Person sein und Geschichten erzählen: Eine Studie über personale Autonomie und narrative Gründe
Tim Henning
Walter de ...
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Person sein und Geschichten erzählen: Eine Studie über personale Autonomie und narrative Gründe
Tim Henning
Walter de Gruyter
Tim Henning Person sein und Geschichten erzählen
≥
Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 90
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Person sein und Geschichten erzählen Eine Studie über personale Autonomie und narrative Gründe von
Tim Henning
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds der Wissenschaft der VG Wort.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020569-5 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort Dieses Buch handelt von der Rolle, die biographische Geschichten im Leben von Personen spielen. Die Idee lautet in wenigen Worten: Zu erzählen, was wir oder andere erlebt haben, ist eine Weise, bestimmte praktische Gründe zu artikulieren, und es zeichnet uns Personen als autonome Wesen aus, für Gründe dieser Art empfänglich zu sein. Das Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Frühjahr 2007 von der Universität zu Köln angenommen wurde. Es gibt viele Institutionen und Personen, die meine Arbeit sehr unterstützt haben. Ihre Hilfe gehört zu den besten Dingen, von denen ich erzählen kann. Zuvörderst danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, die dieses Projekt mit einem Stipendium gefördert hat. Ebenso möchte ich der Universität Princeton und ihrem Institut für Philosophie danken, die mir einen einjährigen Forschungsaufenthalt unter besten Bedingungen ermöglicht haben. Betreut wurde die Arbeit von Prof. M. Quante (Köln). Er hat das Projekt und mich unterstützt, wie ich es mir nicht besser wünschen könnte. Prof. J. Früchtl (Amsterdam) hat mich ursprünglich davon überzeugt, das Projekt zu verfolgen, und hat es ebenfalls mit Interesse und Engagement begleitet. Auch den Teilnehmern der Kolloquien von Prof. Quante und Prof. Früchtl danke ich für vielfältige Anregungen. Prof. T. Grundmann (Köln) hat aus einem Zweitgutachten einen intensiven und anregenden Gedankenaustausch gemacht. Besonderer Dank gilt Prof. A. Nehamas (Princeton), mit dem ich oft und lange über die Ideen dieses Buchs habe sprechen können. Ebenso hatte ich Gelegenheit, Entwürfe einiger Teile des Buches im Kolloquium von Prof. C. Halbig an der FSU Jena vorzustellen. Auch Prof. Halbig und den Teilnehmern danke ich herzlich. Schließlich danke ich Prof. M. Smith (Princeton) und Prof. G. Sayre-McCord (North Carolina) für die Erlaubnis, einen unveröffentlichten Text zu zitieren. Felix Timmermann danke ich für wertvolle Hilfe bei der Endredaktion. Zuletzt und vor allem danke ich meiner Frau Katja und meiner Familie. Meine besten Geschichten handeln von Euch, und ich bin glücklich, in Euren vorzukommen. Jena, im November 2008
Tim Henning
Inhalt Vorwort Inhalt
....................................................................................................... ..........................................................................................................
V VII
Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen ............................. § 1. Einleitung .................................................................................... § 2. Die Vielfalt narrativistischer Theorien ................................... § 3. Einwände und Adäquatheitsbedingungen .............................. § 4. Ein Beispiel .................................................................................. § 5. Die These und der Aufbau dieses Buches ..............................
1 1 2 10 18 21
Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung § 6. Einleitung ..................................................................................... § 7. Vorüberlegungen: Etwas wirklich wollen und sich mit etwas identifizieren ................................................................................ § 8. Autonomie und der Begriff der Person ................................... § 9. Ein Standardmodell und seine Schwierigkeiten ..................... § 10. Eine Theorie der Identifikation ................................................ § 11. Identifikation und Autonomie .................................................. § 12. Identifikation und Rechtfertigung ............................................ § 13. Eine synchrone Bedingung der Authentizität: Kohärenz .... § 14. Authentizität und die Artikulation mentaler Gehalte ............ § 15. Eine diachrone Bedingung der Authentizität – Einleitung § 16. Ein Argument für eine biographische Bedingung der Authentizität ............................................................................. § 17. Die Form einer kombinierten Bedingung der Authentizität § 18. Lebensgeschichtliche Einbindung und lebensgeschichtliche Karriere ...................................................................................... § 19. Aspekte der lebensgeschichtlichen Einbindung von Einstellungen ............................................................................ a) Der Aspekt der Verlässlichkeit .......................................... b) Der Aspekt der akzeptablen Bedingtheit ........................ c) Der Aspekt der deliberativen Robustheit ........................ d) Der Aspekt der biographischen Gründe ......................... § 20. Biographisches Wissen und Rechtfertigung ........................
28 28 28 33 43 56 69 80 88 94 105 108 113 118 127 128 130 133 134 138
VIII
Inhalt
§ 21. Biographische Rechtfertigung und Intersubjektivität ........ § 22. Der evaluative Charakter der Lebensgeschichte .................
143 147
Teil II: Was ist eine Narration? ........................................................... § 23. Einleitung .................................................................................. § 24. Eine philosophische Theorie der Narrativität? .................. § 25. Klärungen: Narration, Fiktion, Literatur .............................. § 26. Alltagsnarratologie, Analyse und Revision ........................... § 27. Die Theorie der Narrativität (N ) ......................................... § 28. Erläuterungen I: Grammatische Bedingungen .................... § 29. Erläuterungen II: Semantische Bedingungen ...................... a) Die Bedingung der Ereignisreferenz ................................ b) Diachronizitätsbedingung und Sequenzialitätsbedingung c) Die Bedingung des Sinnzusammenhangs ........................ d) Semantische Intentionalitätsbedingung ........................... § 30. Erläuterungen III: Pragmatische Bedingungen ................... a) Zum Begriff der Dramatik ................................................. b) Epistemischer Horizont, Wahrscheinlichkeit und Überraschungswert ............................................................ c) Emotionales Urteilsvermögen und emotionale Signifikanz d) Emotionen, Erwartungen und dramatische Struktur .... e) Ganzheitsbedingung ........................................................... § 31. Bemerkungen zu Individuation und Kontextabhängigkeit
153 153 153 159 162 167 170 173 174 178 183 190 195 198
Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration ..................... § 32. Einleitung .................................................................................. § 33. Was ist es genau, das narrativ sein soll? .............................. § 34. Biographische Konzeptionen und ihre möglichen Verbalisierungen ....................................................................... § 35. Die kleinsten Einheiten lebensgeschichtlicher Einbindung: Episoden .................................................................................... § 36. Biographische Konzeptionen und die grammatischen und semantischen Bedingungen für Narrativität ........................ § 37. Biographische Konzeptionen und die pragmatischen Bedingungen für Narrativität ................................................. § 38. Intersubjektivität und Narrativität .........................................
234 234 235
Schluss: Narrative Gründe und narrative Kritik
................................
265
Literaturverzeichnis ................................................................................ Sach- und Personenregister ...................................................................
274 284
202 208 214 220 226
237 241 245 248 260
Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen § 1. Einleitung „Erzähl doch mal die Geschichte, wie du damals...!“ Wir sind mit Aufforderungen dieser Art vertraut, und wir haben meist keine Schwierigkeiten, ihnen nachzukommen. Wenn wir es tun, produzieren wir komplexe Äußerungen über Ereignisse in unserem Leben, und unsere Zuhörer beurteilen kompetent, ob diese Äußerungen ihren Wunsch nach einer Geschichte erfüllen. Der Austausch von Geschichten ist eine eingespielte Praxis. Das allein ist noch nicht sehr aufregend. Aber es gibt gegenwärtig eine Vielzahl von Philosophen, Kognitionspsychologen, Soziologen und Kulturwissenschaftlern, die überzeugt sind, dass Geschichten für uns nicht nur ein Zeitvertreib sind; vielmehr sind sie in einem bestimmten Sinne konstitutiv für das, was wir sind. Wir wären nicht die Wesen, die wir sind, wenn wir keine Geschichten über uns und unser Leben erzählen würden. Das Ziel dieses Buches ist, dafür zu argumentieren, dass eine bestimmte Variante dieses Gedankens wahr ist. Soweit pflichte ich seinen zahlreichen Verfechtern also bei. Aber ich werde einige Mühe darauf verwenden, den Gedanken genau zu formulieren und Argumente für ihn zu entwickeln. Ebenso werde ich eine detaillierte Theorie der Narrativität erarbeiten. Indem ich all dies tue, lege ich zumindest in Form pragmatischer Implikaturen nahe, dass dergleichen noch immer nötig ist. Und das ist tatsächlich meine Ansicht, der Popularität einschlägiger Theorien zum Trotz. Indirekt gibt dieses Buch daher auch den Kritikern des skizzierten Gedankens Recht. Diese Kritiker werden in jüngster Zeit zahlreicher, und sie sprechen den Befürwortern wohldefinierte Begriffe und gute Argumente gleichermaßen ab. Ich stimme ihnen zu, verstehe ihre Kritik aber als Ansporn, den Gedanken angemessener zu verteidigen. Darum geht es in diesem Buch.
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
§ 2. Die Vielfalt narrativistischer Theorien In einer ersten Annäherung lautet meine Version des eben skizzierten Gedankens so: Biographische Geschichten sind wichtig, weil sie eine zentrale rechtfertigende Rolle für diejenigen Einstellungen und Entscheidungen spielen, die uns als autonome Wesen auszeichnen. Bevor ich diese These aber in genauerer Form präsentiere, ist etwas Überblick hilfreich. Im Folgenden stelle ich daher zunächst die theoretischen Optionen dar, die sich überhaupt bieten. So lassen sich existierende Positionen diskutieren, und mein Vorschlag wird sich einordnen und in seinen Zielen und Beschränkungen besser verstehen lassen. Dazu empfiehlt es sich jedoch, zunächst etwas abstrakt zu verfahren. Speziell will ich von einigen Unterschieden absehen, die zwischen verschiedenen Ansätzen gerade in den zentralen Begriffen bestehen. Es werden z. B. sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber vertreten, was Narrationen1 oder Geschichten als solche auszeichnet. Entsprechend kann es vieles heißen, dass ein Wesen sich und seine Geschichte zum Gegenstand solcher Narrationen macht. Um vorerst keine spezielle Interpretation voraussetzen zu müssen, führe ich ein künstliches Prädikat N ein.2 Man nehme an, wir hätten eine explizite und vollständige Theorie T über Narrativität. Ebenso wären die Adäquatheit und die korrekte Interpretation von T allseits unstrittig. Dann sei N das Prädikat, das von einem beliebigen x genau dann erfüllt wird, wenn x sich und seine Geschichte im von T spezifizierten Sinne zum Gegenstand von Narrationen macht. Das ist noch nicht alles. Ebenso ist es hilfreich, vorerst von spezifischen Vorlieben bezüglich der Entitäten, von denen N prädiziert wird, abzusehen. Einschlägige Autoren sprechen von vielerlei: von Personen, Selbsten, Subjekten, Menschen, kognitiven Systemen oder sozialen Akteuren. Man nehme wiederum an, wir seien uns einig darüber, wovon wir
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Der Begriff der Narration ist zwar in theoretischen Debatten gängige Münze, aber er ist ein Kunstbegriff. Erst später wird er explizit eingeführt. Vorderhand ist er so zu verstehen wie unser Alltagsbegriff „eine Geschichte“. Eine weitere Anmerkung: Mitunter tauchen in diesem Buch Wendungen wie „Geschichten über die eigene Geschichte erzählen“ auf. Dies geschieht aber nur da, wo die richtige Auflösung der Ambiguität des Ausdrucks „Geschichte“ eindeutig aus dem Kontext ersichtlich ist. Meine Argumentation wird diese Ambiguität (zwischen „Geschichte“ als Begriff für bestimmte Ereignissequenzen und „Geschichten“ als Begriff für spezielle Repräsentationen solcher Ereignissequenzen) nirgends ausnutzen. Eine kurze technische Bemerkung: Ich verwende kursiv gedruckte Großbuchstaben sowohl als schematische Buchstaben oder Variablen für Prädikate als auch als Namen dieser Prädikate, so dass Anführungszeichen wegfallen können, sofern der Kontext eindeutig anzeigt, welche Deutung intendiert ist. Eine weitere Anmerkung: Auch für die so genannte quasi-quotation (vgl. z. B. Pollock 1990, 63 f) verwende ich spezielle eckige Anführungszeichen nur, wo formale Genauigkeit besonders wichtig erscheint.
§ 2. Die Vielfalt narrativistischer Theorien
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sprechen, nämlich von Wesen der Art F oder kurz: von Fs. Weiter sei angenommen, wir verstünden den Term F, kennten also die mit ihm assoziierte Intension sowie weitere semantische Werte, die er tragen mag. Ebenso wüssten wir um Identitäts- und Persistenzbedingungen, deren Kenntnis Teil der kompetenten Verwendung von F ist, etc. Nach diesen Idealisierungen bleibt von der einleitend skizzierten Idee nur ein schematisches Satzgerüst der Form „Fs sind N“ übrig. Ich nenne assertorische Aussagen, die diese schematische Form haben, narrativistische Aussagen über Fs. Narrativistische Theorien sind dann die, zu deren Annahmen oder Theoremen narrativistische Aussagen zählen. Dass hier terminologischer Gebrauch von „-ismen“ gemacht wird, soll übrigens nicht etwa auf einen sehr emphatischen oder apodiktischen Charakter solcher Aussagen und Theorien hinweisen. Es soll lediglich eine logische Ebenendifferenz kennzeichnen: Es handelt sich eben um Aussagen und Theorien über Narrativität und nicht um narrative Aussagen und Theorien. Auch unter Voraussetzung der starken Idealisierungen, die eben eingeführt wurden, bleibt genug Raum für Unterschiede zwischen narrativistischen Ansätzen. Einige der besonders entscheidenden Unterschiede werden sogar erst unter dieser Perspektive mit der wünschenswerten Klarheit erkennbar. (Dies ist ja gerade der Zweck der Übung.) Insbesondere lässt sich ein wichtiger Unterschied deutlich machen, der in den bestehenden Debatten nicht immer klar getroffen wird: Narrativistische Thesen und Theorien können deskriptiv oder normativ sein. Ein Teil der Vertreter solcher Theorien behauptet also, dass es sich faktisch so verhalte, dass Wesen der Art F (Personen oder was auch immer) sich und ihre Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen. Ein anderer Teil hingegen fordert, dass solche Wesen dies tun sollten, dass es also gut, geboten oder rational sei. Deskriptive und normative narrativistische Thesen sind dabei logisch unabhängig. Die Wahrheit (bzw., falls man eine nonkognitivistische Theorie normativer Urteile vertritt: die Akzeptabilität) der normativen Thesen ist also kompatibel mit der Falschheit deskriptiver Thesen. Umgekehrt gilt dasselbe: Wer sagt, dass Fs ihr Leben faktisch narrativ beschreiben, muss nicht behaupten, dass dies gut sei. Ich mache diese generelle Unterscheidung nun zum Leitfaden der folgenden Kartographie des Raums der theoretischen Optionen. Zunächst geht es um verschiedene Varianten deskriptiver narrativistischer Thesen, danach um normative Versionen. Deskriptive narrativistische Theorien stimmen, grob gesagt, folgender These zu: (DN)
Fs sind N.
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
Das besagt zunächst nur, dass bestimmte Wesen sich und ihr Leben in Form von Geschichten repräsentieren. Allerdings sind hier Unterschiede zu machen. So können Formulierungen von DN allquantifiziert sein, also die Form: „∀x (Fx → Nx)“ haben. Sie können aber statt von allen Fs auch von paradigmatischen Exemplaren handeln, wie in: „Hunde haben vier Beine“.3 Der folgende Überblick konzentriert sich aber der Kürze halber vor allem auf die allquantifizierten Varianten deskriptiver Thesen. Eine etwas komplexere Differenzierung betrifft die modale Kraft solcher deskriptiven narrativistischen Thesen. Zunächst kann es sich bei Aussagen der Form DN um Behauptungen über kontingente Tatsachen handeln. Als solche Behauptungen kann man narrativistische Thesen in der Sozialpsychologie, der Psychoanalyse, den Kognitionswissenschaften und in der empirischen Soziologie verstehen.4 Auch Philosophen vertreten narrativistische Thesen mitunter als Aussagen über kontingente Tatsachen. Oft verleihen sie ihren Theorien aber auch die modale Kraft von Notwendigkeitsbehauptungen. Auch dann gibt es freilich noch Unterschiede: Manche narrativistischen Thesen sind als begriffliche Behauptungen zu interpretieren. Sie handeln nicht von entdeckten Eigenschaften von Fs, sondern von Erfüllungsbedingungen des Prädikats F. Unter dieser Lesart besagt DN also: Wenn wir etwas ein F nennen, sagen wir damit unter anderem, dass es sich und seine Geschichte zum Gegenstand von Narrationen macht. Daneben können narrativistische Thesen aber auch metaphysische Behauptungen sein. In diesem Falle handeln sie von essentiellen Eigenschaften der Entitäten, die faktisch Fs sind. Unter dieser Lesart gilt, dass jedes x, das in der aktualen Welt ein F ist, in allen möglichen Welten, in denen es existiert, Geschichten über sich und seine Geschichte erzählt. Das soll dabei unabhängig davon gelten, ob es in den jeweiligen Welten auch das Prädikat F erfüllt. Aussagen dieses Typs knüpfen die Notwendigkeit also nicht an die Bedeutung des Prädikats F, sondern an die Realessenzen der Dinge, die faktisch Fs sind. Die Standardtechnik, den Unterschied zwischen beiden Arten modaler Aussagen formal zu repräsentieren,
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Thompson (1995) und Foot (2001) deuten Aussagen dieses Typs freilich als normative. Wenn sie recht haben, dann wären diese Aussagen eigentlich im nächsten Abschnitt besser aufgehoben. Einflussreiche Arbeiten aus der Psychologie stammen z. B. von Bruner (1986), Gergen und Gergen (1988), Polkinghorne (1988) und Schafer (1995); eine Sammlung ist Sarbin (Hrsg.) (1986). In den Kognitionswissenschaften sind deskriptive narrativistische Thesen vor allem innerhalb „klassischer“ komputationaler Architekturen vertreten worden (vgl. z. B. Schank und Abelson 1977 und Rumelhart 1975). In der Soziologie gibt es sowohl quantitative als auch qualitative Ansätze in der narrativen Biographieforschung, siehe Elliott (2006) und Völter (Hrsg.) (2005).
§ 2. Die Vielfalt narrativistischer Theorien
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verschiebt den Skopus des modalen Operators. (DN) hat dann qua begriffliche Aussage die logische Form einer de dicto-modalen Aussage: (DNbegr)
Notwendig: Für alle x, wenn x ein F ist, ist x N (formal: (∀x Fx → Nx)),
während (DN) qua metaphysisch notwendige Aussage de re-modale Form hätte: (DNmetaph)
Für alle x, wenn x ein F ist, gilt notwendig: x ist N (formal: ∀x Fx → Nx).
Diese formalisierte Wiedergabe des Unterschieds zwischen begrifflichen und metaphysischen narrativistischen Thesen ist freilich nicht ganz präzise. Damit es sich beispielsweise im ersten Falle um eine echte de dictoModalität handelte, wäre zudem sicherzustellen, dass F kein rigider Ausdruck ist (vgl. Kripke 1980).5 (Für den Fall, dass man für F „Person“ substituiert, ist dies, scheint mir, plausibel. „Person“ denotiert nämlich nicht etwa eine natürliche Art6 – doch dazu später.) Ich vertraue hier darauf, dass meine Darstellung für die Zwecke eines ersten Überblicks hinreichend deutlich ist und nicht zu Missverständnissen führt. Neben diesen zwei Notwendigkeits-Lesarten gibt es noch einen anderen modalen Charakter, den DN annehmen kann: DN kann eine Aussage über Fähigkeiten, Dispositionen oder Tendenzen von Fs sein. In dieser Form sagt eine deskriptive narrativistische These nicht, dass es eine empirische, begriffliche oder metaphysische Tatsache sei, dass Fs N sind. Vielmehr wird eher gesagt, dass Fs N sein können. Dabei besteht die Möglichkeit iterierter Modalitäten: Man kann es als kontingent, aber auch als begrifflich (de dicto) oder metaphysisch (de re) notwendig ansehen, dass Fs diese Fähigkeit, Disposition etc. haben. Die Logik setzt der Generierung komplexerer modaler Kontexte keine Grenzen. Der Rahmen aber, in dem Thesen verständlich sind, ist sicher begrenzt.
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Ist dies doch der Fall (bezeichnet F also z. B. eine natürliche Art), so ist jedes x, das in der aktualen Welt ein F ist, in jeder Welt, in der es existiert, ein F. Dann kann es sein, dass es eine metaphysisch (nicht begrifflich) notwendige Eigenschaft von Fs ist, dass sie N sind, obwohl diese Fs dabei auch in allen Welten den Begriff F erfüllen. Hier gäbe es also eine modal robuste Verknüpfung der Prädikate F und N. Aber sie hätte nichts mit semantischen Gehalten zu tun, sondern damit, dass F und N beide essentielle Eigenschaften denotieren. Hierin gehe ich z. B. mit Quante (2002, 54) einig.
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
Nun deklarieren auch Philosophen den modalen Status ihrer narrativistischen Thesen nicht immer klar. Mir scheint aber, dass in der Philosophie sowohl empirische als auch metaphysische und begriffliche narrativistische Thesen über bestimmte Klassen von Entitäten vertreten werden. Dominant sind aber sicherlich begriffliche Behauptungen. A. MacIntyre (1981, 204 ff) zum Beispiel zeigt an Beispielen, dass die Interpretation des Handelns von Akteuren die Präsumtion sinnvoller diachroner Handlungszusammenhänge erfordert. Er schließt: „Narrative history of a certain kind turns out to be the basic and essential genre for the characterization of human actions“ (ebda., 208). Unter der Annahme, dass der Begriff der Person den eines Subjekts von Handlungen enthält, impliziert MacIntyres These dies: Es ist Teil des Begriffs der Person, dass das Tun von Personen in narrativen Zusammenhängen interpretiert werden muss. Auch bei C. Taylor (1996) heißt es, dass es zu den „Grundbedingungen des Selbstverstehens“ gehört, „dass wir das eigene Leben im Sinne einer narrativen Darstellung begreifen müssen“ (ebda. 94, Herv. von Taylor). Ich werde auf Taylors Konzeption später wiederholt eingehen. Hier lässt sich festhalten, dass auch Taylor weder über kontingente Tatsachen noch über beschreibungsunabhängige Realessenzen spricht. Vielmehr geht es auch Taylor um unseren Begriff davon, wer wir sind. Diese Einschätzung der modalen Kraft der narrativistischen Thesen MacIntyres und Taylors gilt, scheint mir, auch für die Theorien von Schapp (1953/2004), Arendt (1958/1983, 222 ff) und Ricœur (1991, 392 ff). Bevor ich mich dem Bereich der normativen Konzeptionen zuwende, bleibt noch eine Variante metaphysischer Thesen zu nennen. Thesen des Inhalts, dass Fs N sind, sind nicht nur als Antworten auf die Frage vorgebracht worden, was konstitutiv dafür ist, zu einem Zeitpunkt ein F zu sein. Es wurden auch narrativistische Bedingungen der Persistenz von Fs formuliert. Demnach ist der Umstand, dass Fs N sind, irgendwie konstitutiv für Fakten der Art, dass A zur Zeit t1 dasselbe F ist wie B zur Zeit t2. Ricœur (1996, 173 ff) etwa stellt eine solche Behauptung für die diachrone personale Identität auf.7 Nun jedoch zu normativen narrativistischen Thesen über Fs. Solche Thesen werden ebenfalls in einer Vielzahl von Formen vertreten, darunter in folgenden: (NN1)
Es ist gut, wenn Fs N sind.
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Allerdings ist Ricœurs Theorie revisionär gegenüber der Vorstellung der numerischen Identität von Personen über die Zeit. Ihm zufolge kommt es bei Personen nicht auf diachrone Identität oder „Selbigkeit“ an, sondern auf eine spezielle Relation diachroner Ipseität. Für letztere soll Narrativität konstitutiv sein.
§ 2. Die Vielfalt narrativistischer Theorien
(NN2) (NN3)
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Ein ideales oder perfektes F ist N. Es ist rational geboten, dass Fs N sind.
Auch diese Aussagen sind dabei natürlich modale Aussagen, aber eben nicht im Sinne alethischer Modalitäten. Normative narrativistische Thesen haben besonders oft die Form von (NN1). Sie sind ethische Thesen, die keine deontischen Begriffe der Pflicht, sondern evaluative Begriffe des Guten oder aretetische Begriffe der Tugend verwenden. Demnach wäre N-sein ein Konstituens der für Fs spezifischen Form eines guten Lebens. Insbesondere die schon genannten Autoren MacIntyre (1981), Taylor (1996) und Arendt (1983) kombinieren ihre deskriptiven Thesen mit der Behauptung, dass narrative Sinnzusammenhänge auch ein wichtiger Bestandteil eines guten Lebens für Fs seien. Sie alle verurteilen daher soziale und ideelle Veränderungen der Moderne, die diesen Aspekt eines gelingenden Lebens zunehmend verdrängen. Auch R. Rorty behauptet, dass „wir“ in für uns besonders bedeutsamen Begriffen „manchmal vorausgreifend und manchmal rückwärtsgewandt unsere Lebensgeschichte [erzählen]“ (1989, 127). Er spricht sich für eine liberale Form der Organisation „unseres“ Zusammenlebens aus, die es uns erlaubt, privatim die Perfektionierung dieser narrativen Biographien anzustreben. Ein Autor schließlich, der im Anschluss an Nietzsche und Proust eine perfektionistische ethische narrativistische These der Form (NN2) vertritt, ist A. Nehamas (1990). Es gibt jedoch Autoren, die eine deskriptive narrativistische These vertreten und sie dabei mit einer negativen normativen These verknüpfen. Dazu zählen zum einen manche postmodernen Autoren, für die ein Leben, das sich als sinnhafte und einheitliche Folge von Ereignissen darstellen lässt, zugunsten anderer Lebensweisen aufgegeben werden sollte. Zum anderen fallen in diese Kategorie Autoren, die unsere biographischen Narrationen einer Form der Ideologiekritik unterziehen. Bourdieu (1998) etwa nennt unsere Praxis des narrativen Selbstbezugs eine „biographische Illusion“. Sie schaffe eine „Ideologie des eigenen Lebens“, in der wir uns als Protagonisten sinnvoller Geschichten repräsentieren, während wir eigentlich Funktionen sozialer Verhältnisse seien. Auch Adorno kritisiert (in einem Brief an L. Löwenthal aus dem Jahre 1942), dass das Interesse an Biographien umso mehr zunehme, je weniger die Menschen tatsächlich ein eigenes Leben lebten. Es ist allerdings eine schwierige exegetische Frage, ob diese Autoren in der Tat fordern, dass wir aufhören sollten, uns und unsere Geschichte zum Gegenstand von Narrationen zu machen. (Es könnte ihnen ja auch darum gehen, die Verhältnisse so umzugestalten, dass es keine Ideologie mehr darstellt, wenn wir unsere Geschichte als einen sinnvollen narrativen Zusammenhang begreifen.)
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
Neben ethischen narrativistischen Thesen gibt es noch weitere normative Varianten. In der Psychoanalyse etwa wird es oft als gut für Personen angesehen, wenn sie sich und ihre Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen. Dabei wird „gut“ nicht im ethischen, sondern im therapeutischen oder medizinischen Sinne verwendet. Gibt es auch Verfechter einer These wie (NN3)? Ich bin nicht sicher. Eine Ansicht dieser Art spielt jedoch eine Rolle in der narrativistischen Konzeption, die in diesem Buch formuliert und begründet werden soll. Doch dazu gleich mehr. Bevor ich den Überblick über Varianten narrativistischer Theorien abschließe, sind ein paar letzte Anmerkungen nötig. Indem ich nämlich von den erheblichen Unterschieden abstrahiert habe, die es im Verständnis und der Verwendung des Begriffs der Narration geben kann, sind zwei wichtige Fragen offen geblieben. Sie sollen nun kurz behandelt werden: Erstens verwenden manche Autoren8 den Begriff der Narration so, dass er eine große begriffliche Nähe zum Begriff der Literatur gewinnt. Unter dieser Bedingung besagen narrativistischen Theorien, dass Fs sich und ihr Leben in der Form von Erzählkunstwerken beschreiben (oder beschreiben sollten). Ich will betonen, dass diese Konnotation von „narrativ“ alles andere als zwingend ist. Viele der Geschichten, die wir im Alltag produzieren, sind in jedem plausiblen Sinne narrativ und in keinem plausiblen Sinne literarisch. Daher kann man eine narrativistische Theorie über Fs befürworten, ohne eine „literarische“ oder ästhetizistische These über Fs zu vertreten. Viele der bislang genannten Autoren tun in der Tat nur Ersteres, und auch ich verteidige in diesem Buch lediglich eine narrativistische Konzeption. Zweitens wird der Begriff „narrativ“ (auch außerhalb von Fachdebatten) oft so verstanden, dass er den Begriff „fiktional“ impliziert oder zumindest nahelegt. Etwas zum Gegenstand von Narrationen zu machen hieße demnach, es in einer Weise darzustellen, die von einer wahren Beschreibung abweicht. Theorien, in denen der Begriff so interpretiert wird, bekommen damit einen konstruktivistischen Charakter. Sie handeln von der Erfindung einer Lebensgeschichte und womöglich von der Erschaffung seiner selbst als ihres Protagonisten. Noch mehr als im vorigen Falle will ich hervorheben, dass eine konstruktivistische Theorie nicht etwa von einer narrativistischen Sichtweise impliziert wird.9 Viele Geschichten, die wir im Alltag erzählen, sind wahr, und zwar ebenso buchstäblich wahr wie viele andere Mengen wohlgeformter deklarativer Sätze. Auch die Geschichten, um die es in diesem Buch geht, sind Versuche, wahre Darstel-
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Beispiele sind die genannten Arbeiten von R. Rorty und A. Nehamas. Für eine Kritik konstruktivistischer narrativistischer Theorien siehe Thomä (2007).
§ 2. Die Vielfalt narrativistischer Theorien
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lungen des eigenen Lebens zu geben. Sie können natürlich falsch sein und sind es bisweilen auch; aber auch dann sind sie keine Erfindungen, sondern Irrtümer. Diese knappen Stellungnahmen sollen keinesfalls leugnen, dass Literatur und Fiktion wichtige Rollen in unserem Leben spielen. Aber sie sollen deutlich machen, dass dies nicht die Gegenstände dieses Buches sind. Und was immer auch die Vorzüge oder Nachteile ästhetizistischer oder konstruktivistischer Sichtweisen sein mögen: Nichts an einer narrativistischen Konzeption legt uns auf dergleichen fest. Die Theorie, die hier vertreten werden soll, ist weder ästhetizistisch noch konstruktivistisch. Obgleich die These, die dieses Buch verteidigt, erst später in dieser Einleitung genau formuliert werden kann, will ich zum Abschluss dieses Abschnitts kurz vorgreifen. Zumindest soll diese These kurz im Raum der theoretischen Optionen verortet werden, den ich skizziert habe. Meine narrativistische These betrifft Personen, und sie ist eine deskriptive Behauptung begrifflicher Art. Das heißt: Ich werde behaupten, dass es in einer bestimmten Weise zur Bedeutung unseres Begriffs der Person gehört, dass Personen sich und ihre Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen. Dabei geht es nicht um die Persistenzbedingungen von Personen, sondern um die Frage, was notwendig dafür ist, dass etwas zu einem Zeitpunkt die Eigenschaft der Personalität instantiiert. Obgleich es sich aber um eine deskriptive These über unseren Begriff der Person handelt, werden normative Zusammenhänge eine wichtige Rolle spielen. Dies hat seinen Grund darin, dass „Person“ selbst ein normativer Begriff ist – ein Begriff, den J. Locke einen „forensischen“ und D. Dennett einen „moralischen“ Term nennt.10 Indem wir „ist eine Person“ von einem beliebigen x prädizieren, drücken wir unter anderem aus, dass x ein Subjekt bestimmter normativer Status moralischer, legaler und anderer Art ist. Freilich scheinen Philosophen den Begriff „Person“ mitunter auch in einem rein deskriptiven Sinn zu verwenden. Ich werde jedoch in § 8 zeigen, dass dies nur zweierlei bedeuten kann: Entweder es handelt sich um eine Vereinfachung, wie sie für manche theoretischen Zwecke durchaus sinnvoll sein kann. Oder die fraglichen Philosophen wechseln das Thema und reden gar nicht über Personen, wo sie „Person“ sagen. In jedem Falle, so wird sich zeigen, ist unser Personenbegriff in essentieller Weise normativ.
_____________ 10 Vgl. J. Locke (1690/1997), II, xvii, 26: „It is a Forensick Term appropriating Actions and their Merit; and so belongs only to intelligent Agents capable of Law, and Happiness and Misery.“ Siehe auch Dennett (1976).
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
Der hier vertretene Gedanke lautet nun, grob gesagt, wie folgt: Es ist Teil des semantischen Gehalts von „Person“, dass jedes x, das ihn erfüllt, Subjekt bestimmter moralischer, legaler und anderer Normen ist. Und es ist Teil dieser Normen, dass es ein Defizit ist, wenn x sein Leben nicht zum Gegenstand von Narrationen macht. Diese normative Anforderung ist dabei jedoch, wie sich zeigen wird, indirekt mit der Bedeutung von „Person“ verbunden. Zu den Normen, die semantisch mit dem Begriff der Person verknüpft sind, zählt zunächst einmal nur, dass ein nicht-defizitäres personales Leben bestimmte Typen von Einstellungen erfordert. Diese speziellen Einstellungen selbst sind dabei nicht narrativ. Aber sie haben besondere Rechtfertigungsbedingungen rationaler Art. Und es ist Teil dieser Bedingungen, Geschichten über sich und die eigene Lebensgeschichte erzählen zu können. In diesem Sinne ist die begriffliche Verknüpfung zwischen Personalität und biographischen Narrationen indirekt: Sie besteht kraft zweier normativer Verknüpfungen, die erstens zwischen dem Personenstatus und bestimmten Einstellungen sowie zweitens zwischen diesen Einstellungen und ihrer Rechtfertigung durch Geschichten bestehen. Hat meine These damit aber nicht doch normativen Charakter? Keineswegs. Hier ist es entscheidend, Theorien über bestimmte Normen von normativen Theorien zu unterscheiden. Meine nachfolgenden Ausführungen fallen in die erste dieser Kategorien. Sie wären (obgleich dies entschieden nicht meine Haltung ist) sogar mit einer Ablehnung der fraglichen Normen kompatibel. Sie wären mit der Ansicht verträglich, dass es besser wäre, wenn wir aufhörten, uns als Personen zu betrachten und uns damit die verschiedenen Wertvorstellungen aufzuhalsen, die mit diesem Begriff verbunden sind.
§ 3. Einwände und Adäquatheitsbedingungen Ich habe schon angedeutet, dass sich der Anstoß zu diesem Buch den Kritikern narrativistischer Konzeptionen noch mehr verdankt als ihren Vertretern. Dies hat nicht etwa damit zu tun, dass sie mich zu entrüstetem Widerspruch animieren. Im Gegenteil: Speziell zwei neuere Arbeiten von P. Lamarque (2004) und G. Strawson (2004) weisen völlig zutreffend auf große Schwächen bisheriger narrativistischer Ansätze hin. Wie aber ebenfalls schon gesagt, erscheint mir ihre Kritik nicht etwa als vernichtend. Vielmehr decken Lamarque und Strawson Probleme auf, die sich beheben lassen. Ich stelle ihre Kritik nun dar und formuliere Bedingungen, die eine
§ 3. Einwände und Adäquatheitsbedingungen
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Theorie erfüllen muss, um dieser Kritik zu entgehen. An diesen Bedingungen wird sich meine Theorie zu messen haben. In seinem Artikel „On not Expecting too Much from Narrative“ (2004) behauptet P. Lamarque, dass narrativistische Theorien des Selbst (so seine terminologische Präferenz) nicht etwa falsch oder schlecht begründet seien – sondern vielmehr trivial. Bei näherer Betrachtung sei das Prädikat „ist narrativ“ nämlich eher anspruchslos. Wenn wir eine Menge sprachlicher Äußerungen (oder Tokens anderer semiotischer Arten) als narrativ bezeichnen, so ist dies Lamarque zufolge genau dann wahr, wenn gilt: Die Tokens nehmen auf mindestens zwei zeitlich getrennte Ereignisse Bezug und drücken aus, dass ein Element aus einer bestimmten Menge von Relationen (z. B. kausaler oder rationaler Art) zwischen ihnen instantiiert ist. Da es nun nicht mehr braucht als dies, so Lamarque, kann es nicht überraschen, dass Narrativität in unserem Leben omnipräsent ist. Wann immer wir zwei beliebige diachrone Ereignisse in irgendeine intelligible Verbindung bringen, ist dies hinreichend für Narrativität. Daher ist das theoretische Interesse, das man dieser Eigenschaft entgegenbringt, ungerechtfertigt. Dies allein wäre bereits bedauerlich. Aber Lamarques eigentlicher Kritikpunkt ergibt sich erst daraus, dass das Prädikat „narrativ“ auch mit anspruchsvolleren Konnotationen verstanden werden kann. In diesem Falle ruft es die Assoziation bedeutender literarischer Kunstwerke ab. Diese Konnotation machen sich narrativistische Theoretiker nun in unlauterer Weise zunutze: Die Argumente, die sie vorbringen, reichen allenfalls hin, um eine uninteressante These mit dem anspruchslosen Prädikat „ist narrativ“ zu begründen. Die Thesen, die sie dann jedoch als begründet ausgeben, sind kontroversere Thesen über ein überaus komplexes Verhältnis zur eigenen Geschichte. Wie gesagt: Ich stimme dieser Kritik zu. Solange wir nicht über eine präzise Definition des Begriffs „narrativ“ verfügen, laufen wir Gefahr, solche Konnotationen auszunutzen. Wir deuten unsere Thesen dann vielleicht in einer interessanteren Weise, als unsere Argumente es eigentlich erlauben. Zwar ist Lamarques Definition des Begriffs der Narrativität sicher zu minimal; sie erfasst kaum das, was wir im Alltag eine Geschichte nennen. Es gibt aber eine Definition, die anspruchsvoller und plausibler ist, und die für das Problem gleichwohl genauso anfällig ist. In einem gewissen Sinne können wir nämlich schon bloße intentionale Handlungsbeschreibungen als Geschichten ansehen. B. Williams (2002, 233 ff) macht diesen Vorschlag in expliziter Form. Und auch bei G. H. v. Wright (1971, 115) findet sich die Bemerkung, dass die Intentionalität eines Verhaltensvorkommnisses „its place in a story about the agent“ sei. Wenn aber schon eine intentionale Beschreibung einer Handlung narrativ ist, dann
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
gilt wiederum: Es ist sicher überaus plausibel, dass Personen sich und ihre Geschichte in diesem Sinne zum Gegenstand von Narrationen machen. Aber es ist eben auch überaus uninteressant. Denn schließlich beinhaltet es nicht mehr, als dass Personen manche Ereignisse in ihrer Geschichte unter intentionale Handlungsbeschreibungen bringen. Dies mag dabei absolut betrachtet sogar nicht unkontrovers sein. Wer aus irgendeinem Grunde bestreitet, dass wir uns Handlungen zuschreiben können, der wird die These ablehnen. Auch dann jedoch ist Narrativität nicht der Stein des Anstoßes. Der Bezug auf Narrativität ist, wenn man den Begriff so wie Williams verwendet, kein nicht-trivialer Zusatz zu dieser These. Lamarque hat also Recht, wenn er behauptet, dass narrativistische Theorien als solche nur dann nicht trivial sind, wenn sie über solche minimalen Verwendungsweisen von „narrativ“ hinausgehen. Die Bedingung für eine adäquate narrativistische Theorie über Fs, die seine Kritik nahelegt, formuliere ich daher so: Lamarques Bedingung Eine narrativistische Theorie T über Fs ist nur dann nicht trivial qua narrativistische Theorie, wenn das Prädikat „narrativ“ so definiert wird, dass T zumindest logisch stärker ist als die These, dass Fs auf Ereignisse in ihrer Geschichte Bezug nehmen und diese unter intentionale Beschreibungen bringen. Dieses Buch wird dieser Bedingung gerecht, indem es die strenge Definition des Begriffs „narrativ“ entwickelt, die der bisherigen Diskussion abgeht. Diese Definition ist erheblich weniger minimal als diejenige Lamarques; sie erfasst damit besser, was wir gewöhnlich meinen, wenn wir etwas eine Geschichte nennen. In einer gewissen Hinsicht freilich gibt sie Lamarque recht: Die syntaktischen und semantischen Bedingungen für Narrativität sind nicht sonderlich anspruchsvoll. Ihretwegen allein wären narrativistische Konzeptionen die breite Aufmerksamkeit kaum wert, die ihnen zuteil wird. Narrativität hat jedoch eine weitere essentielle Dimension, die pragmatisch ist. Damit eine Menge von Äußerungstokens eine Geschichte darstellt, ist es nicht nur notwendig, dass diese Tokens diachrone Ereignisse und ihre intelligiblen Verknüpfungen beschreiben. Zudem müssen diese Ereignisse die richtige Art von evaluativer und affektiver Bedeutsamkeit für Rezipienten im Äußerungskontext haben. Und diese Bedeutsamkeit der Ereignisse muss eine dramatische Struktur einer bestimmten Art konstituieren. Einfach gesagt, liegt die entscheidende Pointe einer narrativistischen Theorie über Fs in diesem pragmatischen Aspekt: Fs beschreiben Ereignisse in ihrer Geschichte in Form dramatischer Strukturen.
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G. Strawson, der andere wichtige Kritiker narrativistischer Konzeptionen, erhebt in „Against Narrativity“ (2004) noch schärfere Vorwürfe. Ihm zufolge sind narrativistische Theorien gerade nicht trivial wahr, sondern falsch. Er hebt hervor, dass viele Menschen ein Verhältnis zu sich und ihrer Geschichte haben, das er „episodisch“ nennt (ebda. 430). Episodische Typen haben zwar, so Strawson, ein Bewusstsein ihrer selbst als zeitlich persistierender menschlicher Wesen. Aber sie fassen sich dabei zu anderen Zeiten nicht als dasselbe Selbst auf. Es ist dabei nicht ganz klar, wie genau diese Unterscheidung zu verstehen ist. 11 Um jedoch Strawsons generellen kritischen Punkt würdigen zu können, ist es nicht erforderlich, die Details zu klären. Was zählt, ist dies: Episodische Typen haben zwar eine Geschichte und führen ein nicht-defizitäres Leben, aber sie denken nie über sich als Protagonisten einer narrativen Geschichte nach. Sie leben, wie man umgangssprachlich sagt, ganz im Hier und Jetzt. Strawson, der sich selbst als einen episodischen Charakter bezeichnet, schreibt also: „I have a past, like any human being, and I know perfectly well that I have a past. I have a respectable amount of factual knowledge about it, and I also remember some of my past experiences ‘from the inside’, as philosophers say. And yet I have absolutely no sense of my life as a narrative with form, or indeed as a narrative without form. Absolutely none. Nor do I have any great or special interest in my past. Nor do I have a great deal of concern for my future.“ (ebda. 433)
Wenn dies korrekt ist, ist es ein klares Problem für deskriptive narrativistische Theorien. Und es wäre wenig überzeugend, zu bezweifeln, dass Strawsons Verhältnis zu seiner Geschichte so ist, wie er es darstellt. Mehr noch: Es scheint mir bei genauer Betrachtung tatsächlich kaum zu bestreiten zu sein, dass es viele Menschen gibt, die kein besonderes Interesse an etwas anderem als ihrer Gegenwart haben. Sicherlich jedenfalls befassen sich viele von uns nicht damit, elaborierte narrative Konzeptionen der eigenen Geschichte bewusst zu unterhalten. Man mag dies als eine gedankenlose Lebensweise ohne Tiefe empfinden oder es gerade als einen Ausdruck von Unbeschwertheit und Offenheit für die Gegenwart ansehen. In jedem Falle wäre es aber verfehlt, diesen Menschen nur deshalb den Personenstatus abzusprechen oder ähnliches. Und doch sind Vertreter einfacher deskriptiver narrativistischer Konzeptionen genau darauf festlegt.
_____________ 11 Immerhin gesteht Strawson zu, dass auch episodische Typen neben einer Vergangenheit qua menschliche Wesen z. B. peinliche Erinnerungen an ihre Vergangenheit haben, sowie überhaupt Erinnerungen und Antizipationen, die das aufweisen, was er einen „from the inside“-Charakter nennt.
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
Man mag nun einwenden, dass Lamarques und Strawsons Einwände ja wohl kaum beide zutreffen dürften. Immerhin könnten narrativistische Theorien ja nicht trivial wahr und zugleich falsch sein. Tatsächlich aber bildet Strawsons Kritik ein Komplement zu derjenigen Lamarques. In ihrer Konjunktion weisen ihre Einwände darauf hin, dass eine deskriptive narrativistische Theorie vor einem Dilemma steht: Entweder sie definiert den Begriff der Narration in einer Weise, der sie trivial (oder zumindest trivial in ihrem narrativistischen Aspekt) macht. Oder sie definiert den Begriff in einer anspruchsvolleren Weise, aber trifft ipso facto nicht mehr auf Personen ohne Interesse an ihrer Geschichte zu. In der Tat weist auch Strawson selbst auf das erste Horn des Dilemmas hin, das Lamarque benannt hat: „Well, if someone says that making coffee is a narrative [...] because you have to think ahead, do things in the right order and so on, and that everyday life involves many such narratives, then I take it that the claim is trivial“ (ebda. 439). Auch Strawsons Einwand ist aber nur auf den ersten Blick fatal, obschon er zweifellos dazu zwingt, narrativistische Konzeptionen genauer zu formulieren und zu qualifizieren. Was sein Einwand beinhaltet, ist dies: Eine narrativistische Konzeption ist nicht plausibel, wenn sie fordert, dass jede Person (oder jedes Selbst, oder was immer) genug Energie, Zeit und Interesse aufbringen muss, um eine anspruchsvolle Konzeption ihrer Geschichte bewusst zu unterhalten. Nun ist es sicher kaum zu bestreiten, dass dergleichen auf einen Großteil aller Personen nicht zutrifft. (Ich bin nicht einmal sicher, wie sehr es auf mich selbst zutrifft.) Damit ist aber, entgegen dem ersten Anschein, noch nicht die Falschheit einer deskriptiven narrativistischen These erwiesen. Vielmehr ergibt sich zunächst einmal nur eine weitere Adäquatheitsbedingung aus Strawsons Kritik: Strawsons Bedingung Eine adäquate narrativistische Theorie über Fs muss kompatibel damit sein, dass es (i) faktisch Fs gibt, die sich und ihre Geschichte nicht in expliziter und reflektierter Weise zum Gegenstand von Narrationen machen, und dass es folglich (ii) ein kontingentes Faktum ist, wenn ein beliebiges F sich und seine Geschichte tatsächlich in expliziter und reflektierter Weise zum Gegenstand von Narrationen macht. Nun ist zu betonen, dass man diese Bedingung nicht wird erfüllen können, indem man seine narrativistische Theorie in bestimmten Weisen abschwächt – jedenfalls nicht, ohne die Theorie damit wieder zu trivialisieren. Würde man etwa eine narrativistische These formulieren, die nicht allquantifiziert für alle Fs gilt, sondern nur für viele oder manche, wäre die Theorie zwar nicht trivial wahr. Aber sie wäre doch erheblich weniger
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interessant als sie sich präsentiert. Ähnliches gilt für eine Reformulierung des Inhalts, dass Fs ihre Geschichte nur in präreflexiver Weise oder implizit zum Gegenstand von Narrationen machen. Diese Behauptung wäre, wie mir scheint, überhaupt nur dann plausibel und verständlich, wenn wir „Narration“ in einer ziemlich losen Weise verwendeten. Und dies hätte zur Folge, dass wir gegen Lamarques Bedingung verstießen. Die Lösung, hier vorgeschlagen wird, ist daher eine andere. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass meine These nicht lautet, dass Personen sich und ihre Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen. Sie lautet, dass sie es sollen. Oder besser: Es zählt in komplexer Weise zu den normativen Status, die mit dem Begriff „Person“ semantisch verknüpft sind, dass sie dies sollen. Nicht alle Personen unterhalten also jederzeit bewusste narrative Konzeptionen ihrer Geschichte. Aber von allen Personen können wir unter bestimmten Umständen in einem normativen Sinne erwarten, dass sie dies tun. Diese normativen Zusammenhänge sind eben komplex: Es gibt eine bestimmte Klasse von Einstellungen, für die zweierlei gilt. Erstens sollen Personen Tokens dieser Einstellungen haben. Zweitens sind zur Rechtfertigung dieser Tokens Geschichten erforderlich. Schon der erste Teil drückt einen normativen Zusammenhang aus. Es kann durchaus der Fall sein, dass Personen Einstellungen der fraglichen Art nicht haben. Aber es ist Teil des Begriffs der Person, dass ein solcher Mangel ein Defizit wäre. (Die Rede von einem Defizit ist dabei, so wird sich zeigen, in einem weiten ethischen Sinne zu verstehen.) Diese Einstellungen, die wir dergestalt von Personen erwarten, stehen in einer weiteren normativen Relation zu Narrationen über die eigene Geschichte, eben in der Relation rationaler Rechtfertigung. Auf diesen Umwegen ist es Teil der normativen Status, die mit dem Begriff „Person“ verknüpft sind, dass Personen ihre Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen sollen. Ich werde unten natürlich präziser darlegen, was das genau heißt. Zunächst geht es jedoch um Strawsons Bedingung und um die Relevanz, die meine Bezugnahme auf die normative Rolle von Narrationen für sie hat. Nun mag es ziemlich offensichtlich erscheinen, inwiefern meine These Strawsons Bedingung erfüllen kann. Dass es eine Norm des Inhalts gibt, dass Personen ihre Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen, ist natürlich damit kompatibel, dass manche Personen dies nicht tun. Diese Personen erfüllen jene Norm eben nicht. Entweder haben sie also jene Einstellungen nicht, die wir als Teil eines nicht-defizitären personalen Lebens ansehen. Oder sie haben sie zwar, können sie aber nicht rechtfertigen. Meiner These zufolge bedeutet dies nicht, dass sie eine notwendige Bedingung für Personalität nicht erfüllen. Es heißt nur, dass sie einer der normativen Erwartungen, die wir an Personen als solche stellen,
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nicht gerecht werden. Meine These ist daher, wie Strawson fordert, vereinbar damit, dass es ein begrifflich kontingentes Faktum ist, wenn eine Person sich und ihre Geschichte wirklich zum Gegenstand von Narrationen macht. Nicht begrifflich kontingent ist, dass wir für Personen etwas anderes für richtig halten. Gleichwohl genügt dies noch nicht, um zu zeigen, dass meine These den Einwänden Strawsons wirklich entgeht. Denn er insistiert gerade, dass es ein normativ einwandfreies, nicht-defizitäres personales Leben ohne Geschichten über die eigene Biographie geben kann. Dem kann ich nun in der Tat nur eingeschränkt Recht geben. Dazu muss ich hervorheben, dass unsere Praxis nicht verlangt, dass wir alles, was unsere Einstellungen rechtfertigt, bewusst repräsentieren müssen. Beispielsweise sind viele meiner Überzeugungen über die Welt nur dann gerechtfertigt, wenn es stimmt, dass die Welt nicht erst vor wenigen Minuten erschaffen wurde. Nun hätte ich vielleicht (wenn ich nicht zufällig Russell12 gelesen hätte) nie einen Gedanken daran verschwendet, ob dies so ist. Ich wäre einfach implizit davon ausgegangen. Und natürlich hätte das der Rechtfertigung meiner anderen Überzeugungen über die Welt keinen Abbruch getan. Man kann sagen, dass meine Überzeugungen über die Welt mich auf die weitere Überzeugung festlegen, dass die Welt älter ist als wenige Minuten. Eine solche Überzeugung, auf die ich festgelegt bin, muss ich deshalb nicht zum Gegenstand bewusster Episoden machen. Sofern Überzeugungen dieser Art überhaupt als meine existieren, so entweder nur in impliziter Weise oder als abstrakte Entitäten, etwa als Teil einer Menge von Präsuppositionen (vgl. Stalnaker 1984), oder aber als Teil eines deontischen score, wie er bei Lewis (1983a) oder Brandom (1994) dargestellt wird.13 Meine These wird nun in analoger Weise beinhalten, dass jene Einstellungen, die von uns als Personen normativ gefordert sind, uns auf Geschichten über unsere Geschichte festlegen. Und ebenso wird gelten, dass wir diesem normativen Status des Festgelegtseins gerecht werden können, ohne diese Narrationen in bewussten Akten explizieren zu müssen. Für die Rechtfertigung unserer erstgenannten Einstellungen reicht es hin, wenn diese Geschichten implizite Voraussetzungen oder Teile eines abstrakten score sind, die ihrerseits gerechtfertigt sind, ohne dass wir uns bewusst darum scheren. Auch hier gibt meine These Strawsons Einwänden
_____________ 12 Denn das Beispiel stammt natürlich von ihm, siehe Russell 1928. 13 Zumindest Lewis (ebda.) fasst scores, also diskursive Spielstände oder „Konten“, dabei als abstrakte Gegenstände auf, und das erscheint korrekt. Wenn ich durch eine Äußerung oder Einstellung Festlegungen eingehe, so ändert sich der Spielstand – aber dieser Spielstand befindet sich nicht irgendwo. Er mag durch unsere Handlungen und unsere Einstellungen implementiert werden, aber er ist nicht mit ihnen identisch.
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also Recht. Es ist verträglich mit dieser These, dass man den normativen Status, die mit dem Begriff der Person semantisch verknüpft sind, gerecht werden kann, ohne dass man dazu einen einzigen bewussten Gedanken an Narrationen über seine Geschichte verschwendet. Aber zeigt dies nicht, dass Strawsons Bedingung wieder nur um den Preis erfüllt werden kann, dass die Rolle von Narrationen trivialisiert wird? Habe ich nicht zugestanden, dass biographische Narrationen in unserem Leben nur die marginale Rolle spielen müssen, die auch die Überzeugung, dass die Welt älter als ein paar Minuten ist, in meinem Leben spielt? Dieser Einwand wäre gravierend, ist aber verfehlt. Die Forderungen, die zum normativen Status des Festgelegtseins gehören, erscheinen nur solange marginal, wie man ihre kontrafaktische Dimension übersieht. Wenn ich auf eine bestimmte Überzeugung φ festgelegt bin, dann ist es nicht Teil dieser normativen Forderungen, dass ich zu irgendeinem bestimmten Zeitpunkt eine bewusste Episode des fraglichen Inhalts habe. Aber es ist gefordert, dass kontrafaktische Konditionalaussagen folgender Art auf mich zutreffen: Wenn ich mit Äußerungen konfrontiert würde, die mit der Wahrheit des Gehalts von φ inkompatibel sind, so würde ich sie nicht akzeptieren. Wenn ich mit Belegen konfrontiert würde, die gegen die Wahrheit von φ sprechen, so würde ich auch die Wahrheit der Überzeugungen in Frage stellen, die mich auf φ festlegen. Und wenn man Gründe für φ von mir verlangte, so wüsste ich, dass diese Gründe auch für die Rechtfertigung meiner weiteren Einstellungen nötig sind, usw. Unsere narrativen Konzeptionen unserer Geschichte müssen also nicht immer oder zu bestimmten Zeitpunkten bewusst sein, damit wir den Normen, die mit dem Begriff „Person“ verknüpft sind, gerecht werden. Aber sie müssen abrufbar sein. Wir müssen sie uns bewusst machen können und auch verstehen können, dass wir zu ihrer Begründung verpflichtet sind, wenn bestimmte diskursive Umstände eintreten. Wir sehen uns dann in der Pflicht, die Geschichten zu produzieren, die uns rechtfertigen. In diesem Sinne stimmt meine These Strawsons Kritik also nur eingeschränkt zu. Im Prinzip kann man ein normativ einwandfreies personales Leben führen, ohne jemals faktisch seine Geschichte zum Gegenstand von Narrationen zu machen. Dies gilt eben in dem – freilich eher unwahrscheinlichen – Fall, dass die Rechtfertigung bestimmter Einstellungen niemals für uns problematisch und überhaupt thematisch wird. Aber es ist kein einwandfreies personales Leben möglich, in dem Narrationen keine Rolle spielen. Vielmehr erfüllt eine Person nur dann die normativen Erwartungen, die mit dem Begriff „Person“ verknüpft sind, wenn gilt: Sie hat bestimmte Einstellungen; und wir können sie jederzeit in die Position bringen, diese rechtfertigen zu müssen; und sie würde diesen diskursiven Forderungen nur gerecht werden, indem sie Geschichten erzählt.
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
Um zusammenzufassen: Dieses Buch verteidigt eine deskriptive narrativistische These begrifflicher Art. Diese These erfüllt Lamarques und Strawsons Bedingungen und vermeidet beide Hörner des Dilemmas. Lamarques Bedingung wird dadurch erfüllt, dass ein hinreichend anspruchsvoller Begriff der Narrativität verwendet wird. Dennoch führt dies nicht dazu, dass Strawsons Bedingung verletzt wird. Deren Erfüllung wird dadurch möglich, dass die anspruchsvolle narrativistische These nicht als Aussage über unser faktisches Verhältnis zu unserer Geschichte präsentiert wird. Stattdessen ist sie eine Aussage über Normen bezüglich unseres Verhältnisses zu unserer Geschichte, denen wir dadurch unterstellt sind, dass wir uns selbst und einander als Personen auffassen. Ich werde nun an einem Beispiel darstellen, dass diese Sichtweise der Rolle von Narrationen im Leben von Personen mehr als nur die besagten Bedingungen erfüllt. Sie ist in der Tat plausibel und erfasst wichtige Aspekte unserer Praxis. Danach wird, zum Abschluss der Einleitung, meine These in expliziter Form präsentiert.
§ 4. Ein Beispiel Narrativistische Theorien beschränken sich oft auf das Selbstverhältnis von Personen.14 Sie handeln also davon, dass Personen sich selbst und ihre Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen. Auch ich bin bisher stillschweigend von dieser Voraussetzung ausgegangen. Letztlich soll in diesem Buch jedoch ein Bild präsentiert werden, dem zufolge Narrationen auch intersubjektiv bedeutsam sind. Es zeichnet Personen aus, dass auch andere Subjekte, wenn sie eine Person in bestimmten Weisen verstehen oder kritisieren wollen, deren Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen müssen.15 Ich skizziere nun ein Beispiel, das diese wichtige intersubjektive Rolle narrativer biographischer Rechtfertigungen veranschaulicht. Angenommen, zwei alte Freunde, A und B, treffen sich nach längerer Zeit wieder. A erzählt B von einer neuen Beziehung, die ihn sehr glücklich macht. Im Zuge der Unterhaltung verstärkt sich jedoch Bs Eindruck, dass A für sein Glück einen hohen Preis bezahlt. Er hat offensichtlich vieles in seinem
_____________ 14 Ich verzichte nachfolgend weitgehend auf die allgemeinere Formulierung mittels des künstlichen Terminus F. Die Beschränkung auf den Personenbegriff wird weiter unten begründet. 15 Allerdings ist für diese intersubjektivitätstheoretische Erweiterung der These, so werde ich einräumen, eine Qualifikation nötig, denn sie gilt faktisch nur in den meisten Fällen.
