Platz. Der Arzt verschrieb dem Kranken Salmiak-Ananas-Tropfen, nahm siebzig Kopeken für die Konsultation und schüttelte den Kopf. Darauf verabschiedete er den Patienten. Am nächsten Tag kommt eine alte Frau mit einem schwarzen Kopftuch zum Arzt. Sie schneuzt sich dauernd und heult. Sie sagt: »Vor kurzem«, sagt sie, »kam mein geliebter Vetter Wassili Ledenzow zu Ihnen. Und in der heutigen Nacht, wissen Sie, ist er gestorben. Können Sie ihm nicht einen Totenschein ausstellen?« Der Arzt sagt: »Das wundert mich aber«, sagt er, »daß er gestorben ist. Es ist äußerst selten, daß man an Ananastropfen stirbt. Auf jeden Fall kann ich«, sagt er, »einen Totenschein nicht ausstellen, ohne den Toten zu sehen.« Die Alte, ein wahres Kind Gottes, sagt: »Hervorragend. Kommen Sie also mit. Es ist nicht weit von hier.« Der Arzt nahm seine Instrumente mit, zog – man bemerke dies – seine Galoschen an, und ging mit der alten Frau hinaus. Und jetzt begeben sie sich ins vierte Stockwerk. Sie betreten die Wohnung. In der Tat: Es riecht nach Weihrauch. Der Tote liegt auf dem Tisch. Um ihn herum brennen Kerzen. Und irgendwo in der Wohnung grunzt die alte Frau.
Der Arzt wurde plötzlich ganz traurig. In seiner Seele breitete sich ein unangenehmes Gefühl aus. »Ach, ich Idiot«, dachte er sich, »ich alter Trottel – ich habe einen tödlichen Fehler begangen. So ein Unglück wegen siebzig lausigen Kopeken.« Er setzt sich hin und stellt geschwind den Totenschein aus. Nachdem er ihn fertiggeschrieben hat, drückt er ihn der Alten in die Hand und bricht so schnell wie möglich auf. Er ging hinaus. Als er beim Tor ist, fällt ihm auf einmal ein: »Heiliger Strohsack, ich habe meine Galoschen vergessen.« »Ach«, denkt er sich, »so viel Ärger wegen mieser siebzig Kopeken. Jetzt muß ich da wieder hinaufgehen.« Er geht wieder die Treppe hoch, betritt erneut die Wohnung. Die Tür ist natürlich geöffnet. Und plötzlich sieht er den verstorbenen Wassili Ledenzow auf dem Tisch sitzen und seine Stiefel zuschnüren. Er schnürt die Stiefel zu und streitet mit der Alten herum. Und die alte Frau, dieses wahre Kind Gottes, geht um den Tisch herum und löscht mit den Fingern die Kerzen. Sie spuckt auf die Finger und löscht sie. Der Arzt staunte nicht schlecht, wollte vor lauter Schreck aufschreien, hielt sich aber in der letzten Sekunde zurück und lief fort – ohne Galoschen, wie er gekommen war. Zu Hause angekommen, wirft er sich aufs Sofa – seine Zähne klappern vor lauter Angst. Dann trinkt er einige SalmiakAnanas-Tropfen, beruhigt sich und ruft die Miliz an. Am nächsten Tag klärte die Miliz die ganze Chose auf. Es stellte sich heraus: Der Agent für Zeitungsannoncen Wassili Mitrofanowitsch Ledenzow hatte dreitausend Rubel veruntreut. Mit diesem Geld wollte er einfach abhauen und ein neues, wunderbares Leben beginnen. Das ist ihm aber nicht gelungen.
Die Galoschen des Arztes wurden drei Monate später nach einer Reihe von langen Prozeduren, Anträgen, Bitten und Amtsgängen zurückgegeben. Insgesamt ist der Arzt ziemlich glimpflich davongekommen, und außer dem Schreck und der Nervenbelastung wegen des langen Ausbleibens der Galoschen hat er keine anderen Unannehmlichkeiten erlitten. Nachdem er mir die Geschichte erzählt hatte, seufzte der Arzt und fügte hinzu: »Der Kerl hatte dreitausend Rubel in der Hand und wollte für siebzig Kopeken aus der Welt verschwinden, aber das hat die Medizin nicht zugelassen. Da sehen Sie, wo die Geldgier hinführen kann.«
Graham Greene Ein Besuch bei Morin
1 Le Diable au Ciel – da stand das Buch auf einem Regal einer Buchhandlung in Kolmar und ließ in mir eine Erinnerung an zwanzig Jahre zurückliegende Ereignisse wieder lebendig werden. In den letzten zehn Jahren hat man Pierre Morins Romane nicht oft ausgestellt gesehen; und da standen plötzlich zwei Stück seines einst berühmten Buches. Während ich den Blick an den Reihen broschierter Bände entlanggleiten ließ, entdeckte ich noch andere, gleichsam, als bestünde im Elsaß ein geheimes Vorratslager, ähnlich jenen verborgenen Kellern, in denen man einst den Wein vor den Feinden versteckte, um ihn in die Tage des Friedens hinüberzuretten. Als Junge hatte ich Pierre Morin bewundert, den Dichter später aber fast vergessen. Selbst damals war er schon ein älterer Autor gewesen, von dem sich die Leserschaft abzuwenden begann. Doch der Fremdsprachenunterricht an einer großen englischen Internatsschule hinkt stets weit hinter der Pariser Mode nach. In Collingworth hatten wir zufällig einen katholischen Lehrer aus jener Generation, die von Morin entweder entzückt oder beleidigt worden war. Er hatte die strenggläubigen Katholiken seines Heimatlandes verärgert und die liberalen Katholiken im Ausland erfreut; er hatte auch den Beifall der Protestanten gefunden, die mit derselben Inbrunst an Gott glaubten, wie er sie zu zeigen schien, und er fand begeisterte Leser auch unter den Nichtchristen, die, sobald sie
einmal in ihrer Vorstellungswelt seine Prämissen angenommen hatten, in seinem dichterischen Werk jene Freiheit der Spekulation entdecken mochten, die andere Katholiken zur Vorsicht mahnte. Wie frisch und erregend waren seine Bücher doch der Generation meiner Lehrer erschienen, und für mich, der in einer unteren Klasse Les Misérables und die Gedichte von Lamartine hatte lesen müssen, war er ein revolutionärer Dichter. Jedoch ist es das Schicksal aller Revolutionäre, daß sich die Welt mit ihnen abfindet. Das erregende Moment ist aus den Seiten von Morins Büchern verschwunden. Nur die Rechtgläubigen lesen ihn heute noch, in einer Zeit, da die ganze Welt bereit zu sein scheint, an einen Gott zu glauben, seltsamerweise mit Ausnahme von – doch ich will die Pointe meiner kleinen Geschichte nicht vorwegnehmen, die immerhin eine Fußnote zur Literaturgeschichte der Zeit Morins bilden könnte. Wenn ich sie veröffentliche, wird sie keinen Schaden stiften. Morin wird als Mensch tot sein, wie er als Dichter tot ist, und er hat meines Wissens weder Nachkommen noch Schüler hinterlassen. Auch heute erinnere ich mich noch mit Vergnügen an unseren Französischunterricht unter der Leitung eines Mr. Strangeways, der aus Chile stammte; seine Gegner führten seine dunkle Gesichtsfarbe auf spanisches Blut zurück (es war die Zeit des spanischen Bürgerkrieges, als alles Spanische oder Römisch-Katholische mit faschistisch gleichgesetzt wurde), und seine Freunde, zu denen auch ich zählte, erklärten, er habe einen Schuß indianischen Blutes. Die banale Wirklichkeit sah hingegen so aus, daß sein Vater ein Ingenieur aus Wolverhampton war und seine Mutter aus Louisiana stammte, und sein letzter Ahne lateinischer Abkunft drei Generationen zurücklag. In den Oberklassen befaßten wir uns nicht mehr mit Syntax, in der Mr. Strangeways auf jeden Fall schwach war. Er
las uns vielmehr laut vor, und wir lasen ihm vor; doch nach fünf Minuten pflegten wir uns auf Literaturkritik zu verlegen, wobei wir mit jugendlichem Überschwang – gleich vielen Schulmeistern blieb auch Mr. Strangeways ewig jung – die großen, anerkannten Namen zerpflückten und mit übertriebener Wertschätzung jene emporhoben, die noch nicht »arriviert« waren. Natürlich war dies bei Morin schon viele Jahre vorher der Fall gewesen, doch davon wußten wir in unserem Gefängnis aus Backstein, achthundert Kilometer von der Seine entfernt, natürlich nichts. Morin war noch nicht in die Lehrbücher eingedrungen, er war vom Schulbuchverlag Hachette et Cie. noch nicht mumifiziert worden. Wo uns der Sinn seiner Worte unverständlich blieb, gab es keine Fußnote des Herausgebers, die jede philosophische Überlegung abgetötet hätte. »Kann er das wirklich glauben?« rief ich einmal in Mr. Strangeways’ Klasse aus, als eine Romangestalt in Le Diable au Ciel eine dunkle und schauerliche Äußerung über die Buße oder die Erlösung machte, und ich erinnere mich auch noch an die barsche Antwort von Mr. Strangeways; er schwenkte die Ärmel seines kurzen schwarzen Talars und erklärte: »Das glaube ich doch auch, Dunlop!« Dabei ließ er es nicht bewenden, ließ sich auch nicht auf eine theologische Debatte ein, die seine Stellung an meiner protestantischen Schule gefährdet haben könnte. Er verwies vielmehr darauf, daß das, was der Autor selbst glaubte, uns nicht berühre. Der Verfasser habe für seinen Standpunkt die Gestalt eines strenggläubigen Katholiken gewählt – alle seine Gedanken müßten daher, wie sie es im wirklichen Leben auch seien, von seiner Rechtgläubigkeit beeinflußt werden. Morins Technik verbiete es ihm, in seiner Erzählung selbst eine Rolle zu spielen; sogar Ironie zu zeigen, wäre ein Betrug, obwohl wir etwas von Morins eigenen Anschauungen aus der Tatsache entnehmen
könnten, daß die Rechtgläubigkeit von Durobier bis zu den letzten Grenzen des Möglichen gedehnt worden sei, so daß wir am Ende des Romans das Bild eines Menschen vor uns hätten, der auf einer schmalen Landzunge gestrandet ist, wo es kein Vorwärtskommen mehr gibt, während der Rückzug zur Küste der Aufopferung seiner Grundsätze gleichkommen würde. »Ist das wahr oder ist es nicht wahr?« Sein ganzes Glaubensbekenntnis hänge von der Antwort auf diese Frage ab. »Sie wollen also behaupten«, fragte ich Mr. Strangeways, »daß Morin vielleicht ungläubig ist?« »Ich will nichts dergleichen behaupten. Niemand hat Morins Katholizismus ernstlich in Frage gestellt, nur seine Klugheit hat man angezweifelt. Übrigens ist das keine echte Kritik. Ein Roman fügt sich aus Worten und Gestalten zusammen. Sind die Worte gut gewählt, und sind die Gestalten lebendig? Alles übrige ist literarischer Klatsch. Sie sitzen doch nicht in dieser Klasse, um Verfasser von Klatschspalten für die Zeitungen zu werden.« Und doch hätte ich es in jenen Tagen gerne gewußt. Bisweilen lieh mir Mr. Strangeways, der mein Interesse an Morin erkannte, katholische Literaturzeitschriften mit Notizen über die Werke des Dichters; diese Rezensionen verstießen oft gegen Strangeways’ Grundsatz, daß man die Ansichten des Verfassers außer Betracht lassen müsse. Ich entdeckte, daß Morin manchesmal des Jansenismus bezichtigt wurde – was immer das bedeuten mochte. Andere Kritiker wiederum nannten ihn einen Augustinianer – eine Bezeichnung, die mir genausowenig sagte; und in den besser gedruckten und umfangreicheren Revuen meinte ich, einen verärgerten Unterton zu entdecken. Morin glaubte all die richtigen Dinge, man fand an ihm nichts Besonderes auszusetzen, und dennoch… Es war so, als ob einige seiner Romanfiguren ein
Dogma so sehr mit ganzem Herzen akzeptierten, daß sie die Folgerungen daraus bis an die Grenze der Absurdität trieben, während andere ein Dogma untersuchten, als wären sie Verfassungsjuristen, entschlossen, es auf eine Art von Minimalbereich seiner gesetzlichen Gültigkeit einzuengen. Durobier hätte, davon bin ich überzeugt, für eine buchstäblich zu nehmende Auferstehung sein Leben aufs Spiel gesetzt. Zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte, irgendeinmal gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts sei der Leib der Heiligen Jungfrau himmelwärts entschwebt und habe ein leeres Grabmal zurückgelassen. Andererseits gab es in einem seiner weniger bekannten Romane, vielleicht in Le Bien Pensant, eine Gestalt namens Sagrin, die glaubte, der heilige Leichnam sei gleich anderen Toten im Grabe verwest. Das Seltsame an der Sache war, daß beide Ansichten auf katholische Kritiker irgendwie aufreizend wirkten; und doch erwies es sich, daß beide Anschauungen in gleicher Weise der dogmatischen Verkündigung entsprachen, als diese herauskam. Man konnte förmlich behaupten, daß beide rechtgläubig waren; dennoch schienen orthodoxe Kritiker an einer Stelle, die sie nicht näher lokalisieren konnten, Ketzerei zu wittern, so wie man eine tote Ratte irgendwo unter dem Fußboden riecht. Das waren natürlich uralte kritische Ansichten, hervorgeholt aus Mr. Strangeways’ Wandschrank voller französischer Zeitschriften, die von seinem längst vergessenen Aufenthalt in Paris gegen Ende der zwanziger Jahre stammten, als er Vorlesungen an der Sorbonne besucht und im »Dome« Bier getrunken hatte. Das Wort »paradox« wurde in diesen Rezensionen mit einem Beigeschmack von Mißbilligung gebraucht. Vielleicht erwies sich das Urteil der Strenggläubigen letzten Endes doch als gerechtfertigt, denn ich sollte entdecken, wie weit Morin in seinem eigenen Leben den Gedanken des Paradoxen trieb.
