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Mitder Annahmeeiner Dissertationbeabsichtigtdie Rechtswissenschaftliche Fakultatder Universitat Freiburgnicht, zu den darin enthaltenen wissenschaftlichenMeinungen des Verfassers Stellung zu nehmen (Fakultatsratsbeschluss vom 1.Iuli 1916).
David R. Wenger
Idealismus und Recht Gerechtigkeit, Berechenbarkeit und Rhetorik
Dissertation zur Erlangung der Wiirde eines Doktors beider Rechte, vorgelegt der Rechtswissenschaftlichen Fakultat der Universitat Freiburg in der Schweiz von David R. Wenger. Genehmigt von der Rechtswissenschaftlichen Fakultat der Universitat Freiburg am 24. April 2009 auf Antrag von Herrn Professor Dr. Marcel Alexander Niggli (erster Referent) und Herrn Professor Dr. Marc Amstutz (zweiter Referent).
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David R. Wenger Olten, Schweiz
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Satz: lung Crossmedia Publishing GmbH, 35633 Lahnau , Deutschland Druck: Strauss GmbH, 69509 Morlenbach, Deutschland
Gedruckt auf saurefreiern, chlorfrei gebleichtem Papier - TCF SPIN: 12993604
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet uber http://dnb.d-nb.deabrufbar.
ISBN 978-3-7091-0189-6 SpringerWienNewYork
"N ichts wird auf Stein gebaut, alles blof auf Sand. Doch unsere Pflicht ist es zu bauen, als war aus Stein der Sand."
Jorge Luis Borges "Modern heiflt, mit sich selbst im Widerspruch zu leben, ohne ihn aufheben zu rniissen,"
Hartmut Bobme
Dank An der Entstehung einer so1chen Arbeit ist man nie ganz alleine beteiligt, Nicht dass andere anstelle des Verfassers in die Tasten gegriffen hatten, Es genugten ihre schriftlich und rmindlich geausserren Ansichten, Motivationen und ihre Kritik, wofiir ich meinen akademischen Begleitern zu Dank verpflichtet bin . In diesen Dank sei allerdings die Bitte urn Nachsicht eingeschlossen, wenn sich der Adressat bei manchen Empfehlungen als unfolgsam erwiesen hat. Vieles entsteht im Widerstand. In diesem Sinne rnochte ich folgenden Personen meinen besonderen Dank aussprechen: Zunachst meinem Doktorvater Prof. Dr. Marcel Alexander Niggli fiir die zahlreichen Freiheiten, welche er mir bei der Abfassung der Dissertation gewahrt hat. Ebenso Herrn Prof. Dr. Marc Amstutz fur die Ubernahme des Zweitgutachtens und viele anregende Gesprache, Im Weiteren danke ich den Doctores Andreas Abegg, Fabian Steinhauer und Vaios Karavas; Herrn Dr. Tudor Pop fur die An schaffung etlicher Bucher in der juristischen Bibliothek sowie den Vertretern des Schweizerischen Nationalfonds fur das gewahrte Stipendium zugunsten eines wertvollen Aufenthaltes an der Johann Wolfgang Goethe-Universitat und am Max Planck-Instirut fUr europaische Rechtsgeschichte in Frankfurt am Main, wo sich mir vielfache Gelegenheit zum Austausch mit geistreichen Akteuren der Rechtsgrundlagenforschung bot. Ebenfalls mochte ich Herrn Dr. Otto Kammerlander fiir die Aufnahme meiner Arbeit in das Programm des Springer-Verlages danken. Schliefslich richte ich einen herzlichen Dank an meine Mutter, die mich wahrend der vergangenen Jahre stets unterstiitzt hat. Der groBte Dank geht an meine Frau, Dr. Olivia van Caillie. Ihr sei dieses Buch gewidmet. Olten, im Dezember 2009.
VII
Inhaltsverzeichnis Ausblick .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
Teilt Schicksaltdealismus § 1 Grenzwissen und Denkgrenzen: Der unrnoqllche Griffnach dem
Ganzen
3
I. Die Mauern sind unterwegs II. Wahrnehmung als differenzierte Besetzung III . Wahrheit auf der Flucht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3 5 8
§ 2 Vom Ding an sich, seinen Symbolen undder Kausalltst
13
I. II. III . IV. V.
13 15 18 21 26
Das Spiel des Spieles mit sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begreifen durch Entfremden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D enken heilh Zusammenhangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Welt als Wille und Vorstellung Sinn und Zeit
Teilll Fiktion und Recht
31
§ 3 Komposition und Auffiihrung derWahrheit
33
I. Formmag ie im Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Einbildung: Ethos und Pathos des Als-Ob . . . . . III . Zur Funktion der Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Derfreie WillelWilde im zivilisierenden Recht 2. Tanzend zur Selbstverfassung . . . . . . . . . . . .
..... ..... ..... .....
34 38 41 41 45
§ 4 Ober das Wunschbild derGerechtigkeit unddas Trugbild derGleichheit
49
I.
.... ....
49 49 52 59
.... ....
71 71
II.
.. .. .. .. ..
. . . . .
.... .... .... .... ....
. . . . .
. . . . .
. . . . .
.. .. .. .. ..
... ... ... ... ...
Vergleichungs- und Angleichungsdynamiken in Politik und Recht . . . . 1. Politische Steuerung 2. Entscheiden unter Gleichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die rhetorischen Regeln der Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Polykontexturale Rechtsverwirklichung: eine contradictio in adiecto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Gotthard Giinthers Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
....
IX
Inhaltsverzeichnis 2. Entscheidnotwendige Zweiwertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sichtbare Gleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grenzen einer dynamisierten und ausdifferenzierten Dogmatik III . Rechtsumwertungen und das MaB der Gerechtigkeit . . . . . . . . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
76 80 82 86
§ 5 Gerechtigkeit: Eine Frage der Begriindung?
93
I. II.
93 97
Urteilsrhetorik und simulierte Polykontexturalitat Die begrenzten Unmoglichkeiten vieldeutigen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . .
§ 6 Zwischen Explikation undOberzeugung: zur rhetorischen Verfassung
der Offentlichkeit
I. II . III. IV.
Symbolische Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Begriindungsfalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rhetorik als Supplement des Rechts Die Einheit der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erwartungssicherheit durch Widerspruchslosigkeit 2. Invisibil isierung der Inkonsistenz durch Sachverhaltstrelkonstruktion
... ... ... ...
101 101 104 106 112 112 115
§ 7 Von der Berechenbarkeit zur Verrechenbarkeit
120
I.
Was leistet die Leistungsgesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kriterienkontingenz 2. Von der Qualitat zur Quantitat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II . Standardisierung . .. ............ .. . . ... . . ... . . ... . .. ...... .. III. Konfliktverrechnung?
120 120 122 127 129
§ 8 Schlussfolgerungen
132
Das Recht zwischen Konfliktentfremdung, Dezision und Konfliktprovokation II . Vom Recht da oben .......................
132 137
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkiirzungsverzeichnis
141 163
1.
x
Ausblick "Die Sprache spielt nur mit sich selbst. Ihre reine Form ist das Schwatzen. Wenn man ihren inneren Moglichkeiten gehorcht, und nur so, erzeugt man grofle Gedanken." Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 994 f.
Worte sind Schall und Rauch, sagt ein Sprichwort. Wenn dem so ware, eriibrigte sich nicht nur diese Arbeit. Sie kann - wie alles Schreiben und Sagen nur dann einen Sinn haben, wenn Worte in ihrem Zusammenspiel eine Welt herzustellen verrnogen, die wir uns vorstellen und uns gegenseitig darstellen konnen. Aber wer sagt denn, dass die Worte auch fur etwas Reales stehen miissen? Wie konnen wir sicher sein, dass sie nicht vielmehr eine ganzl ich eigene Welt erzeugen? Sicher: Wo Rauch ist, muss auch ein Feuer sein und wo es schallt, ist etwas geschehen. Doch auf welche Art Feuer lassen die konkreten Rauchschwaden und der eigentiimliche Geruch schliellen? Mengen sich ersteren nicht auch die Feuchte des Nebels oder Saharastaub bei? Und wann trifft unsere Nase schon auf einen reinen Duft? Ganz zu schweigen von den Spielen, welche das Analogie schaffende Bewusstsein mit unseren Sinneseindriicken treibt , Auch wenn Worte - wie George Steiner diagnostiziert - sowohl vergangene als auch gegenwartige und zukunftige Welten erschaffen konnen, fur die es keinerlei Belege gibt! - wir kennen die rhetorischen Flunkereien aus dem eigenen Alltag - : Sinn miissen sie erzeugen, sonst hat das Dasein, das Schreiben und Reden, keinen Sinn. Nicht erst im Ernstfall miissen wir uns erklaren konnen; zumal in einer Welt, in der viel weniger als auch schon selbstverstandlich genannt werden kann. Indem wir mit Worten arbeiten, arbeiten wir mit Sym-
Vgl. Steiner, Warum Denken traurig macht, S.35 et passim; ,,[a]us der Annahme, dass Kommunikation ein basal-selbstreferentieller Prozes s ist, [. ..] folgt [fur Luhmann, Soziale Systeme, S. 199 f.] systemtheoretisch: dass es fur Kommunikation kein entsprecbendes Um weltkorrelat geben kann," Nanirlich bleibt aile Kommunikation von Umwelt abhangig, indem sie direkt oder indirekt auf diese verweist . "Ein Kommunikationssystem ist deshalb nie autark, es kann aber durch eigene Konditionierung kommunikativer Synthesen Autonomie gewinnen ." Ebd ., S. 200.
XI
Ausblick
bolen und Symbole wollen fur erwas stehen. Ob sie es tun, ob sie fur erwas da draufsen stehen, es adaquat wiedergeben konnen, ist nicht selten eine Frage gelingender Behauptung. Von Seiten der allgemeinen an die Adresse der konkreten Gemeinschaftsgestaltung (also von der Politik an das Recht) werden seit zwei Jahrhunderten regelmaliig Worte wie Gerechtigkeit und Gleichheit in Auftrag gegeben; Schall und Rauch, wenn man sich der Begleiterscheinungen ihrer revolutionaren Umsetzungsinstrumente - Kanonenfeuer und Kriegsgeschrei - erinnert. Schall und Rauch aber auch angesichts der (vergleichsweise zivilisierten) politischen Debatten und parlamentarischen Redeschlachten, ihrer oft unbefriedigenden Zufallsentscheide und eigentlichen Sinnlosigkeit in Bezug auf die Fhichtigkeit, die Ungreifbarkeit bzw. Verwirklichungsrenitenz jener Phanomene, fur welche die Worte Gleichheit und Gerechtigkeit herhalten miissen, Gibt es sie uberhaupt, hat es sie je gegeben? Oder werden sie stets bleiben, was sie immer schon waren: "paroles, paroles" (wie im gleichnamigen Chanson Dalidas) Schall und Rauch eben? Phantome, Hirngespinste? Ihre stete Begriffsflucht, ihr Realisierungs- bzw. Materialisierungsversagen erweist sie als Kontingenzformeln, als rhetorische Figuren des Idealismus. Es sind Fiktionen, Utopien, die nicht erfiillen konnen, was sie versprechen und deshalb den rechtspolitischen Betrieb konstant unter Druck halten und beharrlich vor sich her treiben. Die vorliegende Arbeit will in ihrem ersten Teil in Erinnerung rufen, wie stark alles Leben idealistisch iiberformt ist, wie sehr der Lebensbezug anhand stets einseitiger und damit verzerrender, unzureichender Standardisierungen erfolgt, was mit und nach Hegel aber systematisch - urn nicht zu sagen : systemisch - verschleiert worden ist, Die Philosophie des "AIs ob" Hans Vaihingers beschaftigt sich am Ende des langen Jahrhunderts ebenso mit dem Phanomen wie Niklas Luhmanns diesbezuglich einleuchtende Systemtheorie es in jiingerer Zeit tut. Dber des letzten von ihm selbst verschwiegene Nahe zu Hegel wird am Rande auch die Rede sein. Inwiefern und warum sich Recht und Politik der Fiktionen - begrifflich zugedeckter Illusionskunst bzw. an Kornplexitat stark reduzierter und letztlich neu komponierter, kiinstlicher Lebenszugange - bedienen miissen, wird anhand konkreter Beispiele im zweiten Teil, v. a. in den §§3 und 4 I, untersucht, Den Fiktionen kommt paradoxerweise die Aufgabe zu, Gesellschaft fur sich selbst berechenbar zu machen. Es ist ihre systemische Simulationsleistung, welche den Glauben an die Machbarkeit beflugelt, D iesen (auto)po(i)etischen Charakter von Politik und Recht, der weitgehend rhetorisch erzeugt wird, gilt es zu demaskieren, urn zugleich dessen kognitive U numganglichkeit aufzuzeigen. Idealismus bleibt das Schicksal. Sowohl darstellungs- als auch vorstellungstechnisch dient das Recht der Berechenbarkeit einer Gesellschaft. Ein sich unablassig und bei jeder Gelegenheit weiter entfaltendes, eigenwilliges Recht verspielt diese zentrale Rolle . Hiergegen ware mit Carl Schmitt der darstellungstechnisch notwendige "Aufhalter" ("Katechon") einer ungebremsten Ausdifferenzierung in Anschlag zu XII
Ausblick
bringen. Er steht fur "ein feste Burg . . ." gegen das Diabolische - die unab sehbaren Folgen eines nicht mehr kaschierbaren, zunehmend offenkundigen permanenten Aufbruchs der jeweils bestehenden O rdnungen. Diese zwecks Erhalts des Rechts als eines imaginierbaren Systems notwendige Ausdifferenzierungsbremse wird durch das von jiingeren Rechtswissenschaftlern bei Gotthard Giinrher abgekupferte Konzept der Polykontexturalitat in Frage gestellt, Wir befinden uns im Spannungsfeld zwischen Gerechtigkeit und Berechenbarkeit und erkennen in der letzten eine unabdingbare Fiktion des Rechts, wahrend erstere dieselbe Funktion fiir die Politik erfullt, Gerechtigkeit kann im Rechtsbetrieb nur in Gestalt eines erwartbaren Kalkiils bestehen. Die im Grunde politische Idee eines gerechten bzw. "polykontexturalen" Rechts vernachlassigt die erwahnte Aufgabe des Rechtssystems, welche in der Vorstellung von Berechenbarkeit besteht, Diese Kontroverse wird in § 4 II und III ausfiihrlich entfaltet. Neben der Imagination von Berechenbarkeit steht auch diejenige einer Verrechenbarkeit, d. h. einer Auflosung von Konflikten. Ob das Recht - jenseits der blolien Entscheidung von Konflikten - auch eine solche Aufgabe meistern kann, oder ob es dabei nicht vielmehr auf Abwege gerat, und ob die zunehmende Quantifizierung des Rechts nicht ohnehin eine Genauigkeit vorgaukelt, die es gar nicht gibt, soIl neben anderem in § 7 erortert werden. Konflikte jedenfalls sind das eigentliche Gegenstiick des Rechts, dessen Operationsgegenstand oder besser gesagt: Nahrungsmittel schlechthin. Ohne Konflikte kein Recht. Gabe es sie nicht, man miisste sie erfinden. Nicht selten spielen auch Juristen eine nicht zu unterschatzende Rolle bei der Herstellung ihres "Futters". Berechenbarkeit ist eine rhetorisch-idealistische Inszenierung des Rechtsbetriebs (vgl. dazu nur § 4 I 3 iiber den Regelbegriff), wie iiberhaupt Rhetorik mittels der grundsatzlich zwingenden Begriindung aller Rechtsanwendungs- und Rechtsprechungsakte - aber zunehmend auch aller anderen menschlichen Handlungen oder Nichthandlungen - ein unverzichtbares Supplement geworden ist, Hieriiber soll in den §§ 5 und 6 berichtet werden.
XIII
Teill Schicksalldealismus "Ich danke der idealistischen Philosophie, dass sie mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheurer Gewinn ; sie kommt aber nie zum Objekt, dieses miissen wir so gut, wie der gemeine Menschenverstand zugeben , urn am unwandelbaren Verhaltnis zu ihm die Freude des Lebens zu geniefsen." Goethe, 1. Brief an Schultz vom 18.9.1831, S. 450. "D ie Wissenschaft, richtig verstanden, heilt den Menschen von seinem Stolz; denn sie zeigt ihm seine Grenzen." Albert Schweitzer
§ 1 Grenzwissen und Denkgrenzen: Der unrnoqliche Griff nach dem Ganzen I. Die Mauern sind unterwegs Erkenntnis wird durch Raum und Zeit sowohl begrenzt als auch ermoglicht, In diesen Kategorien lasst sich dasjenige, was wir erfahren, derart vergegenstandlichen, dass man es erfassen, beschreiben und dariiber reden kann. Sie entsprechen einer Matrix, die iib er Sein oder Nichtsein entscheidet: Es ist, was sich in den Anschauungsformen Raum und Zeit beschreiben lasst und es ist nicht, was in ihnen nicht zur Welt komrnt. Sie sind notwendige Vorstellungen, das hei6t: jeder Erkenntnis vor(an)gestellt und als soIehe transzendental: "Prinzipien der Erkenntnis a priori't .! Was uns durch sie zur Anschauung kommt, erlangt den Status der Erkenntnis erst damit, dass der Verstand die Erscheinungen konkret verort et. Dies tut er im Rahmen von Raum und Zeit, indem er die verschiedenen sinnlichen Eindriicke in die raumzeitlichen Dimensionen iibersetzt und dort untereinander zu Geschichten verkniipft.' Was als Gegenwart ausgegeben wird, ist immer ein selektiver Zusammenzug von Vergangenheit und Zukunft (dazu sparer). Auch der Raum - wiewohl ein einziger - kann in seiner Totalitat genauso wenig erfasst werden; will man in ihm nicht verloren gehen, muss dem Raum dahingehend Ordnung und Einteilung widerfahren, dass er zur Beschreibung der Dinge in G estalt ihrer Verhaltnisse zueinander dient, "[D]as Mannigfaltige in ihm, mithin auch der allgemeine Begriff von Raumen iib erhaupt, beruht lediglich auf Einschrankungen. "4 So ist eben "die blofse Form der au6eren sinnlichen Anschauung, der Raum, noch gar keine Erkenntnis; er gibt nur das Mannigfaltige der Anschauung a priori 2 Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 1, A 22, S. 96. 3 Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 26, B 164, S. 202: "Als blofse Vorstellungen aber stehen sie [die Er scheinungen, D .W.] unter gar keinem Gesetze der Verkn iipfung, als demjenigen, welches das verkniipfende Verrnogen vorschreibt, Nun ist das, was das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung verknupft, Einbildungskraft, die vorn Verstande der Einheit ihrer intellektuellen Synthesis und von der Sinnlichkeit der Mannigfaltigkeit der Apprehension nach abhangt." 4 Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 2, A 25, S. 99.