§ 4. Ein Beispiel
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Leben geändert, und es erscheint B so, als sei dies allein seiner neuen Lebensgefährtin zuliebe geschehen. Kaum eines der Themen, über die A und B früher leidenschaftlich diskutieren konnten, scheint jetzt noch einen echten Platz im Denken und Leben As zu finden. Und je länger sie reden, desto mehr fallen B Veränderungen auf, die er nicht mit seinem Bild von seinem Freund in Verbindung bringen kann. Irgendwann erzählt A, dass er und seine Partnerin ein Haus gekauft haben, in dem sie eine Familie gründen wollen, und dass er sich dazu aus Platzgründen von seiner Plattensammlung trennen muss. Er beteuert aber, dass ihm ohnehin nicht viel an den alten Platten liege. Schließlich erzählt er B noch, dass er seinen Job kündigen wolle und stattdessen eine Arbeit mit mehr Sicherheiten und geregelten Arbeitszeiten suche. Hier kann B schließlich nicht mehr an sich halten und fragt: „Seit wann gefällt dir denn dein Job nicht mehr? Du hast ihn doch immer geliebt! Und seit wann bitteschön liegt dir nichts mehr an deinen Platten, und wieso träumst du plötzlich von Kindern und einem Haus? Ich verstehe das einfach nicht.“ Fragen, wie B sie hier stellt, kann man als kritische Seit-Wann-Fragen bezeichnen. Solche Fragen deuten auf einen wichtigen Aspekt unserer Vorstellung von einem personalen Leben hin. Und, so werde ich behaupten, ihre temporale Form („Seit wann...?“) ist weder nur ein grammatisches Oberflächenphänomen noch ein Vehikel einer anderen, rein pragmatisch mit ihr verknüpften Bedeutung ohne jeden Zeitbezug. Was drückt B mit solchen kritischen Seit-Wann-Fragen aus? Zweifellos stellen sie eine Kritik an As Wünschen und Plänen dar. Diese Kritik beinhaltet aber nicht etwa, dass Wünsche nach beruflicher Sicherheit und Familiengründung per se fragwürdig wären. Sie zielt darauf ab, dass diese Wünsche im Leben von A eine fragwürdige Rolle spielen. Was B kritisiert, ist, dass As Wünsche nicht seine wirklichen Wünsche sind, sondern dass er sich Ziele zu eigen gemacht hat, die eigentlich die seiner Partnerin sind. Bs Seit-Wann-Fragen drücken, anders gesagt, den Vorwurf aus, dass A sich untreu wird und an Integrität verliert, um fremde Erwartungen zu erfüllen. Mit einem Terminus gesagt, der erst an späterer Stelle eingeführt und definiert wird: B kritisiert, dass As Pläne und Wünsche nicht authentisch sind. Damit verbunden ist zumindest die implizite Kritik, dass A unfrei ist und nicht mehr wirklich selbst über seine Lebenspläne bestimmt. Diese Kritik selbst ist dabei nicht sehr bemerkenswert. Interessant ist aber, dass sie durch eine Bezugnahme auf As Geschichte, und genauer: auf die Rolle bestimmter Wünsche und Pläne in seiner Geschichte funktioniert. B formuliert seine Kritik in Form von Fragen danach, seit wann A bestimmte Wünsche habe oder nicht mehr habe, oder wie es komme, dass er nun plötzlich einen bestimmten Plan oder ein bestimmtes Ideal verfolge. Dabei ist nicht nur an der grammatischen Oberfläche, sondern in buch-
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
stäblicher Weise von historischen Zusammenhängen die Rede. B will darauf hinaus, dass A jene Wünsche und Pläne noch nicht sehr lange hege, sondern dass sie, biographisch betrachtet, geradezu vom Himmel gefallen sind. Daher, so Bs impliziter Vorwurf weiter, haben sie nicht die richtige Rolle in As Geschichte inne, um als authentisch gelten zu können. Der Eindruck, dass Bs kritische Fragen buchstäblich auf historische Tatsachen abzielen, verstärkt sich noch, wenn man mögliche Erwiderungen As betrachtet. Auch As Antworten werden auf die Geschichte seiner Einstellungen Bezug nehmen. So könnte er etwa replizieren: „Also, ich habe eigentlich immer schon davon geträumt, einmal eine Familie zu haben. Habe ich nicht oft davon gesprochen? Und was meinen Job anbelangt: Ich habe nicht aufgehört, ihn zu lieben. Aber das Zusammensein mit meiner Freundin hat mir gezeigt, dass er zu viele Opfer erfordert. Deshalb habe ich schon vor einiger Zeit beschlossen, lieber auf ihn zu verzichten als auf alles andere. Und schließlich zu meinen Platten: Du merkst ja selber, dass sich einiges in meinem Leben verändert hat, und die Musik gehört mittlerweile einfach zu einem anderen Lebensabschnitt. Ich musste irgendwann feststellen, dass sie mir nicht mehr wirklich etwas bedeutet. Und bevor die Platten zu Staubfängern verkommen, mit denen mich nur noch Sentimentalität verbindet, verkaufe ich sie lieber jemandem, der sie wirklich wertschätzt.“ Eine solche Replik As geht nicht am Thema vorbei; wir können sie als eine gute Entgegnung betrachten. Und auch sie rekurriert vor allem auf biographische Fakten. A bekräftigt, dass seine Wünsche in der Tat seine echten Bedürfnisse sind. Er begründet dies dadurch, dass er einige der kritisierten Wünsche schon sehr lange hege, und dass andere Wünsche und Pläne auf bestimmte biographische Entwicklungen zurückgehen. Das heißt: A und B streiten darüber, ob As Wünsche als authentische Anliegen oder als Konzessionen an inneren oder äußeren Druck anzusehen sind. Die Gründe, die sie dabei vorbringen, sind historischer Art. Sie präsentieren bestimmte Konzeptionen der Lebensgeschichte As, um so ihre jeweilige Haltung zu As Wünschen zu rechtfertigen. Solche kritischen oder affirmativen Haltungen, die Personen zu eigenen und fremden Wünschen im Hinblick auf deren Authentizität einnehmen können, sind die Einstellungen, von denen in der These dieser Arbeit die Rede ist. Das Beispiel zeigt, dass es zumindest natürlich für uns ist, solche kritischen Metaeinstellungen durch eine Bezugnahme auf die Geschichte ihres Subjekts zu begründen. Die Behauptung, die hier vertreten wird, lautet nun, dass die Rechtfertigung solcher Einstellungen in der Tat notwendig auf bestimmten Überzeugungen biographischen Inhalts beruht. Mehr noch: Des Weiteren besagt meine These, dass diese biographischen Überzeugungen, wenn sie explizit gemacht werden, Narrationen darstellen
§ 4. Ein Beispiel
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müssen. Wenn A und B also ihre Gründe für ihre jeweilige Haltung ganz explizit machen wollten, müssten sie Geschichten darüber erzählen, welche Rolle bestimmte Anliegen in As Geschichte spielen: wie A jemand geworden ist, für den bestimmte Ziele bedeutsam sind, oder wie er sich so verändert hat, dass frühere Ideale ihre Bedeutung verloren haben. Solche Geschichten artikulieren mithin Gründe, und diese sind letztlich praktischer Art. Indem sie dafür sprechen, dass bestimmte Anliegen As seine wirklichen Anliegen sind (oder nicht), sprechen sie dafür (oder dagegen), dass A sein Leben so führt, wie er es tut. (Ich werde später darlegen, dass es nicht verfehlt ist, auch diese praktischen Gründe selbst narrativ zu nennen.) Biographische Geschichten werden in diesem Buch in ihrer Funktion in der Artikulation solcher praktischen Gründe untersucht. Hiermit liegt also ein erstes Beispiel für die Rolle von Geschichten im Leben von Personen vor, die im Folgenden behandelt wird. Es gibt mehr in unserem Selbstverhältnis und unserer intersubjektiven Praxis, für das Narrationen unentbehrlich sind. Aber ich werde mich auf diesen Aspekt konzentrieren. So werde ich eine narrativistische Konzeption der Personalität formulieren können, die nicht nur Lamarques und Strawsons Bedingungen erfüllt. Zudem gibt sie eine gute Erklärung dafür, warum Narrationen eigentlich so wichtig für uns sind: Geschichten über unsere Geschichte rechtfertigen unsere Urteile darüber, wer wir sind und was unsere wirklichen Anliegen sind. Ich kann diese These und das weitere Programm nun in genauer Form präsentieren.
§ 5. Die These und der Aufbau dieses Buches Im groben Umriss habe ich die Inhalte meiner These bereits skizziert: Es ist Teil der normativen Vorstellungen, die mit dem Begriff „Person“ semantisch verknüpft sind, dass ein nicht-defizitäres personales Leben bestimmte Einstellungen erfordert. Um Einstellungen dieser Art zu rechtfertigen, braucht es Geschichten über die Geschichte ihres Subjekts. Eine vollständige Exposition dieser These erfordert jedoch noch einige Verfeinerungen. Zunächst einmal handelt es sich bei meiner These, wie gesagt, um eine begriffliche Behauptung, die die logische Form einer de dicto-modalen Aussage hat. Einstellungen zu haben, zu deren Rechtfertigung Geschichten
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nötig sind, ist also etwas, was wir mit dem Begriff der Person verbinden. Freilich handelt es sich dabei nicht um ein deskriptives Konstituens des semantischen Gehalts des Begriffs „Person“. Es ist also nicht so, als würden kompetente Sprecher nur die Entitäten als Personen herausgreifen, die jene Einstellungen haben, zu deren Rechtfertigung Geschichten nötig sind. Vielmehr ist „Person“ ein normativer („forensischer“ oder „moralischer“) Begriff. Und es zählt eben zu den normativen Status, die mit diesem Begriff semantisch verknüpft sind, dass Personen Einstellungen haben, zu deren Rechtfertigung Geschichten erforderlich sind. Um dies präzise zu machen, definiere ich nun ein Prädikat „ist eine begrifflich geltende Norm“. Es soll die folgenden Erfüllungsbedingungen haben: Es ist eine begrifflich geltende Norm für Fs, dass Fs N sind (oder äquivalent: N zu sein), genau dann wenn gilt: (i) F ist kein rigider Ausdruck, und (ii) für jede beliebige mögliche Welt w und ein beliebiges Individuum x in w gilt: Wenn x in w das Prädikat F erfüllt, dann ist es ein Defizit im normativen Sinne, wenn x in w nicht N ist.16 Der erste Teil meiner These lässt sich dann so präzisieren: Es ist eine begrifflich geltende Norm für Personen, dass Personen Einstellungen eines bestimmten Typs haben, und zur Rechtfertigung von Tokens dieses Typs sind biographische Geschichten nötig. Auch den zweiten Teil will ich aber genauer reformulieren. Speziell ist zu klären, was „Rechtfertigung“ oder „gerechtfertigt“ bedeuten. Für Überzeugungen verwende ich diese Termini etwa in ihrer Standardbedeutung: Eine Überzeugung des Inhalts, dass p, ist genau dann gerechtfertigt für einen Akteur A zu einem Zeitpunkt t, wenn es für A unter Berücksichtigung aller ihm zu t verfügbaren Belege rational ist, zu glauben, dass p. „Rational“ heißt dabei nicht nur „rational zulässig, weil es keine gegenteiligen
_____________ 16 Einige Anmerkungen: Klausel (i) soll folgende Möglichkeit ausschließen: Es könnte Wesen geben, zu deren metaphysischer Essenz es gehört, bestimmte normative Status zu haben. Wenn diese Wesen nun durch einen rigiden Term F herausgegriffen würden, könnte (ii) erfüllt sein, ohne dass dies etwas mit einem begrifflichen Gehalt von F zu tun hätte. Eine allgemeinere Bemerkung: Mögliche Welten fungieren in dieser Arbeit nur als expositorische Mittel, um modale und semantische Zusammenhänge transparent zu machen. Zu dieser speziellen Definition ist zu bemerken, dass die Welten, von denen hier die Rede ist, als kontrafaktische Welten zu betrachten sind, also als das, was D. Kaplan (1989) circumstances of evaluation nennt. (Diese Bemerkung ist für den Fall wichtig, dass F in der obigen Definition ein sogenannter zweidimensionaler Terminus ist.) Schließlich ist die Definition so zu verstehen, dass das normative Defizit nicht etwa relativ zur Welt w, sondern aus der Perspektive unserer aktualen Welt besteht.
§ 5. Die These und der Aufbau dieses Buches
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Belege gibt“, sondern es heißt „rational geboten“. Man könnte daher eine stärkere Formulierung wählen: Eine Überzeugung des Inhalts, dass p, ist genau dann gerechtfertigt für A zu t, wenn es für A unter Berücksichtigung aller ihm zu t verfügbaren Belege nicht rational ist, nicht zu glauben, dass p. In diesem Sinne ist die Rechtfertigung einer Überzeugung, dass p, für A zu t kompatibel mit der Falschheit dieser Überzeugung. Immerhin können die für A zu t verfügbaren Belege irreführend sein. Vagheiten dieser Charakterisierung, die ich an dieser Stelle weder ausräumen kann noch will, betreffen natürlich sowohl Fragen der Standards von Rationalität, als auch die Frage, welche Belege als zugänglich für A zu t gelten müssen.17 Es heißt in der bisherigen Formulierung, dass zur Rechtfertigung bestimmter Einstellungen biographische Geschichten nötig seien. Tatsächlich liegen die Dinge jedoch etwas komplizierter: Ich habe bereits gesagt, dass es darum geht, dass jene Einstellungen ihre Subjekte auf Überzeugungen über ihre Geschichte festlegen, und diese Überzeugungen sollen narrativ sein. (Nebenbei: Die Rede von narrativen Überzeugungen oder Einstellungen klingt zunächst irritierend. Sie wird aber später gerechtfertigt.) Die Relation des Festgelegtseins ist dabei eine triadische Relation, die zwischen Akteuren, Token-Einstellungen dieser Akteure und Überzeugungen besteht. Wir werden durch bestimmte Einstellungen auf bestimmte Überzeugungen festgelegt – etwa auf die, dass die Welt älter ist als wenige Minuten. Die letzteren Überzeugungen, auf die wir festgelegt sind, müssen dabei keine Tokens sein, die wir in einem substantiellen Sinne haben (s. o.). Nun instantiiert ein geordnetes Tripel aus einem Akteur A, einer seiner Einstellungen (oder einer Menge seiner Einstellungen) ψ und einer Überzeugung φ des Inhalts, dass p, diese Relation zu einem Zeitpunkt t genau dann, wenn gilt: Es ist für A zu t nur dann gerechtfertigt, ψ zu haben, wenn es für A zu t rational gerechtfertigt ist, zu glauben, dass p. Hier liegen offenkundig zwei Vorkommnisse von „gerechtfertigt“ vor. Wir sind auf etwas durch etwas anderes dann festgelegt, wenn letzteres nur dann gerechtfertigt ist, wenn ersteres es auch ist. Wenn es also in meiner obigen Formulierung hieß: „zur Rechtfertigung sind Geschichten nötig“, so war dies stark vereinfacht. Die eigentliche Idee ist, genauer gesagt, diese: Personen sollen Einstellungen einer bestimmten Art haben; und diese Einstellungen sind nur dann gerechtfertigt, wenn auch bestimmte Überzeugungen über die Geschichte der Personen gerechtfertigt sind; diese Überzeugungen wiederum sind narrativ.
_____________ 17 Zum Begriff epistemischer Rechtfertigung siehe z. B. Swinburne 2001.
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
Freilich habe ich bislang nur gesagt, was es für Überzeugungen heißt, gerechtfertigt zu sein; über die Einstellungen des ersteren Typs habe ich mich ausgeschwiegen. Ich werde später (§ 12) genau sagen können, welche Einstellungen es sind und inwiefern sie gerechtfertigt sein können. Ich kann aber bereits feststellen, dass ebenfalls von rationaler (und nicht etwa moralischer) Rechtfertigung die Rede ist. Wie genau der Zusammenhang zwischen der rationalen Rechtfertigung dieser Einstellungen und der epistemischen Rechtfertigung der Überzeugungen zu deuten ist, wird ebenfalls an späterer Stelle erklärt. In jedem Falle gilt, dass es hier um eine starke Form von rationaler Rechtfertigung geht. Der Gedanke ist ja nicht nur, dass für Personen mit jenen charakteristischen Einstellungen nichts dagegen spricht, narrative Konzeptionen ihrer Geschichte zu haben. Dies soll also nicht nur rational zulässig, sondern vielmehr rational gefordert sein. Beide Vorkommnisse von „gerechtfertigt“ sind in der offiziellen Formulierung meiner These also so zu verstehen, wie es schon angedeutet wurde: Es ist gerechtfertigt für A zu t, die Einstellung φ zu haben, wenn es für A zu t (gegeben die verfügbaren Belege) nicht rational ist, φ nicht zu haben. Schließlich führe ich ein letztes Stück Terminologie ein: Unter einer Konzeption eines Gegenstands x ist einfach eine Menge von Überzeugungen über x zu verstehen. Konzeptionen können aus Typen oder Tokens solcher Überzeugungen bestehen. Es gibt also z. B. die wahre und vollständige Konzeption der Welt, die momentan vermutlich in niemandes Kopf als Token-Menge instantiiert ist. Und es gibt z. B. die Konzeption, die ein Akteur A zu t über irgendein x hat, und die aus den TokenÜberzeugungen besteht, die A zu t über x hat. Folgendes ist nun die offizielle Formulierung der begrifflichen deskriptiven narrativistischen These, die ich in diesem Buch erklären und verteidigen werde: (DNT)
Es ist eine begrifflich geltende Norm für Personen, Einstellungen eines bestimmten Typs zu haben. & Eine Einstellung dieses Typs ist nur dann gerechtfertigt, wenn bestimmte Konzeptionen der Geschichte ihres Subjekts gerechtfertigt sind. & Diese Konzeptionen sind narrativ.
Ich betone, dass diese Formulierung bereits die intersubjektivitätstheoretische Ergänzung nahelegt, die ich vorschlagen werde. Nicht nur wir selbst sind ja zur Rechtfertigung unserer Einstellung angehalten. Auch andere werden diese Rechtfertigung prüfen und in Frage stellen. Wer immer dies aber tut, wird sich um die Bedingungen ihrer Rechtfertigung kümmern müssen, und damit wird er die Frage stellen müssen, welche Konzeptio-
§ 5. Die These und der Aufbau dieses Buches
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nen der Geschichte des Subjekts gerechtfertigt sind. Anders gesagt: Auch er muss seine Kritik mit biographischen Geschichten begründen. (Freilich gibt es im intersubjektiven Falle eine einschränkende Qualifikation. Dazu später mehr.) Bevor ich abschließend den Aufbau dieser Arbeit skizziere, will ich kurz auf Beschränkungen derselben eingehen. Eine solche Beschränkung, die empfindlich, aber notwendig ist, betrifft das Verhältnis zur Zukunft. Personen sind natürlich Wesen, die auch ihre zukünftige Geschichte zum Gegenstand von Narrationen machen. Man denke etwa an die Pläne, die wir schmieden, und die Ängste und Hoffnungen, die wir hegen. Diesen Aspekt kann ich hier kaum berücksichtigen. Mein Argument für die These (DNT) rekurriert auf Rechtfertigungsbedingungen bestimmter Einstellungen, und diese betreffen vor allem unsere Vergangenheit. Um es mit S. Shoemaker zu sagen: „A person’s past history is the most important source of his knowledge of the world, but it is also an important source of his knowledge, and his conception, of himself; a person’s ‘self-image’, his conception of his own character, values and potentialities, is determined in a considerable degree by the way in which he views his own past actions” (Shoemaker 1984a, 48). In diesem Sinne also sind die Geschichten, um die es hier geht, unsere Geschichten darüber, wie wir geworden sind, was wir sind. Unsere ebenso wichtigen Geschichten über das, was wir werden wollen, können hier kaum behandelt werden. Weitere wichtige Einschränkungen sind schon aus der einleitenden Übersicht über die vielen möglichen narrativistischen Thesen erkennbar: Dieses Buch befasst sich beispielsweise nicht mit Selbsten, obschon sie die Entitäten sind, von denen in der narrativistischen Literatur am meisten die Rede ist. Der Begriff des Selbst wird unterschiedlich verwendet. Mir scheint es am sinnvollsten, ihn als eine Art Hypostasierung dessen zu verstehen, was D. Velleman (2006) treffend einen „reflexive mode of presentation“ nennt. Fregeanisch ausgedrückt18 bezeichnet „Selbst“ also so etwas wie die Weise, in der wir selbst uns gegeben sind – einen Sinn, unter dem wir auf uns selbst Bezug nehmen, oder eine Selbstkonzeption. Daher läge es durchaus nahe, narrativistische Theorien unseres Selbstverhältnisses Theorien des Selbst zu nennen. Gleichwohl hat der Begriff zwei Nachteile: Zum einen würde er zumindest dem Eindruck entgegenarbeiten, dass es uns vor allem auszeichne, uns selbst auf narrative Weise zu verstehen. Ich möchte jedoch betonen, dass Narrationen wichtige Funktionen in unserer intersubjektiven diskursiven Praxis erfüllen. Zum anderen glaube ich eben, dass narrative Konzeptionen unseres Lebens etwas darstellen, das man in einem normativen
_____________ 18 „Mode of presentation“ ist der kanonische englische Term für „Gegebenheitsweise“.
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Einleitung: Person sein und Geschichten erzählen
Sinne von uns erwarten kann. Im Gegensatz zum Begriff „Selbst“ scheint mir „Person“ ein Begriff zu sein, mit dem wir solche normativen Erwartungen transportieren. Wieder gilt jedoch, dass ich in keiner Weise ausschließe, dass es interessante und korrekte narrativistische Konzeptionen des Selbst (oder des Menschen oder...) gibt. Dasselbe gilt schließlich für ethische narrativistische Theorien, die ich hier ebenfalls nicht behandele. Der Aufbau dieses Buches ist denkbar einfach. Es geht um nichts anderes als um eine argumentative Begründung der These DNT. Abgesehen von dieser Einleitung hat das Buch drei große Teile, in denen dieses Ziel verfolgt wird. Im ersten Hauptteil (I) wird eine bestimmte Klasse von Einstellungen charakterisiert. Ich argumentiere dabei dafür, dass es eine begrifflich geltende Norm für Personen ist, Einstellungen dieses Typs zu haben. Weiterhin zeige ich, dass solche Einstellungen nur dann gerechtfertigt sind, wenn bestimmte Überzeugungen über die Geschichte ihrer Subjekte gerechtfertigt sind. Im zweiten Hauptteil (II) werde ich dann eine ausführliche Formulierung notwendiger und hinreichender Bedingungen dafür vorlegen, dass etwas narrativ ist. Im dritten Hauptteil (III) findet schließlich die Synthese der Resultate der vorhergehenden Teile statt: Ich werde zeigen, dass die biographischen Konzeptionen, von denen Teil I handelt, nach Maßgabe der Bedingungen aus Teil II narrativ sind. Abschließend möchte ich den Gang des Arguments in Form eines informalen deduktiven Schlusses präsentieren. Zugleich lässt sich so der Aufbau des Buches veranschaulichen. Die römischen Ziffern vor den Prämissen bezeichnen dabei die Teile des Buches, in denen die jeweilige Prämisse erklärt und begründet wird: (Ia) Es ist eine begrifflich geltende Norm für Personen, Einstellungen eines Typs T zu haben. (Ib) Eine Typ-T-Einstellung ist nur dann gerechtfertigt, wenn eine Konzeption des Typs K über die Geschichte ihres Subjekts gerechtfertigt ist. (II) Wenn eine Konzeption (eine Menge von Sätzen oder Überzeugungen) eine Menge von Bedingungen B erfüllt, so ist sie narrativ. (III) Konzeptionen des Typs K erfüllen die Bedingungen B. _____ ∴
Es ist eine begrifflich geltende Norm für Personen, Einstellungen eines bestimmten Typs zu haben. & Eine Einstellung dieses
§ 5. Die These und der Aufbau dieses Buches
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Typs ist nur dann gerechtfertigt, wenn bestimmte Konzeptionen der Geschichte ihres Subjekts gerechtfertigt sind. & Diese Konzeptionen sind narrativ. Die Konklusion dieses Arguments ist, wie leicht zu erkennen ist, die These DNT. Nachdem die Teile I bis III diese These bestätigt haben, folgt noch ein kurzer Schlussteil. Dort befasse ich mich mit einigen allgemeinen Implikationen meiner Theorie. Zudem frage ich, inwiefern meine Analyse der Funktion biographischer Geschichten in unserer Praxis auch für praktische und normative Überlegungen relevant sein kann. Es ist immerhin von großer praktischer und evaluativer Bedeutung für uns, dass wir Personen sind und als solche anerkannt und behandelt werden; entsprechend sind auch die Geschichten, die für ein personales Leben unverzichtbar sind, in verschiedenen Hinsichten von solcher Bedeutung für uns.
Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung § 6. Einleitung Es ist Teil des Begriffs der Person, dass wir von Personen einen bestimmten Typ von Einstellungen erwarten dürfen, zu deren Rechtfertigung biographische Geschichten erforderlich sind. So lautet die These dieses Buches in einer knappen Form. In diesem ersten Teil werde ich erklären, welche Einstellungen es sind, von denen diese These spricht. Ich werde darlegen, dass es in der Tat eine begrifflich geltende Norm für Personen ist, dass ein ihnen angemessenes Leben jene Einstellungen umfassen muss. Weiter werde ich plausibel machen, dass diese Einstellungen nur gerechtfertigt sind, wenn auch bestimmte Überzeugungen über die Lebensgeschichte ihrer Subjekte gerechtfertigt sind. Es bleibt dann den nachfolgenden Teilen der Arbeit vorbehalten, zu zeigen, welche Bedingungen etwas erfüllen muss, damit es eine Geschichte ist, und den Nachweis zu führen, dass die besagten biographischen Überzeugungen diese Bedingungen erfüllen.
§ 7. Vorüberlegung: Etwas wirklich wollen und sich mit etwas identifizieren Ich möchte zu Beginn an einem Beispiel veranschaulichen, von welchen Einstellungen meine These handelt. Man betrachte den Fall einer jungen Frau, um deren Hand angehalten wird. Sie versucht zu entscheiden, ob sie den Antrag annehmen und den Antragsteller heiraten soll. Diese junge Frau macht sich, wie ich annehmen will, ihre Entscheidung nicht leicht. Sie erwägt zunächst erfolglos eine Menge potenzieller Gründe für oder gegen eine Zusage. Es fehlt ihr dabei nicht an einschlägigen Informationen: Sie kann nicht bestreiten, dass sie gegenwärtig starke Gefühle für den Antragsteller hegt; sie spürt daher durchaus den Wunsch, mit „Ja!“ zu antworten. Sie kann aber auch nicht leugnen, dass sie angesichts der Tragweite dieser Entscheidung etwas ängstlich ist. Und sie ist nicht sicher, ob sie an die Beständigkeit ihrer Gefühle glauben und sich ewig binden
§ 7. Vorüberlegung: Etwas wirklich wollen und sich mit etwas identifizieren
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soll. Sie fürchtet, dass sie es bereuen könnte, wenn sie ihrem Wunsch nachgibt. Zugleich weiß sie aber, dass eine Zusage nicht nur dem Antragsteller, sondern auch ihren Eltern eine Freude machen würde. Ebenso ist ihr klar, dass ihr Freundeskreis schon lange eine Hochzeitsankündigung erwartet. Und schließlich ist sie sich auch bewusst, dass sie, gemessen an traditionellen Vorgaben, allmählich fast als zu alt für eine Hochzeit gilt. Die junge Frau akzeptiert all diese Erwägungen als relevant. Aber gleichwohl lassen sie eine Frage unbeantwortet, die ihr als entscheidend erscheint. Diese Frage lautet: „Ist es das, was ich wirklich will?“ Diese Frage ist uns, so kann man sicherlich festhalten, intuitiv durchaus verständlich. Aber wonach genau fragt sie? Fest steht, dass das Adverb „wirklich“ im Zusammenhang dieser Frage keine epistemische oder ontologische Qualifikation darstellt. Wir haben angenommen, dass die junge Frau die genannten Wünsche und Bedenken hat, und dass sie darum weiß. Und doch finden wir ihre Frage auch unter dieser Voraussetzung noch immer sehr sinnvoll. Wenn wir im Alltag zwischen dem unterscheiden, was wir wollen, und dem, was wir wirklich wollen, so meinen wir also meist etwas anderes. Letztlich gibt es hier zwei Alternativen. Die erste ist diese: „S will wirklich, dass p“ kann ausdrücken, dass p einen komparativ hohen Grad an Erwünschtheit (desirability) für S hat. Wenn wir also sagen, wir hätten etwas getan, obwohl wir es nicht wirklich gewollt haben, so meinen wir oft: Wir hätten eine andere Alternative vergleichsweise vorgezogen. Wir hätten lieber anders (oder gar nicht) gehandelt, aber die Umstände (oder unsere Willensschwäche) haben es verhindert. Entscheidungstheoretisch gesprochen: „Wirklich“ denotiert in diesen Fällen einen hohen (oder komparativ: höheren) Rang in einer bestimmten Präferenzordnung. Wenn es dies ist, was die junge Frau meint, so geht es in ihrer Frage darum, wie ihre Präferenzen nach Dringlichkeit oder Stärke zu ordnen sind. Sie fragt also sinngemäß: „Ist es das, was ich am liebsten will?“ Es gibt jedoch noch etwas anderes, was die junge Frau meinen kann. Das wird erkennbar, wenn man folgendes bedenkt: Sogar dann, wenn ihre Gefühle in einem überwältigenden Maße für eine Heirat sprechen, kann ihre Frage offen bleiben. Auch dann also, wenn ganz klar ist, was sie am liebsten will, kann sie fragen: „Aber ist es auch das, was ich wirklich will?“ In diesem Falle fragt sie in einem emphatischen Sinne nach dem, was sie wirklich will. Was jemand in diesem Sinne wirklich will, superveniert nicht über der Stärke seiner Wünsche oder über deren Position in einem Ranking. Vielmehr kann jemand etwas in diesem Sinne wirklich wollen, ohne dass es das ist, was er am liebsten tun würde. Ich zum Beispiel würde gerade am liebsten etwas anderes tun, als an einem Buch über Narrativität zu arbeiten. Aber daraus folgt natürlich nicht, dass ich es nicht wirklich will. Im
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Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung
Gegenteil: Obschon ich mitunter andere Präferenzen habe, die stärker sind, ist dennoch dieses Projekt das, woran mir wirklich etwas liegt. Wir können zweifellos einen Unterschied zwischen dem machen, was wir gerade am meisten wollen, und dem, woran uns in einer anderen, besonderen Weise liegt. Damit ein Wunsch in diesem zweiten Sinn etwas darstellt, was jemand wirklich will, muss er keine bestimmte Stärke haben. Eher muss er, vorerst ganz vage gesprochen, mit den normativen Lebensplänen und dem Selbstverständnis der Person verbunden sein. Im Alltag verfügen wir über vielerlei Metaphern, die dies einfangen sollen: Wenn jemand etwas wirklich will, so ist es das, „wofür sein Herz schlägt“, oder was er „im tiefsten Innern“ will. Man sagt auch, es handele sich um ein echtes oder persönliches Anliegen der Person. Ich werde später den Ausdruck „authentisch“ einführen, um dies zu erfassen. An dieser Stelle kann ich wenig mehr tun, als solche vagen Hinweise und Metaphern anzuführen. Ein großer Teil dieses ersten Hauptteils des Buches dient jedoch dazu, eine Theorie der Authentizität zu entwickeln. Einstweilen verlasse ich mich aber darauf, dass wir eine intuitive Vorstellung davon haben, wonach die junge Frau sucht. Nehmen wir nämlich an, diese junge Frau möchte nicht nur ihre Präferenzen nach Dringlichkeit ordnen. Sofern sie stattdessen danach fragt, welche dieser Präferenzen sie als Ausdruck eines echten Wunsches ansehen sollte, ist uns durchaus klar, welche spezifischeren Fragen damit einhergehen werden. Sie könnte sich etwa folgendes fragen: Könnte es sein, dass ihre Verliebtheit nur ein vorübergehendes Gefühl ist, und dass sie dabei ist, unter dem Eindruck einer solchen Emotion eine überstürzte Entscheidung zu treffen? Oder sind gerade diese Bedenken vielmehr nur ein Ausdruck von Feigheit? Wünscht sie sich aufrichtig, zu heiraten, und bekommt es jetzt, wo es damit ernst wird, ein wenig mit der Angst – und zwar gerade, weil es ihr so viel bedeutet? Aber vielleicht ist es auch so, dass bestimmte Erwartungen und Ansprüche, die ihr Umfeld an sie stellt, ihre Entscheidung diktieren? Will sie also nur Konflikte, Sanktionen oder mitleidige Blicke vermeiden, statt von der Idee selbst überzeugt zu sein? Fragen dieser Art zeigen, dass es der jungen Frau in keiner Weise um die Stärke ihrer Präferenzen geht. Alle diese Fragen würden auch dann noch offen bleiben, wenn diese Präferenzen eindeutig nach Dringlichkeit geordnet wären. Die junge Frau versucht vielmehr, flüchtige Impulse und bloße Anwandlungen, egal wie stark, von ihrem echten Willen zu unterscheiden. Ebenso macht sie auch einen Unterschied zwischen Wünschen, die in bestimmter Weise auf ihr soziales Umfeld zurückgehen, und diesem echten Willen. Dies wird noch deutlicher erkennbar, wenn man noch weitere Fragen betrachtet, mit denen sich unsere Protagonistin befassen wird. Diese An-
§ 7. Vorüberlegung: Etwas wirklich wollen und sich mit etwas identifizieren
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schlussfragen betreffen ihre umfassendere Persönlichkeit und Geschichte, etwa wie folgt: Hat sie nicht immer schon davon geträumt, zu heiraten? Und kennt sie nicht ihre Neigung, unmittelbar vor einer Erfüllung großer Wünsche plötzlich zu zögern? Andererseits: Sie kennt den Antragsteller erst seit kurzer Zeit. Und ist sie nicht jemand, der sich häufig von kurzfristigen Gefühlen beherrschen lässt, und hat sie dies nicht schon oft bereut? Oder: Neigt sie nicht immer schon dazu, Konflikten aus dem Wege zu gehen und äußeren Erwartungen, gerade denen ihrer Eltern, auch auf Kosten ihrer eigenen Wünsche gerecht werden zu wollen? Solche Überlegungen könnten es der jungen Frau schließlich erlauben, ihre ursprüngliche Frage zu beantworten. Man nehme an, sie gelangt tatsächlich zu einer solchen Antwort. In diesem Falle ändert sich nicht notwendig etwas an der Dringlichkeit ihrer Wünsche und Motivationen, es ändert sich also nicht notwendig etwas daran, was sie am liebsten tun würde. Was sich aber ändert ist die Weise, in der sie ihre Einstellungen bewertet. Manche von ihnen erscheinen ihr nun als nur scheinbar wichtig und nicht wert, handelnd verwirklicht zu werden; andere hingegen bewertet sie vielleicht, obschon sie momentan weniger eindringlich sein mögen, als solche, die eher ihre wirklichen Bedürfnisse und Anliegen repräsentieren. Mit diesem evaluativen Unterschied wird, zumindest sofern die junge Frau nicht willensschwach ist, auch ein praktischer Unterschied einhergehen: Sie wird eine bestimmte Entscheidung fällen. Genau dies soll nun exemplarisch sein für die Einstellungen, von denen in der These dieses Buches die Rede ist: Ein Akteur erkennt, dass etwas sein wirklicher Wunsch ist, und beschließt deshalb (oder: unter anderem deshalb), ihn zu verfolgen. Es soll also, wie ich behaupte, ein normativer Teil der Bedeutung von „Person“ sein, dass Personen dergleichen tun. Und zur Rechtfertigung dieses Tuns sollen sie Narrationen brauchen. Zunächst einmal scheint jedoch ein ganzes Bündel an Einstellungen in das eben beschriebene mentale Ereignis involviert zu sein. Zwar werde ich behaupten, dass wir Haltungen dieses Typs im Alltag durchaus als komplexe psychologische Einheiten individuieren. Aber zweifelsohne sind mindestens unterschiedliche Aspekte beteiligt, und zwar sowohl epistemische als auch evaluative und praktische Aspekte. Zum einen formuliert die junge Frau mit einer Frage wie „Was ist es, das ich wirklich will?“ ein Erkenntnisproblem. Um zu einer Antwort zu gelangen, konsultiert sie ihr Wissen über sich, ihren Charakter und ihre Geschichte. Zugleich jedoch geht es, wie gesagt, nicht nur darum, einen authentischen Wunsch als solchen zu erkennen. Vielmehr hat dieser Wunsch als authentischer einen bestimmten Wert für die junge Frau, und er wird zum Gegenstand einer Entscheidung. In ihrer Suche geht es also auch um die evaluative Frage,
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Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung
welcher Wunsch es verdient, in einer bestimmten Weise ernst genommen zu werden. Und es geht um die praktische Frage, welcher Wunsch folglich ihr Handeln leiten sollte. Ich werde, wie gesagt, behaupten, dass es sich hier um einen durchaus vertrauten Typ komplexer Einstellungen handelt. Einstellungen dieses Typs werden in einer bestimmten philosophischen Diskussion, aber auch in unserem Alltag als „Identifikationen“ bezeichnet. Was die junge Frau also tut, indem sie einen Wunsch als authentisch erkennt und praktisch bewertet, ist, sich mit ihm zu identifizieren. Es ist wichtig, hervorzuheben, dass „Identifikation“ in dieser Verwendungsweise eine sehr spezielle Bedeutung hat. Der Ausdruck steht z. B. nicht für Urteile des Inhalts, dass zwei verschiedenen Kennzeichnungen ein und derselbe Gegenstand entspricht – wie etwa die Identifikation des Morgensterns mit dem Abendstern. Auch bezeichnet er nicht den Vorgang des Herausgreifens eines bestimmten Einzeldings – etwa der Identifikation eines Täters durch einen Zeugen. Wenn in diesem Buch von Identifikation die Rede ist, sollte klar sein, dass es nicht um Identifikation in diesen theoretischen Bedeutungen geht. Stattdessen geht es hier um eine praktische Form des SichIdentifizierens mit etwas. Allerdings gibt es noch weitere Unterscheidungen zu treffen. „Sich identifizieren mit“ kann auch im praktischen Sinne verschiedene Bedeutung haben. Zum einen kann es das ausdrücken, was M. Quante (2007, 145) den „personale[n] Sonderfall einer empathischen Einstellung“ nennt, „in der eine positive oder negative Bewertung des Zustandes einer Entität, mit der man sich für identisch hält, vorgenommen wird“. Hier ist Identifikation im praktischen Sinne also eine Relation zwischen Personen (oder geordneten Paaren von Personen und Zeitpunkten). In diesem Sinne sagen wir, wir könnten uns mit jemandem (etwa dem Helden eines Romans) identifizieren. Damit meinen wir vor allem, dass wir nachfühlen können, wie er sich in einer bestimmten Situation fühlen muss. Diese Form einer empathischen Identifikation mit jemandem wird an späteren Stellen dieses Buches eine Rolle spielen. 1 Sie ist jedoch nicht das, worum es in meiner Hauptthese geht. Der Eindeutigkeit halber bezeichne ich sie im Folgenden daher nicht als „Identifikation“. In der Bedeutung, in der „Identifikation“ und „sich identifizieren mit“ hier gebraucht werden, drücken diese Terme eine binäre Relation aus, die zwischen Personen und Mengen propositionaler Einstellungen instantiiert ist. In diesem Sinne sagen wir, dass Personen sich mit bestimmten Wünschen, Zielen oder Überzeugungen identifizieren. Ich werde unten eine Theorie
_____________ 1
Siehe unten, § 22 und § 30c. Für eine ausführliche Behandlung der Identifikation in diesem Sinne siehe Quante (2002, 171 ff) und (2007, 142-148).
§ 7. Vorüberlegung: Etwas wirklich wollen und sich mit etwas identifizieren
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der Identifikation entwickeln; vorerst lässt sich die Idee in grober Form so ausdrücken: Sich mit einem Wunsch zu identifizieren heißt, ihm einen besonderen Status zuzusprechen, ihn als etwas anzuerkennen, das einem selbst entspricht. Nun lässt sich das Ziel dieses ersten Hauptteils bereits genauer formulieren. Ich möchte zeigen, dass es zum Begriff der Person gehört, dass Personen sich mit manchen ihrer Wünsche identifizieren sollen. Ebenso zeige ich, dass mit solchen Identifikationen bestimmte Rechtfertigungslasten verbunden sind: Subjekte von Identifikationen sind – ebenso wie andere, die die Rechtfertigung dieser Identifikationen kritisch beurteilen – auf bestimmte biographische Überzeugungen festgelegt. Nur im Rahmen einer Konzeption der Geschichte einer Person kann ihre Identifikation mit einem bestimmten Wunsch als gerechtfertigt oder ungerechtfertigt beurteilt werden. Die späteren Teile dieses Buches zeigen dann, wie gesagt, dass solche Konzeptionen narrativ sein müssen. Wie könnte man all dies nun zeigen? Ich beginne mit der Argumentation dafür, dass Identifikationen tatsächlich etwas sind, das von Personen begrifflich gefordert ist. Dazu setze ich bei einer scheinbar entfernten Diskussion ein: der Debatte um Bedingungen personaler Autonomie. Ich versuche, zu zeigen, dass es eine notwendige Bedingung für die Autonomie einer Person ist, dass sie sich mit den Motiven identifiziert, die ihr Handeln leiten. Wenn man dann annimmt, dass Autonomie selbst eine begrifflich geltende Norm für Personen ist, lässt sich weiter argumentieren, dass für bestimmte Bedingungen von Autonomie dasselbe gilt. Teil dieser Bedingungen ist die Identifikation mit bestimmten Wünschen. Der Verlauf der nächsten argumentativen Schritte ist also, grob gesagt, dieser: Es ist Teil unseres Begriffs der Person, dass Personen selbstbestimmt leben sollen. Und es ist Teil unseres Begriffs der Selbstbestimmung, dass ein selbstbestimmtes Wesen seinen eigenen Willen als solchen erkennt, bewertet und umsetzt. Unter diesen Prämissen lässt sich dann plausibel machen: Es ist Teil der normativen Vorstellungen, die wir mit dem Begriff „Person“ verbinden, dass Personen sich mit manchen Wünschen identifizieren.
§ 8. Autonomie und der Begriff der Person Wenn im Folgenden von Autonomie die Rede ist, so kann man diesen Begriff vorläufig in dem intuitiven Sinne verstehen, in dem wir ihn und sein Pendant „Selbstbestimmung“ im Alltag verwenden. Wer in einer Handlung autonom ist, der folgt, indem er sie vollzieht, seinem eigenen
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Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung
Willen. Er ist frei von Zwängen innerer und äußerer Art, und er ist für seine Handlungen voll verantwortlich. Freilich verwenden wir den Begriff „Autonomie“ unterschiedlich anspruchsvoll. In einem schwachen Sinne sagt man schon von jeder Entscheidung, die nicht unmittelbar erzwungen oder manipuliert wurde, dass sie autonom sei. Es gibt aber auch einen anspruchsvolleren Sinn, in dem z. B. Entscheidungen, die unüberlegt, unter dem Eindruck starker Emotionen, aufgrund von Täuschungen, aus inneren Zwängen oder aus einem Zustand der Desorientierung heraus gefällt wurden, nicht autonom sind. In dieser Arbeit geht es um Autonomie in diesem starken Sinne. Ich bin allerdings nicht sicher, dass diese unterschiedlichen Sinne von „autonom“ als unterschiedliche Bedeutungen betrachtet werden sollten. Es scheint sich eher nicht um eine Ambiguität zu handeln. Vielmehr hege ich einige Sympathie für den Gedanken, dass „autonom“ ein kontextsensitiver Ausdruck ist. Er hätte demnach nur eine Bedeutung, aber es wäre Teil dieser Bedeutung, dass die Extension von „ist autonom“ zwischen Äußerungskontexten variieren kann. (So verhält es sich z. B. auch bei indexikalischen Ausdrücken oder, manchen Theorien zufolge, bei vagen Ausdrücken oder dem Begriff „Wissen“.) Ein Teil der relevanten kontextuellen Parameter könnte etwa in möglichen praktischen Kosten bestehen. Wo wenig auf dem Spiel steht, erfüllten mehr Handlungen und Entscheidungen den Begriff „autonom“. Deshalb ist es gewöhnlich unkontrovers, dass ich meine Milch morgens selbstbestimmt kaufe. Mit steigender Wichtigkeit stiegen hingegen die Standards, ohne dass sich damit die Bedeutung von „autonom“ änderte. Das muss an dieser Stelle jedoch semantische Spekulation bleiben. 2 In jedem Falle gilt: Wie immer es genau zu verstehen ist, dass „autonom“ unterschiedlich anspruchsvoll verwendet werden kann – hier geht es um die anspruchsvolleren Verwendungen. Im Kontext dieser Verwendungen ist der Begriff der Autonomie eher exklusiv, und bezeichnet eine (noch zu untersuchende) positive Form aktiver Selbstbestimmung. Daher ist zu beachten, dass „autonom“ und „heteronom“ in diesem starken Sinne konträr, aber nicht kontradiktorisch sind. Nicht alle Handlungen, die nicht im anspruchsvollen Sinne autonom sind, sind deshalb gleich heteronom. Wenn also etwas die nachfolgend diskutierten Bedingungen der Autonomie nicht erfüllt, muss es nicht fremdbestimmt sein.
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Vielleicht ist es ja auch eher so, dass die Extension von „autonom“ invariant ist, und dass es nur in unterschiedlichem Maße pragmatisch relevant ist, ob etwas autonom ist. P. Unger (2002) hat bekanntlich argumentiert, dass es keine Möglichkeit gebe, zwischen kontextualistischen und pragmatisch-invariantistischen Theorien mit guten Gründen zu entscheiden. Für neuere Arbeiten zum Kontextualismus siehe z. B. Preyer et al. (Hrsg.) (2005).
§ 8. Autonomie und der Begriff der Person
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Es ist noch ein weiterer wichtiger Unterschied zu diskutieren. J. Feinberg (1986, 27 ff) unterscheidet insgesamt vier Bedeutungen von „Autonomie“. Zwei von ihnen sind für mein Vorhaben besonders bedeutsam: Mit „Autonomie“ können wir zum einen auf eine Fähigkeit (oder ein Vermögen, capacity) Bezug nehmen. In diesem Sinne ist Autonomie so etwas wie die prinzipielle Fähigkeit zur Selbstbestimmung im Denken und Handeln. Diese Fähigkeit kann realisiert werden, aber auch eine bloße (unrealisierte) Fähigkeit bleiben. Zum anderen können wir mit „Autonomie“ aber auch den Zustand bezeichnen, in dem diese Fähigkeit realisiert ist, einen Zustand tatsächlicher Selbstbestimmung. Mein Vorhaben ist nun, wie gesagt, dieses: Ich möchte zeigen, dass von Personen schon aus begrifflichen Gründen erwartet wird, dass sie sich mit manchen Wünschen identifizieren. Ich beabsichtige, dies zu zeigen, indem ich dafür argumentiere, dass Identifikationen notwendige Bedingungen für Autonomie sind. Im Hintergrund steht dabei natürlich die Prämisse, dass Autonomie selbst ein Teil des Begriffs „Person“ ist. Nun ergibt sich aber bereits an dieser Stelle ein Problem. Es erscheint zwar durchaus plausibel, Autonomie im Sinne einer Fähigkeit als notwendig für Personalität anzusehen. Was Personen vor anderen Wesen auszeichnet, ist sicher unter anderem, dass sie selbstbestimmt agieren können, aber auch, dass man sie manipulieren, bevormunden oder verführen kann. (Auch das setzt natürlich die Fähigkeit zur Autonomie voraus.) Die Plausibilität dieser Ansicht muss hier jedoch gar nicht weiter debattiert werden, denn sie hilft meinem Vorhaben nicht im Mindesten. Das Problem ist folgendes: Identifikationen sind allenfalls für Autonomie im Zustandssinne notwendig. Es ist aber sicher keine begrifflich notwendige Bedingung für Personalität, tatsächlich autonom zu sein. Wie gesagt: Personen sind Wesen, die wir manipulieren, bevormunden und gegen ihren Willen verführen können. Wenn es aber nur notwendig ist, dass Personen die Fähigkeit zur Selbstbestimmung haben, dann ist wohl auch nur notwendig, dass sie die Fähigkeit zur Identifikation haben. Und diese bloße Fähigkeit braucht sicher keine narrative Rechtfertigung. Ist meine Strategie also im Ansatz verfehlt? Die Antwort lautet, wie der Leser antizipiert haben wird: Nein. Zwar ist Autonomie im Zustandssinne keine notwendige Bedingung für Personalität. Aber sie ist das, was ich eine begrifflich geltende Norm nenne. Das heißt nicht, dass alle Personen in diesem Sinne autonom sind. Es bleibt ein begrifflich kontingentes Faktum, wenn eine Person es in der Tat ist. Aber es bedeutet, dass für Personen aus begrifflichen Gründen die Norm gilt, dass sie autonom sein sollen. Ich habe in der Einleitung bereits gesagt, dass der Begriff der Person von J. Locke als ein „forensischer“ und von D. Dennett als ein „moralischer“ Term bezeichnet wird. Ich werde im Folgenden allgemeiner von
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Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung
einem praktischen Begriff sprechen. Dieses praktische Prädikat „ist eine Person“ dient nicht nur zur Klassifikation von Gegenständen, sondern zur Attribution von Rechten, Pflichten, Ansprüchen usw. Für diesen praktischen Begriff der Person gilt nun, so behaupte ich, dass Autonomie qua Zustand eine der Normen ist, die seinen Gehalt partiell konstituieren. Demnach wäre es Teil dessen, was wir sagen, wenn wir „ist eine Person“ von einem beliebigen x in einer beliebigen möglichen Welt w prädizieren, dass es ein Defizit im normativen Sinne ist, wenn x in w nicht autonom ist. Diese Sichtweise wird durch folgenden Umstand nahe gelegt: Indem wir jemanden als eine Person betrachten, betrachten wir ihn nicht nur als Wesen mit der Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln. Außerdem betrachten wir ihn als Wesen, bei dem bestimmte Formen der Beeinflussung dieser Fähigkeit eine bestimmte normative Signifikanz haben. Personen sind nicht nur Wesen, die einen eigenen Willen ausbilden können, den man beeinflussen kann. Sie sind zudem Wesen, bei denen es eine Bevormundung, Manipulation oder Verführung ist, wenn man dies tut. Ebenso haben auch bestimmte Formen der Passivität bei Personen normative Signifikanz: Personen sind nicht nur Wesen, die zu ängstlich, zu bequem oder zu desinteressiert sein können, einen eigenen Willen auszubilden, sondern sie sind auch Wesen, bei denen es eine Unmündigkeit oder Unselbstständigkeit ist, wenn es so ist.3 Nun ist der Vorschlag, dass Autonomie im Zustandssinne eine Norm ist, die für Personen gilt, noch nicht sehr kontrovers. Aber ich behaupte ja weiter, dass diese Norm Teil der Bedeutung des Personenbegriffs ist. Und das ist sehr wohl kontrovers. Wie schon gesagt: In vielen philosophischen Debatten, speziell in der Metaphysik, wird dieser Begriff oft scheinbar rein deskriptiv verwendet. Strawson (1959) z. B. definiert Personen als die Entitäten, auf die physikalische und psychologische Prädikate zutreffen. Und auch in der Debatte um diachrone personale Identität kommen Personen oft nur als Träger mentaler und materieller Eigenschaften vor. Ein prima facie attraktiver Gegenvorschlag zu meiner These lautet daher, dass zu den semantischen Merkmalen von „Person“ nur bestimmte deskriptive Aspekte gehören, während die normativen Aspekte rein prag-
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Ich werde mich hier nicht in der Frage festlegen, von welcher Art die fraglichen Normen genau sind. Mir scheint, dass sich diese Normen sowohl in deontischen Begriffen charakterisieren lassen (Personen sind verpflichtet oder unterstehen der Erwartung, einem eigenen Willen zu folgen, haben aber auch ein Anrecht darauf), als auch in evaluativen Begriffen (es ist Teil eines guten personalen Lebens, dass Personen selbstbestimmt entscheiden und handeln). An dieser Stelle ist es mir jedoch weder möglich, noch ist es für mein Beweisziel nötig, in diesen Punkten eine genaue Festlegung einzugehen. Ich werde daher bei der unverbindlichen Wendung bleiben, dass Autonomie „Teil eines nicht-defizitären personalen Lebens“ sei.
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matische Merkmale desselben sind.4 Normative Status wären also nicht Teil der Bedeutung von „Person“, sondern Aspekte der Verwendung dieses Begriffs in bestimmten sozialen und institutionellen Kontexten. Im Hinblick auf den semantischen Gehalt des Begriffs wären sie damit kontingent; änderten sich die sozialen Kontexte und ihre Normen, so würde sich allein deswegen noch nicht die Bedeutung von „Person“ ändern. Es wäre auch kein Teil dieser Bedeutung, dass Personen autonom im Zustandssinne sein sollen, und meine These wäre also falsch. Vielleicht gibt es hier aber keinen Anlass zur Uneinigkeit? Womöglich gibt es ja zwei Begriffe der Person, einen deskriptiven und einen praktischen? Diese Idee ist extrem unattraktiv. Es gibt keine fundamentale semantische Ambiguität im Begriff der Person. Jedenfalls scheint es mir nicht vorzukommen, dass sich zwei Sprecher im Alltag missverstehen, weil sie „Person“ in unterschiedlicher Bedeutung verwenden. Daher sollte man in der Tat eine semantische Analyse bevorzugen, die mit „Person“ eine Menge semantischer Werte, aber vielleicht zwei Mengen pragmatischer Eigenschaften assoziiert. „Person“ ist also kaum plausibel als ambig aufzufassen. Aber ich behaupte: Zu der einen Bedeutung dieses Begriffs können nicht nur deskriptive Merkmale zählen; er ist ein irreduzibel praktischer Begriff. Seine scheinbar rein deskriptive Bedeutung in bestimmten Kontexten ist im besten Falle eine vereinfachende Abstraktion zu theoretischen Zwecken. Wenn sie mehr als das sein soll, so hat sie mit unserem Begriff der Person nichts mehr zu tun. Strawson und andere wechselten dann das Thema. Freilich benötige ich für so starke Thesen gute Gründe. Daher werde ich im Folgenden dafür argumentieren, dass eine semantische Analyse von „ist eine Person“, die ausschließlich deskriptive Terme enthält, inadäquat bleiben muss. Für jedes rein deskriptive Analysans lassen sich zunächst Wesen denken, die es erfüllen, und auf die unsere Normen keine Anwendung haben. Ich werde dann plausibel machen, dass wir solche Wesen nicht als Personen begreifen, die uns in normativer Hinsicht unähnlich sind. Vielmehr wären sie Wesen, die uns in vielem gleichen, aber keine Personen sind. Das zeigt: Ein Analysans, das nicht auf bestimmte Normen Bezug nimmt, ist nicht gleichbedeutend mit unserem Begriff der Person.
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Dieser Einwand setzt voraus, dass sich ein Unterschied machen lässt zwischen der Bedeutung eines Ausdrucks und rein pragmatisch mit ihm verknüpften Aspekten seines Gehalts. Eine radikale Gebrauchstheorie der Bedeutung wird einen solchen Unterschied kaum zulassen können, aber ich stimme zu, dass es ihn gibt, und dass er sinnvoll und wichtig ist. Daher muss ich mich hier mit dem Einwand auseinander setzen. (Ein Theoretiker, der sich gegenwärtig für eine solche Unterscheidung zwischen Gehalten, die semantisch mit Ausdrücken verknüpft sind, und „pragmatisch angereicherten“ Bedeutungen von Äußerungen in bestimmten Kontexten stark macht, ist S. Soames (bes. 2002, Kap. 6+7).)
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Man nehme also an, wir unternehmen eine semantische Analyse von „Person“, z. B. mit der so genannten Ramsey-Lewis-Methode.5 Wir bilden also eine lange Konjunktion von Sätzen, die unsere zentralen intuitiven Alltagsüberzeugungen über Personen und über person-making characteristics6 ausdrücken. (Statt einer Konjunktion kann man auch ein cluster bilden, eine Disjunktion aller Konjunktionen der meisten dieser Aussagen). Dabei formulieren wir alle Vorkommnisse des Ausdrucks „Person“ in dieser Theorie in einheitlicher logischer Form (etwa als Eigenschaftsname: „hat die Eigenschaft, eine Person zu sein“). Anschließend ersetzen wir jedes Vorkommnis dieses Terms durch eine freie Variable y („hat x“). Es resultiert ein langer offener Satz, den man als „B(y)“ abkürzen kann; mithilfe dieses offenen Satzes können wir schließlich eine Kennzeichnung bilden, die dann als Analysans fungiert. Die Analyse hätte also etwa diese Form: (∀x (x ist eine Person ↔ x hat die Eigenschaft y, so dass B(y)). Die resultierende semantische Analyse bestimmt die Bedeutung des Prädikats „ist eine Person“ aus seiner Position in einem Netzwerk von weiteren Begriffen. Wenn wir nun aus einer solchen Analyse alle normativen Begriffe wie Autonomie, Verantwortung, Würde, Respekt etc. eliminieren würden, so würde vielleicht zunächst nur das übrig bleiben, was Strawson anführt: Etwas ist genau dann eine Person, wenn es mentale und materielle Eigenschaften hat. Schon H. Frankfurt (1988a, 11 f) hat darauf hingewiesen, dass eine solche „Analyse“ offenkundig defizitär wäre, denn ihre Bedingungen werden auch von zahllosen Nichtpersonen erfüllt (wenn nicht von aktualen, dann von möglichen nicht-personalen Entitäten). Sollte es zutreffen, dass Delphine oder Menschenaffen mentale Eigenschaften haben, dann wären sie nach Strawsons Vorschlag ipso facto Personen. Aber es ist klar, dass wir dann, wenn diese Wesen geistige Eigenschaften hätten, noch immer nicht sagen würden, sie seien Personen, die sich in manchem
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Explizit entwickelt hat diese Methode D. Lewis in Lewis (1973) und (1983b). Er nutzt Techniken, die von F. Ramsey und von R. Carnap entwickelt wurden. Indem ich diese Herangehensweise vorschlage, setze ich voraus, dass der Begriff der Person einer bestimmten Form der Begriffsanalyse zugänglich ist. Kripke (1980) und Putnam (1975) haben jedoch argumentiert, dass dies bei weitem nicht für alle Begriffe der Fall ist – etwa nicht für solche für natürliche Arten. Dennoch erscheint mir meine Voraussetzung unproblematisch. Erstens geht kaum ein mir bekannter Autor davon aus, dass „Person“ ein Begriff für eine natürliche Art ist. (Im Gegenteil: Für eine Fülle von historischen und jüngeren Versuchen, den Begriff der Person zu analysieren, vgl. z. B. den Sammelband von Brasser (Hrsg.) (1999).) Zweitens ist auch für die Begriffe, auf die Kripke und Putnam hinweisen, alles andere als klar, dass sie einer Begriffsanalyse der genannten Form wirklich unzugänglich sind (vgl. dazu Jackson 1994). Vgl. zu diesem Begriff z. B. Quante (Ms.).
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von uns unterscheiden. Vielmehr wären sie uns zwar sehr ähnlich, aber dennoch keine Personen. Was immer also der Begriff ist, dessen semantischen Gehalt wir in den besagten rein deskriptiven Termini analysiert hätten, er ist keinesfalls unser Personenbegriff. M. Quante (2002, 55) stimmt zu: „Versteht man z. B. unter einer Person nur eine Entität, der sowohl psychische wie auch physische Eigenschaften zugesprochen werden, ohne auf die genaue Beschaffenheit dieser psychischen Eigenschaften weiter einzugehen, verwendet man den Begriff der Person jedoch nicht mehr in einem üblichen Sinne.“ Dies war freilich erst der erste Schritt. Man wird zweifellos einwenden wollen, dass ich der deskriptiven Analyse nur allzu karge begriffliche Ressourcen gelassen habe. Aber mein Befund ergibt sich auch dann noch, wenn man überaus generös in der Frage ist, was in einer deskriptiven Analyse zulässig ist. Wir könnten beispielsweise auch noch Aussagen über Rationalität, Sprachfähigkeit und über Autonomie im Fähigkeitssinne als Teil der Ramsey-Lewis-Analyse erlauben. Auch diese Ergänzungen konstituieren keine differentia specifica der Klasse der Personen. Es sind Wesen denkbar7, die eine Sprache sprechen, rational und zur Selbstbestimmung fähig sind, aber keine Personen sind. Man kann sich nämlich konsistenterweise eine Welt von Wesen vorstellen, die die folgenden Charakteristika haben: Sie haben mentale und physikalische Eigenschaften, sprechen eine Sprache, sind rational und haben die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Aber es ist nicht möglich, sie bloßzustellen, zu bevormunden oder zu demütigen. Nicht, dass ihnen die prinzipiellen Fähigkeiten fehlen, die für ein Leben erforderlich sind, in dem Bloßstellung, Demütigung und Bevormundung möglich sind. Vielmehr ist ihnen derlei einfach gleichgültig. Sie fällen Entscheidungen und verfolgen Ziele, aber es hat für sie keine Bedeutung, ob sie selbst ihre Entscheidungen fällen oder jemand anders. Es ist ihnen gleich, ob man über sie lacht oder sie bewundert, oder ob man ihrer Meinung über irgendetwas Beachtung schenkt. Für solche Unterschiede, die für uns wichtig sind, wären sie einfach nicht empfänglich. Und wenn wir ihnen begegneten, wäre uns zwar vielleicht wohler, wenn wir ihre Entscheidungen nicht übergingen und nicht öffentlich über sie lachten etc. Aber diese Formen der Rücksichtnahme gälten letztlich nur uns selbst. Wir hätten es also mit Wesen zu tun, deren Entscheidungen wir beeinflussen könnten, ohne dass dies, streng genommen, eine Bevormundung wäre. Ebenso könnten wir ihre Meinung übergehen, ohne dass wir dabei
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Der Begriff „denkbar“ oder „vorstellbar“ (englisch: conceivable) hat terminologische Bedeutung. Vgl. z. B. die aktuellen Diskussionen über den Zusammenhang von Vorstellbarkeit und begrifflicher Möglichkeit in Chalmers (1996) und Gendler und Hawthorne (eds.) (2002).