2 Ich gehöre nicht zu jenen Leuten, die ihre einstige Schule wieder aufsuchen; und das ist gut so, denn was für eine Enttäuschung hätte ich Mr. Strangeways bereitet, der jetzt vor seiner Pensionierung stehen muß. Ich glaube, er hatte sich vorgestellt, ich würde in der Zukunft ein angesehener Schriftsteller werden, der für die Wochenzeitungen Beiträge über die französische Literatur verfaßt – vielleicht sogar der Autor einer gelehrten Biographie Corneilles. In Wirklichkeit aber erhielt ich nach dem Kriegsdienst, bei dem ich mich in keiner Weise hervortat, durch die Hilfe einflußreicher Freunde einen Posten bei einer großen Weinimportfirma. Meine französische Syntax, von Mr. Strangeways so sträflich vernachlässigt, hatte sich im Krieg gebessert und erwies sich als vorteilhaft für meine Firma. Außerdem glaube ich eine gewisse schriftstellerische Ader zu besitzen, die es mir ermöglichte, den recht altertümlichen Stil unserer Kataloge etwas aufzufrischen. Allzulange waren unsere Direktoren mit dem Jargon des Verbandes der Weinhändler zufrieden gewesen: »Ein leichter, aber sehr gefälliger Wein für kleinere gesellschaftliche Anlässe im Freundeskreis.« Ich führte einen realistischeren Ton ein und setzte Sachkenntnis an die Stelle von Scheinwissen: »Dieser Wein stammt aus einem kleinen Weingarten am Westabhang der Rebenhügel von Mont Soleil. Der Boden dieser Gegend enthält mineralische Elemente aus der Jurazeit, da sich der Weingarten am Rande der großen Jura-Bruchlinie befindet, die sich vom Ural quer durch Europa hinzieht. Und dies gestattet die Züchtung einer kleinen, kräftigen, dunklen Traube mit hohem Zuckergehalt, wodurch sie gegenüber Witterungseinflüssen weniger empfindlich ist als berühmtere Weinsorten.« Natürlich war es immer noch
derselbe »leichte« Wein, aber meine Beschreibung lieferte dem Gastgeber Stoff zur Befriedigung seiner Eitelkeit. Mein Geschäft hatte mich nach Kolmar geführt. Wir hatten uns gezwungen gesehen, unseren dortigen Vertreter zu wechseln; und da ich Junggeselle bin und die einsamen Weihnachtsfeiertage in London traurig und bedrückend finde, hatte ich mich entschlossen, meinen Besuch mit dem Weihnachtsurlaub zu verbinden. Im Ausland fühlt man sich nicht einsam. Ich stellte mir vor, ich würde das Fest gemütlich trinkend in einem weihnachtlich geschmückten Bierhaus verbringen, selbst unsichtbar hinter dicken Wolken von Zigarrenrauch. Ein deutsches Weihnachtsfest ist Weihnachten par excellence: Gesang, Gefühlsseligkeit, Schlemmerei. Jetzt sagte ich zu der Verkäuferin: »Sie scheinen ja einen beträchtlichen Vorrat an Morins Büchern zu haben.« »Er ist sehr beliebt«, antwortete sie. »Und ich hatte den Eindruck, daß man ihn in Paris nicht mehr oft liest.« »Wir sind hier Katholiken«, entgegnete sie darauf in einem tadelnden Ton. »Außerdem lebt er in der Nähe von Kolmar, und wir sind sehr stolz, daß er sich gerade in unserer Nachbarschaft niedergelassen hat.« »Wie lange wohnt er schon hier?« »Er kam unmittelbar nach dem Krieg her. Wir betrachten ihn fast als einen der Unseren. Wir haben alle seine Bücher auch in deutscher Sprache – Sie können sie dort drüben sehen. Manche von uns meinen, daß seine Bücher auf deutsch noch schöner sind als in französischer Sprache. Deutsch«, fuhr sie fort und betrachtete mich mit Verachtung, als ich eine französische Ausgabe von Le Diable au Ciel in die Hand nahm, »hat einen besseren Wortschatz für alles Tiefgründige.« Ich sagte ihr, daß ich Morins Romane seit meiner Schulzeit bewundert hatte. Daraufhin wurde sie freundlicher, und ich
verließ die Buchhandlung im Besitz von Morins Adresse – ein Dorf etwa vierundzwanzig Kilometer von Kolmar entfernt. Dennoch war ich nicht sicher, ob ich ihn aufsuchen sollte. Was konnte ich denn vorbringen, um die Gemeinheit meiner Neugierde zu entschuldigen? Das Dichten ist die privateste aller Künste, und dennoch scheuen sich nur wenige von uns, in das Heim eines Dichters einzudringen. Wir alle haben die Geschichte von dem Besucher aus Porlock gehört, der Samuel Taylor Coleridge störte und damit seine dichterische Vision Kubla Khan für immer ein Fragment bleiben ließ; aber Hunderte von Besuchern klingeln täglich an der Tür, greifen zum Telefonhörer und drängen sich in den geheimen Raum, wo ein Dichter arbeitet und lebt. Ich bezweifle, daß ich den Mut gefunden hätte, an Morins Tür zu klingeln, wenn ich ihn nicht zwei Tage später in einem Dorf außerhalb Kolmars bei der Christmette gesehen hätte. Es war nicht das Dorf, wo er nach Angabe der Buchhändlerin wohnte, und ich fragte mich, weshalb er allein eine so weite Wegstrecke zurückgelegt hatte. Die Christmette ist ein Gottesdienst, den selbst ein Ungläubiger wie ich aus unerklärlichen Gründen rührend findet. Vielleicht ist es eine Kindheitserinnerung, die den Fußmarsch durch die Finsternis, die erleuchteten Fenster und die frostklare Nacht, das langsame Eintreffen stummer, fremder Menschen, die sich aus den vier Weltgegenden einfinden, ergreifend und bedeutungsvoll macht. Als ich die Kirche betrat, sah ich links vom Eingang eine Krippe – das Christkind aus Gips im Gipsschoß seiner Mutter; und die Kühe, Schafe und der Hirte warfen im Kerzenschein lange Schatten. Inmitten der knienden Frauen befand sich ein alter Mann, dessen Gesicht mir bekannt vorkam: ein runder Bauernkopf, dessen Haut so verrunzelt war wie die eines ausgetrockneten Apfels, und eine Glatze. Der Alte kniete nieder, senkte den Kopf und erhob sich wieder. Ich
vermute, daß er gerade für ein formelles Gebet Zeit gehabt hatte, aber es muß ein kurzes gewesen sein. Sein Kinn war mit weißen Stoppeln bedeckt wie das Feld draußen vor dem Dorf, und in seiner Erscheinung war so wenig, was auf ein Mitglied der Französischen Akademie hindeutete, daß ich ihn für den Bauern gehalten hätte, der er zu sein schien, in seinem Anzug aus solidem, glänzendem schwarzen Stoff und seinem schwarzen Binder, der so dünn war wie ein Schuhband, wenn nicht die Augen meine Aufmerksamkeit erregt hätten. Sie schienen zuviel zu wissen und weiter geblickt zu haben als bloß auf die Jahreszeit und den Stand der Felder. Von einem sehr klaren, hellen Blau, wechselten sie ständig die Blickweite; bald richteten sie sich auf nahe Dinge, dann wieder auf ferne, beobachtend, traurig und neugierig, wie die Augen eines Menschen, dessen Pflicht es ist, über eine gewaltige Katastrophe, die er miterlebt, zu berichten, der aber die grauenhaften Bilder immer nur für kurze Zeit ertragen kann. Natürlich hatte ich während Morins kurzen Gebetes vor der Weihnachtskrippe nicht Gelegenheit gehabt, ihn so genau zu betrachten. Als aber die Kirchenbesucher mit schlurfenden Schritten zur Kommunion ans Altargitter gingen, da blieben Morin und ich allein inmitten der leeren Kirchenstühle zurück. Und da erkannte ich ihn – vielleicht durch die Erinnerung an alte Fotografien in Mr. Strangeways’ literarischen Zeitschriften (genau weiß ich das nicht), aber ich war von seiner Identität überzeugt und fragte mich verwundert, was diesen berühmten alten Katholiken davon abhielt, gerade während dieser bedeutsamsten Messe des Jahres mit den anderen Gläubigen das Sakrament zu empfangen. Hatte er vielleicht unabsichtlich das Fastengebot gebrochen? Oder litt er unter Skrupeln und meinte, er habe sich irgendeine Tat der Lieblosigkeit oder der Habsucht zuschulden kommen lassen? Für einen Mann, der schon an die achtzig Jahre alt sein mußte, konnte es, so
überlegte ich, nicht viele ernstliche Versuchungen geben. Und doch hätte ich ihn nicht für übermäßig skrupelhaft gehalten. Durch seine eigenen Romane hatte ich von der Existenz dieser Krankheit religiöser Menschen erfahren und hätte mir nie gedacht, daß der Schöpfer der Gestalt Durobiers dasselbe Leiden hatte wie seine Romanfigur. Doch kommt es manchmal vor, daß ein Dichter ganz objektiv über seine eigenen Mängel schreibt. Wir saßen allein ganz hinten in der Kirche. Die Luft war so kalt und still wie ein gefrorener Baum, und die Kerzenflammen auf dem Altar standen ganz gerade, und Gott schwebte, so glaubten die Leute, am Altargitter dahin. Dies war die Geburt des Christentums. Draußen in der Dunkelheit war das alte, wilde Judäa, aber hier drinnen war die Welt erst wenige Minuten alt. Es war wiederum das Jahr eins, und mich überkam die vertraute sentimentale Sehnsucht, zu glauben, wie jene glaubten, die jetzt einzeln vom Altargitter zurückkehrten, die Lippen fest über der sich auflösenden Hostie geschlossen und die Hände gefaltet. Wenn ich zu einem von ihnen gesagt hätte: »Erklären Sie mir, warum Sie glauben«, wie hätte seine Antwort gelautet? Ich dachte, ich wüßte es vielleicht, denn einmal während des Krieges – beim Anblick der Gefallenen von Angst und Abscheu getrieben – hatte ich genau dasselbe zu einem katholischen Militärgeistlichen gesagt. Er gehörte nicht meiner Einheit an und war ein vielbeschäftigter Mann; es ist nicht die Aufgabe eines Feldgeistlichen an der Front, zu belehren oder zu bekehren, und man konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen, daß er einem Außenseiter wie mir nichts von seinem Glauben mitteilen konnte. Er lieh mir zwei Bücher – das eine war ein billiger Katechismus, ein Katalog absurder Fragen und Antworten, selbstgefällig und voll trockener Erläuterungen: das Mysterium glich einem Schmetterling, der mit Blausäure getötet und mit Nadeln und