3
Grenzwissen und Denkgrenzen: Der unmoqllche Griff nach dem Ganzen
zu einem moglichen Erkenntnis. Urn aber irgend erwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muss ich sie ziehen, und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so, dass die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewusstseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Objekt (ein bestimmter Raum) erkannt
wird.""
Urn die Welt und in ihr auch sich selbst - oder auch: sich selbst und darin die Welt - begreifen zu konnen, verlegt der Verstand in ihr Linien, Abgrenzungen, fabriziert Einkreisungen und Ausschlieliungen." Indem er uns dergestalt iiberhaupt und erst die Welt erschlielit, ist der Geist allein das Wirkliche (Hegel). Er ist wirklich aber nur insofern, als er die Welt dabei nicht ein fiir allemal im Dogma einschlielit, sich vielmehr stets selbst neu erzeugt, in ungebrochener Bewegung bleibt, seine Gegenstande und sich an ihnen reflektiert, feste Positionen an sich selbst negiert,? Einordnung und Selbstverortung verwirklichen die Welt immer wieder aufs Neue. Kulturen sind demnach Raum-Zeit-Inseln, die sich - moglicherweise schneller als auch schon - selbst verandern: Ahnlich wie bei dem vom Geist bewegten Subjekt brechen deren Rander weg; die das Eigene (die Mitte) schiitzende Isolierung qua Insulierung nimmt dadurch unwiderruflich Schaden. Das Innen wird durch sein Au6en definiert, Der Inhalt einer Raum-Zeit-Insel gewinnt seine Einheit und Bedeutung aus der Negation des Anderen; ohne seine gleichgerichteten Abgrenzungen flie6t er aus. Die Einheit verwirkt ihre Bedeutung im Verlust einheitlicher, stabiler Grenzen." 1m "Verlust der Peripherie" zeigt sich die "immunologische Katastrophe der Neuzeit". "Die letzten Grenzen sind nicht mehr, was sie einmal zu sein schienen; der Halt, den sie boten, war eine Illusion, deren Urheber wir seIber sind"," Mit Hermann Hesse ist zu hoffen, dass das Herz an diesen Abschieden gesunden rnoge.' ? Das Subjekt wird in der Moderne zum Fluidum. Als sich entfaltendes Geistwesen unterliegt es dem Prozess der Aufklarung, dessen andere Seite Selbstentfremdung bedeutet.'! "Das Ich fiihlt sich unbehaglich, es sto6t auf Grenzen seiner Macht in seinem eigenen Haus, der Seele. Es tauchen plorzlich Gedanken auf, von denen man nicht wei6, woher sie kommen; man kann auch nichts dazu tun, sie zu vertreiben. Diese fremden Caste scheinen selbst machtiger zu sein als die dem Ich unterworfenen [. . .]."12 Auf diesem 5 Kant, Kritik der reinen Vernunft, § 17, B 137 f., S. 182. 6 Vgl. Kant, Kritikderreinen Vernunft, §24, B 151-157, S.l92ff. 7 Vgl. Hegel, Phanomenologie des Geistes, S. 21 ff. 8 Dazu Derrida, Die differance, S. 121: "D ie Elemente des Bedeutens funktionieren nicht durch die kompakte Kraft von Kernpunkten, sondern durch das Netz von Oppositionen, die sie voneinander unterscheiden und aufeinander beziehen." 9 Sloterdijk, 1m Weltinnenraum des Kapitals, S. 50 f. 10 Vgl. sein Gedicht "Stufen" am Ende . 11 Vgl. Hegel, Phanomenologie des Geistes, S. 264 ff. 12 Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 9. 4
Wahrnehmung als differenzierte Besetzung
Weg bleiben Welt- und Se1bstbeschreibung stets prekar und vorlaufig, Da gerat der Versuch, dem Ganzen eine Form zu geben freilich zum Weltproblem par excellence: gerade weil sich die Humanitas fabra l 3 des Denkens und damit der Form als U nterscheidung bedienen muss und nicht einfach anschauen karin." Wenn also, nach Hegel, erst das Ganze das Wahre ist," haben wir das Ganze und damit das Wahre doch nie im Griff.
II. Wahrnehmung als differenzierte Besetzung Wie Luhmann in Anlehnung an George Spencer Brown fiir altere, man konnte generell sagen: traditionale Gesellschaften festhalt, dass diese immer einen anerkannten, vertrauten - von einem quasi tabuisierten, unvertrauten Bereich ihrer Welt unterschieden hatren'" und auch nur die eine Seite der Form qua Unterscheidung beobachten wollten - die andere, unvertraute Seite allenfalls iiber die Symbolisierung einze1ner ihrer Elemente im Vertrauten (als re-entry) tolerierten, konnte man zum Verstandnis des Ganzen heute wie damals nur iiber eine Symbolisierung der Welt in der Welt und nicht nur des Unvertrauten im Vertrauten gelangen." Es stellt sich namlich die Frage, wie vertraut uns das Vertraute wirklich ist. Sind die gelaufigen, eingeiibren Instrumente der Weltbeschreibung in Bezug auf den durch sie eingebiirgerten, vertraut gemachten Bereich nicht vie1mehr genauso symbolische Form? Mehr dazu gleich. Dass die Universalerkenntnis der Welt nichr ge1ingen kann, gehort zur Paradoxie bzw. zum Problem der Form, die, urn begreifen zu konnen, stets klar umreiBen muss." Zumal begriffliches Begreifen lasst sich nur durch Abgrenzung und Ausscheidung des Unbegriffenen als Unbegreifliches realisieren. Diese Ausscheidung ist so notwendig wie willkiirlich. Was jeder Begriff an Unbegriffenem mitschleppt, das dialektisch stets in seinen beleuchteten, "konsentierten" bzw, von den Begriffsherrschern konzedierten Teil zuriickzukehren -, diesen zu iiberschatten droht, kann nur mit einigem diskursiven Aufwand im Dunke1n gehalten werden.'? Eine je nach Unterdriickungsiiberdruck mehr oder
13 In diesem Zusammenhang lesenswert: Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht, Frankfurt am Main 1984 [EA 1957]. 14 Vgl. Kant, Kritik der rein en Vernunft, § 17, B 138 f., S.183 15 Hegel, Phanomenologie des Geistes, S. 19. 16 "Die Lebensweltdifferenz von vertraut/unvertraut ist und bleibt die alteste, urriimlichste primordiale Differenz, weil sie an jeder eingefuhrten Unterscheidung kondensiert." Luhmann, Die Lebenswelt, S. 186. 17 Luhmann, Die Paradoxie der Form, S. 247 f., 252 (mit zahlreichen Hinweisen auf George Spencer Brown); vgl. auch dens., Familiarity, Confidence, Trust, S. 95. 18 Vgl. Luhmann, Die Paradoxie der Form, S. 252. 19 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 17ff.
5
Grenzwissen und Denkgrenzen: Der unrnoqllcheGriff nachdem Ganzen
weniger iiberwaltigend in Szene zu setzende Einheitsmeinung solI retten, was zu retten ist, Medial konzertierte Emporungs- und Skandalisierungsrhetorik kann beiden Seiten des Begriffs - der markierten oder unmarkierten Seite - zu Hilfe kommen und steht letztlich fiir den semantischen Kampf um die Begriffshoheit. 20 Solches braucht selbstverstandlich nicht nur auf offentlicher Biihne stattzufinden, sondern entspricht dem kommunikativen Alltag auch im Privaten. (Welche Marchen erzahlen wir unseren Kindern? Wie darf/muss der Mann verstehen, was die Frau gesagt/gemeint hat?) 1m Verlauf dieser Dominierungswettbewerbe konnen tabuisierte Zonen entweder verteidigt, mitunter gar befestigt -, oder aber aufgelost bzw. aufgeklart werden, d. h. aus dem verborgenen in den hellen, anerkannten, nunmehr geradezu selbsrverstandlichen Bereich der Begriffe iibertreten. Beide Falle - Tabubewahrung und Aufklarung - stehen aber letztlich fUr denselben, nur methodisch unterschiedlichen Stabilisierungsversuch: Jeder auch potentielle Unruheherd solI entweder durch kollektives Schweigen oder aber einen im Namen der Vernunft gesteuerten, quasi rituellen Diskurs langsam einschlummern und in Vergessenheit geraten;" der allfallige Widerstreit also in einem unhinterfragbar tabuisierten, mithin selbstverstandlichen und insofern verniinftigen, ausdriicklich oder stillschweigend gepflegten allgemeinen (Werte)Konsens - in einer "konsentierten", einheitlichen Dogmatik - zur Ruhe kommen.F Eine derartige Erkenntnisbefestigung ist im Grunde nichts anderes als der Versuch einer Wiederherstellung der Herrschaft des Seins iiber das Denken, da letzteres ohne verniinftige Aufsicht augenscheinlich jede von ihm erhoffte Sicherheit zersetzt. 23 Wer seine Aufmerksamkeit beruflich, quasi aus Berufung, auf das Ganze richtet, dessen Einheit in Eintracht sicherstellen oder iiberhaupt erst herstellen will, arbeitet gerne mit durchdachten Gesamtkonzepten, Systemen und Planen (ob Planwirtschaft oder Zonenplan), deren ausgekliigelte Verfahren andere U msetzungsmoglichkeiren schon aus Ordnungsgriinden ausschlieBen miis-
20 Vgl. Wimmer/Christensen, Praktisch-semantische Probleme, S.40 f.; Christensen/Sokolowski, Naturrecht und menschliche Sprache, S.17: "Semantische Kampfe werden nicht urn die Richtigkeir des Sprachgebrauchs gefiihrt, sondern darum, den eigenen Sprachgebrauch zum MaBstab der Richtigkeit zu machen. Der ,Streit urn Worte' gilt als ein .Kampf urn Bedeutung' nichts geringerem als den Wortern und Ausdriicken selbst." 21 Fiir Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklarung, S.127 gilt nicht zuletzt die "Unmoglichkeit, aus der Vernunft ein grundsatzliches Argument gegen den Mord vorzubringen" als Nachweis der "Identitiit von Herrschaft und Vernunft", 22 Daran arbeitet letztlich auch die Diskursethik. Vgl. als Beispiel fiir einen haberrnasianisch/-messianisch iiberformten Jargon Mastronardi, Recht und Politik - Systeme oder Diskurse?, S. 352 ff. 23 Auf den Spuren Heideggers Hiirl, Heidegger und die Romer, S.106ff. sowie ders., Romische Machenschaften, S.249 ff.
6
Wahrnehmung als differenzierte Besetzung
sen." Der Riickgriff auf das Argument der in sich stimmigen, durchdachten Idee (Ideen sind Eingebungen und konnen als soiehe nicht Ergebnis denkerischer Entwicklungsarbeit sein) ist der rhetorische Versuch zur Immunisierung eines bestimmten Willens, indem dieser quasi in den Olymp eines unantastbaren Seins gehoben wird. Das Argument der "durchdachten Idee" offenbart die Paradoxie des Absicherungswunsches, da mit der Idee eine (hohere) Eingebung unterstellt wird, die als soiehe eben nicht nur das Ergebnis potentiell fehlgehender denkerischer Entwicklungsarbeit sei, intellektuell aber doch immerhin nachgepriift wurde." Stimmig ist, was abgestimmt ist: Konsens ist oft das Resultat rhetorisch kaschierten Zwangs. Just die Figur der "allgemeinen Vernunft" - die einst fiir die Aufklarung unreflektierten Seins durch das Denken stand - stellt sich bisweilen in den Dienst einer kaum verdeckten Urnkehrung jener folgenreichen Uberwaltigung des Seins durch das beunruhigende, nie zu Ende kommende Denken." Der alles zur Explikation und Rechtfertigung zwingenden Moderne scheint in wachsendem Mage einzuleuchten, dass es eigentlich keine sicheren Standpunkte mehr geben kann. Wie jede Revolution, frisst auch die Aufklarung ihre eigenen Kinder. Das Unterfangen einer argumentativen Absicherung bestimmter Positionen lauft stets Gefahr, dem Gegenteil zuzuarbeiten, denn konkrete Argumente sind immer anfechtbar, Ihre Darlegungen und Erklarungen griinden auf Vorverstandnissen, die lediglich durch theaterreife Uberredungskunst als unbestrittene Erkenntnis der Vernunft selbst ausgegeben werden konnen" - grundsatzlich aber widerspruchsfahig bleiben." Die Macht bzw. der "zwanglose Zwang des
24 Dber das Dilemma politisch -administrativer Planung vgl. Wietholter, Materialization and Proceduralization, S. 232 f. 25 Vgl. auch Heidegger, Platens Lehre, S. 234 ff. 26 "Konsens ist und bleibt eine Konstruktion eines Beobachters, und das gilt umso offensichtlicher, je mehr dieser Konsens im Namen der Vernunft und im Namen der Moral reklamiert wird ." Luhmann, Enttauschungen und Hoffnungen, S. 139; zur Kritik des romischen "rechthaberischen" Wahrheitsbegriffs gegeniiber der griechischen aletheia Heidegger, Parmenides, S.62,76 ff.; siehe auch dens., Platons Lehre, S. 232 f. 27 Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S.22; "Vernunft" bewahrt als Bildung zu "nehmen" bzw. "vernehmen" die Bedeutung des Erfassens bzw, Ergreifens einer Sache und darnit auch des sich an ihr Vergreifens. Vgl. Drosdowski, Duden "Etymologie", S.783 (Vernunft), 482 f. (nehmen). 28 "Ein schwachsinniger Despot kann Sklaven mit eisernen Ketten zwingen; ein wahrer Politiker jedoch bindet sie viel fester durch die Kette ihrer eigenen Idecn; deren erstes Ende macht er an der unveranderlichen Ordnung der Vernunft fest." Foucault, Dberwachen und Strafen, S.131; vgl. auch Heidegger, Parmenides, S.66 ; zur Konstruktion von Vernunft vgl. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft; in den siebziger Jahren erkennt Foucault die Ahnlichkeiten zwischen seiner Vernunftkritik und Horkheimers/Adornos Dialektik der Aufklarung, von welcher er bislang jedoch nie direkt beeinflusst worden war. Dazu Foucault, Der Mensch ist ein Erfahrungstier, S. 80-84.
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Grenzwissen und Denkgrenzen: DerunrnoqlicheGriff nachdem Ganzen
besseren Arguments'S? ist selbst eine rhetorische Figur und hofft darauf, eine bestimmte Meinung quasi denklogisch als gesicherten Standpunkt ausweisen zu konnen und damit in den Zustand der Unbefragtheit und Allgerneingiiltigkeit zu erheben."
III. Wahrheit auf der Flucht "Eigentlich weiB man nur, wenn man wenig weili; mit dem Wissen wachst der ZweifeI."
Goethe"
Wissenschaft ist eine Metapher und steht fur den Traum, die Welt im Begriff dingfest zu machen. Sie ist eine "Anvertrauungsmaschine", die das von ihr wissbar Gemachte von methodisch Unzuganglichern trennt und das Gewonnene schliefslich durch die zustandigen "Maschinisten" in einem verstandlichen System iiberschaubar mit sich selbst arrangiert. Die sichere Verwaltung des vormals Unbeherrschten solI Ungewissheit beseitigen und Vertrauen in dessen Symbole schaffen. Die eigendynamisch fortgeserzte Befragung der Symbole durch das unbremsbare Denken bringt hinter den Symbolen norwendigerweise neue Symbole hervor.-' die im Moment aber nicht als solche erkannt werden, sondern fur echte Aufklarung gelten: dem Heranwachsenden wird der Storch als Symbol fur das Unvertraute im Vertrauten ausgetrieben und durch die Beschreibung des Zeugungs-Schwangerschafts-Geburtsverlaufs ersetzt. Die Klarung der Mechanik hat die Praxis weitgehend befriedigt; theoretisch lassen sich dennoch eine Menge offener Fragen stellen (erwa iiber den Einfluss der Hormone bei der Zeugung). Dem Warum sind keine Grenzen gesetzt, Das Grundmuster der Problematik illustriert die ungebrochene Neuentdeckung immer kleinerer Bausteine der Materie (Atom, Protonen/Neutronen, 29 Habermas, Wahrheitstheorien, S.127, 136, 161; vgI. bereits dens., Strukturwandel der Offentlichkeit, S. 73. 30 Die idealtypische Trennung zwischen blofl strategischem und verstandigungsorientiertern Sprachgebrauch - der echten Kommunikation - (wie sie Habermas, Theorie Bd.1, S. 384 ff. vornimmt) ist ein praktisches Unding; in der kommunikativen Wirklichkeit konnen sie nie klar auseinandergehalten werden, treten vielmehr stets miteinander auf. Ihre Separierbarkeit dennoch zu behaupten, weist auf eine rhetorische Finte und mag (durchaus als unbewusster Selbstbetrug) einer Verschleierung der eigenen Strategien dienen . VgI. auch die Zusammenfassung und Kritik bei Wagner, Gesellschaftstheorie, S. 269 ff., 275 ff., 282 ff., 306. 31 Goethe, Maximen und Reflexionen, S. 771 (Nr.281). 32 Aufgrund der Instabilitat ihrer Elemente differenzieren sich so samtliche Systeme aus. VgI. Luhmann, Wirtschaft, S. 26 mit Bezug auf Wirtschaft und Politik.