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von Missachtung reden dürften. Wesen dieser Art wären, soviel ist sicher, überaus fremdartig. Aber sicherlich sind sie nicht begrifflich unmöglich. Sie wären eben Wesen, die ein Leben führen, in dem es keinen Sinn für Status wie Würde oder ein Recht auf Selbstbestimmung gibt, die man verletzen könnte. Und genau deshalb lautet unser intuitives Urteil über diese Wesen letztlich auch, dass sie keine Personen sind. Erneut gilt, dass wir kaum würden sagen wollen, dass wir hier eine Welt von sehr fremdartigen Personen vor uns haben. Stattdessen handelt es sich um eine Welt von Wesen, die uns in vielem ähnlich, aber keine Personen sind. Es könnte jedoch noch eine weitere Möglichkeit einer deskriptiven Analyse geben. Was, wenn das Analysans ein deskriptives Substrat für die nötigen normativen Eigenschaften forderte? Man könnte z. B. stipulieren: Sei H das Bündel deskriptiver Eigenschaften, so dass notwendig und für alle x gilt: x hat Anspruch auf Autonomie ↔ Hx. Wenn es ein solches (beliebig komplexes) Korrelat gibt, müsste das Analysans nur ein Konjunkt enthalten, das es fordert. So wäre nur von deskriptiven Eigenschaften die Rede, aber es wäre sichergestellt, dass die Wesen aus obigem Beispiel ausgeschlossen sind. Wenn es eine solche komplexe Eigenschaft H gibt, die notwendig mit einem Anspruch auf Autonomie korreliert ist, so haben diese Wesen sie jedenfalls nicht exemplifiziert. Unterstellen wir also, dass es für jede der relevanten normativen Eigenschaften ein notwendig korreliertes deskriptives Substrat gibt. (Ich verwende im Folgenden als Terme für die normativen Eigenschaften solche der Form Ni und für ihre deskriptiven Substrate solche der Form Di, für entsprechendes i.) Gelangen wir dann wirklich an ein deskriptives Analysans von „Person“, indem wir Begriffe N1 ... Nn für normative Status durch Begriffe D1 ... Dn für ihre deskriptiven Korrelate substituieren? Nein. Um zu erkennen, warum, rufe man sich zunächst G. E. Moores Argument der offenen Frage in Erinnerung. 8 Auch in unserem Falle gilt: Wir werden angesichts eines jeden Terms Di für ein deskriptives Korrelat konsistent fragen können: „Aber ist es auch Ni?“ Dass eine solche Frage für einen kompetenten Sprecher offen bleiben kann, ist noch immer weitgehend unbestritten. Und dies zeigt, dass Ni und Di in einem bestimmten Sinne bedeutungsverschieden sind. Natürlich wird mittlerweile zu Recht die Weise kritisiert, wie Moore diese Bedeutungsverschiedenheit gedeutet hat. Ihm galt sein Argument als Argument für eine Distinktheit der Eigenschaften, die diese Terme prädizieren. Demgegenüber heben metaethische Naturalisten wie D. Brink (1989, 163 ff) im Anschluss an Kripke (1972) und Putnam (1975) hervor, dass auch „Wasser“ und „H2O“ nicht synonym sind, aber dennoch nur eine Eigenschaft bezeichnen.
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Vgl. dazu natürlich den Klassiker Moore (1903).
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Die Kritik ist gerechtfertigt, betrifft unseren Punkt jedoch nicht. Hier geht es nicht um die Identität von Eigenschaften, sondern um eine semantische Analyse. Und da ist es gerade die Synonymie von Termen, die zählt. Dass kompetente Sprecher die obige Frage sinnvollerweise stellen können, zeigt, dass Di nicht dasselbe bedeutet wie Ni. Und dann kann Di ipso facto nicht als semantisches Analysans fungieren. Die mooresche Intuition hat hier meiner Ansicht nach volle Aussagekraft.9 Man erinnere sich also an das obige Beispiel. Was intuitiv dagegen sprach, jene Wesen als Personen aufzufassen, war eben, dass bestimmte normative Status auf sie keine Anwendung haben. Moores Argument zeigt nun dies: Selbst wenn wir wissen, dass diese Wesen die Eigenschaften D1 ... Dn haben, können wir uns noch immer sinnvoll fragen, ob sie die normativen Eigenschaften von Personen haben. Die Terme für D1 ... Dn stellen dies nicht sicher, und insofern hat ihre Einführung das obige Problem nicht überwunden. Ich schließe, dass auch dieses deskriptive Analysans nicht alles erfasst, was mit dem Begriff „Person“ semantisch verknüpft ist. Dieses Defizit wäre freilich dadurch zu überwinden, dass man die deskriptiven Substrate mit Hilfe von Kennzeichnungen herausgreifen würde, die die normativen Begriffe implizierten. Das Analysans enthielte dann Konjunkte wie „x hat genau die deskriptiven Eigenschaften H, so dass alles, was H ist, einen Anspruch auf Autonomie hat“. Eine solche Analyse enthält aber die zu vermeidende normative Analyse. („Enthält“ bedeutet hier mindestens, dass sie eine normative Analyse ohne weiteres impliziert.) Im Lichte dieser Überlegungen ist es plausibel, dass eine Analyse von „ist eine Person“ erst dann adäquat ist, wenn sie normative Begriffe irreduzibel enthält. Ebenso erscheint es plausibel, festzustellen, dass dann, wenn eine Analyse auf bestimmte Normen Bezug nehmen muss, Autonomie im Zustandssinne eine von ihnen ist. Was immer sonst noch zu diesen Normen gehört: Autonomie ist gewiss ein sicherer Kandidat für eine Eigenschaft, die nicht nur eine erfreuliche Zusatzqualifikation von Personen ist. Vielmehr ist es ein Teil dessen, was wir meinen, wenn wir jemanden eine Person nennen, dass er autonom sein soll. Das schließt nicht ein, dass wir dieser Norm in praxi oder in einer Moraltheorie einen besonderen Stellenwert einräumen müssten. Meine
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Ein weiteres Problem, mit dem eine Argumentation im Sinne Moores konfrontiert ist, ergibt sich aus dem sogenannten Paradoxon der Analyse: Wie kann eine bloße Analyse eines Begriffs für jemanden, der den Begriff beherrscht, eine nicht-triviale Entdeckung sein? Dergleichen kommt ja offensichtlich vor; aber dann müsste in der Tat gelten, dass es für kompetente Sprecher auch bei synonymen Ausdrücken zunächst eine offene Frage sein kann, ob sie synonym sind. Ich gehe jedoch davon aus, dass es im Falle einer echten Synonymie zumindest nach der Analyse offensichtlich werden muss, dass eine solche vorliegt. Auch das scheint mir in unserem Falle nicht zu gelten.
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Schlussfolgerung wird also, so hoffe ich, noch plausibler erscheinen, wenn man folgendes bedenkt: Sie sagt nichts über die genaue Kraft jener begrifflich geltenden Norm aus. Meine Ausführungen sind also damit verträglich, dass der Begriff „Person“ von Sprechern mit überaus unterschiedlichen moralischen Ansichten verwendet werden kann. Jemanden eine Person zu nennen, impliziert nicht, dass man es immer verwerflich findet, ihn zu bevormunden. Man kann sogar glauben, es sei moralisch geboten, bestimmte Personen zu bevormunden. Entscheidend ist aber: Wenn wir bestimmte Formen der Beeinflussung nicht als Bevormundung begreifen, dann betrachten wir das Subjekt ipso facto nicht als Entität, die den Begriff der Person erfüllt. Personen sind aus begrifflichen Gründen Wesen, bei denen solche Beeinflussungen diese normative Signifikanz haben. Damit ist meine Strategie aber noch nicht vollständig verteidigt. Letztlich geht es mir ja nicht darum, dass Autonomie eine begrifflich geltende Norm für Personen ist. Vielmehr soll eben dies für Identifikationen gelten. Das soll gezeigt werden, indem dargelegt wird, dass Identifikation notwendig für Autonomie ist. Ein weiteres Problem ist nun dieses: Die Klasse der begrifflich geltenden Normen für Personen ist nicht geschlossen unter allen Relationen der notwendigen Dependenz. Ein Beispiel: Akzeptieren wir, dass es eine begrifflich geltende Norm für Personen ist, autonom zu sein. Angenommen nun, es sei eine nomologisch notwendige Bedingung für Autonomie, eine Hirnstruktur mit einer minimalen Komplexität zu haben. Daraus folgt nicht, dass es eine begrifflich geltende Norm für Personen ist, eine Hirnstruktur mit einer minimalen Komplexität zu haben.10 Aber zum Glück ist das Verhältnis zwischen Autonomie und Identifikationen auch nicht das einer nomologisch notwendigen Bedingung. Ich werde zeigen, dass es sich um eine begrifflich notwendige Bedingung handelt, und für diese Relation leuchtet es ein, Schlüsse der eben skizzierten Form als gültig anzusehen: Wenn es eine begrifflich geltende Norm für Fs ist, G zu sein, und G zu sein impliziert, H zu sein, so folgt plausibler Weise, dass es auch eine begrifflich geltende Norm für Fs ist, dass sie H sind. Meine Strategie ist also diese: Ich werde argumentieren, dass eine Identifikation mit bestimmten Wünschen begrifflich notwendig für Autonomie im Zustandssinne ist. Und ich werde annehmen, dass dies hin-
_____________ 10 Mit Begriffen von F. Dretske (1970) gesagt: Der von mir definierte Operator „es ist eine begrifflich geltende Norm, dass“ ist semi-penetrating, und er reicht nicht bis zu nomologischen Konsequenzen.
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reicht, um nachzuweisen, dass es eine begrifflich geltende Norm für Personen ist, sich mit bestimmten Wünschen zu identifizieren.
§ 9. Ein Standardmodell und seine Schwierigkeiten Autonomie ist nicht der Hauptgegenstand dieses Buches. (Im Folgenden ist übrigens von Autonomie nur noch im Zustandssinne die Rede.) Daher ist es in den nächsten Abschnitten nicht mein Ehrgeiz, eine Theorie notwendiger und hinreichender Bedingungen für personale Autonomie vorzulegen. Vielmehr geht es mir, wie soeben gesagt, nur darum, eine bestimmte Bedingung als notwendig für sie zu erweisen. Zum Ausgangspunkt will ich eine Sichtweise personaler Autonomie machen, die in der ersten Hälfte der siebziger Jahre von H. Frankfurt, G. Dworkin, C. Taylor und W. Neely vorgestellt worden ist.11 Man kann sich den Witz dieser Sichtweise verdeutlichen, wenn man sie mit einer wirkmächtigen anderen Konzeption der Autonomie kontrastiert: derjenigen Kants. Kant vertritt bekanntlich die Ansicht, unser Wille sei nur dann autonom, wenn wir von allen materialen Inhalten unserer Motive abstrahieren und allein bestimmte formale Merkmale ihrer Gehalte zum „Bestimmungsgrund“ unseres Willens machen. Entscheidend für Autonomie ist dabei speziell die Unabhängigkeit von den materialen Inhalten der „Neigungen“ des Subjekts.12 Diesen Punkt kritisiert Frankfurt wie folgt: Kant vertrete eine zutiefst unpersönliche Konzeption des autonomen Willens einer Person. Im folgenden Zitat führt Frankfurt nicht nur seine diesbezügliche Kant-Kritik aus. Zugleich macht er die grundlegende Intuition geltend, die den Kern seiner eigenen Theorie personaler Autonomie bildet. Diese Intuition besagt, dass Autonomie ihrem Wesen nach gerade darin bestehe, den in einem emphatischen Sinne eigenen Willen zu verfolgen:
_____________ 11 Vgl. H. Frankfurt (1988a, sowie viele weitere Aufsätze in ders. 1988 und 1999), G. Dworkin (1988 und 1999), Taylor (1976 und 1985a), W. Neely (1974). Erwähnung finden sollte auch R. Jeffrey (1974). Jeffrey befasst sich freilich nicht mit Autonomie, sondern mit logischen Aspekten der Entscheidungstheorie. Dennoch gehört er zu den ersten, die die zentrale Idee der higher order desires formuliert haben. 12 Das ist selbstredend eine starke Vereinfachung. Für Kants Argumente für seine Ansicht siehe Kant (1785/1973) und (1788/1973). Für gelungene neuere Darstellungen von Kants Theorie der praktischen Vernunft und der Freiheit siehe Willaschek (1992) und Steigleder (2002).
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„[For Kant] the autonomous will can only be one that incorporates what [he] calls a ‚pure’ will. It must conform, in other words, to the requirements of a will that is indifferent to all personal interests – that is entirely devoid of all empirical motives, preferences and desires. Now this pure will is a very peculiar and unlikely place in which to locate an indispensable condition of individual autonomy. After all, its purity consists precisely in the fact that it is wholly untouched by any of the contingent personal features that make people distinctive and that characterize their specific identities. [...] [T]he pure will is thoroughly impersonal. The commands that it issues are issued by no one in particular“ (Frankfurt 1999, 132).
Frankfurt fährt fort: „It seems natural and reasonable to presume that when a person is acting under his own control, he will guide his conduct with a special eye to those things that he considers to be of greatest importance to him. If he is in charge of his own life, we cannot plausibly expect that he will systematically neglect what he most cares about for the sake of considerations in which he has less interest or no interest at all. Now it is not very likely, in my opinion, that what each of us considers most important to himself is the same in every case. It seems to me even less likely that the one thing about which each of us cares most is the moral law“ (ebda.)
Ganz anders als Kant fordert Frankfurt also, dass Autonomie gerade darin bestehen müsse, seine persönlichen Anliegen zu erkennen und umzusetzen. Dazu ist keine Abstraktion, sondern eine Auseinandersetzung mit der inhaltlichen Fülle der eigenen Motive erforderlich. Frankfurt ist sich dabei im Klaren darüber, dass unsere „Neigungen“ uns bisweilen im Griff haben, dass wir also unseren Wünschen gegenüber unfrei sein können. (Vgl. dazu viele der mittlerweile berühmten Beispiele in Frankfurt 1988a.) In dieser Hinsicht stimmt er also mit Kant durchaus überein. Er schließt daraus jedoch, dass ein autonomes Subjekt den eigenen Willen in der Vielfalt seiner Antriebe identifizieren müsse. Dabei soll es sich weder von bloßen Neigungen und Impulsen, noch von unpersönlichen Prinzipien von der Verfolgung dieses Willens abbringen lassen. Diese Vorstellung von Autonomie entspricht unserer alltäglichen Vorstellung sicher eher als die kantische. Gerade Erfahrungen des Verlusts von Autonomie gegenüber unseren „Neigungen“ machen dies deutlich: Angenommen, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als einige Kilo abzunehmen, um mit meinem eigenen Körper wieder glücklich sein zu können. Aber ich werde allabendlich von einem Heißhunger gepackt, dem ich oft nachgebe. Dann hat meine Erfahrung des Autonomieverlusts intuitiv nichts damit zu tun, dass ich überhaupt von einem bestimmten Vorstellungsinhalt motiviert wurde. Das Problem ist, dass mich nicht der Vorstellungsinhalt am meisten motiviert hat, der das darstellt, was ich eigentlich will. Ich
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handle dem zuwider, was ich wirklich will – aber das ist nicht die Verallgemeinerbarkeit einer Maxime. Maßstab meiner Autonomie ist mein persönliches Anliegen, so auszusehen, wie ich es mir wünsche. Vielleicht fordert auch das Sittengesetz von mir, abzunehmen. Schon dies lässt sich allerdings nicht ohne eine gewisse Künstlichkeit behaupten. Aber auch in diesem Falle ist der Verstoß gegen dieses Gesetz nicht das, was meinen Autonomieverlust ausmacht. Natürlich kann das Moralgesetz für manche Personen von großer persönlicher Wichtigkeit sein. Für sie könnte Selbstbestimmung dann in der Tat in einer Orientierung an diesem Gesetz bestehen. Aber dann liegt dies eben am persönlichen Stellenwert des moralischen Gesetzes im Leben des Akteurs. Mit einer begrifflichen Verbindung von Autonomie und Sittengesetz hat es nichts zu tun. Nun mag ein Kantianer dem entgegenhalten, dass der Konflikt, den ich erlebe, keine Erfahrung des Autonomieverlusts sei, eben weil das Sittengesetz darin keine Rolle spielt; es handele sich daher nur um einen profanen Interessenkonflikt. Aber das wäre offenkundig nur eine petitio principii. Mein intuitiver Eindruck ist ein Verlust der Bestimmung über mich und meinen Willen. Kantianer können demgegenüber nicht einfach erklären, dies könne nicht so sein, weil es ihrer Theorie widerspräche. Aber eine kantianische Konzeption der Autonomie scheitert nicht nur an einer natürlichen Beschreibung unserer Alltagserfahrungen. Sie hat einen weiteren Nachteil: Sie bindet autonomes Handeln sehr eng an ein Handeln im Sinne der Moral. Dann droht aber die kontraintuitive Konsequenz, dass keine unmoralische Handlung autonom sein kann, und dass wir Böses gleichsam immer nur im Affekt tun.13 Es erscheint prima facie jedoch völlig unproblematisch, dass eine Handlung auch dann autonom sein kann, wenn sie sich nicht am Sittengesetz orientiert. G. Dworkin (1989, 62) macht dies in aller wünschenswerten Klarheit deutlich, wenn er sich für einen „entmoralisierten“ Autonomiebegriff ausspricht: “[O]n my view, there is no specific content to the decisions an autonomous person may take. An autonomous person may be a saint or sinner, a rugged individualist or a conformist, a leader or a follower.” Nun ist es nicht unumstritten, ob Kant auf die begriffliche Verknüpfung von Autonomie und Moralität in dieser Form wirklich festgelegt ist (und ob er sich deshalb gezwungen sah, in seiner Schrift zur „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft” die Idee vom radikal Bösen einzuführen).14 Aber in jedem Falle scheint mir, dass Frankfurts Kritik am unpersönlichen Charakter der kantischen Autonomiekonzeption berechtigt ist. Der Gegenvorschlag, den Frankfurt, Dworkin und andere vor-
_____________ 13 Diesen Einwand äußert z. B. Schelling (1809/1997). 14 Siehe dazu ebenfalls Steigleder (2002).
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bringen, beginnt, wie gesagt, mit der Maxime, die Intuition ernst zu nehmen, dass eine autonome Person ihrem eigenen Willen folgt. Daraus ergibt sich eine erste These der Theorie personaler Autonomie, die ich hier rekonstruieren will. Sei A ein Akteur, ψ eine TokenEinstellung (genauer: ein Wunsch) von A, und h eine von A vollzogene Handlung. Dann lautet die These (1) wie folgt: (1) A ist autonom in Bezug auf seinen Wunsch ψ und seine Handlung h ↔ (ψ ist As eigener Wille & h ist motiviert von ψ). Eine kurze Anmerkung: Ich konstruiere „ist autonom“ hier als ein dreistelliges Prädikat, das von Tripeln aus Akteuren, Token-Einstellungen und Token-Handlungen erfüllt wird. Es erscheint natürlich, Autonomie als Eigenschaft aufzufassen, die von Akteuren in Handlungen und ihrer Motivation exemplifiziert wird. Man kann jedoch den Eindruck haben, dass Autonomie bei Frankfurt und in der anschließenden Diskussion als etwas diskutiert wird, das nur unsere Motivation betrifft.15 Daher mag man meine Formulierung von (1) für eine Verzerrung der Position Frankfurts halten. Für diesen Fall weise ich darauf hin, dass nichts an meiner weiteren Argumentation von diesem Aspekt der Formulierung von (1) abhängt. Nun mag (1) trivial wirken. Aber dieser Eindruck ist nicht gerechtfertigt. Es ist schon deutlich geworden, dass wir durchaus nicht alle unsere Einstellungen als Teil unseres eigenen Willens betrachten. Vielmehr treffen wir subtile Unterscheidungen zwischen solchen Motiven, die unseren eigenen Willen repräsentieren, und solchen, die sozusagen unautorisierte 16 Impulse, Antriebe und Zwänge sind. Auch das einleitende Beispiel der jungen Frau hat gezeigt, dass wir durchaus über einen anspruchsvollen Begriff davon verfügen, was wir im emphatischen Sinne wirklich wollen. Gleichwohl ist (1) natürlich dringend ergänzungsbedürftig. Es bedarf einer gehaltvollen Auskunft darüber, was ein Motiv zum eigenen Willen einer Person macht. Ich gebe diesen zweiten Teil der Theorie in Frankfurts Begriffen wieder: (2) ψ ist As eigener Wille ↔ A hat eine Volition bezüglich ψ.
_____________ 15 Ich finde es nicht einfach, zu sagen, ob „Autonomie“ bei Frankfurt synonym mit „Willensfreiheit“ ist, oder eher die Konjunktion von Willens- und Handlungsfreiheit bezeichnet, von der er sagt, sie sei „all the freedom it is possible to desire or to conceive“ (1988a, 22f). Für beide Lesarten spricht einiges – aber es hängt, wie gesagt, für meine weitere Argumentation nichts davon ab, welche man wählt. 16 Den treffenden Begriff einer autorisierten Motivation entlehne ich bei L. W. Ekstrom (1993).
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(1) und (2) implizieren logisch die These (3), die als ein vollständiges (obgleich stark vereinfachtes) Statement der ursprünglichen Konzeption Frankfurts gelten kann: (3) A ist autonom in Bezug auf seinen Wunsch ψ und seine Handlung h ↔ (A hat eine Volition bezüglich ψ & h ist motiviert von ψ). Die wichtige Frage lautet nun natürlich: Was ist das, was Frankfurt als eine „Volition“ bezeichnet? Eine Volition ist eine höherstufige mentale Einstellung eines bestimmten Typs. Eine höherstufige mentale Einstellung wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass sie selbst eine mentale Einstellung zum Gegenstand hat. Wenn Peter glaubt, dass p, und die Proposition, dass p, nicht selbst eine mentale Einstellung zum Inhalt hat, so ist Peters Überzeugung ein mentaler Zustand erster Stufe. Marias Überzeugung, dass Peter glaubt, dass p, wäre hingegen eine mentale Einstellung zweiter Stufe. Um nun zu verstehen, was Volitionen vor anderen Einstellungen höherer Stufe auszeichnet, ist es sinnvoll, zuerst den Begriff der second order desires (Frankfurt 1988a, 16 ff) zu bemühen. Frankfurt zufolge zählt es zu den charakteristischen Fähigkeiten personaler Wesen, Wünsche zu haben, die ihre eigenen Wünsche betreffen: Personen können sich Wünsche wünschen oder wünschen, bestimmte Wünsche nicht zu haben. Solche Wünsche zweiter Ordnung nennt Frankfurt second order desires. Wir haben solche Wünsche ständig: Ich z. B. habe gerade jetzt den Wunsch, meine Arbeit ruhen zu lassen und ein Bier trinken zu gehen, aber zugleich wünsche ich entschieden, diesen Wunsch nicht zu haben. Hier wird bereits erkennbar: In Wünschen dieser Art manifestiert sich etwas, das Frankfurt unsere „capacity for reflective self-evaluation“ (ebda.) nennt. Volitionen sind nun ein spezieller Typ solcher Wünsche zweiter Stufe. Wenn wir einen bloßen Wunsch zweiter Stufe haben, so wünschen wir nur, einen bestimmten Wunsch zu haben. Haben wir jedoch eine Volition, so wünschen wir nicht nur, einen bestimmten Wunsch zu haben, sondern wir wünschen, dass er handlungswirksam wird. Um dies an einem Beispiel Frankfurts (1988a, 14 f) zu verdeutlichen: Ein Arzt wünscht, einen starken Wunsch nach Narkotika zu verspüren. Er glaubt, so besser verstehen zu können, wie sich manche süchtigen Patienten fühlen, und sie dann besser behandeln zu können. Dieser Arzt hat also einen Wunsch zweiter Stufe, aber er hat keine Volition. Er wünscht zwar, den besagten Wunsch zu haben, aber er wünscht entschieden nicht, dass dieser Wunsch sein Handeln tatsächlich bestimmen soll.
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Es sollen nun solche Volitionen sein, die erklären, warum manche Motive einer Person ihren eigenen Willen darstellen und andere nicht. Ein Motiv soll genau dann der eigene Wille einer Person sein, wenn sie will, dass dieses Motiv ihr Handeln bestimmt. Warum aber sollte der Rekurs auf solche speziellen Metaeinstellungen dies erklären können? Ich werde weiter unten darstellen, dass diese Frage in der Tat auf Schwierigkeiten für Frankfurts Vorschlag führt. (Ein wesentlicher Teil der Idee wird sich jedoch retten lassen.) Zunächst sollte ich aber darstellen, was den Vorschlag überhaupt attraktiv machen konnte. Dazu sei erst einmal genauer untersucht, wie Frankfurt die Rolle von Volitionen in unserem psychologischen und praktischen Leben eigentlich versteht. Wieso machen Volitionen einen Unterschied in der Frage, was eine Person wirklich will? Frankfurt erläutert dies in Analogie zu dem Unterschied, den Absichten in der Frage machen, welche körperlichen Ereignisse Handlungen einer Person sind: „We think it correct to attribute to a person, in the strict sense, only some of the events in the history of his body. The others – those with respect to which he is passive – have their moving principles outside him, and we do not identify him with these events. Certain events in the history of a person’s mind, likewise, have their moving principles outside of him. He is passive with respect to them, and they are likewise not to be attributed to him” (ebda. 61).
Frankfurts Idee ist also folgende: Es macht in Bezug auf körperliche Ereignisse einen Unterschied, ob eine Absicht des Subjekts an ihrem Zustandekommen beteiligt war. Wenn es eine solche praktische Einstellung des Subjekts zu diesem Ereignis gibt, dann ist es eine Aktivität der Person, wir sehen sie als Urheber desselben an. Ähnlich, so Frankfurt, verhält es sich mit mentalen Ereignissen wie Wünschen: Sie gehen dann wirklich auf ihre Subjekte zurück, wenn sie von diesen gewollt werden. Gibt es eine volitionale Einstellung des Subjekts zu diesem Ereignis, ist es eine Aktivität der Person. Frankfurt nimmt die Idee, dass Personen es durch Volitionen herbeiführen, dass bestimmte Wünsche ihren wirklich eigenen Willen repräsentieren, sehr ernst. Mitunter beschreibt er die Rolle solcher Volitionen sogar als eine Art der Selbsterschaffung. Mittels ihrer Volitionen treffen Personen regelrecht Entscheidungen darüber, was ihr eigener Wille ist, und was als ein fremdartiger und unautorisierter Antrieb gelten muss. „It is these acts of ordering and of rejection – integration and separation – that create a self out of the raw materials of inner life“ (ders. 1988c, 170). Diese Idee der Selbsterschaffung ist überaus problematisch. Könnte ich bloß durch Volitionen herbeiführen, dass bestimmte Wünsche das
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sind, was ich wirklich will, so darf man sicher sein, dass ich mich zu einer Person mit einem erheblich edelmütigeren eigenen Willen gemacht hätte. Auch unser eigener Wille ist nicht einfach das Produkt unserer Entscheidungen. Jedoch ist Frankfurt auf diese unplausible Vorstellung einer einfachen Selbsterschaffung der Person auch nicht als einen integralen Teil seiner Theorie festgelegt. (In der Tat sind auch Frankfurts eigene Ausführungen in anderen Passagen deutlich komplexer. 17) Ich werde später ein Modell vorschlagen, das mir in diesem Punkt befriedigender erscheint; vorerst ist aber weiter danach zu fragen, was Frankfurts Vorschlag zur Theorie der personalen Autonomie zunächst plausibel macht. Ein erster wichtiger Vorzug dieses Vorschlags liegt darin, dass Frankfurt an überaus vertraute Alltagserfahrungen anknüpfen kann: Als Personen können wir uns von manchen unserer Wünsche distanzieren und sie verurteilen, uns gar für sie schämen. Andere Wünsche hingegen können wir uns praktisch zu eigen machen, indem wir, wie man sagt, hinter ihnen stehen und sie als unsere befürworten. Und es gibt in der Tat eine intuitive Verbindung zu Erfahrungen des Autonomieverlusts, an deren korrekter Beschreibung Kants Konzeption gescheitert war: Gerade dann, wenn uns die Wünsche motivieren, angesichts derer wir Widerwillen empfinden und von denen wir nicht motiviert sein wollen, erfahren wir uns als unfrei. Ein weiterer Vorzug der Theorie liegt in der erwähnten Analogie zur Handlungstheorie. Wenn Frankfurt Recht hat, dann ergibt sich ein einheitliches Erklärungsmuster für die Zuschreibbarkeit von Ereignissen. In jedem Falle wäre es nämlich das Vorliegen praktischer Einstellungen der Person zu diesen Ereignissen, die dieselben zu Handlungen der Person oder zu Äußerungen ihres eigenen Willens machen. Natürlich ist diese Analogie als solche nur von begrenzter metaphysischer Tragfähigkeit. Dennoch ist auch der Wert der Vereinheitlichung nicht zu unterschätzen. Einheitlichkeit und Systematizität sind, wie oft betont wird, nicht nur fakultative Tugenden einer Theorie. Sie sind wichtige Gründe dafür, eine bestimmte Theorie zu akzeptieren. Diese Vorzüge der Theorie sind also durchaus nicht gering zu schätzen. Aber es ist dennoch nicht klar, ob sie die Schwierigkeiten derselben aufwiegen können. Ich werde einige dieser Schwierigkeiten im Folgenden diskutieren. Dazu ist es sinnvoll, sie in zwei Gruppen einzuteilen: Die erste Gruppe von Problemen hat mit dem zu tun, was ich das explanatorische Defizit in Frankfurts Theorie nennen werde; in der zweiten Gruppe geht es um den rein psychologischen Charakter der Theorie.
_____________ 17 Insbesondere in seinen Arbeiten zu dem Phänomen, das er als „volitional necessity“ nennt, erweist sich Frankfurts Ansicht als vielschichtiger als das einfache Modell der Selbsterschaffung, das ich eben kritisiert habe.
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Kern der ersten Gruppe von Schwierigkeiten ist, wie angekündigt, ein explanatorisches Defizit. Ich habe auf die intuitive Plausibilität von Frankfurts Vorschlag hingewiesen, aber dennoch muss man feststellen, dass Frankfurt18 keine Erklärung dafür gibt, warum Volitionen Wünschen Autonomie verleihen können. Dass wir so eine Erklärung benötigen, ist leicht zu sehen. Frankfurt vertritt eine humeanische Theorie praktischer Einstellungen. Insbesondere sind derlei Einstellungen für ihn nicht rational begründbar oder kritisierbar. Frankfurt bekräftigt diese Sichtweise noch in seinen neuesten Schriften: „Our most elementary desires come to us as urges or impulses; we are moved by them, but they do not as such affect our thinking at all.“19 Dies gilt dabei explizit auch für Volitionen. Diese sind also z. B. nicht etwa Ausdruck einer Konzeption, die das Subjekt davon hat, welche Wünsche ihm entsprechen, und die ihm dann als eine rationale Grundlage für seine Volitionen dient. Vielmehr sind Volitionen Willensakte ohne dergleichen rationale Sensitivität für eine Vorstellung vom eigenen Charakter. Mit ihnen führen wir also vielmehr erst herbei, dass bestimmte Wünsche unsere sind, ohne Gründe dafür zu haben. Diese humeanische Theorie der Volitionen wirft nun die obige Frage auf: Was haben Volitionen den Wünschen erster Stufe eigentlich voraus? Wenn wir keine substantielle Erklärung für ihre autonomieverleihende Kraft geben, dann sind sie nur weitere Einstellungen von der Art, deren Autonomie gerade in Frage steht. Auf dieses Problem weist G. Watson hin, wenn er in einer einflussreichen frühen Kritik schreibt: „Can’t one be a wanton […] with respect to one’s second-order desires and volitions? […] Since second-order volitions are themselves simply desires, to add them to the context of the conflict is simply to increase the number of contenders; it is not to give a special place to any of those in contention“ (Watson 1975, 217 f). Dieses explanatorische Defizit führt zu notorischen Anschlussproblemen. Solange wir nicht benennen können, was Volitionen speziell macht, sind sie nur weitere konative Einstellungen. Dann aber scheinen wir uns dringend versichern zu müssen, ob sie selbst denn autonom sind. Sofern es so ist, so drückt sich in Volitionen bereits der eigene Wille der Person aus; und die Motive, die Gegenstand von Volitionen sind, sind eben deshalb das, was diese Person wirklich will. Allerdings stellt sich dann natürlich die Frage, was diese Volitionen denn ihrerseits autonom
_____________ 18 Ähnliches gilt für die anderen genannten Vetreter verwandter Positionen. Eine wichtige Ausnahme ist C. Taylor (1985a), der mit seinem Konzept der „starken Wertungen“ (strong evaluations) einige wichtige Aspekte berücksichtigt, die auch Teil meines Vorschlags sein werden. 19 H. Frankfurt: „Reply to T. M. Scanlon“, in Buss et al. (ed.) (2002), S. 184.
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macht. Wenn wir diese Frage wiederum mit Rekurs auf Volitionen einer noch höheren Ordnung beantworten, ergibt sich offensichtlich ein bösartiger Regress. Erklären wir jedoch die Autonomie von Volitionen ganz anders, so war unsere ursprüngliche Theorie unvollständig; die eigentliche Quelle personaler Autonomie liegt dann erst in dem, was Volitionen autonom macht – was immer das sein mag. Verzichten wir schließlich auf das Erfordernis, Volitionen müssten autonom sein, ohne eine andere Erklärung ihrer Autorität zu haben, so stehen wir mit leeren Händen da. (Für eine ausführlichere Diskussion all dieser Schwierigkeiten siehe J. Christman (1988) und J. S. Taylor (2005a).) Ich schlage im nächsten Abschnitt eine Theorie der Einstellungen höherer Ordnung vor, die Autonomie verleihen. Anders als Frankfurts Sichtweise macht sie deutlich, welche spezifischen Eigenschaften dieser Einstellungen erklären, wieso sie Autonomie verleihen. Damit wird das explanatorische Defizit überwunden, und die Anschlussprobleme treten gar nicht erst auf. Denn es wird klar erkennbar, dass die Eigenschaft, die die autonomieverleihende Kraft jener Einstellungen erklärt, weder mit Autonomie identisch ist noch dieselbe impliziert. Die Einstellungen, von denen ich sprechen werde, müssen also nicht autonom sein, um Autonomie verleihen zu können. (Siehe dazu auch R. Noggle (2005). 20) Es genügt, wenn sie eine schwächere Bedingung erfüllen, die Dworkin (1989) „prozedurale Unabhängigkeit“ nennt. So kommt es weder zu einem infiniten Regress noch zu einer fatalen Unvollständigkeit der Theorie. Bevor ich diese Theorie präsentiere, stelle ich jedoch erst die zweite Gruppe von Schwierigkeiten dar. Ich habe Frankfurts Sichtweise durch die obigen Thesen (1) bis (3) wiedergegeben. Die These (2) benennt nun als notwendige und hinreichende Bedingungen für Autonomie ausschließlich Einstellungen des Subjekts. Damit wird Autonomie eine rein psychologische Eigenschaft, die sich im Innern der Person entscheidet. Pointiert gesagt: Autonomie wird eine Einstellungssache. Demgegenüber haben Autoren wie S. Wolf (1989), B. Berofsky (1995), A. Mele (1995) und J. M. Fischer & M. Ravizza (1998) eingewendet, dass auch Fakten ganz anderer Art wichtig sind. Sie betreffen nicht die Einstellungen des Akteurs; sie sind vielmehr Fakten über die Genese
_____________ 20 Auch R. Noggle behauptet: Es kann nicht erforderlich sein, dass jedes Element unserer Psyche, das einem anderen Element Autonomie verleiht, selbst bereits autonom ist. Noggles Argument gegen dieses Erfordernis rekurriert auf die Endlichkeit und Zeitlichkeit autonomer Wesen und behauptet plausibler Weise, dass, wenn ein endliches Wesen überhaupt irgendwann autonom soll werden können, es möglich sein muss, dass es diese Autonomie aus Quellen bezieht, die ihrerseits selbst nicht autonom sind (vgl. v. a. ebda. S. 93 ff).
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und die mögliche externe Beeinflussung derselben, über die Rationalität und geistige Gesundheit des Akteurs, seine Sensitivität für Gründe, oder die moralische Richtigkeit seiner Wünsche. In der einschlägigen Terminologie: Zu den internen Bedingungen, die Frankfurt benennt, müssen demnach auch externe Bedingungen hinzutreten. Was unser eigener Wille ist, hängt auch von vielerlei Faktoren außerhalb unseres Kopfes ab. Beispiele, die den Rekurs auf externe Bedingungen motivieren, sind etwa solche des engineering. Man nehme einen Akteur, der nur nach solchen Wünschen handelt, von denen er will, dass sie handlungswirksam sind. Auch er kann alles andere als autonom sein – z. B. dann, wenn er durch hypnotische Suggestion, einen neurochirurgischen Eingriff oder geschickte Indoktrination dazu gebracht wurde, jene Wünsche zu haben und haben zu wollen. Eine adäquate Menge notwendiger und hinreichender Bedingungen für Autonomie muss also stark genug sein, um solche Fälle auszuschließen. Aber es scheint kaum möglich, dies nur durch eine Bezugnahme auf weitere Einstellungen des Akteurs zu bewerkstelligen. Auch solche Einstellungen können wieder extern manipuliert worden sein. Wie sehr wir unsere Theorie der für Autonomie notwendigen Einstellungen auch verfeinern: Angesichts der Möglichkeit des engineering können wir höchstens sicherstellen, dass der Akteur den Eindruck haben muss, dem eigenen Willen zu folgen. Aus diesem Grund klagen die genannten Autoren externe Bedingungen ein. Bevor ich diese Vorschläge aber weiter diskutiere, will ich die Terminologie von „intern“ und „extern“ klären. Grob gesagt, betreffen interne Bedingungen die Frage, ob das Subjekt bestimmte mentale Einstellungen hat bzw. gerade nicht hat.21 Sei A wieder ein Akteur, ψ eine TokenEinstellung As und h ein Handlungstoken. Dann ist eine Bedingung22,
_____________ 21 Das bedeutet nicht, dass die Klasse der internen Bedingungen mit der Klasse der psychologischen Bedingungen koextensiv wäre. Vielmehr schließt es viele Bedingungen aus, die durchaus als psychologisch gelten können. Bedingungen etwa, die bestimmte Eigenschaften der mentalen Einstellungen des Akteurs betreffen (etwa ihre Rationalität), wären extern. (Die Forderung nach Rationalität betrifft ja nicht den Umstand, dass ein autonomer Akteur denken oder finden müsse, dass er rational ist, sondern sie betrifft eben den Umstand, dass er rational sein muss.) Des Weiteren sind Bedingungen, die die Genese von Einstellungen betreffen, extern. Bedingungen hingegen, die die Einstellungen des Akteurs zu der Genese seiner Einstellungen betreffen, sind intern. J. Christman (1991 u. 1993) formuliert eine solche interne genetische Bedingung für Autonomie, auf die ich weiter unten noch genauer eingehen werde. 22 Eine Anmerkung zur Individuation von Bedingungen: Ich werde mich an späteren Stellen dieser Arbeit dafür aussprechen, eine feinkörnige Individuation von Propositionen zu vertreten; in Bezug auf die Bedingungen, von denen hier die Rede ist, würde ich dagegen eine gröbere Individuation bevorzugen, der zufolge eine Bedingung, dass p, und eine Bedingung, dass q, genau dann identisch sind, wenn sie in genau denselben metaphysisch möglichen Welten bestehen.
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dass p, genau dann eine interne Bedingung für die Autonomie As (in Bezug auf ψ und h), wenn gilt: Sie ist eine diesbezüglich notwendige Bedingung; und sie ist entweder genau dann erfüllt, wenn A eine bestimmte mentale Einstellung hat, oder genau dann, wenn A eine solche eben nicht hat. Um diese komplexe Bedingung transparenter zu machen, befleißige ich mich formaler Hilfsmittel. Die Bedingung, dass p, ist genau dann eine interne Bedingung für die Autonomie As (in Bezug auf ψ und h), wenn gilt: (A ist autonom in Bezug auf ψ und h → p) & [[(p ↔ F(A))] ∨ [(p ↔¬F(A))]], wobei F ein Prädikat sei, das (einfache oder komplexe) mentale Einstellungen prädiziert. Zur Erläuterung: Das erste Konjunkt beinhaltet, dass p eine notwendige Bedingung für As Autonomie in Bezug auf ψ und h ist. Das zweite Konjunkt fordert, dass die Bedingung, dass p, entweder notwendig äquivalent mit der Instantiation einer bestimmten mentalen Eigenschaft durch A oder notwendig äquivalent mit dem Nichtbestehen einer solchen Instantiation ist. Nun lässt sich weiter definieren: Die Bedingung, dass p, ist genau dann eine externe Bedingung für die Autonomie As (in Bezug auf ψ und h), wenn sie notwendig ist und nicht intern ist. Der Externalismus in der Theorie der Autonomie ist dann eine Existenzquantifikation, der zufolge es Akteure A, Einstellungen ψ und Handlungen h gibt, so dass gilt, dass es externe Bedingungen für die Autonomie von A in Bezug auf ψ und h gibt. Der Internalismus ist einfach als die Negation des Externalismus definierbar.23 Wie ist der Externalismus nun zu beurteilen? Mir scheint, dass er wahr ist, aber mit größter Vorsicht formuliert werden muss. Dies hat mindestens die folgenden drei Gründe: Erstens kann es allzu leicht geschehen, dass die Einführung substantieller externer Kriterien wie Rationalität, Willensstärke oder moralische Richtigkeit diese Kriterien einfach mit Autonomie konfundiert.24 Zweitens birgt die Einführung externer Kriterien
_____________ 23 Zu einem gewissen Grade ist diese Form der Unterscheidung zwischen Externalismus und Internalismus natürlich eine Stipulation. Man könnte auch alle Positionen internalistisch nennen, die lediglich behaupten, dass es (auch) interne Bedingungen gibt, und externalistische Positionen hingegen durch die Negation dieser These charakterisieren. Es erscheint den Positionen, wie sie tatsächlich vertreten werden, jedoch angemessener, die Unterscheidung in der obigen Weise zu treffen. Kaum ein Externalist behauptet, dass es keine internen notwendigen Bedingungen für Autonomie gibt, sondern nur, dass diese nicht alles sind. 24 Dies scheint mir z. B. im Falle von S. Wolf (1989, 143 ff) zu geschehen. Wolf skizziert den Fall von Jojo, der der Sohn eines sadistischen Tyrannen ist. Jojo verlebt eine glückliche Kindheit und übernimmt die perversen Ziele seines Vaters, der ihm ein geliebtes Vorbild ist. Dabei erwirbt Jojo diese Ideale zwanglos und identifiziert sich von
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die Gefahr des Paternalismus, der mit der Idee der Selbstbestimmung schlecht verträglich wäre. Sobald wir etwas anderes zum Maßstab autonomer Praxis machen als das, was der Akteur selbst entscheidet, scheinen wir ihm vorzuschreiben, was er tun soll. Drittens sind manche Bedingungen, die man vorschnell als externe betrachten könnte, in Wahrheit doch als interne Bedingungen zu analysieren. Man nehme z. B. Bedingungen der Genese von Einstellungen. Diese sind zunächst einmal extern. Aber: Welche psychogenetischen Bedingungen mit Autonomie verträglich sind, hängt stark von den Einstellungen des Subjekts zu dieser Genese ab. Beispielsweise wird in der populären Mythologie ein junger Mann namens Peter Parker durch den kausalen Einfluss eines Spinnenbisses völlig verändert. Dies hat einen umfassenden Einfluss auf seine ganze Persönlichkeit: Er wird zu Spiderman. Aber indem er diese Veränderung akzeptiert und seine neuen Fähigkeiten zum Teil einer für ihn erfüllenden Praxis macht, wird er geradezu ein Paradefall von Selbstbestimmung. (Hierin unterscheidet er sich von vielen anderen Superhelden.) In einem Alternativmythos jedoch, in dem Peter den Eingriff nicht akzeptiert und in eine tiefe Identitätskrise stürzt, lautet unser Urteil anders. Dies macht es sinnvoll, genetische Bedingungen der Autonomie zumindest zum Teil als interne Bedingungen der Akzeptabilität einer Genese aufzufassen. (Dies schlägt z. B. Christman (1991) vor (s. u.).) Das generelle Problem für externalistische Ansätze, das dieser Fall veranschaulicht, ist also: Wir müssen mit der Fähigkeit von Akteuren rechnen, sich externe Einflüsse so zu eigen zu machen, dass Autonomie resultiert. 25 Kann es dann aber überhaupt Bedingungen geben, die unabhängig davon, wie sich Subjekte zu ihnen verhalten, notwendig für personale Autonomie sind? In der Tat gibt es Fälle, die nur durch externe Bedingungen korrekt zu beurteilen sind. Aus diesem Grunde halte ich, wie ich be-
_____________ ganzem Herzen mit ihnen. Wolf behauptet nun, dass Jojo weder als autonom noch als ein „responsible agent“ gelten könne. Dies führt sie darauf zurück, dass seine Wünsche bestimmten Standards mentaler Gesundheit (sanity) widersprechen. Dieses Urteil erscheint mir völlig kontraintuitiv. Jojo ist kein erfreulicher Mensch und seine Vorlieben sind zu verabscheuen – aber darum geht es nicht. Ebenso wie im Falle Kants erscheint mir auch hier Dworkins Forderung nach einem entmoralisierten Autonomiebegriff überzeugend (s. o.). Es ist einfach kaum zu bestreiten, dass man auch widerwärtige Ziele selbstbestimmt verfolgen kann. Neben dem Kriterium der sanity führt Wolf zugunsten ihrer Einschätzung an, dass Jojo wegen seiner Sozialisation keine Chance hatte, andere Vorlieben zu entwickeln. Aber das gilt für jeden von uns und ist daher eine unplausible Bedingung. Wäre eine nicht beeinflussbare Sozialisation inkompatibel mit Autonomie, gäbe es keine. 25 Wie immer man diese Fähigkeit erklärt – sie muss beträchtlich sein. Denn irgendwie gelingt es, wie Noggle (2005) betont, uns allen zu einem bestimmten Zeitpunkt, eine Menge vorgefundener und unautorisierter Anliegen in eine mehr oder minder autonome Willensstruktur umzuwandeln.
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reits gesagt habe, den Externalismus für zutreffend. Ein gutes Beispiel ist etwas, das man selbstreferentielle Manipulation nennen kann. Angenommen, ein Akteur würde hypnotisiert, und es würden viele neue Wünsche und Volitionen in ihm induziert. Daneben aber ist es auch Teil der Suggestion, dass der Akteur anschließend um den Umstand weiß, dass er hypnotisiert wurde, und dass er diesen Eingriff gutheißt. Ein solcher Akteur wäre ganz mit sich selbst im Reinen. Er hätte genau den Willen, den er zu haben wünscht. Er unterläge keiner Täuschung und entbehrte keiner wichtigen Information. Dennoch würden wir ihn nicht als selbstbestimmt qualifizieren – egal, wie sehr er seine Einstellungen und ihre Geschichte dabei bejaht und akzeptiert. Gleichwohl steht eine Formulierung externer Bedingungen aus den genannten Gründen vor großen Schwierigkeiten. Glücklicherweise ist es aber nicht mein Anliegen, eine vollständige Theorie der Bedingungen personaler Autonomie zu formulieren. Daher werde ich dieses Problem hier nicht zu lösen versuchen; meine Aufgabe ist erfüllt, wenn ich gezeigt habe, dass Einstellungen eines bestimmten Typs notwendig für Autonomie sind. Ich kann mich deshalb ganz auf eine bestimmte interne Bedingung konzentrieren. Mein Urteil, bestimmte externalistischer Einwände seien korrekt, impliziert zwar, dass ich die obigen Teilthesen (2) und (3) für falsch halte. Aber ich beabsichtige nicht etwa, sie durch korrekte Bikonditionale zu ersetzen. Ich werde lediglich Konditionale formulieren, die notwendige Bedingungen angeben. Gleichwohl ist mein Vorhaben alles andere als anspruchslos. Meine Ausführungen zum explanatorischen Defizit haben es bereits angedeutet: Ich möchte die internen Bedingungen personaler Autonomie vollständiger erfassen, als es bisher geschehen ist. Man kann einen Begriff einer vollständigen internen Bedingung personaler Autonomie wie folgt definieren: Eine Bedingung, dass p, ist genau dann eine vollständige interne Bedingung für die Autonomie eines Akteurs A (in Bezug auf eine Einstellung ψ und eine Handlung h), wenn gilt: Sie ist eine interne diesbezügliche Bedingung, und es gibt keine von ihr verschiedene und logisch unabhängige Bedingung, die diesbezüglich notwendig ist und intern ist. Eine vollständige interne Bedingung ist nicht unbedingt hinreichend. Die Definition lässt offen, dass es weitere notwendige Bedingungen geben mag, die nicht intern sind. Mein Anliegen in den folgenden Abschnitten ist nun folgendes: Ich möchte zeigen, dass Einstellungen, die ich „Identifikationen“ nenne, vollständige interne Bedingungen personaler Autonomie sind. In diesem Sinne sind sie auch autonomieverleihend. Angesichts meiner Zugeständnisse an
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den Externalismus mag es zunächst verfehlt erscheinen, überhaupt von autonomieverleihenden Einstellungen zu sprechen. Diese Rede ist jedoch unproblematisch, wenn man definiert: Eine Einstellung ist genau dann autonomieverleihend für A (in Bezug auf ψ und h), wenn ihr Vorliegen eine vollständige interne Bedingung für die Autonomie von A (in Bezug auf ψ und h) erfüllt. Wenn es nun aber doch nur um eine interne Bedingung geht: Warum habe ich so viel Raum auf die Diskussion des Externalismus verwendet? Kurz gesagt: Weil meine Theorie besagen wird, dass autonome Akteure sich selbst an mehr als an ihrem eigenen psychischen Haushalt orientieren müssen. In Bezug auf ihre eigene Praxis dürfen autonome Akteure also keine Internalisten sein. Vielmehr müssen sie Überzeugungen über viele der Bedingungen haben, auf die Externalisten hinweisen. Beispielsweise müssen sie nicht nur eine Geschichte einer bestimmten Art haben (eine Geschichte ohne Manipulation etc.). Ebenso benötigen sie Überzeugungen über ihre Geschichte. Und diese Überzeugungen müssen Einfluss auf ihre Entscheidungen haben. Anders gesagt: Viele externe Bedingungen für Autonomie spielen auch eine interne Rolle. Schließlich werde ich an einer bestimmten Stelle nahelegen, dass diese Überzeugungen über externe Bedingungen wahr sein müssen, damit der Akteur autonom ist. Dies impliziert natürlich, dass die jeweiligen externen Bedingungen bestehen müssen. Indirekt werde also auch ich bestimmte externe Bedingungen für Autonomie formulieren.
§ 10. Eine Theorie der Identifikation H. Frankfurt und G. Dworkin verwenden beide den bereits oben (s. § 7) charakterisierten Begriff „Identifikation“. Beide verstehen diesen Ausdruck jedoch eher anspruchslos. Grob gesagt, gilt bei ihnen: Ein Akteur A identifiziert sich genau dann mit einem Wunsch ψ, wenn A eine Volition bezüglich ψ hat. Nun habe ich bereits dargestellt, dass der bloße Rekurs auf Volitionen keine befriedigende Theorie der Autonomie ergibt. Ich teile jedoch G. Watsons Ansicht, dass der Begriff der Identifikation auch anspruchsvoller verstanden werden kann und dann bessere Ergebnisse erzielen könnte: „There may be something to the notion[] of identification [...], [but it is in any case a different notion] from that of a second- (or n-) order desire“ (Watson 1975, 219). In der Tat drückt unser Alltagsausdruck „sich mit etwas identifizieren“ etwas Anspruchsvolleres aus als das, was Frankfurt und Dworkin damit verbinden. Nicht jeder Wunsch, den wir affirmieren und zu verfolgen
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beschließen, ist einer, mit dem wir uns identifizieren. Es erscheint also attraktiv, Watsons Eindruck nachzugehen, dass der Begriff der Identifikation etwas für personale Autonomie Wesentliches einfängt. Freilich stellt Watson selbst in einer späteren Arbeit resigniert fest: „We are left with an elusive notion of identification and thereby an elusive notion of selfdetermination. The picture of identification as some kind of brute selfassertion seems totally unsatisfactory, but I have no idea what an illuminating account might be“ (Watson 1987, 150 f). Diesem Mangel hoffe ich in diesem Abschnitt abzuhelfen. Ich werde eine Theorie der Identifikation vorlegen, und ich zeige, dass eine dergestalt verstandene Identifikation eine vollständige interne Bedingung für Autonomie ist. Im weiteren Verlauf werde ich dann darlegen, dass Identifikationen in der Tat genau die Eigenschaft haben, von der meine These spricht: Sie sind nämlich nur dann gerechtfertigt, wenn es zugleich gerechtfertigt ist, bestimmte Überzeugungen über die Geschichte ihrer Subjekte zu haben. Zunächst einmal stimme ich Autoren wie Frankfurt, Dworkin, Taylor, Neely und anderen zu: Eine notwendige Bedingung für die Autonomie eines Akteurs A in Bezug auf einen Wunsch ψ besteht darin, dass A eine Einstellung höherer Stufe zu ψ hat. Der beste Begriff für diesen Einstellungstyp ist dabei in der Tat der Begriff der Identifikation. Meine Definition dieses Begriffs wird dabei Frankfurts Begriff der Volition verwenden. Sie spezifiziert notwendige und hinreichende Bedingungen dafür, dass eine Volition bezüglich einer Einstellung einen Teil einer Identifikation mit derselben darstellt. In diesem Sinne werde ich Frankfurts Theorie daher weniger revidieren als sie um eine wichtige Dimension ergänzen. Diese Dimension ist die der Gründe: Wonach wir in der Theorie der Autonomie zu fragen haben, ist nicht nur das Vorliegen von Volitionen. Ebenso wichtig ist die Frage nach den Gründen, die wir für eine Volition haben. Wir können aus vielerlei Gründen wollen, dass ein Wunsch handlungswirksam wird – etwa aus Gründen moralischer, prudentieller oder ästhetischer Art. Diese Dimension der Gründe für unsere Volitionen ist aus der Diskussion, so weit ich sehe, bislang ausgespart worden.26 Ich werde also behaupten, dass Identifikationen Volitionen sind, die sich durch eine besondere Klasse von Gründen aus-
_____________ 26 Dies gilt auch für Bratman (1999a). Bratman definiert den Begriff der Identifikation zwar im Rekurs auf den Begriff „to decide to count as reason-giving“ – aber auch hier ist eben nicht von Gründen des Akteurs für eine solche Entscheidung (bzw. für eine solche Identifikation) die Rede.
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zeichnen. Dabei bezeichnet „Gründe“ hier keine normativen Gründe, sondern Erwägungen der Subjekte, die ihre Volitionen motivieren.27 Ein zweiter wichtiger Aspekt meines Vorschlags ist dieser: Ich werde die Intuition ernst nehmen, dass eine Identifikation mit einer Einstellung nicht nur beinhaltet, sie gutzuheißen oder ihr praktische Wirksamkeit zu verleihen. Vielmehr ist es wesentlich, sich dabei am eigenen Selbstverständnis zu orientieren. Anders gesagt: Einen Wunsch verfolgen zu wollen heißt noch nicht, sich mit ihm zu identifizieren. Dazu ist es außerdem nötig, diesen Wunsch in irgendeinem Sinne als sich entsprechend zu beurteilen. Wer sich mit etwas identifiziert, orientiert sich daher an Überzeugungen darüber, wer er ist und was ihm entspricht. Diese Intuition erscheint mir ebenfalls zentral zu sein. Zusammen ergeben diese beiden Überlegungen, grob gesagt, die folgende Idee: Identifikationen sind Volitionen, deren Gründe zum Teil bestimmte Überzeugungen über sich selbst und die eigenen persönlichen Anliegen sind. Ich werde diese Idee zuerst provisorisch ausformulieren. Danach werde ich sie erklären und verfeinern. Schließlich argumentiere ich dann dafür, dass mein Vorschlag in seiner endgültigen Form ein guter Vorschlag ist. Zunächst aber zur vorläufigen Formulierung der Theorie: Theorie der Identifikation, erster Vorschlag Ein Akteur A identifiziert sich genau dann mit einer Einstellung ψ, wenn A eine Volition v bezüglich ψ hat, und wenn ein essentieller Teil der motivationalen Gründe As für v in der Überzeugung As besteht, dass ψ authentisch ist. Bevor wir uns nun näher mit dieser Theorie der Identifikation befassen, ist es sinnvoll, einige Erklärungen vorauszuschicken. Besonders ist ein Problem anzusprechen, das sich wohl schon auf den ersten Blick aufdrängt. Was nämlich unmittelbar problematisch erscheint, ist der frappierend zirkuläre Eindruck, den der Vorschlag macht. Er besagt ja, dass eine Identifikation die Überzeugung beinhalte, dass ein bestimmter Wunsch authentisch sei. In dieser Bedingung liegt zwar keinerlei formaler Zirkel.
_____________ 27 Das heißt natürlich nicht, dass diesen motivationalen Gründen nicht auch gute normative Gründe entsprechen können. J. Dancy (2000) behauptet bekanntlich sogar, dass motivationale und normative Gründe zur selben ontologischen Kategorie gehören; in diesem Falle würde gelten, dass die besagten motivationalen Gründe mit normativen Gründen identisch sein können. Ich bin durchaus nicht abgeneigt, Dancys These zuzustimmen. (Ich will aber hervorheben, dass diese Gründe auch dann für unseren Zusammenhang in ihrer Rolle als motivationale Gründe wichtig sind.) Trotz meiner Sympathie für Dancys Theorie habe ich es im Text allerdings vorgezogen, die gegenwärtig unkontroversere und gebräuchlichere „psychologistische“ Rede von motivationalen Gründen als Einstellungen oder Erwägungen von Subjekten zu verwenden.