Papierstreifen aufgespannt und versteift worden ist; das andere war eine recht nüchterne Abhandlung über die Datierung der Evangelien. Beide Bücher verlor ich binnen weniger Tage, zusammen mit drei Flaschen Whisky, meinem Jeep und dem Unteroffizier, dessen Namen ich mir noch nicht gemerkt hatte, als er getötet wurde, während ich an dem grünen Kanal in der Nähe meine Notdurft verrichtete. Vermutlich hätte ich die Bücher auf keinen Fall viel länger behalten. Sie stellten nicht die Hilfe dar, die ich benötigte, und auch der Militärgeistliche war nicht der Mann, sie mir zu geben. Ich entsinne mich noch meiner Frage, ob er Morins Romane gelesen habe. »Ich kann meine Zeit nicht auf ihn verschwenden«, wehrte er schroff ab. »Es waren die ersten Bücher, die in mir ein Interesse an Ihrem Glauben weckten«, erwiderte ich. »Da hätten Sie lieber Chesterton lesen sollen«, sagte er. So empfand ich es als seltsam, daß ich hier im Hintergrund der Kirche mit Morin selbst zusammentraf. Er ging als erster hinaus, und ich folgte ihm. Ich war froh, gehen zu können, denn die gefühlsselige Anziehungskraft einer Christmette ging für mich in der Langeweile der nachfolgenden Kommunion verloren. »Monsieur Morin«, begann ich in dem gedämpften Ton, den wir in einer Kirche oder einem Krankenhaus anzuschlagen pflegen. Er blickte rasch und, wie mir schien, abwehrend auf. Ich fuhr fort: »Entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche, aber Ihre Bücher haben mir großes Vergnügen bereitet.« Hatte der Mann aus Porlock dieselben banalen Wendungen gebraucht? »Sie sind Engländer?« fragte er mich. »Ja.« Dann sprach er auf englisch weiter: »Schreiben Sie selbst auch? Verzeihen Sie meine Frage, aber ich kenne Ihren Namen nicht.«
»Dunlop. Aber ich schreibe nicht. Ich kaufe und verkaufe Wein.« »Ein Beruf, der mehr Achtung verdient«, bemerkte Morin. »Wenn Sie mit mir fahren wollen – ich wohne zehn Kilometer von hier entfernt –, dann, glaube ich, könnte ich Ihnen einen Wein zeigen, wie Sie ihn noch nie gefunden haben.« »Ist es nicht schon ziemlich spät, Monsieur Morin? Und ich habe einen Chauffeur…« »Schicken Sie ihn heim. Nach der Christmette kann ich nur schwer Schlaf finden. Sie würden mir einen Gefallen erweisen.« Als ich zögerte, sagte er: »Der morgige Tag ist wie jeder andere des Jahres, und ich mag Besucher nicht gern.« Ich versuchte die Sache ins Scherzhafte zu ziehen und sagte: »Sie meinen, es ist meine einzige Chance?«, worauf er ganz ernsthaft mit »Jawohl« antwortete. Nun öffnete sich das Kirchentor und die Gläubigen traten langsam in den frostig glitzernden Schnee heraus, nachdem sie die Finger leicht ins Weihwasserbecken getaucht hatten. Während das Mysterium entschwand, plauderten sie und begrüßten ihre Nachbarn. Das Wehklagen eines Kindes gab gleich einer Uhr die späte Stunde an. Morin stapfte voran und ich folgte ihm.
3 Morin lenkte seinen Wagen mit unbeholfener Heftigkeit. Er schaltete jedesmal mit einem gewaltsamen Ruck und streifte an den Hecken des rechten Straßenrandes entlang, als wäre das Auto eine ganz neue Erfindung und er ein kühner Pionier seiner Verwendung. »Sie haben also einige meiner Bücher gelesen?« erkundigte er sich. »Eine ganze Menge, als ich noch in der Schule war…« »Sie wollen also sagen, sie eignen sich nur für Kinder?«
»Das will ich durchaus nicht sagen.« »Was kann ein Kind an ihnen finden?« »Ich war sechzehn, als ich sie zu lesen begann. Da ist man doch kein Kind mehr.« »Ach ja, jetzt werden sie nur noch von den alten Leuten gelesen und – von den Frommen. Sind Sie fromm, Mr. Dunlop?« »Ich bin kein Katholik.« »Es freut mich, das zu hören. Dann werde ich Sie nicht kränken.« »Ich dachte einmal daran, einer zu werden.« »Und dann überlegten Sie sich’s klugerweise.« »Ich glaube, es waren Ihre Bücher, die mich neugierig machten.« »Ich will keinerlei Verantwortung übernehmen«, verwahrte sich Morin. »Ich bin kein Theologe.« Ohne die Fahrt zu verlangsamen, rumpelten wir über die Gleise einer unbedeutenden Eisenbahnlinie und schwenkten dann nach rechts durch ein ziemlich verfallenes Einfahrtstor. Unter einem Vordach hing eine Lampe und beleuchtete die offene Haustür. »Schließen Sie in dieser Gegend die Haustore nicht ab?« fragte ich. Darauf antwortete er: »Vor zehn Jahren – die Zeiten waren damals schlecht – wurde ganz in der Nähe am Morgen des Christtages ein Mann erfroren aufgefunden. Er konnte niemanden finden, der ihm eine Tür geöffnet hätte. Es wütete ein Schneesturm, und die Leute waren alle in der Kirche. Kommen Sie schon weiter!« herrschte er mich von der Vorhalle aus zornig an. »Sehen Sie sich etwa um und machen Sie Notizen über die Art, wie ich hier lebe? Haben Sie mich vielleicht getäuscht? Sind Sie etwa ein Journalist?«
Wenn ich meinen Wagen bei mir gehabt hätte, wäre ich jetzt fortgefahren. »Monsieur Morin«, sagte ich, »es gibt verschiedene Arten von Hunger. Sie scheinen bloß für eine Sorte vorgesorgt zu haben.« Er ging mir voran und betrat ein kleines Arbeitszimmer; da standen ein Schreibtisch, ein Tisch, zwei bequeme Stühle und einige auffallend leere Bücherschränke – ich konnte keines seiner eigenen Bücher sehen. Auf dem Tisch stand eine Flasche Kognak, vielleicht für den Fremdling und den Schneesturm bereitgestellt, die nie wieder an diesem Ort zusammentreffen würden. »Setzen Sie sich!« forderte er mich auf. »Setzen Sie sich! Sie müssen mir vergeben, wenn ich vorhin unhöflich war. Ich bin Gesellschaft nicht gewohnt. Jetzt gehe ich den Wein holen, von dem ich Ihnen erzählte. Tun Sie ganz so, als wären Sie hier zu Hause.« Ich hatte nie einen Menschen gesehen, der selbst weniger zu Hause gewesen wäre. Es war so, als ob er im Hause eines anderen kampiere. Während seiner Abwesenheit sah ich mir die Bücherregale genauer an. Er hatte keine seiner broschierten Ausgaben steif einbinden lassen, und seine Bücherborde gemahnten an den Lagerraum einer bankrotten Buchhandlung: Die Bände zeigten kleine Risse, sie waren verstaubt und vom Sonnenlicht verfärbt. Es gab zahllose theologische Werke, etliche Gedichtbände, sehr wenige Romane. Nun kehrte Morin mit dem Wein und einem Teller Salami zurück. Als er den Wein selbst gekostet hatte, goß er mir ein Glas ein. »Er geht an«, bemerkte er. »Er ist ausgezeichnet, ganz hervorragend!« »Aus einem kleinen Weingarten, dreißig Kilometer von hier. Ich gebe Ihnen die Anschrift, bevor Sie gehen. An einem solchen Abend ziehe ich persönlich Kognak vor.« So stand die
Flasche in Wirklichkeit vielleicht für ihn und nicht für den fremden Gast bereit, dachte ich. »Es ist tatsächlich kalt.« »Ich meinte nicht das Wetter.« »Ich habe mir inzwischen Ihre Bibliothek angesehen. Sie lesen sehr viel Theologie.« »Jetzt nicht.« »Könnten Sie mir ein Buch empfehlen…« Doch bei ihm hatte ich noch weniger Erfolg als beim Militärgeistlichen. »Nein! Nicht, wenn Sie glauben wollen. Wenn Sie närrisch genug sind, das zu wollen, dann müssen Sie der Theologie aus dem Wege gehen.« »Ich verstehe Sie nicht.« Darauf sagte er: »Ein Mensch kann alles, was mit Gott zusammenhängt, akzeptieren, bis die Gelehrten anfangen, auf die Einzelheiten und die Folgerungen einzugehen. Man kann die Dreifaltigkeit akzeptieren, aber die Argumente, die sich aus ihr ergeben…« Er machte eine zurückweisende Handbewegung und fuhr fort: »Ich würde nie versuchen, mit Hilfe des kleinen Einmaleins ein Problem der Differentialrechnung zu lösen. Man endet damit, daß man nicht mehr an die Differentialrechnung glaubt.« Nun schenkte er noch zwei Gläser voll und leerte das seine, als enthalte es Wodka. »Ich glaubte einmal an die Offenbarung, aber ich glaubte nie an die Aufnahmefähigkeit des menschlichen Verstandes.« »Sie glaubten einmal?« »Ja, Mr. Dunlop – so heißen Sie doch, nicht wahr? –, ich glaubte einmal. Wenn Sie einer von denen sind, die herkommen, um einen Glauben zu suchen, dann gehen Sie wieder fort. Sie werden ihn hier nicht finden.« »Aber aus Ihren Büchern…«
»Sie werden keines von ihnen auf meinen Regalen finden«, erwiderte er. »Es fiel mir auf, daß Sie etliche theologische Werke besitzen.« »Selbst der Unglaube muß irgendwie untermauert werden«, sagte er, den Blick auf die Kognakflasche gerichtet. Ich bemerkte, daß bei ihm der Alkohol sehr rasch zu wirken begann. Das verriet nicht nur seine Bereitwilligkeit, sich mir mitzuteilen, sondern auch der physische Zustand seiner Augäpfel. Es sah so aus, wie wenn unter der weißen Lederhaut die winzigen Blutzellen nur darauf gewartet hätten, beim dritten Glas wie Knospen auf einmal aufzuspringen. Morin sagte: »Können Sie sich etwas Unzulänglicheres vorstellen als die scholastischen Gottesbeweise?« »Ich muß leider gestehen, sie nicht zu kennen.« »Die Beweise auf Grund eines Agens, einer Ursache?« »Nein, die kenne ich nicht.« »Sie besagen, daß bei jeder Veränderung zwei Elemente vorhanden sind, nämlich das, was verändert wird, und das, was verändert. Jede Ursache einer Veränderung wird ihrerseits wieder von einer höheren Ursache bestimmt. Kann dies ad infinitum weitergehen? O nein, heißt es, das würde nicht die Finalität ergeben, die das Denken fordert. Aber fordert das Denken dies wirklich? Warum sollte die Kette nicht ewig weitergehen? Der Mensch hat die Vorstellung der Unendlichkeit erfunden. Auf jeden Fall: Wie trivial ist jede Beweisführung, die auf den Forderungen des menschlichen Denkens fußt. Ihr Denken und meines, und das von Monsieur Dupont. Ich würde dem Denken eines Affen den Vorzug geben. Seine Instinkte sind weniger verdorben. Zeigen Sie mir einen betenden Gorilla, und ich könnte vielleicht wieder glauben.« »Sicherlich gibt es noch andere Beweise, nicht?«