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Wahrheit auf der Flucht
Leptonen/Quarks) bzw. das forrwahrende Auffinden stets fernerer Gestirne. Dieses Apeiron (Anaximander) zeigt sich nicht nur empirisch, sondern - analog zum Gegenstand - auch im Beschreibungsapparat. Sowohl numerisch als auch sprachlich gibt es nie genug genaue Exaktheit bzw. Treffsicherheit, wenn man es wirklich und genau wissen will. Zwischen den beliebig gewahlten Zahlen 4082 und 4083 erwa liegen allein schon Welten unendlicher Teilbarkeit, Der Drang nach Gewissheit verspielt diese selbst, wenn er jenen Abgrund ungezahlter Moglichkeiten betritt: Je weiter das Auge reicht, desto expansiver ist der Kosmos und ausdifferenzierter die Materie. Worauf der Blick ruht, ist keine Ruhe. Was er als Mitre festhalten will, ist kein "Mittelwert, sondern im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden .r" Mathernatische Exaktheit gerat im berechnenden Umgang mit der "unprazisen Natur" zur unvollendeten und unabschliefsbaren Annaherung." Auch wenn der Abstand fur einen bestimmten Ma6stab - eine bestimmte Perspektive - stets kleiner zu werden scheint; die Entfernung zur Wahrheit scheint im Verhaltnis zur bewaltigten Annaherung konstant und uniiberwindbar, ahnlich dem Abstand des Achilles zur beriihmren Schildkrote." Angesichts der nach aufsen hin zunehmenden Expansionsgeschwindigkeit des Weltalls (HubbleEffekt), durfte an den Randern stets neuer Platz fur die Materie entstehen, ihrer Ausdifferenzierung somit (im wahrsten Sinn) nichts mehr im Wege stehen. (Da Zentrum und Peripherie immer nur relative Festlegungen sind - was ist innen, was ist au6en? -, profitieren auch wir von diesem "Randphanomen".) Mit jeder Annaherung an eine Sache teilt sich diese in ein Vielfaches an Komponenten, welche sich ihrerseits der Aufmerksamkeit durch ihr Aus33 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 41 f. (Rhizom) . 34 Houston Stewart Chamberlain meint dazu an einer »weltanschaulich" unverdachtigen Stelle S.930 f. bereits 1899: »[Es] beruht bekanntlich unsere ganze moderne Mathematik mit ihren Schwindel erregenden Leistungen auf Rechnungen mit ,unendlich nahen', d. h. also mit ungefahren Werten. Durch diese ,Infinites imalrechnung' ist sozusagen der weite undurchdringliche Wald irrationaler Zahlen, der uns auf Schritt und Tritt hinderte, geWit worden; denn die grosse Mehrzahl der Wurzeln und der bei Winkel- und Kurvenmessungen vorkommenden sogenannten .Funkrionen' gehort hierhin . Ohne diese Einfiihrung der ungefahren Werte waren unsere ganze Astronomie, Geodasie, Physik , Mechanik, sowie sehr bedeutende Teile unserer Industrie unmoglich. Und wie hat man diese Revolution vollfiihrt? Indem man einen nur im Menschenhirn geschniirten Knoten kuhn durchhaute. Gelose harte dieser Knoten nie werden konnen. Hier gerade, auf dem Gebiete der Mathematik, wo alles so durchsichtig und widerspruchslos schien, war der Mensch gar bald an der Grenze der ihm eigenen Gesetzrnassigkeit angelangt; er sah wohl ein, dass die Natur sich urn das menschlich Denkbare und Undenkbare nicht kummert und dass der Denkapparat des stolzen Homo sapiens nicht dazu ausreicht, selbst das Allereinfachste - das Verhaltnis der Grossen zu einander - aufzufassen und auszusprechen [...l-" 35 Vgl. die Paradoxie des Zenon von Elea uber den Laufer und die Schildkrote in Zenon, S. 11 f., 39 ff., 45 ff. und iiber die Widerlegungen ebd., S. 20 ff.
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Grenzwissen und Denkgrenzen: Der unmoqliche Griff nach dem Ganzen
einanderbrechen in weitere Teile entziehen usw. Manch eine leuchtende Einheit entpuppt sich im Teleskop als Nebel oder neue Galaxie, deren Sterne unter sich groBere Distanzen aufweisen konnen als sie in unserem Milchstraliensystern vorkommen." Hat man den Punkt, so hat man - ach ! - ihn schon wieder nicht mehr." Ein vermeintlich Ganzes lost sich auf in seine Teile; und was einmal Teil war, wird erneut zum Ganzen, bis der Versuch seiner Bestimmung wiederum nur Teile hervorbringt usw." Ahnlich betont Nietzsche - in Bezug auf die Unmoglichkeit, Tatsachen ein fur allemal festhalten zu konnen - einen alles relativierenden Perspektivismus.'? Die Realirat lebt langst nur noch mit dem Frageabbruch. Wie musilsche Potentialitatswelten dezisionistisch in die eindimensionale Realitat gebrochen werden, erfahren die unendlichen Prazisierungsversuche ihre faktische Hochrechnung bzw. Auf- oder Abrundung zur ganzen Zahl (4082 oder 4083). Das "Dazwischen" wird zum ratselhaften All, das die wenigen groben Stationen letztlich unendlich klein erscheinen lasst, An diesen Stationen behauptet Wissenschaft (ihrem Gestaltungsauftrag entsprechend) regelmallig das Gegenteil: das Unbegriffene gerate von ihnen aus dernnachst in Griffnahe. Annaherung, die nur gelingt, wenn man ein neues Symbol iiberzeugend zur Wahrheit macht, das mit deren Glanz die unendliche Leere als Weg zu ihr iiberstrahlt,"? den Blick iiber sie hinaus gefangen nimmt. Wie sich Mikro- oder Makrokosmos
36 Vorgreifend und analog muss auch die Rechtsordnung (oder allein schon die Verfassung) eines modernen Staates und namentlich ihre oft beschworene »Einheit" als ein solcherart disharmonisches, heterogenes Konglomerat aus unterschiedlichsten, einander im konkreten Fall ausschl ieBenden bzw. abstoiienden Grundsatzen gesehen werden. Die Idee einer »Einheit der Rechtsordnung" bleibt dann allenfalls ein rhetorisches Argument in den Handen der Vertreter der ranghoheren Teilrechtsordnung (des Verfassungs- bzw. Volkerrechts) zur MaBregelung rechtshierarchisch tiefer liegender Bereiche, etwa des Straf- oder Privatrechts, Zur Problernatik ausfiihrl ich Felix, Einhe it der Rechtsordnung, vgl. nur S. 398. 37 »Waru m kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen! / Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr," Schiller/Goethe, Tabulae votivae, S. 313. 38 Vgl. etwa Hegel, Enzyklopadie § 136, S. 160: »Das Verhaltnif des Gan zen und der Theile ist das unmittelbare, daher das gedankenlose Verhaltnif und Umschlagen der Identitatmit-sich in die Verschiedenheit. Es wird vom Ganzen zu den Theilen und von den Theilen zum Ganzen ubergegangen, und in einem der Gegensatz gegen das andere vergessen , indem jedes fur sich das einemal das Ganze, das anderemal die Theile als selbstandige Existenz genommen wird. [.. .J Der Progref ins Unendliche, welcher die The ilbarkeit der Materie betrifft, kann sich auch dieses Verh altnisses bedienen, und ist dann die gedankenlose Abwechslung mit den beiden Seiten desselben. Ein Ding wird das einemal als ein Ganzes genommen, dann wird zur Theilbestimmung ubergegangen; diese Bestimmung wird nun vergessen, und was Theil war, als Ganzes betrachtet; dann tritt wieder die Bestimmung des Theils auf u.s.f. ins Unendliche." 39 Vgl. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887 (KSA Bd.12), S. 315. 40 Miisste man so auch die pap stliche En zyklika veritatissplendor von 1993 verstehen?
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Wahrheit auf der Flucht
ins Unenclliche fortsetzen, gibt es wecler eine kleinste noch gro6te Zahl, Um betriebsfihig zu sein, beclarfjecles System cler("konsentierten") Vereinfachung bzw, Vergroberung seiner Umwelt. Analog cler Unscharfe- uncl Annaherungsproblematik bei cler Suche nach cler genauen Zahl, liefert auch die Sprache nur als Vergroberung einen festen Halt. Deleuze/Guattari meinen clazu, man benotige dringend "anexakte Ausdriicke, um erwas exakt zu bezeichnen"; aber eben nicht deshalb, "weil man nur durch Annaherungen weiterkame." Anexaktheit sei gerade keine Annaherung, sondern vielmehr "die Durchgangsstelle dessen, was im Werden ist,"41 In der Tat wechseln auch Begriffe periodisch dasjenige aus, was sie begreifen. Ein Blick in die Wortgeschichte verdeutlicht die Wanderschaft ihrer Semantik, ihre unaufhaltsame Bedeutungsverschiebung." Begriffe sind vielfach zwei- und mehrdeutig, weil sie nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Bedeutung ablegen und eine andere annehmen, sondern fliefsend stets auch Altes - Uraltes bzw. diverse Portionen Mittelalterliches - samt entsprechenden Seitenkontexten als (mehr oclerweniger) schwache Hintergrunclstrahlung mitschleppen. Sie sind deshalb immer ungenau, haben einen unfixierbaren BedeutungsuberschUSS. 43 Nietzsche meint zur Begriffsbildung: "UJedes Wort wird sofort dadurch zum Begriff, dass es eben nicht fiir das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebniss, dem es sein Entstehen verdankt, erwa als Erinnerung clienen soIl, sondern zugleich fur zahllose, mehr oder weniger ahnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Falle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. "44 Was wir also sehen oder mit Vokabeln genau bezeichnen (wortlich: herbeirufen, vocare) zu konnen meinen, sind demnach immer nur momentane Stopps, Spuren einer langen etymologischen Reise cler Worte , sind kiinstlich trockengelegte Inseln in einem weiten, undurchsichtigen und sumpfigen Morast. Begriffsinseln, de41 Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus, S. 35 (Rhizom); vgl. auch Blumenberg, Unbegrifflichkeit, S. 12; Friedrich Muller, Textarbeit, Rechtsarbeit, S.20 meint in Bezug auf das Recht: "Der Normtext erscheint, realistisch, als Durchzugsgebiet fur verschiedene, fur einander widersprechende, fur miteinander konkurrierende Interpretationsvarianten." Vgl. auch Muller/Christensen, Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre, S. 74. 42 1m Unterschied zur vergleichsweise stabilen Aristokratie, welche ihr Vokabular und dessen Bedeutung kaum veranderte, tendieren scheinbar vor allern Demokrat ien dazu, Begriffe (bestimmter Klassen, Parteien oder Berufe) fur neue Zwecke zu moderieren oder neu zu besetzen. So Tocqueville, De la democratic en Amerique, S. 576, 578 f. (II, I, XVI). 43 Zum Begriff dito Deleuze/Guattari, Was ist Philosophie?, S. 23 ff. "UJeder Begriff [wird] als Koinzidenz-, Kondensations - oder Akkumulation spunkt seiner eigenen Komponenten angesehen werden. Der Begriffspunkt durchlauft unaufhorlich seine Komponenten, steigt unaufhorlich in ihnen auf und ab." (26) "Die Begriffe sind Schwingungszentren [.. .J" (30). 44 Nietzsche, Dber Wahrheit und Luge, S. 879 f.
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ren vermeintlich feste Basis gleichfalls immer schon unterspiilt ist (vom Rauschen vergangener oder unterdriickter Sprachspiele), so dass eine Tiefenanalyse (auf der Suche nach dem Begriffsgrund bzw. Begriffshinter- oder Begriffsuntergrund) oft Unerwartetes und vielfach auch Unerwiinschtes zu Tage forderr. Darum: besser zuschiitten und rhetorisch isolieren als den eigenen diinnen Boden durch allzu viel Reflexion zu destabilisieren. Generell gilt mit Wittgenstein: Worte werden begreiflich nur als Elemente bestimmter, je nach Zeit und Ort differierender Sprachspiele."
45 »Wenn sich die 5prachspiele andern, andern sich die Begriffe, und mit den Begriffen die Bedeutungen der Waner." Wittgen stein, Dber Gewissheit, 5.132 (§ 65); zum 5prachspiel vgl. auch dens., Philosophische Untersuchungen, 5.241 (§ 7) sowie dens., Eine philosophische Betrachtung, 5. 121.
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§ 2 Vom Ding an sieh, seinen Symbolen und der Kausalitat I. Das Spiel des Spieles mit sich selbst Die Semantik der Aufklarung als Lichtbringerin hat Luziferisches und noch mehr Diabolisches" zur Folge , indem sie unterstellt, opake, obskure Dinge aus der Dunkelheit in die Klarhe it zu befordern, So wiirden ihre Begriffe wenn auch nur bestimmte, abgeschnittene, doch immerhin begriffene Stucke des Ganzen liefern Y Von ihnen konne dann auf eben jenes Ganze geschlossen werden. Bei der Aufklarung des Dunkeln wandern immer nur bestimmte abgeschnittene, eben: begriffene Sriicke (als kompensatorisches Kondensat des obskuren Ganzen) in den "klaren" Bereich des Begriffs," was den unbegriffenen Teil noch mehr verdunkelt, da die insulierten Stucke mit ihrem Resten nicht interagieren konnen, stehen sie mit ihm doch in keinerlei Beziehung. Denn auch das Begreifen des Unbegriffenen reduziert und verformt dieses, indem es ihm qua Ubersetzung in die Welt des Sichtbaren und Lesbaren just eine hierfiir adaquate Form verpasst, damit es dort iiberhaupt greifbar wird. Das Fremde wird "familiarisiert" - mithin Tei! einer Ordnung - und dadurch sich selbst entfremdet, tritt lediglich als symbolische Form in die gemeine Lebenswelt,"? D iese symbolischen Formen stehen fur das Andere, lassen es uns zur Sprache kommen und vermitteln so die Vorstellung, wir hatten es im Griff, indem wir dessen Abbilder gerieren.P Letztere sind Stellvertreter fiir eine Kehrseite, die dadurch keineswegs verstandlicher wiirde, dass man die fur sie gesetzten Zeichen und Symbole, Marken und Etiketten, Ziffern oder Schriften, 46 47 48 49
Gemeint ist ein "Durcheinanderbringen" von gr. dia-ballo: durch einander werfen. Zum Wahn der Enz yklopadien Kiesow, Alphabet (etwa S. 17 ff.). Vgl. dazu Legendres Begriff der desopaquisation: Legendre, Take-Off, S. 117 f. "We can live within a familiar world because we can, using symbols, reintroduce the un familiar into the familiar. We never have to leave the familiar world . It remains our lifeworld: We never cross the boundary: it remains a horizon that moves as we move. But we know in a familiar way about the unfamiliar." Luhmann, Familiarity, Confidence, Trust , S. 95. 50 Vgl. Willke, Symbolische System e,
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VornDing an sich, seinen Syrnbolen und der Kausalitat
Signifikanten, kurz: Namen in ein System bringt, sie also gleichsam in einem bestimmten Spiel mit sich selbst arrangiert.!' Von Ernst Cassirer stammt die Bezeichnung des Menschen als eines "animal syrnbolicum"." Er meinte: "Der Mensch kann der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar gegeniibertreten; er kann sie nicht mehr als direktes Gegeniiber betrachten. Die physische Realitat scheint in dem Mage zuriickzutreten, wie die Symboltatigkeit des Menschen an Raum gewinnt. Stan mit den Dingen hat es der Mensch nun gleichsam standig mit sich selbst zu tun. So sehr hat er sich mit sprachlichen Formen, kiinstlerischen Bildern, mythischen Symbolen oder religiosen Riten umgeben, dass er nichts sehen oder erkennen kann, ohne dass sich dieses artifizielle Medium zwischen ihn und die Wirklichkeit schobe."53 Wie fiir den Nominalismus, stehen die Signifikanten ohne Einfluss auf das Bezeichnete und vice versa. Selbst Analogievermutungen haben das Explikationsfieber der Moderne nicht iiberlebr/" Die Kontextualisierung der Signifikanten untereinander und ihre gegeniiber der Beschreibungsfunktion stets unterbelichtete Beruhigungsrolle arbeiten an deren moglichst iiberraschungslosen, stabilen Beziehung zum Gegenstand. Dass und wie dieser iiberhaupt entgegensteht (also in die Lebenswelt hineindringt) ist Leistung und Strategic des Systems.55 Er selbst ist in der fraglichen Beziehung namlich passiv, ein reines Objekt, und kann auf seine Beschreibung keinen Einfluss nehmen - wie auch die "familiarisierten" Zeichen seine tatsachliche N atur nicht verandern konnen, ihn nur als Abbild seiner selbst zu instrumentalisieren verrnogen." Als "Ding an sich" ist er nicht zu erkennen, da nach Kant "aIle Eigenschaften, die die Anschauung eines Korpers ausmachen, bIos zu seiner Erscheinung gehoren [. . .J". Von den Dingen "kennen [wir] nur ihre Erscheinungen, d. i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren."57 "An sich" widerfahren sie allenfalls negativ, wenn sie kurz in Wahrheit passieren und ihre Symbole Liigen strafen, die eingeiibte, sedierte Semantik iiberlisten. Aber da waren wir schon fast bei Hegels Dialektik und ihrer Bewegung der Begriffe angekommen, die als Abbilder fiir die objektiven Dinge an sich - quasi auf der Suche nach ihnen - notwendig in ihr Gegenteil umschlagen (dazu gleich). In der Regel arbeitet jedoch das System (schon aus Selbsterhaltungsinteresse) daran, einen solchen Durchbruch aus dem unmar51 Zur Selbstreferenz der Systeme vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 59 f., mit Bezug auf die Wissenschaft S. 395; tiber das Verhaltnis von System und Spiel in Bezug auf das Recht Krawietz, Droit et jeu, S. 218 H. 52 Cassirer, Versuch tiber den Menschen, S. 50. 53 Cassirer, ebd . 54 Vgl. Foucault, D ie Ordnung der Dinge (im Original: Les mots et les chosesl) , S.46 H., 83 H. 55 Vgl. Luhmann, Soziale Systeme, S. 36. 56 Vgl. ebd. zur gegenseitigen Unabhangigkeit von System und Umwelt, 57 Kant, Prolegomena zu einer jeden kiinftigen Metaphysik, S. 253,289.