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Aber ein Problem zeigt sich doch: Zunächst einmal ist unklar, was „authentisch“ überhaupt bedeutet. Vor allem aber lautet die Interpretation des Ausdrucks, die nahe liegt, so: Ein Wunsch ist authentisch, wenn er der eigene Wille einer Person ist. Aber ist der eigene Wille nicht letztlich dasselbe wie der autonome Wille einer Person? Und ist der autonome Wille nicht genau das, was der Begriff der Identifikation erst erklären sollte? Auch dies wäre nicht formal zirkulär. Immerhin wird in der Theorie ja nicht Authentizität als Bedingung der Autonomie benannt, sondern eine (wahre oder falsche) Überzeugung über Authentizität. Aber es ergäben sich dennoch unerfreuliche Konsequenzen. Wäre Authentizität nichts anderes als Autonomie, so müsste nämlich ein Subjekt einer Identifikation überzeugt sein, dass ein bestimmter Wunsch autonom ist. Und damit müsste es generell von etwas überzeugt sein, das doch erst durch seine Identifikation hergebeiführt wird. Darüber hinaus würde die Theorie, wenngleich nicht zirkulär, so doch ungeeignet dazu, jemandem allererst zu einem Verständnis des Begriffs der Autonomie zu verhelfen. Vielmehr würde ein Verständnis dieses Begriffs von der Theorie bereits vorausgesetzt. Es gibt jedoch einen Ausweg, und der liegt natürlich darin, Authentizität von Autonomie zu unterscheiden. Es gibt also eine wichtige begriffliche Differenzierung einzuführen: Ich habe bereits weiter oben (s. § 7) dargestellt, dass wir etwas in verschiedener Bedeutung als das bezeichnen können, was jemand wirklich will. Eine dieser Bedeutungen habe ich die emphatische genannt. Hier ging es nicht um die komparative Stärke eines Motivs, sondern, grob gesagt, um seinen Stellenwert im Rahmen einer Persönlichkeit. Hier muss ich nun eine weitere Differenzierung einführen. Auch einen im emphatischen Sinne wirklichen oder eigenen Willen kann man einer Person in zwei Bedeutungen zuschreiben. In einem ersten, schwächeren Sinne impliziert diese Redeweise nichts über die praktische oder evaluative Haltung der Person zur fraglichen Einstellung. Wir können sagen, ein Wunsch sei der eigene oder wirkliche Wille einer Person, wenn dieser Wunsch der Person entspricht, sich in ein umfassenderes Bild ihrer Persönlichkeit integrieren lässt. Diesen wirklichen Willen im schwächeren Sinne nenne ich authentisch. Im zweiten, starken Sinne hingegen bezeichnen wir einen Wunsch dann als den eigenen Willen einer Person, wenn diese Person ihn gutheißt und handlungswirksam werden lassen will. In diesem Sinne kommt der eigene Wille einem autonomen Willen nahe. Ich werde zu den Bedingungen, unter denen eine Einstellung authentisch ist, unten vieles zu sagen haben. Um aber erst einmal intuitiv – und überaus grob – zu charakterisieren, worum es geht: Wir schreiben Authentizität zu, wenn wir sagen, es sei „typisch für“ jemanden, etwas zu wünschen, oder eine Person „sei eben jemand“, der bestimmte Vorlieben habe. Urteile dieser Art präjudizieren dabei nichts über eine Wertung oder
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Volition, die diese Person gegenüber der Einstellung hat. Sogar in erstpersönlichen Kontexten können wir etwa urteilen, dass es ziemlich charakteristisch für uns selbst sei, etwas Bestimmtes zu wollen, ohne dass wir damit eine Wertung bezüglich dieser Einstellung implizieren. Ich werde umgehend auf das Thema Authentizität zurückkommen. Zuvor aber will ich verdeutlichen, inwiefern die Unterscheidung das eben skizzierte Problem löst. Die Lösung ist diese: Die zweite, stärkere Alternative ist das, was eine Identifikation erklären soll. Was eine Identifikation aber nach meinem Vorschlag als Gegenstand einer Überzeugung voraussetzt, ist die erste, schwächere Alternative. Was also Theoretiker wie Frankfurt im Rekurs auf Identifikationen erläutern, ist der anspruchsvolle Sinn, in dem etwas der eigene Wille einer Person sein kann. Ich schlage hier vor, dass Identifikationen voraussetzen, dass wir das Motiv bereits in einem schwächeren Sinn als den eigenen Willen erkannt haben. Dies setzt nicht wieder Autonomie und Identifikation voraus. Bevor ich nun aufzeigen kann, was für meinen Vorschlag spricht, muss ich einige weitere Erläuterungen zum Begriff „authentisch“ anfügen. Anders lässt der Vorschlag sich nicht verstehen, geschweige denn beurteilen. Es bleibt aber dabei: Eine ausführliche Darstellung wird erst dem weiteren Verlauf dieses ersten Hauptteils vorbehalten bleiben. In einem bislang unveröffentlichten Manuskript (2003) behaupten M. Smith und G. Sayre-McCord, dass wir Wünsche in einem Sinn als den eigenen Willen eines Akteurs bezeichnen können, der keine positive Bewertung durch den Akteur voraussetzt. Solche Wünsche müssten dazu lediglich das sein, was Smith und McCord robust nennen. Robustheit erklären sie dabei in Begriffen der Stärkegrade von Wünschen (degrees of desire): Ein Wunsch ist genau dann robust, wenn sein Stärkegrad angesichts eines großen Bereichs situativer Veränderungen diachron konstant bleibt. Damit man einen Wunsch also im Sinne der genannten Autoren als den eigenen Willen einer Person bezeichnen kann, muss er nicht stark sein. Er muss nur einen hohen Grad an diachroner Konstanz haben – er muss, so könnte man umgangssprachlich sagen, ein fester Wille sein. Die Grundidee von Smith und Sayre-McCord lautet also, einfach gesagt: Etwas kann ein echter Ausdruck des Willens einer Person sein, unabhängig davon, ob es ein besonders starker Wunsch ist, und unabhängig davon, ob die Person es als ihren Willen befürwortet. Wenn sich über die Jahre hinweg herausstellt, dass ich jemand bin, dem Sauberkeit sehr wichtig ist, so ist dies ipso facto ein echtes Anliegen in Smiths und SayreMcCords Sinne. Gleichwohl kann ich wünschen, weniger pingelig zu sein. Nun wird mein eigener Vorschlag zur Authentizität von Wünschen deutlich komplexer ausfallen als derjenige von Smith und Sayre-McCord. Wichtig ist mir aber an dieser Stelle, dass ihr Begriff eines robusten Wil-
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lens genau die Zwischenposition besetzt, die ich für den Begriff des authentischen Willens vorsehe. Sie haben nämlich korrekt erkannt, dass es einen Sinn gibt, in dem bestimmte Wünsche zentrale Aspekte des Charakters einer Person darstellen – ohne dass diese Wünsche in ihrer Präferenzordnung besonders hoch stehen, und ohne dass die Person diese Wünsche an sich gutheißt. Ich nenne die Wünsche authentisch, die einer Person in ungefähr diesem Sinne entsprechen. Das ist noch sehr ungenau. Ich werde unten, wie gesagt, genaue Bedingungen der Authentizität von Wünschen spezifizieren. Dabei zeige ich, dass sie mehr umfassen als nur diachrone Robustheit. Hier kann ich nur einen kurzen Eindruck davon vermitteln, dass unsere einschlägigen Kriterien durchaus anspruchsvoll sind: Ich werde unten z. B. darlegen, dass es Kohärenzkriterien dafür gibt, ob etwas der authentische Wille einer Person ist. Wenn viele ihrer Wünsche in ihrer Zielsetzung übereinstimmen oder verknüpft sind, so erhöht dies den Grad, in dem wir jeden dieser Wünsche als authentisch bewerten. Weiter gibt es biographische Kriterien: Wenn wir entdecken, dass jemandes Wunsch ein alter Kindertraum ist, so betrachten wir ihn ceteris paribus eher als authentisch. Ebenso verfügen wir über klare Ausschlusskriterien: Wenn wir feststellen, dass ein robuster Wunsch eines Akteurs regelrecht eine zwanghafte Obsession ist, so hören wir auf, ihn als einen authentischen Ausdruck seiner Persönlichkeit zu begreifen. Auch viele Formen der externen Beeinflussung und Manipulation sind unverträglich mit Authentizität: Wenn jemand nur deshalb Bankangestellter zu werden wünscht, weil seine Eltern wollen, dass er es wird, so finden wir seinen Wunsch nicht authentisch. Schon der Begriff der Authentizität erfasst also durchaus eine Fülle starker Vorstellungen darüber, was eine Persönlichkeit ausmacht und zu ihr zählt. Und doch impliziert die Authentizität eines Wunsches weder eine Identifikation mit ihm noch die Autonomie seines Subjekts ihm gegenüber. Es kann ja ein nachgerade schmerzliches Eingeständnis für uns bedeuten, zuzugeben, dass ein bestimmter Wunsch nicht nur eine Anwandlung, eine bloße Phantasie oder ein fremdverursachter Zwang ist, sondern etwas, das wir wirklich wollen. Wenn dies aber konsistent ist, so zeigt das: Wir verfügen über einen Begriff davon, dass eine Person etwas wirklich will, der nicht beinhaltet, dass die Person diesen Willen an sich gutheißt oder sich mit ihm identifiziert. Vielmehr ist dieser Begriff kompatibel mit Nicht-Identifikation und einem Mangel an Autonomie. Der Ausdruck „authentisch“ ist in diesem Zusammenhang zwar natürlich28, bedarf aber einiger terminologischer Klarstellung. Zum ersten
_____________ 28 Auch Quante (2002, 192 ff und 2006, 114) verwendet diesen Begriff ähnlich. Meine Überlegungen verdanken sich denjenigen Quantes zu einem großen Teil. Quante un-
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wird „authentisch“ in der Debatte um personale Autonomie gerade für solche Wünsche verwendet, mit denen wir uns identifizieren (vgl. z. B. Noggle 2005). Zum zweiten verwendet C. Taylor, einer der Proponenten einer einschlägigen Theorie, den Begriff der Authentizität in einem noch anderen Sinne. „Authentizität“ bezeichnet bei Taylor ein Ideal der modernen westlichen Kultur (vgl. Taylor 1991). Nichts von beidem ist an dieser Stelle gemeint. Hier geht es eben um jene basale Form von „Echtheit“ von Motiven, die gerade grob umrissen wurde. Nach diesen vorläufigen Klärungen jedoch zur Hauptfrage: Was spricht für meine (vorläufige) Theorie der Identifikation? Sie weicht von Frankfurts Vorschlag, wie gesagt, darin ab, dass sie spezielle Motive für Identifikationen einfordert. Wer sich mit einem Wunsch identifiziert, der will ihn verfolgen, und dies zum Teil deshalb, weil er ihn für seinen authentischen Wunsch hält. Was spricht für diesen Aspekt des Vorschlags? Kurz gesagt: Er wird einer wichtigen Alltagserfahrung gerecht. Die Erfahrung ist folgende: Mitunter fragen wir uns, was wir wirklich wollen, und wir können versuchen, die Antwort auf diese Frage herauszufinden. Ebenso lesen und schreiben wir lange Romane darüber, wie Personen entdecken oder herausfinden, was sie wirklich wollen. Auch den analogen Versuch der jungen Frau (aus § 7, s. o.) können wir sofort nachvollziehen. Anhänger Frankfurts und Dworkins werden jedoch aus all dem keinen Sinn machen können. Für sie hängt die Frage, was eine Person wirklich will, von einem höherstufigen Willensakt ab. Indem eine Person festlegt, dass sie ein Motiv verfolgen will, macht sie zu es ihrem wirklichen Willen. Mithin gibt es hier nichts zu entdecken oder herauszufinden. Wilhelm Meister oder die junge Frau aus dem Beispiel suchten demnach etwas, was nicht gefunden, sondern nur entschieden werden kann. Das erscheint mir kontraintuitiv. Was wir wirklich wollen, hängt nicht allein von unseren Volitionen ab. Stattdessen können wir Volitionen ausbilden, weil wir eine Antwort auf die Frage gefunden haben, was wir wirk-
_____________ terscheidet zwei Bedeutungen, in denen man von Einstellungen sagen kann, sie seien authentisch. Authentizität in einem ersten Sinne, so Quante, setze eine reflexive und praktische Aneignung durch das Subjekt voraus, in einem anderen Sinne jedoch nicht. Allerdings erscheint es an manchen Stellen, als verstehe Quante unter Authentizität im zweiten Sinne eine Form eines „ungebrochenen“ Verhältnisses, das in einem noch stärkeren Sinne „vorreflexiv“ ist – in einem Sinne nämlich, der vielleicht nicht einmal verträglich mit Reflexion in einem doxastischen Sinne ist. (Vgl. den Bluesmusiker, dessen Spiel auch durch zu viel Nachdenken an Authentizität verlieren kann.) Daher scheint mir, dass hier etwas anderes gemeint ist. Authentizität in dem Sinne, um den es hier geht, erfordert zwar keine Reflexion, aber sie lässt sie zu. In der Tat spielt sie, wenn mein Vorschlag korrekt ist, auch in der praktischen Reflexion, die zur Autonomie führt, eine wichtige reflexive Rolle. Daher ziehe ich es vor, nicht von „vorreflexiver“ Authentizität zu sprechen.
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lich wollen. Wir können erkennen, dass wir auf dem Wege waren, etwas zu verfolgen, was wir gar nicht wirklich wollen. Wir besinnen uns und formen eine Volition bezüglich unserer wirklichen Anliegen. Mein Vorschlag lautet nun, dass eine Volition eine Identifikation ist, wenn sie das Resultat eines solchen Prozesses ist. Deshalb habe ich die Kategorie der Authentizität eingeführt. Authentizität ist das, wonach wir suchen, wenn wir uns (im skizzierten Sinne) fragen, was wir wirklich wollen. Natürlich muss nicht immer ein Prozess bewusster Reflexion involviert sein. Aber Identfikationen müssen, so mein Vorschlag, partiell durch eine Überzeugung darüber motiviert sein, was unser authentischer Wille ist. Man kann demnach also sagen, dass eine Identifikation sowohl eine kognitive als auch eine praktische Dimension hat. Sie besteht darin, eine Einstellung als authentisch zu erkennen und ihr deshalb deliberativ eine bestimmte praktische Rolle zu verleihen. Allgemeiner gesagt: Das Selbstverhältnis autonomer Personen ist ebenso sehr eine Sache der Empfänglichkeit für Tatsachen über sich selbst und die eigene Geschichte, wie es auch eine Sache der Bewertung und praktischen Deliberation, der Aneignung oder Distanzierung in Bezug auf die eigenen Wünsche und Antriebe ist. Um noch einmal auf den einleitend entworfenen Fall der jungen Frau einzugehen, um deren Hand angehalten wird: Ihre Frage „Aber was ist das, was ich wirklich will?“ artikuliert nicht nur ein praktisches, sondern auch ein Erkenntnisproblem. Wo diese Frage für Anhänger Frankfurts und Dworkins nur mit einem Willensakt zu beantworten wäre, empfiehlt meine Theorie, die Intuition ernst zu nehmen, dass auch ein epistemisches Problem beteiligt ist. Die junge Frau wird z. B. Überzeugungen darüber einbeziehen, wie gut sich die konkurrierenden Motive in ihre Geschichte und ihren Charakter einfügen. Einen solchen Fall sieht mein Vorschlag als paradigmatischen Fall von Identifikation an. Dabei behaupte ich freilich nicht, dass die kognitive Komponente in jeder Identifikation eine so explizite Rolle spielen muss. Ich werde im nächsten Abschnitt diskutieren, ob meine Theorie nicht dennoch allzu intellektualistisch ist. Bevor ich mich der Verfeinerung meines Vorschlags widme, ist ein weiterer Hinweis nötig: Die Theorie verlangt nicht, dass Authentizität der Hauptgrund für eine Identifikation sein müsse. Authentizität muss nicht das sein, was den Ausschlag gibt. Dies gilt sogar in einem so besonderen Falle wie dem der jungen Frau: Sie will nicht entscheiden, bevor sie weiß, was ihr authentischer Wille ist. Aber angenommen, sie erkennt es und sagt daraufhin: „Ja“. Es folgt natürlich nicht, dass die Authentizität in irgend einem Sinne ihr Hauptgrund ist, zu heiraten. Es ist gewiss natürlicher, zu sagen, dass das, was sie motiviert, ihre Liebe zum Antragsteller und der Wunsch nach einem gemeinsamen Leben ist. Es gilt nur: Sie hätte diesen
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Motiven nicht nachgeben wollen, wenn sie dieselben nicht außerdem als Ausdruck ihres echten Willens anerkannt hätte. Authentizität muss also nicht der entscheidende Beweggrund sein. Deshalb kann in Identifikationen auch oftmals einfach präsupponiert werden, dass ein bestimmtes Motiv authentisch ist. In diesem Falle spielt Authentizität überhaupt keine bewusste Rolle. Was aber bleibt, ist Sensitivität für Authentizität und für damit verknüpfte Informationen: Wenn Informationen zugänglich werden, die nahelegen, das Motiv könnte z. B. manipuliert worden sein, dann wird Identifikation fragwürdig, denn ein essentieller Teil der Motivation für dieselbe schwindet. Der Leser mag es also unwahrscheinlich finden, dass wir uns außerhalb besonderer Situationen oft fragen, was unser authentischer Wille ist. Ich stimme ihm zu. Aber ich ermuntere ihn, sich zu fragen, wie sich seine Haltung zu vielen seiner Motive ändern würde, wenn er erführe, dass sie nicht authentisch (z. B. manipuliert) sind. Die Antwort zeigt an, wie wichtig ihm Authentizität ist. Ich habe jetzt einen Teil der intuitiven Motivation für meinen Vorschlag dargelegt. Nun werde ich ihn weiter verfeinern. Ich habe oben gesagt, dass es sogar ein schmerzhaftes Eingeständnis für uns darstellen kann, dass ein bestimmter Wunsch authentisch ist. Demnach gilt: Die bloße Überzeugung, eine unserer Einstellungen sei authentisch, motiviert uns nicht zwangsläufig, sie zu bevorzugen.29 Gleichwohl kann so eine Überzeugung ein Teil eines motivationalen Grundes für eine Volition sein. In Konjunktion mit weiteren Motiven nämlich kann sie dazu beitragen, uns dergestalt zu motivieren. Angenommen, ich habe eine charakteristische Vorliebe für einen legeren Kleidungsstil. Nehmen wir weiter an, man böte mir eine einträgliche Anstellung unter der Bedingung an, dass ich mich anders kleide. Nun hat mir meine modische Vorliebe nur deshalb, weil sie authentisch ist, bislang nichts bedeutet. Aber angesichts des Angebots hätte ich den Eindruck, meine Vorlieben für Geld zu sehr zu verbiegen, und ich lehne ab. Hier wird die Überzeugung über die Authentizität einer Vorliebe Teil einer Motivation. Auch für die junge Frau könnte dies gelten. Die bloße Überzeugung, dass ihr Heiratswunsch authentisch ist, mag sie allein nicht motivieren. Erst in Konjunktion mit weiteren Einstellungen (etwa dem Wunsch, in
_____________ 29 Das habe ich ja besonders hervorgehoben. Allerdings wurde es vor allem betont, um klarzustellen, dass solche Überzeugungen noch keine Identifikation implizieren. Wenn ich also betone, die Überzeugung, dass eine unserer Einstellungen authentisch ist, bedürfe, um uns zu motivieren, bestimmter Wertungen oder Wünsche, so lege ich mich damit nicht generell auf eine nonkognitivistische Theorie genuin motivierender Zustände fest. Ich schließe nicht aus, dass Überzeugungen intrinsische motivierende Kraft haben können.
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einer so wichtigen Frage nicht dem erstbesten Impuls nachzugeben, oder aber dem moralischen Urteil, dass sie dem Antragsteller eine authentische Willensäußerung schuldet) wäre sie motivational relevant. Dieser Punkt macht nun allerdings eine Revision nötig. Es stellt sich nämlich die Frage: Sind beliebige weitere Motive zulässig, mit denen die Authentizitäts-Überzeugung kombiniert werden kann? Genauer: Kann man sagen, jemand identifiziere sich mit einer Einstellung, wenn er ausschließlich aufgrund sehr spezifischer weitergehender Interessen nach seinem authentischen Willen fragt? Ist es für eine Identifikation im vollen Sinne nicht erforderlich, dass der authentischen Beschaffenheit einer Motivation ein Eigenwert beigemessen wird? Betrachten wir dazu ein weiteres Beispiel. Nehmen wir an, an einer Person würde ein psychologisches Experiment durchgeführt. Sie soll dabei angesichts einer bestimmten Situation fragen, welche Wünsche dieselbe in ihr hervorruft. Dann soll sie den Wunsch in die Tat umsetzen, der das darstellt, was sie wirklich will. Wenn diese Person nun genau dies tut, aber nur deshalb, weil der Versuchsleiter es fordert, dann würden wir nicht sagen, sie identifiziere sich mit dem gewählten Motiv. (Man kann diesen Eindruck verstärken, wenn man annimmt, dass das Experiment unter Zwang stattfindet.) Was fehlt, ist dies: Die Person hat kein intrinsisches Interesse daran, ihren eigenen Willen zu verfolgen. Die Frage, was ihr selbst entspricht, hatte rein instrumentelle Relevanz. Gleichwohl erfüllt die Person in diesem Beispiel die Bedingungen meiner Theorie. Deshalb gibt es den angekündigten Revisionsbedarf. Wir erwarten von einer Identifikation mehr als das, was benannt wurde. Nicht nur muss die Überzeugung, dass eine Einstellung ψ authentisch ist, ein Teil unserer Motivation für eine Identifikation mit ψ sein. Außerdem müssen wir den Umstand, dass ψ authentisch ist, in gewissem Maße intrinsisch wertvoll finden. Hier ist eine Bemerkung zum Begriff der Wertung nötig. Es ist nicht meine Ansicht, dass Wertungen auf Wünsche reduzierbar sind. Den Umstand, dass p, wertvoll zu finden ist nicht dasselbe wie zu wünschen, dass p. (Siehe dazu z. B. Watson 1975.) Mir fehlt an dieser Stelle jedoch der Raum, eine befriedigende Theorie der Wertungen zu entwickeln. In Ermangelung dieser Möglichkeit könnte man sich eine Strategie von A. Mele aneignen: Mele erkennt an einer ähnlichen systematischen Stelle ebenfalls die Notwendigkeit, auf Wertungen Bezug zu nehmen (siehe Mele 1995, 115 und 2006, 164). Auch ihm geht allerdings eine befriedigende Theorie der Evaluation ab. Daher führt er als eine Art Platzhalter einen Begriff der „dünnen“ Wertung (thin valuing) ein. Ein Akteur A misst dem Sachverhalt, dass p, genau dann im dünnen Sinne Wert bei, wenn er wünscht, dass p, und wenn er glaubt, dass es gut ist, wenn p. Ich werde auf diese Strategie aber
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verzichten. Sie löst das Problem einer brauchbaren Theorie der Evaluation nicht, könnte dabei aber fälschlich suggerieren, dass es gelöst ist. Ich werde mich daher im Folgenden auf unser intuitives Verständnis davon verlassen müssen, was es heißt, etwas Wert beizumessen. An späteren Stellen (§ 22, § 37) wird meine Argumentation jedoch auf spezifischeren Annahmen über Wertungen beruhen. Dann werde ich natürlich für jene stärkeren Annahmen argumentieren. Mein Vorschlag besagt nun: Wenn wir uns mit einer Einstellung ψ identifizieren, so haben wir erstens eine Volition bezüglich ψ. Zweitens enthält unsere Motivation für diese Volition essentiell die Überzeugung, dass ψ authentisch ist. Und drittens enthält sie auch eine positive evaluative Einstellung dazu, authentische Wünsche zu verfolgen. Ich werde dabei in meiner Formulierung der Theorie davon ausgehen, dass diese evaluative Einstellung einen motivationalen Aspekt hat, den man als einen Wunsch, in unserem Handeln unsere authentischen Einstellungen zu verfolgen, auffassen kann. (Für motivationstheoretische Internalisten bezüglich evaluativer Zustände versteht sich dies von selbst. Ein Externalist dagegen müsste diese motivierende Komponente zusätzlich einfordern. Der Einfachheit halber werde ich diese motivationale Komponente im Folgenden nicht immer eigens erwähnen. Dies ist aber nicht unbedingt ein Bekenntnis zum Internalismus.) Kraft dieses motivationalen Aspekts verleiht die Evaluation der Überzeugung, dass eine bestimmte Einstellung authentisch ist, einen Teil ihrer motivationalen Relevanz. Bevor ich diesen Vorschlag jedoch endgültig formuliere, muss ich weitere Schwierigkeiten diskutieren. Führt der Vorschlag nicht doch dazu, dass die Überzeugung, ein Wunsch sei authentisch, mit einer Identifikation einhergehen muss? Eine Identifikation soll ja voraussetzen, dass ich es wertvoll finde, authentische Wünsche zu verfolgen. Wenn ich das aber tue – wie könnte ich dann irgendeinen Wunsch als authentisch beurteilen, ohne ihn deshalb wertvoll zu finden und verfolgen zu wollen? Die Einführung jener Evaluation bedeutet dann, dass wir uns entweder mit allen authentischen Wünschen identifizieren müssen oder mit keinem. Und das wollte ich vermeiden. Eine Lösung dieses Problems kann man in drei verschiedenen Überlegungen suchen: Erstens muss mein Vorschlag nicht behaupten, die fragliche Überzeugung und die fragliche Evaluation müssten alles sein, was uns in einer Identifikation motiviert; und es könnten ja andere, stärkere Motive gegen sie sprechen. Zweitens könnte man den Vorschlag so modifizieren, dass die Evaluation sich nicht auf jede Einstellung beziehen muss, die wir als authentisch ansehen. Und drittens könnte mein Vorschlag beinhalten, dass jene Evaluation von einer Art ist, die uns nur prima facie (oder pro tanto) motiviert. Ich werde diese drei Möglichkeiten nun untersuchen.
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Der erste Lösungsansatz lautet genauer: Vielleicht macht die Überzeugung, dass ein Wunsch authentisch ist, uns denselben tatsächlich immer in gewissem Maße wertvoll. Andere Erwägungen können aber schwerer wiegen. Nun stimmt es sicher, dass unsere Motivationen meist sehr komplex sind. Aber was ich zu erklären habe ist nicht nur, wie uns etwas anderes noch wichtiger sein kann als Authentizität. Wie gesagt: Einer unserer eigenen Wünsche kann uns sogar besonders abstoßend erscheinen, wenn wir zugeben müssen, dass er authentisch ist. Dies muss mein Vorschlag zulassen. Wir müssen einen Wunsch, den wir als authentisch erkennen, von Grund auf ablehnen können. Zugleich bleibt es dabei, dass uns daran gelegen sein muss, authentische Wünsche zu verfolgen. Der zweite Lösungsvorschlag ist noch ungeeigneter. Er besagt, dass die Evaluation einfach selektiv sein könne. Es müsse uns nur in Bezug auf manche Wünsche wertvoll erscheinen, dass sie authentisch sind. Damit wären wir aber wieder bei einem simplen second-order-volitions-Modell angelangt. Eine Identifikation beruht dann nicht auf einer Orientierung an unserem Selbstbild, sondern nur auf dem selektiven Wunsch, sich in Bezug auf manche Einstellungen so zu orientieren. So ein Wunsch wäre genau so problematisch wie eine einfache Volition. Wir müssten fragen, was seine Autorität ausmacht, und wieso eine so willkürliche Auswahl die Wünsche, die sie betrifft, als autonom qualifizieren sollte. Eine adäquate Theorie kommt also nicht umhin, eine generelle positive Evaluation als notwendig anzusehen. Was uns an authentischen Wünschen wichtig sein muss, ist eben, dass sie authentisch sind. Mit einer willkürlichen Auswahl bestimmter authentischer Wünsche ist dies unverträglich. Eine befriedigende Lösung ergibt sich erst aus der dritten der oben skizzierten Erwägungen. Wir müssen die Evaluation, auf die meine Definition Bezug nehmen soll, so auffassen, dass sie eine prima facieQualifikation beinhaltet. Der Terminus „prima facie“ ist wahrscheinlich schon zu gebräuchlich, als dass man extra darauf hinweisen müsste, aber sicher ist sicher: „Prima facie“ heißt hier nicht „nur auf den ersten Blick“. Vielmehr wird er in dem von W. D. Ross (1930, 19 ff) geprägten Sinne verwendet. In diesem Sinne drückt er – grob gesagt – dies aus: Etwas gilt prima facie, wenn es nur dann nicht gilt, wenn kontingente und spezielle Bedingungen vorliegen, die die Geltung suspendieren. Bevor jedoch das Vorliegen solcher Bedingungen festgestellt wird, ist eine Präsumtion in Kraft, dass die Geltung nicht dergestalt suspendiert ist. Wertungen mit Qualifikationen dieser Art sind nicht ungewöhnlich: Ich mag z. B. wünschen, mir in meinem Auftreten etwas vom antiautoritären Geist aus meiner Jugend zu bewahren – außer in Fällen, in denen dies jemanden unnötig schwer verletzt, oder in Fällen, in denen dies mir oder jemand anderem ohne Not eine wichtige Chance vereitelt usw.
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Ebenso mögen Paul und Paula es wichtig finden, ihre Beziehung zu retten – es sei denn, es erfordert zu große Opfer, oder ihre Gefühle sind endgültig erloschen usw. Dabei gilt freilich für fast alle unsere Wertungen und Wünsche, dass es Umstände gibt, unter denen wir von ihnen ablassen würden. Der Witz an den speziellen Qualifikationen, um die es hier geht, ist eben, dass bestimmte Bedingungen erforderlich sind, um unsere Wertung in einem bestimmten Kontext vorübergehend zu suspendieren. Dabei ist unsere praktische Haltung gegenüber neuen Kontexten prinzipiell von der Präsumtion geprägt, dass keine suspendierenden Umstände vorliegen. Wenn also eine Wertung eine solche default-Geltung hat, werde ich sagen, sie sei eine prima facie-Evaluation. (Zumindest in Bezug auf den Wunsch, der Teil dieser Evaluation sein soll, ist dabei eine logische Ambiguität zu bereinigen: Die prima facie-Qualifikation sollte innerhalb des Skopus des intentionalen Operators stehen. Ein Subjekt mit einer positiven prima facie-Evaluation bezüglich p sollte nicht nur prima facie wünschen, dass p der Fall sein soll. Es sollte, so scheint mir, den uneingeschränkten Wunsch haben, dass prima facie p der Fall sein soll.) Mein Vorschlag besagt nun also, dass eine Identifikation partiell durch eine solche prima facie-Evaluation motiviert ist. Ich will noch einmal auf den Unterschied zum ersten Lösungsvorschlag hinweisen: Es geht hier nicht nur um die These, dass für uns mitunter etwas anderes noch wertvoller sein kann als Authentizität. Ein Gegenstand einer prima facieWertung verliert unter suspendierenden Bedingungen allen Wert für uns. Allerdings stellt sich noch ein letztes Problem, bevor ich die Theorie endgültig formuliere: Indem ich die besagte prima facie-Evaluation zum Teil der Theorie mache, führe ich letztlich ein sehr spezifisches psychologisches Element in die Theorie der Autonomie ein. Ich werde behaupten müssen, dass jemand nur dann autonom ist, wenn er sehr spezielle Dinge wertvoll findet. Ist so eine substantielle Forderung aber plausibel? Um es kurz zu machen: Ja. Autonomie ist ein Gut, das durch unser eigenes Desinteresse nicht minder gefährdet ist als durch Gewalt, Manipulation oder inneren Zwang. Wenn es uns gleichgültig ist, ob unsere Wünsche unserem Selbstverständnis entsprechen, und wenn wir uns niemals auch nur implizit die Frage der jungen Frau stellen, so geben wir dieses Gut preis. Eine bestimmte Form der Gleichgültigkeit uns selbst gegenüber ist eine Form von Unfreiheit. (Dabei ist mit „Gleichgültigkeit uns selbst gegenüber“ nicht Selbstlosigkeit gemeint. Auch Selbstlosigkeit ist nur dann autonom, wenn uns die Frage, ob sie wirklich das ist, was wir wollen, nicht gleichgültig ist.) Daher ist die spezielle psychologische Bedingung der Autonomie, die aus meiner Theorie folgt, sogar sehr plausibel. Ich betrachte dies als einen weiteren Aspekt, der für letztere spricht. Hier kommt nun tatsächlich die endgültige Version der Theorie:
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Theorie der Identifikation: Ein Akteur A identifiziert sich genau dann mit einer Einstellung ψ, wenn gilt: (1) A hat eine Volition v bezüglich ψ, und (2) ein essentieller Teil der motivationalen Gründe As für v besteht in der Überzeugung As, dass ψ authentisch ist, und in As positiver prima facie-Evaluation dazu, seine authentischen Wünsche zu verfolgen. Wer sich mit einer Einstellung identifiziert, der orientiert sich an Überzeugungen darüber, ob sie authentisch ist. Alltagssprachlich gesagt: Wer sich mit etwas identifiziert, der findet, dass es ihm entspricht. Im weiteren Verlauf dieses Teils der Arbeit werde ich genau darlegen, was die Wahrheitsbedingungen solcher Überzeugungen sind. Es wird sich herausstellen, dass ein wichtiger Teil dieser Wahrheitsbedingungen biographischer Art ist. Authentisch ist ein Wunsch nur im Rahmen einer bestimmten Lebensgeschichte. Und das heißt: Wenn wir uns mit etwas identifizieren, orientieren wir uns an Überzeugungen über unsere eigene Geschichte. Ich werde explizieren, was genau wir dabei über unsere Geschichte glauben müssen, und ich werde zeigen, dass aus diesen biographischen Überzeugungen Rechtfertigungsbedingungen für Identifikationen folgen. Auf diesem Wege wird sich ein wichtiger Teil meiner These begründen lassen: Es ist eine begrifflich geltende Norm für Personen, dass Personen sich mit bestimmten Wünschen identifizieren. Und solche Identifikationen sind nur dann gerechtfertigt, wenn auch bestimmte Überzeugungen über die eigene Geschichte gerechtfertigt sind. Zunächst einmal ist jedoch zu zeigen, dass Identifikationen in der Tat notwendige Bedingungen für Autonomie sind. Nur so lässt sich ja plausibel machen, dass es jene begrifflich geltende Norm für Personen gibt.
§ 11. Identifikation und Autonomie Ich habe eben einen Vorschlag zur Theorie der Identifikation vorgelegt. Nun geht es darum, ihn zu rechtfertigen. Einiges ist in dieser Hinsicht bereits geleistet: Ich habe dafür argumentiert, dass die Theorie eine natürliche Beschreibung bestimmter alltäglicher Erfahrungen ermöglicht. Dies liegt daran, dass sie Identifikationen als komplexe Einstellungen mit praktischen und kognitiven Aspekten beschreibt. Identifikationen führen nicht einfach herbei, dass etwas unser wirklicher Wille ist. Vielmehr sind sie in einem schwächeren Sinne auch sensitiv dafür, was wir wirklich wollen. Gerade dieser letzte Aspekt ist in bisherigen Ansätzen nicht berücksichtigt
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worden. So blieb ein wichtiger Umstand unverständlich: Wir können herausfinden, was wir wirklich wollen. Dennoch bleibt nachzuweisen, dass Identifikationen, wie ich sie beschreibe, tatsächlich eine wichtige Rolle in der Theorie der Autonomie spielen. Es wäre ja durchaus möglich, dass dort der weniger anspruchsvolle Begriff der Volition alles ist, was nötig ist. Kann ich also plausibel machen, dass ‚meine’ Identifikationen notwendige Bedingungen für Autonomie sind? Ich werde es im Folgenden versuchen. Dazu werde ich mein Beweisziel allerdings in zwei Teile teilen müssen. Der erste Teil besteht in der These, dass Authentizität selbst eine notwendige Bedingung für Autonomie ist. Dieser Teil meines Beweisziels wird erst im späteren Verlauf dieses Kapitels eingelöst. Hier muss er vorerst eine unbewiesene Voraussetzung bleiben, zu der ich freilich gleich noch einige plausibilisierende Anmerkungen machen werde. Der Teil des Beweisziels, den ich hier erreichen will, ist der zweite. Er besteht in der Antwort auf die Frage: Gesetzt, dass Authentizität notwendig für Autonomie ist – warum sollen auch die epistemischen und reflexiven Aspekte einer Identifikation notwendig sein? Reicht es denn nicht, wenn ein Akteur aus Motiven handelt, die faktisch authentisch sind? Warum soll er außerdem Überzeugungen und Evaluationen über die Authentizität seiner Motive vertreten? Dieser Aspekt einer Orientierung an Fragen der Authentizität ist der wesentliche Unterschied zwischen Frankfurts Volitionen und meinen Identifikationen. Daher erscheint es richtig, ihn besonders zu prüfen. Zunächst jedoch zur angekündigten Voraussetzung. Ich werde in der folgenden Argumentation voraussetzen, dass ein Akteur nur dann autonom bezüglich eines Wunsches ist, wenn dieser authentisch ist. Diese Voraussetzung wird sich im weiteren Verlauf des Kapitels bestätigen; hier muss sie jedoch irritierend wirken. Daher sind einige Worte angebracht.30 Es wird sich in den folgenden Abschnitten zeigen, dass Authentizität keine von Autonomie vollständig distinkte Eigenschaft ist. Vielmehr sind die Bedingungen der Authentizität, die ich formuliere, eine echte Teilmenge der notwendigen Bedingungen für Autonomie. Authentizität ist sozusagen ein Schritt auf dem Weg zur Autonomie. (Dass Authentizität für Autonomie freilich nicht hinreicht, habe ich bereits betont.) In der Tat
_____________ 30 Ich will dem Eindruck vorbeugen, dass diese Annahme mein folgendes Argument in irgendeiner Weise zirkulär macht. Identifikation und Authentizität sind vollständig unabhängig – nichts von beidem ist notwendig oder hinreichend für das jeweils andere. Das sollten die bisherigen Ausführungen hinreichend deutlich gemacht haben. (Speziell gilt: Was für eine Identifikation notwendig ist, sind Überzeugungen über Authentizität – von wahren Überzeugungen war aber nicht die Rede.) Da aber beide Bedingungen dergestalt unabhängig sind, kann die Annahme, dass eine von ihnen notwendig für Autonomie ist, den Beweis, dass es die andere ist, nicht zirkulär machen.
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sind die Bedingungen, die ich unten für Authentizität formuliere, von anderen Autoren überzeugend als Bedingungen der Autonomie dargestellt worden, und ich berufe mich auf ihre Darstellungen. (Es handelt sich, wie bereits angedeutet, um eine synchrone Bedingung der Kohärenz und um eine diachrone, biographische Bedingung.) Sie wurden von ihren Vertretern also gerade so konzipiert, dass sie Fälle ausschließen, die keine Autonomie instantiieren. Beispielsweise wird meine Konzeption einen Berufswunsch als nicht authentisch qualifizieren, den jemand hat, weil seine Eltern es so wollen und weil er ihre Vorstellungen gedankenlos akzeptiert. Von so jemandem würden wir nicht sagen, dass diese Berufswahl das ist, was er authentischer Weise will. Und a fortiori würden wir den Akteur nicht im anspruchsvollen Sinne als selbstbestimmt beurteilen. Vielmehr ist er unmündig und verfolgt keinen Willen, der als sein eigener gelten kann. Authentizität umfasst also eine echte Teilmenge der Bedingungen für Autonomie – und zwar die Bedingungen, nach denen Akteure fragen, wenn sie fragen, was sie wirklich wollen. Um auch dies vorläufig zu plausibilisieren, kann man sich der jungen Frau aus § 7 entsinnen: Wenn sie sich fragt, ob sie wirklich heiraten will, dann versucht sie, ihr Handeln nicht von Motiven mit bestimmten Mängeln bestimmen zu lassen. Sie will z. B. nicht bloßen Anwandlungen und dem Drang momentaner Affekte nachgeben. Ebenso will sie Motive ausschließen, die in bestimmter Weise auf ihre soziale Mitwelt zurückgehen: Sie will nicht nur heiraten, weil ihre Eltern es erwarten. Motive solcher Art, die die junge Frau nicht als ihren wirklichen Willen ansehen würde, sind dabei offensichtlich solche, die auch nicht zu Motiven autonomen Handelns taugen würden. Hier wird deutlich, dass die Frage nach dem eigenen, authentischen Willen und das Streben nach Selbstbestimmung keine unabhängigen Anliegen sind. Es ist Teil des Begriffs der Selbstbestimmung, dass das effektive Motiv in einem speziellen Sinne das eigene ist. Diese Verbindung findet schon in unserer Alltagssprache Ausdruck: Von jemandem, der autonom handelt, sagen wir, er verfolge den eigenen Willen. Diese idiomatische Wendung schließt das Merkmal der Authentizität – dass der Wille eben in speziellem Sinne der eigene ist – ein. Ein solcher Beleg aus der Alltagssprache allein wäre kein starker Grund; aber in Konjunktion mit den vorhergehenden Erwägungen stützt er meine Annahme ausreichend.31
_____________ 31 Ein nahe liegender Einwand lautet jedoch: Kann man nicht autonomer Weise entscheiden, ein nicht-authentisches Motiv zu verfolgen? Dieser Eindruck trügt; er beruht auf einer zu einfachen Vorstellung von Authentizität. Es wird sich zeigen, dass es eine komplexe Menge von Bedingungen gibt, die für Authentizität ausschlaggebend sind. Keineswegs ist also nur das authentisch, was Smith und Sayre-McCord (s. o.) diachron robust nennen. Ein authentischer Wunsch muss kein lange gehegter Kinder-
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Akzeptieren wir also vorerst, dass Authentizität notwendig für Autonomie ist. Nun ist es mein Anliegen, zu zeigen, dass das Spezifikum einer Identifikation ebenfalls notwendig für Autonomie ist. Wir sind nur dann autonom, wenn wir uns in Form von Überzeugungen und Wertungen daran orientieren, ob unser Motiv das ist, was wir wirklich wollen. Die These, für die ich nun argumentiere, lautet also: Wenn Authentizität notwendig ist, ist es auch eine Orientierung an Authentizität. Ich gehe dabei so vor: Ich skizziere Fälle, in denen Akteure ungezwungenermaßen Volitionen bezüglich bestimmter Motive ausbilden. Diese Motive sind dabei authentisch, und dennoch qualifizieren wir die Akteure nicht als autonom. Dann werde ich in zwei Schritten argumentieren: Erstens mache ich plausibel, dass der Mangel an Autonomie in den Beispielen darauf zurückgeht, dass es einen Mangel an Sensitivität für Authentizität gibt. Wir verlangen also nicht nur, dass autonome Akteure Motive verfolgen, die authentisch sind. Wir verlangen, dass sie sie verfolgen, weil sie authentisch sind. Zweitens werde ich zeigen, dass es nur eine Möglichkeit gibt, diese Sensitivität so zu implementieren, dass sie mit Autonomie kompatibel ist: Sie muss durch die kognitiven und evaluativen Kapazitäten des Akteurs implementiert werden. Kurz: Wir verlangen, dass autonome Akteure Motive verfolgen, weil sie erkennen, dass sie authentisch sind. Dies habe ich als das definierende Merkmal von Identifikationen dargestellt. Ich beginne informal mit folgender Beobachtung: Es sind Fälle vorstellbar, in denen jemand z. B. aus Konformismus etwas zu tun beschließt, das er wirklich will. Angenommen, ein Akteur sei extrem konformistisch. Er würde sich niemals erlauben, irgendetwas zu tun, das seine Nachbarn nicht auch tun. (Vielleicht können wir uns Akteure vorstellen, die gerade in der Konformität ihr authentisches Lebensziel haben. Aber es gibt sicher auch Fälle, in denen Konformismus nicht selbst wiederum eine selbstbestimmte Lebensform ist, sondern deren Gegenteil. Um so einen Fall soll es sich hier handeln.) Wie es der Zufall nun aber will, hegt unser Protagonist einen Herzenswunsch, den er sich auch unter diesen Bedingungen erfüllen kann. Es trifft sich nämlich, dass dieser Herzenswunsch etwas betrifft, das in seiner Nachbarschaft geradezu zum guten Ton gehört. Durch dieses günstige Geschick beschließt der Akteur also aus purem Konformismus ein Motiv zu verfolgen, das faktisch ein authentisches ist. Unser intuitives Urteil über diesen Fall ist wohl eindeutig: Dieser Akteur ist nicht autonom. Er hat zwar eine Volition bezüglich eines Motivs, und dieses Motiv ist sein wirklicher Wunsch. Aber das ist pures Glück:
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traum oder ein durchdachter Plan sein. Er kann uns gerade zum ersten Mal in den Sinn kommen und dennoch authentisch sein. Genaueres hierzu folgt, wie gesagt.
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Nur der Zufall hat dazu geführt, dass das, was sein Konformismus gebietet, mit dem koinzidiert, was er wirklich will. Hätten seine Nachbarn andere Gepflogenheiten, hätte er seinem Herzenswunsch zuwidergehandelt. Umgekehrt hätte er genauso gehandelt, wenn dies nicht dem Herzenswunsch entspräche. Ich werde behaupten, dass das, was im Falle dieses Akteurs fehlt, eine bestimmte kontrafaktische Sensitivität ist. Nicht nur muss er zu tun beschließen, was er wirklich will. Ferner müssen kontrafaktische Konditionale folgender Art auf ihn zutreffen: (1) Wenn sein Motiv nicht authentisch gewesen wäre, hätte er keine entsprechende Volition gehabt. (2) Auch unter allen hinreichend ähnlichen Bedingungen, in denen sein Motiv authentisch gewesen wäre, hätte er die entsprechende Volition gehabt. Dem Leser werden Konditionale dieser Art vielleicht aus R. Nozicks tracking-account des Wissens (vgl. Nozick 1981, 172 ff) bekannt vorkommen. Bei Nozick sollen Sätze dieser Art die Bedingung ausdrücken, dass eine Überzeugung nicht nur zufällig mit der Wahrheit übereinstimmen darf, wenn sie Wissen darstellen soll. In ganz ähnlicher Weise geht es mir hier darum, Fälle der obigen Art auszuschließen. Es reicht nicht aus, dass jemand aus reinem Konformismus zufällig dazu gelangt, etwas zu tun, das seinem authentischen Willen entspricht. Vielmehr muss seine Volition etwas damit zu tun haben, dass der Wunsch authentisch ist. Dazu muss gelten, dass dessen Authentizität in irgendeiner Form bestimmend für die Volition ist. Es muss gelten, dass die Volition wohl nicht ausgebildet worden wäre, wenn diese Authentizität nicht gegeben gewesen wäre, usw. Aber dieses eine Beispiel zeigt natürlich noch nicht, dass es wirklich eine solche Sensitivitätsbedingung gibt, wie die Konditionale (1) und (2) sie formulieren. Unsere Intuitionen könnten vielmehr nur darauf beruhen, dass Konformismus keine geeignete Grundlage für autonome Entscheidungen ist. Das Problem könnte also nicht in der fehlenden Sensitivität liegen, sondern in dem speziellen Grund für deren Fehlen. Daher verfahre ich nun etwas weniger informal. Man betrachte einen Akteur S in einer Entscheidungssituation. Wir können annehmen, dass diese Situation zunächst durch ihre entscheidungstheoretisch relevanten Merkmale spezifiziert ist (also durch eine Menge von Handlungsalternativen mit ihren möglichen Ausgängen, sowie deren subjektiven Wahrscheinlichkeiten und subjektiven Nutzenwerten). Nehmen wir weiter an, genau eine der Handlungsalternativen sei eindeutig Gegenstand der authentischen Wünsche As. Nehmen wir schließlich an, S wähle diese Alternative,
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aber die skizzierte Sensitivität liege nicht vor. Die entsprechenden Äquivalente zu (1) und (2) seien also falsch. Genauer: Sei h eine Handlungsalternative, A ein einstelliges Prädikat (zu lesen als „entspricht einem authentischen Wunsch“), und V ein zweistelliges Prädikat (wobei „V(S,h)“ ausdrückt, dass S eine Volition bezüglich h hat32). Sei „→“ das Satzkonnektiv für kontrafaktische Konditionale (wie z. B. in Lewis 1973). Dann soll also gelten: (0) (1*) (2*)
Ah & V(S,h) ¬ (¬Ah → ¬V(S,h)) ¬ (Ah → V(S,h))33
Der Akteur S hat also eine Volition bezüglich einer authentischen Handlungsalternative. Aber es gibt einen klaren Sinn, in dem seine Volition nichts mit der Authentizität derselben zu tun hat. S hätte genauso gewählt, wenn h nicht seinem authentischen Wunsch entsprochen hätte. Soweit ist alles bekannt. Es gilt jedoch weiter: Wir können davon ausgehen, dass es Bedinungen gab, die hinreichend dafür waren, dass S seine Volition bezüglich (seines Wunsches bezüglich) h ausgebildet hat. Was dazu geführt hat, dass S diese Volition hat, mag u. a. eine attraktive Eigenschaft oder Konsequenz von h sein; oder h war die psychologisch hervorstechende Alternative; oder S hat eine Münze geworfen; oder was immer. Sofern die Volition von S nun nicht in irgendeiner Weise überdeterminiert war (diese Möglichkeit dürfen wir getrost als ungewöhnlich betrachten und deshalb hier ignorieren), können wir davon ausgehen, dass für diese hinreichenden Bedingungen gilt: Hätten sie nicht stattgefunden, hätte es auch die Volition bezüglich h nicht gegeben. Ebenso dürfen wir aus dem Umstand, dass es sich um eine Menge von gemeinsam hinreichenden Bedingungen handelt, schließen: Auch unter anderweitig leicht veränderten Umständen hätten sie zur Ausbildung jener Volition geführt. Sei also P die Proposition, dass diese hinreichenden Bedingungen bestehen. Dann gilt für die Faktoren, die P spezifiziert, wie eben gesagt: (1**) (2**)
¬P → ¬V(S,h) P → V(S,h)
_____________ 32 Das bedeutet ausführlicher: S hat eine Volition bezüglich eines Wunsches, h zu tun. 33 Es ist zu berücksichtigen, dass (2) die von Nozick spezifizierte Lesart verlangt. Ein kontrafaktisches Konditional in Nozicks Lesart impliziert weder die Falschheit seines Antezedens, noch ist die Wahrheit des Antezedens und des Konsequens in der aktualen Welt hinreichend für die Wahrheit jenes Konditionals. Für die ausführliche Begründung Nozicks vgl. die lange Fußnote 8 auf S. 680 f in Nozick 1981.
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Nun folgt aber aus (1*), (2*), (1**) und (2**): Was immer die Bedingungen in P sind, die dazu geführt haben, dass S jene Volition hat, sie sind logisch unabhängig von der Authentizität des zugrunde liegenden Wunsches. Sonst ergäbe sich ein Widerspruch aus (1*), (2*), (1**) und (2**). Und das bedeutet folgendes: Die Entscheidung von S darüber, welches Motiv er verfolgt, ist vollständig von Faktoren bestimmt, die sie ebenso bestimmt hätten, wenn h nicht authentisch wäre. Wären diese Faktoren variiert worden, hätte S keine Volition bezüglich seines authentischen Wunsches gehabt. Umgekehrt hätten die Faktoren ebenso zu dieser Volition geführt, wenn der Wunsch nicht authentisch gewesen wäre. Hiermit haben wir also ein formales Gerüst für Fälle konstruiert, in denen es in einem präzisen Sinne Glück ist, dass die Volitionen eines Akteurs seine authentischen Wünsche herausgreifen. Zugleich wird unser Urteil nicht durch materiale Annahmen (wie etwa die des Konformismus) beeinflusst. Erweist es sich nun also wirklich als ein Problem, dass die Sensitivität der Volitionen für die Authentizität von Wünschen fehlt? Mir scheint, dass wir S in diesem Falle nicht als jemanden ansehen würden, der selbstbestimmt dem eigenen Willen folgt. Der Grund dafür liegt in unserer Vorstellung von Autonomie, die grob gesagt die Vorstellung einer Lenkung des eigenen Lebens im Lichte seiner wichtigsten Anliegen und Werte ist. Wer also autonom lebt und handelt, der gestaltet sein Leben selbst in einer Weise, die seinen zentralen Belangen und Wertvorstellungen entspricht. Daher ist es ihm anzurechnen oder sein Verdienst, wenn es ihm gelingt, in seinem Handeln dem eigenen Willen zu folgen. Mit dieser Vorstellung ist es nicht vereinbar, dass es dem Zufall überlassen war, dass S seinem eigenen Willen folgt. Es war ja eine Sache des Glücks, dass unabhängige Faktoren dazu geführt haben, dass S so handelt, wie es seinem eigenen Willen entspricht. Aus diesem Grunde ist dies nicht etwas, das S wirklich anzurechnen wäre; es ist kein Verdienst von S. Nun sind Anrechenbarkeit bzw. Verdienst einerseits und Glück andererseits nicht schlechthin inkompatibel. Erstens zeigen schon die Diskussionen um moralischen Zufall34, dass unsere Praxis der Zuschreibung von Verdienst und Verantwortung dem Zufall eine Rolle einräumt. Zweitens gebe ich ja Externalisten Recht, denen zufolge Autonomie prinzipiell von Faktoren abhängt, die von Leistungen des Subjekts unabhängig sind. Aber es ist zu berücksichtigen, dass hier spezielle Umstände vorliegen. Man betrachte Fälle moralischen Zufalls noch einmal genauer: Nicht immer, wenn jemand z. B. durch Zufall einen Unfall verursacht, ist er moralisch verantwortlich. In der einschlägigen Debatte ist nicht umsonst immer von geistesabwesenden, unaufmerksamen oder angetrunkenen Fahrern die Rede,
_____________ 34 Siehe dazu die berühmten Texte von Williams (1976) und Nagel (1976).
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die durch einen ungünstigen Zufall Unheil anrichten. Wenn einem vorbildlichen und umsichtigen Fahrer plötzlich und unvorhersehbar jemand vor den Wagen läuft, dann halten wir den Fahrer eher nicht für moralisch verantwortlich für die eventuell resultierende Tötung jener Person. Nicht unter allen Umständen sind Zufall und Pech also vereinbar mit moralischem Verdienst und moralischer Verantwortung. Vielmehr scheint es erforderlich zu sein, dass das Subjekt seinen Teil zu dem Ergebnis beisteuert. Sein Verhalten muss den Ausgang in gewissem Maße wahrscheinlicher machen. Es sind dann z. B. seine Unaufmerksamkeit und Nachlässigkeit, die aus dem Resultat mehr als ein Produkt von purem Zufall machen. Und nur ein solcher purer Zufall wäre unvereinbar mit moralischem Verdienst. In dem Beispiel, das wir hier betrachtet haben, verhielt es sich nun aber nicht so, dass das Subjekt S sein Möglichstes getan hätte, um seinen wirklichen Willen zu verfolgen, und dass es dann ein Stück weit dem Zufall überlassen blieb, dass dies auch gelingt. Verhielte es sich so, hätten wir das Ergebnis, obschon es z. T. eine Frage des Glücks war, ohne weiteres S als Verdienst anrechnen können. Wir hätten also sagen können, dass es S selbst war, der seinen eigenen Willen verfolgt hat. Stattdessen gilt hier aber: Die Überlegung und Entscheidung des Akteurs selbst lassen es bereits wie einen Zufall erscheinen, dass er tut, was er wirklich will. S hat seine Volition von Erwägungen abhängig gemacht, die aus purem Zufall mit dem koinzidieren, was faktisch dem eigenen Willen entspricht. In diesem Sinne ist ihm dieser Erfolg in den sprichwörtlichen Schoß gefallen; S könnte im Rückblick also regelrecht überrascht sein und erfreut feststellen, dass er etwas getan hat, das er wirklich wollte. Glück dieser speziellen Art ist in der Tat schwer verträglich mit unserer Vorstellung von Autonomie. Es ist purer Zufall, und nicht nur eine Frage der Abhängigkeit von zusätzlichen kontingenten Erfolgsbedingungen, dass S tut, was er wirklich will. Purer Zufall jedoch ist in der Tat unverträglich damit, dies als ein Verdienst anzurechnen, und damit ist er auch mit unserer intuitiven Alltagsvorstellung von Autonomie unvereinbar. Die Bedingung der Sensitivität, wie sie in Konditionalen der Form von (1) und (2) ausgedrückt wird, stellt sicher, dass kein solcher Zufall im Spiel ist. Wenn Konditionale dieser Art auf S und seine Volitionen zutreffen, gilt: Welche Erwägungen S auch in der Ausbildung seiner Volition geleitet haben, sie haben sichergestellt, dass seine Volition zuverlässig den eigenen Willen herausgreift. Sie haben dazu beigetragen, dass seine Volition diesen eigenen Willen auch unter ähnlichen Bedingungen herausgegriffen hätte, und es hätte besonderer Zufälle bedurft, um dies zu verhindern. Ich schließe daher, dass es notwendig für Autonomie ist, dass unsere Volitionen sensitiv für die Authentizität unserer Wünsche sind. Wenn das binäre Satzkonnektiv „weil“ so interpretiert wird, dass es die Sensitivität
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ausdrückt, die Sätze wie (1) und (2) formulieren, kann man sagen: Autonome Akteure müssen nicht nur authentische Motive zu verfolgen beschließen. Sondern sie müssen dies tun, weil sie authentische Motive sind.35 Damit ist jedoch, wie angekündigt, erst einer von zwei Schritten getan. Von Überzeugungen über Authentizität und Evaluationen bezüglich derselben war keine Rede. Ich habe, so hoffe ich, plausibel gemacht, dass eine Sensitivität der beschriebenen Art erforderlich ist. Wie sie aber realisiert oder implementiert wird, ob etwa durch eine bewusste Orientierung des Akteurs an Fragen der Authentizität oder anders, ist noch offen. Dennoch ist der fehlende zweite Schritt leichter zu nehmen als der erste. Denn nennen wir den Mechanismus, der die fragliche Sensitivität im Falle von S implementiert, M. Dann gilt: Entweder ist M identisch mit den kognitiven und deliberativen Vermögen von S oder nicht. Angenommen, letzteres sei der Fall. Dann sorgt M zwar zuverlässig dafür, dass S das verfolgt, was er wirklich will. Aber die Erwägungen von S darüber, was er will und was er tun sollte, können ganz andere sein. In diesem Falle müssten wir uns S als jemanden vorstellen, dessen Handeln nicht von diesen eigenen Erwägungen bestimmt wird. Und das ist mit Autonomie ziemlich offenkundig unverträglich. Stattdessen müssen wir also annehmen, dass die Erwägungen, die S selbst anstellt, einen entscheidenden Teil des Mechanismus ausmachen. Dieser darf nicht unabhängig von den Überlegungen und Entscheidungen von S operieren, sonst steht die Zuschreibbarkeit der resultierenden Handlungen in Frage. Und wenn die kognitiven und deliberativen Kapazitäten von S zugleich relevant sein sollen und die gesuchte Sensitivität implementieren sollen – dann sehe ich keine andere plausible Möglichkeit als die, dass es in den Erwägungen von S partiell um die Authentizität seiner Wünsche geht. Sonst bliebe nur die schlechte Alternative, dass diese Erwägungen entweder doch nicht ausschlaggebend sind und von anderen Mechanismen unterlaufen werden, oder dass keine Sensitivität vorliegt. Damit endet meine Argumentation dafür, dass die Identifikation mit einem Wunsch notwendig für die Autonomie bezüglich dieses Wunsches ist. Nur dann, wenn ein Akteur sich in seinen Volitionen daran orientiert, was er wirklich will, wird die erforderliche Sensitivität für Authentizität in der richtigen Weise implementiert. Das aber, was der Vordersatz des letzten Satzes ausdrückt, ist meiner Theorie zufolge eine Identifikation.
_____________ 35 Die Semantik von „weil“ ist freilich eine komplizierte Angelegenheit; vgl. z. B. die Bemerkungen in Schnieders (2005). Meine Stipulation fängt höchstens einen Teil der Bedeutung von „weil“ ein.
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Ich gebe diesem Ergebnis abschließend die folgende offizielle Formulierung: Autonomie und Identifikation Es ist nur dann der Fall, dass ein Akteur A autonom in Bezug auf seine Einstellung ψ ist, wenn A sich mit ψ identifiziert. Ein autonomer Wille erfordert also Identifikationen, und damit auch Überzeugungen über die Authentizität der eigenen Wünsche. Ich habe behauptet, dass Autonomie eine begrifflich geltende Norm für Personen ist. Nun folgt, wie ich ebenfalls behauptet habe: Auch die Identifikation mit manchen Motiven und die Orientierung an deren Authentizität ist Teil der Normen, die wir mit dem Begriff „Person“ verbinden. Wenn wir jemanden eine Person nennen, erkennen wir an, dass sein Leben derlei beinhalten sollte. Der nächste Schritt meiner Argumentation besteht darin, die Rolle von Überzeugungen über Authentizität in Identifikationen genauer zu untersuchen. Dabei wird sich zeigen: Die Rechtfertigung einer Identifikation hängt von der Rechtfertigung der fraglichen Überzeugung ab. Eine Identifikation mit einem Wunsch ist also nur gerechtfertigt, wenn es gerechtfertigt ist, zu glauben, dass er authentisch ist. Diese Erkenntnis ist ein weiterer wichtiger Schritt zu meinem Argumentationsziel. Ich werde nämlich weiter nachweisen, dass Authentizität maßgeblich von biographischen Fakten abhängt. Es folgt das, was zu zeigen ist: Identifikationen sind nur gerechtfertigt, wenn Überzeugungen über bestimmte biographische Fakten gerechtfertigt sind. Einen Einwand möchte ich aber diskutieren, bevor ich zum nächsten Schritt übergehe: Ergibt sich nicht eine allzu intellektualistische Vorstellung von Autonomie aus meinen Ausführungen? Meine Theorie ist ja für kantianische Formeln geradezu prädestiniert: Was ich behauptet habe, ist sozusagen, dass Authentizität ein „Bestimmungsgrund“ unserer Volitionen sein müsse. Wir müssen nicht nur authentische Wünsche verfolgen wollen, sondern es „aus“ einer Anerkennung ihrer Authentizität tun.36 Ich gebe gerne zu, dass diese kantianischen Formulierungen genau treffen, worum es mir geht. Ich glaube dennoch nicht, dass ich deshalb auf eine intellektualistische Sicht verpflichtet bin. Es ist wichtig, meiner Theorie nicht einfach zu unterstellen, sie verlangte für jede Einstellung, von der sie spricht, eine bewusste Episode im Geist des Akteurs. Wenn man nämlich so hohe Forderungen unterstellt, werden auch viele andere Theorien praktischer Rationalität intellektualistisch aussehen, die es ge-
_____________ 36 Für den Ursprung dieser Formulierungen vgl. natürlich Kant (1785/1973).
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wöhnlich nicht tun. Man nehme etwa die These, Handlungsintentionen seien in Form von praktischen Schlüssen rekonstruierbar.37 Wer vollzieht schon in allem, was er tut, bewusst solche Schlüsse? Es wäre trotzdem verfehlt, dies der Theorie kritisch vorzuhalten. Sie will ja keine Bewusstseinsprotokolle intentionalen Handelns geben. Sie behauptet, dass den Elementen eines praktischen Schlusses implizite Motive und Überlegungen des Akteurs entsprechen, die sein Handeln motivieren. Wenn man ihn zu bewusster Reflexion anhielte und seine Motive transparent wären, würde er den Schluss in Umrissen reproduzieren. Das ist alles, was verlangt ist. Ähnliches gilt für meine These. Ich glaube zwar, dass Erwägungen darüber, ob wir etwas wirklich wollen, in unserem praktischen Überlegen alles andere als selten sind. Aber das schließt nicht aus, dass sie zumeist unbewusst und implizit bleiben. Ich glaube, dass uns diese Überlegungen meist erst dann bewusst werden, wenn sie fragwürdig werden. Unter diesen Einschränkungen aber bleibt die These sehr plausibel. Ohne sie ist es schwer, Folgendes zu erklären: Die Nachricht, dass einer unserer Wünsche manipuliert oder hypnotisch in uns induziert wurde, würde uns meistens fast automatisch von ihm entfremden. Man versetze sich in eine solche Situation. Zweifellos würde sich unser Verhältnis zum fraglichen Wunsch ändern. Nun mag man sagen, dass wir es eben nicht mögen, manipuliert zu werden. Und das ist sicher richtig. Aber das allein würde uns nur Grund dazu geben, die Manipulation zu beklagen. Es gäbe uns keinen Grund, von dem Motiv, das wir nun einmal haben, Abstand zu nehmen. Der Wunsch kann ja, salopp gesagt, nichts dafür. Warum also verändert jene Information unser Verhältnis zu diesem Wunsch? Mir scheint die beste Erklärung die zu sein, die meine Theorie gibt: Wir haben jenen Wunsch in der Überzeugung verfolgt, dass er in einem bestimmten Sinne unserer ist. Wenn diese Überzeugung zweifelhaft wird, wird es auch unsere Entscheidung für ihn. Auch wenn es also meist implizit bleibt, uns liegt daran, ob unsere Motive unsere eigenen sind. Dieser Wert der Authentizität teilt sich uns vor allem dann mit, wenn dieselbe gefährdet ist. Dann erkennen wir, wie wichtig uns Authentizität ist. Und wir erkennen, dass wir uns mit unseren Motiven identifizieren.