»Ja, vier. Einer weniger schlüssig als der andere. Es braucht ein Kind, um diesen Theologen zu sagen: warum? warum nicht? Warum nicht eine unendliche Reihe von Ursachen? Weshalb sollte die Existenz eines Guten und eines Besseren die Existenz eines Besten voraussetzen? Das ist ein Spiel mit Worten. Wir erfinden die Worte und bauen auf ihnen unsere Argumente auf. Das Bessere ist nicht eine Tatsache; es ist nur ein Wort und ein menschliches Urteil.« »Sie argumentieren gegen jemanden, der Ihnen nicht widersprechen kann«, wandte ich ein. »Sehen Sie, Monsieur Morin, ich glaube ja auch nicht. Ich bin nur neugierig.« »Ah!« rief er aus. »Das sagten Sie schon vorhin – neugierig. Die Neugier ist eine große Falle. Die Leute kamen zu Dutzenden her, um mich zu besuchen. Ich erhielt Briefe, in denen sie mir schrieben, wie ich sie durch dieses oder jenes Buch bekehrt hätte. Lange nachdem ich selbst zu glauben aufgehört hatte, war ich ein Überträger des Glaubens, wie ein Mensch Überträger einer ansteckenden Krankheit sein kann, ohne selbst krank zu sein. Besonders die Frauen!« Voll Abscheu fügte er hinzu: »Ich brauchte mit einer Frau bloß zu schlafen, und schon hatte ich sie bekehrt.« Dann wandte er mir seine rot unterlaufenen Augen zu und schien tatsächlich eine Antwort zu verlangen, als er fortfuhr: »Was für ein RasputinLeben war das?« Jetzt schien ihn der Kognak wirklich in der Gewalt zu haben, und ich überlegte, wie viele Jahre er wohl auf einen glaubenslosen Fremden gewartet haben mochte, dem er sich mit solcher Offenheit anvertrauen konnte. »Sagten Sie das nie einem Priester? Ich dachte mir, in Ihrer Religion…« »Es waren immer zu viele Priester um mich«, lautete seine Antwort. »Wie Fliegen haben sie mich umschwärmt. Sie waren in meiner Nähe und in der Nähe jeder Frau, die ich kannte. Zuerst war ich ein Ausstellungsstück für ihren Glauben. Ich
war für sie nützlich, ein Zeichen dafür, daß sogar ein intelligenter Mensch glauben kann. Das war die Zeit der Dominikaner, die die literarische Atmosphäre und guten Wein schätzten. Und später, als die Bücher aufhörten, und sie witterten, daß an meiner Religion etwas anrüchig war, da kamen die Jesuiten an die Reihe, die nie an dem verzweifeln, was sie die Seele eines Menschen nennen.« »Und weshalb hörten die Bücher auf?« »Wer weiß das? Haben Sie als Junge nie Gedichte auf ein Mädchen geschrieben?« »Aber natürlich!« »Aber geheiratet haben Sie das Mädchen doch nicht! Wer nicht Dichter von Beruf ist, der schreibt von seinen Gefühlen, und wenn das Gedicht fertig ist, dann bemerkt er, daß seine Liebe tot auf dem Papier liegt. Vielleicht schrieb ich mir meinen Glauben von der Seele, wie dies ein junger Mann mit seiner Liebe tut. Nur dauerte es bei mir länger – zwanzig Jahre und fünfzehn Bücher.« Er hob die Flasche. »Noch ein Glas?« »Danke, ich möchte lieber um ein Glas von Ihrem Kognak bitten.« Im Gegensatz zu dem Wein war dies eine ganz gewöhnliche Marke von derbem Geschmack, und ich dachte wiederum: »Für einen Bettler oder für ihn selbst bestimmt?« »Trotzdem gehen Sie zur Messe«, sagte ich. »Ich gehe am Heiligen Abend zur Christmette«, erwiderte er. »Da geht selbst der schlechteste Katholik hin – sogar jener, der zu Ostern nicht geht. Es ist die Messe unserer Kindheit, und die der Barmherzigkeit. Was würden die Leute denken, wenn ich nicht da wäre? Ich möchte nicht Anstoß erregen. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich zu keinem meiner Nachbarn so sprechen würde, wie ich eben mit Ihnen gesprochen habe. Denn sehen Sie, ich bin ihr katholischer Autor. Ihr Mitglied der Akademie. Ich wollte nie jemandem zum Glauben
verhelfen, aber, weiß Gott, ich würde mich nicht dazu hergeben, ihn den Menschen zu rauben…« »Eines überraschte mich, Monsieur Morin, als ich Sie dort sah.« »Und das wäre?« Vorschnell antwortete ich: »Sie und ich waren die einzigen, die nicht die Kommunion empfingen.« »Deshalb gehe ich auch nicht in meinem eigenen Dorf zur Kirche. Auch das würde auffallen und Ärgernis erregen.« »Ja, das kann ich verstehen.« Schwerfällig stolperte ich weiter (wahrscheinlich hatte auch bei mir der Kognak zu wirken begonnen): »Verzeihen Sie, Monsieur Morin, aber ich fragte mich, was wohl Sie in Ihrem Alter vom Empfang der Kommunion abhält. Jetzt weiß ich natürlich den Grund.« »Wirklich?« fragte Morin. »Junger Mann, das möchte ich bezweifeln.« Mit unpersönlicher Feindseligkeit blickte er mich über sein Glas hinweg an und fuhr fort: »Sie verstehen nichts von den Dingen, die ich Ihnen erzählt habe. Was für eine Geschichte könnten Sie daraus machen, wenn Sie ein Zeitungsmann wären, und dennoch wäre nicht ein Wort davon wahr…« Steif erwiderte ich: »Ich dachte, Sie hätten es klar ausgesprochen, daß Sie Ihren Glauben verloren haben.« »Ja, glauben Sie wirklich, dies würde irgend jemanden vom Beichtstuhl fernhalten? Sie sind weit davon entfernt, die Kirche oder den menschlichen Geist zu begreifen, Mr. Dunlop. Das ist doch eines der alltäglichsten Geständnisse, das der Priester in der Beichte zu hören bekommt, fast so alltäglich wie der Ehebruch. ›Hochwürden, ich habe meinen Glauben verloren.‹ Der Priester selbst – davon können Sie überzeugt sein – macht dasselbe Geständnis oft genug am Altar, bevor er die Hostie empfängt.«
Nun wurde auch ich wütend und entgegnete: »Was hält Sie also davon ab? Stolz? Oder eine Ihrer Rasputinschen Frauen?« »Wie Sie ganz richtig vermuteten«, sagte er, »sind in meinem Alter die Frauen kein Problem mehr.« Er blickte auf die Uhr. »Halb drei. Vielleicht sollte ich Sie jetzt zurückfahren.« »Nein«, wehrte ich ab, »ich möchte nicht so von Ihnen gehen. Es ist der Alkohol, der uns reizbar macht. Ihre Romane sind für mich immer noch bedeutsam. Ich weiß, daß ich unwissend bin. Ich bin kein Katholik und werde nie einer sein, aber in früheren Zeiten ließen mich Ihre Bücher begreifen, daß es zumindest möglich wäre zu glauben. Da haben Sie mir nie die Tür plötzlich vor der Nase zugeschlagen, wie Sie das jetzt tun. Auch Ihre Romangestalten taten es nicht, Durobier nicht, und auch Sagrin nicht.« Ich deutete auf die Kognakflasche. »Ich sagte Ihnen eben – die Menschen sind nicht nur in diesem Sinn hungrig und durstig. Weil Sie Ihren Glauben verloren haben…« Voll Ingrimm unterbrach er mich: »Das habe ich Ihnen nie gesagt.« »Wovon haben Sie dann die ganze Zeit geredet?« »Ich sagte Ihnen, ich hätte meine Glaubenskraft verloren. Das ist etwas ganz anderes. Doch wie sollen Sie das verstehen?« »Sie geben mir ja nicht Gelegenheit dazu.« Jetzt bemühte er sich offensichtlich, Geduld zu zeigen. »Ich will Ihnen das so erklären«, begann er. »Wenn Ihnen ein Arzt ein bestimmtes Medikament verschreibt und Ihnen aufträgt, es für den Rest Ihres Lebens jeden Tag einzunehmen; und wenn Sie ihm plötzlich nicht mehr gehorchen und aufhören, es einzunehmen, und Ihr Gesundheitszustand sich immer mehr verschlechtert, werden Sie dann nicht um so mehr an die Kunst Ihres Arztes glauben?« »Möglich! Aber ich begreife Sie noch immer nicht.«
»Durch zwanzig Jahre«, fuhr Morin fort, »habe ich mich aus freiem Willen exkommuniziert. Ich ging nie zur Beichte. Ich liebte eine Frau zu sehr, um mir selbst vorzutäuschen, ich würde sie jemals verlassen können. Sie kennen ja die Vorbedingung zur Absolution? Die feste Absicht, sich zu bessern. Eine solche Absicht hatte ich nicht. Vor fünf Jahren starb meine Geliebte, und mein Sexualleben starb mit mir.« »Und weshalb konnten Sie dann nicht den Weg zurück finden?« »Weil ich Angst hatte. Ich habe immer noch Angst.« »Vor dem, was der Priester sagen würde?« »Was für eine sonderbare Auffassung Sie von der Kirche haben! Nein, keine Angst vor dem, was der Priester sagen könnte. Er würde nichts sagen. Ich glaube, es gibt kein schöneres Geschenk, das man einem Priester im Beichtstuhl machen kann, als nach vielen Jahren der Abwesenheit wieder dorthin zurückkehren. Er fühlt, daß er wieder von Nutzen ist. Aber können Sie das nicht verstehen? Jetzt kann ich mir sagen, daß mein Mangel an Glaubenskraft der schlüssige Beweis dafür ist, daß die Kirche recht hat und daß der Glaube wahr ist. Durch zwanzig Jahre hatte ich mich von der göttlichen Gnade losgesagt und meine Glaubenskraft ist verkümmert, wie mir die Geistlichen es voraussagten. Ich glaube nicht an Gott, nicht an Seinen Sohn, an Seine Engel und Heiligen, aber ich kenne den Grund, warum ich nicht glaube, und der Grund ist der – daß die Kirche recht hat und daß das, was sie mich gelehrt hat, wahr ist. Zwanzig Jahre lang habe ich ohne die Sakramente gelebt, und die Wirkung kann ich deutlich sehen. Die Oblate muß mehr als eine Oblate sein.« »Wenn sie aber zurückkehrten…« »Wenn ich zurückkehrte, und meine Glaubenskraft käme nicht wieder? Gerade das fürchte ich, Mr. Dunlop. Solange ich den Sakramenten fernbleibe, ist mein Mangel an Glaubenskraft
ein Beweis zugunsten der Kirche. Wenn ich aber zurückkehrte und die Sakramente ihre Wirkung auf mich verfehlten, dann wäre ich in der Tat ein Mensch ohne Glauben, der sich lieber rasch im Grab verbergen sollte, um nicht noch andere zu entmutigen.« Er lachte verlegen. »Paradox, nicht wahr, Mr. Dunlop?« »Genau das sagte man über Ihre Bücher.« »Das weiß ich.« »Ihre Romanfiguren trieben ihre Ideen bis zu den extremsten Konsequenzen. Das behaupteten die Kritiker.« »Und Sie glauben das auch?« »Ja, Monsieur Morin.« Er wich mir mit dem Blick aus und machte eine Grimasse über mich hinweg. »Wenigstens bin ich nicht mehr ein Bazillenträger. Sie sind der Infektion entgangen«, sagte er und fügte hinzu: »Zeit, schlafen zu gehen. Mr. Dunlop, Zeit, schlafen zu gehen. Junge Leute brauchen mehr Schlaf.« »So jung bin ich nun auch wieder nicht.« »Mir kommen Sie sehr jung vor.« Er brachte mich in seinem Wagen zum Hotel zurück. Auf der Fahrt wechselten wir kaum ein Wort. Ich dachte an den seltsamen Glauben, der ihn jetzt erfüllte, da er zu glauben aufgehört hatte. Seit jenem Augenblick im Kriege, als ich mit dem Militärgeistlichen gesprochen hatte, war ich kaum neugierig gewesen, doch nun fing ich wieder zu grübeln an. Morin hatte gemeint, er habe es aufgegeben, ein Krankheitsüberträger zu sein, und ich konnte nur hoffen, daß er damit recht hatte. Er hatte vergessen, mir die Adresse des Weingartens zu geben, aber ich vergaß, ihn darum zu bitten, als ich ihm gute Nacht sagte.