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Begreifen durch Entfremden
kierten Bereich und die damit verbu ndene unkontrollierbare D ynamisierung der Begriffe zu verhindern. Wir sind mitten im Nominalismus: Indem wir den Dingen Namen geben, werden sie bei uns heimisch, ohne dass wir uns auf sie einlassen miissten noch konnten." Entsprechend hatte Kant auch erkannt, dass nicht wir uns den Dingen, sondern diese sich uns anzupassen hat ten'" bzw. unserer eingeschrankten Wahrnehmung angepasst wiirden. Mit dem stets tieferen Eindringen in das Unbegriffene (Quarks, Weltraum) mehren sich dessen Ratsel und die Fragen. Urn sich das Unvertraute anzuvertrauen, rniissen entweder neue Begriffe geschaffen oder bestehende anders kombiniert und in eine wiederum passende Theoriesprache einge1esen werden. Doch samtliche (zumal wissenschaftliche) Methoden sind immer nur je besondere Spie1e mit dem An verwandelten bzw. bestimmte Spiele des Anverwandelten mit sich selbst,
II. Begreifen durch Entfremden In der Meinung, die Wahrheit zu sehen, sehen wir nur, was uns die jeweilige Methode zu sehen erlaubt, Ein Akt, der seinen Gegenstand nicht in Ruhe Iasst, der ihn als Objekt dem Denken unterwirft und so seinem eigentl ichen Sein entreilit, basiert letztlich auf der von Kant gepragten Einsicht, "dass es die Erkenntnisrichtung ist, die den Erkenntnisgegenstand bestimrnt" .60 D er Irrtum liegt darin, "zu glauben, dass das, was die Wissenschaft durch die Intervention der symbolischen Form konstituiert, immer schon da war, dass es gegeben ist. D ieser Irrtum existiert in allem Wissen, insofern es nur eine Kristallisation der symbolischen Aktivitat ist und sie, einmal konstituiert, vergisst. Es gibt in jedem einmal konstituierten Wissen eine Dimension des Irrtums, die darin besteht, die schopferische Funktion der Wahrheit in ihr er Entstehungsform zu vergessen. " 61 Begreifen funktioniert nur als Entfrernden. 1m zusehends eingespielten Umgang mit jenen Zeichen, Systemen und Begriffen entsteht die Illu58 Der Men sch gab den D ingen laut G enesis ihre Namen; ebend ies, die Namensgebung, ist der eigentlich genet ische bzw, generische Akt, die Schopfung in der Schop fung, ihre AbBildung. Diese Schopfun g in der Schopfung sche int vorerst beherrschbar, ehe sie sich autopoietisch - in ihren Begriffen wied er verselbstandigt, 59 Kant , Kritik der rein en Vernunft, B XVI fL, S. 21 f. 60 Steinhauer, Regel und Fikti on , S. 120 mit Bezu g auf den Fiktionalismu s bei Kelsen. 61 Lacan, D as Seminar, Buch II, S.29 ; dazu auch Nietzsche, Uber Wahrheit und Luge , S. 883 f.: nEr vergisst also die originalen Anschauungsmetaphern als Metaphern und nimmt sie als die Dinge selbst, Nur durch das Vergessen jener pr imiti ven Metap herw elt, nur durch das H art - und Starr-Werden einer urspriinglich in hitzi ger Fhi ssigkeit stromenden Bildmas se, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Men sch sich als Subjekt u nd zwar als kunstlerisch schaff endes Subj ekt vergisst, lebt er mit einiger Ruhe, Sicherheit
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VornDing an sich, seinen Syrnbolen und der Kausalitat
sion, die Welt zu beherrschen, derweil sie uns beherrscht. Adam musste sich die Welt unterwerfen, indem er ihren Dingen Namen gab. Hinter jeder Normalitat stehen begrifflich zugedeckte, eingehiillte Ratse1.62 Hinter jeder Ordnung steht eine verhiillte Unordnung, deren Tarnung die Herrschaft des Denkens iiber das Sein illustriert bzw. simuliert und damit die ontologischen Subversivkrafte ignoriert.P Jede scheinbar beruhigende Antwort ist entweder systernisch-zirkular oder sie generiert weitere Fragen. Das ist das Paradox des Begriindens und stellt die modernen (nicht zuletzt justiziellen) Begriindungsfabriken als Aufklarungsindustrie selbst in Frage. Auf die Frage nach dem Grund einer fur strafbar befundenen Tat, der Motivation des Taters, ware oft kontinuierliches "Entblattern" und Demaskieren moglich, bis angesichts der Leere am Ende jeder Entschleierungskette, besser: angesichts der zirkularen Leere jeder angeblichen Entschleierungskette die Ahnung dammert, dass vielleicht auch in diesem Fall Maske und Person identisch sein miissen; miissen, denn wie bzw. wer er tatsachlich ist, wei6 eigentlich niemand; am wenigsten der Tater selbst.v' Die Psychologie gibt ihm diesbeziiglich eine neue Identitat, verpasst dem Beurteilten ex auctoritate et dignitate iurisdictionis - mit der formalen Hilfe des Rechtsurteils - Charakter und Gesinnung (erwa "aus niederen Beweggriinden .. ."), die ihm wohl nicht gefallen werden, welche ihm aber zumindest sagen, wer er ist, auf dass er erwas hat, womit er sich unter Aufsicht und Anleitung auseinandersetzen kann. 65 Wenn die Psychologie auch wei6, dass es keine eindeutigen Zuordnungen gibt, so dient sie sich mitunter doch der Macht des Rechts an, welches ihr zur Verbindlichkeit ihrer Aussagen verhilft, Umgekehrt steht das Recht unter dem Druck, Griinde zu liefern. Ein guter Begutachter schafft diese im Wissen darum herbei, dass er oder seine Schule ein bestimmtes Gut anders achtet als dies seine Kollegen tun. Die "Psyche" des Menschen ist kompliziert, Abgriinde des Unbewussten tun sich auf, weshalb nur eine Vergroberung und Reduzierung dieser Wirklichkeit beschreibbare Tatsachen hervorbringen kann. Die Menschen begreifen sich nur in der Selbstentfrerndungr" im Rahmen der jeweiligen Rolle, in welche sie schliipfen, in Gestalt bestimmter Masken, die sie aufsetzen.V "An sich" bleibt der Mensch sich und anderen ein Ratsel. Die
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und Consequenz; wenn er einen Augenbliek nur aus den Gefangisswanden dieses Glaubens heraus konnte, so ware es sofort mit seinem .Selbstbewusstsein' vorbei." Willke, Dystopia, S. 77 f., 158 ff. sprieht denn aueh von "Derivaten des Nichrwissens" bzw. - der "Ignoranz". Vgl. Cassirer, Philosophie der symbolisehen Formen, Teil 1, S. 48 ff. sowie Legendre, Nomenclator, S. 24 ff. Uber das "Ieh" als Zwiebel Lacan, Das Seminar, Bueh I, S. 220 (mit Bezug auf Freud). Hierzu Legendre, Das Verbreehen des Gefreiten Lortie. Vgl. dazu klassiseh Gehlen, Uber die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung. Uber Kommunikationsspiele Baecker, Form und Formen der Kommunikation.
Begreifen durch Entfremden
zahlreichen Selbstfindungs- und Aufrichtigkeitsbewegungen der jiingeren Zeit erscheinen jedenfalls ziemlich untypisch in einer bislang weitgehend stilisierten und formalisierten Kommunikation'" und konnen mit den neuzeitlichen Individualisierungstendenzen in Verbindung gebracht werden,"? die politisch mit der Franzosischen Revolution in der allgemeinen Egalisierung kulminieren. Der Einzelne gewinnt seine Identitat nicht mehr laager aus einem bestimmten Stand, dem er angehort." Eine generelle Mobilitat zwischen allen Gesellschaftsschichten und Arbeitswelten geht auf Kosten der Stabilitat, die fiir jede verbindliche Selbst- und Fremddarstellung unverzichtbar war und ist. So erschopfen sich gesamtgesellschaftliche Beschreibungen heute meist im Pluralismusbefund und einer Auseinanderlegung der typischen Probleme. Der moderne Zwang zur Individualisierung verlangt von jedem, dass er ein Einzelner werde, etwa indem er sich ein Eigenes finde, das ihn zum Original macht, Eine Forderung, die nicht selten uberfordert, Korporationistische Gegensrromungen bilden die Reaktion. Segmentierte und hierarchisierte Gesellschaften haben die Einordnung des Einzelnen besorgt und die schicht- bzw. gruppenspezifischen Rituale haben ihm zu einer Identitat verholfen. Liberale mod erne Gesellschaften bediirfen hierzu spezieller Institutionen wie der Psychologie und Psychiatrie, denn der Mensch ist einer vorbildlosen Individualisierung unfahig, Was friiher Individuum war, ist heute ein Dividuum;" ein vielfaltig gebrochenes und vielschichtig verwickeltes Subjekt, das seine Individualitat als unteilbare, unverbriichliche Identitat nur durch die eigene Objektivierung gewinnt, damit es selber weifs,was es ist und damit die anderen wissen, wo sie es einordnen miissen." ,,[D]as Subjekt ist in Bezug auf das Individuum dezentriert."?' Ordnung entsteht durch Urteil. (Straf)-Recht und Psychologie leben davon, dass Taten eindeutig zugeordnet werden konnen. Dafiir braucht es Griinde und diese gewinnt man nur durch Frageabbruch. Ihre Funktion ist cliejenige der Beruhigung. Ob man nun zeigt ocler sagt, wie es (gewesen) ist -
68 Dazu am Beispiel der Liebe Luhmann, Liebe als Passion. Zur Cod ierung von Intimitat, 69 Vgl. die erwas angestaubte Darstellung bei Jacob Burckhardt, Die Kulrur der Renaissance in Italien, Zweiter Abschnitt, S. 161 ff. 70 Die mittelalterliche Realitar der Universalien ist vorbei . Siehe nur Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit, S.101 ff. 71 Vgl. die Beitrage in Elster (Hrsg.), The multiple self. 72 "Denn diese Seele ist nichts Einfaches, vielmehr eine Hierarchie von iiber- und untergeordneten Instanzen, ein Gewirr von Impulsen, die unabhangig voneinander zur Ausfiihrung drangen, entsprechend der Vielheit von Trieben und von Beziehungen zur Aulsenwelt, viele davon einander gegensatzlich und miteinander unvertraglich. Es ist fur die Funktion erforderlich, dass die oberste Instanz von allem Kenntnis erhalte, was sich vorbereitet, und dass ihr Wille iiberallhin dringen konne, urn seinen Einfluss zu iiben." Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 9. 73 Lacan, Das Seminar, Buch II, S. 16.
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VornDing an sich, seinen Syrnbolen und der Kausatltat
gerichtet wird allernal" und wir erfassen alles nur als (Re)Konstruktion; unmittelbare Wahrheit passiert uns unbegriffen." Vermeintliche Erklarung, Deutung und Erhellung dienen nicht der Erkenntnis, sondern der (Selbst)Beruhigung und Sicherheitsproduktion. Wahrheit entzieht sich jedem Zugriff und kann nur als (freilich wahrheitsgetreu maskierte) Behauprung hergestellt werden. Das ist die Konsequenz einer Herrschaft des Denkens iiber das Sein, welche ihre unvermeidliche Selbstverunsicherung nur durch eine Umkehrung ebendieses Herrschaftsverhaltnisses abwenden kann.
III. Denken heiBt Zusammenhanqen Dem Idealismus Hegels schwebte hiergegen, in Anlehnung an Parmenides, die Identitat von Denken und Sein vor. Solange namlich der Gegenstand als Ding an sich "schlechthin ein jenseits des Denkens" bleibt," ist Philo sophie nicht rnoglich. Wenn mit "Ding an sich" dasjenige Bezeichnung findet, was die Erscheinung des Gegenstandes von ihm immer schon augen vor lasst, stellt sich die Frage, inwieweit verschiedene Erscheinungen desselben Gegenstandes etwa in quasidialektischer Abarbeitung aneinander (eine hegelianische Idee, die Hirschberger Kant durchaus unterstellt)" - etwas iiber diesen aussagen konnen." Dazu miisste indes das "Ding an sich" als Ursache jener Erscheinungen gedacht werden, was Schopenhauer als Kausalitatskritiker in der Nachfolge Kants ablehnt." Das Verhaltnis von Wesen und Erscheinung sei 74 Leopold von Ranke will mit seiner Geschichtsschreibung eben anderes versuchen, wie er im Vorwort mit der beriihmt gewordenen Sentenz betont: "Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mirwelt zum Nutzen zukiinftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Amter unterwindet sich der gegenwartige Versuch nicht: er will bloB sagen, wie es eigentlich gewesen." Ab der spateren zweiten Auflage war dann gereifter, im Anspruch entsprechend bescheidener - nur noch zu lesen: ,,[...J er will blof zeigen, wie es eigentlich gewesen." Jedenfalls hat Ranke hiermit 1824 bzw, 1874 eine bis heute anhaltende Methodendebatte iiber die Moglichkeit objektiver Beschreibung ausgelost. Vgl. zum Ganzen Fuchs, Was heilit das: "bloB zeigen, wie es eigentlich gewesen"?; Repgen, Dber Rankes Diktum von 1824; Zemlin, ,Zeigen, wie es eigentlich gewesen' , 75 Zur Wahrheit (aletheia) als unentzogenes, aber ungreifbar passierendes Ereignis Heidegger, Yom Wesen der Wahrheit. 76 Hegel, Wissenschaft der Logik. Erster Band, S. 29. 77 Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. II, S. 335. 78 Vgl. auch]acobs, Ding/Ding an sich, S.258, 259 f. 79 Kausalitat ist fur Schopenhauer die einzige Kategorie a priori, sie schlieiit die von Kant ebenfalls fiir eigenstandige a priori-Kategorien gehaltenen Raum und Zeit mit ein. Der Mensch nimmt im Augenblick, da ihm die Sinne irgendwelche Reize iibermitteln, ohne weiteres an, dass diese Reize eine Ursache haben. Indem er diesen Ursachen nachgeht, ermittelt er die Dinge im Raurn und in der Zeit. So sind die beiden letzteren Kategorien die Konsequenz der Wahrnehmung in der Kausalitat. Die Kausalitat ist dabei das Raum
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Denken heiBt Zusammenhangen
nicht dasjenige von Ursache und Wirkung. 80 In der Tat erweist sich deren vermeintlich stabile Beziehung als spekulative Herstellung. Sie solI Ruhe schaffen und Kontrolle vorgaukeln, denn wir konnen gar nicht anders als in Zusammenhangen denken. Deswegen miissen wir unsere Erfahrungen auch zwingend gewissen Ursachen zuordnen. Denken ist immer schon Verkettungsarbeit, Jede Uberlegung verfahrt nach einem vom/im Einzelnen beliebig festgesetzten Kausalitatsmuster, so dass die Objekte in ihrer Verbindung ohne das Subjekt nicht denkbar waren." Kant spricht von synthetischen Urteilen. »AIlein die Verbindung (conjunctio) eines Mann igfaltigen iiberhaupt, kann niemals durch Sinne in uns kommen, und kann also auch nicht in der reinen Form der sinnlichen Anschauung zugleich mitenthalten sein; denn sie ist ein Actus der Spontaneitat der Vorstellungskraft, und, da man diese, zum Unterschiede von der Sinnlichkeit, Verstand nennen muss, so ist aIle Verbindung, wir mogen uns ihrer bewusst werden oder nicht, es mag eine Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung, oder mancherlei Begriffe, und an der ersteren der sinnlichen, oder nicht sinnlichen Anschauung sein,[82J eine Verstandeshand lung, die wir mit der allgemeinen Benennung Synthesis belegen wiirden, urn dadurch zugleich bemerklich zu machen, dass wir uns nichts, als im Objekt verbunden, vorstellen konnen, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbsttatigkeit ist. Man wird hier leicht gewahr, dass diese Handlung urspriinglich einig, und fur aIleVerbindung gleichgeltend sein miisse, und dass die Auflosung (Analysis), die ihr Gegenteil zu sein scheint, sie jedoch jederzeit voraussetze; denn wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflosen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden konnen."83 Begreifen ist ohne eine stete Kausalverkniipfung der Dinge, die uns umgeben, unmoglich." So erhalten diese ihre Funktion. Ihre Verknotung geschieht und Zeit Verkniipfende, indem aile durch Ursachen bewirkten Veranderungen der Ob-
jekte jeweils nur im Raum und in der Zeit geschehen . Vgl. Sehopenhauer, Die Welt, Bd. 1, S. 37 ff. 80 So Windelband, Lehrbuch S. 507 fur Schopenhauer. 81 Vgl. Sehopenhauer, Die Welt, Bd. 1, S. 44 f.; Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 164, § 26: ,,[...] Gesetze existieren eben so wen ig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inharieren, so fern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, so fern es Sinne hat." 82 Gemeint sind die reinen Verstandesbegriffe als bloBe Gedankenformen (vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 148 ff., § 23 f.). Zur Schau der inneren Bilder vgl. auch Platon, Pha idon, 65a -67a (S. 15 ff.). 83 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 130, § 15. 84 "Denn durch das Ich, als einfache Vorstellung , ist nichts Mannigfaltiges gegeben; in der Ans chauung, die davon unt erschieden ist, kann es nur gegeben und durch Verbindung in
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Vom Ding an sich, seinenSymbolen und der Kausalitat
sozusagen in unwillkiirlicher Willkiir, womit sich das Wesen aller Dinge in ihrer durchorganisierten Kausalitat erschopft. Materie besteht folglich darin, zu wirken. Die Gesamtheit der Objekte wird denn auch als Wirklichkeit bezeichnet, Die Objekte wirken unter sich und auf die Subjekte, entsprechend dem Gesetz der Kausalitat, das seinerseits der Verstand ordnungsnotwendig geschaffen hat und bestandig bestatigt, wodurch Denken iiberhaupt erst moglich wird. 85 Kausalitat und Denken bedingen einander. Zusammenhange bestehen, weil sie vorher jemand zusammengehangt hat. So werden auch Dinge zu samrnengehangt, die moglicherweise gar nicht zusammengehoren." Das aber ist weder ermittelbar (da die Dinge selbst nicht zu uns sprechen) noch wichtig; zentral ist, dass verkettet wird." Verkettung muss sein, auch wenn es zur Beantwortung der Frage nach der richtigen Verkniipfung keine absoluten Krite rien, nur bloiie Meinungen gibt.88 Sie geschieht also ganz nach unserer Vorstellung, welche so die Wirklichkeit bzw. unsere Wahrnehmung der Gegenstande pragt "wie nur das Meinen die Wirklichkeit antizipieren [kannj'i." Es ist die Vorstellung, die wir von der Welt haben, welche unsere Meinung iiber die Dinge lenkt und in dieser apriorischen "Welt als Wille und Vorstellung" gilt notwendigerweise das Prinzip der Kausalitat." Der Vorgang gleicht der Fabrikation eines Filmes, welcher durch ein rnoglichst dichtes und schnelles Aneinanderreihen bestimmter, unrerschiedlicher Einzelbilder (die Freilich auch in anderen Kombinationen oder mit anderen Bildern zusarnmengehangt werden konnen) entsteht,
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einem Bewusstsein gedacht werden. Ein Verstand, in welchem durch das Selbstbewusstsein zugleich alles Mannigfaltige gegeben wiirde, wiirde anschauen; der unsere kann nur denken und muss in den Sinnen die Anschauung suchen." Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 135, § 16. Vgl. Schopenhauer, Die Welt, Bd.1, S. 38 f., 41 f. Vgl. auch Wenger, Negative]urisprudenz, S. 44 f. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 218 f., spricht von einer "Synthesis der Wahrneh mungen, die selbst nicht in der Wahrnehmung enthalten ist". So "kommen [.. .J in der Erfahrung die Wahrnehmungen nur zufalliger Weise zu einander, so, dass keine Notwendigkeit ihrer Verkniipfung aus den Wahrnehmungen selbst erhellet, noch erhellen kann, wei! Apprehension nur eine Zusammenstellung des Mannigfaltigen der empirischen Anschauung, aber keine Vorstellung von der Notwendigkeit der verbundenen Existenz der Erscheinungen, die sie zusammenstellt, im Raum und Zeit, in derselben angetroffen wird ." (B 219). Vgl. Lyotard, Der Widerstreit, S. 10 ff. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 188, S. 338. Schopenhauer, Die Welt, Bd. 1, S. 46.