_____________ 37 Vgl. dazu Anscombe (1957), Davidson (1980a).
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§ 12. Identifikation und Rechtfertigung Meine These besagt nicht nur, dass es eine begrifflich geltende Norm für Personen ist, dass sie sich mit einigen ihrer Wünsche identifizieren. Sie besagt auch, dass Identifikationen bestimmte Rechtfertigungsbedingungen haben. Diese Bedingungen sollen Personen darauf festlegen, narrative Konzeptionen ihrer Geschichte zu haben. Ich argumentiere in diesem Abschnitt dafür, dass Identifikationen in der Tat Rechtfertigungsbedingungen haben. Die These dieses Abschnitts lautet genauer: Eine Identifikation mit einem Wunsch ist nur dann gerechtfertigt, wenn es gerechtfertigt ist, zu glauben, dass er authentisch ist. Meine Argumentation wird vor allem darauf abzielen, Bedenken gegenüber der Idee auszuräumen, Identifikationen hätten solche Rechtfertigungsbedingungen. Dass diese Bedingungen nämlich intuitiv zu gelten scheinen, ist leicht zu sehen. Die junge Frau aus § 7 würde es z. B. nicht gerechtfertigt finden, sich mit ihrem Heiratswunsch zu identifizieren, nur weil jemand im Kaffeesatz gelesen hat, dass dies ihr wirklicher Wunsch sei. Dies erschiene ihr nicht als hinreichende Rechtfertigung dafür, zu glauben, dass der Wunsch authentisch sei. Und weil dies so ist, würde sie auch eine Identifikation ungerechtfertigt finden. Es erschiene ihr unbegründet, auf dieser Grundlage einem Motiv einen Status zuzuschreiben und eine Rolle zu verleihen, die sie ihrem eigenen Willen vorbehalten will. Das Problem scheint mir also nicht so sehr darin zu bestehen, die Idee einer solchen Rechtfertigungsbedingung überhaupt zu motivieren. Das Problem sind eher theoretische Bedenken: Identifikationen sind zu einem wichtigen Teil praktische Einstellungen, die beteiligten Überzeugungen sind jedoch kognitiv. Für diese verschiedenen Kategorien von Einstellungen ist Rechtfertigung jedoch etwas sehr Unterschiedliches. Warum sollte es also den beschriebenen Zusammenhang geben? Sind praktische und theoretische Einstellungen nicht eigentlich, wie Hume sagt, distinct existences? Was ich im Folgenden tun werde, ist dies: Ich werde zeigen, dass wir im Falle ähnlicher Einstellungstypen keine Hemmungen haben, analoge Rechtfertigungsbedingungen zuzuschreiben. Und ich lege dar, dass es bei diesen Einstellungen zumindest intuitiv leicht verständlich ist, warum es diese Bedingungen der Rechtfertigung geben sollte. Schließlich wird deutlich werden, dass jene Einstellungen zumindest starke strukturelle Analogien zu Identifikationen aufweisen. Sie können also als Modell dienen. Das sollte hinreichen, um die besagten Bedenken zerstreuen. Nun ist zunächst nicht einzusehen, warum die Rechtfertigung praktischer Einstellungen sensitiv für die Rechtfertigung von Überzeugungen sein sollte, nur weil sie in irgendeinem Sinne auf diesen beruhen. Zwar hat
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sogar Hume38 dergleichen zugestanden; er hat eingeräumt, dass Wünsche irrational sein können, wenn sie auf falschen Überzeugungen beruhen. Aber ein prominenter Zeuge allein macht den Punkt nicht einsichtig. Tatsächlich sind hier wichtige Differenzierungen vorzunehmen. Es gibt nämlich sehr unterschiedliche Verknüpfungen zwischen praktischen Einstellungen und Überzeugungen. Und die These, die Rechtfertigung der ersteren hänge von der Rechtfertigung der letzteren ab, macht nur im Falle bestimmter Verknüpfungen Sinn. Zunächst kann eine Überzeugung eine rein kausale Rolle in der Genese z. B. eines Wunsches spielen. Beispielsweise kann die Überzeugung, dass mein Nachbar ein neues Auto hat, in mir den Wunsch erzeugen, mir auch eines zu kaufen. Wenn nun die initiale Überzeugung falsch oder ungerechtfertigt ist – macht dies auch den erzeugten Wunsch ungerechfertigt? Das ist wenig plausibel. Die Kriterien, die wir zur Beurteilung der Rechtfertigung des Wunsches haben mögen, berühren die Bedingungen der Rechtfertigung der Überzeugung gar nicht. Bessere Aussichten scheint es zu geben, wenn logische Beziehungen zwischen den fraglichen Einstellungen bestehen. Man mag (z. B. als Humeaner) leugnen, dass es solche Beziehungen zwischen praktischen und theoretischen Einstellungen gebe. Immerhin könnten Wünsche und Volitionen nicht wahr oder falsch sein, aber logische Beziehungen seien im Rückgriff auf Wahrheitsbedingungen definiert. Auch dann wird man aber zustimmen, dass praktische Einstellungen Propositionen zum Gehalt haben. Und Propositionen können wahr und falsch sein und logische Beziehungen unterhalten. Betrachtet man nun solche unkontroversen logischen Beziehungen zwischen propositionalen Gehalten, so ergibt sich zwar eine gewisse Sensitivität. Diese Sensitivität betrifft aber eher die Rationalität der praktischen Einstellungen in Abhängigkeit von der Rechtfertigung der Überzeugungen. Es geht weniger um die Rechtfertigung der ersteren. Ein Beispiel: Die Rationalität vieler Wünsche ist sensitiv für die Rechtfertigung von Überzeugungen, weil die Gehalte der letzteren semantische Präsuppositionen der Gehalte der ersteren sind.39 Wenn Paul etwa keinerlei Grund hat, anzunehmen, dass er ein Auto besitzt, dann wäre der Wunsch, sein Auto zu waschen, für ihn irrational. Aber das ist, wie gesagt, nicht die Art der Sensitivität, die wir suchen. Pauls Wunsch wäre weniger ungerechtfertigt als vielmehr verrückt oder sinnlos.
_____________ 38 Vgl. D. Hume (1740/1978), Treatise, Book II, Part III, Sect. III. 39 Dabei gilt: q ist eine semantische Präsupposition von p gdw. (p →q) ∧ (¬p →q). Vgl. auch die klassischen Ausführungen in P. F. Strawsons „On Referring“ (1950).
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Eine zweite Möglichkeit ist diese: Ein Wunsch ist eine Konklusion eines praktischen Schlusses, zu dessen Prämissen eine ungerechtfertigte Überzeugung gehört. Besteht dann die gesuchte Sensitivität der Rechtfertigung des Wunsches für die der Überzeugung? Wenn ich wünsche, viel Geld zu verdienen, und wenn ich glaube, ein Weg, dies zu tun, sei der Erwerb von Aktien der Firma XY, und wenn es für diese letztere Überzeugung aber gar keine rationalen Belege gibt – ist dann mein resultierender Wunsch, Aktien von XY zu kaufen, ungerechtfertigt? Vielleicht in einem gewissen Sinne. Noch immer erscheint die Rede von Rechtfertigung aber künstlich. In jedem Falle glaube ich aber, dass das Modell, nach dem sich Identifikationen verstehen lassen, nicht praktische Schlüsse sind. Das adäquate Modell erlaubt eine klarere Diagnose. Es gibt nämlich bestimmte Fälle, in denen die gesuchte Sensitivität eindeutig besteht. Dies sind Fälle, in denen die praktische Einstellung eine komplexe Einstellung ist, zu deren Konstituenten die Überzeugung zählt. Gute Beispiele solcher komplexen Einstellungen sind die, die wir z. B. mit den Prädikaten „x erkennt y als F an“ oder „x respektiert, dass y F ist“ oder „x würdigt, dass y F ist“ zuschreiben. Zuschreibungen dieser Einstellungen implizieren, dass das Subjekt Überzeugungen desselben Inhalts hat. Jemand, der nicht glaubt, dass XY ein wichtiger Vertreter des Impressionismus ist, der erkennt XY auch nicht als solchen an. (Natürlich kann er vorgeben, dies zu tun, und sich so verhalten.) Und wer nicht glaubt, dass Frauen ein Recht auf Selbstbestimmung haben, der kann auch nicht respektieren, dass sie dieses Recht haben. Es gibt dabei einen intuitiven Sinn, in dem die Überzeugungen Teil der jeweiligen Einstellungen sind. Es wäre nicht plausibel, Haltungen des Etwas-Respektierens oder des Etwas-als-etwas-Anerkennens als reine „ProEinstellungen“ anzusehen, wobei die fraglichen Überzeugungen nur notwendig dafür wären, dass jene Pro-Einstellungen Fälle des EtwasRespektierens oder des Etwas-als-etwas-Anerkennens sind. Dies impliziert nicht, dass die fraglichen Einstellungstypen erschöpfend in bestimmte logische Elemente zerlegbar wären. Und ebensowenig bedeutet es, dass sie in ontologischer Hinsicht als komplexe Entitäten aufzufassen sind. Der Umstand, dass Überzeugungen in einem intuitiven Sinne Teil dieser praktischen Einstellungen sind, macht Folgendes verständlich: Tokens dieser Einstellungen hängen in ihrer Rechtfertigung tatsächlich von der Rechtfertigung der „enthaltenen“ Überzeugungen ab. Wenn ich z. B. keine Belege dafür habe, dass XY auch nur einen Pinsel halten kann, ist es nicht gerechtfertigt, wenn ich ihn als wichtigen Vertreter des Impressionismus anerkenne. Ein weiteres Beispiel: Ein Freund hat sich länger nicht bei mir gemeldet, aber ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht liegt ihm nichts mehr an der Freundschaft, vielleicht ist er aber auch krank oder
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sehr beschäftigt. In diesem Falle ist es nicht gerechtfertigt, wenn ich in Zukunft respektiere, dass ihm nichts mehr an unserer Freundschaft liegt. Hier erscheint es nicht künstlich, zu sagen, die praktischen Einstellungen hingen in ihrer Rechtfertigung von der Rechtfertigung jener Überzeugungen ab. Und es gibt, wie angedeutet, eine prima facie einleuchtende Erklärung dafür. Sie lautet, dass wir die Überzeugungen eben als Teil der komplexen Einstellungen auffassen. Ein beliebiges x als F anzusehen oder zu erkennen ist für uns Teil dessen, was es heißt, x als F anzuerkennen. Und dies macht es intuitiv verständlich, warum wir dann, wenn ersteres ungerechtfertigt ist, auch letzteres als ungerechtfertigt ansehen. Ohne eine befriedigende Theorie solcher „komplexen“ Einstellungen und der Natur ihrer „Komplexität“ muss dies jedoch eine reine Beobachtung bleiben. Ich kann keine theoretische Erklärung dafür geben, dass die Rechtfertigungsbedingungen der „Komplexe“ mit denen ihrer Konstituenten identisch oder eine Funktion derselben sind. Nichtsdestoweniger scheint es klar, dass die fraglichen praktischen Einstellungen die gesuchte Sensitivität aufweisen. Sie geben daher zumindest ein Modell ab, mit dessen Hilfe wir Identifikationen verstehen können. Ohne Frage macht meine Theorie es plausibel, Identifikationen analog als komplexe Einstellungen mit doxastischen und praktischen Konstituenten anzusehen. Es wäre demnach Teil einer Identifikation, das, was man wirklich will, als das, was man wirklich will, zu erkennen. In Anbetracht der strukturellen Analogien ist es sogar natürlich, von einem Akteur, der sich mit einem Wunsch identifiziert, zu sagen, dass er denselben als seinen wirklichen Willen anerkennt. Schließlich erinnere ich daran, dass es mir weniger darum ging, nachzuweisen, dass Identifikationen jene Rechtfertigungsbedingung haben. Einfache Beispiele lassen dies ziemlich schnell einigermaßen unkontrovers aussehen. Mein Anliegen war es vor allem, theoretische Vorbehalte auszuräumen. Das ist nur insofern gelungen, als ich eine Klasse von Einstellungstypen identifiziert habe, für welche die gesuchten Bedingungen ziemlich eindeutig gelten. Und ich habe deutlich zu machen versucht, dass diese Einstellungen ein brauchbares Modell abgeben, mit dem sich auch Identifikationen verstehen lassen. In Anbetracht dessen formuliere ich also die folgende Rechtfertigungsbedingung für Identifikationen: Rechtfertigungsbedingung Identifikation: Es ist nur dann gerechtfertigt, dass ein Akteur A sich zu einem Zeitpunkt t mit seiner Einstellung ψ identifiziert, wenn die Überzeugung As, dass ψ authentisch ist, für A zu t gerechtfertigt ist.
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Mit der Plausibilisierung dieser Bedingung ist eine weitere wichtige Hürde genommen. In den folgenden Abschnitten lege ich dar, unter welchen Bedingungen Einstellungen authentisch sind. Damit wird erkennbar, was jemand glauben muss, der glaubt, eine Einstellung sei authentisch. Es wird sich, wie gesagt, zeigen, dass speziell einige anspruchsvolle biographische Bedingungen beteiligt sind. Im Anschluss wird sich Folgendes zeigen lassen: Es ist nur dann gerechtfertigt, zu glauben, dass eine Einstellung authentisch ist, wenn es gerechtfertigt ist, reichhaltige Überzeugungen über die Lebensgeschichte ihres Subjekts zu haben. Und ist dies gezeigt, so ist auch die These bestätigt, dass Identifikationen nur dann gerechtfertigt sind, wenn bestimmte biographische Überzeugungen gerechtfertigt sind. Diese Vorhaben werden den Rest dieses ersten Teils des Buches in Anspruch nehmen. In den weiteren Teilen geht es dann darum, zu zeigen, dass die fraglichen biographischen Überzeugungen narrativ sind. Bevor dies jedoch geschieht, möchte ich noch einige lose Enden aus der Diskussion um Bedingungen personaler Autonomie wieder aufnehmen. Speziell möchte ich zeigen, dass meine Theorie das explanatorische Defizit in Frankfurts Konzeption beheben kann. Dies kann nur in Form einer kurzen, skizzenhaften Überlegung geschehen. Aber wenn sich immerhin andeuten lässt, dass meine Theorie der Identifikation jene notorischen Probleme lösen kann, dann wäre dies ein weiterer klarer Hinweis auf die Korrektheit dieser Theorie. Zunächst möchte ich kurz skizzieren, dass es einige natürliche Weiterentwicklungen der präsentierten Theorie gibt, die ich vorschlagen würde, wenn ich eine volle Theorie der Autonomie vorlegen wollte. Ich habe bislang dargestellt, dass Identifikationen notwendig für Autonomie sind. Ebenso habe ich dargelegt, dass sie gerechtfertigt sein können. Nichts liegt also näher, als die Bedingungen für Autonomie wie folgt zu stärken: Es ist nur dann der Fall, dass ein Akteur A autonom in Bezug auf seine Einstellung ψ ist, wenn A sich mit ψ identifiziert, und wenn diese Identifikation gerechtfertigt ist. Diese stärkere Bedingung ist intuitiv leicht plausibel zu machen. Wenn die junge Frau eine Volition bezüglich ihres Heiratswunsches ausbildet, weil jemand im Kaffeesatz gelesen hat, dass dies ihr wirklicher Wille ist – dann ist sie schwerlich autonom. Vielmehr macht sie eine wichtige Entscheidung von einer fragwürdigen epistemischen Quelle abhängig. Unabhängig davon, ob sie wirklich heiraten will oder nicht: Dass sie ihre Entscheidung vom Kaffeesatz oder von anderen fragwürdigen Autoritäten bestimmen lässt, ist selbst etwas, das inkompatibel mit Selbstbestimmung ist.
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Des Weiteren habe ich schon angedeutet, dass Authentizität selbst notwendig für Autonomie ist. Es folgt: Ich würde behaupten, dass ein autonomer Akteur nicht nur gerechtfertigt glauben muss, dass ein bestimmtes Motiv authentisch ist. Schließlich muss diese Überzeugung auch wahr sein. Wiederum fällt die Plausibilisierung leicht: Wer etwas tut, das nicht seinem wirklichen Willen entspricht, weil er irreführende Belege hat, die ihm suggerieren, dass es sein wirklicher Wille ist, der ist nicht autonom. Die Täuschung, der er unterliegt, verstärkt diesen Eindruck noch. Die Theorie der Autonomie, die sich natürlicher Weise aus meinen Überlegungen ergibt, verlangt also Identifikationen auf Grundlage wahrer und gerechtfertigter Überzeugungen über die Authentizität unserer Motive. Ebenso natürlich wäre die Forderung nach Identifikationen auf Grundlage von Wissen. Nun behaupte ich: Das explanatorische Defizit in Frankfurts Theorie (sowie seine Anschlussprobleme) wird durch meine Theorie der Identifikation und ihre skizzierte Weiterentwicklung überwunden. Schon für bloße Identifikationen lässt sich erklären, was sie autonomieverleihend (siehe § 9) macht. Und für gerechtfertigte Identifikationen, die auf wahren Überzeugungen beruhen, gilt dies noch mehr. Zugleich gilt aber: Die Eigenschaften, die ihre autonomieverleihende Kraft erklären, sind weder identisch mit Autonomie, noch implizieren sie dieselbe. Daher gibt es weder einen infiniten Regress noch eine fatale Unvollständigkeit der Theorie. Schon für Identifikationen selbst ist verständlich, warum sie einen Unterschied zugunsten der Autonomie eines Akteurs machen. Wer sich mit einem Wunsch identifiziert, entscheidet nicht nur, ihn handlungswirksam werden zu lassen. Er tut dies, weil er ihn als den eigenen Wunsch anerkennt. Er verfügt über eine Konzeption seiner Persönlichkeit und seiner Geschichte, aus der sich ergibt, dass der Wunsch ein echtes Anliegen ist. Schon diese Haltung entspricht unserem intuitiven Begriff einer selbstbestimmten Verfolgung des eigenen Willens. Wenn jemand ernsthaft fragte, was der Umstand, dass ein Akteur fragt, was er wirklich will, um diesen wirklichen Willen zu verfolgen, mit Autonomie zu tun hat – dann hätten wir den Eindruck, dass er nicht weiß, was wir unter Autonomie verstehen. Für die Volitionen Frankfurts gilt dies jedoch nicht. Wie Watson deutlich macht, sind sie nur weitere Motivationen. Es gibt nichts, was sie unseren basalen konativen Einstellungen klarer Weise voraus hätten. Angenommen nun, die Überzeugung des Akteurs, sein Wunsch sei authentisch, sei zudem wahr und epistemisch gerechtfertigt. Dies trägt weiter dazu bei, das explanatorische Defizit zu beheben, denn die Faktoren, von denen die Wahrheit jener Überzeugungen abhängt, sind eben solche, die einen intuitiven Unterschied in der Frage der Autonomie machen. Wer seinen authentischen Willen korrekt als solchen erkennt und ihn aus diesem Grunde zu verwirklichen beschließt – der verfolgt eben seinen eigenen
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Willen. Erneut muss ich den Leser hier um Geduld bitten. Ich werde die Bedingungen der Authentizität einer Einstellung (und mithin die Wahrheitsbedingungen dieser Überzeugung) umgehend genau darstellen. Es sind jedoch hoffentlich bereits genügend Beispiele genannt worden, um einen vorläufigen Eindruck zu geben: Es geht um Faktoren wie eine nichtmanipulierte Genese, eine kohärente Rolle im Ganzen eines Charaktersystems, und – wie sich zeigen wird – weitere anspruchsvolle Bedingungen. Jedenfalls haben wir für gerechtfertigte Identifikationen, die auf wahren Überzeugungen beruhen, informative und befriedigende Antworten auf die Frage parat, was sie autonomieverleihend macht. Die relevanten Eigenschaften sind dabei nicht identisch mit der zu untersuchenden Eigenschaft der Autonomie selbst. Weder Authentizität, noch Wahrheit, noch epistemische Rechtfertigung sind identisch mit Autonomie oder implizieren dieselbe. Dies vermeidet die zwei Anschlussprobleme des explanatorischen Defizits. Es ist weder notwendig, weitere autonomieverleihende Einstellungen auf einer noch höheren Stufe zu bemühen. Noch muss man insgeheim eine zweite und unabhängige Theorie der Autonomie präsupponieren. Freilich könnte man beharren: „Angenommen es stimmt, und man kann die autonomieverleihende Kraft von Identifikationen erklären, ohne auf ihre Autonomie Bezug zu nehmen. Trotzdem ist es doch gewiss eine Voraussetzung, dass sie autonom sind. Wie könnten Identifikationen, die selbst nicht autonom sind, Autonomie verleihen?“ Dies ist ein Irrtum. Der bereits kurz erwähnte R. Noggle (2005) hat überzeugend argumentiert, dass die Forderung, die hier gestellt wird, ein regelrechter Fall von „superstition“ ist (ebda., 98). Wenn ein psychisches Element nur dann Autonomie verleihen könnte, wenn es selbst autonom ist – dann, so Noggle, wird es unmöglich, zu erklären, wie wir überhaupt autonom sein können. Sowohl phylogenetisch als auch ontogenetisch haben wir irgendwann einen autonomen Willen ausbilden müssen – und zwar aus Zutaten, die nicht schon autonom waren. Wenn der eben geäußerte Einwand haltbar wäre, dann gäbe es eine Bedingung der Autonomie, die wir nicht erfüllen können. Ich stimme Noggle zu, dass dies dafür spricht, dass es keine solche Bedingung gibt. Es gilt also nicht, dass etwas nur dann Autonomie verleihen kann, wenn es autonom ist. Ich behaupte nun weiter: Gerechtfertigte Identifikationen, die auf wahren Überzeugungen beruhen, können Autonomie verleihen, ohne autonom zu sein. Ich muss natürlich umgehend anfügen: Man kann Identifikationen erzwingen oder manipulieren. Und in diesem Falle sind sie nicht autonomieverleihend. Aber nicht jede Einstellung, die nicht im gesuchten Sinne autonom ist, ist gleich heteronom (s. § 8). Ebenso wenig ist eine Einstellung,
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die nicht manipuliert oder erzwungen ist, deshalb gleich autonom. Das bedeutet: Wir können ohne weiteres Bedingungen einführen, die sicherstellen, dass eine Identifikation nicht manipuliert oder erzwungen ist, ohne dass wir damit bereits implizieren würden, dass sie autonom ist. Solche Forderungen sind in der Tat in der Debatte geltend gemacht worden. G. Dworkin etwa formuliert für autonomieverleihende Identifikationen eine Bedingung prozeduraler Unabhängigkeit. Er spezifiziert sie wie folgt: Eine Identifikation, die prozedural unabhängig ist, „is not influenced in ways which make the process of identification in some way alien to the individual. Spelling out the conditions of procedural independence involves distinguishing those ways of influencing people’s reflective and critical capacities which subvert them from those which promote and improve them“ (Dworkin 1989, 61). Dies ist natürlich sehr vage. Aber mehr ist hier nicht erforderlich. Entscheidend ist, dass prozedurale Unabhängigkeit im Sinne Dworkins nicht Autonomie ist. Eine prozedural unabhängige Identifikation muss nicht autonom sein. Aber prozedurale Unabhängigkeit ist alles, was es braucht, damit Identifikationen Autonomie verleihen können. Volitionen einer noch höheren Stufe oder dergleichen sind nicht erforderlich. Wenn sich ein Akteur ohne Zwang und Manipulation an einem wahren und rational gerechtfertigten Verständnis seiner selbst orientiert, seinen wirklichen Willen korrekt identifiziert und diesen dann zu verfolgen beschließt – dann ist das alles, was er braucht, um autonom zu sein. Er muss sich nicht mit seiner Identifikation selbst identifizieren. In Anbetracht der intuitiv autonomieverleihenden Eigenschaften von Identifikationen müssen wir lediglich fordern, dass sie prozedural unabhängig sind. In dieser Weise enthält meine Theorie der Identifikation mindestens viel versprechende Anlagen dafür, die notorischen Probleme bestehender Theorien der Autonomie auf eine natürliche Weise zu lösen. Ich betrachte dies als zusätzliche Bestätigung der Theorie. Es ist nun meine Aufgabe, zu untersuchen, was die Rechtfertigungsbedingungen für Identifikationen beinhalten. Was muss der Fall sein, damit eine Einstellung authentisch ist? Und was müssen Personen also glauben, wenn sie glauben, dass eine bestimmte Einstellung authentisch ist? Ich werde darlegen, dass es verschiedene Bedingungen der Authentizität einer Einstellung gibt. Erstens gibt es eine synchrone Kohärenzbedingung, der zufolge eine Einstellung einer Person authentisch ist, wenn sie ein kohärenter Teil ihres Einstellungssystems ist. Zweitens werde ich zeigen, dass es auch diachrone Bedingungen gibt. Die Einstellungen einer Person sind nur authentisch, wenn mindestens einige von ihnen eine bestimmte Rolle in der Biographie der Person spielen. Wenn also eine Per-
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son gerechtfertigt glaubt, dass ein Wunsch authentisch ist, muss sie gerechtfertigt glauben, dass manche ihrer Einstellungen diese lebensgeschichtliche Rolle spielen. Damit wird dann das Beweisziel dieses ersten Teils des Buches erreicht sein. Ich werde gezeigt haben, dass Identifikationen uns auf bestimmte biographische Überzeugungen festlegen.
§ 13. Eine synchrone Bedingung der Authentizität: Kohärenz Es ist Teil eines selbstbestimmten personalen Lebens, dass Personen sich mit bestimmten Wünschen identifizieren; und es ist damit, so habe ich behauptet, zugleich auch ein Teil der normativen Status, die mit dem Begriff „Person“ semantisch verknüpft sind. Indem sich Personen nun dergestalt mit manchen Wünschen identifizieren, übernehmen sie bestimmte Rechtfertigungslasten. Der Teil dieser Rechtfertigungslasten, der für uns besonders entscheidend ist, wurde eben dargestellt: Eine Identifikation mit einer Einstellung ist nur gerechtfertigt, wenn es gerechtfertigt ist, zu glauben, dass diese Einstellung authentisch ist. Ich gehe nun der Frage nach, was der Fall sein muss, damit eine Einstellung authentisch ist, und was ein Subjekt daher glaubt, wenn es dies glaubt. Ein erster wichtiger Vorschlag stammt vor allem von L. W. Ekstrom (1993), findet sich aber mehr oder minder explizit an vielen Stellen, etwa bei R. Noggle (2005) oder in späteren Werken von H. Frankfurt.40 Die vorgeschlagene Bedingung der Authentizität ist dabei rein synchron. Sie besagt, kurz gefasst, dass ein Wunsch authentisch ist, wenn er ein kohärenter Teil des Systems der Einstellungen seines Subjekts ist. Ich werde diesen Vorschlag untersuchen und etwas genauer ausformulieren. Danach zeige ich jedoch, dass eine solche synchrone Bedingung in jedem Falle um eine diachrone ergänzt werden muss. Authentisch ist ein Wunsch nur im Rahmen einer bestimmten Lebensgeschichte. Zunächst jedoch zur synchronen Bedingung, die, wie wir sehen werden, in Bezug auf einzelne Einstellungen eines Subjekts entscheidend für Authentizität sein kann. Nicht alle Wünsche also, die wir als authentisch
_____________ 40 Auch G. Dworkin, der zweite der wichtigen Initiatoren der heutigen Debatte um Autonomie und Identifikation, äußert in neueren Arbeiten die Ansicht, dass Autonomie in letzter Instanz „a global rather than a local concept“ (Dworkin 1988, 15f) sei, dass es also der größere Zusammenhang der Einstellungen und Handlungen einer Person, letztlich sogar ihr ganzes Leben sei, an dem sie sich messen lasse. Dworkins Ausführungen zu diesem Punkt verbleiben jedoch, soweit ich weiß, bislang leider auf der Ebene solcher generellen statements.
§ 13. Eine synchrone Bedingung der Authentizität: Kohärenz
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beurteilen können, müssen eine bestimmte Rolle in unserer Geschichte spielen. Für hinreichend viele von ihnen muss es aber gelten. Eine wichtige Bemerkung vorab: Die Autoren, die ich hier bespreche, diskutieren Kohärenz als eine Bedingung der Autonomie. Ich selbst habe insistiert, dass Authentizität von Autonomie zu unterscheiden ist. Wieso sollten die Ausführungen jener Autoren also für mein Thema relevant sein? Zum ersten habe ich selbst die Ansicht vertreten, dass Authentizität eine notwendige Bedingung für Autonomie ist. Daher geht es hier gerade darum, deutlich zu machen, inwiefern bestimmte Bedingungen der Autonomie schon für Authentizität notwendig sind. Authentizität, so will ich eben zeigen, umfasst einen wichtigen Teil der Vorbedingungen für Autonomie. Insofern widerspricht mein Anliegen dem der diskutierten Autoren nicht. Zum zweiten konzipiere ich Authentizität als etwas, das insbesondere eine interne Rolle in autonomer Praxis spielt. Sie ist Gegenstand der Überzeugungen und Wertungen autonomer Akteure – etwas, woran sie sich orientieren. Dies entspricht durchaus den Ansichten vieler der fraglichen Autoren.41 Die Kohärenz unseres Wollens ist für sie Teil dessen, woran wir unsere wirklichen Wünsche erkennen. Aus diesem Grunde scheint mir sogar, dass mein Projekt mit dem jener Autoren koinzidiert. Ich lege lediglich besonderen Wert darauf, ihre Bedingungen auch in ihrer internen Rolle zu darzustellen. Dies unternehme ich eben, indem ich sie als Teil der Bedingungen ausweise, die qua Authentizität auch jene orientierende Rolle spielen. Nun jedoch tatsächlich zur ersten Bedingung der Authentizität. H. Frankfurt selbst war schnell unbefriedigt mit seiner früheren Theorie der Identifikation; in späteren Texten (z. B. 1988c, 173 ff) hat er zugestanden, dass nicht jeder Willensakt zweiter Ordnung eine Identifikation und autonomieverleihend sei. Es zeichne Identifikationen aus, wholehearted zu sein oder, wie man im Deutschen sagen würde, von ganzem Herzen vollzogen zu werden. Das bedeutet, so Frankfurt, dass Identifikationen sich daran orientieren, ob ein Wunsch mit den anderen Einstellungen der Person einen stimmigen Zusammenhang bildet. Frankfurt charakterisiert diesen stimmigen Zusammenhang in recht deutlicher Bezugnahme auf Kohärenztheorien des Wissens (vgl. ebda., 175). Nun ist Kohärenz von Einstellungen aber zunächst eine logische Eigenschaft, und es ist nicht ohne weiteres zu sehen, was sie mit einer solchen wholeheartedness zu tun haben soll. Bei näherer Betrachtung erweist sich dies aber als verständlich: Für eine Person, deren Wünsche einen
_____________ 41 Sofern jedoch ein Theoretiker seine Bedingung der Autonomie explizit als eine rein externe Bedingung versteht, werde ich selbstverständlich darauf hinweisen – und es mir gleichwohl nicht nehmen lassen, zu prüfen, ob sie auch anders verstanden werden sollte.
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kohärenten Zusammenhang bilden, gilt, dass diese Wünsche keine unvereinbaren Forderungen an sie stellen. Sie zwingen sie nicht, sich zwischen ihnen zu entscheiden. Im Gegenteil: Je kohärenter das System ihrer Wünsche, desto mehr gilt für jeden einzelnen von ihnen, dass alle anderen Wünsche der Person sie darin bestärken, dass dieser Wunsch wirklich das ist, was sie will. Eine logische Eigenschaft wie die der Kohärenz hat also, wenn sie von einer Menge praktischer Einstellungen instantiiert wird, auch einen bestimmten praktischen Charakter. Er lässt sich als Einstimmigkeit des Willens der Person beschreiben. Wer ein kohärentes System von Wünschen hat, kann von ganzem Herzen hinter jedem von ihnen stehen. Frankfurt behauptet nun, dass diese praktische Kohärenz oder wholeheartedness eine Rolle in der Identifikation mit einer Einstellung spielt. Auch damit hat er unser intuitives Alltagserleben zweifellos auf seiner Seite. Nehmen wir an, ich bin generell eine karriereorientierte Person, und mein ganzes Wollen und Tun richtet sich in einstimmiger Weise auf meinen beruflichen Erfolg. Mein Herz hängt dabei nicht nur an Anerkennung und an finanziellen Vorteilen, sondern meine Tätigkeit selbst bedeutet mir viel. Eines Tages, nach einem langen Arbeitstag, habe ich jedoch plötzlich den Impuls, alles hinzuwerfen, meinen Beruf aufzugeben und Mönch in Tibet zu werden. Unter diesen Bedingungen habe ich allen Grund, diesen Impuls als einen vorübergehenden Anflug von Frustration zu betrachten. Es wäre nicht gerechtfertigt, ihn als einen echten Ausdruck meiner wahren Bedürfnisse zu betrachten und alles hinzuwerfen, was mir etwas bedeutet. Anders verhält es sich, wenn man das Beispiel etwas variiert: Wenn ich jenen Impuls verspüre und außerdem zugeben muss, dass meine Einstellungen zu meinem beruflichen Erfolg insgesamt zwiespältig sind, dann ändert sich auch meine Bewertung des Impulses. Angenommen, ich hege sehnsüchtige Vorstellungen über Dinge, die ich für meinen Erfolg aufgeben musste. Dann kann mir der Impuls plötzlich wie eine lange verdrängte Äußerung meiner wahren Wünsche erscheinen. Anders gesagt: Wenn mein System von Wünschen weniger einstimmig ist, so ist weniger klar, was ich eigentlich wirklich will. Die Authentizität meines Wunsches nach Erfolg wird fragwürdig. Dieser intuitive Eindruck ist sicher nachvollziehbar. Ich will nun versuchen, ihn etwas genauer zu formulieren. Was heißt es insbesondere, dass ein System von Einstellungen kohärent ist? Eine prominente Ansicht, zu finden z. B. bei Bonjour (1985), lautet wie folgt: Kohärenz geht über bloße Widerspruchsfreiheit hinaus, sondern ist eine Form des positiven Zusammenhangs und der wechselseitigen Stützung. Zudem ist sie eine Eigenschaft, die graduell realisierbar ist. Der Grad der Kohärenz einer Menge von Einstellungen E ist dabei eine Funktion von zwei Mengen von Faktoren. Erstens hängt er von der Anzahl und Stärke der inferentiellen
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Verknüpfungen (im weiten Sinne, i. e.: formalen, materialen und probabilistischen Verknüpfungen) zwischen den Elementen von E ab. Und zweitens ist er auch eine Funktion des Grades der Partitionierung von E. (Partitionierung liegt vor, wenn E aus mehreren unverbundenen, aber intern verknüpften Subsystemen besteht.) Der Grad der Kohärenz verhält sich proportional zur Menge und Stärke der Verknüpfungen und umgekehrt proportional zum Grad der Partitionierung. Diese grobe Skizze gibt sicherlich eine Standardauffassung von Kohärenz wieder. Ich füge aber zweierlei hinzu: Erstens umfassen die Verknüpfungen, die Kohärenz konstituieren, mehr als nur inferentielle Relationen. Im Falle praktischer Einstellungen gibt es auch die Möglichkeit, dass ihre Erfüllungsbedingungen in begrifflich kontingenter Weise verknüpft sind. Mitunter können die Dinge also zufällig (oder aus rein nomologischer Notwendigkeit) so liegen, dass wir uns zwei Wünsche auf einen sprichwörtlichen Schlag erfüllen können. Zum Beispiel kann ich sowohl in die Oper gehen wollen als auch eine bestimmte Person treffen wollen, und diese Person ist in der Oper anzutreffen. Auch eine solche Verbindung zwischen den Wünschen trägt dazu bei, dass die gesuchte Art von Einstimmigkeit herrscht. Jeder der beiden Wünsche bestärkt mich sozusagen darin, auch den jeweils anderen zu verfolgen. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass die Relevanz solcher (inferentiellen und nicht-inferentiellen) Verknüpfungen für Kohärenz eingeschränkt werden kann. Mitunter ist ein Einstellungssystem auf einer materialen („inhaltlichen“) Ebene kohärent, obschon nur wenige solcher Verknüpfungen vorliegen. Zwei Einstellungssysteme, die hinsichtlich dieser Verknüpfungen isomorph strukturiert sind, können daher unterschiedlich kohärent sein; Kohärenz superveniert nicht über der Distribution dieser Verknüpfungen allein. Nehmen wir z. B. das Einstellungssystem einer Person, die Wert darauf legt, kein eindimensionaler Mensch zu sein. Diese Person möchte nicht leicht festzulegen sein, und ihr Ideal ist es, eine Vielzahl von Interessen zu hegen, die wenig miteinander verbindet und die möglichst heterogen sind. Wenn diese Person dieses Ideal vertritt, dann können gerade solche Wünsche gut in ihr Einstellungssystem passen, die nicht im hohen Maße mit anderen Wünschen verknüpft sind. Im Falle dieser Person kann es also sein, dass eine Einstellung einen kohärenten Teil ihres Einstellungssystems bildet, die gerade nicht im formalen Sinne ein kohärenter Teil desselben ist. Wir können uns dann einen zweiten Akteur mit einem isomorph strukturierten Einstellungssystem denken, das uns überhaupt nicht kohärent erscheint. Dies hängt von den Inhalten der Einstellungen ab. Es ist nicht mein Ansinnen, hier eine ausformulierte Theorie der Kohärenz praktischer Einstellungen vorzulegen. Es dürfte aber deutlich sein,
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dass dergleichen schwieriger ist, als oft angenommen wird. Nehmen wir jedoch im Folgenden an, dass wir über eine befriedigende Konzeption verfügen, die die genannten Punkte berücksichtigt. Sofern wir also einen Begriff der Kohärenz eines Einstellungssystems haben, können wir mit ihm die für unseren Zusammenhang entscheidenden weiteren Begriffe definieren. Wir können dann nämlich weiter bestimmen, was es für eine Einstellung heißt, ein kohärenter Teil eines solchen Systems zu sein. Zunächst ließe sich sagen: Eine Einstellung ψ ist genau dann ein kohärenter Teil eines Systems von Einstellungen S, wenn das aus S und ψ bestehende umfassendere System einen höheren Grad an Kohärenz aufweist als S. L. W. Ekstrom (1993) macht jedoch in ihrer Kohärenztheorie der Autonomie einen besseren Vorschlag. (Dabei orientiert sie sich stark an entsprechenden Vorschlägen von K. Lehrer, siehe ders. (1990) und (1997).) Sie relativiert das Prädikat „...ist ein kohärenter Teil des Einstellungssystems...“ auf eine Menge relevanter Alternativen. Worauf es also ankommt, ist nicht nur, ob ein Wunsch sich überhaupt kohärent in ein System von Einstellungen integriert. Vor allem ist wichtig, ob er sich besser integriert als seine competitors. Ein competitor zu einer Einstellung ψ ist, intuitiv gesagt, eine schlecht mit ψ vereinbare Alternative. Die genaue Definition des Begriffs eines competitor ist kompliziert. Aber hier können wir einfach sagen: Eine Einstellung ψ* ist genau dann ein competitor zu ψ, gegeben ein Einstellungssystem S, wenn gilt, dass das aus S, ψ* und ψ bestehende umfassendere System einen niedrigeren Grad an Kohärenz aufweist als S. Mir erscheint diese Relativierung vor allem deshalb als sinnvoll, weil sie es erlaubt, ein Moment von Kontextabhängigkeit einzuführen. Ob ein Wunsch im relevanten Sinne ein stimmiger Teil meines Einstellungssystems ist, sollte davon abhängen, welche echten Alternativen sich gegenwärtig bieten. Es sollte also nicht darum gehen, welche inkompatiblen Wünsche überhaupt möglich sind, sondern darum, welche inkompatiblen Wünsche ich tatsächlich habe. Ebenso sollte es darum gehen, welche dieser weiteren Wünsche unter gegebenen Bedingungen mit dem ersteren unvereinbar wären. In Anlehnung an Ekstrom relativiere ich das eben definierte Prädikat also wie folgt: Eine Einstellung ψ ist genau dann ein kohärenter Teil eines Systems von Einstellungen S relativ zu einer Menge kontextuell relevanter Alternativen, wenn das aus S und ψ bestehende umfassendere System
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einen höheren Grad an Kohärenz aufweist als umfassendere Systeme aus S und den Alternativen zu ψ. Diese Definition könnte sicher eine kräftige Portion weiterer Präzisierungen vertragen. Ich kann dergleichen hier jedoch nicht anbieten. Worum es mir geht, ist aber auch lediglich, eine plausible Skizze einer Kohärenzbedingung der Authentizität zu entwickeln. Mehr als eine solche braucht es nicht, denn der entscheidende Punkt meiner Argumentation wird sein, dass keine solche synchrone Bedingung hinreichend sein kann. Unser eigentliches Interesse gilt dann den weiteren, diachronen Bedingungen. Hier kommt also ein Entwurf einer Kohärenzbedingung der Authentizität: Kohärenzbedingung der Authentizität Ceteris paribus gilt: Eine Einstellung ψ eines Akteurs A ist authentisch zu einer Zeit t, wenn ψ zu t ein kohärenter Teil des Einstellungssystems S von A zu t ist (relativ zu einer Menge relevanter Alternativen). Freilich erscheint eine letzte Ergänzung sinnvoll. Viele Autoren gehen davon aus, dass sich in einem kohärenten System von Einstellungen graduelle Statusunterschiede machen lassen. Sie differenzieren, mit Quines (1951) bekannten Metaphern von Zentrum und Peripherie gesagt, zwischen solchen Einstellungen, die ein zentraler Teil so eines Systems (i. e. in hohem Maße immun gegen Revision) sind, und solchen Einstellungen, die eher peripher (i. e. in höherem Maße offen für Revision) sind. Dies ist gerade in Bezug auf Authentizität und Autonomie geltend gemacht worden. C. Taylor etwa spricht davon, dass Personen über eine Menge von „essential evaluations“ (Taylor 1985a, 34) verfügen. An diesem zentralen Bereich von Einstellungen orientieren sich Akteure, wenn sie das vollziehen, was Taylor eine „strong evaluation“ nennt. (Taylors Begriff der starken Wertungen weist dabei eine große Nähe zu meinem Begriff der Identifikation auf. Auch Taylor geht es nämlich darum, bloße Willensakte von solchen Einstellungen zweiter Ordnung zu unterscheiden, die sich an einer Konzeption der eigenen Persönlichkeit orientieren.) Auch L. W. Ekstrom (a. a. O.) bedient sich der Metaphern von zentralen und peripheren Einstellungen, ebenso R. Noggle (2005). Auch ich möchte hervorheben, dass eine adäquate Kohärenzbedingung verschiedenen Teilen eines Einstellungssystems unterschiedliches Gewicht einräumen sollte. Aber wie gesagt: Es ist nicht mein Anliegen, eine vollständige Formulierung dieser Bedingung zu geben.
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§ 14. Authentizität und die Artikulation mentaler Gehalte Ich habe soeben in Umrissen eine synchrone Bedingung der Authentizität von Einstellungen vorgestellt. Mein Hauptaugenmerk wird in den nächsten Abschnitten jedoch der notwendigen Ergänzung zu jeder rein synchronen Bedingung gelten. Ich werde zeigen, dass ein Platz in einem kohärenten Einstellungssystem nur dann für die Authentizität eines Wunsches spricht, wenn eine ausreichende Zahl von Elementen dieses Einstellungssystems außerdem eine geeignete biographische Rolle spielt. Bevor ich jedoch dazu übergehe, will ich auf einen anderen Punkt eingehen, der für die Frage der Authentizität und der Autonomie von Wünschen insgesamt wichtig ist. Es geht um eine Erkenntnis, die C. Taylor (1985a und 1985c) zur Theorie der Identifikation (bzw. zur Theorie der „starken Wertungen“, s. o.) beigetragen hat. Diese Erkenntnis ist in der jüngeren philosophischen Diskussion nicht genügend beachtet worden. Sie lautet: Mentale Einstellungen sind in sehr verschiedenen Weisen artikulierbar, und ob eine unserer Einstellungen authentisch ist, hängt von der Artikulation ab, die wir ihr geben können. Folgendes Beispiel gibt einen ersten Eindruck davon, was gemeint ist: Paul ist begeisterter Briefmarkensammler; in der Tat misst er der Philatelie so große Bedeutung in seinem Leben bei, dass es Außenstehenden zunächst befremdlich erscheinen muss. Darüber hinaus ist nicht ohne weiteres erkennbar, wie diese Begeisterung für eine so solipsistische Tätigkeit zu Pauls eher kontaktfreudiger Persönlichkeit passt. Es kann also erscheinen, als wäre seine Begeisterung kein stimmiger Teil seines Einstellungssystems. Dieser Eindruck ändert sich jedoch schlagartig, wenn wir Folgendes verstehen: Pauls Wunsch, seine Sammlung zu perfektionieren, lässt sich als der Wunsch artikulieren, das Lebenswerk seines Großvaters fortzuführen. Schon als Kind ist Paul von seinem Großvater in den Zauber des Sammelns seltener Marken aus fremden Ländern eingeführt worden. Und diese geteilte Leidenschaft hat eine enge persönliche Bindung zwischen Paul und seinem Großvater ermöglicht. Nach dessen Tod hat Paul es daher als seine Aufgabe betrachtet, das gemeinsame Projekt weiterzuführen. Daher ist Pauls Wunsch, Marken zu sammeln, eben der Wunsch, ein gemeinsames Anliegen zu vollenden. So wird viel einfacher verständlich, dass Pauls Wunsch ein authentisches Anliegen ist. Das zeigt: Ob ein Wunsch dergestalt authentisch ist, hängt nicht unmittelbar davon ab, ob er z. B. ein kohärenter Teil eines Einstellungssystems ist. Es hängt davon ab, ob er sich als ein Wunsch artikulieren lässt, der ein solcher kohärenter Teil ist.
§ 14. Authentizität und die Artikulation mentaler Gehalte
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Authentizität ist also sozusagen artikulationssensitiv. Aber was genau heißt es, dass mentale Einstellungen artikulierbar sind? Was ist eine Artikulation eines Wunsches? Taylor hat seine Ansichten zur Artikulation mentaler Gehalte nicht zu einer vollständigen Theorie ausgebaut, und vieles in ihnen bleibt unklar. 42 Eine repräsentative Formulierung seiner These ist jedoch folgende: „Much of our motivation – our desires, aspirations, evaluations – is not simply given. We give it a formulation in words or images. [...] Thus we are not simply moved by psychic forces comparable to such forces as gravity [...], but rather by psychic forces which are articulated or interpreted in a certain way“ (Taylor 1985a, 36). Es folgen einige Klärungs- und Interpretationsversuche zu diesem schwierigen, aber wichtigen und vernachlässigten Konzept. Ich bin dabei überzeugt, dass meine Vorschläge denjenigen Taylors in vielen wichtigen Hinsichten entsprechen. Aber in anderen werden sie ohne Zweifel auch von ihnen abweichen. Zunächst einige Vorbemerkungen: Artikulationen mentaler Einstellungen sind Zuschreibungen mentaler Einstellungen. Wir können sie mit Ausdrücken der Form „ich glaube, dass...“, „Paul wünscht, dass...“ vollziehen. Schon an dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „Artikulation“, ebenso wie der Begriff „Zuschreibung“, eine Akt-ProduktAmbiguität aufweist. Wir bezeichnen als Artikulation also sowohl den Vorgang des Etwas-Artikulierens als auch das Resultat eines solchen Vorgangs, eine Artikulation z. B. in Form einer bestimmten Aussage. Im Folgenden ist, sofern nicht ausdrücklich darauf hingewiesen wird, nicht vom Prozess der Artikulation die Rede. Gleichwohl wäre es auch irreführend, in jedem Falle von Artikulationen im Produktsinne zu sprechen. Es gibt eine weitere Unterscheidung zu berücksichtigen: Mitunter kann man von einer tatsächlichen Äußerung als einer Artikulation sprechen, weil sie in der Tat das Produkt eines Prozesses der Artikulation ist. Dies kann man den genetischen Sinn von „Artikulation“ nennen. In diesem Sinne sagen wir mit dem Begriff etwas darüber aus, wie eine bestimmte Äußerung zustande gekommen ist. Daneben kann man aber auch noch etwas anderes sagen, wenn man eine Äußerung als Artikulation einer Einstellung bezeichnet. In diesem Falle sagen wir etwas über den Inhalt dieser Äußerung – nämlich, dass sie in bestimmter Weise ausdrückt, was jemand glaubt oder wünscht. Nennen wir dies den semantischen Sinn von „Artikulation“. Im semantischen Sinn kann man auch sagen, dass bestimmte Sätze mögliche Artikulationen einer Einstellung wären.
_____________ 42 Taylors ausführlichste Äußerungen zum Begriff der Artikulation, die den Hintergrund der vorliegenden Diskussion darstellen, finden sich vor allem in Taylor (1985a, 35-38, 1985b, 62-65, u. 1985c, 256-258).
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Dann sprechen wir offensichtlich nicht im genetischen Sinne von Artikulationen. Wir sprechen nicht einmal notwendig von konkreten Äußerungstokens einer Person. Im semantischen Sinne können auch Sätze im Sinne abstrakter Typen Artikulationen einer Einstellung sein. Hier soll es um Artikulationen im semantischen Sinne gehen. Ich habe gesagt, dass solche Artikulationen Zuschreibungen mentaler Einstellungen (im Sinne von Typ- oder Tokensätzen) sind. Nicht jede Zuschreibung ist jedoch bereits eine Artikulation. Taylors Antwort auf die Frage, was bestimmte Zuschreibungen als Artikulationen auszeichnet, macht Gebrauch von suggestiven, aber auch problematischen Metaphern der Formgebung. Wenn eine Zuschreibung eine Artikulation ist, dann ist sie Taylor zufolge zum Teil eine korrekte Beschreibung einer Einstellung. Zu einem anderen Teil jedoch verleiht sie dieser Einstellung erst eine Bestimmtheit, die sie vorher nicht hatte. Dies veranschaulicht Taylor, indem er die ursprüngliche Einstellung als plastische Entität beschreibt, die zwar bestimmte Vorgaben für eine korrekte Zuschreibung macht, durch verschiedene Zuschreibungen aber auch verschieden geformt werden kann. 43 Ich verzichte auf die Metapher der Plastizität des Mentalen. Mir scheint, dass sich das Wesentliche auch so ausdrücken lässt: Eine Zuschreibung einer Einstellung ist eine Artikulation derselben, wenn statt ihrer alternative Zuschreibungen möglich gewesen wären, die nur partiell äquivalent sind. Genauer: Eine Zuschreibung (i. e. ein Typ- oder Tokensatz der Form Ich φ-e, dass p bzw. A φ-t, dass p, wobei für φ beliebige propositionale Verben eingesetzt werden können) ist genau dann eine Artikulation, wenn sie Teil einer Klasse weiterer Zuschreibungen ist, so dass für alle Elemente dieser Klasse gilt, dass sie in bestimmten Hinsichten äquivalent sind, dabei jedoch in anderen Hinsichten divergieren. Dieser vorläufige Vorschlag entspricht zunächst einmal einer zentralen Intuition: Wenn ich mir einen Wunsch, dass p, zuschreibe, aber den Eindruck habe, dass es noch eine bessere Artikulation dafür geben muss, dann suche ich nach einer alternativen Zuschreibung, die in gewisser Hinsicht dasselbe ausdrückt, aber treffender. Wenn wir diese Intuition ernst nehmen, können wir sagen, was Artikulationen im semantischen Sinne auszeichnet, ohne das Mentale als plastisch beschreiben zu müssen. Eine Zuschreibung ist eine Artikulation qua Teil einer Klasse alternativer Zuschreibungen, die partiell äquivalent sind. Für zwei beliebige Elemente x
_____________ 43 Eine repräsentative Äußerung Taylors in diesem Zusammenhang ist folgende: „Our attempts to formulate what we hold important must, like descriptions, strive to be faithful to something. But what they strive to be faithful to is not an independent object with a fixed degree and manner of evidence, but rather a largely inarticulate sense of what is of decisive importance. An articulation of this ‘object’ tends to make it something different from what it was before“ (Taylor 1985a, 38).
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und y aus dieser Klasse gilt also, dass ein Wechsel der Zuschreibung von x zu y in bestimmten Hinsichten konservativ wäre (oder dasselbe ausdrückte), in anderen Hinsichten jedoch revisionär wäre (oder dasselbe anders ausdrücken würde). Dies ist die grundsätzliche Idee, die ich im Folgenden weiter auszubuchstabieren versuchen werde. Ein erster Aspekt dieser Idee ist, dass eine Zuschreibung einer mentalen Einstellung nur in Relation zu anderen möglichen Zuschreibungen eine Artikulation ist. Wenn Paul „Ich wünsche, meine Sammlung zu vervollständigen “ und „Ich wünsche, das Lebenswerk meines Großvaters zu vollenden“ äußert, so sind diese Äußerungen zunächst nur Zuschreibungen. Was sie zu Artikulationen macht, ist der Umstand, dass sie in einem bestimmten Sinne derselben Einstellung Ausdruck verleihen sollen. Natürlich kann es sein, dass es für manche Einstellungen nur eine wirklich adäquate Artikulation gibt. Aber so, wie ich den Begriff zu verwenden vorschlage, impliziert die Aussage, es handele sich um eine Artikulation dieser Einstellung, zumindest, dass es Alternativen gibt, wenn auch weniger adäquate. Gibt es in einem Falle nur eine Möglichkeit, einem Subjekt eine Einstellung zuzuschreiben, so klingt es verkehrt, dies als eine Artikulation zu bezeichnen. Der Rückgriff auf eine Klasse alternativer Zuschreibungen vermeidet nicht nur Metaphern über den plastischen Charakter mentaler Einstellungen. Auch sonst ist mein Vorschlag neutral in Fragen nach der Natur solcher Einstellungen. Speziell ihre Individuation wird durch das Phänomen der Artikulierbarkeit mentaler Gehalte nämlich arg verkompliziert. Nehmen wir die beiden angeführten Selbstzuschreibungen Pauls. Es erscheint natürlich, zu sagen, Paul verleihe hier demselben Wunsch in unterschiedlichen Weisen Ausdruck. Aber die zugeschriebenen Einstellungen haben (nach allen gängigen Individuationsprinzipien für Propositionen) unterschiedliche Gehalte. Und Unterschiede im propositionalen Gehalt gelten gewöhnlich als hinreichend für die numerische Verschiedenheit von Einstellungen. Nach Maßgabe dieser weithin akzeptierten Individuationsprinzipien gäbe es also kaum eine Möglichkeit, nicht-äquivalente Zuschreibungen als Artikulationen einer Einstellung anzusehen.44 Mein Vorschlag wäre mit verschiedenen Lösungen für dieses Problem verträglich: Man könnte sagen, dass nicht-äquivalente Artikulationen „einer“ Einstellung in Wahrheit Zuschreibungen numerisch distinkter Einstellungen seien. (Man könnte ergänzen, dass diese Einstellungen in einer
_____________ 44 Zumindest dann nicht, wenn man nicht behaupten will, dass nicht alle solchen nichtäquivalenten Zuschreibungen dabei buchstäblich wahr sind – was im Falle Pauls sicher falsch wäre.
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Relation stünden, die es alltagssprachlich zulässig macht, von „einer“ Einstellung zu sprechen.) Oder man kann die Individuationsprinzipien für Einstellungen vergröbern oder als kontextsensitiv auffassen, oder dergleichen mehr. Mein Vorschlag bleibt neutral. Er spricht lediglich von Zuschreibungen, die es als Artikulationen auszeichnet, dass sie Teil einer bestimmten Klasse von Alternativen sind. Ich werde freilich nachfolgend davon ausgehen, dass es eine geeignete Möglichkeit gibt, aus der alltäglichen Rede von nicht-äquivalenten Artikulationen einer Einstellung Sinn zu machen. In dieser Annahme werde ich bisweilen sagen, dass bestimmte Zuschreibungen Artikulationen „einer“ Einstellung seien. Aber ich werde dabei, wie soeben geschehen, distanzierende Anführungszeichen verwenden. Dies soll anzeigen, dass ich es für eine offene Frage halte, ob diese Ausdrucksweise wörtlich zu nehmen ist. Artikulationen sollen also Zuschreibungen sein, für die es eine bestimmte Klasse von Alternativen gibt. Ich werde nun zu erklären haben, was so eine Klasse alternativer Zuschreibungen auszeichnet, die ihre Elemente als Artikulationen qualifiziert. Ich werde zuerst darstellen, inwiefern Zuschreibungen äquivalent sein müssen, um als Artikulationen „einer“ Einstellung gelten zu können. Umgangssprachlich gesagt: Wenn es bei verschiedenen Artikulationen darum geht, dasselbe auszudrücken, nur mehr oder minder treffend – dann geht es hier zunächst um den Aspekt des Dasselbe-Ausdrückens. Dann lege ich dar, was verschiedene Zuschreibungen mehr oder minder treffend macht. Inwiefern müssen Zuschreibungen äquivalent sein, um als Artikulationen gelten zu können? Hier ist es hilfreich, den Prozess der Artikulation vom Prozess des einfachen Entscheidens zwischen verschiedenen Einstellungen zu unterscheiden. Steht ein Akteur vor der Frage, ob er wünsche, dass p, oder eher wünsche, dass q, so kann dies zweierlei heißen. Entweder geht es um eine Entscheidung zwischen verschiedenen Einstellungen. Oder es geht um konkurrierende Artikulationen einer Einstellung. Letzteres ist nur dann der Fall, wenn die Propositionen dass-p und dass-q irgendwie dasselbe beinhalten. Nun wäre es zu stark, wenn man forderte, die Gehalte verschiedener Artikulationen „einer“ Einstellung müssten logisch äquivalent (im formalen oder materialen Sinne) sein. Dies zeigt ein Beispiel wie das Folgende: Nehmen wir an, ein Freund fragte mich, ob mein Wunsch, heute länger im Büro zu bleiben, nicht eigentlich der Wunsch sei, heute Abend nicht allein zu Hause zu sitzen. Oder, so mag er weiter fragen, vielleicht ist es sogar eigentlich der Wunsch, heute Abend noch etwas mit der Sekretärin allein zu sein. Hier scheint es sich intuitiv tatsächlich um eine Frage der Artikulation zu handeln – um die Frage also, ob ein bestimmter Wunsch in einer Weise reformuliert werden kann, die besser trifft, was er beinhaltet. Dabei erfüllt
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dieser Fall zugleich mein vorgeschlagenes Kriterium: Artikulationen treten als eine Klasse alternativer Zuschreibungen auf. Und diese Zuschreibungen sollen in gewisser Weise dasselbe Anliegen ausdrücken, sind aber in anderen Hinsichten klarer Weise nicht äquivalent. Wenn dies aber tatsächlich ein Fall ist, in dem ich zwischen verschiedenen Artikulationen schwanke, dann müssen solche alternativen Artikulationen keine logisch äquivalenten Gehalte haben. Inwiefern sind sie aber dann äquivalent? Die gesuchte Äquivalenz ist in diesem Falle eher eine kontingente Koinzidenz von Wahrheitsbedingungen. Das bedeutet: Zwei Propositionen p und q sind in der gesuchten Weise äquivalent, wenn, gegeben die Weise, wie die Dinge sich tatsächlich verhalten, p genau dann wahr wäre, wenn q wahr wäre, und umgekehrt. Also: Gegeben so verschiedene kontingente Sachverhalte wie die, dass ich einen bestimmten Job habe, dass zu Hause niemand auf mich wartet, dass es in meinem Büro eine Sekretärin mit bestimmten Arbeitszeiten gibt etc. pp., sind die drei logisch und nomologisch nicht äquivalenten Gehalte dass ich heute Abend länger im Büro bleibe und dass ich heute Abend nicht allein zu Hause sitze und dass ich heute Abend mit der Sekretärin allein bin faktisch unter denselben Bedingungen wahr. Die zuvor gegebene Erläuterung legt nahe, diese kontingente Äquivalenz von Wahrheitsbedingungen durch kontrafaktische Konditionale zu analysieren. Für jene Gehalte gilt nämlich: Gegeben, wie die Dinge tatsächlich liegen, wäre es dann, wenn ich länger im Büro bliebe, auch der Fall, dass ich nicht allein zu Hause wäre, und es wäre auch der Fall, dass ich länger mit meiner Sekretärin allein wäre. In diesem Falle besteht die kontrafaktische Dependenz auch in den anderen Richtungen.45 Es könnte aber sinnvoll sein, eine noch etwas losere, asymmetrische Relation zu formulieren. Es könnte z. B. sein, dass sich mein Wunsch, meinen Frühjahrsputz heuer etwas vorzuverlegen, auch als der Wunsch artikulieren ließe, nicht für die anstehende Prüfung zu lernen. Hier besteht die kontrafaktische Abhängigkeit nur in eine Richtung. Es ist wahr: Wenn ich meinen Frühjahrsputz vorziehen würde, würde ich nicht für die Prüfung lernen. Aber es ist nicht (oder nicht klarer Weise) wahr, dass ich, wenn ich nicht für die Prüfung lernen würde, meinen Frühjahrs-
_____________ 45 Dabei sind einige dieser Konditionale als sogenannte backtracking counterfactuals zu lesen, auf die ich an späterer Stelle noch einmal genauer eingehen werde. Bezüglich solcher backtracking conditionals haben wir oft etwas weniger eindeutige Intuitionen. Wenn wir „Wenn ich heute Abend länger im Büro wäre, wäre ich nicht allein zu Hause“ akzeptieren, dann klingt es zunächst etwas irritierend, zu sagen: „Wenn ich heute Abend nicht allein zu Hause wäre, wäre ich länger im Büro.“ Gleichwohl sind solche backtracking conditionals unstrittiger Weise wohlgeformt und wahrheitsfähig, und auch im skizzierten Falle wäre es sicherlich so. (Vgl. Lewis 1986a und 1986b.)