Michel Tournier Ein kleines Kind im Stroh
Zunächst muß man sich eine Trikolore denken, über die leise der Nachtwind streicht und die ein Scheinwerfer in loderndes Feuer taucht. Dann erweitert sich das Bildfeld; es erscheint, vom Kunstlicht hart herausgeholt, die Fassade des Elyseepalastes. Ein Fenster nur ist erleuchtet. Zoom auf das Fenster. Eine Überblendung erzeugt den Eindruck, man schwebe hinein. An einem Kamin, in dem die Flammen tanzen, sitzt in einem Sessel der Staatspräsident. Er lächelt. »Franzosen, Französinnen«, sagt er, »seit heute morgen haben die Schüler Ferien. Die bevorstehenden Feiertage haben den Straßen unserer Städte und Dörfer ihren farbigen Lichterglanz verliehen. In ein paar Tagen ist Weihnachten, eine Woche später dann Silvester. Zu diesem Anlaß pflegt der Staatspräsident seinen Landsleuten seine guten Wünsche zu übermitteln. Auch ich möchte das nicht versäumen. Gerade meinen guten Wünschen jedoch kommt in diesem Jahr ein ganz und gar außergewöhnlicher Charakter zu. Ich möchte nämlich mit Ihnen über ein schwerwiegendes, bedeutsames Thema sprechen und Ihnen einen Vorschlag machen, der revolutionär ist. Ja, revolutionär, so seltsam das von seiten eines Staatspräsidenten und obendrein kurz vor Weihnachten erscheinen mag. Es handelt sich um folgendes. Wenn von den großen Geißeln die Rede ist, unter denen unsere Gesellschaft zu leiden hat, so werden stets Rauschgift, Gewalt, Nikotin, Alkohol und Verkehrsunfälle genannt. Die Zahlen, die man anführt, sind erschreckend, und gewiß müssen
wir mit aller Leidenschaft dafür kämpfen, daß sie zurückgehen. Immerhin aber ist von diesen Geißeln, Gott sei Dank, nur eine Minderheit unter uns betroffen. Doch es gibt ein anderes Unheil, eines, das schleichender, tückischer ist und die gesamte Bevölkerung der widerwärtigsten Degeneration entgegenzuführen droht. Es hat nicht einmal einen Namen. Man könnte es Medikomatie, Klinikomanie, Pharmakomanie und was weiß ich wie sonst noch nennen. Doch der Name tut wenig zur Sache. Entscheidend sind die Zahlen, und die liegen unendlich weit über der Zahl der Opfer der anderen großen Geißeln. Man kann Schlimmes an unterschiedlichen Maßstäben messen. Ich möchte nur eines sagen: Unsere Krankheitskosten wachsen schneller, viel schneller als die Ressourcen des Landes. Wohin führt das? Nun, das ist einfach – und es ist grauenhaft! Mit einer ganz simplen Rechnung können wir durch Extrapolation genauestens das Jahr, den Monat, den Tag feststellen, an dem die Kosten der medizinischen Versorgung die gesamten Ressourcen der Nation verschlingen werden. Wie unser Leben dann aussehen wird, kann man sich kaum vorstellen. Es mag genügen, wenn ich sage: Wir werden uns nur noch von Medikamenten ernähren. Wir werden uns nur noch in Krankenwagen bewegen. Wir werden als Kleider nur noch Wundverbände tragen. Ein grotesk-infernalisches Zukunftsgemälde! Was tun, damit es nicht dahin kommt? Ich habe mich an die höchsten Spitzen der Medizin gewandt. Ich habe Akademien ersucht, sich des Problems anzunehmen und mir ein Gegenmittel zu empfehlen. Nichts. Man müßte das Übel an der Wurzel packen. Aber wo liegt sie, diese Wurzel? Was macht jeden von uns zu einem – mindestens potentiellen – Patienten, der ewig ein wirkliches oder eingebildetes Leiden kuriert? Da habe ich zu einem letzten Mittel gegriffen, das mir vielleicht helfen konnte. Ich entsann mich des Dorfes, wo ich
meine Kindheit verbracht, und des Arztes, der meine Geschwister und mich behandelt hatte. Behandelt… das ist fast schon zuviel gesagt. Er griff so wenig wie möglich ein, wohl wissend, daß es die Natur ist, die uns heilt, und daß man ihr Wirken nicht stören darf. Ja, dieser Arzt war ein Weiser, und es war mehr der Weise als der Arzt, an den ich mich wandte. Ich schickte ihm das umfangreiche Dossier, das die Abteilungen des Innenministeriums zu der Frage erstellt hatten. Hat er es überhaupt studiert, dieses Dossier? Wenn man sieht, wie rasch und vor allem in welchem Sinn er mir Antwort gab, kann man daran zweifeln. Seine Antwort habe ich hier. Ein Brief aus drei Blättern, mit einer Ly-Feder und mit violetter Tinte von Hand geschrieben. In diesem Brief sagt mir mein alter Landarzt… Ach, das beste ist wohl, ich lese Ihnen den Brief vor. Er lautet: Monsieur le Président de la République, mein kleiner Francis, ich bin stolz und glücklich, daß Sie sich des schlichten Praktikers erinnern, der Ihnen auf die Welt geholfen und Ihre ersten Jahre fürsorglich begleitet hat. Eigentlich habe ich dabei nur sehr wenig geleistet, denn Sie sind ganz von alleine gekommen und aufgewachsen. Und jetzt wenden Sie sich an mich – der ich schon so lange nicht mehr praktiziere – mit einer Frage von nationaler Bedeutung, der, wie Sie sagen, die höchsten Spitzen der medizinischen Fakultät sprach- und ratlos gegenüberstehen. Vielleicht aber sind diese Gelehrten eben dadurch, daß sie die Schalthebel des medizinischen Betriebs in Händen halten, besonders fehl am Platze, wenn es darum geht, der ungebremsten Steigerung der Krankheitskosten abzuhelfen? Ganz im Ernst, Monsieur le Président: Falls Sie einen Weg suchten, um die Rüstungskosten zu senken – würden Sie da hingehen und unseren Generalstab danach
fragen? Wenn ich mich daran wage, Ihnen zu antworten, dann gewiß wohl deshalb, weil ich schon lange nicht mehr Arzt bin und es auch zuvor während meines ganzen Berufswegs nur sehr wenig gewesen bin. Bei der Frage, die Sie mir stellen, Monsieur le Président, mußte ich an eine Katze denken, die ich früher einmal hatte. Nun, diese Katze war daran, Junge zu werfen, und sie hatte den Einfall, das in einem Dickicht zu tun, das sich, so weit das Auge reicht, jenseits meiner Gartenmauer hinzieht. Als ich sie eines Tages wiedertraf, den Bauch flach und das Auge funkelnd vor Heimlichkeiten, hatte ich gleich begriffen, wohin die Eskapaden gingen, die ich sie täglich auf dem Nachbargrundstück unternehmen sah. Trotzdem hütete ich mich, einzugreifen. Wochen und Monate vergingen. Eines Morgens sehe ich durchs Fenster meine Katze auf einem Gartenweg spielen, umgeben von vier drolligen jungen Kätzchen. Sie hatten nach einer Kindheit im Dickicht des Nachbarn wohl zum erstenmal den Sprung zu mir herüber gewagt. Ich öffne unbesorgt die Tür und gehe auf die kleine Familie zu. Freudig empfängt mich die Katze, doch die Kätzchen stieben in jäher Panik in alle Richtungen davon. Natürlich. Wieso hatte ich daran nicht gedacht? Diese jungen Kätzchen, fern von Menschen geboren und aufgewachsen, waren ja wilde Tiere. Sie ertrugen die Anwesenheit des Menschen nicht, es sei denn, es gelang, sie geduldig zu zähmen. Sie zu zähmen! Ich habe alles getan, um das zu erreichen. Ich lockte sie mit Tellern voll Brei, die ich, näher und näher am Haus, in den Garten stellte. Eines Tages gelang es mir auf diese Weise, eines der Kätzchen in meine Küche zu bekommen. Und dann schloß ich die Tür. Die Wirkung war katastrophal. Das Kätzchen begann zu schreien, als zöge man ihm das Fell ab. Dabei sprang es auf die Möbel und warf
Geschirr und Vasen zu Boden. Schließlich schoß es wie ein Vogel auf das Fenster zu, prallte dagegen und blieb halb betäubt liegen. So konnte ich seiner habhaft werden und ihm die Freiheit wiedergeben. Es ist mir ein bißchen peinlich, Monsieur le Président, daß ich Sie mit anscheinend so belanglosen Anekdoten aufhalte. Aber kleine Geschichten wie diese sind lebensnah. Sie sind das Leben selbst. Was im Lauf der Zeit im Garten vorgeht, ist ebenso lehrreich wie das, was man im Reagenzglas oder in der Retorte eines Laboratoriums beobachten kann, und wenn Sie sich an mich gewandt haben, dann wohl, um die Ansicht eines erdverbundenen Menschen kennenzulernen, nachdem Sie die In-vitro-Forschung bereits befragt haben. Die darauffolgenden Wochen bestätigten den Eindruck, den jenes fatale Experiment bei mir hinterlassen hatte: Diese jungen Katzen, in der Natur geboren, waren nicht mehr fürs Haus zu gewinnen. Die Wildheit hatte sie für alle Zeit geprägt. Ich hatte Gelegenheit, darüber mit einem Nachbarn zu sprechen, der Vieh züchtet. Er verhalf mir zu der für mich überraschenden Erkenntnis: Ein Kalb oder ein Fohlen, das im freien Gelände geboren wird, ist sein Leben lang in seinem Wesen schwieriger als ein Tier, das – wenn man so sagen darf – im Halbdunkel eines Stalles das Licht der Welt erblickt hat. Das wissen alle Viehzüchter, und sie hüten sich, Muttertiere ihre Jungen im Freien werfen zu lassen. Wie Sie sehen, kommen wir unserem Thema allmählich näher. Denn was für den Charakter von Tieren gilt, trifft erst recht für die menschliche Seele zu. Ja, der erste Eindruck – Geräusche, Lichter, Gerüche – der erste Eindruck, der ein Kind trifft, wenn es aus dem Schoß der Mutter kommt, prägt es für alle Zeit. Er erzeugt gleichsam einen bestimmten Knick im Charakter, der sich unmöglich wieder geradebiegen läßt. Obschon ich ganz und gar kein Historiker bin, habe ich einige