Die Welt als Wille und Vorstellung
IV. Die Welt als Wille und Vorstellung Ins Innere der Natur a! du Philister!
Dringt kein erschaffner Geist. Mich und Geschwister Mogt ihr an solches Wort Nur nicht erinnern: Wir denken: art fur art Sind wir im Innern.
Gluckselig! Wem sienur Dieauflere Schale weist!
Das hor' ich sechz ig Jahre wiederholen, Und fluche drauf, aber verstohlen; Sage mir tausend tausendmale: Alles gibt sie reichlich und gernj Natur hat weder Kern Noch Schale, Alles ist sie mit einemrnale; Dich priife du nur allermeist Ob du Kern oder Schale seist?
Goethe?'
Vorstellungen und Meinungen, ob willkiirlich oder unwillkiirlich erwirkt, kommen zu ihrer Wirklichkeit durch den Willen und seine Kiir, Er - der Wille - ist das "Ding an sich"." Dieses kantsche Nichts," das so manch einem das Weiterdenken zur aussichtslosen Aporie verkommen lieB,94 wird von Hegel gleichsam als das beherrschende Ding der einzig realen Gedankenwelt erkannt." Das Subjekt kann nur Objektivitat feststellen. Erkenntnis ist ein Pe91 Zur Morphologie, S. 225 (I, 3). 92 Schopenhauer, Die Welt, Bd.1, S. 570. 93 Zur Kritik an Kants "Ding an sich" Hegel, Enzyklopadie, § 44, S. 81 sowie ders., Logik, S. 108 f. 94 Hegel, Logik, S.46 j vgl. nur Goethes Klage vor § 1 oder die existentielle Erschiitterung des "naiven " Wissenschafts- und Vernunftglaubens von Kleists, Brief an Wilhelmine yom 22. Marz 1801, S. 443 f. 95 Hegel, Logik, S. 33 f.; die Weiterftihrung Kants durch Hegel erfahrt bei Reiff, Dber die Hegel'sche Dialektik, S. 6 ff. immer noch eine sehr treffend-differenzierte Analyse: "Wie Kant die logische Form des Denkens als dem Wirklichen, der Erfahrung nicht angcmessen erkennt und tiber diese zum synthetischen Denken hinausgeht und die Bedingungen desselben als der alleinigen Form der Erkenntniss erforscht, wie hierin seine Kritik des Erkenntnissvermogens besteht: ganz in demselben Sinne geht Hegel tiber das verstiindige Denken zum dialektischen, vernunftigen Denken hinaus, urn in diesem das reale, dem Wirklichen gewachsene Denken zu haben . Hegel weiss recht gut, dass die Philosophie die Bahn zu verfolgen hat, welche ihr von Kant vorgezeichnet worden ist. .Das Nachste',
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Vorn Ding an sich, seinen Syrnbolen und der Kausalitat
netrationsakt," ist Bekenntnis. Die von Kant zwecks der Entthronung aller metaphysis chen Einfliisse in der Philo sophie diagnostizierte Trennung zwischen "Ding an sich" und Erscheinung, wobei nur letztere erkannt werden konne, hat nicht zuletzt zur Konsequenz, "dass auch ein Verstand, der nur Erscheinungen und ein Nichts an sich erkennt, selbst Erscheinung und nichts an sich ist [.. .J. "97 Ob dieser Folgerung kann man schnell allen Verstand verlieren. sagt er [Verweis auf Hegel, Glockner 6, S. 87, Zusatz], ,in der kantischen Philosophie ist diess, dass das Denken sich selbst untersuchen soli, inwiefern es zu erkennen fahig ist, Heutiges Tags ist man tiber die kantische Philosophie hinausgekommen, man will weiter sein, aber es fragt sich, ob diess ein Vorwarts- oder Riickwartsgehen sei; viele unserer philosophischen Bestrebungen sind nichts anderes als das Verfahren der alten Metaphysik, ein unkritisches Dahindenken.' Hegel umgeht nicht die kritische Frage tiber die Wahrheit und Realitat des Denkens, sondern er erkennt sie als Frage, urn sie auf eine hohere Weise zu beantworten. Er geht nicht, wie Kant, durch die Anschauung tiber das blosse Denken hinaus, urn in ihr, in der apriorischen Form derselben die Moglichkeit einer nothwendigen synthetischen Verknupfung zu finden [Verweis auf Kant's Werke v, Hartenstein III. S.382. 383. II, S.232-235. (Immanuel Kant's Werke, hrsg. v, Gustav Hartenstein, Leipzig 1838-39.)], sondern durchs Denken selbst will er tiber das logische Denken hinauskommen, damit das Denken als solches real sei. Das Denken untersucht sich selbst, die Denkformen bestimmen an ihnen selbst ihre Grenze und zeigen ihren Mangel auf; das logische Denken geht an ihm selbst tiber sich hinaus und geht zum dialektischen und verniinftigen Denken fort. So ist [Verweis auf Hegel's Werke VII. 2. S. 354] das reine Denken selber allein im Stande, die Wahrheit der Dinge zu erfassen; es bleibt nicht abstractes formelles Denken, sondern enrwickelt sich zum concreten (synthetischen), zum begreifenden Denken; das Denken ist damit durch seine eigene Kraft dem Wirklichen gewachsen. Das dialektische Denken besteht gerade darin, dass erwas, indem es in seiner Bestimmtheit fur sich fixirt wird, an ihm selbst sich als sich selbst entgegengesetzt, als in sein Gegentheil ubergehend zeigt. [Verweis auf Hegel's Werke V. S.50 .] Desshalb ist die absolute Methode [Verweis auf Hegel V. S.336 .] analytisch, sie findet die weiteren Bestimmungen des anfanglichen Allgemeinen ganz allein in diesem selbst, aber sie ist ebensosehr synthetisch, denn sie entwickelt aus demselben das Andere seiner selbst. Diese Verbindung des Analytischen mit dem Synthetischen, vermoge welcher die Synthesis mit dem Andern dem Dinge immanent ist, macht die Dialektik aus."
[Klammererganzungen D.W.].
96 Das griechische Verb ytvrocrKetV wird etwa in der Bibel synonym als erkennen, erfahren, begreifen und fur die Bezeichnung des Beischlafes verwendet. Vgl. nur Mr. 1,25: "Er erkannte sie aber nicht, bis sie ihren Sohn gebar. Und er gab ihm den N amen]esus." 97 Hegel, Glauben und Wissen, S.332 f.; vgl. dazu auch dens., Logik, S. 30 f. sowie dens., Geschichte der Philosophie III, S.333 f.: "Vor der Wahrheit erkennt das Erkennen nichts Wahres; es geht ihm dann wie den ]uden, der Geist geht mitten hindurch. Das Erkenntnisvermogen untersuchen heilh, es erkennen. Die Forderung ist also diese: man soli das Erkenntnisverrnogen erkennen, ehe man erkennt; es ist dasselbe wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht. Die Untersuchung des Erkenntnisverrnogens ist selbst erkennend, kann nicht zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist, - nicht zu sich zu kommen, weil es bei sich ist." Vgl. auch dens., Enzyklopadie § 10, S. 50.
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Die Welt als Wille und Vorstellung
Descartes' cogito ergo sum jedenfalls miisste der Zweifel zuriickerobern." Die These ist in den Augen Kants denn auch nichts anderes als eine Tautologie; logisch zwar unentbehrlich, nicht aber eine ontologische Aussage iiber das "sum" .99 Schlechterdings jeder niitzlichen Denkfigur, die "ein menschliches Selbstbewusstseyn mit den Adern der Objectivitat durchzieht, dass [sie] als aufgerichtete Gestalt steht" erlischt quasi das Lebenslicht, wenn Kants Kritik ihr jene Adern wieder "ausleckt".lOoVielmehr ist der Verstand "die absolut fixierte uniiberwindliche Endlichkeit der menschlichen Vernunft";'?' und dessen Unterstellung(en sind) darum - Paradoxie hin oder her - verniinftig. ,,[W]enn das Subjective Punct ist, so ist auch das Objective Punct; ist das Subjective, Linie, ist auch das Objective, Linie [. . .]," erklart Hegel wohl mit Bezug auf eine Stelle bei Kant. 102 Die Subjektivitat des Verstandes und die Objektivitat sind identisch.l'" Descartes ' cogito ergo sum ist eine erkenntnistheoretisch notwendige Intuition;'?' sie antizipiert letztlich Hegels (bei Parmenides abgekupferte) These einer unzertrennlichen Einheit von Denken und Sein.l'" Dass die von Kant lediglich zwecks Aufweises allgemeiner Erkenntnisgrenzen eingefiihrten "Dinge an sich"106 bei anderen mitunter die Hoffnung schiiren, ihnen iiber die Erscheinungen dereinst vielleicht doch noch auf die Schliche zu kommen, ware in seinen Augen nichts als nutzloses Schlangengefliister ("Ihr werdet sein wie Gott und wissen . . .").107 Hegels Losung dagegen lautet: Was wir er98 D ie "cogito "-Stelle in Descartes, Discours de la Methode, S. 52/53 (IV, 1). 99 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 474 (A 355), vgl. auch S. 443 f. (B 399 f.) bzw. Heidegger, Sein und Zeit, S.24 f.; dieses bleibt vielmehr ein Traum: "Cogito ergo sum sum, sum, sum, Bienchen summ herurn ." Schmitt, Glossarium, 9.12.47 (S. 58). 100 Hegel, Glauben und Wissen, S. 332. 101 Hegel, Glauben und Wissen, S. 333. 102 Vgl. vorne § 1 I, Fn .5; Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 137 f., S. 182 sowie B 154, S.195. 103 Hegel, Glauben und Wissen, S.331 f. 104 Vgl. Descartes, Discours de la methode, S.54 /55 (IV, 3); dazu auch Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. II, S. 93 H. 105 Hegel, Geschichte der Philo sophie III , S. 130 ff.; vgl. auch dens; Geschichte der Philosophie I, S. 289 f. zu Parmenides sowie Hirschberger, Geschichte der Philosophie, Bd. I, S. 32 H. (Abgrenzung Parmenides/Heraklit); Heidegger hingegen kritisiert an Descartes, dass dieser mit seiner These "die Philosophie nicht zu sich selbst [...Jauf ihren Grund und Boden" bringe, sondern sie vielmehr "vom Fragen ihrer Grundfrage", nach dem Sein bzw. Seienden, abdrange. Er stehe damit fur den "Beginn eines weiteren wesentlichen Verfalls der Philosophie". "GemaB dem Vorrang des Ich qua Bewusstsein bestimmt das Bewusstsein das Wesen desSeins." Heidegger, Die Grundfrage der Philosophie, S. 39, 42 f., 45 f. 106 Dazu Hoffe, Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 198 H., 69. 107 So aber ansatzweise Cassirer, Philo sophie der symbolischen Formen, Teil I, S.49, der bei allern Dualismus von Sein und Denken im Rahmen einer reinen Intuition die Mog-
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Vorn Ding an sich, seinenSyrnbolen und der Kausalitat
kennen - die Wirklichkeit- ist verniinftig und was verniinftig ist, ist wirklich. Denn es kann nichts bewusst sein, was nicht im Bewusstsein ist und damit ist der reine Gedanke die Sache selbst; er ist somit gleichsam ein entwicklungsfahiges und entfalnmgsbedurftiges "Ding an und fiir sich". Denken und Sein, das Verniinftige und das Wirklichesind ein und dasselbe.l'" schlielilich kommt auch fur Hegel der Logos vor der Materie.P? Ideen pragen nicht nur die Wirklichkeit, sie enrhiillen diese in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit.!'? Entsprechend liegt sie denn dem Verstand auch gebrochen da, der sie notwendigerweise wieder verkniipfen muss.III Die Idee bricht sich in die Realitat und folglich bildet der Widerspruch die Mitrevon Wirklichkeit und Vernunft.!" Zur Versohnung der Gegensatze - als unterschiedliche Verkniipfungsmuster (siehe oben) berniiht Hegel die dialektische Methode, we1che - vorn objektiven (Zeit)Geist
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lichkeit und Hoffnung gelten lassen will, "dass in dem Bilde, welches die Erkenntnis vom Sein enrwirft, wenigstens ein Rest der Wahrheit des Seins aufbehalten ist. Es scheint als ginge das Sein zwar nicht vollstandig und adaquat, aber doch mit einem Teil seiner selbst in dieses Bild der Erkenntnis ein - als greife es mit seiner eigenen Substanz in die des Erkennens iiber, urn in ihr eine mehr oder minder getreue Spiegelungvon sich selbst zu erzeugen." Hegel, Enzyklopadie §6, S.Hf. Wie iiberhaupt fur aile christlich-antik geprsgte Philosophie: Heraklit schreibt - quasi die Stoa vorwegnehmend - , man konne wahre Weisheit nur durch Denken in Einklang mit dem Logos, der Weltvernunft, erreichen (vgl. He raklit, S.245, 277). Ein letztlich anderes Konzept liege dem Logosbegriff im Prolog des Johannesevangeliums zu Grunde (siehe auch sogleich Fn. 113): Vgl.Joh . 1,1-5 u. 14. " EV uPX~ nv 0 My~ XUl 0 Myo"
2. Von der Qualitatzur Ouantltat .Daran erkenn' ich den gelehrten Herrn! Was ihr nicht raster, steht euch meilenfern, Was ihr nicht faBt,das fehlt euch ganz und gar, Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr, Was ihr nicht wagt, hat fur euch kein Gewicht, Was ihr nicht miinzt, das, meint ihr, gelte nicht ." Mephistopheles, in: Goethe, Faust II, Verse 4917 ff.
Urn Leistung messen zu konnen, bedarf sie der Zerlegung in gleichartige, zahl-
bare Einheiten. So schreibt denn Kant: "Das reine Schema der Grofie aber (quantitatis), als eines Begriffs des Verstandes, ist die Zahl, welche eine Vorstellung ist, die die sukzessive Addition von Einem zu Einem (Gleichartigen) zusammenbefasst. Also ist die Zahl nichts anderes, als die Einheit der Synthesis des Mannigfaltigen einer gleichartigen Anschauung iiberhaupt, dadurch, dass
568 Vgl. Held-Daab, Das freie Ermessen, S. 21, 23, 53; immerhin galten subjektive , wohlerworbene Rechte (ahnlich den subjektiven Privatrechten im 19.Jahrhundert) auch im 18.Jahrhundert als positive Rechtsgrenzen der Hoheitsgewalt (ebd., S. 39, 54 ff.). 569 Vgl. ebd. sowie Horst Dreier, Dimensionen der Grundrechte, S.29 ff., 37 und zur Abgrenzung des Rechts gegenuber der Politik Ogorek, Die Zahmung des Leviathan, S. 411 ff. 570 Dber einen entsprechenden Versuch Kiesow, Das Naturgesetz des Rechts . 571 Pars pro toto Ogorek, Richterkonig oder Subsumtionsautomat? sowie konzis dies., Die Zahmung des Leviathan, S. 412 f.
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Was leistet die Leistungsgesellschaft?
ich die Zeit selbst in der Apprehension der Anschauung erzeuge."572 Berechenbare Rechtsprechung ist deshalb ein Problem, weil iiber das Vorliegen eines tatbestandsrelevanten Merkmals (etwa die Bereicherungsabsicht beim Diebstahl oder das Liigengebaude beim Betrug)573 bei zwei verschiedenen Fallen nie dieselbe Klarheit besteht, wie etwa bei der Frage, welcher Laufer schneller am Ziel angekommen ist. Das Vorhandensein derselben fraglichen Einheit (eine Sekunde mehr oder weniger beim Lauf, Bereicherungsabsicht beim Diebstahl) lasst sich im einen Fall klar feststellen (2 Sekunden mehr als der Konkurrent), im anderen nur abwagend behaupten, abhangig von mehreren Umstanden und Unklarheiten beziiglich der Sachverhaltsfeststellung bzw. -erhebung. Wo es moglich ist, wird das Recht deshalb quantifiziert, d. h. der Schaden im Zivilprozess z. B. nach dem Markrwert der Sache festgelegt und entsprechend abgegolten (falls denn das Verschulden des Schadigers auch festgestellt werden konnte). Doch ist auch der Marktwert der zu entschadigenden Sache oft umstritten. Bei sportlichen Leistungen jedenfalls bricht Streit kaum je der erbrachten Leistung wegen aus, allenfalls iiber die Bedingungen der Moglichkeit dieser Leistung.V" "Nur rechnen(d) und nur in den Formen des Raumes hat der Mensch absolute Erkenntnis d. h. die letzte Grenze alles Erkennbaren sind Quantitaten, er versteht keine Qualitat, sondern nur eine Quantitat."575 Ein anderes Beispiel ware der Anspruch auf Sozialhilfe: Wer weniger als einen bestimmten Betrag an Einkommen und Verrnogen vorweisen kann, hat Anspruch auf staatliche Unterstutzung.V"Hier erzeugt das Kriterium Einkiinfte/ Verrnogen (unter anderem) ein berechenbares Anspruchsmoment. Ein weiteres Beispiel aus dem Sozialversicherungsrecht ware aber die Invalidenunterstiitzung und dort gilt als Zuteilungskriterium die Erwerbs- bzw. vorn Arzt 572 Kant, Kritik der reinen Vernunft, S.243 f. (B 182, A 142 f. [kursiv bzw, gesperrt im Original]). 573 Vgl.Niggli, Vor Art. 137, Rn.61 ff. undArzt, Art . 146, Rn.55. 574 So hat der angeblich "saubere" Sport bekanntlich mit dem Problem der unerlaubt medikalisierten Leisrungssteigerung (Doping) zu kampfen . Dazu die "Tour de France" qua"Tour de Farce" im Sommer 2007 (vgl. die Berichte in der Tagespresse, etwa NZZ vorn 25.Juli 2007, S.48). Die Emporung (das deutsche offentlich-rechtliche Fernsehen hat die Life-Ubertragung der Fahrradkonkurrenz eingestellt, NZZ vorn 21.122.Juli 2007, S.60) resultiert vor allem aus der Enttauschung iiber die vermeintlich ehrliche, fur jedermann gerechte Methode einer untruglichen Leistungsquantifizierung. Die gleichen Ausgangsbedingungen waren freilich durch eine Legalisierung der Dop ing-Mittel wieder hergestellt. 575 Nietzsche, Fragmente 1869-1874, KSA Bd. 7, S. 440 (§ 19 [66]). 576 Vgl. erwa §§ 14ff. des Sozialhilfegesetzes des Kantons Zur ich vom 14.Juni 1981 sowie die zugehorige Verordnung vom 21. Oktober 1981 (Ordnungsnummern 851.1 bzw. 851.11), welche hinsichtlich der Bemessung der wirtschaftlichen Hilfe in den §§ 16ff. auf die Richtlinien der Schweizerischen Konferenz fiir Sozialhilfe (SKOS) verweist. Ein Vorgehen, wie es auch von anderen Kantonen praktiziert wird .