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putz vorziehen würde. Für die propositionalen Komplemente von Zuschreibungen, die eine Klasse von Artikulationen bilden sollen, gilt also, dass eine asymmetrische Form kontrafaktischer Dependenz hinreichen kann, damit sie als Ausdruck „eines“ Anliegens gelten können. Wenn man „→“ erneut als Satzkonnektiv zur Bildung kontrafaktischer Konditionale interpretiert, kann man eine disjunktive symmetrische Relation46 Q zwischen Propositionen definieren, die das Richtige trifft: pQq ↔ [(p → q) ∨ (q → p)]. Diese Relation erfasst genau die gesuchte Form eines kontingenten Zusammenhangs von Wahrheitsbedingungen. Dabei ist daran zu erinnern, was die Semantik dieser Konditionale besagt: p → q ist wahr gdw. in der möglichen Welt, in der p wahr ist und die der aktualen Welt in allen kontextuell relevanten Hinsichten ansonsten so ähnlich wie möglich ist, auch q der Fall ist.47 Diese aktualitätssensitive modale Dependenz ist genau das, was es braucht, um zu erklären, was verschiedene Zuschreibungen zu Artikulationen „eines“ Anliegens machen kann. Die Frage, ob mein Wunsch, dass p, nicht eigentlich eher ein Wunsch, dass q, ist, kann dann relevant werden, wenn gilt, dass eine Verwirklichung von p auch q herbeiführen würde. Wir können mithin schon etwas genauer sagen, was eine Klasse von Zuschreibungen auszeichnet, die ihre Elemente als Artikulationen qualifiziert. Eine notwendige Bedingung für die Zugehörigkeit zu einer solchen Klasse ist die folgende: Zwei (Typ- oder Token-) Sätze der Form A φ-t, dass p und A φ-t, dass q können nur dann eine Klasse von Artikulationen „einer“ Einstellung bilden, wenn gilt: pQq. Es dürfte deutlich sein, dass diese Bedingung überaus schwach ist. Wäre dies die einzige Bedingung, die für Artikulationen gälte, so gäbe es zu jeder Zuschreibung eine Unmenge geeigneter Alternativen. Jede Zuschreibung wäre also eine Artikulation. Wir müssen daher weitere Bedingungen fin-
_____________ 46 Die Definition einer solchen disjunktiven Relation hat nur Gründe der Bequemlichkeit. Q ließe sich ebenso gut als die nicht-disjunktive asymmetrische Relation der kontrafaktischen Dependenz definieren; aber dann müsste ich meine späteren Ausführungen ständig durch die explizite Anführung der Disjunktion „(pQq) ∨ (qQp)“ verkomplizieren. (Ich müsste z. B. sagen, dass für die Klasse von Zuschreibungen, die Artikulationen „einer“ Einstellung sind, gelten müsse, dass für zwei beliebige eingebettete Gehalte p und q, die von den Elementen dieser Klasse spezifiziert werden, gelten müsse: (pQq) ∨ (qQp).) 47 Vgl. Lewis 1973.
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den. Dazu wird es erforderlich, sich den Hinsichten zu widmen, in denen Artikulationen mehr oder minder „treffend“ sein können. Danach lässt sich festlegen, dass eine Zuschreibung genau dann eine Artikulation ist, wenn sie Teil einer Klasse von Zuschreibungen ist, deren eingebettete Gehalte in der Relation Q stehen und die in einem Mindestmaß treffend sind. Was Zuschreibungen treffend macht, kann man zunächst ihre deskriptive Korrektheit nennen. Das macht C. Taylor, trotz seines Beharrens auf der plastischen und partiell amorphen Natur dessen, was artikuliert wird, deutlich: „[T]here is a getting it right and getting it wrong“ (1985b, 65) in der Artikulation von Einstellungen. Man mag nun einwenden: Warum soll das, was Zuschreibungen als treffende Artikulationen qualifiziert, ausgerechnet in ihrer deskriptiven Korrektheit bestehen? Können wir eine Artikulation nicht auch deshalb vorziehen, weil wir sie stärker befürworten, sie also z. B. in einem moralischen oder anderen Sinne akzeptabler finden? Wieder ist genau im Auge zu behalten, dass es hier um Artikulationen geht. Wenn wir nach der passenden Artikulation für einen unserer Wünsche suchen, dann versuchen wir, möglichst genau auszudrücken, was es ist, das wir wünschen. Es ist etwas anderes, zu bewerten, ob das, was wir wollen, moralisch oder prudentiell besser wäre. Dieser Unterschied tritt besonders klar zutage, wenn man bedenkt, dass gerade eine genaue Artikulation eines Wunsches uns offenbaren kann, dass derselbe negativ zu bewerten ist. Woran genau bemisst sich aber, ob eine Artikulation deskriptiv korrekt ist? Es gibt zwei große Klassen von Kriterien, an denen sich die Korrektheit einer Artikulation bemisst. Die Kriterien der einen Klasse bezeichne ich als psychologische, die der anderen als interpretatorische Kriterien. Mit den psychologischen Kriterien bewerten wir, ob eine Zuschreibung die Phänomene korrekt erfasst, die für das Subjekt mit einer Einstellung verbunden sind. Man nehme erneut die mögliche Artikulation meines Wunsches, heute länger im Büro zu bleiben, als Wunsch, heute Abend einige Zeit mit der Sekretärin zu verbringen. Ich kann sie als inadäquat zurückweisen, weil ich keinen Gedanken an die Sekretärin verschwendet habe, und weder amouröse Gefühle noch Vorstellungen in der fraglichen Hinsicht hege. In diesem Falle erfüllt die Zuschreibung die psychologischen Kriterien deskriptiver Korrektheit nicht. (Es kann natürlich auch sein, dass ich akzeptieren muss, dass ich mich zu ihr hingezogen fühle. Eventuell würde ich die Artikulation dann als treffend ansehen – obschon ich das vielleicht nicht zugeben würde.) Die andere Gruppe von Kriterien ist interpretatorischer Art. Eine Zuschreibung A ist genau dann interpretatorisch adäquater als eine Zuschreibung B, wenn es eine Interpretationstheorie über das Subjekt verbessern würde, wenn sie A statt B enthielte. Die Güte einer Interpreta-
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tionstheorie für ein Subjekt bemisst sich dabei zum einen an den üblichen Qualitätsmerkmalen für Theorien (Einfachheit, prognostische und explanatorische Kraft). Zum anderen bemisst sie sich, wie D. Dennett (1971) und D. Davidson (z. B. 1984a) nachdrücklich hervorgehoben haben, auch an dem Maß, in dem sie das interpretierte Subjekt als rational und epistemisch korrekt darstellt. Angenommen, die Hypothese, dass mein Wunsch sich auf die Sekretärin bezieht, rückt eine ganze Reihe meiner Handlungen in ein intelligibleres Licht. Dann sollte ich diese Artikulation auch dann ernst nehmen, wenn ich nicht bewusst an meine Sekretärin gedacht habe. Die Rede von Kriterien deskriptiver Korrektheit legt nahe, dass es eine Möglichkeit rationaler intersubjektiver Auseinandersetzung in Bezug auf Artikulationen gibt. Dies ist völlig richtig. Wir können in der Tat intersubjektive Kritik und Gründe in der Frage der adäquaten Artikulation von Einstellungen austauschen. Dabei werden wir dem Subjekt selbst gewöhnlich eine gewisse Autorität in Bezug auf die psychologischen Kriterien zubilligen. Diese Autorität ist aber nicht absolut. 48 Und über die Erfüllung der interpretatorischen Kriterien, sowie über ihr relatives Gewicht im Vergleich mit den psychologischen Kriterien kann man trefflich streiten. So mag jemand behaupten, es sei eine korrekte Artikulation meines Wunsches, heute länger im Büro zu bleiben, wenn man ihn als den Wunsch verstehe, heute Abend mit der Sekretärin allein zu sein. Ich mag dies mit dem Hinweis bestreiten, dass ich noch nie im Leben einen Gedanken, geschweige denn ein Gefühl an diese Frau verschwendet habe. Damit weise ich darauf hin, dass der Vorschlag psychologische Kriterien deskriptiver Adäquatheit nicht erfüllt. Mein Gegenüber mag mit interpretatorischen Kriterien kontern, indem er aufzeigt, welche Aspekte meines Verhaltens durch seine These rationalisiert würden: „Und warum bleibst Du neuerdings ständig länger? Und warum sprichst Du Deine Diktate nicht mehr auf Band, sondern willst sie seit kurzem immer persönlich diktieren? Und überhaupt, falls Du es nicht bemerkt hast: Du wirst rot und fängst an zu stottern, wann immer sie den Raum betritt!“ Ich kann nun also, wie angekündigt, definieren, was genau hier unter einer Artikulation einer Einstellung verstanden werden soll: Definition Artikulation: Eine propositionale Einstellungs-Zuschreibung (i. e. ein Typ- oder Tokensatz) der Form Ich φ-e, dass p bzw. A φ-t, dass p (wobei für φ beliebige propositionale Verben eingesetzt werden können und „-e“ bzw. „-t“ deren Flexion andeutet) ist genau dann eine Artikulation, wenn sie Teil einer Klasse weiterer Zuschreibungen ist, so dass gilt,
_____________ 48 Diese Einschätzung teilt z. B. auch Davidson (1984b).
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dass erstens die eingebetteten propositionalen Gehalte beliebiger Elemente dieser Klasse in der Relation Q zueinander stehen, und zweitens alle Elemente dieser Klasse in einem Mindestmaß psychologische und interpretatorische Kriterien deskriptiver Korrektheit erfüllen. Es ist hier ebenso unmöglich wie unnötig, jenes Mindestmaß an deskriptiver Korrektheit genau zu definieren. Ich kann aber sagen, wann eine Artikulation „treffend“ simpliciter ist. Dazu lässt sich ein einstelliges Prädikat definieren: A ist genau dann eine adäquate Artikulation einer Einstellung, wenn A eine Artikulation ist, und wenn es kein Element x der Klasse der weiteren Artikulationen gibt, zu der A gehört, so dass x die relevanten Kriterien deskriptiver Korrektheit in höherem Maße erfüllt als A. Diese Definition schließt nicht aus, dass mehrere Artikulationen „einer“ Einstellung adäquat simpliciter sind. Diese Artikulationen erfüllen die Kriterien deskriptiver Korrektheit besser als alle anderen Artikulationen, lassen sich aber untereinander nicht mehr in dieser Hinsicht ordnen. In solchen Fällen würde eine rationale Diskussion der Frage, welches die treffende Artikulation einer Einstellung eines Akteurs ist, keine eindeutige Antwort haben. Dies gilt, wie mir scheint, für viele unserer Einstellungen. Die Theorie der Artikulation und die skizzierte Kohärenzbedingung der Authentizität sind bereits leistungsfähige Ressourcen zur Beschreibung der Psychologie der Identifikation. Dies wird klar, wenn wir uns einem klassischen Beispiel zuwenden. In diesem Beispiel findet eine junge Frau eine adäquate Artikulation eines Wunsches, der es ihr zugleich ermöglicht, sich im Lichte des Ganzen ihrer Einstellungen wholeheartedly mit ihm zu identifizieren. Es folgt also eine zentrale Passage aus J. Austens Emma: „Emma’s eyes were instantly withdrawn; and she sat silently meditating in a fixed attitude, for a few minutes. A few minutes were sufficient to make her acquainted with her own heart. A mind like hers, once opening to suspicion, made rapid progress. She touched – she admitted – she acknowledged the whole truth. Why was it so much the worse that Harriet should be in love with Mr. Knightley than with Mr. Churchill? Why was the evil so dreadfully increased by Harriet having some hope of return? It darted through her, with the speed of an arrow, that Mr. Knightley must marry no-one but herself.“ 49
Was Emma Rätsel aufgibt, ist ihr Wunsch, dass ihre Schutzbefohlene Harriet ihren alten Freund Mr. Knightley nicht lieben und ihm nicht nahe sein soll. Im Zuge einer nachgerade investigativen Selbstbefragung gelangt
_____________ 49 Austen (1996, 382). Auf diese Passage verweist J. Tanney in Tanney (1996). Dieselbe Passage wird außerdem auch in C. Wright (2001, 322) zitiert.
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Emma jedoch zu einer neuen Artikulation dieses Wunsches. Sie erkennt, dass es eigentlich ihr Wunsch ist, dass sie selbst und Mr. Knightley ein Liebespaar werden. Die beiden Zuschreibungen erfüllen dabei die von mir vorgeschlagenen Kriterien für Artikulationen: Die eingebetteten propositionalen Gehalte beider Zuschreibungen stehen in einer Relation der kontingenten Dependenz ihrer Wahrheitsbedingungen. Und speziell die zweite Zuschreibung ist treffend im Sinne der Erfüllung von Kriterien deskriptiver Korrektheit. Diese neue Artikulation ermöglicht es Emma zudem, ihrem Wunsch einen kohärenten Platz im Ganzen ihrer Einstellungen zuzuweisen. Emma ist, wie der Leser des Romans weiß, im Allgemeinen leidenschaftlich um das Liebesglück ihrer sozialen Mitwelt bemüht. Und gerade zu Harriet und Mr. Knightley unterhält sie freundschaftliche Beziehungen. Dies lässt es ihr auch zunächst unverständlich erscheinen, wieso sie plötzlich derart fremdartige Wünsche entwickelt. Kraft der neuen Artikulation jedoch werden ihr dieselben plötzlich als durchaus stimmig erkennbar. Ich weise insbesondere darauf hin, wie genau Austen Emmas Selbsterforschung sowohl als ein epistemisches als auch als ein praktisches Projekt beschreibt. Emma erkennt ihre Artikulation nicht nur als zutreffende Charakterisierung ihres Wunsches. Sie anerkennt denselben unter dieser Beschreibung auch als einen ihrer wirklich eigenen Belange. Der wohl aufschlussreichste Teil in der zitierten Passage ist daher die klimaktische Reihung der Verben to touch, to admit und to acknowledge the truth. Worum es in Emmas Selbstinterpretation also geht, ist, zu erkennen, welches ihr authentischer Wunsch ist, und ihn dann als solchen praktisch anzuerkennen. Beides sind Aspekte der Leistung Emmas, die Austen „to understand, thoroughly understand her own heart“ (Austen 1996, 386) nennt. Es dürfte deutlich geworden sein, dass meine Theorie der Identifikation, die diesen epistemischen und praktischen Doppelcharakter betont, sowie die soeben skizzierten Theorien der Kohärenz- und der Artikulationsabhängigkeit der Authentizität helfen, zu verstehen, was es heißen kann, „sein Herz zu verstehen“. Um vorerst zusammenzufassen: Eine Einstellung einer Person ist ceteris paribus dann authentisch, wenn es eine adäquate Artikulation derselben gibt, unter der sie ein kohärenter Teil des Einstellungssystems der Person ist. Ich habe weiter oben dargelegt, dass Identifikationen mit Wünschen nur dann gerechtfertigt sind, wenn es gerechtfertigt ist, zu glauben, dass diese Wünsche authentisch sind. Es folgt: Um die Rechtfertigung einer Identifikation beurteilen zu können, müssen wir beurteilen können, wie das umfassendere System der Wünsche des Subjekts beschaffen ist.
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Nun wird es jedoch um weitere Bedingungen der Authentizität gehen, um die wir als autonome Akteure wissen müssen. Diese Bedingungen sind, wie gesagt, lebensgeschichtlicher Art.
§ 15. Eine diachrone Bedingung der Authentizität – Einleitung Ich habe eben angedeutet, dass die bisherigen Ergebnisse einige wesentliche Aspekte der Psychologie der Identifikation korrekt erfassen. Nun werde ich jedoch argumentieren, dass synchronischen Herangehensweisen eine wichtige notwendige Bedingung entgeht. Kohärenztheorien der Authentizität und der Autonomie beschränken sich, wie J. Christman mit einem Ausdruck R. Nozicks sagt, auf eine timeslice view (vgl. Christman 1991, 10). Sie übersehen dabei historische Bedingungen. Um das Wesentliche kurz zu veranschaulichen: Angenommen, auf irgendeinem Wege würde innerhalb eines Augenblicks ein völlig neues, optimal kohärentes Einstellungssystem in mir induziert. Sicher wäre es trotz der Einstimmigkeit dieses Systems nicht gerechtfertigt für mich, eine dieser neuen Einstellungen ad hoc als das zu betrachten, was ich wirklich will. Es wäre nicht gerechtfertigt, diese brandneuen Anliegen als meine authentischen anzuerkennen. Ich behaupte daher, dass es eine notwendige historische Bedingung der Authentizität gibt. Diese Bedingung betrifft dabei nicht nur die Geschichte unserer Einstellungen, sondern insbesondere auch unsere Konzeption dieser Geschichte. (Ich erinnere daran, dass die Konzeption, die ein Akteur A von einem beliebigen x hat, die Menge von Überzeugungen ist, die A über x hat.) Ich werde mithin folgendes behaupten: Nur vor dem Hintergrund einer reichhaltigen biographischen Konzeption, die rational gerechtfertigt ist, kann eine Identifikation mit einer Einstellung gerechtfertigt sein. Mit diesem Ergebnis werde ich dann einen weiteren Teil meiner These DNT begründet haben: Identifikationen legen uns auf bestimmte gehaltvolle Überzeugungen über unsere eigene Lebensgeschichte fest. Zu zeigen bleibt dann nur noch, dass diese biographischen Überzeugungen tatsächlich Narrativität instantiieren. Zunächst werde ich anhand zweier Positionen aus der einschlägigen Literatur auf Zusammenhänge zwischen Authentizität und Lebensgeschichte hinweisen. Danach jedoch werde ich ein eigenes Argument für die eben skizzierte Behauptung vortragen. Anschließend wird der Zusammenhang zwischen der biographischen Bedingung und der synchronen Kohärenzbedingung genauer untersucht. In den nachfolgenden Abschnitten wird die biographische Bedingung dann detaillierter beschrieben.
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So lernen wir mehr darüber, was wir gerechtfertigt glauben müssen, wenn wir eine Identifikation mit einem Wunsch gerechtfertigt finden. Mit diesen Ausführungen wird also einiges über den Inhalt der Narrationen erkennbar werden, auf die uns Identifikationen festlegen. Zur Einleitung jedoch erst einmal, wie gesagt, zwei Beispiele aus der einschlägigen aktuellen Literatur. Ein erster wichtiger Hinweis auf die Bedeutung der Geschichte einer Person in Fragen der Autonomie findet sich in neueren Arbeiten von A. Mele (insbesondere in Mele 1995). Mele skizziert einen Fall, der meines Erachtens ein echtes Gegenbeispiel zu jeder rein synchronen Kohärenztheorie darstellt (ebda. 145 ff). Er beschreibt zwei Protagonistinnen, Ann und Beth. Sie weisen Systeme von Wünschen auf, die in einem äußerst hohen Maße ähnlich sind. Beide investieren viel Zeit und Energie in ihren akademischen Beruf, und beide identifizieren sich einstimmig und von ganzem Herzen mit ihren Wünschen. Dennoch unterscheiden sich beide grundlegend im Hinblick auf die Authentizität und Autonomie ihrer jeweiligen Einstellungen. Denn Beths Einstellungssystem ist das Resultat eines nicht von ihr autorisierten manipulativen Eingriffs, der das Ziel hat, sie ebenso fleißig und opferbereit zu machen, wie Ann es ist. Hier, so betont Mele zu Recht, wird deutlich, dass kohärente Einstellungssysteme ebenso gut inauthentisch und heteronom sein können wie einzelne Einstellungen. Dies kann dann der Fall sein, wenn sie unter falschen Bedingungen erworben wurden. Mele formuliert daher eine historische Bedingung der Autonomie, die in manchen Hinsichten in meine späteren Überlegungen einbezogen wird. 50 Diese Bedingung besagt, vereinfacht gesagt, dass eine Einstellung nicht autonom ist, wenn sie zugleich für das Subjekt praktisch unveränderbar (practically unsheddable) ist und unter Bedingungen erworben wurde, die Fälle von Zwang (compulsion) darstellen. Solche zwangartigen genetischen Bedingungen zeichnen sich dabei dadurch aus, dass die reflexiven und deliberativen Kapazitäten des Subjekts zur Kontrolle seines eigenen Denkens unterlaufen worden sind. Meles Konzeption ist überaus subtil, aber ihre Bedeutung für mein Unternehmen hat dennoch enge Grenzen. Insbesondere präsentiert Mele
_____________ 50 Eine genaue und letztgültige Einschätzung der Ansichten Meles über notwendige historische Bedingungen personaler Autonomie wird dadurch erschwert, dass es, wie Mele in Mele (1995) (und erneut in Mele 2006) betont, nicht sein Anliegen ist, notwendige und hinreichende Bedingungen für Autonomie zu formulieren, sondern nur eine hinreichende Bedingung. Dies hat seinen Grund darin, dass es Mele primär um eine Diskussion über die jeweiligen Stärken und Beweislasten des Kompatibilismus und des Libertarianismus geht. In diesem Zusammenhang will er lediglich Bedingungen präsentieren, die hinreichend dafür sind, dass Akteure auch in deterministischen Kontexten als frei gelten können. Er diskutiert dabei explizit nicht, ob all diese Bedingungen auch in jedem Falle notwendig sind.
§ 15. Eine diachrone Bedingung der Authentizität - Einleitung
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seine Bedingung explizit als rein extern sowie als rein negativ (ders. 1995, 172). Extern ist sie, weil sie sich nur auf Eigenschaften der Geschichte einer Person, nicht auf Eigenschaften ihrer Konzeption ihrer Geschichte bezieht. Mele behandelt die Frage, was Beth über ihre Geschichte weiß und wie sie dieselbe bewertet, als irrelevant für Autonomie. Negativ ist Meles Bedingung, weil sie nur spezifiziert, wie die Geschichte einer Person nicht beschaffen sein darf, wenn Autonomie vorliegen soll. Die Geschichte einer Person kann uns also Grund geben, dieser Person Autonomie abzusprechen. Alles, was an ihrer Geschichte für Autonomie sprechen könnte, ist die Abwesenheit solcher ungeeigneten Bedingungen. Im Unterschied zu Mele wird es mir darum gehen, eine biographische Bedingung zu formulieren, die weder rein extern noch rein negativ ist. Ich will ja erstens behaupten, dass die Geschichte einer Person für Authentizität wichtig ist. Und Authentizität umfasst eben Bedingungen der Autonomie, die auch eine interne Rolle spielen. Daher bin ich auf die Behauptung festgelegt, dass die Geschichte einer Person eine interne Rolle in ihrer autonomen Praxis spielt, dass es also auch auf biographische Überzeugungen ankommt. Zweitens werde ich darlegen, dass es neben negativen auch positive biographische Bedingungen der Authentizität gibt. Anders als Mele hat J. Christman, wie erwähnt, eine historische Bedingung der Autonomie formuliert, die intern ist. Sie spricht also den Einstellungen einer Person zu ihrer Geschichte entscheidende Bedeutung zu. Dabei hat es in Christmans Konzeption kürzlich eine wichtige Änderung gegeben. In der ursprünglichen Konzeption (Christman 1991, 11 ff) hieß es sinngemäß: Eine Einstellung ψ eines Subjekts A ist nur dann autonom, wenn A der Genese von ψ entweder nicht zu widerstehen versucht hat oder ihr nicht zu widerstehen versucht hätte, falls A auf den Prozess der Genese Acht gegeben hätte (vgl. ebda.).51 Demnach sind nicht die Bedingungen der Genese einer Einstellung, sondern unsere Haltungen zu dieser Genese ausschlaggebend für Autonomie. In Christmans neueren Äußerungen wird dieser Gedanke zwar beibehalten, aber es findet gleichwohl eine Revision statt. Entscheidend ist nun nicht mehr die Haltung, die das Subjekt zur Genese einer Einstellung zum Zeitpunkt dieser Genese hatte oder gehabt hätte, sondern seine spätere, retrospektive Haltung. Eine repräsentative Formulierung ist folgende: „[T]he person is autonomous (relative to some factor) if, were [...] reflection in light of the history of the factor’s development to take place, she would not feel deeply alienated from the characteristics in question. To be alienated from some
_____________ 51 Eine weitere notwendige Bedingung betrifft die Erfüllung minimaler Standards der Rationalität.
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Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung
characteristic is to experience negative affect relative to it, to experience diluted or conflicted motivation stemming from it [...]. It is, moreover, to feel a need to repudiate that desire or trait [...]“ (Christman 2002, 202).
Nun scheint es Teil dieser historischen Bedingung zu sein, dass das Subjekt die Genese einer Einstellung gegenwärtig in bestimmten Weisen bewertet. Wie mir scheint, akzentuiert Christmans neue Formulierung die Rolle der gegenwärtigen Perspektive zu Recht. Angenommen z. B., jemand hätte eine Einstellung, deren Genese zum fraglichen Zeitpunkt seine reflektierte Zustimmung hatte. Dabei hat er jedoch Maßstäbe angelegt, die er heute nicht mehr teilt. Während er sich damals von einem vertrauenswürdigen Lehrer angeleitet sah, empfindet er sich heute retrospektiv als skrupellos manipuliert. Hätte man dies jedoch damals geäußert, hätte er den Gedanken als lächerlich abgetan. In solchen intertemporalen Konflikten ist sicherlich das maßgeblich, was der Person gegenwärtig als eine akzeptable genetische Bedingung gilt. Es wäre irrational für eine reflektierende Person, die historischen Umstände wider ihr eigenes gegenwärtig bestes Urteil für einwandfrei zu erklären, bloß weil sie ihr damals so erschienen sind. Auch in diesem Falle wäre also das angemessen, was Christman als ein Gefühl der Entfremdung beschreibt. Sowohl der internalistische Charakter als auch die Betonung der gegenwärtigen Perspektive erscheinen mir als klare Vorzüge der Theorie Christmans. Gleichwohl ist unverkennbar, dass es sich auch hier um eine negative Bedingung handelt. Unser Wissen von unserer Geschichte kann also bei Christman nur insofern für die Authentizität einer Einstellung sprechen, als es kein Gefühl von Entfremdung erzeugt. Ich argumentiere nun dafür, dass es eine positive und interne biographische Bedingung der Authentizität gibt.
§ 16. Ein Argument für eine biographische Bedingung der Authentizität In diesem Abschnitt präsentiere ich ein Argument für eine positive biographische Bedingung der Authentizität. Wenn dies gelingt, werde ich zugleich eine interne biographische Bedingung der Autonomie formuliert haben. Autonomie erfordert ja, wie ich argumentiert habe, gerechtfertigte Überzeugungen über die Authentizität von Wünschen. Wenn Authentizität nun wesentlich eine historische Qualität ist, wird Autonomie folglich gerechtfertigte Überzeugungen biographischer Art erfordern.
§ 16. Ein Argument für eine biographische Bedingung
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Ich argumentiere also für die positive Relevanz der Geschichte für Fragen der Authentizität. Eine reine Kohärenzbedingung kann zwischen distinkten, gleich kohärenten Einstellungssystemen keinen Unterschied in ihrer Authentizität machen. Selbst wenn solche Systeme just vom sprichwörtlichen Himmel gefallen sind: Sofern sie kohärent sind, so sind sie authentisch. Ich zeige nun stattdessen, dass biographisches Wissen uns positive Gründe gibt, etwas als unseren wirklichen Willen anzuerkennen. Meine Argumentation verfährt wie folgt: Ich werde zwei verschiedene Interpretationen einer bestimmten kontrafaktischen Konditionalaussage unterscheiden. Dabei verdeutliche ich, dass sich die Wahrheit dieser Aussage je nach Interpretation sehr unterschiedlich auf unsere intuitiven Urteile über Authentizität auswirkt. Dann weise ich anhand der beiden Interpretationen des Konditionals nach, dass dieser Unterschied auf Unterschieden in der biographischen Rolle bestimmter Einstellungen beruht. Betrachten wir also zuerst die besagte Konditionalaussage. Sie lautet: (K ) Wenn Akteur A jetzt ganz andere Wünsche hätte, dann wären diese genauso authentisch wie seine tatsächlichen Wünsche. Wie gesagt, gibt es verschiedene Weisen, (K ) zu interpretieren. Wie bei vielen counterfactuals ist nämlich auch für (K ) nicht ohne weiteres klar, in welcher Hinsicht und in welchem Ausmaße sein Antezedens eine Abweichung von der Aktualität beschreibt.52 Ich untersuche nun, wie gesagt, zwei Weisen, dieses Antezedens zu interpretieren. Zunächst einmal können wir das Konditional (K ) in einer Weise verstehen, in der es sinngemäß Folgendes besagt: Wenn A jetzt plötzlich ganz andere Wünsche hätte, dann wären diese genauso authentisch seine faktischen Wünsche. Zu den Parametern, die im Antezedens kontrafaktisch variiert werden, zählt hier nur der gegenwärtige Augenblick. Die Vorgeschichte bleibt konstant. Was bedeutet es, wenn wir (K ) in dieser Lesart von einem Akteur aussagen? Wir sagen z. B., dass er heute mit einem völlig neuen System von Einstellungen hätte aufwachen können, und dass diese neuen Einstellungen dann ebenso gut als seine authentischen Anliegen hätten gelten können. Kein Zweifel: Wenn wir dies von einem Akteur sagen, so äußern wir uns wenig schmeichelhaft über die Authentizität seiner Wünsche. Intuitiv scheinen wir gesagt zu haben, dass wir die Wünsche des Akteurs gar nicht authentisch, sondern beliebig finden. (K ) beinhaltet unter dieser Interpretation des Antezedens, dass alles das, was der Akteur faktisch will, völlig austauschbar wäre. Denn wenn seine Wünsche ausgetauscht würden, würde
_____________ 52 Diese Ambiguität wird schon in Lewis (1973) hervorgehoben.
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dies den Grad der Authentizität seiner Wünsche nicht ändern. Und das heißt einfach, dass diese Wünsche in keinem besonderen Sinne seine eigenen sind. Verfolgte er jetzt nämlich plötzlich ganz andere Wünsche, so gäbe es keinen Grund, zu sagen, er sei sich untreu geworden. Wenn eine Aussage der Form (K ) also so interpretiert wird, dass ihr Antezedens eine zeitlich lokale Variation ausdrückt, dann wäre sie eben in dieser Weise zu verstehen. Sie drückte dann indirekt aus, dass die Wünsche des Akteurs keine authentischen Anliegen darstellen. Es gibt jedoch, wie angekündigt, noch (mindestens) eine andere Interpretation von (K ). Es ist aufschlussreich, zu sehen, wie gänzlich anders unsere Einschätzung der Authentizität von As Wünschen unter dieser Lesart ausfällt. Eine ausführliche Wiedergabe des Gehalts von (K ) in dieser anderen Lesart wäre z. B. diese: Wenn A ein anderes Leben geführt, andere Einflüsse gehabt, andere Menschen getroffen und andere Chancen gehabt hätte, und wenn er mithin jetzt auch ganz andere Wünsche hätte, so wären diese genauso authentisch wie seine faktischen Wünsche. Diese zweite Lesart sagt nichts darüber, was der Fall wäre, wenn A jetzt plötzlich neue Wünsche hätte. Vielmehr drücken wir mit (K ) unter dieser Interpretation aus, dass A, wenn sein Leben anders verlaufen wäre, nun ganz andere authentische Anliegen hätte. Der Parameter also, der hier kontrafaktisch variiert wird, ist ein umfassender Teil der Geschichte eines Akteurs. Und diese Interpretation ist weniger dramatisch in Bezug auf unsere Einschätzung der Authentizität. (K ) drückt hier eine Erkenntnis aus, die für moderne Menschen sogar eine Platitüde ist: Unsere Wünsche sind kontingent und hängen von unserem historischen und kulturellen Umfeld, unserer sozialen Position usw. ab. 53 In dieser zweiten Interpretation halten wir Instanzen von (K ) also für nachgerade triviale Aussagen. Ihre Wahrheit zieht für uns in keiner Weise die Authentizität der Einstellungen des Subjekts in Zweifel. Sicher, wenn ein Akteur anderes erlebt hätte, andere Vorbilder gehabt hätte und andere Vorlieben entwickelt hätte, dann müssten jetzt wohl ganz andere Einstellungen als seine authentischen Belange gelten. Da dies aber nicht der Fall ist, macht es für die Authentizität seiner faktischen Einstellungen gar keinen Unterschied. Hiermit liegen also die zwei angekündigten Interpretationen des Konditionals (K ) vor. Trifft (K ) unter der einen Interpretationen auf einen Akteur zu, halten wir die Authentizität seiner Einstellungen für zweifelhaft. Trifft (K ) unter der anderen zu, ist dies nicht der Fall. Daher scheint
_____________ 53 Einer der prominentesten Philosophen, der mir zustimmt, dass eine solche Anerkennung der prinzipiellen Kontingenz der eigenen Werte und Ideale mit ihrer Authentizität vereinbar ist, ist natürlich Rorty (1989).
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mir im Unterschied zwischen diesen beiden Interpretationen ein Schlüssel zu einem Teil unserer intuitiven Kriterien für Authentizität zu liegen. Ich habe bereits gesagt, worin dieser Unterschied besteht: In der ersten Lesart wird nicht die ganze Geschichte des Akteurs kontrafaktisch variiert, sondern die Vorgeschichte wird konstant gehalten. Das heißt: Wenn wir urteilen, dass ein Akteur innerhalb des gegebenen Rahmens seiner Geschichte ganz andere Einstellungen haben könnte, die ebenso authentisch wären – dann bewerten wir seine faktischen Einstellungen gar nicht als authentisch. Die andere Interpretation von (K ) beinhaltet etwas anderes. Hier wird nur gesagt, dass im Rahmen einer ganz anderen Biographie auch ganz andere Einstellungen authentisch sein könnten. Und diese Aussage stellt die Authentizität der faktischen Einstellungen des Akteurs nicht in Frage. Dies legt die folgende Schlussfolgerung nahe: Authentische Einstellungen eines Akteurs müssen durch seine Geschichte vor vielen anderen möglichen Einstellungen eindeutig als authentisch ausgezeichnet werden. Sie sind im Rahmen dieser Geschichte nicht austauschbar, ohne dass dies die Authentizität seiner Einstellungen verringert. Dies wird besser erkennbar, wenn man sich noch einmal den Intuitionen zuwendet, die wir angesichts der zwei Interpretation von (K ) haben. Von Akteuren, deren Einstellungen wir authentisch finden, würden wir (K ) nur in der zweiten, nicht in der ersten Lesart aussagen. Das heißt, in der Standard-Terminologie der Semantik kontrafaktischer Konditionale gesagt: Die nächstgelegene 54 mögliche Welt, in der ein Akteur mit authentischen Wünsche ganz andere Einstellungen hat, die ebenso authentisch sind, ist eine Welt, in der seine Geschichte eine andere ist. Dies wäre eine Welt, in der er andere Erfahrungen macht, anderen Menschen begegnet, andere Kindheitsträume hegt etc. Wenn wir die Einstellungen eines Akteurs also wirklich als authentisch beurteilen, dann gilt: Wir können ihn uns nur dann mit anderen, ebenso authentischen Einstellungen vorstellen, wenn wir ihn uns dabei gleichzeitig mit einer anderen Biographie vorstellen. Das heißt: Ein Akteur mit authentischen Wünschen könnte keine anderen Wünsche haben, die ebenso authentisch sind, solange seine Geschichte so ist, wie sie ist. Dies legt den Schluss nahe, dass authentische Einstellungen in bestimmten Relationen zur Geschichte ihres Subjekts stehen müssen. Diese Relationen sind es dann, die dafür sorgen, dass nicht jedes kohärente System von Einstellungen im gegebenen Rahmen der Geschichte des Akteurs als authentisch gelten kann. Würden wir dabei nicht annehmen, dass es solche spezifizierbaren Relationen gibt, würden wir es letztlich als ein unerklärba-
_____________ 54 Solche räumlichen Metaphern werden üblicherweise in Begriffen der Ähnlichkeit ausbuchstabiert. Eine mögliche Welt liegt also genau dann „näher“ an der Aktualität als eine andere, wenn sie der tatsächlichen Welt in bestimmten, z. T. kontextuell variablen Hinsichten ähnlicher ist als jene (Vgl. Lewis 1973, 1986a).
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res Faktum ansehen müssen, dass die Geschichte einen solchen Unterschied macht. Das wäre im höchsten Maße unplausibel. In der Tat haben wir oft klare Vorstellungen darüber, welche Verknüpfungen zwischen der Geschichte eines Akteurs und seinen Wünschen dafür sorgen, dass diese Wünsche als authentisch erscheinen. Man nehme das obige Beispiel von Paul, dem Philatelisten: Was seine Sammelleidenschaft zu einer besonders persönlichen Angelegenheit macht, ist eben deren lebensgeschichtliche Verknüpfung mit seinem Großvater. Es sind lebensgeschichtliche Karrieren dieser Art, die für uns einen intuitiven Unterschied in der Frage der Authentizität machen. Paul könnte nicht als ebenso authentisch gelten, wenn er eine beliebige andere kohärente Menge von Wünschen hätte. Denn diese anderen Wünsche hätten keine so bedeutsamen Wurzeln in seiner Geschichte. Dies ist zwar sicherlich alles andere als eine präzise Spezifikation einer bestimmten Relation zwischen authentischen Wünschen und der Geschichte ihrer Subjekte. Aber es dürfte hinreichend plausibel machen, dass es oftmals etwas Informatives darüber zu sagen gibt, wie die Geschichte eines Subjekts bestimmte ihrer Wünsche als authentisch ausweist. Ich werde vorerst einen allgemeinen Namen für die gesuchte Relation einführen, die zwischen Pauls Liebe zum Sammeln und seiner Geschichte besteht. Ich bezeichne diese Art der Verknüpfung als lebensgeschichtliche Einbindung. Und ich werde ausdrücken, dass ein Wunsch in dieser Relation zur Geschichte seines Subjekts steht, indem ich sage, er sei lebensgeschichtlich eingebunden. In dieser Begrifflichkeit kann man die Pointe der obigen Argumentation so ausdrücken: Die synchrone Kohärenz eines Einstellungssystems ist nicht hinreichend für die Authentizität seiner Elemente. Zudem müssen diese Elemente in einer Weise lebensgeschichtlich eingebunden sein, in der dies nicht von beliebigen alternativen Systemen mit gleicher Kohärenz gilt. In späteren Paragraphen untersuche ich die Relation lebensgeschichtlicher Einbindung genauer. Es wird sich zeigen, dass sie in sehr unterschiedlichen Weisen und auch in sehr unterschiedlichen Graden realisiert sein kann. Im Zuge dieser weiteren Untersuchung wird genauer erkennbar, wovon die Rechtfertigung einer Identifikation mit bestimmten Wünschen abhängt. So wird zugleich deutlich, wovon die Geschichten handeln, mit denen wir diese Identifikationen rechtfertigen müssen. Bevor ich mich aber an die genaue Charakterisierung jener Relation mache, werde ich diskutieren, wie die Bedingung der lebensgeschichtlichen Einbindung eigentlich genau zu formulieren ist.
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§ 17. Die Form einer kombinierten Bedingung der Authentizität Ich muss also um etwas Geduld bitten. Erst später wird erklärt, was genau es heißt, dass eine Einstellung in die Lebensgeschichte ihres Subjekts eingebunden ist. Nehmen wir vorerst an, wir wüssten, was gemeint ist. Dann lässt sich fragen, welche Form eine adäquate Bedingung der Authentizität haben muss. Wie sollten wir die synchronen und diachronen Bedingungen zu einer umfassenden Bedingung kombinieren? Eine naheliegender erster Vorschlag lautet natürlich wie folgt: Authentische Einstellungen müssen ein kohärentes System (im oben dargestellten Sinne) konstituieren, und sie müssen außerdem alle lebensgeschichtlich eingebunden sein. Offizieller gesagt: Erster Vorschlag: Eine Einstellung ψ eines Akteurs A ist genau dann authentisch zum Zeitpunkt t, wenn ψ zu t ein kohärenter Teil des Einstellungssystems von A ist, und wenn ψ zu t lebensgeschichtlich eingebunden ist. Dieser Vorschlag ist jedoch unhaltbar. Die biographische Bedingung für Authentizität ist deutlich zu stark, wenn sie fordert, dass Einstellungen nur dann authentisch sind, wenn sie in jener besonderen Relation der Einbindung zur Geschichte ihres Subjekts stehen. Ich habe zwar noch nicht gesagt, was es genau heißt, dass eine Einstellung dergestalt eingebunden ist. Aber das Beispiel Pauls hat immerhin angedeutet, dass es sich um eine anspruchsvolle Verknüpfung handelt. Und ist es denn richtig, dass nur solche Wünsche authentisch sein können, die in einer so anspruchsvollen Relation zu unserer Geschichte stehen? Können nicht auch ganz neu entdeckte Wünsche durchaus authentisch sein? Ich würde sagen: Ja. Daher fordere ich nicht für jede authentische Einstellung eine lebensgeschichtliche Einbindung. Hier kommt ein besserer Vorschlag: Vielleicht müssen authentische Einstellungen ein kohärentes System bilden, und ein hinreichender Teil der Elemente dieses Systems muss lebensgeschichtlich eingebunden sein? Das klingt trivial genug, um wahr sein zu können. Aber es ist eben auch völlig uninformativ, solange nicht spezifiziert wird, was denn „ein hinreichender Teil“ ist. Eine solche Spezifikation wäre diese: Ein hinreichender Teil der Elemente des Einstellungssystems von A zu t ist lebensgeschichtlich eingebunden, wenn es kein anderes mögliches System gibt, dessen Elemente zu t in höherer Anzahl in As Lebensgeschichte eingebunden wären. Offizieller:
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Zweiter Vorschlag: Eine Einstellung ψ eines Akteurs A ist genau dann authentisch zum Zeitpunkt t, wenn ψ zu t ein kohärenter Teil des Einstellungssystems Φ von A ist, und wenn es keine Menge von Typ-Einstellungen Δ gibt, so dass gilt: Wenn A zu t statt der Elemente von Φ Tokens der Elemente von Δ hätte, so wäre eine ebenso große oder größere Zahl der Einstellungen von A lebensgeschichtlich eingebunden. Dieser Vorschlag klingt schon plausibler. Er lässt immerhin zu, dass auch neu entwickelte Wünsche authentisch sein können, wenn sie kohärente Teile eines Systems sind, dessen Elemente insgesamt in einer konkurrenzlosen Anzahl biographisch eingebunden sind. Dennoch ist auch dieser Vorschlag nicht adäquat. Bevor ich jedoch zeige, warum, ist es hilfreich, einige Verfeinerungen vorzuschlagen, die auch für die nachfolgenden Vorschläge relevant sind. Es ist nämlich sinnvoll, nicht auf nur die Anzahl der lebensgeschichtlich eingebundenen Einstellungen zu achten. Erstens wird erkennbar werden, dass lebensgeschichtliche Einbindung graduell realisiert sein kann. Und es ist intuitiv plausibel, auch zwischen Graden der Einbindung zu differenzieren. Zweitens macht es auch einen Unterschied, ob eher zentrale oder eher periphere Elemente eines Einstellungssystems lebensgeschichtlich eingebunden sind. Wenn viele meiner Wünsche lebensgeschichtlich eingebunden sind, an denen ich nicht sehr hänge, so macht dies einen geringeren Unterschied, als wenn es meine wichtigsten und festesten Absichten sind. Ich werde daher vom Maß sprechen, in dem die Elemente eines Einstellungssystems lebensgeschichtlich eingebunden sind. Dieses Maß ist eine Funktion der Anzahl und des zentralen oder peripheren Status der eingebundenen Einstellungen sowie des Grades ihrer Einbindung. Ich sehe keine Möglichkeit, diese Aspekte zu quantifizieren oder genaue Koeffizienten für ihr relatives Gewicht anzugeben. Vielmehr gilt: In dem Maße, in dem es Vagheit in der Beurteilung und in der relativen Gewichtung dieser Aspekte gibt, gibt es eben auch Vagheit in der Beurteilung der Authentizität. Es wäre zweifellos naiv, zu leugnen, dass es derlei Spielraum und Vagheit gibt. Und es sollte als ein Vorzug einer Theorie gelten, wenn sie dies in transparenter Weise anzeigt. Wir können den zweiten Vorschlag nun reformulieren. Eine Einstellung ist genau dann authentisch, wenn gilt: Sie ist ein kohärenter Teil eines Systems von Einstellungen, und es gibt kein anderes mögliches System, das zum fraglichen Zeitpunkt ein ebenso großes oder größeres Maß an lebensgeschichtlicher Einbindung aufweisen würde. Auch dieser Vorschlag ist, wie gesagt, defizitär. Das liegt daran, dass er der Bedingung der Kohärenz zu wenig Gewicht beimisst. Dies lässt sich
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an einem Beispiel zeigen: Angenommen, ich hätte die Möglichkeit, einen langjährigen Kindheitstraum zu verwirklichen. Aber ich muss zugleich feststellen, dass dieser Traum mittlerweile kaum noch etwas mit dem zu tun hat, was mir wichtig ist. Die Bedingungen der Kohärenz und der lebensgeschichtlichen Einbindung stellen also konfligierende Forderungen: Werde ich mir untreu, wenn ich mich von jenem lange gehegten Traum verabschiede, nur weil mir gerade anderes wichtiger ist? Oder werde ich mir vielmehr untreu, wenn ich an alten Wünschen festhalte, obschon ich gar nicht mehr von ganzem Herzen hinter ihnen stehe? Nehmen wir nun an, ich beantworte die zweite Frage mit „Ja“. Ich entschließe mich dagegen, den Kindertraum zu verwirklichen. Es erscheint durchaus möglich, dass dieser Entschluss korrekt ist. Aber mein Vorschlag schließt dies aus. Er sagt, dass Einstellungen nur dann authentisch sind, wenn kein alternatives System von Einstellungen ein höheres Maß an lebensgeschichtlicher Einbindung hätte. Wenn ich mich nun nicht von meinem Kindheitswunsch verabschiede, so hätte ich aber eine Einstellung mehr, die dergestalt eingebunden ist. Demnach könnte meine Entscheidung unmöglich authentisch sein. Aber das Beispiel hat gezeigt, dass dies nicht in jedem Falle plausibel ist. Es kann authentisch sein, eine lebensgeschichtlich eingebundene Einstellung zugunsten einer anderen abzulehnen, wenn diese mehr mit dem übereinstimmt, woran mir heute liegt. Ein adäquater Vorschlag gewährt also bei Konflikten zwischen Kohärenz und lebensgeschichtlicher Einbindung nicht automatisch der letzteren Vorrang. Es muss, anders gesagt, die Möglichkeit geben, dass wir uns authentischer Weise von langjährigen Träumen verabschieden, weil sie nicht mehr unserem umfassenderen Denken und Wollen entsprechen. Gleichzeitig jedoch soll weiterhin berücksichtigt bleiben, dass die synchrone Kohärenz eben nicht alles ist, was in Bezug auf Authentizität zählt. Eine adäquate Theorie muss daher auch anzeigen können, dass manche Entscheidungen nicht authentisch sind, obschon sie die Kohärenz eines Systems von Wünschen maximieren. Ein besserer Vorschlag verwendet den Begriff einer optimalen Nettobilanz der Kohärenz und der lebensgeschichtlichen Einbindung. Seien Φ und Δ verschiedene mögliche Systeme von Einstellungen, die ein Akteur A zu einem Zeitpunkt t haben könnte. Dann hat Φ für A zu t eine bessere Nettobilanz der Kohärenz und der lebensgeschichtlichen Einbindung als Δ, wenn gilt: Entweder würde Φ in punkto Kohärenz und in lebensgeschichtlicher Einbindung höhere Werte für A zu t aufweisen als Δ. Oder Φ würde in einer Hinsicht einen niedrigeren und in der anderen einen höheren
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Wert für A zu t aufweisen als Δ, wobei in der letzteren Hinsicht die größere Differenz zwischen Φ und Δ läge. Dann kann man definieren, dass eine Einstellungsmenge eine optimale Nettobilanz hat, wenn es kein alternatives System mit besserer Nettobilanz gibt. Mein nächster Vorschlag beinhaltet dann, dass eine Einstellung dann authentisch ist, wenn sie Teil eines Einstellungssystems mit einer solchen optimalen Nettobilanz ist. Ich formuliere dies so: Dritter Vorschlag: Eine Einstellung ψ eines Akteurs A ist genau dann authentisch zum Zeitpunkt t, wenn ψ zu t ein kohärenter Teil des Einstellungssystems Φ von A ist, und wenn Φ in dem Sinne eine optimale Nettobilanz der Kohärenz und der lebensgeschichtlichen Einbindung aufweist, dass es keine Menge von Typ-Einstellungen Δ gibt, so dass gilt: Wenn A zu t statt der Elemente von Φ Tokens der Elemente von Δ hätte, so hätte dieses letztere Einstellungssystem eine bessere Nettobilanz der Kohärenz und der lebensgeschichtlichen Einbindung als Φ. Auch mit diesem Vorschlag soll keinesfalls der Anspruch oder die Suggestion verbunden sein, dass sich die thematischen Phänomene quantifizieren oder kardinal gewichten ließen oder dergleichen. Vielmehr gilt auch hier, dass es sicherlich Vagheiten und Spielräume in der Bestimmung der optimalen Nettobilanz gibt. Genau darin spiegeln sich eben wiederum die Vagheit und der Spielraum wieder, die es in der Frage gibt, welche Einstellungen unsere authentischen Einstellungen sind. Es ist also in keiner Weise mein Anliegen, diesen Phänomenen eine mathematische Präzision abzuverlangen, die sie nicht haben. Mein Ansinnen ist lediglich, möglichst viel von der Struktur dieser Phänomene transparent zu machen. Dabei greife ich zu schematischen Mitteln, die gewiss auch vereinfachen. Der dritte Vorschlag hat nun sicherlich einiges für sich. Er erfasst, inwiefern die Suche nach dem wirklich eigenen Willen ein Abwägen zwischen unserer Geschichte und der gegenwärtigen Stimmigkeit unserer Anliegen erfordern kann. Er fordert dabei nicht, dass ein geeignetes Einstellungssystem konkurrenzlos im Hinblick auf die Nettobilanz von Kohärenz und lebensgeschichtlicher Einbindung sein muss. Es muss lediglich in dem Sinne optimal sein, dass es kein alternatives System mit einer besseren solchen Bilanz gibt. Auch dies erscheint korrekt. Es kann sich durchaus herausstellen, dass es nicht eine richtige Entscheidung für die authentische Einstellung gibt. Im obigen Beispiel könnte sowohl die Entscheidung für den Kindheitstraum als auch die für das gegenwärtig stimmigere Anliegen authentisch sein.
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Ist diese liberale Haltung aber konsistent mit dem Ergebnis meiner obigen Argumentation? Dort ergab sich ja, dass authentische Einstellungssysteme keine ebenso authentischen Alternativen im Kontext der Geschichte ihrer Subjekte haben dürfen. Hier ist aber zu bedenken, dass das obige Argument informal und auch vieldeutig gewesen ist. Mir scheint aber, dass die Intuitionen, auf denen es beruht, die Frage betreffen, ob beliebige andere Einstellungssysteme ebenso authentisch sein dürfen. Es schließt nicht aus, dass es bestimmte Alternativen geben kann, die ebenso authentisch wären. Jedoch ist auch der dritte Vorschlag noch nicht adäquat, und ich muss ankündigen, dass ich auch keinen Vorschlag werde präsentieren können, der mir ganz korrekt erscheint. Zunächst jedoch zu den Schwierigkeiten dieses Vorschlags: Erstens ist er deshalb defizitär, weil er kein Mindestmaß an lebensgeschichtlicher Einbindung fordert. Es könnten sich Einstellungssysteme konstruieren lassen, die in einem so hohen Maße kohärent sind, dass sie auch völlig ohne lebensgeschichtliche Einbindung immer die höchste Nettobilanz aufweisen. Wenn dies stimmt, dann wären die Elemente solcher superkohärenten Systeme immer authentisch, unabhängig von der Geschichte ihrer Elemente. Es müsste also eine Teilbedingung eingefügt werden, die besagt, dass ein Mindestmaß an lebensgeschichtlicher Einbindung nicht durch Kohärenz wettgemacht werden kann. Das würde erneut die Frage aufwerfen, welches dieses Mindestmaß ist. Zweitens kann man fragen, ob die beiden letzten Vorschläge nicht in einem zu starken Maße holistisch sind. Man könnte vorschlagen, dass eine lebensgeschichtlich eingebundene Einstellung, die Teil eines kohärenten Systems ist, in jedem Falle authentisch ist – unabhängig davon, ob bestimmte andere Elemente des Systems vielleicht gegen besser eingebundene vertauscht werden könnten. Anders gesagt: Womöglich ist die Frage nach der lebensgeschichtlichen Einbindung aller Einstellungen in einem System vor allem dann wichtig, wenn es um eine Einstellung geht, die nicht selbst derart eingebunden ist. Vielleicht müssen also nur solche letzteren Einstellungen durch die biographische Einbindung anderer Elemente als authentisch ausgezeichnet werden. Mir scheint in der Tat, dass ein solcher Vorschlag noch plausibler wäre. Er könnte z. B. die logische Form einer Disjunktion des ersten und des dritten Vorschlags haben: Vierter Vorschlag Eine Einstellung ist entweder dann authentisch, wenn sie ein kohärenter Teil eines Einstellungssystems und selbst lebensgeschichtlich eingebunden ist. Oder sie ist authentisch, wenn sie ein kohärenter Teil eines Systems ist, das eine optimale Nettobilanz der Kohärenz und der
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lebensgeschichtlichen Einbindung (mit dem nötigen Mindestmaß an lebensgeschichtlicher Einbindung) aufweist. Ich zweifle allerdings nicht, dass sich auch dieser Vorschlag noch in zahllosen Hinsichten verbessern ließe. Aber das ist nichts, was ich an dieser Stelle unternehmen könnte. Es genügt für meine Zwecke, wenn ich plausibel gemacht habe, dass es eine generelle und positive Relevanz der Biographie in der Frage der Authentizität gibt. Meine konkreten Vorschläge sollten nur in die Richtung einer befriedigenden Formulierung weisen. Dies, scheint mir, tun sie immerhin. Sie haben dabei gezeigt, dass die Bedingungen der lebensgeschichtlichen Einbindung und der Kohärenz in komplizierter Weise interagieren. In dieser Interaktion konstituieren sie gemeinsam den authentischen Willen der Person. Freilich wird sich die Tragfähigkeit einer Konzeption dieser Art erst dann wirklich beurteilen lassen, wenn klar ist, was lebensgeschichtliche Einbindung ist. Dies zu klären ist die Aufgabe der nachfolgenden Abschnitte. Ich halte aber bereits fest: Es sind Gründe dafür erkennbar geworden, Authentizität für ein essentiell historisches Gut zu halten. Das bedeutet für meine These: Gerechtfertigte Überzeugungen über Authentizität setzen gerechtfertigte Überzeugungen biographischen Inhalts voraus. Und damit ist ein weiterer Schritt in meiner Argumentation für DNT genommen. Denn es folgt, dass auch eine Identifikation mit einem Wunsch nur dann gerechtfertigt ist, wenn bestimmte biographische Überzeugungen gerechtfertigt sind. Nun wird es um die Frage gehen, was genau der Inhalt solcher biographischen Überzeugungen sein muss.
§ 18. Lebensgeschichtliche Einbindung und lebensgeschichtliche Karriere Wir könnten das Einstellungssystem eines Akteurs wie Paul nicht einfach gegen ein ähnlich wohlintegriertes System austauschen, ohne damit seine Authentizität zunichte zu machen. Das liegt daran, dass Pauls System Einstellungen enthält, die in besonderen Verbindungen zu bestimmten Teilen seiner Geschichte stehen. Im vorletzten Abschnitt wurde argumentiert, dass dies nicht nur für Paul gilt. Vielmehr fordern wir für Akteure mit authentischen Einstellungen generell, dass es solche lebensgeschichtlichen Verknüpfungen geben muss. Ich werde nun diese Verknüpfungen zwischen authentischen Einstellungen und der Geschichte ihrer Subjekte untersuchen. Ich muss ankündigen, dass ich die Relation, die ich lebensgeschichtliche Einbindung nen-
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ne, nicht erschöpfend darstellen kann. Darüber, wie unsere Geschichte bestimmte Wünsche und Ideale als unsere wirklich eigenen Anliegen ausweist, kann man sicher zahllose Bände verfassen. Oder besser: Man hat darüber zahllose Bände verfasst. Immerhin haben wir es hier mit den wesentlichen Themen in der Tradition des psychologischen Romans und des Bildungsromans zu tun: Wie wird eine Person, wer sie (im emphatischen Sinne) ist? Wie konnten von all den vorstellbaren Anliegen und Idealen manche die authentischen Anliegen einer Person werden? Wie entwickeln wir im Laufe unseres Lebens persönliche Ziele und Wünsche? Eine kurze Reflexion auf die Vielzahl der Möglichkeiten, in denen die Geschichte eines Akteurs einen solchen Unterschied machen kann, zeigt: Es ist sinnvoll, lebensgeschichtliche Einbindung als eine Relation höherer Ordnung aufzufassen. Als solche wäre sie genau dann zwischen einer Einstellung eines Akteurs und Teilen seiner Geschichte instantiiert, wenn eine (oder mehrere) Relationen aus einer Menge anderer Relationen zwischen ihnen instantiiert ist (bzw. sind). In jedem Falle kann ich diese Relation und die vielfältigen Weisen, in denen sie realisiert werden kann, nicht erschöpfend untersuchen. Für meine Zwecke ist es aber ausreichend, wichtige Aspekte dieser Relation darzulegen. So lässt sich bereits zeigen, dass die biographischen Konzeptionen, von denen die These DNT spricht, überaus anspruchsvoll sind. Und es wird genügen, um schließlich zeigen zu können, dass diese Konzeptionen narrativ sind. Ich werde also nur einige Aspekte der lebensgeschichtlichen Einbindung von Einstellungen untersuchen. Die zu untersuchenden Aspekte werden nun zuerst kurz vorgreifend charakterisiert. Dann werde ich zwei Termini einzuführen haben, die im Folgenden hilfreich sein werden. Und mit Hilfe dieser Termini werde ich dann schließlich eine vollständigere und genauere Charakterisierung jener Aspekte geben. Ein erster Aspekt der lebensgeschichtlichen Einbindung einer Einstellung ist die Verlässlichkeit ihrer lebensgeschichtlichen Rolle. Es kann bereits für die Authentizität einer Einstellung sprechen, dass sie seit Kindesbeinen eines unserer wichtigsten Anliegen ist. Wenn wir hingegen feststellen, dass wir einen Wunsch zwar schon lange hegen, aber dass er uns oft auch ohne ersichtlichen Grund ganz gleichgültig wird, ist dies anders. Wir werden vielleicht sagen, dass uns von Zeit zu Zeit ein unerklärlicher Drang überkommt. Ein zweiter Aspekt ist die akzeptable Bedingtheit der Rolle einer Einstellung in unserer Geschichte. Angenommen, ein bestimmter Wunsch ist ein verlässlicher Teil unserer Geschichte. Aber dies ist nur deshalb der Fall, weil wir z. B. zu seiner Verfolgung gezwungen wurden. Dann ist die verlässliche Rolle offensichtlich nichts, was uns Grund gibt, den Wunsch als ein authentisches Anliegen anzusehen.