Erhebungen angestellt, um das genaue Umfeld bei der Geburt einiger Leute festzustellen, die später von sich reden gemacht haben. Napoleon wurde bekanntlich unweit der Kathedrale von Ajaccio im Orgelklang und in den Weihrauchschwaden des Hochamts vom 15. August geboren. Weniger bekannt ist, daß sich bei Stalins Geburt in Gori ein Erdbeben ereignete. In der Nacht zum 20. April 1889, in der Hitler geboren wurde, vernichtete ein schrecklicher Frosteinbruch die ganze Obstbaumblüte in der Gegend um Braunau. Die Alten glaubten, die Geburt eines zu Großem bestimmten Mannes gehe mit Zeichen und Wundern einher. Richtiger muß man Ursache und Wirkung wohl umgekehrt sehen und sagen, ein wundersames Ereignis, das die Geburt eines Kindes begleitet, kann aus dem Kind einen ungewöhnlichen Menschen machen. Nun – und welche bedeutsame, beinah weltweite Umwälzung kennzeichnet die Geburtshilfe seit fünfzig Jahren? Ehedem kamen die Kinder im Haus ihrer Eltern zur Welt. Bei Ihnen selber, Monsieur le Président, erinnere ich mich noch an das Zimmer Ihrer Mama, wo Sie Ihren ersten Schrei taten. Und so produzierte man, ohne sich recht darüber klarzusein, kleine Bauern-, Arbeiter-, Handwerker-, Fischeroder Milliardärskinder, und die behielten diese Etikettierung, als wäre sie tief in ihr eigenes Ich eintätowiert. War das gut so? Oder war das schlecht? Ich mag das nicht leichthin entscheiden. Ich mißtraue der in meinem Alter ein wenig zu sehr verbreiteten Tendenz, dem Vergangenen den Vorzug zu geben. Seit fünfzig Jahren jedenfalls hat sich das alles gründlich verändert. Die Praxis, Entbindungen in Spezialkliniken durchzuführen, hat sich sehr rasch durchgesetzt. Hygiene und Sicherheit haben durch diese Neuerung gewiß ungeheuer gewonnen. Die Zahl der Geburtszwischenfälle hat sich in höchst erfreulichem Ausmaß verringert. Nicht Rechnung getragen hat man dafür aber der
Auswirkung dieser neuen Umgebung auf das, was ich die Natalprägung nennen möchte. Die Natalprägung, jawohl! Ein neuer Begriff, den unsere Koryphäen der Geburtshilfe nun in ihre Computer einfüttern müssen! Ich jedenfalls behaupte: Ein Neugeborenes, das auf einem Operationstisch zur Welt kommt, den Geruch von Desinfektionsmitteln einatmet, elektrische Apparate summen hört und vor den lackierten Wänden eines Operationssaals nur Gespenster in weißen Mänteln und mit antiseptischen Gesichtsmasken um sich sieht – ich behaupte, daß dieses Kind kraft einer solchen Natalprägung stets zur – wie soll man’s schon nennen! – zur Klinikomanie, zur Medikomanie, zur Pharmakomanie neigen wird. Monsieur le Président, damit bin ich bei der Antwort, die ich Ihnen auf Ihre Frage geben möchte: Die exponentiell steigenden Ausgaben der Krankenkassen lassen sich allein durch die prägende Wirkung des Klinikmilieus erklären, der die Neugeborenen in den ersten Sekunden, Minuten und Stunden nach ihrer Geburt ausgesetzt werden. Was ist also zu tun? Geburt, Liebe und Tod, das muß gesagt werden, sind keine Krankheiten. Es sind die drei großen Angelpunkte menschlichen Schicksals. Sie gehören nicht in die Hand von Ärzten. Befreien wir also zunächst die Geburt aus den pharmazeutischen Miasmen, die sie vergiften. Ich schlage folgendes vor: Wenn eine Frau im Begriff ist, Mutter zu werden, soll sie selbst – ebenso frei wie über den Vornamen ihres Kindes – über die natürliche Umgebung, in der sie niederkommen möchte, und damit zugleich auch über die Natalprägung entscheiden, die ihr Kind erhalten soll. Alles muß bereitstehen, damit ihr eine praktisch unbegrenzte Auswahl geboten werden kann. Es muß so sein, daß in künftigen Jahren Kinder in völliger Sicherheit auf dem Gipfel des Mont Blanc oder zwischen den Felsen der Ile de la Seine, auf einem Atoll im Pazifik oder in den blonden Sanddünen der
Sahara, im Spiegelsaal des Schlosses zu Versailles oder auf der dritten Etage des Eiffelturms geboren werden können. Neue Generationen werden dann in ihrem Sinnen und Trachten eine unerschöpfliche Vielfalt aufweisen, anstatt trübsinnig beim Arzt und beim Apotheker Schlange zu stehen. Ich verbleibe, Monsieur le Président, mit dem Ausdruck meiner vorzüglichen Hochachtung… usw.« Der Staatspräsident legte die Blätter des Briefes auf ein Tischchen und blickte lächelnd in Richtung der Zuschauer vor den Fernsehapparaten. »Dies also, meine lieben Landsleute, ist die Revolution, die seltsame, bezaubernde Revolution, die ich Ihnen vorzuschlagen habe. Vom nächsten Frühjahr an werden alle Maßnahmen getroffen sein, um die Natalprägung so vielfältig und sogar so extravagant gestalten zu können, wie es die künftigen Mütter nur wünschen mögen. Aber schon heute abend, in dem Augenblick, da ich zu Ihnen spreche, wollen wir darangehen, diese neue Art und Weise der Geburt einzuführen. Ich wende mich deshalb an alle werdenden Mütter, die mir zuhören. Meine Telefonnummer ist 42928100. Wenn Sie für die nächsten Tage Ihre Niederkunft erwarten, so rufen Sie mich umgehend an. Sie erreichen mich direkt. Der ersten werdenden Mutter, die mich anruft und ihren Wunsch äußert, wird dieser Wunsch erfüllt werden, es mag sein, was es will. Ich warte.« Immer noch lächelnd, stützte der Präsident das Kinn auf die verschränkten Hände und schwieg. Fast augenblicklich begann das in Reichweite stehende Telefon zu läuten. Fünfzehn Millionen Fernsehzuschauer konnten den anschließenden seltsamen Dialog live mitverfolgen: »Hallo?« flötete eine Stimme. »Ja, hier ist der Staatspräsident.«
»Guten Abend, Monsieur le Président.« »Guten Abend, Madame.« »Mademoiselle«, berichtigte die Flötenstimme. »Mademoiselle, Mademoiselle… wie noch, wenn ich bitten darf?« »Marie.« »Guten Abend, Mademoiselle Marie. Sie erwarten also die Geburt eines Kindes. Wissen Sie, an welchem Tag?« »Man sagte mir, am 25. Dezember, Monsieur le Président.« »Sehr schön, sehr schön. Und welche natürliche Umgebung erträumen Sie sich für die Geburt?« »Einen Stall, Monsieur le Président. Einen Stall, in dem viel Stroh ist. Und auch ein Ochs und ein Esel.« Der Präsident, trotz seiner berühmten Selbstbeherrschung, konnte nicht verhindern, daß seine Augen vor Erstaunen groß und rund wurden. »Ein Stall, Stroh, ein Ochs und ein Esel…«, wiederholte er mechanisch. »Gut, gut, all das sollen Sie haben. Gestatten Sie mir indessen noch eine letzte Frage?« »Ja, natürlich, Monsieur le Président.« »Haben Sie das Geschlecht Ihres Kindes schon bestimmen lassen?« »Ja, Monsieur le Président, es wird ein Mädchen.« »Ah, bravo, ein Mädchen!« rief der Präsident sichtlich erleichtert. »Das ist doch viel, viel hübscher als ein Junge! Und auch viel ruhiger und verläßlicher! Nun, und ich stelle mich als Pate zur Verfügung, wenn Sie mich wollen, und wir nennen es Noelle. Guten Abend Ihnen allen!«
Italo Calvino Die Kinder des Weihnachtsmanns
Es gibt keine Zeit im Jahr, die der Industrie- und Handelswelt freundlicher gesonnen wäre als die Weihnachtszeit. Von den Straßen steigt der tremolierende Klang der Dudelsackpfeifen empor; und die GmbHs, bis gestern mit der nüchternen Berechnung von Umsatz und Dividenden beschäftigt, entdecken auf einmal ihr Herz für die Sympathie und das Lächeln. Die Verwaltungsräte haben jetzt nur noch den einen Gedanken, wie sie ihren Nächsten Freude bereiten können, und so verschicken sie Geschenke und Glückwünsche sowohl an ihre Schwesterfirmen als auch an Privatpersonen; jede Firma fühlt sich verpflichtet, einen großen Vorrat von Produkten einer anderen Firma zu erwerben, um damit wieder andere Firmen zu beschenken, die ihrerseits von einer dritten Firma Berge von Geschenken für die erste Firma gekauft haben; die Fenster der Betriebe sind bis spät in die Nacht erleuchtet, besonders die in den Lagern, wo das Personal Überstunden macht beim Verpacken von Paketen; draußen vor den beschlagenen Fenstern, auf den vereisten Bürgersteigen, bewegen sich die Dudelsackpfeifer, von dunklen, geheimnisvollen Bergen herabgestiegen, bleiben an den Kreuzungen im Stadtzentrum stehen, geblendet von den allzu vielen Lichtern, den allzu grell geschmückten Schaufenstern, und blasen auf ihren Instrumenten; bei diesen Tönen klingen die harten Interessenskämpfe ab und machen einem neuen
Wettbewerb Platz: wer auf die netteste Art und Weise das wertvollste und originellste Weihnachtsgeschenk macht. Bei der Sbav hatte das Public-Relations-Büro in diesem Jahr den Vorschlag gemacht, daß den angesehensten Kunden das Geschenk nach Hause gebracht werden sollte, und zwar von einem Boten, der als Weihnachtsmann verkleidet war. Der Gedanke stieß auf die einhellige Zustimmung der leitenden Herren. Man kaufte ein komplettes Weihnachtsmannkostüm: weißer Bart, rote, pelzverbrämte Mütze, Mantel und Stiefel. Man probierte, welchem Boten diese Gewandung am besten paßte, aber der eine war zu klein, und der Bart reichte ihm bis zu den Füßen, der andere war zu dick und kam nicht in den Mantel, ein anderer zu jung und wieder ein anderer zu alt, so daß es sich gar nicht verlohnte, ihn erst zu kostümieren. Während der Personalchef andere potentielle Weihnachtsmänner aus den verschiedenen Abteilungen holen ließ, spannen die leitenden Herren auf einer Direktionssitzung die Idee noch weiter aus: Auf Wunsch des Public-RelationsBüros sollte auch das Weihnachtspaket für die Belegschaft im Rahmen einer Kollektivfeier vom Weihnachtsmann überreicht werden; das Handelsbüro beantragte, daß der Weihnachtsmann auch bei den Geschäften die Runde machen sollte; das Werbebüro war dafür, den Firmennamen klar ersichtlich herauszustellen, etwa derart, daß der Weihnachtsmann vier kleine Luftballons mit den Buchstaben S, B, A, V an einer Schnur mit sich führen sollte. Alle waren sie erfüllt von der freudigen und herzlichen Atmosphäre, die sich über die festliche und produktive Stadt gelegt hatte; nichts ist schöner, als das Fließen von materiellen Gütern und gleichzeitig von Güte zu spüren, die jeder für den andern übrig hat; und darauf kommt es ja vor allem an, wie uns das Firuli-Firuli der Dudelsäcke ins Gedächtnis ruft.