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Von der Berechenbarkeit zur Verrechenbarkeit
festzustellende Arbeitsunfahigkeir.!" Mehr als bei den vergleichsweise genau bezifferbaren Einnahmen/Ersparnissen miissen beim Anspruchskriterium der Arbeits- bzw. Teilarbeitsunfahigkeit zunachst noch eine Reihe diese weiter konkretisierende Unter- und Unterunterkriterien eingefiihrr werden, bis auf ihrer Grundlage annahernd kalkulierbare Entscheide gefallt werden konnen, Wo indes nicht auf eine eindeutige Zahl rekurriert werden kann, der potentiell Anspruchsberechtigte nicht auf eine abrechenbare, mess bare GroBe verweisen kann, muss er andere, vom Gesetz und/oder Richter aufgestellte, mit stets ausbzw. einlegungsbediirftigen Worten umschriebene Merkmale geltend machen konnen und der Spielraum ist gro6. 578 Entweder sieht der Rechtsaugen-Blick der Richterschaft ein Kriterium als erfiillt an oder er sieht es nicht. Entweder subsumiert er den Fall oder nicht. Einmal sieht er einen Begriff als gegeben, halt er oder der Arzt den Tatbestand fur erfullt, einmal nicht. Zu berechnen gibt es da nichts. Es geht wieder urn die Problematik der Sachverhaltserhebung. Berechenbarkeit gibt es nur dort, wo es zu rechnen gibt und das gibt es nur bei Zahlen, nicht aber bei Worten. Wie fur die Sozialhilfe, wird auch im Steuer- oder Strafrecht auf die Kriterien Einkiinfte/Vermogen abgestellt. Nun handelt es sich aber auch bei ihnen offensichtlich urn Worte und nicht urn zum Vornherein bestimmte Betrage, Diese vermeintlich klaren Malieinheiten ergeben mithin selten ohne weiteres eine sichere Zahl. Die Frage, ob bestimmte Werte - und wenn ja, in welchem Umfang - vorn jeweiligen gesetzlich umschriebenen Verrnogens- bzw. Einkommensbegriff erfasst werden, ist auch von ehrlichen Sozialhilfebezugern und aufrichtigen Steuerzahlern nicht in jedem Fall eindeutig zu beantworten und lasst es deshalb etwa bei Falschdeklarationen durch Steuerpflichtige angezeigt erscheinen, zwischen Steuerbetrug einerseits und der privilegierten Steuerhinterziehung andererseits zu unterscheiden.V? Auch die Bestrafung nach der wirtschaftlichen Leistungsfahigkeit schafft mit einem eigenen Einkommens- und Verrnogensbegriff eine Reihe neuer Un577 VgI.Art.3bf.IVG 578 Vgl. zum Ganzen Seibert, Der Preis des Rechts, S. 29. 579 Diese Unterscheidung rechtfertigt sich in der Schweiz insbesondere aufgrund der Selbstdeklarationspflicht der Steuersubjekte , im Gegensatz zu zahlreichen auslandischen Rechtsordnungen, welche das Einkommen unselbstandig Erwerbender bereits an der Quelle besteuern . Fur die Unterscheidung auch mit Blick auf den Erhalt einer hohen Steuermoral Torgler, Wirtschaftspolitische Erkenntnisse aus der Steuermoralforschung, S.174; aus Sicht der internat ionalen Amtshilfe mag sich freilich eine andere Meinung aufdrangen. Dieser habe sich die Schweiz namlich durch den "rechtstechnischen Trick der Unterscheidung" entzogen und damit ihrem "Finanzplatz einen viilkerrechtlich und wettbewerbspolitisch hochst fragwiirdigen, nicht leistungsorientierten Standortvorteil verschafft, der auf eine Form unlauteren Wettbewerbs hinauslauft." So Ulrich, Wahrhaftigkeit in der Wirtschaft, S. 104ff. (106). Einmal mehr wird hier allerdings leichthin und ohne BelegeVolkerrechtswidrigkeit suggeriert.
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Was leistet die Leistungsgesellschaft?
klarheiten; erfordert im Rahmen dessen naherer Bestimmung die Mobilisierung des bekannten Repertoires an Vermutungen, Hypothesen, Fiktionen, kurz: dogmatischen Konstruktionen, die ihrerseits eine eigentliche Berechnungslawine bei den Gerichten auslosen. Der Vorstellung jedenfalls, es sei mit dem Abstellen auf feststehende Zahlen eine gerechtere, da im Einzelfall klar berechenbare Strafzumessung herstellbar, macht der prekare Verrnogensbzw. (Netto)Einkommensbegriff faktisch einen Strich durch die "Rechnung", weshalb sich die Gerichtspraxis notwendigerweise von der Berechnung in Richtung Schatzung bewegt.i" Das zeitlose Dogma lautet, Leistung lasse sich in Gestalt ihrer Zahlbarkeit wirklich und genau messen, weshalb sich weit herum wirtschaftlich-finanzielle Kriterien hinsichtlich der Anerkennung von Leistung als solcher durchgesetzt haben . Leistung ist entweder monetarisierbar oder zweifelhaft. In ihrer Fixierung auf die zweifelsfreie Nachweisbarkeit und Belegbarkeit von Leistung und mithin auf deren durchgehend unanfechtbare Akzeptanz begibt sich eine Gesellschaft bis zu einem gewissen Grad der Chance auf eine Verwirklichung allgemeiner Wertevielfalt. Die wichtigsten okonomischen Kriterien wie Effizienz- und damit Produktionssteigerung verdanken ihre Vorherrschaft in der Regel einer Zwangslage. In Zeiten des Krieges oder der Kriegsbedrohung geniellen diejenigen Leistungen, welche dem Aufbau des Angriffs- bzw. Ver580 Einen Vorgeschmack auf die anstehenden Klarungsarbeiten mit dem in der Schweiz noch jungen Tagessatzsystem bietet BGE 134 IV 60, S. 69 ff. E. 6; vgl. nur E. 6.1: .Der Erminlung des Nettoeinkommens konnen in der Regel die Daten der Steuerveranlagung zu Grunde gelegt werden (vgl. Art. 34 Abs.3 StGB). Der Begriff des strafrechtlichen Einkommens im Sinne von Art. 34 Abs .2 StGB ist allerdings mit jenem des Steuerrechts nicht identisch, was namentlich bei Selbstandigerwerbenden, Wohneigentiimern oder Stipendien-Beziigern von Bedeutung sein kann. Bei stark schwankenden Einkiinften ist es unvermeidlich, auf einen reprasentativen Durchschnitt der letzten Jahre abzustellen. Dem steht nicht entgegen, dass die Verhaltnisse im Zeitpunkr des sachrichterlichen Urteils massgebend sind (Art. 34 Abs. 2 Satz 2 StGB). Denn diese Regel will nur besagen, dass das Gericht die wirtschaftliche Leistungsfahigkeit moglichst aktuell und genau zu ermitteln hat und zwar im Hinblick auf den Zeitraum, in dem die Geldstrafe zu zahlen sein wird. Daraus folgt, dass kunftige Einkommensverbesserungen oder Einkommensverschlechterungen zu beriicksichtigen sind, jedoch nur, wenn sie konkret zu erwarten sind und unmittelbar bevorstehen [. . .]. Wenn die Einkiinfte hinter den Betragen zuriickbleiben, die der Tater in zumutbarer Weise erz ielen konnte oder auf die er (z. B. nach Art. 164 oder 165 ZGB) Anspruch harte, so isr von einem potentiellen Einkommen auszugehen (vgl. BGE 116 IV 4 E. 4d S. 10 [oo .J). Bei der Frage nach der Zumutbarkeit ist die personlich gewahlte Lebensfuhrung zu beriicksichtigen. Davon ist die Konstellation zu unterscheiden, dass der Tater keine oder unglaubhafte Aussagen zu seinen Einkornmensverhaltnissen macht und die behordlichen Auskiinfte dazu (Art. 34 Abs . 3 StGB) unergiebig sind . Alsdann ist auf ein hypothetisches Einkommen abzustellen, das sich am (geschatzten) Lebensaufwand orientiert [oo .J." Vgl. fiir Deutschland Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 64 ff. 70 ff.
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Von der Berechenbarke it zur Verrechenbarkeit
teidigungsvorrats der Gruppe dienen, stets hochste Wertschatzung. 581 Dieser Kriegsgedanke rettet sich nun zu Friedenszeiten in die "zivile" Wirtschaft. Seine Kr iter ien herrschen heute im emfesselten Konkurrenzdenken einer abnehmend protektionistischen, zunehmend globalisierten Wirtschaft weiter. Insofern kann die Wirtschaft gegenwartig durchaus als Ort der Fortsetzung des Krieges mit anderen (zivilisierteren) Mirteln beschrieben werden.W 1m Unterschied hierzu ware Wirtschaft in protektionistischen Systemen durchaus eine "gemutlichere" - geradezu gesellige - Sache, bei welcher oftmals andere Netzwerke als diejenigen der Buchhalter eine Rolle spielten. Durch ihren wachsenden Verzicht auf (in Bezug auf das heutige Verstandnis von Wirtschaft) wirtschaftsfremde Kriterien und im selbstbeschrankenden Rekurs auf einige bestimmte, invariable d. h. berechenbare Kriterien wie Rentabilitat, Profit usw., vermag sie sich als System besser zu etablieren, als wenn sie sich durch unsachlich gewordene Irritationen in ihrer Reproduktion storen lassen wiirde. Die moderne Okonomie operiert letztlich deshalb so erfolgreich, wei! das dominame Kommunikationsmedium Geld fur eine Ausschaltung unnotiger Kommunikation sorgt.!" Sie kann sich mit der geldvermittelten Knappheit an einer weniger komplexen Kontingenzformel orientieren als beispielsweise das Recht mit seinen Programmen der Gleichheit und Gerechtigkeit.t" Je komplexer ein System aufgebaut ist, desto groBer ist die Gefahr von Dysfunktion bzw. eines Aufbruchs in autonome, funktionstauglichere Teilsysteme, deren Bindung untereinander sich auf eine bestimmte strukturelle Kopplung reduziert. Die rekursive SchlieBung nach innen bedingt eine AbschlieBung des Wirtschaftssystems nach aufsen, eine Ignoranz der anderen Interessen, welche nur eine Destabilisierung der Funktionsweise seines systemspezifischen Codes als Leitunterscheidung zur Folge hatten, Das System geriete moglicherweise aus seiner gewohmen Bahn, wenn es sich nicht, wie jedes andere System auch , ungestort selbst reproduzieren konnte. Der globale Verkehr von Produkten und Dienstleistungen ware erheblich behindert, wenn lokale Besonderheiten regelmaliig neue Spielregeln aufstellen wiirden. Das Streben nach Wachstum, Absatzsteigerung und Effizienz, welches alle wirtschaftlichen Malinahmen vom Marketing bis zur technischen Innovation, der Forschung, dominiert, geht heute allerdings auch weit iiber seinen angestammten Bereich im Rahmen der unmittelbaren Bedrohungs- und Zwangslagen hi581 Vgl. Young, Meritocracy, 5.157 f. 582 Dies in Anpa ssung der von Fouc ault gegenuber Clausewitz umgek ehrten Wendung, wonach Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei. Vgl. Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, 5. 63, 197 f. 583 "Insofern wirkt die Geldform sozial destabilisierend, sie kappt kommunikativ mogliche Bindungen, und genau das ist Bedingung der Ausdifferenzierung eines besond eren Funktionssystems fur Wirtschaft. « Luhmann, Wirtschaft der Gesellschaft, S. 18 sowie ff. uber die Rolle der Preise. 584 Vgl. Luhmann, Wirtschaft der Gesellschaft, 5. 64 f., 177 ff.
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Standardisierung
naus, beeinflusst indirekt - iiber New Public Management - auch das staatliche Handeln und damit alle staatlich oder auch privatwirtschaftlich unterstiitzten Bereiche wie Kunst, Erziehung, Religion . Wo immer es urn Geld geht, ginge es immer auch schneller und mit weniger Geld . Zeit ist Geld und Zeit ist knapp. Wo Geld flieGt, kann immer Knappheit entstehen. Das Eindringen jener quantitatsbezogenen wirtschaftlichen Dominanten in andere Systeme wie Recht (vgl. economic analysis oflaw) oder Kunst (Theater miissen eintragliche Stucke, d. h. Klassiker auffiihren) diirfte auch damit zusarnmenhangen, dass das Kriterium der Marktgangigkeit wie angetont auf relativ einfache und effiziente Weise verbindliche, handelbare Werte zu erzeugen vermag, die Bewertung bzw. Entwertung fast aller Handlungen und Gegenstande leisten konnen. Diese bezifferbare Wertzuschreibung entscheidet all jene Falle, in denen sich nur umstrittene und damit keine entscheidenden Qualitatskriterien finden lassen.585 Was oder wer nach Anerkennung und Bedeutung strebt, sucht sich seine Rechtfertigung stets dann im Ausweis von Masse, wenn sich iiber die Frage der Qualitat keine Einigung erzielen lasst. Ein Phanomen, das einem mitunter auch aus einer langen wissenschaftlichen Publikationsliste oder aus dicken Biichern entgegenlacht. Die Masse macht 's - die Masse als Macht . Sie schiirt jedenfalls die Hoffnung, dass ein Produkt oder eine Dienstleistung mit hoher Nachfrage keine schlechte Sache sein kann. Wo der unmittelbare monetare Gewinn, den eine Arbeit einspielt - sei es ein Buch, ein Theaterstiick, die Siege eines Tennisspielers oder die Borsengewinne eines Handlers -, ersichtlich wird, ist der Wert dieser Arbeit klar; bei einer Lehrperson jedoch lasst sich deren Wert kaum auf diese Weise feststellen. Zahlreiche Arbeitsleistungen miissen nach anderen, eben schwammigeren, weniger klar messbaren Kriterien bewertet werden.
II. Standardisierung "Das Leben ist auf die Voraussetzung eines Glaubens an Dauerndes und Regular- Wiederkehrendes gegriindet; je machtiger das Leben, urn so breiter muf die errathbare, gleichsam seiend gemachte Welt sein. Logisirung, Rational isirung, Systematisirung als Hiilfsmittel des Lebens."
Nietzsche-"
585 Es geht letztlich urn eine niitzliche Informationsreduktion. "Weder brauchen die Bediirfnisse oder Wiinsche, die man iiber Geldzahlungen befriedigen kann, besonders erIautert oder begriindet zu werden [.. .J.« Luhmann, Die Wirtschaft der Gesellschaft, S.18. 586 Nachgelassene Fragmente 1885-1887 (KSA Bd. 12), S. 385.
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Von der Berechenbarkeit zur Verrechenbarkeit
Es gibt keine gleichen Falle. Der Wunsch nach Vorhersehbarkeit hat die Rechtskodizes und eine Typisierung der Falle hervorgebracht; doch auch die wenig oder kaum kodifizierten Rechte Roms und des angelsachsischen Raums kannten respektive kennen die Typisierung. Berechenbarkeit entspricht einem unstillbaren Desiderat und je starker sich die Gesellschaft industrialisiert, je mehr der technische Fortschritt und die Angleichung der Lebens verhaltnisse neue Subs ysteme schaffen oder bestehende neu organisieren, desto groBer wird ihr Bedarf nach Kontrolle. Entgegen der Behauptung ihrer Pluralisierung, haben sich die Lebensfiihrungen in westlichen Gesellschaften einander weitgehend angenahert. Dies nicht zuletzt aufgrund der heute ausgepragt vereinheitlichten Technika des modernen Lebens, welche friiher lokal vermehrt variiert en. Die sogenannte Pfadabhangigkeit moderner Technologie erklart die zunehmende welrweite Standardisierung zahlreicher Errungenschaften und zugleich der mit ihnen verbundenen praktischen Lebensbereiche.W Es geht urn Selbstverstarkungsmechanismen bestimmter technischer Standards, die mit steigender Teilnehmerzahl ihren Nutzen erhohen, und ,,[weil] diese Erhohung in positiver Riickkopplung wieder zu einer Erhohung der Teilnehmerzahl fiihrt, ist es wahrscheinlich, dass sich fiir ein bestimmtes Gut ein einziges N etzwerk durchsetzt und zum Monopol wird. "588 World Wide Web und "Windows", Telefonie, MIDI, 08/15, Videosystem VHS, Messer und Gabel oder auch die Olpreis-abhangige Fortbewegung miissen als Stichworte geniigen. Die Festlegung der Teilnehmer auf Medien reduzierter Kornplexitat erleichtert zudem die Kommunikation (im weitesten Sinn) und begiinstigt dank deren Effizienz zusatzlich den Netzbildungseffekt.r" "Das Monopol eines Standards schlieiit [...] nicht nur alternative Standards aus, sondern generiert eine Vielfalt immer neuer kornplementarer Standards", wie Software, Verbrennungsmotorentechnik etc., womit - eingedenk der steigend en Netzwerkteilnehmerzahl - ein Standardwechsel vergleichsweise hohe Kosten verursachen wiirde, was in der Regel die Konsolidierung des "Systems" zusatzlich stiitzt. 590 Die in diesem Zusammenhang auftretende Problematik eines erschwerten Riickgangigrnachens, einer bisweilen fast unrnoglichen Reversibilitat bestimrnter Entscheidungsfolgen, lasst sich auch in der Politik beobachten, Einmal etabliert, sind selbst fragwiirdig gewordene staatliche Einrichtungen kaum mehr zu beseitigen. Da sich deren Aufbau oft wechselseitigen Aushandlungs587 Zum Problem der Pfadabhangigkeit vgl. die Beitrage in: Garud/Karnee (Hrsg.), Path Dependence and Creation. Dazu auch ein working paper von Meyer/Schubert, Die Konstitution technologischer Pfade. Dberlegungen jenseits der Dichotomie von Pfadabhangigkeit und Pfadkreation. 588 Dedeyan, Macht durch Zeichen, S. 57. 589 Dedeyan, Macht durch Zeichen, S. 57-60m.w.H . 590 Vgl. Dedeyan , Macht durch Zeichen, S.57,59.