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Ein dritter Aspekt der lebensgeschichtlichen Einbindung einer Einstellung ist ihre deliberative Robustheit. Man nehme an, wir haben über Jahre einen verlässlichen und nicht mit Zwang verbundenen Wunsch. Aber dann stellen wir fest, dass diese Konstanz des Wunsches auf bloße Gewohnheit zurückzuführen ist. Wenn wir uns irgendwann die Mühe gemacht hätten, eine echte Entscheidung zu fällen, hätten wir wahrscheinlich einen anderen Wunsch ausgebildet. Dies spricht wiederum eher gegen die Authentizität jenes ersteren Wunsches. Ein vierter Aspekt lebensgeschichtlicher Einbindung ist schließlich ihre Sensitivität für biographische Gründe. Wir haben solche Gründe, wenn bestimmte Ereignisse uns nicht nur kausal dazu gebracht haben, etwas Bestimmtes zu wollen, sondern wenn uns bestimmte biographische Erfahrungen in besonderer Weise davon überzeugt haben, es zu wollen. Auch solche Gründe tragen zu der Diagnose bei, dass unsere Wünsche im Rahmen unserer Geschichte nicht einfach ausgewechselt werden könnten. Ich werde diese Aspekte, wie gesagt, weiter unten genauer darstellen. Ich behaupte dabei nicht, dass diese Liste nur annähernd erschöpfend ist. Aber ich behaupte, dass sie nennenswerte Aspekte dieser Verknüpfungen enthält. Dies wird für mein Beweisziel hinreichen: Wenn ich plausibel machen kann, dass Urteile über Authentizität reichhaltige biographische Konzeptionen voraussetzen, so ist damit alles erreicht, was ich brauche. Zuvor ist jedoch noch etwas Terminologie zu klären. Ich werde oft von der lebensgeschichtlichen Rolle oder der lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung sprechen müssen. Die Einbindung einer Einstellung in unsere Lebensgeschichte ist eben eine Eigenschaft, die sich ihrer lebensgeschichtlichen Karriere verdankt. Was aber ist die „lebensgeschichtliche Karriere“ einer Einstellung? Der Begriff ist intuitiv verständlich, und es mag nahe liegen, sich mit dieser Verständlichkeit zu bescheiden. Für den späteren Gang des Arguments ist es jedoch wichtig, die Struktur einer lebensgeschichtlichen Karriere genauer zu untersuchen. Nur so wird sich zeigen lassen, dass die biographischen Konzeptionen, auf die uns Identifikationen festlegen, eine narrative Struktur haben. Was also ist die lebensgeschichtliche Karriere einer Einstellung? Um dies zu sagen, muss ich zwei weitere Begriffe einführen. Erstens ist der Begriff einer intentionalen Korrespondenz zwischen einem Ereignis und einer Einstellung erforderlich. Zweitens benötige ich den Begriff eines Antezedens eines Ereignisses. Die lebensgeschichtliche Karriere einer Einstellung setzt sich nämlich aus den Ereignissen, die ihr intentional korrespondieren, und aus den Antezedenzien dieser letzteren Ereignisse zusammen. Ich erkläre dies genauer: Erstens zählen zur lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung Ereignisse, die ihr intentional korrespondieren. Dies sind, intuitiv gesagt, solche Ereignisse, an denen diese Einstellung in
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einer bestimmten Weise beteiligt war. Dem Wunsch, die Philosophie zu meinem Lebensinhalt zu machen, korrespondieren viele Ereignisse in meiner Geschichte – etwa bestimmte Entschlüsse, die ich gefasst habe, bestimmte Einfälle, die ich hatte, und bestimmte Handlungen, die ich vollzogen habe. Ich gebe nun etwas genauer an, um welche Ereignisse es sich hier handelt.55 Dabei muss ich die Frage, welche Ereignisse überhaupt zur Lebensgeschichte einer Person zählen, als intuitiv unproblematisch voraussetzen. Sicher gibt es delikate metaphysische Fragen, die ich damit ausklammere: Wo beginnt und endet die Geschichte einer Person? Welche Ursachen und Wirkungen der Ereignisse, die zur Lebensgeschichte einer Person gehören, gehören als solche ebenfalls zu dieser Geschichte? Ich werde, wie gesagt, einiges dazu sagen, welche Ereignisse zur lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung zählen. Aber für die Frage, welche Ereignisse überhaupt zur Biographie einer Person zählen, verlasse ich mich darauf, dass es neben den genannten schwierigen Fällen auch viele intuitiv klare Fälle gibt. Solche klaren Fälle sind es, von denen ich spreche. Nun wäre es zunächst einmal unplausibel, alle Ereignisse im Leben eines Akteurs zur Karriere einer Einstellung zu zählen, in denen er diese Einstellung hat. Wir haben die meisten unserer propositionalen Einstellungen über lange Zeit, meist ohne dass wir an sie denken und ohne dass sie eine Rolle in unserem Handeln spielen. (Das Haben einer propositionalen Einstellung ist nicht mit dem Haben einer bewussten Episode zu verwechseln, in der wir diese Einstellung reflektieren.) Zählten wir all diese Phasen zur biographischen Karriere dieser Einstellungen, so würden sich die Karrieren vieler unserer Einstellungen fast vollständig überschneiden. Es erscheint also sinnvoll, die biographische Karriere einer Einstellung exklusiver aufzufassen. Sie sollte auf die Ereignisse beschränkt werden, in denen jene Einstellung eine echte Rolle spielt. Ein wichtiger Fall eines solchen Ereignisses wäre eine Handlung, die von dieser Einstellung motiviert wird. Zwei weitere wichtige Ereignistypen sind erstens praktische Schlüsse (im Sinne partikularer, datierter Vorkommnisse), in denen die Einstellung die Rolle der Prämisse oder der Konklusion spielt. Zweitens sind es bewusste Episoden, in denen wir diese Einstellung explizit reflektieren. Zweifellos sind die drei genannten
_____________ 55 Zur metaphysischen Frage, was Ereignisse selbst sind, werde ich mich an einer späteren Stelle dieser Arbeit kurz äußern (siehe § 29a). Hier genügt es völlig, diesen Begriff im Wesentlichen in seinem intuitiven Sinn zu verstehen – allerdings in einer eher weiten und inklusiven Weise, der zufolge auch Entitäten, die wir gewöhnlich eher „Zustände“ oder „Prozesse“ nennen würden, Ereignisse sind. (Für einen solchen weiten Begriff spricht sich z. B. Kim 1993b aus.)
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Klassen nicht disjunkt, aber ebenso wenig sind sie identisch.56 Es ist daher sinnvoll, alle drei Klassen zu nennen. Ich zähle mithin alle Ereignisse zur biographischen Karriere einer Einstellung eines Akteurs, in denen er handelt und durch diese Einstellung motiviert ist, oder Beschlüsse fasst, an denen sie explizit beteiligt ist, oder sie bewusst reflektiert. Es gibt allerdings einen Grund, warum hier von intentional korrespondierenden Ereignissen die Rede ist. Die lebensgeschichtliche Karriere einer Einstellung sollte nämlich noch mehr Ereignisse umfassen als die, an denen sie selbst beteiligt ist. Dabei ist daran zu erinnern, dass wir propositionale Einstellungen sehr feinkörnig individuieren. Daher haben wir numerisch distinkte Einstellungen, die in so enger Beziehung stehen, dass auch sie biographische Einbindung konstituieren können. Angenommen, ich habe den allgemeinen Wunsch, ein hilfsbereiter Mensch zu sein. Ebenso hatte ich vor zwei Wochen den Wunsch, ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, und habe nach ihm gehandelt. Dann gibt es einen klaren intuitiven Sinn, in dem dieses letztere Ereignis dem allgemeinen Wunsch korrespondiert. Gleichwohl war es nicht dieser Wunsch selbst, der die Handlung motiviert hat. Es war ein anderer, der ihm in bestimmter Weise entspricht. Ich will genauer definieren, welche Relation der Entsprechung zwischen Wünschen bestehen muss, damit Tokens des einen zur lebensgeschichtlichen Karriere des anderen beitragen können. Zunächst einmal kann man eine asymmetrische und disjunktive Relation R zwischen Wünschen definieren. R besteht zwischen dem Wunsch eines Akteurs, dass p, und dem Wunsch desselben Akteurs, dass q, wenn gilt: Entweder bezeichnet „p“ einen allgemeinen Typ von Sachverhalten, und „q“ bezeichnet einen spezifischeren Sachverhalt, der unter jenen allgemeinen Typ fällt. Oder „p“ bezeichnet einen komplexen Sachverhalt und „q“ einen Sachverhalt, der den ersteren partiell konstituiert. Ersteres gilt für meinen Wunsch, hilfsbereit zu sein, und meinen Wunsch, zu einer bestimmten Zeit einem Kind gegenüber hilfsbereit zu sein. Der erste betrifft einen allgemeinen Typ von Sachverhalt, der zweite einen spezifischen Sachverhalt, der jenen Typ instantiiert. Die zweite Alternative
_____________ 56 Einem Standardmodell der Handlungsmotivation zufolge (z. B. Anscombe 1957, Davidson 1980a) sind Einstellungen dann, wenn sie Handlungen motivieren, ipso facto Teile praktischer Schlüsse, und darüber hinaus sind sie oftmals sicherlich auch bewusst. Wie immer man jedoch zu diesem Intentionsmodell steht – die umgekehrte Inklusionsbeziehung gilt sicher nicht, denn nicht jeder praktische Entschluss motiviert unmittelbar eine Handlung. Und weder sind alle Handlungsmotive und alle Prämissen unserer praktischen Schlüsse immer bewusst, noch sind alle bewussten Episoden, in denen Wünsche auftreten, notwendig Teile praktischer Schlüsse oder Motive für unmittelbares Handeln.
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gälte für meinen Wunsch, ein ruhiges Leben zu leben, und meinen Wunsch, heute einen ruhigen Abend zu verbringen: Ersterer betrifft einen komplexen Sachverhalt, und zweiterer einen, der den ersteren partiell konstituiert. Wünsche eines Akteurs, die in dieser asymmetrischen Relation R stehen, können zur lebensgeschichtlichen Karriere des jeweils anderen beitragen. Genauer: Das jeweils spezifischere Relatum kann zur Karriere des Wunsches mit dem allgemeineren Gehalt beitragen, und nicht umgekehrt. Es wäre z. B. kontraintuitiv, zu sagen, dass alle Handlungen, die von meinem allgemeinen Wunsch motiviert sind, hilfsbereit zu sein, auch zur biographischen Karriere meines spezifischen Wunsches, einem bestimmten Kind zu helfen, beitragen. Eine Asymmetrie zwischen Wünschen allgemeineren und spezifischeren Gehalts hat also eine Asymmetrie in der Möglichkeit der lebensgeschichtlichen Einbindung zur Konsequenz. Es ist jedoch noch Weiteres zu berücksichtigen: Unter Umständen könnte z. B. auch ein Wunsch, eines bestimmten Abends länger im Büro zu bleiben, Teil der Karriere meines Wunsches sein, meiner Sekretärin näherzukommen. Der erste Wunsch steht dabei zwar nicht unmittelbar in der Relation R zum zweiten Wunsch. Aber er lässt sich vielleicht adäquat als ein Wunsch artikulieren, der in dieser Relation zu jenem steht. Auch Tokens solcher Wünsche, die eine entsprechende Artikulation haben, können also zur lebensgeschichtlichen Karriere eines anderen Wunsches beitragen (s. o., § 14). Diese Erkenntnis ergibt eine Konzeption der intentionalen Korrespondenz, die ein angemessen reiches Bild der lebensgeschichtlichen Karriere von Einstellungen zulässt. Insbesondere wird deutlich, dass es eine Frage der Deutung und der Interpretation sein kann, zu entscheiden, was zur Geschichte eines Wunsches zählt. Dies wird schließlich auch implizieren, dass die Geschichten, die wir über die Karriere von Wünschen erzählen müssen, um eine Identifikation mit ihnen zu rechtfertigen, Deutungen darstellen werden. Gleichwohl impliziert mein Beharren darauf, dass die Adäquatheit einer Artikulation von ihrer deskriptiven Korrektheit abhängt, dass diese Geschichten keine Erfindungen sind. Ich definiere nun die Relation intentionaler Korrespondenz, die zwischen einer Einstellung eines Akteurs und Ereignissen in seiner Geschichte bestehen kann, wie folgt: Definition Intentionale Korrespondenz: Ein Ereignis e in der Lebensgeschichte eines Akteurs A korrespondiert seiner Einstellung ψ genau dann intentional, wenn gilt: (i) e ist eine Handlung, die von einer Einstellung ϕ motiviert ist, oder e ist ein Token eines praktischen Schlusses, zu dessen Prämissen oder
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Konklusionen ϕ zählt, oder e ist eine Episode eines bewussten Auftretens von ϕ, und (ii) ψ und ϕ sind entweder identisch, oder ψ und ϕ stehen in der Relation R, oder es gibt eine adäquate Artikulation von ϕ als einer Einstellung, die mit ψ identisch ist oder die in R zu ψ steht. Damit ist ein Teil der Ereignisse identifizierbar geworden, die die biographische Karriere einer Einstellung eines Akteurs zu einer Zeit t konstituieren. Es sind eben die Ereignisse in seiner Geschichte zu t, die dieser Einstellung intentional korrespondieren. Der andere Teil der lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung umfasst, wie gesagt, Antezedenzien jener ersteren Ereignisse. Die vorgreifende Charakterisierung von vier Aspekten der lebensgeschichtlichen Einbindung hat gezeigt, dass es nicht nur darum geht, ob eine Einstellung Relevanz in unserer Geschichte hat. Es geht daher auch nicht nur um Ereignisse, die ihr intentional korrespondieren. Von Bedeutung ist ebenfalls, wie es dazu kam, dass eine Einstellung ihre biographische Rolle spielt. Es geht also auch um die Ereignisse, die korrespondierende Ereignisse herbeiführen oder beeinflussen. Dabei sind keineswegs nur kausale Antezedenzien relevant. Es geht allgemein um Ereignisse, ohne die das korrespondierende Ereignis nicht stattgefunden hätte. Dieser kontrafaktischen Dependenz können kausale, aber auch rationale, probabilistische und vielleicht andere Relationen zugrunde liegen.57 Zu den Antezedenzien gehören also auch intentionale Faktoren wie Absichten, Einfälle, Erkenntnisse und dergleichen, und der Begriff des Antezedens erfordert dabei keine kausale Deutung ihrer Rolle. Allerdings ist eine wichtige Restriktion vonnöten. Wenn wir alles als ein Antezedens eines Ereignisses betrachteten, wovon dieses kontrafaktisch abhängt, so müssten wir eine riesige Kette von Ereignissen berücksichtigen. Diese Kette würde bis zum Urknall reichen (der dann, unserer besten Theorie zufolge, in Bezug auf jedes Ereignis im Universum als ein Antezedens gelten müsste). Und mehr noch: Eine so absurd umfangreiche Menge von Antezedenzien wäre Teil der biographischen Karriere jeder Einstellung. Es dürfte klar sein, dass dies jeder intuitiven Vorstellung, die
_____________ 57 Freilich: Wenn man eine Theorie der Kausalität vertritt, der zufolge Verursachung nichts anderes ist als einfache kontrafaktische Abhängigkeit, so ist jedes Antezedens eine kausale Ursache. Man muss dann allerdings berücksichtigen, dass dies eben trivialer Weise so ist. Alles, was überhaupt in irgendeiner Weise einen Unterschied in der Welt macht, würde dann per definitionem eine kausale Rolle spielen. Ein solcher Begriff der Verursachung erscheint mit zu weit, als dass es z. B. in der Handlungstheorie überhaupt einen interessanten Streit darüber geben könnte, ob Gründe Ursachen sind und dergleichen.
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wir von der Rolle eines Wunsches in unserer Lebensgeschichte haben, zuwiderlaufen würde. Was erforderlich ist, ist der Begriff einer entscheidenden Bedingung.58 Sicherlich, ohne den Urknall wäre es z. B. nicht geschehen, dass ich jetzt einen Teller versalzener Suppe vor mir habe. Und es gibt noch zahllose weitere Bedingungen, von denen das letztere Ereignis abhängt – etwa die, dass das Salz überhaupt als Würzmittel entdeckt wurde, dann produziert und verkauft wurde, und dass ich heute Lust hatte, zu kochen. Natürlich war eine Bedingung aber auch, dass ich zuviel Salz in die Suppe gestreut habe. Und dies scheint intuitiv entscheidend gewesen zu sein. Antezedenzien eines Ereignisses sollen nun Ereignisse sein, die das erstere dergestalt entscheidend herbeiführen. Soweit ich sehe, gibt es bisher keine gute Theorie darüber, wie sich entscheidende von anderen Bedingungen unterscheiden. Ich wäre gerne bereit, mich an unseren intuitiven Begriff entscheidender Bedingungen zu halten – falls erforderlich. Ich will aber zumindest einen Vorschlag zu einer theoretischen Analyse machen. Er lautet wie folgt: Auch die entscheidenden Bedingungen eines Ereignisses e, die hier Antezedenzien heißen sollen, können wir durch kontrafaktische Konditionale über e herausgreifen. Dies ist möglich, indem wir quasi die zeitliche Richtung des Konditionals umkehren. Für Antezedenzien von e soll nicht nur gelten, dass e ohne sie nicht stattgefunden hätte. Es gilt außerdem, dass sie ohne e ebenfalls nicht stattgefunden hätten. Konditionale dieser „gegen die Richtung der Zeit laufenden“ Form klingen in unseren Ohren ungewohnt. Man bezeichnet sie mit D. Lewis oft als backtracking counterfactuals.59 Obschon sie aber seltsam klingen, sind sie – so sind sich die meisten Autoren einig – sinnvoll. Und sie geben uns genau das, was wir suchen: Sie liefern uns nämlich aus der riesigen Menge der notwendigen Bedingungen für e genau die Elemente, für die wir am ehesten schließen würden, dass sie wohl auch nicht geschehen wären, wenn e nicht stattgefunden hätte. Vergleiche: „Wenn ich jetzt keine versalzene Suppe vor mir hätte, so hätte ich sie wohl vorhin nicht versalzen.“ Dies klingt ungewöhnlich, aber es ist grammatisch wohlgeformt und sicher nicht falsch. Falsch ist jedoch: „Wenn ich jetzt keine versalzene Suppe vor
_____________ 58 Die Bedingungen, von denen hier die Rede ist, sind größtenteils keine notwendigen Bedingungen simpliciter, sondern das, was J. Mackie „INUS-conditions“ nennt (vgl. Mackie 1974). Ich bevorzuge jedoch die Formulierung in Begriffen von counterfactuals, die ich im Text gebe. 59 D. Lewis, der aus systematischen Gründen, die im Zusammenhang mit seiner Theorie der Kausalität stehen, darauf festgelegt ist, diese Klasse von Aussagen kritisch zu betrachten, weist zu Recht darauf hin, dass sie unüblicher sind als andere counterfactuals. Aber auch er muss zugestehen, dass sie wohlgeformt, sinnvoll und wahrheitsfähig sind (S. z. B. Lewis 1986a und 1986b).
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mir hätte, so wäre wohl das Salz nicht als Würzmittel entdeckt worden“ oder gar: „Wenn ich jetzt keine versalzene Suppe vor mir hätte, so hätte wohl der Urknall nicht stattgefunden“. Dieses Resultat ist zumindest ein Indiz dafür, dass backtracking counterfactuals die richtigen Ereignisse zu identifizieren erlauben. Natürlich ist dies nur ein knapper Vorschlag, der weiter ausgearbeitet werden müsste. Zudem steckt die Logik und Semantik von backtracking conditionals voller Schwierigkeiten, die hier nicht diskutiert werden können. Da der Vorschlag dennoch viel versprechend klingt, mache ich ihn mir für meine Formulierung zunutze. Es bleibt zu berücksichtigen, dass der Rekurs auf backtracking counterfactuals einigermaßen spekulativ ist. Er kann jedoch jederzeit durch unseren intuitiven Alltagsbegriff einer entscheidenden Bedingung ersetzt werden. – Hier kommt also eine Definition: Definition Antezedens Ein Ereignis x ist genau dann ein Antezedens eines Ereignisses e, wenn x zeitlich vor e stattfindet und wenn dabei erstens gilt, dass ¬G(x) → ¬G(e) wahr ist, und wenn zweitens auch das backtracking conditional ¬G(e) → ¬G(x) wahr ist (wobei „G(x)“ als „x geschieht“ oder „x findet statt“ zu lesen ist). Die Menge der Antezedenzien eines Ereignisses e umfasst nach dieser Definition genau die Bedingungen von e, die unter den naheliegendsten Umständen, unter denen e nicht stattgefunden hätte, auch nicht stattgefunden hätten.60 Salopp gesagt: Wenn wir uns vorstellen, was nahe liegender Weise hätte anders laufen müssen, damit es nicht zu e kommt, dann stoßen wir auf genau die Ereignisse, die Antezedenzien von e sind. Nun lässt sich endlich genau sagen, welche Ereignisse zur lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung zählen: Die lebensgeschichtliche Karriere einer Einstellung ψ eines Akteurs A zur Zeit t umfasst erstens die Ereignisse in der Geschichte von A bis zu t,
_____________ 60 Dies ist, erneut in der Sprache der geläufigen Semantik für kontrafaktische Konditionale, äquivalent mit folgender Theorie: Sei W¬e die Menge der Welten, in denen ein Ereignis e, das in der tatsächlichen Welt stattfindet, nicht stattfindet, die aber der tatsächlichen Welt ansonsten so ähnlich wie möglich sind. Dann ist die Menge der Antezedenzien genau die Menge von Ereignissen, die in der tatsächlichen Welt zeitlich vor e stattfinden und die dabei nicht in allen Welten in W¬e stattfinden. Es handelt sich dabei deshalb um eine Menge von Ereignissen, weil die Relation der Ähnlichkeit, die bestimmt, was Element von W¬e ist, keine strikte Ordnung definiert, sondern Pattsituationen (ties) zulässt (vgl. Lewis 1973). Es kann verschiedene Welten geben, in denen e nicht stattfindet, und deren Vorgeschichte der tatsächlichen Vorgeschichte in unterschiedlichen Hinsichten gleichermaßen ähnelt.
§ 18. Lebensgeschichtliche Einbindung und lebensgeschichtliche Karriere
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die ψ intentional korrespondieren, und zweitens die Ereignisse, die Antezedenzien der letzteren sind. Intuitiver gesagt: Die Karriere einer Einstellung ψ umfasst die Ereignisse, in denen ψ eine echte Rolle gespielt hat, und die Ereignisse, die entscheidend dazu geführt haben, dass dies passiert. Nachdem diese Begriffe definiert sind, kann ich mich nun den Aspekten der lebensgeschichtlichen Einbindung zuwenden. Damit benenne ich zugleich wichtige Inhalte der Narrationen, mit denen wir Identifikationen rechtfertigen müssen.
§ 19. Aspekte der lebensgeschichtlichen Einbindung von Einstellungen An dieser Stelle ist es hilfreich, ein weiteres Beispiel zu konstruieren: Karl ist Profikiller, und er hat ein zwiespältiges Verhältnis zu seinem Beruf. Einerseits legt er großen Wert auf Loyalität zu seinen Arbeitgebern und zeigt hingebungsvolles Engagement für seine Profession. Andererseits jedoch plagen ihn Skrupel und moralische Bedenken, er verspürt durchaus den Drang, sein Leben zu ändern. Als wären diese konfligierenden Motive aber nicht unerfreulich genug, ist Karls Situation sogar noch komplizierter: Wegen eines Arbeitsunfalls leidet Karl seit heute unter einer Amnesie. Dies bringt ihn in die schwierige Position, dass er zwar gegenwärtig eine Reihe von Wünschen und Idealen in sich vorfindet, aber nichts über ihre lebensgeschichtlichen Karrieren weiß. Er kennt also seine konkurrierenden Wünsche, aber ihm fehlt alles Wissen davon, wie lange er sie hat, und welche Rolle sie wohl in seiner Geschichte gespielt haben mögen. Es dürfte dem Leser deutlich sein, was der Witz dieses Beispiels ist: Karl wird vor der Frage stehen, welcher Teil seiner Wünsche das darstellt, was er wirklich will. Sind es seine moralischen Bedenken, in denen sich die wahre Stimme seines Herzens äußert? Sollte er seine Begeisterung für seinen Beruf also als eine Perversion betrachten, die ihn heimsucht, obwohl er sie tief im Innern verabscheut? Oder ist er in Wahrheit mit Leib und Seele ein Killer? Und sind seine moralischen Skrupel nur hartnäckige Relikte einer Herdenmoral, oder nur flüchtige sentimentale Anwandlungen? Oder ist er einfach beides? Muss er damit leben, dass eben zwei Herzen, ach, in seiner Brust schlagen? Meine bisherige Argumentation läuft nun auf Folgendes hinaus: Es ist für Karl in dieser Situation nicht gerechtfertigt, überhaupt irgendeine dieser Optionen zu bejahen oder zu verneinen. Es wäre z. B. ungerechtfertigt, wenn Karl sich sicher wäre, dass er in seinem Innersten gar kein Kil-
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ler sei. Jedenfalls wäre dies solange nicht gerechtfertigt, wie er nichts über seine Geschichte weiß. Indem er sein Wissen über seine Geschichte verloren hat, hat er auch die Orientierung darüber verloren, wer er ist. Natürlich kann Karl einfach eine Entscheidung fällen – etwa die, sein Leben als Killer zu beenden und seinen moralischen Überzeugungen gemäß zu leben. Dabei mag er seine Lage sogar als befreiend empfinden, weil sie einen Neuanfang ermöglicht. Aber es würde sich hier eben um eine bloße Entscheidung handeln. Für eine echte Identifikation fehlt Karl die Antwort auf die Frage, was er wirklich will. Man könnte sagen: Karl träfe hier eine Entscheidung dafür, eine Person zu werden, die schließlich irgendwann bestimmte Wünsche als ihren wirklichen Willen ansehen darf. Aber auch hierfür bedürfte es der Geschichte. Nicht jede Entscheidung macht uns gleich zu Personen mit bestimmten authentischen Belangen. Karl müsste den Einstellungen, für die er sich entscheidet, eben erst eine lebensgeschichtliche Einbindung verleihen. Nur dann könnte er gerechtfertigt urteilen, in seinem Innersten eigentlich kein Killer zu sein. Das Beispiel macht dabei noch einmal deutlich, dass Karls Konzeption seiner Geschichte das ist, worum es geht. Wichtig ist nicht unmittelbar seine Geschichte, sondern sein Wissen von ihr. Man kann durchaus annehmen, dass Karls Geschichte eindeutig dafür spricht, dass nur ein Teil seiner Wünsche authentisch ist. Es bleibt trotzdem dabei: Solange Karl nichts davon weiß, muss jede Entscheidung ein blinder, oder an ganz anderen Gründen orientierter Willkürakt bleiben. Ein solcher Akt wäre entweder keine oder doch keine gerechtfertigte Identifikation. Am Beispiel Karls lässt sich verdeutlichen, welche biographischen Informationen für eine Identifikation relevant wären. Wir können nachvollziehen, welches Wissen über seine Geschichte es Karl erlauben könnte, bestimmte Wünsche als das zu identifizieren, was er wirklich will. Wenn man verschiedene mögliche Informationen daraufhin prüft, wird es möglich, die oben skizzierten Aspekte lebensgeschichtlicher Einbindung genauer zu verstehen. Dies unternehme ich deshalb im Folgenden. a) Der Aspekt der Verlässlichkeit Angenommen, Karl erführe (entweder indem sich ein Teil seiner Erinnerungen wieder regeneriert, oder indem er Informationen aus einer verlässlichen testimonialen Quelle erhält, oder anders) Folgendes: Der moralische Teil seiner Motive spielt seit vielen Jahren eine immer geringere Rolle in seinem Leben. In letzter Zeit sind seine Skrupel überhaupt nur noch in kurzen, unregelmäßigen Phasen zutage getreten. Karls Engagement für seinen Beruf hingegen leitet ihn schon lange kontinuierlich.
§ 19. Aspekte der lebensgeschichtlichen Einbindung
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Diese Information würde intuitiv durchaus einen Unterschied machen. Es erscheint, als müsste Karl sich eingestehen, dass die Moral für ihn an Bedeutung verliert. Anders gesagt: Die fragliche Information macht es weniger überzeugend, wenn Karl leugnet, dass er eigentlich und im tiefsten Innern ein Killer ist. Gleichwohl ist dies selbstredend kein hinreichendes Kriterium für Authentizität. Es ist möglich, dass Karl im Laufe der Jahre gerade seinen authentischen Belangen immer mehr untreu geworden ist; vielleicht haben Zwang oder finanzielle Gelüste ihn dazu geführt. Trotzdem müssen die verdrängten Motive nicht aufgehört haben, seine tiefsten Wünsche darzustellen. Das Kriterium der Verlässlichkeit ist daher fallibel und nur einer von vielen relevanten Aspekten. Aber ceteris paribus ist es relevant: Wenn sich die Karrieren beider konkurrierenden Antriebe im Hinblick auf die anderen relevanten Kriterien gleichen, dann können Unterschiede in der Verlässlichkeit entscheidend sein. Wir können die Verlässlichkeit einer Einstellung als eine Eigenschaft der Distribution von Ereignissen, die dieser Einstellung intentional korrespondieren, über die Lebensgeschichte des Akteurs verstehen. Dabei sind jedoch nicht nur solche Ereignisse von Bedeutung, die dieser Einstellungen korrespondieren. Vielmehr geht es gerade auch um solche Ereignisse, die ihr in einem besonderen Sinne nicht korrespondieren. Sagen wir, dass ein Ereignis einer Einstellung negativ korrespondiert, wenn gilt: Es korrespondiert entweder einer konträren Einstellung. Oder es hätte ohne Sanktionen, Schwierigkeiten u. ä. an seiner Stelle ein Ereignis geben können, das der Einstellung korrespondiert hätte, das zu verwirklichen der Akteur aber versäumt hat. Dann könnte man sagen, dass eine Einstellung ψ eines Akteurs zu einem Zeitpunkt t genau dann eine verlässliche Rolle in As Geschichte spielt, wenn gilt: Die Distribution von Ereignissen, die ψ intentional korrespondieren, und von Ereignissen, die ψ negativ korrespondieren, über die Geschichte As bis zu t ist so beschaffen, dass es einen hinreichend großen Zeitraum einschließlich t gibt, für den gilt, dass es in ihm nur wenige negativ korrespondierende Ereignisse und eine deutlich größere Zahl intentional korrespondierender Ereignisse gibt. Dies ist nur ein Vorschlag, und darüber hinaus offensichtlich ein sehr vager. Aber es genügt an dieser Stelle auch, wenn die Idee erkennbar ist: Ein Wissen über die biographische Distribution von Ereignissen, die seinen konfligierenden Antrieben korrespondieren, macht für Karl ceteris paribus einen echten Unterschied in der Frage, was er wirklich will.
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b) Der Aspekt der akzeptablen Bedingtheit Betrachten wir weitere Informationen, die Karl erhalten könnte. Angenommen, Karl erführe, dass seine widerstreitenden Einstellungen gleichermaßen eine verlässliche Rolle in seiner Geschichte gespielt haben. Aber er erfährt weiter, dass dies in einem Falle nur deshalb der Fall war, weil ganz bestimmte Antezedenzien ihn dazu gebracht haben. Beispielsweise könnte Karl entdecken, dass er seinem Beruf nur deshalb so treu war, weil seine Arbeitgeber seine Frau in ihre Gewalt gebracht haben und sie bedrohen, falls Karl ihnen die Gefolgschaft versagt. Unter diesen Bedingungen ist es kein Wunder, dass Karls Bemühungen um beruflichen Erfolg so lange wichtig für ihn waren. Aber dieses Wissen trägt nichts dazu bei, jene Ambitionen als authentisch auszuweisen. Ähnlich verhielte es sich natürlich auch, wenn Karl umgekehrt Folgendes erführe: Er hätte sich von seinen moralischen Bedenken wohl längst erfolgreich gelöst, wenn er nicht im frühen Kindesalter massiv indoktriniert und gewaltsam beeinflusst worden wäre. Hier wird deutlich, dass auch die Antezedenzien korrespondierender Ereignisse zur lebensgeschichtlichen Einbindung einer Einstellung beitragen. Dabei zielt das Kriterium akzeptabler Bedingtheit auf die negative Relevanz, die Antezedenzien in dieser Hinsicht haben können. Ein akzeptabel bedingtes biographisches Ereignis ist also eines, dessen Antezedenzien nicht dagegen sprechen, es als möglichen Beleg der Authentizität einer Einstellung zu betrachten. Aber wann sind Antezedenzien biographischer Ereignisse akzeptabel? Hier liegen die Dinge noch komplizierter als im Falle der Verlässlichkeit. Unsere einschlägigen Urteile sind stark sensitiv für spezifische situative Bedingungen. Somit ist es aussichtslos, sie in Form einer finiten Konjunktion von Prinzipien oder einer finiten Aufzählung von akzeptablen Bedingungen systematisieren zu wollen. Daher kann ich nachfolgend nur schlaglichtartig einige relevante Punkte nennen. Ein erster wichtiger Faktor ist die Rolle der Kapazitäten der Person zur Kontrolle ihres eigenen Denkens, Wollens und Handelns. Diese Kapazitäten sind nichts Geheimnisvolles. Sie sind lediglich die basalen Fähigkeiten rationaler Wesen, ihr mentales Leben aktiv zu führen – beispielsweise darüber befinden zu können, ob und wann sie bestimmte Wünsche in die Tat umsetzen, sowie die Stärke ihrer Wünsche ihren normativen Urteilen gemäß beeinflussen zu können und vieles mehr (vgl. z. B. Mele 1995).61 Nun gilt: Wenn eine bestimmte Einstellung in meiner Geschichte nur deshalb eine verlässliche Rolle gespielt hat, weil es außer-
_____________ 61 Mele weist vor allem zu Recht darauf hin, dass eine solche Form deliberativer und rationaler Kontrolle nicht Autonomie impliziert.
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halb meiner Kontrolle stand, es zu verhindern, dann spricht diese Verlässlichkeit womöglich nicht für ihre Authentizität. Freilich sind hier wichtige Unterschiede zu machen. Jemand mag z. B. religiöse Bindungen oder elterliche Gefühle haben, die nicht dergestalt in seiner Kontrolle sind. Das spricht nicht dagegen, diese Einstellungen als authentisch anzusehen. (Im Gegenteil: Vielleicht sollten wir unsere religiösen oder elterlichen Gefühle sogar gerade dann authentisch finden, wenn es uns nicht möglich wäre, sie willkürlich aufzugeben.) Das hat damit zu tun, dass diese Person kein Interesse daran hätte, etwas an diesen Einstellungen zu ändern, auch wenn sie es könnte. Deliberative Unkontrollierbarkeit einer Einstellung ist also eher dann problematisch, wenn sie effektiv ist und nicht nur inert. Sie ist effektiv, wenn wir tatsächlich verhindern würden, dass diese Einstellung wirksam wird, wenn wir es könnten. Angenommen also, jemand würde gerne von seinen religiösen Idealen loskommen, kann es aber nicht. Dann spricht diese Verlässlichkeit nicht dafür, seine Religiosität als authentischen Ausdruck seiner Persönlichkeit anzusehen. Man könnte also sagen: Wenn ein Ereignis e in der Geschichte von A, das der Einstellung ψ von A intentional korrespondiert, nicht stattgefunden hätte, wenn A zur fraglichen Zeit die deliberative Kontrolle über seine Wünsche gehabt hätte, so ist e ceteris paribus inakzeptabel bedingt und daher kein Beleg für die Authentizität von ψ. Gleichwohl ist hier noch ein weiterer Unterschied wichtig: Auch eine effektive Unkontrollierbarkeit stellt dann keine inakzeptable Bedingung dar, wenn sie selbst kontrolliert herbeigeführt wurde. Dies könnte z. B. geschehen sein, weil die Person vorhersieht, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt zu feige oder zu bequem wäre, ein wichtiges Anliegen zu verfolgen. (Man kann hier an das Beispiel des Odysseus denken, der sich an den Mast seines Schiffes binden lässt, um sich selbst die spätere Kontrolle über sein Tun zu verunmöglichen.) In diesem Falle reicht der Umstand, dass ein Ereignis im Leben einer Person stattfindet, obwohl sie es zu der Zeit gern verhindert hätte, nicht hin, um dasselbe als Beleg für die Authentizität einer Einstellung abzulehnen. Ein weiterer Aspekt der akzeptablen Bedingtheit biographischer Ereignisse neben der deliberativen Kontrolle ist die Frage der bloßen Instrumentalität. Angenommen, ein Akteur hat einem bestimmten Wunsch immer nur deshalb Geltung verschafft, weil er etwas ganz anderes verwirklichen oder verhindern wollte. Dann ist die verlässliche und langfristige Rolle des Wunsches kein Beleg dafür, dass er ein authentisches Anliegen der Person ist. Wenn also ein Ereignis e in der Geschichte As, das ψ intentional korrespondiert, nur deshalb stattfindet, weil A einen anderen Wunsch hat, der ψ weder entspricht noch sich dergestalt artikulieren lässt,
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dann ist e ceteris paribus inakzeptabel bedingt. Angenommen Paul, der Philatelist, entsinnt sich einer Episode, in der er ein paar Briefmarken gekauft hat, weil er einen dringenden Brief zu verschicken hatte. Diese Episode ist wohl kein Beleg für den authentischen Status seiner Sammelleidenschaft. Ähnlich verhält es sich, wenn Karl erfährt, dass sein verlässlicher Wunsch, seinen Beruf gut zu erfüllen, auf dem Wunsch beruht, dass seiner gekidnappten Frau nichts geschehe. Ein letzter Aspekt der akzeptablen Bedingtheit, den ich ansprechen will, betrifft speziell die Antezedenzien der Genese von Einstellungen. Genetischen Bedingungen ist, wie gesagt, in der Literatur zur Autonomie großes Interesse zuteil geworden (vgl. Mele 1995, Christman 1991 und 1993). Zunächst einmal kann man wiederum fragen, ob die rationalen Kapazitäten des Akteurs in der Genese seiner Einstellung unterlaufen oder umgangen (Meles Ausdruck lautet: „bypassed“) worden sind. Intuitiv würde dies zunächst gegen die Authentizität dieser Einstellung sprechen. Allerdings sollte man hier erneut zwischen einer effektiven und einer inerten Unkontrollierbarkeit unterscheiden. Wenn ein Akteur die Ausbildung einer Einstellung nicht kontrollieren konnte, aber auch gar kein Interesse daran hatte, dann spricht diese Genese nicht gegen Authentizität. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass die spätere Haltung des Akteurs zur Genese seiner Einstellungen einen wichtigen Unterschied macht (s. Christman, a. a. O.). Diese Haltung ist auch dann noch relevant, wenn die Genese unter Bedingungen effektiver Unkontrollierbarkeit vonstatten gegangen ist. Viele genetische Antezedenzien unserer Einstellungen stehen zwar völlig außer unserer Kontrolle. Aber indem wir sie retrospektiv als prägende Einflüsse akzeptieren, können sie trotzdem durchaus mit der Authentizität dieser Einstellungen verträglich sein. Ein besonders wichtiger Faktor ist dabei das Vertrauen, das wir bestimmten Personen – etwa unseren Eltern, bestimmten Lehrern oder anderen wichtigen Menschen – im Nachhinein entgegenbringen. Dieses Vertrauen schließt oft ein, dass wir ihre Handlungen als prägende Einflüsse akzeptieren, obschon wir zum fraglichen Zeitpunkt keine Kontrolle über sie hatten und vielleicht nicht mit ihnen einverstanden waren. Solche vertrauensvollen Bindungen zu bestimmten Personen machen ohne jeden Zweifel einen wichtigen Unterschied in der Frage, ob ein Wunsch authentisch ist. Lehnen wir den Gedanken ab, dass eine solche retrospektive Legitimation eine Quelle von Authentizität sein kann, so qualifizieren wir den Großteil unserer Wünsche als inauthentisch. Das wäre unplausibel. Stattdessen sollten wir akzeptieren, dass Authentizität aus externen Einflüssen resultieren kann, die uns ohne unser Einverständnis beeinflusst haben. Dies ist der Fall, wenn sie auf Instanzen zurückgehen, denen wir durch unser Vertrauen rückblickend eine Lizenz dazu erteilen.
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Wenn also die Genese einer Einstellung für ein Subjekt nicht effektiv kontrollierbar ist, aber die Antezedenzien dieser Genese retrospektiv als solche für es akzeptabel sind, dann konstituiert diese Genese keine inakzeptable Bedingung. Ein Fehlen solcher Akzeptabilität spricht hingegen dafür, die Einstellung nicht als lebensgeschichtlich eingebunden und authentisch anzusehen. Freilich ist auch deutlich, dass die retrospektive Akzeptanz nicht selbst wiederum nur das Produkt von Manipulation sein darf. Ebenso ist an Fälle selbstreferentieller Manipulation zu erinnern (s. o., § 9). Diese Möglichkeiten machen deutlich, dass es weitere externe Bedingungen für diese Akzeptanz geben muss. Solche weiteren Bedingungen können hier jedoch nicht mehr eigens diskutiert werden. Ich habe nun einige Faktoren benannt, die die akzeptable Bedingtheit eines lebensgeschichtlichen Ereignisses beeinflussen. Diese Faktoren haben mithin einen Einfluss darauf, ob wir eine Einstellung als lebensgeschichtlich eingebunden betrachten sollten. Und sie beeinflussen also auch, ob wir dieselbe als authentisch ansehen dürfen. Meine Ausführungen waren kursorisch, reichen aber für meine weiteren Zwecke aus. Bevor ich jedoch zum nächsten Punkt übergehe, ist ein kurzer Nachtrag wichtig: Die Frage der akzeptablen Bedingtheit macht auch dort einen Unterschied, wo Ereignisse einer Einstellung negativ korrespondieren. Ich habe gesagt, dass solche Ereignisse gegen die Authentizität einer Einstellung sprechen können. Allerdings sind auch solche Ereignisse nur dann dergestalt signifikant, wenn sie akzeptabel bedingt sind. Deshalb kann die Geschichte eines Akteurs auch dann noch für die Authentizität eines seiner Wünsche sprechen, wenn er zeitlebens Angst hatte, ihn umzusetzen. Seine Versäumnisse sind in diesem Falle womöglich nicht akzeptabel bedingt und verlieren ihre Aussagekraft. c) Der Aspekt der deliberativen Robustheit Eine weitere aufschlussreiche Variante des Karl-Beispiels ist diese: Nehmen wir an, Karl wisse, dass seine Treue zu seinem Beruf verlässlich und akzeptabel bedingt ist. Aber er findet Folgendes über seinen Wunsch, gut in seinem Job zu sein, heraus: Er hat ihn zeitlebens völlig gedankenlos verfolgt; er hat nicht einmal Überlegungen darüber angestellt, dass es auch Alternativen geben könnte. Dieser Mangel an Überlegung resultiert nicht daraus, dass für Karl jederzeit klar war, dass es nichts Besseres für ihn gibt. Er kann nicht ausschließen, dass er, wenn er einmal explizit mögliche Alternativen erwogen hätte, einen anderen Werdegang gewählt hätte. Wir könnten, um den Fall anschaulicher zu machen, annehmen, dass Karls makabres Handwerk Tradition in seiner Familie hat. Er hat es des-
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halb so ergriffen, wie andere Menschen aus Tradition Schreiner werden – ohne ein Bewusstsein davon, dass auch etwas anderes denkbar wäre. Unter dieser Bedingung trägt die Verlässlichkeit seiner beruflichen Interessen nicht dazu bei, dass diese als authentisch gelten können. Die völlig unreflektierte Natur dieser Verlässlichkeit kann sogar dazu führen, dass Karls moralische Skrupel als erste Regungen einer bewussten, authentischen Reflexion erscheinen. In jedem Falle hat die Verlässlichkeit seiner beruflichen Motive alle Aussagekraft als Beleg für deren Authentizität verloren. Das, woran es mangelt, nenne ich deliberative Robustheit. Eine Handlung oder ein mentales Ereignis e eines Akteurs A ist deliberativ robust, wenn das Stattfinden von e in der Kontrolle von A steht und wenn e auch dann stattgefunden hätte, wenn es statt e Alternativen für A gegeben hätte und wenn A im Lichte aller relevanten Informationen über dieselben entschieden hätte. Auch deliberative Robustheit ist ein Aspekt der lebensgeschichtlichen Einbindung einer Einstellung. Wenn unsere Geschichte verlässlich und ohne inakzeptable Bedingungen von einem Wunsch geprägt ist, wenn dies aber nur aus Gedankenlosigkeit und mangels Reflexion über Alternativen geschieht, so ist diese Geschichte kein Beleg für die Authentizität des Wunsches. Sie gibt uns keinen Grund, es als einen Verlust von Authentizität zu betrachten, wenn wir morgen ohne diese Einstellung aufwachten. d) Der Aspekt der biographischen Gründe Ich will noch einen vierten Aspekt der biographischen Einbindung von Einstellungen nennen. Dieser Aspekt ist die Sensitivität einer Einstellung für biographische Gründe. Nehmen wir an, Karl erführe dies über seine Geschichte: Seine Bindung an seinen Beruf ist verlässlich, akzeptabel bedingt und deliberativ robust. Seine moralischen Skrupel treten hingegen erst seit kurzem überhaupt auf. Unsere bisherigen Überlegungen legen nun nahe, dass Karl sich als Killer verstehen sollte, der seinem Gewerbe von ganzem Herzen nachgeht. Seine moralischen Skrupel hingegen sollte er als sentimentale Anwandlungen ansehen. Nun erfährt Karl jedoch auch dies: Diese Skrupel gehen auf ein besonderes Erlebnis zurück. Er hat nämlich vor einiger Zeit einen fatalen Fehler gemacht, und dabei zu seinem größten Entsetzen eine unschuldige Mutter und ihr Kind getötet. Seit diesem Tag kommt es vor, dass er in manchen Momenten Zweifel und Reue verspürt. Auch diese Information macht einen intuitiven Unterschied. Die besondere Geschichte der Skrupel lässt sie nicht mehr nur als belanglose Episoden erscheinen, sondern verleiht ihnen größeres Gewicht. Man kann
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sogar den Eindruck gewinnen, dass sich in diesen Skrupeln womöglich ein tiefer Wandel in Karls Perspektive ausdrückt, der auf jene einschneidende Erfahrung zurückgeht. Dabei geht es hier nicht darum, ob ein Antezedens dieser Skrupel für Karl rational kontrollierbar oder akzeptabel war oder dergleichen. Wichtig ist, dass dieses Antezedens in einem bestimmten Sinne einen Grund für ihn darstellt, solche Skrupel zu entwickeln. Was bedeutet es, dass ein Antezedens in diesem Sinne einen Grund darstellt? Ich werde sagen, dass es Karl einen biographischen Grund gibt. Biographische Gründe sind dabei nicht nur kausale Auslöser. Vielmehr sind sie deshalb Gründe, weil sie in einem bestimmten Sinne für das sprechen, was sie hervorrufen. In dieser Hinsicht haben sie also auch eine gewisse normative Kraft. Andererseits sind sie nicht unbedingt das, was oft als gute Gründe bezeichnet wird. Es ist z. B. nicht so, als machten sie das, wofür sie Gründe sind, moralisch oder prudentiell richtig. Zum Beispiel gibt Karls schreckliches Erlebnis ihm ja nicht etwa einen neuen guten Grund, seinen Beruf zu wechseln. Es war natürlich schon unabhängig davon für ihn geboten, dies zu tun. (Dass er eine Mutter und ihr Kind getötet hat, macht es nicht etwa noch richtiger, kein Killer zu sein.) Auch war Karl sicherlich schon bekannt, dass es einen guten moralischen Grund dieser Art gibt. Und dennoch gibt es einen Sinn, in dem diese schreckliche Erfahrung dafür spricht, das blutige Handwerk zu wechseln. Wir verstehen diese Erfahrung im Sinne der Empathie als einen Grund für Karls Skrupel: Wir können nachempfinden, dass dies die Art von Erfahrung ist, die jemanden zweifeln lassen und nachdenklich machen kann. P. Bieri (2003) hat einige anschauliche Beispiele biographischer Gründe vorgelegt.62 Bieri zufolge haben wir solche Gründe für eine Einstellung dann, wenn dieselbe eine „bedeutungsvolle Antwort auf eine bedeutungsvolle Situation“ (ebda. 391) darstellt. Dabei verwendet Bieri den Begriff „bedeutungsvoll“ bewusst in seiner Ambiguität. Er beinhaltet sowohl, dass es hier etwas zu verstehen gibt, als auch, dass es hier etwas mitzufühlen gibt. So kann man etwa bestimmte Ängste als „bedeutungsvolle Antworten“ auf frühere Traumata verstehen; oder man kann eine Eifersucht als „bedeutungsvolle Antwort“ auf früheren Liebesentzug nachvollziehen. Bieri weist in der Tat auf ein wichtiges Phänomen hin: Wenn wir auf dergleichen biographische Erfahrungen Bezug nehmen, verstehen wir in einem bestimmten Sinne, aus welchem Grund bestimmte Subjekte bestimmte Motive haben. Dieses Verstehen ist nicht etwa kausal, sondern enthält ein rationales Element. „Rational“ ist dabei aber in einem weiten Sinne zu nehmen: Gründe dieser Art machen es nicht etwa vernünftig für
_____________ 62 Der Terminus „biographische Gründe“ stammt nicht von Bieri, sondern von mir.
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diese Subjekte, bestimmte Phobien zu haben oder eifersüchtig zu sein. Das rationale Element liegt eher darin, dass diese Ereignisse eine bestimmte Bedeutung oder Dramatik haben, und dass diese Bedeutung es verständlich macht, warum jemand bestimmte Einstellungen entwickelt. Wie gesagt: Ereignisse dieser Art erscheinen uns im Lichte unserer Fähigkeit zur Empathie als Gründe. Wir können nachfühlen, wie es gewesen sein muss, ihnen ausgesetzt zu sein. Und wir können uns vorstellen, dass sie die Perspektive einer Person ändern – ob es dafür nun gute Gründe im normativen Sinne gibt oder nicht. Dabei mögen Bieris quasi-psychoanalytische Beispiele zunächst geradezu wie Gegenbeispiele aussehen. Sind die Phobien oder Eifersüchte, die auf solche Erfahrungen zurückgehen, nicht gerade solche, mit denen wir uns nicht identifizieren können? Empfinden wir sie nicht gerade nicht als Ausdruck unseres wirklichen Willens? Dies gilt, so Bieri, nur, solange wir nicht wissen, dass diese Ängste oder Wünsche auf besondere Gründe zurückgehen. Um ein Beispiel zu nehmen: Angenommen, ich habe eine krankhafte Angst vor Feuer. Ich erfahre aber eines Tages, dass ich diese Angst nur deshalb habe, weil ich als Kind erlebt habe, wie eine geliebte Person in einem Feuer umgekommen ist. Diese biographische Erkenntnis kann meine Haltung zu dieser Angst ändern. Ich werde mich nicht gleich mit ihr identifizieren, und ich werde sie nicht direkt als meinen authentischen Willen ansehen. (Lebensgeschichtliche Einbindung allein ist ja nicht hinreichend für Authentizität. Im Lichte meiner weiteren Einstellungen wird die Pyrophobie noch immer ein Fremdkörper sein.) Aber es gibt einen klaren intuitiven Sinn, in dem die biographische Erkenntnis mir diese Angst weniger fremd macht. Was bislang nur ein unverstandener Zwang war, kann ich nun als meine Weise begreifen, mit einer Verlusterfahrung umzugehen. Das Wissen um biographische Gründe vermindert, so Bieri, den Eindruck, „dass ein Riss durch uns hindurchgeht“ (ebda., 395). Dies macht verständlich, warum die beschriebene Episode in Karls Geschichte einen Unterschied in Sachen Authentizität macht. Weil wir verstehen können, dass diese Episode einen tiefen Eindruck auf Karl gemacht haben muss, sind wir geneigt, seine Skrupel nicht nur als Flausen oder als sentimentale Anwandlungen abzutun. Wir sehen sie als eine „bedeutungsvolle Antwort auf eine bedeutungsvolle Situation“ an. Und damit ändert sich unsere Einschätzung ihrer Authentizität. Angesichts der fraglichen Erfahrung können wir uns vorstellen, dass Karl gleichsam nicht mehr derselbe ist. Und damit wird es auch plausibel denkbar, dass sich geändert hat, was Karl wirklich will. Kurz: Bestimmte Ereignisse machen es für uns verständlich, dass ein Umdenken und eine Umorientierung einer fundamentalen Art stattfinden.
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In diesem Sinne betrachten wir sie als Gründe für bestimmte Einstellungen. Und diese Gründe tragen dazu bei, diese Einstellungen lebensgeschichtlich einzubinden und mithin als authentisch auszuweisen. Es ist dabei erhellend, diese Ereignisse nicht nur von rein kausalen Antezedenzien zu unterschieden. Ebenso sind sie von Ereignissen zu unterscheiden, die in einem unverbindlicheren Sinne einen Wunsch in uns wecken können. Wir machen intuitiv einen Unterschied zwischen Ereignissen, die Anlässe für solche Wünsche darstellen, und solchen Ereignissen, die in einem stärkeren Sinne biographische Gründe für sie sind. Ein Fernsehbericht kann uns z. B. auf den Gedanken bringen, uns in der Aids-Hilfe zu engagieren. Aber er wird in der Regel eher ein Ereignis der ersten Art, also einen Anlass darstellen. Eine Erfahrung wie die Infizierung eines guten Freundes ist hingegen intuitiv eher geeignet, unsere Sichtweise fundamental zu ändern. Ereignisse dieser Art sind es, die ich hier als biographische Gründe bezeichne. Solche Ereignisse führen dazu, dass jemand im Rahmen seiner Geschichte nicht beliebige andere Anliegen verfolgen könnte, ohne damit weniger authentisch zu werden. Dabei ist die Grenze zwischen biographischen Gründen für bestimmte Wünsche und solchen Ereignissen, die nur Anlässe für Wünsche darstellen, natürlich vage. In genau diesem Maße ist es auch vage, wie sehr bestimmte Ereignisse zur lebensgeschichtlichen Einbindung einer Einstellung beitragen, und was genau ihre Kraft als Belege für die Authentizität jener Einstellung ist. Ich habe hiermit nun vier Aspekte dessen angesprochen, was es für eine Einstellung heißen kann, in die Lebensgeschichte ihres Subjekts eingebunden zu sein. Dabei sind verschiedene Weisen erkennbar geworden, wie diese Relation der lebensgeschichtlichen Einbindung realisiert sein kann. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass eine Einstellung eine verlässliche, akzeptabel bedingte und deliberativ robuste Rolle in der Geschichte ihres Subjekts spielt. Oder zu den lebensgeschichtlichen Antezedenzien in der Karriere derselben zählen biographische Gründe einer besonderen Art, oder beides, oder anderes. Es gibt sicher viele Aspekte, die hier nicht einmal angedeutet wurden. Aber es dürfte immerhin plausibel geworden sein, dass die genannten Aspekte relevant sind. Es folgt, dass Überzeugungen über Authentizität nicht gerechtfertigt sind, wenn nicht auch Überzeugungen über biographische Faktoren dieser Art gerechtfertigt sind. Solange Karl also nicht in der epistemischen Position ist, irgendwelche der skizzierten Möglichkeiten begründet ausschließen zu können, ist es nicht gerechtfertigt, wenn er sich mit irgendeinem seiner Motive identifiziert. Und solange wir nicht in einer entsprechenden epistemischen Position sind, können wir nicht beurteilen,
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Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung
ob eine Identifikation Karls gerechtfertigt ist. Identifikationen und ihre intersubjektive Kritik legen uns daher auf eine beträchtliche Menge gehaltvoller biographischer Annahmen fest. Damit ist ein weiterer Teil meiner These bestätigt. Wir erwarten von Personen in einem normativen Sinne, dass sie sich mit manchen Motiven identifizieren. Und damit verlangen wir etwas von ihnen, das zu seiner Rechtfertigung einer anspruchsvollen Konzeption ihrer Geschichte bedarf. Solche Konzeptionen handeln davon, woher manche ihrer Wünsche stammen, welchen Umständen und Erfahrungen sie dieselben verdanken, und in welcher Weise diese Wünsche ihr Leben bislang geprägt haben. Im nächsten Abschnitt geht es um das geforderte biographische Wissen. Ich beantworte folgende Fragen: Woher stammt biographisches Wissen? Und wie viel davon benötigen wir, um Einstellungen gerechtfertigt als authentisch betrachten zu können?
§ 20. Biographisches Wissen und Rechtfertigung Soeben wurden einige lebensgeschichtliche Kriterien der Authentizität beschrieben. Ich habe also dargestellt, wie die Geschichte eines Akteurs sein muss, damit manche seiner Wünsche authentisch sind. Nun soll untersucht werden, was man von dieser Geschichte wissen muss, um gerechtfertigt urteilen zu können, dass jene Wünsche authentisch sind. Solche epistemischen Fragen sind es ja, von denen meine These DNT spricht. Es wäre nun offensichtlich absurd, zu behaupten, dass nur derjenige gerechtfertigte Urteile über Authentizität fällen kann, der über vollständige biographische Erinnerungen verfügt. Aber andererseits: Wenn wir nicht die ganze Karriere einer Einstellung kennen, wie könnten wir da ausschließen, dass sie vielleicht eine inakzeptable Genese hat? Oder dass sie umgekehrt womöglich auf starke biographische Gründe zurückgeht? Um diese Fragen beantworten zu können, muss man klarstellen, dass Erinnerungen nicht die einzige Quelle biographischen Wissens darstellen. Wir können durch vielerlei Quellen und Belege in die Lage kommen, gerechtfertigt über jemandes Geschichte zu urteilen. Daher sind keine vollständigen Erinnerungen an unsere Biographie erforderlich. Wodurch rechtfertigen wir also überhaupt Überzeugungen über unsere Geschichte? Epistemische Rechtfertigung wird hier, wie gesagt, als ein Status verstanden, der einer Überzeugung, dass p, eines Akteurs A zur Zeit t genau dann zukommt, wenn es für A zu t im Lichte aller verfügbaren
§ 20. Biographische Rechtfertigung und Intersubjektivität
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Belege rational ist, die Proposition dass-p für wahr zu halten.63 Ich werde nun erst etwas über die Belege sagen, die wir für Überzeugungen über unsere Geschichte haben können. Dann geht es darum, wie viele und welche dieser Belege wir benötigen. Was müssen wir wissen, damit es für uns rational ist, die Proposition, dass eine Einstellung biographisch eingebunden ist, für wahr zu halten? Woher wissen wir überhaupt etwas über unsere Geschichte? Sicher sind unsere wichtigste Quelle Erinnerungen. Erinnerungen sind mentale Zustände, die sehr anspruchsvollen Bedingungen genügen: Erstens, so wird oft behauptet, gibt es eine kausale Bedingung für Erinnerungen. Sie beinhaltet, dass ein mentaler Zustand nur dann eine Erinnerung an eine Erfahrung ist, wenn diese Erfahrung selbst eine partielle Ursache des Zustandes ist (vgl. dazu Martin und Deutscher 1966, Shoemaker 1984b). Zweitens impliziert unser Alltagsbegriff der Erinnerung die numerische Identität des erinnernden Subjekts und des Subjekts, an dessen Erfahrungen jenes sich erinnert. (Ich kann mich also nicht an Erfahrungen einer anderen Person erinnern. Dennoch haben S. Shoemaker und D. Parfit behauptet, dass sich wesentliche Aspekte des Phänomens auch mit einem Begriff der Quasi-Erinnerung erfassen ließen, der dies nicht impliziert, vgl. Shoemaker 1984a). Drittens sind Erinnerungen in dem Sinne faktive64 mentale Zustände, dass sie die Wahrheit ihres Gehalts implizieren. (So wie ich nicht wissen kann, dass p, wenn es falsch ist, dass p, kann ich mich auch nicht erinnern, dass p, wenn es faktisch falsch ist, dass p.) Wir haben jedoch, wie gesagt, auch andere wichtige epistemische Quellen. So haben wir mentale Zustände, die wir zwar nicht als Erinnerungen qualifizieren, weil sie nicht faktiv sind, die aber dennoch wichtige Belege sind. Ich kann z. B. ziemlich sicher sein, dass ich F getan habe. Schon
_____________ 63 Ich habe in der Einleitung bereits darauf hingewiesen, dass „rational“ hier nicht nur „rational zulässig“ meint, sondern etwas Stärkeres. Besser wäre vielleicht wirklich folgendes: Eine Überzeugung eines Akteurs A zur Zeit t mit dem Inhalt, dass p, ist genau dann epistemisch gerechtfertigt für A zu t, wenn es für A zu t im Lichte aller verfügbaren Belege nicht rational ist, die Proposition dass-p nicht für wahr zu halten. Die Formulierung im Haupttext erschien mir jedoch eingängiger. Da es hier ohnehin nicht um die Formulierung einer präzisen Theorie epistemischer Rechtfertigung gehen kann, schien mir diese intuitive Verständlichkeit wichtiger. 64 Zum Begriff eines faktiven mentalen Zustands in diesem Sinne vgl. z. B. Williamson (2000, Kap. 1). M. Quante hat mich darauf hingewiesen, dass wir „sich erinnern“ auch in einem nicht-faktiven Sinne verwenden können. („Er ist also nicht dabei gewesen? Interessant, dabei erinnere ich mich ganz deutlich, ihn dort getroffen zu haben.“) Solche Verwendungen sind hier nicht gemeint. Hier geht es um die Aussagen der Form: „Ich erinnere mich, dass p“, die wir zurücknehmen müssen, wenn wir erfahren, dass nicht-p. („Er ist also nicht dabei gewesen? Ich dachte, ich könnte mich daran erinnern.“)
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das ist, sofern es keine gegenteiligen Belege gibt, durchaus eine Quelle der Rechtfertigung dafür, zu glauben, dass ich F getan habe. Neben solchen mentalen Zuständen, die mehr oder minder unmittelbare Belege konstituieren, verfügen wir auch über Belege anderer Art. Natürlich haben wir auch über unsere Lebensgeschichte empirische Belege (wie Fotografien, Tagebücher, Narben...). Ebenso gibt es testimoniale Quellen, etwa Berichte von Eltern oder Erinnerungen von Freunden („Weißt du denn nicht mehr, wie du damals...?“). Des Weiteren können Überzeugungen über unsere Geschichte inferentiell durch weitere, bereits gerechtfertigte Überzeugungen gerechtfertigt werden. Dies kann durch logische Relationen formaler oder materialer Art möglich sein. Aber daneben können gerechtfertigte biographische Überzeugungen auch eine Basis für induktive Schlüsse auf weitere solche Überzeugungen sein. Und eine letzte wichtige Quelle dieser Art sind so genannte abduktive Schlüsse (vgl. Harman 1965). Sie gehen von Fakten aus, von denen wir wissen, und schließen auf biographische Bedingungen, die jene am besten erklären. Für viele Überzeugungen über unsere Geschichte gilt weiter, dass wir keine spezielle Rechtfertigung für sie benötigen. Wir hätten vielmehr Rechtfertigung nötig, wenn wir sie bezweifelten. Solange wir z. B. keinen ausgezeichneten Grund haben, zu glauben, dass wir als Kinder von Außerirdischen entführt wurden, ist es gerechtfertigt für uns, zu glauben, dass dies nicht so ist. Solche Überzeugungen sind prima facie-gerechtfertigt. Dies kann der Fall sein, weil Negationen ihres Gehalts eine geringe konditionale Wahrscheinlichkeit im Lichte unseres sonstigen Wissens haben. Oder es kann sich um Überzeugungen über so genannte Mooresche Fakten handeln (zu diesem Begriff vgl. z. B. Lewis 1996). Unsere rationale Gewissheit in Bezug auf Fakten dieser Art (wie etwa die Tatsache, dass ich zwei Hände habe) ist größer als unsere Gewissheit in Bezug auf alle Prämissen, die gegen diese Fakten sprechen. Auch unsere biographischen Überzeugungen können von Mooreschen Fakten handeln. Diese Vielfalt epistemischer Quellen macht meine These, Identifikationen bedürften gerechtfertigter biographischer Überzeugungen, schon glaubwürdiger. Es wird immerhin klar, dass wir uns nicht an jedes einzelne Ereignis in der Karriere einer Einstellung erinnern müssen. Es gibt auch anderes, was die Überzeugung rechtfertigen kann, dass die biographische Rolle einer Einstellung verlässlich und deliberativ robust ist oder ähnliches. Welche Art der Rechtfertigung adäquat ist, ist dabei in hohem Maße sensitiv für den Inhalt der Einstellungen, um die es geht. So dürfen wir die Annahme, dass unsere Wünsche nicht durch Hypnose induziert wurden, sicher als prima facie-gerechtfertigt ansehen. Zur Rechtfertigung von Überzeugungen über Verlässlichkeit und deliberative Robustheit der Karriere
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einer Einstellung sind hingegen eher Erinnerungen nötig. Diese können dann wiederum die Basis für induktive Generalisierungen bilden. Schon diese komplexen Zusammenhänge erschweren es, genau zu sagen, welche Art von Rechtfertigung meine These für biographische Überzeugungen fordern sollte. Es verkompliziert die Dinge weiter, dass die Rechtfertigung der relevanten Überzeugungen kontextsensitiv ist. In der Tat scheinen alle Formen von Kontextsensitivität vorzuliegen, die in der gegenwärtigen Erkenntnistheorie diskutiert werden. Zum ersten sind das Maß und die Art epistemischer Rechtfertigung, die für eine Überzeugung erforderlich sind, sensitiv für Faktoren des extralinguistischen Kontexts. Solche Faktoren können, wie etwa Dretske (1970) und Goldman (1976) gezeigt haben, dafür sorgen, dass andere Alternativen ausgeschlossen werden müssen. Angenommen, wir leben in einer Gegend, in der Menschen manchmal unter mysteriösen Bedingungen verschwinden und einige Zeit später mit anderen Erinnerungen wieder auftauchen. Dann werden viele unserer biographischen Überzeugungen besserer Belege bedürfen, um als gerechtfertigt gelten zu können, als anderswo. (Besonders wird es bestimmte Hypothesen über die Genese unserer Einstellungen geben, die wir nicht mehr als prima facie-gerechtfertigt ansehen können.) Andere Faktoren des extralinguistischen Kontexts sind im weitesten Sinne ökonomischer Art. Sie betreffen die Frage, wie hoch die Kosten sind, wenn wir uns irren sollten (vgl. z. B. DeRose 1992). Wenn wir beispielsweise in der Entscheidungssituation der jungen Frau aus § 7 sind und für uns einiges auf dem Spiel steht, werden wir hohe Ansprüche an die Rechtfertigung von Überzeugungen stellen. Zweitens sind die Standards der Rechtfertigung biographischer Überzeugungen sensitiv für Faktoren des kommunikativen Kontextes selbst (vgl. z. B. Lewis 1996 u. Cohen 1998.) So können unsere Gesprächspartner durch beharrliche Seit-Wann-Fragen oder durch neue Hypothesen beeinflussen, was als eine hinreichende Rechtfertigung gilt. Es gibt also eine doppelte Komplexität: Erstens sind die Faktoren, die die Rechtfertigung biographischer Überzeugungen konstituieren, vielfältig, und zweitens sind auch die Bedingungen, die die Maßstäbe der Rechtfertigung determinieren, kompliziert. Daher sollte es nicht verwundern, wenn die Schlussfolgerungen, die ich an dieser Stelle vortragen kann, zwar einigermaßen kompliziert, aber nicht besonders informativ sind. Speziell enthalten sie Klauseln über „geeignete“ oder „hinreichende“ Mengen oder Qualitäten. Meine skizzenhaften Diskussionen spezifischer Beispiele sollten aber gezeigt haben, dass wir für partikulare Fälle genauere Kriterien spezifizieren können.