Im Lager ging das – materielle und geistige – Gut in Form von ein- und auszuladender Ware durch Marcovaldos Hände. Und nicht nur beim Ein- und Ausladen nahm er teil an der allgemeinen Festesstimmung, sondern auch, weil er daran dachte, daß in diesem Labyrinth von Hunderttausenden Paketen eines auch auf ihn wartete, das ganz allein für ihn bestimmt und für ihn vom Public-Relations-Büro vorbereitet war; und noch mehr, weil er sich ausgerechnet hatte, was ihm am Monatsende als dreizehntes Gehalt und für Überstunden zustand. Mit diesem Geld würde auch er in die Geschäfte laufen und kaufen, kaufen, kaufen und dann schenken, schenken, schenken können, wie seine redlichsten Gefühle und das Gemeininteresse von Handel und Geschäft es verlangten. Der Personalchef kam ins Lager, einen falschen Bart in der Hand: »He, du!« sagte er zu Marcovaldo, »probier mal, wie dir dieser Bart steht. Ausgezeichnet! Du machst den Weihnachtsmann. Komm mit nach oben, beeil dich. Du bekommst eine Sonderprämie, wenn du fünfzig Haushalte pro Tag schaffst.« Als Weihnachtsmann verkleidet fuhr Marcovaldo auf dem Sattel seines Motorrad-Lieferwagens durch die Stadt, beladen mit bunt eingewickelten Paketen, die mit hübschen Bändern verziert und mit Misteln und Stechpalmen geschmückt waren. Der Wattebart kitzelte ihn wohl ein bißchen, schützte aber zum andern seinen Hals vor Zugluft. Die erste Fahrt führte ihn heim, weil er der Versuchung nicht widerstehen konnte, seinen Kindern eine Überraschung zu bereiten. Zuerst werden sie mich gar nicht erkennen, dachte er, ich bin gespannt, wie sie hinterher lachen werden! Die Kinder spielten auf der Treppe. Sie drehten sich kaum um nach ihm: »Tag, Papa!« Marcovaldo war schwer enttäuscht. »Aber… seht ihr denn nicht, wie ich verkleidet bin?«
»Wie denn schon?« antwortete Pietruccio. »Als Weihnachtsmann, oder?« »Und ihr habt mich gleich erkannt?« »Als ob da was dazugehörte! Wir haben ja auch Herrn Sigismondo erkannt, und der war besser maskiert als du!« »Und den Schwager der Portiersfrau!« »Und den Vater der Zwillinge von gegenüber!« »Und den Vater von Ernestina, die mit den kurzen Zöpfen!« »Alle als Weihnachtsmann verkleidet?« fragte Marcovaldo, und die Enttäuschung in seiner Stimme rührte nicht nur von der mißglückten Überraschung seiner Familie, sondern auch daher, daß er spürte, daß hier das Prestige seiner Firma auf dem Spiele stand. »Natürlich. Genauso wie du«, antworteten die Kinder. »Ein Weihnachtsmann, wie gehabt, mit falschem Bart«, damit drehten sie ihm den Rücken zu und spielten ungerührt weiter. Die Public-Relations-Büros vieler Firmen waren nämlich gleichzeitig auf denselben Einfall gekommen, und sie alle hatten eine Menge Leute eingestellt, meist Arbeitslose, Rentner, Hausierer, um sie mit rotem Mantel und Wattebart herauszustaffieren. Nachdem die Kinder die ersten paar Male ihren Spaß daran gehabt hatten, unter dieser Maskierung Bekannte aus dem eigenen Wohnviertel wiederzuerkennen, hatten sie sich bald daran gewöhnt und beachteten die Weihnachtsmänner nicht mehr. Es hatte den Anschein, als ob sie ihr Spiel mit großer Leidenschaft betrieben. Sie hockten im Kreis auf dem Treppenabsatz. »Was heckt ihr denn da für eine Verschwörung aus?« fragte Marcovaldo. »Stör uns nicht, Papa, wir müssen die Geschenke herrichten.« »Geschenke? Für wen denn?« »Für irgendein armes Kind. Wir müssen ein armes Kind ausfindig machen und es bescheren.«
»Wer hat euch das gesagt?« »Das steht im Lesebuch.« Marcovaldo lag schon auf der Zunge zu sagen: »Ihr seid ja selbst solche armen Kinder!«, doch im Lauf dieser ganzen Woche hatte er sich so sehr eingeredet, Bewohner eines Schlaraffenlandes zu sein, wo jedermann nur kaufte und sich gütlich tat und Geschenke machte, daß es ihm unschicklich erschienen wäre, von Armut zu sprechen, und so zog er vor, zu erklären: »Arme Kinder gibt es keine mehr!« Da stand Michelino auf und fragte: »Deshalb bringst du uns wohl keine Geschenke, Papa?« Marcovaldo fühlte, wie sein Herz sich zusammenkrampfte. »Ich mache jetzt Überstunden«, sagte er rasch, »und dann bringe ich euch auch was mit.« »Womit machst du denn Überstunden?« fragte Filippetto. »Indem ich Geschenke austrage«, erwiderte Marcovaldo. »Für uns?« »Nein, für andere.« »Warum nicht für uns? Das ginge doch schneller…« Marcovaldo versuchte zu erklären: »Weil ich nicht der Weihnachtsmann für ›menschliche Beziehungen‹ bin, sondern einer für ›öffentliche Beziehungen‹. Habt ihr verstanden?« »Nein.« »Da kann man halt nichts machen.« Aber da er auf irgendeine Entschuldigung sann, weil er mit leeren Händen gekommen war, fiel ihm ein, daß er Michelino auf seine Geschenktour mitnehmen könnte. »Wenn du brav bist, kannst du mitkommen und zusehen, wie dein Vater den Leuten Geschenke bringt«, sagte er und setzte sich auf den Sattel eines Motorrads mit Lieferwagen. »Na schön, fahren wir, vielleicht kann ich ein armes Kind auftreiben«, sagte Michelino, sprang hinten aufs Motorrad und klammerte sich an den Schultern seines Vaters fest.
In den Straßen der Stadt begegnete Marcovaldo lauter andern weiß-roten Weihnachtsmännern, die genauso aussahen wie er selbst, drei- oder vierrädrige Lieferwagen fuhren oder den paketbeladenen Kunden die Ladentüren öffneten oder ihnen die Einkäufe bis ans Auto nachtrugen. Und alle diese Weihnachtsmänner sahen sehr konzentriert und dienstbeflissen aus, als seien sie für den reibungslosen Ablauf der ganzen riesigen Festmaschinerie verantwortlich. Und Marcovaldo, der aufs Haar genauso aussah wie alle andern, beeilte sich, von einer Adresse zur anderen zu kommen, stieg vom Sattel, sortierte die Pakete in dem kleinen Anhänger, nahm eines davon, übergab es dem, der die Tür öffnete, und sagte langsam und klar: »Die Firma Sbav wünscht frohe Weihnachten und ein glückliches neues Jahr« und bekam sodann sein Trinkgeld. Dieses Trinkgeld war zuweilen beachtlich, und Marcovaldo hätte wohl zufrieden sein können, aber irgend etwas fehlte ihm noch. Jedesmal, ehe er, von Michelino gefolgt, an einer Tür klingelte, kostete er im voraus die Überraschung dessen aus, der die Tür aufmachen und den Weihnachtsmann in Person vor sich sehen würde; er erwartete Freude, Neugierde, Dankbarkeit. Und allemal wurde er wie der Briefträger empfangen, der die tägliche Zeitung bringt. Er klingelte an der Tür eines hochherrschaftlichen Hauses. Eine Gouvernante öffnete. »Ach, schon wieder ein Paket. Woher kommt es denn?« »Die Firma Sbav wünscht…« »Schon gut, kommen Sie mit«, und sie ging dem Weihnachtsmann voraus durch eine Diele voller Gobelins, Teppiche, Majoliken. Michelino folgte seinem Vater mit weit aufgerissenen Augen. Die Gouvernante öffnete eine Glastür. Sie traten in ein riesengroßes Zimmer mit riesenhoher Decke, so groß, daß eine
große Tanne darin Platz hatte. Es war ein Weihnachtsbaum, von Glaskugeln in allen Farben glitzernd, und an seinen Zweigen hingen Geschenke und Süßigkeiten aller Art. Oben an der Decke waren schwere Kristallüster angebracht, und die Zweige des Baumes ragten in die funkelnden Gehänge hinein. Auf einem großen Tisch waren Kristallwaren ausgebreitet, Silber, Schachteln mit kandierten Früchten und Kistchen mit Flaschen. Auf einem Teppich lag lauter Spielzeug herum, soviel wie in einem Spielzeugladen, besonders viele komplizierte elektronische Instrumente und Raumschiffmodelle. Auf dem Teppich lag in einer freien Ecke bäuchlings ein etwa neunjähriger Junge mit mißmutigem, gelangweiltem Gesicht. Er blätterte in einem Bilderbuch, als mache er sich überhaupt nichts aus all den Herrlichkeiten ringsum. »Gianfranco, was soll das, Gianfranco«, sagte die Gouvernante, »hast du nicht gesehen, daß wieder ein Weihnachtsmann mit einem Geschenk gekommen ist?« »Dreihundertundzwölf«, seufzte der Junge, ohne den Blick vom Buch zu heben. »Legen Sie’s nur hin!« »Es ist das dreihundertundzwölfte Geschenk, das hier eintrifft«, erklärte die Gouvernante. »Gianfranco ist ja so tüchtig, er führt genau Buch, kein einziges vergißt er, das Zählen ist seine Leidenschaft.« Marcovaldo und Michelino verließen auf Zehenspitzen das Haus. »Papa, ist das ein armer Junge?« fragte Michelino. Marcovaldo war damit beschäftigt, die Ladung des kleinen Lieferwagens zu ordnen, und antwortete nicht gleich. Aber einen Augenblick später widersprach er eilig: »Arm? Was sagst du da? Weißt du, wer sein Vater ist? Der Präsident der Industriegemeinschaft zur Förderung des Weihnachtsverkaufs! Der Herr Commendatore höchstselbst…«
Er stockte, denn Michelino war auf einmal nicht mehr zu sehen. »Michelino! Michelino! Wo bist du denn?« Er war verschwunden. »Wahrscheinlich hat er einen andern Weihnachtsmann mit mir verwechselt und ist ihm nachgelaufen…« Marcovaldo setzte seine Tour fort, aber er war doch ein bißchen besorgt und konnte kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Daheim fand er Michelino mit seinen Geschwistern zusammen ganz brav wieder. »Sag mal, warum warst du eigentlich auf einmal verschwunden?« »Ich bin nach Haus, die Geschenke holen gegangen… Ja, die Geschenke für den armen Jungen…« »Was sagst du da? Für wen?« »Für den Jungen, der so traurig aussah… in der Villa mit dem großen Weihnachtsbaum…« »Für den? Was konntest du dem schon für Geschenke machen?« »Na, wir hatten sie auch hübsch hergerichtet… drei Geschenke, in Silberpapier gewickelt.« Nun mischten sich auch die Geschwister ein: »Wir haben sie alle zusammen hingebracht! Wenn du gesehen hättest, wie der sich gefreut hat!« »Ach was!« brummte Marcovaldo. »Dem haben eure Geschenke gerade noch gefehlt!« »Allerdings, gerade die unseren… er ist gleich angelaufen gekommen, hat das Papier aufgerissen und nachgesehen, was drin ist…« »Und was war drin?« »Das erste Geschenk war ein Hammer: der große, runde Holzhammer…« »Und was hat er dazu gesagt?«
»Er ist vor Freude in die Luft gesprungen! Er hat ihn auch gleich ausprobiert!« »Wozu denn?« »Er hat sein ganzes Spielzeug kurz und klein geschlagen! Und das ganze Kristall dazu! Dann hat er das zweite Geschenk ausprobiert…« »Was war denn das?« »Eine Steinschleuder. Du hättest ihn sehen sollen, wieviel Spaß sie ihm gemacht hat… Alle Glaskugeln am Weihnachtsbaum hat er damit kaputtgeschossen. Dann hat er auf den Lüster gezielt…« »Hört auf, hört auf, ich will nichts mehr hören! Und… das dritte Geschenk?« »Wir hatten nichts mehr zum Herschenken, da haben wir einfach eine Schachtel Streichhölzer in Silberpapier gewickelt. Und das war das Geschenk, worüber er sich am meisten gefreut hat. Er hat gesagt: ›Ich darf Streichhölzer überhaupt niemals anfassen!‹ Und dann hat er sie angezündet, und…« »Und…?« »… alles damit in Brand gesteckt!« Marcovaldo raufte sich die Haare. »Ich bin ruiniert.« Als er am nächsten Morgen in die Firma kam, spürte er, daß ein Gewitter sich zusammenbraute. Er zog sich in aller Eile wieder als Weihnachtsmann an, belud den kleinen Lieferwagen mit den Paketen, die er zu überbringen hatte, wunderte sich, daß ihn bisher noch niemand angesprochen hatte, dann aber sah er gleich drei Abteilungsleiter auf sich zukommen, nämlich den vom Public-Relations-Büro, den von der Werbung und den vom Handel. »Halt!« sagten sie zu ihm. »Alles wieder ausladen, auf der Stelle!« Da haben wir die Bescherung, dachte Marcovaldo und glaubte sich bereits entlassen.