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Konfliktverrechnung?
und Ausgleichsmechanismen zwischen mehreren Interessengruppen verdankt, ist fur den spateren Ab-, Um- und geschwe ige denn Riickbau der fraglichen Institution meist keine politische Mehrheit zu gewinnen - zumal dann nicht, wenn einzelne unter den genannten Interessengruppen dabei Vorteile einzubu£en harren .'?' Die Zivilisationsleistung der Standardisierung besteht in einer "Abkehr" von der Natur, in der Ersetzung des direkten unvermittelten Naturkontakts durch einen technisch neu organisierten Zugang zu ihr. Welt kann iiberhaupt erst beschrieben werden, wenn man deren Kornplexitat reduziert, wodurch bekanntlich erst der Aufbau neuer Komplexitat moglich wird.
III. Konfliktverrechnung? Die mit dem Fall der kommunistischen Regimes und dam it des "Eisernen Vorhangs" im Gefolge jener Offnungs- und "Perestroika" -Euphorie publizistisch begleiteten Hoffnungen im Zusammenhang mit der erwarteten neuen Vielfalt - die Aufnahme des Fremden oder Anerkennung des Anderen im Eigenen haben Dampier erfahren. Neben den negativen Folgen kultureller Insulierungen (Stichwort .Banlieu" oder urbane Ghettoisierung), der sogenannten Integrationsproblematik (zunachst in Schulen und sparer in der Arbeitswelt), wurden Lebensvollzuge in Varianten vielleicht bereichert (am sichtbarsten durch die auslandische Gastronomie), mogen einzelne Verbindungen die rein oberflachliche Begegnung auch vertieft iiberdauern. Insgesamt zeigt sich die Pluralisierung der Lebenswelten aber zunehmend anhand der Herausbildung von Parallelgesellschaften, die in ihrer ausdifferenzierten Kornplexitat nicht mehr zueinander kommen. Spannungen losen sich des Ofteren nur noch als zugespitzte Gewalt eines Enrweder/Oder.t'" Fur interkulturelle Massenhochzeiten aus Staatsrason (wie einst um 324 v. Chr. in Susa zwischen Makedonen und Persern auf Befehl Alexanders) scheint zum einen der Zeitpunkt verpasst und zum anderen eine freiheitliche Gesellschaft ohnehin ungeeignet. Das Konzept der Polykontexturalitat etwa formuliert hier lediglich das Problem, ohne Freilich die Kompatibilisierung jener unterschiedlichen "Kontexturen" and ers als durch eine unvermeidbare partielle Uberwaltigung bzw. Destabilisierung der einen durch die anderen Teilsysteme gewahrleisten zu konnen. Es handelt sich dabei um ein beobachtbares, scheinbar unausweichliches Wirklichkeitsbewaltigungsphanomen, das sich die Formen seiner Austragung zunehmend 591 Diese Schwierigkeit einer entsprechenden Deregulierung und Entscheidriicknahme trifft in noch hoherem MaBe fur stark verflochtene politische Mehrebenensysteme wie die EV zu. Ziirn, Regieren jenseits des Nationalstaates, S.242 f. 592 Zum Ganzen ausfuhrl ich mit Losungsvorschlagen Luft, Abschied von Multikulti; vgl. auch kon zis und zur (Jugend)Gewalt Guntner, Reizwort "Multikulti".
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Von der Berechenbarkeit zur Verrechenbarkeit
selber sucht. Inwiefern es sich auch in zivilisierter Fassung ausdriicken, d. h. reprasentieren und damit verfremden lasst, bleibt abzuwarten. Gegen die allgemeine Willkiirherrschaft in der Welt kann sich der Mensch nur durch eine Flucht vor ihrer Unmittelbarkeit retten. Er darf sich nicht unmittelbar mit der Wirklichkeit einlassen. "D er menschliche Wirklichkeitsbezug ist indirekt, umstandlich verzogert, selektiv und vor allem .metaphorisch c." 593 Er bedarf der Symbole, ohne Anspruch darauf zu erheben, dass diese die Realitat andern konnten. Das als Folge der Verrechtlichung etablierte Leitsystem der Konflikt-Verrechnung erwa vermag trotz - oder gerade wegen seiner Kompensationslogik nie in allen Fallen echten Ausgleich zu erzielen.t?' nicht nur die Bewertungsfrage perpetuiert den Streit; bereits die Verrechnungslogik des quid pro quo an sich, als Konzept der ersatzweisen Abgeltung, der Substitution durch ein anderes, ist streitig und vermag den Unfrieden im blo Ben Rechtsfrieden nicht zu begraben, sondern allenfalls ausgleichend abzulenken und dessen gewalttatige Ausbriiche autoritativ zu verbieten. Doch gegen aIle Versuche, ihn im litige aufzulosen, behauptet sich der difjerend. 595 Die heute weitgehend einhellige Meinung, dass eine Schuld durch Aufrechnung bzw. Verrechnung mit einer Gegenschuld materiell zum Erloschen gebracht werde, war fur die romischen Juristen der klassischen Epoche keineswegs selbstverstandlich, Die Aufrechnung vermittelte vielmehr einzig verfahrensrechtliche Einredemoglichkeiten (wie etwa die exceptio pensatae pecuniae oder die exceptio doli), welche einer erneut auf Zahlung gerichteten Klage entgegengehalten werden konnten, was freilich im wirtschaftlichen Ergebnis einem materiellrechtlichen Erloschen der Forderung gleichkam.F" Wir wollen den Rornern nicht unterstellen, ihre Ablehnung des materiellen Erloschens der Schuld sei Ausdruck einer Ahnung von der inhaltlich stets umstrittenen tatsachlichen Erledigung einer Streitsache. Doch diirfte wie heute auch damals die Bewertung der hinter den gegenseitig verrechneten Forderungen stehenden Leistungen regelmailig Probleme bereitet haben. Jedenfalls hat die moderne Losung einer tatsachlichen materiellrechtlichen Erledigung der Schuld durch Aufrechnung den realen differend nicht zwingend zu beseitigen vermocht, "Das animalsymbolicum beherrscht die ihm genuin todliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten lasst; es sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist."597Dennoch: Den Ausbruch der Zwietracht als Ein593 Blum enberg, Amhropologische Annaherung an die Aktualitat der Rhetorik, S. 115. 594 Uber emsprechende Anspriiche gegeniiber der Justiz aber Walter, Methodenpluralismus, S. 161. 595 Vgl. Lyotard, Der Widerstreit, S. 9 ff., 27 (Nr. 12). Uber die Persistenz des »Polit ischen" vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen. 596 Vgl. hierzu Pichonnaz, La compensation. S. 675 f. 597 Blumenberg, Aktualitat der Rhetorik, S. 116.
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Konfliktverrechnung?
bruch des Realen verhindern, kann die Kompensationslogik nicht, 598 Sie darf Freilich immer auf "produktive Missverstandnisse" hoffen und in diesem Zusammenhang spielt Geld zweifelsohne eine wichtige Rolle. "Geld wendet fur den Bereich, den es ordnen kann, Gewalt ab [.. .]."599 Die Frage jedoch, in welchen Bereichen Geld erfolgreich operiert - die Frage also, ob sich ein bestimmter Konflikt dem Ordnungsbereich des Geldes fiigt -, miisste fur jeden Rechtsstreit und insbesondere nach dessen Erledigung im Einzelnen uberpnift werden.
598 Insofern lasst sich der "metaphorische Umweg" Blumenbergs zumal im Rechttsstreit) nicht umsetzen; kann sichalso der Versuch, "etwas als etwas zu begreifen" nicht "radikal von demVerfahren [unterscheiden], erwas durch erwas anderes zu begreifen." Ebd., S. 116; vgl.auch die Ausnahme/Normalfall-Dialektik bei Schmitt, Politische Theologie, S.22. "In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer in Wiederholung erstarrten Mechanik." (ebd.). 599 Luhmann, Wirtschaftder Gesellschaft,S. 253.
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§ 8 Schlussfolgerungen I. Das Recht zwischen Konfliktentfremdung, Dezision und
Konfliktprovokation
Freilich kann auch das Rechtssystem nur operieren, indem es die Konflikte ihrer je eigenen Welt entaullert, sie in seine spez ifische Struktur einliest bzw, in seiner Sprache zum Ausdruck bringt und damit neu konstruiert.s'" Die urspriinglichen Konflikte unterliegen dadurch einer ebensolchen Selbstentfremdung wie die von ihnen hervorgebrachten Parteiinteressen. Letztere erfahren ihre Wiedergabe, werden also bekanntermallen "weiter weg" (wenn nicht gar "weit weg") von sich neu erzeugt und verlieren damit ihre alte Gestalt.601 D iese Verfremdung im Weg ihrer Standardisierung ist unausweichlich, wollen sie sich mit Hilfe des Rechts Nachachtung verschaffen; sollen sie fur das Recht iiberhaupt greifbar werden. So mag etwa das urspriingliche Parteiinteresse eines Grundeigenriimers am Sichtschutz durch eigenen alten Baumbestand gelegen haben, der vom Nachbarn irrtumlich gekappt wurde. Just dieses Interesse lasst sich mit Hilfe des Rechts nicht wieder herstellen. Das Recht konnte nicht einmal einem allfalligen zornigen Vergeltungsinteresse dienen (beispielsweise dem Uberfahren der stets lastig klaffenden Hunde des fehlbaren Nachbarn). Der Sichtschutz kann allenfalls durch einen anderen Gegenstand sicher600 Vgl. Teubner, Episteme, S. 128; Ladeur, Das selbstreferenzielle Kamel, S. 180 fL, 185 f. sowie vor allem Teubner/Zumbansen, Rechtsentfremdungen; diese Absonderung der Rechtsprechung gegeniiber dem "normalen Leben" wird historisch durch den geweihten Ort des Gerichts verdeutl icht. "Die Rechtsprechung findet in einem ,Hofe' statt, D ieser Hof ist noch immer im vollsten Sinne des Wortes jener iepo; KUKAO~ der heilige Kreis, in dem man schon auf dem Schilde des Achilles die Richter sitzen sah.Jeder Platz, wo Recht gesprochen wird, ist ein echter Temenos, ein geweihter Platz, der aus der gewohnlichen Welt herausgeschnitten und abgesteckt ist. Das ,Ding' wird gehegt und gebannt . Das Gericht ist ein richtiger Zauberkreis [...J." Und in Bezug auf England: "Die Richter treten noch immer aus dem .gewohnlichen Leben' heraus, ehe sie Recht sprechen. Sie hullen sich in den Talar, oder sie setzen sich eine Periicke auf." Hu izinga , Homo ludens, S. 126 f. 601 Das gemeingermanische Wort "wieder/ wider" geht auf einen indogermanischen Kornparat iv "weiter weg" zuriick. Vgl. Drosdowski, Duden Etymologie, S. 811f.
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Das Recht zwischen Konfliktentfremdung, Dezision und Konfliktprovokation
gestellt werden; er diirfte aber immer nur eine vergleichsweise schlechte Alternative zum wertvollen Zierbaum darstellen und selbstredend vermag auch eine monetare Entschadigung das urspriingliche Parteiinteresse nicht zu befriedigen.602 Die Hoffnung einer Auflosung der Kontroverse durch ihre Verwandlung in einem neuen Med ium erinnert sowohl an Hegel als auch an religiose Eschatologie.603 Moglicherweise geschieht also im "kleinen" Rechtskonflikt nichts anderes als in der "groBen" Gesellschaftstheorie, wo die "Integration through law"-Bewegung auf eine ahnliche Konflikt-Entfremdungslogik baut,604 dabei aber ignoriert, dass die urspriinglichen Konfrontationen nicht verschwinden, sondern nur in eine andere Sprache iibersetzt (eben verfremdet) werden konnen und sich einzig (aber immerhin) dort - jenseits ihrer selbst -, im neuen Medium Recht, gleichsam stellvertretend zugunsten der einen oder anderen Seite entscheiden lassen.6os Nun ist das Medium Recht aber nichts anderes als Sprache und Sprache allein entscheidet nichts, Indem sie dem Recht jene ihr grundsatzlich fremden Konfliktrationalitaten "begreift" - und sich damit zwangslaufig an ihnen vergreift -, stellt sie noch kein berechenbares MaB- bzw. Regelsystem bei.606 Sie (und mit ihr das Recht) wird konkret erst durch ihre Verwendung, durch die Behauptung einer bestimmten Bedeutung.s'" Das Recht hangt mithin an der jeweiligen Verwendung der Sprache. Doch just weil die Sprache an sich der jeweils konkreten Sache nicht gerecht werden kann - weil sie diese noch nicht richtet -, wird sie ihr gerecht. Diese Tatsache ist in Demokratien nicht selten eine wichtige Voraussetzung fur die Moglichkeit von Gesetzen.t'" Sie entscheiden noch nichts und finden deshalb - auf602 Insofern muss die Recht skunst versagen, ist ihr Proprium dasjenige der Fiktion und die Entfremdung des Konflikts selten mehr als dessen Enteignung; eine gelingende Ruckiibersetzung dagegen reines Gliick . TeubnerlZumbansen, Rechtsentfremdungen, S. 194 f.; zu letzterem auch Teubner, Altera Pars Audiatur, S. 212 ff. 603 ,,[. .. ] und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschre i noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen . Und der auf dem Thron saB, sprach: Siehe, ich mache alles neu!" Offb. 21, 4-5; "Das sage ich aber, liebe Bruder, dass Fleisch und Blut das Reich Gottes nicht ererb en konnen; auch wird das Verwesliche nicht erben die Un verweslichkeit. Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht aile entschlafen, wir werd en aber aile verwandelt werd en; und das plotzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune." 1. Kor. 15,50-52. 604 Zu dieser Bewegung als europaisches Phanomen Haltern, Europarecht und das Politische, S. 279 ff. und 292 tiber die nationalen Widersclnde gegen Rechtsvere inheitlichungen. 605 Vgl. TeubneriZumbansen, Rechtsentfremdungen, S. 194 f. 606 Vgl. Luhmann, Rechtssoziologie, S.104f. 607 Vgl. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 242 § 9 f., S. 262 § 43 sowie Cassirer, Axel Hagerstrom, S. 88; siehe auch Amstutzl Niggli, Recht und Wittgenste in I, S. 9. 608 Es ist die sprachlich bedingte Unberechenbarkeit der gesetzlichen Intervention, welche zur Bedingung ihrer Moglichkeit wird . Vgl. Baecker, Form und Formen, S. 273 f.; ,,[I]n
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Schlussfolgerungen
grund der Bedeutungsoffenheit ihrer allgemeinen Form - eine Mehrheir.t'" Der offenen Semantik der Begriffe wegen sind die Konflikte allein durch ihre Bannung in Sprache noch nicht entschieden, aber auch nicht erwa entscheidbar geworden. Die Idee der Entscheidbarkeit basiert auf unseren Vorurteilen gegeniiber der Sprache, auf ihrer Voreinstellung durch uns, die einem ein-, ausund abgerichteten Spiel mit ihren Elementen (qua Worten) entspricht, deren semantische Ausschlage indes stets auch Argumente fiir den Verlierer des Spiels, mithin die unterlegene Seite der Scheidung liefern konnten.s' ? Denn: nicht jedermann spielt mit ihnen dasselbe Sprachspiel.f!' Die Entscheidung ist letztlich eine Dezision - moglich nur mit dem Riicken zum ewigen Gesprach, zur babylonischen Sprachverwirrung der Normtexte.612 Diese bringt uns von der Entscheidung abo Entschieden werden muss blind und taub, gewisserma6en in einer "Sinnpause" .613 "Mit dem Entscheiden sind wir [. . .] an einem Punkt, an dem zugleich alles zu Ende ist und wieder neu anfangt. Es ist der Punkt der Tat."614 Insofern kann auch Schmitt sagen, dass ,,[v]on dem Inhalt der zugrundeliegenden Norm aus betrachtet [. .. ] jenes kon -
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der vorn Gesetzgeber verlautbarten Norm ist die Rechtsregel noch nicht enthalten, jedoch die Moglichkeit, sie festzulegen". Niggli/Amstutz, Recht und Wittgenstein II, S.166. Vgl. Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 309 sowie dens., Organisation und Entscheidung, S. 93; wir denken dabei besonders an politische Systeme mit Mehrparteienkoalitionen bzw. an direktdemokratische Systeme mit der Moglichkeit des Gesetzesreferendums. "Wie normativ ist Sprache? Sprache ist nicht normativ. Normativ sind Sprecher. Insbesondere juristen, wenn sie Sprachkonflikte entscheiden." Christensen/Sokolowski, Wie normativ ist Sprache?, S. 77. Zum Ganzen auch Amstutz/Niggli, Recht und Wittgenstein III, S. 20 f. Insofern stellt auch die von Amstutz/Niggli im Anschluss an Wittgenstein gesuchte, fiir eine Entscheidung relevante, einheitliche Lebensform ein Problem dar (vgl. ebd., S. 12, 17,32 f.); erstens, weil auch eine vermeintlich fesrgestellte Lebensform immer nur eine Konstruktion sein kann (Homogenisierung von an sich Heterogenem), und weil zweitens der allgegenwartige Konflikt bereits das Vorhandensein unterschiedlicher Lebensformen impliziert , Abgesehen von wenigen Fallen (etwa bei Binz, Gesetzesbindung, S. 137 ff., vgl. auch 123 ff.), kann die Lebensform allein nicht geniigen, urn eine bestimmte Rechtsanwendung zu rechtfertigen. Zudem diirfte die zur Bestimmung der korrekten Rechtsanwendung erforderliche Feststellung einer "herrschenden" Lebensform selten ohne gehorige Komplexitatsreduktion und entsprechende Schlagwortrhetorik gelingen. Jedenfalls eignet sich die "gesellschaftliche Prax is" in pluralistischen Rechtsstaaten kaum je als in konkreten Rechtsfallen relevanter Lebensform-Indikator. Das wusste keiner besser als Schmitt. Vgl. nur dens., Gesetz und Urteil, sowie dens., Der Hiiter der Verfassung, S. 45 f. und dens., Politische Theologie, S.37; iiber eine diesbeziigliche Nahe Luhmanns zu Schmitt siehe vorne Fn. 277. Friedrich Muller, in: Christensen/Muller/Patterson/Sokolowski, Gesprach, S. 156; zur Augenbinde bei Justitia Kiesow, Das Alphabet des Rechts, S. 151 f. Sokolowski, in: Christensen/Muller/Patterson/Sokolowski, Gesprach, S. 154.