»Rasch! Die Pakete müssen ausgetauscht werden!« sagten die Abteilungsleiter. »Die Industrievereinigung zur Förderung der Weihnachtsverkäufe hat eine Kampagne gestartet für das destruktive Geschenk!« »Und so plötzlich…«, meinte einer von ihnen. »Das hätten sie sich auch wirklich eher einfallen lassen können…« »Es war eine ganz unvorhergesehene Entdeckung des Präsidenten«, erklärte ein anderer. »Anscheinend hat sein kleiner Sohn ganz supermoderne Geschenkartikel bekommen, japanische, glaube ich, und dabei machte man die Beobachtung, daß er sich zum erstenmal wirklich amüsierte…« »Und was noch wichtiger ist«, fügte der dritte hinzu, »diese destruktiven Geschenke dienen dazu, Artikel jeder Art zu zerstören: genau das, was wir brauchen, um den Konsum zu beschleunigen und den Markt neu zu beleben… Alles in kürzester Zeit und in Reichweite eines Kindes… Der Präsident der Vereinigung hat neue Horizonte gesehen und schwebt im siebenten Himmel der Begeisterung…« »Aber«, wagte Marcovaldo ganz schüchtern zu fragen, »hat dieser Junge denn so viel Schaden angerichtet?« »Jede auch nur annähernde Kalkulation ist natürlich schwierig, da das Haus abgebrannt ist…« Marcovaldo kehrte auf die Straße zurück, die so hell erleuchtet war, als sei bereits Nacht, die belebt war von Müttern und Kindern und Onkeln und Großeltern und Paketen und Ballons und Schaukelpferden und Weihnachtsbäumen und Weihnachtsmännern und Hühnern und Puten und Stollen und Flaschen und Dudelsackpfeifern und Schornsteinfegern und Maronenverkäuferinnen, die ganze Pfannen voll Kastanien auf dem brennenden schwarzen Öfchen in die Höhe springen ließen.
Und die Stadt wirkte kleiner, eingeschlossen in ein leuchtendes Gefäß, begraben im dunklen Herzen eines Waldes, zwischen den hundertjährigen Stämmen der Kastanienbäume, unter einer unendlichen Schneedecke. Irgendwoher aus dem Dunkel hörte man das Heulen eines Wolfs; die Häschen hatten eine im Schnee vergrabene Höhle, im warmen roten Erdreich unter einer Schicht von Kastanien. Ein weißes Häschen kam herausgelaufen, wackelte mit den Ohren, lief dahin unter dem Mond, aber es war weiß, und man sah es nicht, so als ob es nicht da wäre. Nur seine Pfötchen hinterließen einen leichten Abdruck auf dem Schnee, wie die Blättchen eines Kleeblatts. Auch den Wolf sah man nicht, weil er schwarz war und in der schwarzen Finsternis des Waldes stand. Nur wenn er das Maul öffnete, sah man die spitzen weißen Zähne. Es gab eine Linie, an der der ganz schwarze Wald aufhörte und der ganz weiße Schnee begann. Das Häschen lief hierhin und der Wolf dahin. Der Wolf sah die Spuren des Häschen im Schnee und folgte ihnen, blieb aber immer im Dunkeln, um nicht gesehen zu werden. Dort, wo die Spuren aufhörten, mußte das Häschen sein, und der Wolf trat aus der Schwärze hervor, sperrte den roten Rachen auf, ließ die spitzen Zähne sehen und schnappte nach dem Wind. Das Häschen war ein bißchen weiter weg, unsichtbar, es kratzte sich mit der Pfote am Ohr und sprang hakenschlagend davon. Ist es da? Ist es dort? Ist es ein bißchen weiter weg? Man sah einzig und allein die Schneefläche, so weiß wie diese Seite.
Bibliographische Hinweise
HERMAN BANG (1857-1912) Ein Weihnachtsabend in der Fremde Aus: Nordische Weihnacht. Herausgegeben von Sven Danielson. © Arche Verlag AG, Raabe + Vitali, Zürich 1970, 1986. BOŽENA BENEŠOVÁ (1820-1862) Der Zigeunerprinz Aus: Tschechische Erzähler. Herausgegeben und aus dem Tschechischen übersetzt von Rolf Ulbrich. © Sammlung Dieterich Verlagsgesellschaft mbH, Leipzig 1958, 1992. WILLIAM BOYD (1952) Das nächste Schiff von Duala Aus: On the Yankee Station and Other Stories. Aus dem Englischen von Michael Hofmann. © Hamish Hamilton, London 1982. ©der Übersetzung: R. Piper GmbH&Co. KG, München 1993. WILLIAM S. BURROUGHS (1914) Das Weihnachtsfest des Fixers Aus: Interzone. Aus dem Amerikanischen von Dirk Muelder. © Limes Verlag, in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 1991. ITALO CALVINO (1923-1985) Die Kinder des Weihnachtsmannes
Aus: Marcovaldo oder Die Jahreszeiten in der Stadt. Aus dem Italienischen von Heinz Riedt. © Carl Hanser Verlag, München, Wien 1988. TRUMAN CAPOTE (1924-1984) Eine Weihnachtserinnerung Aus: Weihnachten. Herausgegeben von G. Natalis. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack. © Limes Verlag, in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 1967. MIGUEL DELIBES (1920) »Und jetzt? Haben wir jetzt Weihnachtsstimmung oder nicht?« Aus: Spanische Weihnacht. Aus dem Spanischen von Erna Brandenberger. © Arche Verlag AG, Raabe + Vitali, Zürich 1973. LOUISE ERDRICH (1954) Ich verrückter Hund beiß mich selbst, um mich zu trösten Aus: Neue Rundschau 103. Jahrgang Heftl, 1992. Aus dem Amerikanischen von Karen Nölle-Fischer. © Louise Erdrich. © der Übersetzung: Karen Nölle-Fischer, Hamburg. WILLIAM FAULKNER (1897-1962) Das wäre fein! Aus: Eine Rose für Emily. Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack. © Fretz und Wasmuth Verlag, Zürich 1964. MAXIM GORKI (1868-1936) Weihnachtsphantome
Aus: Russische Weihnacht. Herausgegeben von Alexander Simon. Aus dem Russischen von Ursula von Wiese. © Arche Verlag AG, Raabe 4, Vitali, Zürich 1965. GRAHAM GREENE (1904-1991) Ein Besuch bei Morin Aus: Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Walter Puchwein. © Paul Zsolnay Verlag Gesellschaft m. b. H. Wien/Hamburg 1977. PIERRE GRIPARI (1925-1990) Wer sind Sie, Herr Weihnachtsmann? Aus: Göttliche und andere Lügengeschichten. Aus dem Französischen von Cornelia Langendorf. © Matthes & Seitz Verlag, München 1992. CHRISTOPHER HOPE (1944) Meine gute Fee Aus: Neue Rundschau 103. Jahrgang Heftl, 1992. Aus dem Englischen von Dagmar Leupold. © Christopher Hope. © der Übersetzung: Dagmar Leupold, Eglharting 1992. JOHN MCGAHERN (1924) Weihnachten Aus: Collected Stories. Aus dem Englischen von Michael Hofmann. © John McGahern, 1992. © der Übersetzung: R. Piper GmbH & Co. KG, München 1993.
FRANK MOORHOUSE (1938) Aus einem Buschtagebuch: Trekking in den Heartlands mit der falschen Person an Weihnachten Aus: Contemporary Australian Short Stories. Herausgegeben von Murray Bail. Aus dem Englischen von Michael Hof mann. © Penguin Books Australia, 1987. © der Übersetzung: R. Piper GmbH & Co. KG, München 1993. VLADIMIR NABOKOV (1899-1977) Weihnachten Aus: Erzählungen I (1921-1934). Aus dem Englischen von Jochen Neuberger. © Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek 1989. SEAN O’FAOLAIN (1900) Ein feines Pärchen Aus: Lügner und Liebhaber. Ausgewählte Erzählungen. Aus dem Englischen von Elisabeth Schnack. © Diogenes Verlag AG, Zürich 1989. GRACE PALEY (1922) Die laute Stimme Aus: Fleischvögel. Aus dem Amerikanischen von Hanna Muschg. © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1971. MICHAIL SOSCHTSCHENKO (1895-1958) Eine Weihnachtsgeschichte Aus dem Russischen von Holt Meyer. © Michail Soschtschenko. © der Übersetzung: R. Piper GmbH & Co. KG, München 1993.
MICHEL TOURNIER (1924) Ein kleines Kind im Stroh Aus: Das Liebesmahl. Novellen einer Nacht. Aus dem Französischen von Hellmut Waller. © Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1990. FEDERIGO TOZZI (1883-1920) Das Weihnachtsschwein Aus: Eine Geliebte. Erzählungen. Mit einem Nachwort von Johannes Hösle. Aus dem Italienischen von Moshe Kahn. © R. Piper GmbH & Co. KG, München 1990.