Das Recht zwischen Konfliktentfremdung, Dezision und Konfl iktprovokation
stitutive, spezifische Entscheidungsmoment etwas Neues und Fremdes" sei. Das heiBt: "Die Entscheidung ist, normativ betrachtet, aus einem Nichts geboren."615 Sprache jedenfalls ist in diesem Moment ausgesetzt. Urteilsgriinde finden sich danach - dank hinreichender Bedeurungsiiberschiisse mehrfach verfiigbarer Normensprachen - wie Sand am Meer.616 Doch erst mit dem Entscheid kommt Sprache wieder in Gang, indem sie Normierung fingiert.?" Mit dem Urteil wird freilich dasjenige, was zuvor geschieden war, namlich die unterschiedlichen Parteiinteressen, einseitig verengt - eben: entschieden. Egal, wie "adaquat" eine allfallige Kompensation ausfallt, wie genau ein Schaden verrechnet und abgegolten wird - "liquidieren" lasst sich dieser und damit der Konflikt nur symbolisch, wodurch bekanntlich zugleich das Diabolische mitgesetzt ist.618 Im Mittel der richterlichen Abgeltung und Entschadigung oder des rechtlich-politischen (umverteilenden) Ausgleichs werden die Konflikte und Parteiinteressen lediglich materialisiert bzw. monetarisiert, nicht aber wie selbstverstandlich beseitigt _619 zumal deren Wert und Quantifizierung in aller Regel streitig ist, Und so wachst durch ihre "Verwandlung" in Geld denn auch vielmehr ihre potentielle Unstillbarkeit bzw. Unersattlichkeit.620 Das Medium Geld erweist sich als ebenso ungenaue und instabile, da eigendynamische (Rechts)Grundlage wie die Sprache. Abgesehen davon ist auch die Unterscheidbarkeit von verrechenbaren und nicht verrechenbaren Konflikten nur eine erkenntnistheoretische Konstruktion. Die klare Zuordnung samtlicher Konflikte in die Kategorie Verteilungskampfe einerseits - weIehe eben als teilbare im Weg eines "Mehr-oder-Weniger" dem Kompromiss und damit ihrer Entscharfung, besser noch : Beilegung zuganglich sind - , und Anerkennungskampfe andererseits, die als soIehe keine Vermittlungslosung, nur ein "Entweder-oder", mithin keine Teilbarkeit kennen, ist unrealistisch.S! Zumal eine a-pr iori-Kategorisierung aller Konfliktfalle 615 Schmitt, Politische Theologie, S. 37 f. 616 Vgl. Wenger, Eine Formsache, S.246 ; "Das, woran sich die Entscheidung legitimiert, liegt nicht vor ihr (als pos itives Gesetz, als Kulturnorm oder Norm des freien Rechts), sondern ist (mit Hilfe des po sitiven Gesetzes, der Kulturnorm oder der Norm des freien Rechts) erst zu bewirken." Schmitt, Gesetz und Urteil, S. 97 f. 617 Zur "Sprachnormierung" vgl. Sokolowski, in: Christensen/ Midler/Patterson/ Sokolowski, Gesprach, S. 154 f. sowie Christensen, ebd., S. 155; siehe auch Christensen/Sokolowski, Wie normativ ist Sprache?, S. 73 f. und Dedeyan, Die richterliche Entscheidung,
S.233 f. 618 Vgl. Luhmann, Wirtschaft der Gesellschaft, S. 258 ff. 619 Nochmals eingehend dazu Teubner, Altera Pars Audiatur, S. 211 f.; zum Volk errecht als problematischer Problernloser vgl. ausfiihrl ich Koskenniemi, From Apolog y to Utopia, S.24 ff. 620 Vgl. Luhmann, Riickgabe , S. 53 ff. sowie (auch zum Obigen) Lyotard, Der Widerstreit, S. 286 (Nr. 242),299 (Nr.263) . 621 Vgl. aber Hirschman, Wieviel Geme insinn braucht die liberale Gesellschaft?
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Schlussfolgerungen
entweder in die eine oder die andere Gruppe ist zu rigide, mag wohl in der Theorie richtig sein, aber nichts fur die Praxis taugen (Kant). Es gibt in Bezug auf die Konfliktbewaltigung keine per se teilbaren oder unteilbaren Giiter, welche je nur enrweder der integralen Anerkennung bzw. Abweisung oder aber einem verteilenden Kompromiss zuganglich waren, Scheinbar verrechenbare Konfliktgegenstande konnen je nach Anspruchsgegner immer auch zu fur dies en unteilbaren, unverhande1baren GraBen werden, mit welchen er sich "bis zum Letzten" assoziiert bzw. identifiziert, derweil scheinbar Unverrechenbares unerwartet der Quantifizierung und Abge1tung zuganglich wird. 622 Wir erinnern hier mit Schmitt die Unberechenbarkeit und Selbstandigkeit "des Politischen't.v" die sich mit der allgemeinen Hypertrophie, einem unkontrollierten Wachstum bzw. Dominanzstreben der Systeme, nur noch zuspitzt, Gehart es doch zum dilemmatischen Credo liberal-pluralistisch gesinnter Gesellschaften, dass sie dazu tendieren, die oft beihilfeunterstiitzte Anerkennung der zunehmenden Selbstbehauptu ngsbedurfnisse ehedem unscheinbarer (privater) sozialer Systeme als legitime und angemessene Antwort auf deren vorgebliche Re1evanzsteigerung zu akzeptieren. (Das Stichwort "Polykontexturalitat" als Problemkern sei hier nur pro memoria nochmals erwahnt), Das heutige Staats- und Verwaltungsrecht ist als ein neuerzeitlicher Hybride aus der vormals obrigkeitlichen Macht qua Politik einerseits und dem urspriinglich die Verhaltnisse zwischen gleichgeordneten Privaten regelnden Recht andererseits hervorgegangen.S " Quasi als Korrektur zur Abgrenzungsfreiheit schiitzenden und so mehr inhaltsausschliellenden als -anfullenden Form der Privatrechrsordnung, erlaubt sich das politisierte affentliche Recht jenen austeilend-ausgleichenden, mitunter benevolenten Obergriff und schafft damit letztlich auch einen anderen Rechtsbegriff. Die " Ent deckung" des Rechts durch die Politik erweist sich fur dieses als im eigentlichen Sinn fata1. 625 In den Worten Luhmanns: "Ein gewaltiges Anschwellen des Normmaterials ist die Folge. Rechtsnormen werden zum Sediment vergangener Politik mit zunehmenden Schwierigkeiten bei ihrer Reliquidierung fur neue politische Ambitionen. Was an Recht vorliegt, ergibt sich nun nicht mehr aus dem Vorkommen von Konflikten, fur deren Entscheidung generalisierbare Rege1n entwickelt werden miissen; sondern das Recht schafft durch den Versuch, po liti-
622 Vgl. auch Wenger, Negative ]urisprudenz, S. 61 ff. 623 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 26 f. 624 Uber die Inexistenz von Staats-Recht in der romischen Republik Fagen, Rornische Rechtsgeschichten, S.211; vgl. auch Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 408 ff.; iiber das vorerst unpolitische 6ffentl iche Institutionenrecht im 19.]ahrhunden konzis Wietbolter, Rechtswissenschaft, S.65, 72; vgl. auch Landwehr, Die Einh eit der Rechtsordnung in der Rechtsg eschichte, S. 46 ff. 625 Naheres zu den umsetzungstechnischen Konsequenzen fur das offentliche Recht bei Wenger, Negative ]urispruclenz, S. 52 ff.
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sche Ziele zu realisieren, erst die Konflikte, die zu losen es dann berufen ist, "626 Egal, auf welchen der modernen Gotter Recht und Politik sich dabei stiitzen. Ob Freiheit, Gleichheit oder Gerechtigkeit; allesamt niitzen sie ihnen als rhetorischer Diinger zur unablassigen Selbstbefruchtung qua Autopoiese zwecks Wachstum und Selbstentfaltung. Politik und Recht bilden einschlagige Beispiele fur eine ganz normale - in unserem Fall noch wechselseitig verstarkte Hypertrophie der Systeme. Ob ihre systematische d. h. systemtypische Selbstentfaltung, ihre gezielte Komplexitatssteigerung als permanente innovative Selbsterfindung und Selbstausschopfung bereits Symptome der Selbsterschopfung zeigt,627 gilt es an anderer Stelle zu erortern, Vorerst bleibt die Gewissheit, dass sich die Evolution auch um eine Systemdeformation kiimmern und neue Formen bereitstellen wiirde,
II. Vorn Recht da oben Ne in, eine Grenze hat Tyrannenmacht: Wenn der Gedriickte nirgends Recht kann finden, Wenn unertraglich wird die Last - greift er Hinauf getrosten Mutes in den Himmel Und holt herunter seine ew'gen Rechte, Die droben hangen, unveraulierlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbstder alte Urstand der Natur kehrt wieder, Wo Mensch dem Menschen gegemibersteht Zum letzten Mittel, wenn kein andres mehr Verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben Der Guter hochstes diirfen wir verteid'gen Gegen Gewalt - Wir stehn vor unser Land, Wir stehn vor unsre Weiber, unsre Kinder! Stauffacher in Friedrich Schillers Wilhelm Tell (Zweiter Aufzug, Zweite Szene)
626 Luhmann, Recht der Gesellschaft, S. 416, vgl. auch 278. Die Verrechtlichung der Politik wurde freilich schon im 19.Jahrhundert gefordert, wobei das Recht dem Staat bzw. der Politik zu einer besonderen Legitimation verhelfen sollte. Dazu Gierke, Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien, S. 312: "Der Staat bedarf, urn die innere Kraft zur Durchfiihrung seiner Kulturmission zu erlangen, der Unterstiitzung durch den Rechtsgedanken; wiirde er lediglich als handelnde Macht empfunden, die nur wei! sie die physische Gewalt hat, bei jedem fur zweckrnassig erachteten Willensakt Gehorsam beansprucht und findet, so miisste alles politische Leben in Despotismus erstarren; und so sucht der gesunde Staat seine Macht zugleich auf das Recht zu begrunden", was nun die Staatsmacht - angesichts der heutigen "Gesetzesflut" auch nicht eben undespotisch werden lasst. 627 In diesem Sinne Teubner, Selbstsubversive Gerechtigkeit, S. 32 f. und mit N achdruck Schutz, gerechten Ton, S. 69 ff.
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Schlussfolgerungen
Die politischen Programme Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit finden in ihrer abstrakten Ausgestaltung Eing ang in die Verfassung . Aber auch dort gilt: "their abstract perfection is their practical defect" .628 Die sogenannte Einheit der Rechtsordnung, etwa als Einheit verschiedener Teilrechtsordnungen und ihrer jeweiligen Prinzipien, bricht im konkreten Fall - also dort, wo Recht iiberhaupt erst aktuell wird - auseinander und erweist sich als fragmentarisch.s" Sie kann gegeniiber den rechtssuchenden Parteien nur als Einheit bzw. Eindeutigkeit aufgefuhrt werden, indem die Urteilsbegriindung die Richtigkeit qua Rechtrnaliigkeit der so und nicht anders gefallten Entscheidung rhetorisch zwingend behauptet. Und hierzu dienen ihr ganz wesentlich die bekannten Elemente der Gesetzesaus- qua -einlegung (wie die grammatische, historisch-entstehungszeitliche ("der Gesetzgeber wollte . . .") bzw. zeitgemaBe Lesart, die systematische oder teleologische Deutung). Die Idee der Aus legung nimmt Bezug auf den Gesetzgeber. Die Gerichte und Vollzugsbehorden erweisen ihm die Referenz, fingieren dessen Souveranitat, indem sie Seine Gesetze auslegen . In der Dernokratie ist er schliefslich der neue Gott,630dessen Befehle Gerichte und Verwaltungsorgane nur ausfiihren. Dies jedenfalls suggeriert die Auslegungsrhetorik, welcher sich die Gerichte bedienen und mit welcher sie sich sowohl legitimieren als auch unschuldig reden konnen (Legendrej.v'! Die Idee, dass Recht eine objektive, im Voraus existierende GroBe sei, in welcher der eigene Fall quasi immer schon (mit)entschieden ist bzw. aus welcher ein bestimmtes Ergebnis fur den konkreten Fall mit logischer Norwendigkeit ergehe, entspricht einer weit verbreiteten allgemeinen Rechtsvorstellung,632 welche wiederum die Vorstellung qua Auffiihrung von Recht im 628 So bereits Burke tiber die Menschenrechte in seinen Reflections on the Revolution in France, S. 52 von 1789/90. 629 Man vergleiche nur die Polaritat unter den Grundrechten oder aber den Widerstreit zwischen der Vertragsfreiheit im Privatrecht und dem Antidiskrimin ierungsanspruch des Verfassungsrechts . 630 Vgl. Schmitt, Politische Theologie, S. 44 f. 631 Exemplarisch BGE 128 I 34, 41: "D ie Auslegung des Gesetzes ist zwar nicht entscheidend historisch zu orientieren, im Grundsatz aber dennoch auf die Regelungsabsicht des Geset zgebers und die damit erkennbar getroffenen Wertentscheidungen auszurichten, da sich die Zweckbezogenheit des rechtsstaatlichen Norrnverstandnisses nicht aus sich selbst begriinden lasst, sondern aus den Absichten des Gesetzgebers abzuleiten ist, die es mit Hilfe der herkomrnlichen Auslegungselemente zu ermitteln gilt." 632 Vgl. dazu bereits das Rechtsverstandnis der alten Romer: Cassirer, Axel Hagerstrorn, S. 92 H.; Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 196; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 647 f.; so auch bei Arthur Meier-Hayoz. Vgl. dazu kr itisch Amstutz, Der Text des Gesetzes, S. 261 f. oder Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, S. 336 f.; gegen diese "Vorstellung vorn [Gesetzes]Text als einem Behalter [. .. ], worin die Entscheidung des Rechtsfalls schon enthalten sei und nur noch ausgelegt werden miisse" Muller/Christensen, Juristische Methodik, Rz.346 et passim (Erganzung D .W.); vgl. eingeh ender
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Einzelfall durch die Rechtsanwendung und Rechtsprechung pragt (Subsum tion, Rechtscerkennmis'Yf" Diese ergehen sich gerne in die weitgehend rhetorische Darbietung einer beruhigenden Utopie, in welcher sich die jeweiligen "Rechtsunterworfenen" verfasst und somit aufgehoben fiihlen diirfen. Just die Figur der "Rechtsunterworfenen" gibt zu verstehen, dass gleichsam "uber uns" eine bestimmte objektive Ordnung herrschen und als solche erkennbar sein soIl, obschon sie im Einzelnen - da, wo es zahlt! - gerade unklar ist. Sie steht sozusagen fur einen iiber uns wohnenden .Jieben Vater", der alle seine ihm unterstellten Kinder gleich gerecht behandelt.t" Und wei! der bis zur Franzosischen Revolution ungleich behandelte Mensch grundsatzlich an seiner Gleichbehandlung zweifelt, will er die neue Ordnung nun klar und deutlich sehen, weshalb sich der Rechtsbetrieb zumindest so auffiihren muss, als ob er gleich behandeln wiirde. 635 Die Gleichbehandlung - als Ausweis der Gerechtigkeit des Rechts - bedarf somit argumentativer Feststellung. Die Begriindung erst fabriziert jene Subsumtion unter die gewiinschten Stellen der Rechtsordnung. Nur die Begriindung schafft mithin Rechrs.erkenntnis", "findet" Recht, wenn auch erst nachtraglich; sie ist die eigentliche Recht-Fertigung, das unverzichtbare Rechtssupplernent.v" Die Erklarungen der Gegenpartei bemiihen sich dann urn die Erkenntnis, dass vorliegend gerade kein Recht, oder aber ein anderes, zu erkennen sei.637 Das Einlesen und Einpassen eines Sachverhalts in eine geeignete Norm gleicht nicht selten der
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dies., Rechtstext und Textarbeit, S. 72 ff.; vgl. auch Weber-Durter, Vertrauensschutz, S.238. D er dogmatische und/oder grundgesetzliche Begriff der "Gesetzesbindung" untersriitzt entsprechende Simulationen, Den Begriff fiir die Schwei z ablehnend Biaggini, Verfassung und Richterrecht, S. 289 f., 305 ff.; aufgrund von Art. 20 III i.V. m. Art. 97 I GG spielt der Begriff in Deutschland dogmatisch eine wichtigere Rolle. Vgl. nur Christensen, Was heilit Gesetzesbindung?; uber die mittlerweile abgedroschene Skandalisierung der Rechtsontologen Bung, Einige Grundiiberlegungen. Vgl. Schillers von Beethoven vertonte "Ode an die Freude": "Bru der ! Uber'm Stemenzeit I Mus s ein lieber Vater wohnen. I Ihr sriirzt nieder, Millionen? I Ahnest du den Schopfer, Welt? I Such ' ihn iiber 'm Sternenzelt! I Uber Sternen muss er wohnen." Zur Verankerung de s menschlich gesetzten ius im gottlichenjas bei den Rornern und anderen archaischen Kulturen vgl. Cassirer, Axel Hagerstrorn, S. 95 ff. Die Erhabenheit qua Enthobenheit und Distanz erweist seine gottliche Gerechtigkeit . Es geht urn die Unereichbarkeit der Gerechtigkeit, welche das Recht letztlich nach eigenen Kriterien (re) konstruieren und berechnen muss. Insofern binden seine "Zauber [.. .] wieder, I Was die Mode streng geteilt. ' Und so wer den ,,[a]lle Menschen [...] Bruder, I Wo [s]ein sanfter Fliigel weilt." (letzte Erganzung D.W.). Dazu Muller/Christensen, Juristische Methodik, Rz . 346 f. sowie dies., Rechtstext und Textarbeit in der Strukturierenden Rechtslehre, S. 74 ff. Hierzu auch Christensen/Lerch, Von der Bedeutung zur Normativitat, S. 109 f. 139
Schlussfolgerungen
Arbeit des Prokrustes.s'" Wer die verschiedenen Falle einer bestimmten Norm anhangt, homogenisiert Heterogenes bzw. konsentiert Dissentierendes in ein und derselben Gruppe. Es gibt keine gleichen Falle.639 Wer Ungleiches verfasst, wird sich an ihm notwendigerweise vergreifen.
638 Vgl. Berlin, Freiheit, S. 254. 639 "Erkenntnis schematisiert, ignoriert die Unterschiede, setzt Dinge einander gleich, ohne all das auf Wahrheit zu griinden . Darum heiBt erkennen immer auch verkennen." Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, S. 26 (mit Bezug auf Nietzsche).
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