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Rechtfertigung von Urteilen über Authentizität (notwendige Bedingung) Es ist nur dann gerechtfertigt, wenn ein Akteur A zu einem Zeitpunkt t eine (eigene oder fremde) Einstellung ψ als authentisch beurteilt, wenn es für A zu t gerechtfertigt ist, zu glauben, dass ψ (oder hinreichend viele andere Einstellungen desselben Subjekts) lebensgeschichtlich eingebunden ist (bzw. sind). Dies wiederum ist nur dann gerechtfertigt, wenn gilt: Gegeben die Standards der Rechtfertigung, die spezifisch für den intra- und extralinguistischen Kontext von A zu t sind, verfügt A über die geeignete Art, die geeignete Menge und die geeignete Kombination von Belegen dafür, um zu t hinreichend viele Propositionen über die Ereignisse der Geschichte des Subjekts von ψ, die ψ (oder den anderen Einstellungen) intentional korrespondieren, und über deren Antezedenzien rationaler Weise für wahr oder für falsch zu halten. 65 Was bedeutet dieses Ergebnis für die Rechtfertigung von Identifikationen mit Einstellungen? Das ergibt sich durch einen einfachen logischen Schluss: Ich habe in § 12 die These formuliert und begründet, dass es für einen Akteur nur gerechtfertigt sei, sich mit einem Wunsch zu identifizieren, wenn es gerechtfertigt für ihn ist, zu glauben, dass der Wunsch authentisch ist. Nun habe ich spezifiziert, unter welchen Bedingungen dies wiederum der Fall ist. Beide Bedingungen ergeben also ohne weiteres eine umfassendere Bedingung, die ich zum Abschluss explizit machen möchte: Zusammenfassung Identifikation und biographische Rechtfertigung: Eine Identifikation eines Akteurs A mit einer Einstellung ψ zu einem Zeitpunkt t ist nur dann gerechtfertigt, wenn es für A zu t gerechtfertigt ist, zu glauben, dass ψ authentisch ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn es für A zu t gerechtfertigt ist, zu glauben, dass die Einstellung ψ (oder hinreichend viele andere eigene Einstellungen) lebensgeschichtlich eingebunden ist (bzw. sind). Und dies wiederum ist nur dann der Fall, wenn A, gegeben die Standards der Rechtfertigung, die spezifisch für den intra- und extralinguistischen Kontext zu t sind, die geeignete Art, die geeignete Menge und die geeignete Kombination von Belegen dafür hat, um zu t hinreichend viele Propositionen über die Ereignisse in seiner Geschichte, die ψ (oder den anderen Einstellungen) intentional korrespondieren, und über deren Antezedenzien rationaler Weise für wahr oder für falsch zu halten.
_____________ 65 Erneut: Dass es rational für A ist, etwas für wahr oder falsch zu halten, bedeutet hier nicht nur, dass dies rational zulässig für A ist, sondern vielmehr, dass es rational geboten für A ist (siehe Einleitung).
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Diese Schlussfolgerung ist sehr allgemein und, wie gesagt, zum Teil unbestimmt. Ist sie also überhaupt eine geeignete Basis für die Verteidigung meiner These? Durchaus. Es gilt ja: Ein Subjekt gerechtfertigter Identifikationen muss in gerechtfertigter Weise auf die lebensgeschichtliche Karriere vieler seiner Einstellungen Bezug nehmen können. Und das heißt: Es muss um Ereignisse wissen, die diesen Einstellungen korrespondieren, und um die Antezedenzien dieser Ereignisse. Dabei muss es sich nicht an jedes einzelne dieser Ereignisse erinnern. An manche jedoch muss es sich erinnern, um überhaupt eine Basis für weitere Schlüsse und Generalisierungen zu haben. An andere, die z. B. biographische Gründe oder inakzeptable Bedingungen darstellen, wird es sich ebenfalls erinnern müssen. Und schließlich wird es eine gerechtfertigte Konzeption der diachronen Distribution positiv und negativ intentional korrespondierender Ereignisse haben müssen. Meine Ausführungen haben also sichergestellt, dass ein Subjekt gerechtfertigter Identifikationen eine sehr gehaltvolle Konzeption seiner Geschichte benötigt. Und dies ist alles, was es brauchen wird, um meine narrativistische These DNT weiter zu verteidigen.
§ 21. Biographische Rechtfertigung und Intersubjektivität Zuvor sind jedoch noch Ergänzungen nötig. Sie betreffen erstens den intersubjektiven Charakter der biographischen Rechtfertigungsbedingungen. Und zweitens betreffen sie das evaluative Verhältnis, das Subjekte von Identifikationen zu ihrer Geschichte haben. In diesem Abschnitt geht es um Intersubjektivität: Ich habe bislang vor allem über die Bedingungen gesprochen, unter denen es für Subjekte gerechtfertigt ist, sich mit ihren Einstellungen zu identifizieren. Um sich gerechtfertigt mit seinen eigenen Wünschen zu identifizieren, so hat sich ergeben, muss man adäquate Belege über ihre biographische Rolle haben. Was ist aber mit anderen, aus deren Perspektive sich diese Rolle vielleicht anders darstellt? Angenommen, ich wüsste, dass ein Freund systematisch bezüglich der Geschichte seiner Wünsche getäuscht wird. Eventuell muss ich dann sagen, dass es, gemessen an seinen Belegen, rational geboten für ihn ist, seine Wünsche für authentisch zu halten. Aus den obigen Bedingungen scheint dann aber zu folgen, dass ich seine Identifikation mit diesen Wünschen gerechtfertigt finden muss. Zumindest, so ergibt sich aus der offiziellen Formulierung, muss ich sie „für ihn“ gerechtfertigt finden. Wenn das nun alles wäre, dann könnte ich die Identifikation meines Freundes nur dann kritisieren, wenn ich den Eindruck hätte, dass er seine
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Belege über seine Geschichte nicht adäquat berücksichtigt. Das wäre eine unplausible Konsequenz meiner Theorie. Ich würde doch vielmehr sicher Folgendes tun wollen: Ich würde die Rechtfertigung seiner Identifikation in Frage stellen, indem ich heranziehe, was ich über seine Geschichte weiß. Genauer betrachtet, würde ich in der fraglichen Situation differenzieren wollen. In einem bestimmten Sinne würde ich akzeptieren, dass es gerechtfertigt ist, dass mein Freund jene Wünsche als authentisch anerkennt. Er verhält sich ja genau so, wie sein Informationsstand es vernünftig erscheinen lässt. Ich kann sogar zugestehen, dass alles andere unvernünftig für ihn wäre. Aber in einem anderen Sinne würde ich insistieren, dass er seine Wünsche nicht als authentisch ansehen sollte – denn seine Belege sind irreführend. Ich kann also zugestehen, dass mein Freund sich rational vorbildlich zu seinen Belegen verhält, aber in diesen Belegen ein Defizit finden. Ich kann finden, dass diese Belege ihm kein korrektes und umfassendes Bild seiner Geschichte ermöglichen. Und in diesem Sinne kann ich sagen, dass diese Belege nicht hinreichen, um seine Haltung zu seinen Wünschen zu rechtfertigen. Auch dann also, wenn es für einen Akteur gerechtfertigt ist, sich mit bestimmten Wünschen zu identifizieren, kann es aus der Perspektive anderer Akteure ungerechtfertigt sein. Solche Relativierungen sind mit Vorsicht zu genießen. Eine bloße Relativierung nähme den relativierten Rechtfertigungen alle normative Relevanz. Wir könnten ja sagen: Die Identifikationen meines Freundes sind gerechtfertigt für ihn, wenn seine biographischen Belege entsprechend beschaffen sind, und sie sind es für mich, wenn meine es sind. Dann ergäbe sich das Problem: Wenn die Identifikationen für meinen Freund gerechtfertigt sind, warum sollte es ihn stören, dass sie es für mich nicht sind? Offenkundig funktionieren Alltagsdiskussionen über Rechtfertigungen anders. Wenn wir etwas gerechtfertigt oder ungerechtfertigt finden, so schließt das etwas ein, das man (etwas pompös) einen subjekttranszendierenden Geltungsanspruch nennen kann. Wir können trotzdem noch davon sprechen, dass die Rechtfertigung für einen anderen Akteur anders ausfällt. Aber damit meinen wir nur, dass seine Haltung sozusagen rational entschuldbar ist. Wir sagen nicht, dass sie die richtige ist. Wenn ich die Identifikationen meines Freundes nicht gerechtfertigt finde, sie aber als für ihn gerechtfertigt ansehe, dann finde ich sie gewissermaßen ungerechtfertigt, ohne dass ich ihm das vorwerfen könnte. Wenn hier also von Rechtfertigung für bestimmte Akteure die Rede ist, so ist die folgende Form von Relativierung gemeint: Was für A gerechtfertigt ist, betrachtet er als gerechtfertigt simpliciter. (Es wäre pragmatisch sogar mindestens irreführend, wenn er selbst es explizit als für sich gerechtfertigt bezeichnete.) Wenn aber jemand anders sagt, etwas sei ge-
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rechtfertigt für A, betrachtet er es deshalb noch nicht als gerechtfertigt simpliciter. Angenommen nun, wir fänden eine Identifikation As ungerechtfertigt. Aber wir würden zugestehen, dass sie für A gerechtfertigt ist. Dann würden wir A nicht für die Defizite in der Rechtfertigung verantwortlich machen. Aber wir würden dennoch urteilen, dass er sich nicht dergestalt identifizieren sollte. (Wir müssen freilich nicht darauf bestehen, ihn davon überzeugen zu wollen. Vielleicht finden wir es nicht wichtig genug; vielleicht haben wir ein eigenes Interesse an diesem Defizit, oder vielleicht finden wir es unhöflich, A ungefragt auf solche Defizite hinzuweisen.) Rechtfertigung für einen Akteur wird hier also als ein Status verstanden, der nicht der Kritik durch diejenigen enthebt, die andere (und vielleicht bessere) Belege haben. Da ich bislang nur von der Rechtfertigung von Identifikationen für ihre Subjekte gesprochen habe, werde ich nun Formulierungen für den intersubjektiven Fall nachliefern. Natürlich entsprechen sie der erstpersönlichen Bedingung stark. Die Grundidee lautet nämlich naheliegender Weise: Eine Identifikation eines anderen ist nur dann für uns gerechtfertigt, wenn es im Lichte unseres biographischen Wissens gerechtfertigt ist, den betroffenen Wunsch für authentisch zu halten. Diese Bedingung kann auch dann eine Grundlage für intersubjektive Kritik sein, wenn wir die Identifikation für das Subjekt (i. e. im Lichte seiner Belege) für gerechtfertigt befinden. Eine solche Kritik werden wir freilich unsererseits rechtfertigen müssen, indem wir aufzeigen, dass die Identifikation die angegebene Rechtfertigungsbedingung nicht erfüllt. Subjekte von Identifikationen und ihre Kritiker werden demnach über zweierlei diskutieren müssen: über die Adäquatheit ihrer Belege und über den rationalen Umgang mit ihnen. Angenommen, wir finden eine Identifikation eines anderen ungerechtfertigt, obschon sie im Lichte seiner Belege gerechtfertigt ist. Dann können wir Kritik äußern. Aber wir müssen sie ihrerseits begründen, indem wir die Belege des Subjekts kritisch mit den unsrigen vergleichen. Müssen wir dann zugeben, dass die Belege des Subjekts besser sind und für Authentizität sprechen, dann müssen wir unsere Kritik revidieren. Muss das Subjekt jedoch seinerseits erkennen, dass wir die besseren Informationen über seine Geschichte haben, wird es einlenken müssen. Wichtig ist aber: Als intersubjektive Kritiker brauchen auch wir anspruchsvolle biographische Belege. Leiden wir genauso unter einer Amnesie wie Karl, haben auch wir keinen Grund, es als gerechtfertigt anzusehen, wenn er seine moralischen Ziele als authentisch ansieht. Kritisieren oder akzeptieren wir eine Identifikation eines Akteurs, so benötigen wir Belege über seine Geschichte. Denn im Hintergrund der Kritik oder der Akzeptanz steht eine Konzeption dieser Geschichte, die selbst der Rechtfertigung bedarf.
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Ich werde also eine Ergänzung zu meiner obigen Zusammenfassung formulieren. Zunächst zu Fällen einer intersubjektiven Akzeptanz von Identifikationen: Identifikation und biographische Rechtfertigung, intersubjektiver Fall I: Es ist für einen von A verschiedenen Akteur B zu einem Zeitpunkt t nur dann gerechtfertigt, die Identifikation As mit ψ als gerechtfertigt zu behandeln, wenn es für B zu t gerechtfertigt ist, zu glauben, dass ψ authentisch ist. Dies ist nur dann der Fall, wenn es für B zu t gerechtfertigt ist, zu glauben, dass ψ (oder viele andere Einstellungen As) lebensgeschichtlich eingebunden ist (bzw. sind). Und dies ist wiederum nur dann der Fall, wenn B, gegeben die Standards der Rechtfertigung, die spezifisch für den intra- und extralinguistischen Kontext zu t sind, die geeignete Art, die geeignete Menge und die geeignete Kombination von Belegen dafür hat, um zu t hinreichend viele Propositionen über die Ereignisse in As Geschichte, die ψ (oder den anderen Einstellungen) intentional korrespondieren, und über deren Antezedenzien rationaler Weise für wahr oder für falsch zu halten. Eine analoge, aber modifizierte Formulierung ist für eine kritische Haltung Bs zu einer Identifikation As mit ψ erforderlich: Identifikation und biographische Rechtfertigung, intersubjektiver Fall II: Es ist für B zu t gerechtfertigt, eine Identifikation As mit ψ als nicht gerechtfertigt zu behandeln, wenn es für B zu t gerechtfertigt ist, zu glauben, dass ψ nicht authentisch ist. Dies ist dann der Fall, wenn es für B zu t gerechtfertigt ist, zu glauben, dass ψ kein kohärenter Teil des Einstellungssystems von A ist, oder wenn es für B zu t gerechtfertigt ist, zu glauben, dass weder ψ noch hinreichend viele andere Einstellungen As lebensgeschichtlich eingebunden sind. Letzteres wiederum ist dann der Fall, wenn B, gegeben die Standards der Rechtfertigung, die spezifisch für den intra- und extralinguistischen Kontext zu t sind, die geeignete Art, die geeignete Menge und die geeignete Kombination von Belegen dafür hat, um zu t hinreichend viele Propositionen über die Ereignisse in As Geschichte, die ψ (oder den anderen Einstellungen) intentional korrespondieren, und über deren Antezedenzien rationaler Weise für wahr oder für falsch zu halten. Drei Anmerkungen zu dieser zweiten Bedingung: Erstens lasse ich hier zu, dass es noch aus anderen Gründen für B gerechtfertigt sein mag, die fragliche Kritik zu üben. (Ich habe hier ja nur eine notwendige Bedingung für die Rechtfertigung von Identifikationen benannt. Es mag noch weitere
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notwendige Bedingungen geben, die A verfehlt, und für die A also von B kritisiert werden könnte.) Zweitens lasse ich die Möglichkeit zu, dass B die Identifikation As weder gerechtfertigt akzeptieren noch kritisieren kann. Vielleicht muss B sich jeden Urteils enthalten, weil er zu t keine Belege für eine Überzeugung darüber hat, ob ψ authentisch ist. Drittens lasse ich aber den Fall zu, dass Kritik auch dann gerechtfertigt sein kann, wenn der Kritisierende keine Belege über die lebensgeschichtliche Rolle von ψ hat. Unter Umständen kann Kritik gerechtfertigt sein, weil das Subjekt der Identifikation schon die Kohärenzbedingung nicht erfüllt. Sie wäre also schon dann gerechtfertigt, wenn es gerechtfertigt ist, den gegenwärtigen Willen des Subjekts heillos inkohärent und zerrissen zu finden. In diesem einen Fall muss intersubjektive Kritik nicht im Rekurs auf die Geschichte der Person gerechtfertigt werden. Dies ist die mehrfach angekündigte Ausnahme für den intersubjektiven Fall: In manchen Extremfällen benötigt Kritik keine biographischen Überzeugungen – und a fortiori keine biographischen Geschichten. Identifikationen, intersubjektive Akzeptanz und die meisten Formen intersubjektiver Kritik an Identifikationen brauchen aber eine biographische Rechtfertigung. Wir können also auch andere Personen nur im Rahmen einer Konzeption ihrer Lebensgeschichte gerechtfertigt für ihre Identifikation mit bestimmten Wünschen kritisieren oder ihnen zustimmen. Durch Kritik und Zustimmung verpflichten wir uns, diese biographischen Konzeptionen gegebenenfalls zu begründen, zu verteidigen und vielleicht zu revidieren. Kritisierte Subjekte werden daraufhin ihre Konzeption ihrer Geschichte explizieren und sie begründen, verteidigen und vielleicht revidieren müssen. Auch sich selbst als eine Person mit bestimmten authentischen Anliegen zu verstehen ist daher zu einem wichtigen Teil ein sozialer und dialogischer Prozess.
§ 22. Der evaluative Charakter der Lebensgeschichte Sowohl als Subjekte wie auch als kritische intersubjektive Beurteiler von Identifikationen sind wir also auf Überzeugungen biographischen Inhalts festgelegt. Dafür wurde bislang recht ausführlich argumentiert. Allerdings ist mit der Konzentration auf Überzeugungen ein wichtiger Mangel verbunden. Diesen Mangel will ich beheben, bevor ich mich dem Thema Narrativität zuwende. Zumindest Subjekte von Identifikationen müssen nämlich nicht nur deskriptive Einstellungen über ihre Geschichte vertreten. Es gehört zur Identifikation, Teile dieser Geschichte auch in bestimmten
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Weisen zu bewerten. Wer sich mit einem bestimmten Anliegen identifiziert, der kann keine neutrale, wertfreie Haltung zu seinen bisherigen Anstrengungen, Errungenschaften oder Versäumnissen im Hinblick auf dieses Anliegen haben. Er wird ein parteiisches, engagiertes und wertendes Verhältnis zu diesen Teilen seiner Geschichte haben. Er wird sie als bedeutsam ansehen, als schmachvoll empfinden, oder glücklich über sie sein.66 Dieser Gedanke ist sicherlich sehr plausibel. Aber er ist von großer Tragweite für meine narrativistische These. Daher sollte ich mich nicht nur auf seine Plausibilität verlassen, sondern für ihn argumentieren. Ich untersuche daher nun die Vorstellung eines Subjekts, das sich mit etwas identifiziert, aber seine Geschichte wertneutral betrachtet. Und ich versuche, zu zeigen, dass sie letztlich inkohärent ist. Zuvor will ich aber kurz erklären, warum diese Frage derart wichtig für meine These ist. Meine Theorie der Narrativität wird bestimmte pragmatische Bedingungen als sehr wichtig darstellen. Etwas ist nur dann eine Geschichte, wenn es von etwas handelt, das für Rezipienten in bestimmten Weisen bedeutsam oder dramatisch ist. Narrativität ist nicht nur eine Frage der Beschreibung von verknüpften Ereignissen, sondern auch eine Frage des Eindrucks, den diese Ereignisse auf Rezipienten in Kontexten machen. Daher ist es bereits an dieser Stelle angebracht, zu zeigen, dass auch die Konzeptionen unserer Lebensgeschichten, die ich als narrativ ausweisen will, eine bestimmte Art von Bedeutsamkeit für uns haben. Man nehme nun an, ein Akteur A identifiziere sich mit einem bestimmten Anliegen, dem Wunsch ψ. Dies muss, wie ich weiter oben argumentiert habe, einschließen, dass er dem Umstand, dass ψ authentisch ist, intrinsischen Wert beimisst. Wer seinen authentischen Willen erkennt und ihn umzusetzen beschließt, nur weil dies eine Vorgabe in einem psychologischen Experiment ist, identifiziert sich nicht mit ihm. Nehmen wir (sozusagen zum Zwecke einer informalen reductio) weiter an, dass es zwei Handlungen a und b von A gibt. Beide sind von ψ motiviert und stellen gelungene und aufrichtige Bemühungen um die Verwirklichung von ψ dar. Beide widersprechen dabei keinem der weiteren Werte und Anliegen von A. Allerdings liegt a einige Zeit zurück; b hingegen wird unmittelbar jetzt von A vollzogen. Für Handlung b gilt nun, dass A sie gutheißt, weil sie von ψ motiviert ist und weil ψ authentisch ist. Für Handlung a gilt hingegen, dass es A gleichgültig wäre, wenn er a nicht
_____________ 66 In dem von Quante (u. a. 2007, 142-148, siehe auch oben, § 7) verwendeten Sinne könnte man sagen: Er wird sich empathisch mit seinem früheren Selbst identifizieren, das diese Ereignisse durchlebt hat. Man könnte sagen, dass die These dieses Paragraphen lautet, dass eine Identifikation in unserem Sinne einschließt, sich diachron mit sich selbst als Protagonist in bestimmten biographischen Episoden zu identifizieren.
§ 21. Der evaluative Charakter der Lebensgeschichte
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vollzogen hätte. Es wäre A egal, wenn seine Geschichte statt a nur ein kurzes Dösen vor dem Fernseher enthielte. Nun stellt sich ein Problem: Wenn A sich mit ψ identifiziert, so findet A es prima facie intrinsisch wertvoll, das zu tun, was ψ verwirklicht. Diese Wertung ist auch, wie ich angenommen habe, ein Teil der Gründe für As positive Haltung zu b. Aber: Wie kann diese Wertung konsistent mit As gleichgültiger Haltung zu a sein? Hier ist es wichtig, an Folgendes zu erinnern (s. auch § 10): Wenn As Wertung nicht allgemein, sondern selektiv ist, so ist dies nicht hinreichend für eine Identifikation. Selektive Wertungen wären nichts als willkürliche second order volitions. Angenommen also, ein Akteur beschließt, sich nur manchmal daran zu orientieren, welche Wünsche authentisch sind. Dann ist das, was ihn motiviert, letztlich gar nicht der authentische Charakter seiner Wünsche. Vielmehr motiviert ihn eine Entscheidung, sich manchmal so zu orientieren. Die Gründe für diese Entscheidung sind völlig unklar. Aber mit der Authentizität des fraglichen Wunsches können sie offenkundig nichts zu tun haben. Unter dieser Bedingung sehe ich nur eine Möglichkeit, die gleichgültige Haltung As zu a als konsistent zu verstehen. Ich werde aber darlegen, dass diese Möglichkeit letztlich impliziert, dass A sich nicht gerechtfertigt mit ψ identifiziert. Die Möglichkeit, die sich ergibt, ist die folgende: Man bestreitet eben doch, dass a eine Episode ist, in der A wirklich in einwandfreier Weise eine authentische Einstellung verfolgt. Dies würde es konsistent für A machen, a nicht evaluativ relevant zu finden. Nehmen wir also an, es gibt wirklich einen guten Grund, a nicht als gelungene oder ernstzunehmende Bemühung um ψ zu bewerten. Dann ergibt sich folgendes Problem: Angenommen, dies soll der Weg sein, auf dem wir begründen wollen, dass A seiner ganzen Geschichte gegenüber evaluativ gleichgültig sein kann. Dann müssten wir eben behaupten, dass As ganze Geschichte keine einzige gelungene Bemühung um die Verwirklichung von ψ oder anderer Anliegen enthält. Und das würde bedeuten, dass weder ψ noch sonst eine Einstellung von A lebensgeschichtlich eingebunden und mithin authentisch ist. Dann wäre As Gleichgültigkeit gegenüber seiner Geschichte zwar konsistent. Aber das wäre nur deshalb der Fall, weil As Identifikation mit ψ ungerechtfertigt ist. Nehmen wir also an, man brächte Gründe vor wie den, dass A zum Zeitpunkt von a noch viel zu jung war, als dass a als eine echte Bemühung um ψ gelten könnte. Oder man könnte sagen, dass A damals noch ganz andere Dinge wichtig gewesen seien, und dass es in a eigentlich um etwas anderes ging, so dass die Rolle von ψ in a bloß instrumentell sei. Oder man mag sagen, dass A verwirrt oder betrunken war oder dergleichen. Das alles soll zeigen, dass es A zwar wichtig sei, zu tun, was er wirklich
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will, aber dass dies a nicht betreffe. Welche Gründe dieser Art wir aber auch vorbringen: Ich sehe keinen, der nicht zugleich darauf hinausläuft, a als nicht akzeptabel bedingt o. ä. darzustellen. Immerhin geht es ja darum, a in einer Weise zu verstehen, die es verbietet, a als einen Ausdruck einer authentischen Bindung an ψ anzusehen. Und wenn dies begründen soll, dass A seiner ganzen Geschichte gegenüber evaluativ gleichgültig sein kann – dann heißt dies eben, dass es in As ganzer Geschichte kein Zeichen einer authentischen Bindung an ψ gibt. Dies würde aber beinhalten, dass ψ nicht lebensgeschichtlich eingebunden ist. Dieser Befund ergibt sich schließlich auch dann, wenn man G. Strawsons (2004, s. o.) Strategie wählt. Strawson würde ja einwenden, dass A vielleicht ein episodischer Typ sei. A fasse sich und den Urheber von a daher gar nicht als dasselbe Selbst auf. Wenn a aber von einem distinkten Urheber vollzogen wurde, so muss A diese Handlung auch nicht als seine eigene Bemühung um eines seiner Anliegen bewerten. Aber auch hier gilt: Der Umstand, dass ein numerisch distinkter Akteur zu einem früheren Zeitpunkt eine mit ψ typidentische Einstellung verfolgt hat, trägt nicht zur Einbindung von ψ in die Geschichte von A bei. Eine fremde Handlung kann kaum zeigen, dass uns ein bestimmtes Anliegen schon länger wichtig ist. a wäre also wieder kein Beleg der Authentizität von ψ. Wenn Strawsons Strategie also eine generell gleichgültige Haltung As zu seiner Geschichte rechtfertigen soll, gilt erneut: Es folgt, dass A keine eigene Geschichte hat, in der seine wichtigsten Anliegen eine Rolle spielen. Auch dann ist eine Identifikation mit diesen Anliegen für A nicht gerechtfertigt.67 Mir scheint also auch dies keine attraktive Sichtweise zu sein. Wir sollten akzeptieren, dass Akteure, die sich mit einem Anliegen identifizieren, ein wertendes Verhältnis zu bestimmten Ereignissen in ihrer Geschichte haben. Sie werden die biographische Karriere dieses Anliegens also nicht nur zum Gegenstand von Überzeugungen machen. Vielmehr werden sie auch Wertungen vornehmen, Errungenschaften, Versäumnisse, Wendepunkte und Durststrecken unterscheiden, usw. Es gibt noch erheblich mehr zum evaluativen Verhältnis von Personen zu ihrer Geschichte zu sagen. Ich möchte wenigstens einige Punkte noch kurz ansprechen. Nicht nur bewerten Subjekte von Identifikationen einzelne Ereignisse in ihrer Geschichte im Hinblick darauf, ob sie ihren zentralen Anliegen
_____________ 67 Man könnte vorschlagen, Strawsons Unterscheidung von Selbsten und Menschen so aufzufassen, dass sie Folgendes impliziert: Handlungen, die in unserer Vergangenheit qua Menschen liegen, müssen nicht als unsere bewertet werden, können aber trotzdem zur lebensgeschichtlichen Einbindung unserer Einstellungen beitragen. Aber das wäre offensichtlich ein unplausibles ad hoc-Manöver.
§ 21. Der evaluative Charakter der Lebensgeschichte
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korrespondieren. Darüber hinaus unterliegen solche Bewertungen lebensgeschichtlicher Ereignisse auch speziellen holistischen Restriktionen. Unsere Bewertung eines Ereignisses in unserer Geschichte kann einen Unterschied dafür machen, wie wir andere Ereignisse in ihr bewerten können. Beispielsweise gibt es Restriktionen der zeitlichen Asymmetrie. Um es zuerst an einer Analogie zu verdeutlichen: Angenommen, ich erbringe in meinem Lieblingssport gegenwärtig eine bestimmte Leistung. Aber ich muss erfahren, dass ich früher erheblich besser war. Dann werde ich meine jetzige Leistung schlechter bewerten, denn immerhin habe ich nachgelassen. Erfahre ich hingegen, dass für einen späteren Zeitpunkt bessere Leistungen zu erwarten sind, so wirkt sich dies normaler Weise nicht negativ auf meine Bewertung der momentanen Leistung aus. Ich freue mich eher über die Aussicht, mich noch zu steigern. Mit unserer Bewertung unserer Praxis im Lichte unserer zentralen Anliegen scheint es sich zumindest oft ähnlich zu verhalten: Wenn ich feststelle, dass es mir früher besser gelang, einem Anliegen treu zu bleiben, so bewerte ich die gegenwärtige Praxis ceteris paribus als Teil einer negativen Entwicklung. Erfahre ich hingegen, dass es mir später besser gelingen wird, jenes Anliegen zu verfolgen, verschlechtert sich meine Bewertung der Gegenwart nicht. Wir bewerten Ereignisse in unserer Geschichte also als Teile geschichtlicher Entwicklungen zum Guten oder Schlechten. Man kann sagen: Wir bewerten sie in einer Weise, die sensitiv für vektorielle temporale Eigenschaften ist. Auf diesen holistischen und intertemporalen Aspekt unserer Bewertung unserer eigenen Praxis weist auch C. Taylor hin: „Da wir ohne eine Orientierung auf das Gute nicht auskommen können, da uns der eigene Standort zu diesem Gut nicht gleichgültig sein kann, und da dieser Standort stets im Wandel und Werden begriffen sein muss, kann es nicht ausbleiben, dass sich uns das Problem der Richtung unseres Lebens stellt“ (ebda., 94). Und an etwas früherer Stelle drückt Taylor den Punkt mit demselben Bild der räumlichen Orientierung auf das Gute so aus: „Es geht [...] nicht nur um die Frage, wo wir uns gerade befinden, sondern auch um die Frage, wohin wir unterwegs sind“ (ebda. 93). Unsere Bewertung unserer Geschichte hat noch weitere holistische Aspekte. Nicht nur ist die Bewertung einzelner Ereignisse sensitiv für vektorielle Eigenschaften im Kontext einer Entwicklung. Die längerfristige Praxis, die von bestimmten Anliegen motiviert ist, wird auch als Ganze Gegenstand unserer Bewertung. Wenn wir uns mit einem bestimmten Wunsch identifizieren, dann bewerten wir es als positiv, dass wir ihn haben und von ihm motiviert werden. Darüber hinaus ist es uns aber auch wertvoll, wenn es keine Ausnahme darstellt, dass wir ihn in unserem Handeln verfolgen. Auch eine umfassende und verlässliche Praxis der Verfol-
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Teil I: Autonomie, Identifikation und biographische Rechtfertigung
gung unserer authentischen Anliegen ist also etwas, das uns wichtig ist. Auch im Hinblick darauf bewerten wir unsere Geschichte. Das wertende Verhältnis, das Personen zu ihrer Geschichte haben, würde einer eigenen, ausführlichen Abhandlung bedürfen. Aber ich muss mich auf diese knappen Bemerkungen beschränken. Sie werden jedoch ausreichen, um die narrativistische These meiner Arbeit zu begründen. Der nächste Schritt meiner Ausführungen muss nun aber erst einmal darin bestehen, endlich zu erklären, was Narrationen oder Geschichten sind.
Teil II: Was ist eine Narration? § 23. Einleitung Im ersten Teil dieses Buches habe ich für folgende Ansichten argumentiert: Das Prädikat „ist eine Person“ drückt bestimmte normative Vorstellungen aus, zu denen es gehört, dass Personen einen Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben haben.1 Es ist eine notwendige Bedingung eines solchen Lebens, Tokens des Einstellungstyps Identifikation zu haben. Tokens dieses Typs wiederum haben Rechtfertigungsbedingungen, und kraft dieser Bedingungen legen sie ihre Subjekte, ebenso wie intersubjektive Kritiker, darauf fest, bestimmte gehaltvolle Ansichten über die Lebensgeschichte jener Subjekte zu vertreten. Indem ich für diese Behauptungen argumentiert habe, habe ich bereits zwei der drei Konjunkte verteidigt, die meine These DNT bilden. Nun bleibt das dritte dieser Konjunkte zu begründen. Dieses Konjunkt ist dasjenige, das aus DNT eine spezifisch narrativistische These macht: Es besagt, dass die biographischen Überzeugungen, die wir haben müssen, um Identifikationen zu rechtfertigen (oder zu kritisieren), narrativ sind. In diesem Teil des Buches werde ich nun notwendige und hinreichende Bedingungen dafür definieren, dass etwas narrativ ist. Im nächsten und letzten Hauptteil führe ich dann die Ergebnisse zusammen: Ich zeige, dass die biographischen Überzeugungen, von denen Teil I spricht, die Bedingungen für Narrativität erfüllen, die ich nun spezifizieren werde.
§ 24. Eine philosophische Theorie der Narrativität? Die Aufgabe, die sich nun also stellt, besteht darin, die rechte Seite des folgenden Bikonditionals (N1) in adäquater Weise auszuformulieren: (N1)
Notwendig und für alle x: (x ist narrativ ↔ ... x ...).
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Ich habe mich nicht zur genauen Form dieses begrifflichen ethischen Anspruchs geäußert. Ich habe aber angedeutet, dass er unveräußerlich ist. Auch wenn eine Person aus Mangel an Lust oder Courage nicht selbstbestimmt lebt, ist das ein Defizit.
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Teil II: Was ist eine Narration?
Eine adäquate Ausformulierung von (N1) spezifiziert notwendige und hinreichende Bedingungen dafür, dass etwas narrativ ist.2 Dieses Vorhaben jedoch bedarf nicht nur einiger vorbereitender Klärungen. Zuallererst ist es in verschiedenen Hinsichten rechtfertigungsbedürftig. Um diese Diskussion seiner Rechtfertigung wird es in diesem Abschnitt gehen. Zunächst mag mein Ansinnen schon aus Gründen der disziplinären Zuständigkeit verfehlt erscheinen. Die Erforschung von Narrationen und Narrativität geht zwar auf die Poetik des Aristoteles zurück. Aber sie ist erst seit V. Propps „Morphologie des russischen Märchens“ (1928/1972) unter dem Titel Narratologie wirklich zu einem florierenden Forschungszweig gereift. Und in diesem Zweig geben, mehr noch als die Literaturtheorie, empirische und experimentelle Disziplinen wie Kognitionswissenschaft, Linguistik und Ethnologie den Ton an. Bedenkt man dies, dann mag der Versuch, sich mit den begrifflichen und methodischen Ressourcen der Philosophie an eine Definition des Gegenstandes dieser Disziplinen zu wagen, ähnlich absurd wirken wie der Plan, mit philosophischen Mitteln eine Definition von „Doppelhelix“ oder „Inflation“ zu geben. 3
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(N1) ist umstandslos als eine formal korrekte Definition des Begriffs „Narrativität“ umformulierbar, indem die Terme auf der rechten Seite des Konditionals verwendet werden, um eine Kennzeichnung einer Eigenschaft zu formulieren – schematisch gesprochen wie folgt: „Narrativität =df λx (... x ...)“, wobei „ λ“ als Eigenschaftsabstraktor zu lesen ist und die Leerstellen durch entsprechende Elemente aus (N1) ersetzt werden. Wegen der Breite und des Reichtums der narratologischen Forschungsliteratur ist es an dieser Stelle nicht einmal möglich, einen halbwegs umfassenden Überblick über den Stand der Diskussion zu geben. Ich werde nur einige der meines Erachtens wichtigsten klassischen und neueren Publikation nennen und kurz einordnen: Propps (1972) klassischer Text ist bereits genannt worden. Er hat vor allem in einer einflussreichen französischen Tradition der Narratologie Aufnahme gefunden, insbesondere bei Bremond (1996), Greimas (1996), Barthes (1996) und Genette (1993). Diese französischen Vertreter, vor allem die drei erstgenannten, gehen einig in dem Anliegen, die Struktur von Narrationen nach dem Vorbild der linguistischen Phonologie als ein kombinatorisches System darzustellen, dessen Elemente Handlungstypen sind, und das bestimmte Verknüpfungsregeln enthält, denen diese Elemente unterliegen, und die die systematische Derivation wohlgeformter Handlungssequenzen erlauben, die die Struktur einer Narration bilden. Eine nachfolgende Periode narratologischer Forschung wird vor allem von angloamerikanischen Autoren wie G. Prince (1973, 1982), S. Chatman (1978) oder J. Culler (1975) geprägt, die stark auf der russischen und französischen Tradition aufbauen, aber verstärkt mögliche Ebenendifferenzierungen und die Individuation der Elemente einer Grammatik des Erzählens diskutieren. Schließlich wird jedoch mit der zunehmenden Entwicklung der Kognitionswissenschaften ein regelrechter „cognitive turn“ in der Narratologie eingeleitet. Insbesondere die Entwicklung verschiedener Konzepte für Formen kognitiver Wissensrepräsentationen ermöglicht neue Erklärungen narrativer Kohärenz und Kohäsion, die zunächst vor allem im Rahmen klassischer Architekturen untersucht wurden. Diese Ansätze stellen sicherlich einen wichtigen Fortschritt in der narratologischen Forschung dar, wenn sie auch zumindest gegenwärtig noch einige Beschränkungen aufweisen. Wichtige Reprä-
§ 24. Eine philosophische Theorie der Narrativität?
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Ich beeile mich daher, zu betonen, dass es mir nicht darum geht, mit den Ergebnissen dieser Ansätze zu konkurrieren. Naturgemäß wird sich meine Definition oft mit bestehenden Versuchen der Narratologie berühren, und diese Berührungspunkte werden selbstverständlich explizit dargelegt. Aber zugleich ist auch nicht zu leugnen, dass die Narratologie im gegenwärtigen Stadium kaum in einer Position ist, in der sie ein Vorhaben wie das meinige als überflüssig zurückweisen darf. Gerade ihre Methodenvielfalt, die von „klassischen“ strukturalistischen Formulierungen über kognitionspsychologische bis zu pragmatischen Ansätzen reicht, dokumentiert nämlich bei kritischer Betrachtung keine koordinierte Ausarbeitung eines Korpus geteilter Ergebnisse. Eher ist sie Symptom einer tiefen Uneinigkeit in elementarsten Fragen. Ein kurzer Blick etwa in die „Routledge Encyclopedia of Narrative Theory“ (2005) bestätigt dies. Nicht nur sieht sich der Autor des Eintrags zum Stichwort „narrative“ expressis verbis gezwungen, eine Vielzahl inkompatibler Definitionen des Begriffs der Narration aufzulisten, von denen keine beanspruchen kann, auch nur als Hypothese konsensfähig zu sein. Darüber hinaus zeigt ein Blick auf weitere Einträge, dass nicht einmal Einigkeit darüber besteht, wo Narrativität zu lokalisieren ist: Kann man sagen, Narrativität sei eine Eigenschaft von Mengen von Sätzen? Und wenn ja, sind es Mengen von Typ- oder von Token-Sätzen? Sind es also eher die in einem bestimmten Kontext geäußerten Sätze, die Narrativität instantiieren, oder doch eher abstrakte linguistische Entitäten, die multipel exemplifizierbar sind, also zu vielen Gelegenheiten erzählt werden können? Und sind es Eigenschaften dieser Sätze selbst oder eher Eigenschaften der Entitäten (Ereignisse, Personen, etc.), von denen dieselben handeln, die Narrativität ausmachen? Oder findet Narrativität in den Köpfen der Produzenten und Rezipienten statt? Ist sie also eine Weise unseres kognitiven Systems, Informationen, die bestimmte Sätze tragen, zu verarbeiten? Oder liegt das, was Narrationen zu Narrationen macht, in Merkmalen des Typs von Handlungen, die der vollzieht, der etwas erzählt? Im Lichte dieser Unklarheiten erscheint der Versuch einer begrifflichen Klärung mit den Mitteln der Philosophie sicher nicht als überflüssig. Es gibt jedoch weitere Einwände gegen mein Vorhaben und die spezifische philosophische Methode, der ich mich befleißigen werde, und diese Einwände sind selbst philosophischer Art. Zunächst einmal stellt sich die Frage, was mich zur Annahme berechtigt, dass ein so fundamentaler Begriff wie derjenige der Narrativität analytisch definierbar sei. Die Produktion und Rezeption, das Erkennen und
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Teil II: Was ist eine Narration?
Zusammenklassifizieren von Geschichten bilden eine überaus eingespielte Alltagspraxis. Schon als Kleinkinder haben wir ziemlich sichere diskriminatorische Intuitionen in der Frage, ob man uns zum Einschlafen eine richtige Geschichte präsentiert, oder ob man uns mit einem schnellen Substitut zufrieden stellen will. Darüber hinaus scheint es Grund zur Annahme zu geben, dass narrative Praktiken in hohem Maße transkulturelle und transhistorische Invarianten darstellen. 4 Im Gegensatz zu dieser fest verwurzelten Praxis stehen theoretische Definitionsversuche, wie gesagt, vor den vertracktesten Schwierigkeiten. In Anbetracht dessen mag man sich fragen, ob es nicht verfehlt ist zu erwarten, dass sich genügend Begriffe finden, die unabhängig vom Begriff der Narrativität verständlich sind, um (N1) informativ zu vervollständigen. Dieser Einwand wäre jedoch ungerechtfertigt. Es mag Begriffe geben, die so fundamental sind, dass ihre vollständige Explikation in unabhängigen Begriffen nicht möglich ist. Die Begriffe der Wahrheit oder des Einzeldings könnten von dieser Art sein. Wie immer man jedoch den Status des Narrationsbegriffs einschätzt – so fundamental wie die letztgenannten ist er bestimmt nicht. Deshalb gibt es auch so lange keine guten Gründe für den Einwand, wie nicht alle aussichtsreichen Definitionsversuche als gescheitert gelten müssen. Und wenn oben Misserfolge der Narratologie hervorgehoben wurden, heißt dies natürlich nicht, dass sie unwiderruflich und auf ganzer Linie gescheitert wäre. Vielmehr kommen Narratologen ihrem Ziel in vielen Punkten überaus nahe. Und dies lässt die Möglichkeit eines Erfolgs alles andere als ausgeschlossen erscheinen. Ein weiterer Einwand gegenüber der anstehenden Unternehmung ist prima facie überzeugender als die bislang erwähnten. Er lautet wie folgt: Wenn eine Spezifikation notwendiger und hinreichender Bedingungen für Narrativität in unabhängigen Begriffen gelänge, so wäre ipso facto gezeigt, dass dieser Begriff keine irreduzible Rolle in meiner Theorie spielt. Meine These DNT ließe sich, wenn eine reduktive Analyse der Form (N1) gelingt, ebenso gut formulieren, ohne Narrativität nur zu erwähnen. Wenn in der fertigen Version von (N1) etwa die Terme X, Y und Z die Merkmale denotieren, die etwas haben muss, um narrativ zu sein, dann ist eine geeignete Kombination von X, Y und Z in extensionalen Kontexten für Vorkommnisse von „narrativ“ substituierbar. So auch in meiner These. Für mein „narrativistisches“ Projekt könnte dies fatal erscheinen. Aber ich akzeptiere diese Konsequenz uneingeschränkt. Es ist wichtig,
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Darauf weist insbesondere R. Barthes (1996) mit beachtenswerter Emphase hin: „The narratives of the world are numberless. [...] [N]arrative is present in myth, legend, fable, tale, novella, epic, history, tragedy, drama, comedy, mime, painting [...], stained glass windows, cinema, comics, news item, conversation. [...] [N]arrative is international, transhistorical, transcultural: it is simply there, like life itself.“
§ 24. Eine philosophische Theorie der Narrativität?
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mein Vorhaben nicht falsch zu verstehen: Ich behaupte nicht, dass eine angemessene Theorie der Person den Ausdruck „Narration“ verwenden müsse. Meine These besagt, dass eine angemessene Theorie der Person über Entitäten sprechen muss, die faktisch Narrationen sind. Die Tatsache, dass wir den zentralen Begriff unserer Theorie durch gut verstandene Begriffe ersetzen können, ist daher kein Problem. Im Gegenteil; mit D. Lewis gesagt: „My proposal could be called an elimination of theoretical terms, if you insist: for to define them is to show how to do without them. But it is better called a vindication of theoretical terms; for to define them is to show that there is no good reason to want to do without them.“5 Noch immer ist aber der Einwände, denen mein Projekt schon zu Beginn begegnen könnte, kein Ende. Weiterer Einspruch könnte sich weniger gegen das Vorhaben einer Definition richten, sondern gegen die Methode, die ich verwenden werde. Mein Vorgehen wird begriffsanalytischer Art sein. In weiten Strecken wird es also darum gehen, zu erkunden, was wir als Mitglieder einer bestimmten Sprachgemeinschaft über verschiedene mögliche Fälle und Gegenstände sagen wollen würden. Ich werde untersuchen, was wir intuitiv unter bestimmten Umständen als Geschichten qualifizieren würden. Und ich frage, welche Merkmale der Gegenstände für diese Intuitionen ausschlaggebend sind. Diese intuitiven Kriterien unserer alltäglichen Begriffsverwendung bewerte ich dann als Kriterien der Narrativität simpliciter. Um es in Termini einer prominenten Konzeption der conceptual analysis zu sagen (s. Lewis 1973, Jackson 1994): Narrationen sind die Entitäten, welche die Kriterien erfüllen, die unsere Alltagstheorie der Narrationen enthält. Der angekündigte Einwand gegen dieses Vorgehen lautet nun wie folgt: Es ist nicht klar, ob der Begriff der Narrativität zu den Begriffen gehört, denen mit solcherlei Begriffsanalyse beizukommen ist. Vielleicht bildet die Extension von Prädikaten wie „ist eine Erzählung“ oder „ist narrativ“ ja eher so etwas wie eine natürliche Art. Dann hätten diese Prädikate vielleicht die semantischen Merkmale, die Putnam (1975) und Kripke (1980) diskutieren. Vielleicht haben wir also die Bedeutung dieser Begriffe in direkter Konfrontation mit paradigmatischen Exemplaren festgelegt, indem wir indexikalisch auf sie Bezug nehmen und die Bedeutung unseres Terms dann dadurch festlegen, dass wir implizit eine zugrunde liegende Natur dieser Exemplare unterstellen und zum Kriterium machen. Die Eigenschaften, die diese Natur dann de facto konstituieren, determinierten dann die Extension des Narrationsbegriffs, obschon sie uns noch unbekannt sein mögen. Dann wäre der Weg zur Erkenntnis der Bedeutung des Prädikats „ist eine Narration“, wie bei „Wasser“ und „Tiger“,
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Lewis 1983b, 78 f. Siehe auch die weiteren Ausführungen ebda.
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Teil II: Was ist eine Narration?
nicht die Analyse eines Gehalts, den kompetente Sprecher mit ihm assoziieren. Vielmehr wäre Wissen um seine Bedeutung a posteriori, Ergebnis einer Entdeckung extensionsdeterminierender Eigenschaften.6 Bilden die Bezugsgegenstände der Begriffe „Narration“ oder „Erzählung“ also so eine natürliche Art? Das scheint mir nicht so. Freilich habe ich kein zwingendes Argument dafür vorzuweisen; aber auch Putnam und Kripke haben primär Intuitionen darüber, was wir über bestimmte Situationen sagen würden, für ihre Thesen aufgeboten (vgl. dazu Jackson 1994, 38 f). Und just in diesem Punkt scheint mir unser intuitives Urteil über Narrationen anders auszufallen: Die Möglichkeit, der Gang der Forschung könne ergeben, dass wir uns in unserer alltäglichen Praxis der Klassifikation von Erzählungen und Nicht-Erzählungen in einem großen Teil der Fälle geirrt hätten, erscheint absurd. Und würden wir auf eine „Zwillingserde“ transportiert und dort mit komplexen semiotischen Tokens konfrontiert, die all unsere intuitiven Kriterien für Geschichten erfüllen, so wären diese ipso facto Geschichten. Es scheint kein begrifflicher Platz für die Möglichkeit zu sein, dass sie trotz manifester Ähnlichkeit zu Geschichten in Wahrheit etwas ganz anderes sein könnten. Der Begriff einer Narration (oder einer Geschichte, s. u.) hat also einen kognitiven Gehalt: die intuitiven Kriterien unserer „Alltagsnarratologie“. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass wir mitunter durchaus bestimmte Intuitionen darüber haben, ob etwas „eine richtige Geschichte“ ist. Diese Intuitionen können wir auch explizit machen. Wenn wir etwas nicht als eine Geschichte qualifizieren, können wir z. B. zur Begründung Sätze äußern wie: „Es passiert ja gar nichts in deiner angeblichen Geschichte!“, „Es gibt kein richtiges Ende!“, oder „Da fehlt jeder sinnvolle Zusammenhang!“. Der Begriff „Narrativität“ scheint daher ein geeigneter Kandidat für eine Begriffsanalyse zu sein. Allerdings muss ich einräumen, dass die Vorstellung von einer einheitlichen „Alltagsnarratologie“ natürlich eine Fiktion wäre. Unsere Verwendung des Begriffs der Erzählung ist in hohem Maße weit und permissiv. Dies macht es erforderlich, meine Definition nicht nur auf analytischem, sondern teilweise auch auf revisionärem Wege zu erarbeiten. Wir werden also in Kauf nehmen müssen, dass eine stimmige Definition unsere liberale Alltagspraxis einschränken muss. So wird sich die schwierige Aufgabe stellen, in dieser Praxis den Kern dessen freizulegen, was wir mit dem Begriff der Narrativität meinen. Andere Verwendungen werden wir hingegen
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Diese Eigenschaften können sich von denen, mit denen die Alltagspraxis operiert, unterscheiden. Versuche wie der, „Gold ist gelbes Metall“ als analytisch darzustellen, wie Kripke (1980) ihn von Kant (siehe dessen „Prolegomena“) kolportiert, sind eine Warnung.
§ 24. Eine philosophische Theorie der Narrativität?
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als lose Redeweisen zu qualifizieren haben. Aber mit dieser Schwierigkeit befasse ich mich unten näher. Es ist zu hoffen, dass diese Anmerkungen die wichtigsten Vorbehalte gegenüber meinem Programm zumindest vorläufig entkräften konnten. Was zu seiner Rechtfertigung dann noch fehlt, ist nur von seiner Durchführung und ihrem Erfolg zu erwarten. Zunächst jedoch sind noch einige vorbereitende Klärungen vorzunehmen. Erst führe ich einige terminologische Konventionen ein und diskutiere die konnotativen Verknüpfungen zwischen Narrativität, Fiktionalität und Literarizität. Dann verdeutliche ich, inwiefern meine Definition revisionär gegenüber alltagsnarratologischen Intuitionen verfahren muss. Dabei werden Beispielnarrationen präsentiert, die eine Prüfung unserer einschlägigen Intuitionen erlauben. All dies soll die Begriffsanalyse vorbereiten, die dann schließlich in einer ausformulierten Version von (N1) münden soll.
§ 25. Klärungen: Narration, Fiktion, Literatur Zuallererst ist eine Festlegung erforderlich. Dem Begriff der Narration (und dem Begriff der Erzählung) eignet eine Akt-Produkt-Ambiguität, wie sie an früherer Stelle z. B. auch dem Begriff der Artikulation diagnostiziert wurde. Daher sei stipuliert: Wenn im Folgenden von Narrationen ohne anderslautende Qualifikationen die Rede ist, ist der Produktsinn gemeint. Es geht also um das in Akten des Erzählens Erzählte, eben die Sätze (oder Bilder etc.), die jemand produziert, der etwas erzählt. (Ich werde unten darauf eingehen, dass es hier zudem eine Type-Token-Ambiguität gibt.) Im nächsten Schritt sind zwei Klarstellungen darüber nötig, was der zu definierende Begriff nicht enthält. Weder zwischen dem Begriff der Narrativität und dem der Fiktionalität noch zwischen dem der Narrativität und dem der Literarizität besteht ein Implikationsverhältnis in irgendeiner Richtung. Erstens kann etwas narrativ sein ohne fiktional zu sein, und umgekehrt. Und zweitens kann etwas narrativ sein ohne literarisch zu sein, und umgekehrt. Meine These über Personen und ihre Geschichten besagt also nicht, Personen müssten fiktive Lebensgeschichten erfinden, oder sie müssten ihre Lebensgeschichten in literarischer Form verarbeiten. Hier sind zweifellos einige weitere Erklärungen nötig. Ich wende mich erst dem Unterschied zwischen Narrativität und Fiktionalität zu: Zahllose Geschichtsbücher sind voll von narrativen Darstellungen großer Begegnungen, Auseinandersetzungen und Entdeckungen. Aber dieses unkontroverse Faktum impliziert nicht, dass diese Bücher voll von fiktionalen, unwahren Darstellungen wären. Auch wenn ich einen Schwank aus dem
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Teil II: Was ist eine Narration?
letzten Urlaub erzähle, dann kann das Produkt im vollen Sinne narrativ sein. Dafür ist es in keinem Sinne erforderlich, dass ich etwas erfinde. Auch in den Modi der Präsentation, im dramatischen Aufbau und der Ordnung muss keine Verfälschung liegen. Es ist kein Grund dafür zu erkennen, warum eine dergestalt strukturierte narrative Darstellung eine größere Abweichung von der Wahrheit erfordern sollte als jede andere sprachliche Darstellung. (Die abenteuerlich unplausible Theorie, dass jede sprachliche Darstellung als solche eine Verfälschung beinhalte, diskutiere ich hier nicht.) Ich sehe also keine Veranlassung, zu bezweifeln, dass es wahre, nicht-fiktionale Narrationen gibt. Hier gibt es in narrativistischen Theorien jedoch mitunter Unklarheiten. Beispielsweise unterscheidet D. Dennett zwischen diesen Aspekten nicht immer klar. Speziell bleibt unklar, wie sich seine fiktionalistische Ontologie des Selbst und seine narrativistische Theorie desselben zueinander verhalten. Dennett behauptet ja, der ontologische Status eines Selbst sei dem eines „center of gravity“ vergleichbar, ein Selbst sei also eine fiktive Entität. Im selben Zusammenhang behauptet er auch, ein Selbst sei ein narratives „center of gravity“, also eine narrative fiktive Entität.7 Es wäre wichtig, zwischen diesen logisch unabhängigen Thesen klar zu unterscheiden. Natürlich sind eine fiktionalistische und eine narrativistische Theorie des Selbst kompatibel. Aber sie sind eben unabhängig, und was für die eine spricht, ist noch kein Argument für die andere. Ähnliches gibt es zum Unterschied von Narrativität und Literarizität zu sagen. Jedoch ergibt sich hier das Hindernis, dass es kein Leichtes ist, präzise anzugeben, was Literatur ist. An dieser Stelle muss es genügen, entweder den eigenen einschlägigen Intuitionen zu vertrauen, oder grobe Arbeitskriterien für Literarizität zu skizzieren. Zu nennen wären vielleicht bestimmte ästhetische Qualitäten oder zumindest intendierte ästhetische Qualitäten, womöglich auch hinreichende Familienähnlichkeiten zu Teilen eines Kanons als literarisch akzeptierter Werke, oder das Innehaben einer bestimmten Rolle in bestimmten institutionellen Kontexten, eine Anerkennung durch akzeptierte Autoritäten wie Lehrer oder Verleger, oder auch ein cluster dieser und anderer Kriterien. Jedoch ist es wenig entscheidend, hier eine überzeugende Arbeitsdefinition von „Literatur“ zu finden. Daher soll der Versuch nicht weiter verfolgt werden. Letztlich legen nämlich schon unsere Intuitionen ein sehr klares Urteil nahe. Und diese Intuitionen wären es ohnehin, die auch einer Arbeitsdefinition Pate stehen müssten. Man betrachte typische Alltagserzählungen über Streiche aus der Schulzeit oder über das Kennenlernen des Lebensgefährten. Ohne Zweifel wäre es ebenso künstlich und wenig
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Vgl. Dennett (1989), (1991) und (1992).
§ 25. Klärungen: Narration, Fiktion, Literatur
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überzeugend, diesen Alltagserzählungen das Prädikat „narrativ“ abzusprechen, wie es künstlich und wenig überzeugend wäre, sie als Literatur zu qualifizieren. Man mag zwar stipulieren, dass der Begriff der Literatur so zu verstehen sei, dass er jene Geschichten umfasst. Wenn wir jedoch unserem intuitiven Verständnis der Begriffe treu bleiben wollen, müssen wir zugestehen, dass Narrativität nicht Literarizität impliziert. Was die umgekehrte Implikation betrifft, so ist es für mein Projekt nicht sehr entscheidend, sie konklusiv zurückweisen zu können. Aber ich möchte immerhin auf Folgendes hinweisen: Erstens gibt es trivialer Weise Teile der Literatur (etwa viele Gedichte), die nicht narrativ zu nennen sind. Zweitens gibt es sogar manche Exemplare der erzählenden Literatur (also epische Prosaformen wie Romane, Novellen und eben Erzählungen), die nicht als narrativ gelten. Speziell die erzählende Literatur der Moderne gilt wegen ihrer experimentellen Auflösung der drei aristotelischen „Einheiten“ nachgerade als antinarrativ. Allerdings werde ich auf diesem Punkt nicht beharren (nicht zuletzt deshalb, weil in der Literaturtheorie kaum Einigkeit dazu herrscht). Wer darauf besteht, dass z. B. alle Romanliteratur narrativ sei, der verwendet letzteren Begriff in einer weiten, aber nicht unbedingt falschen Weise. Ich werde aber im nächsten Abschnitt dafür argumentieren, dass mindestens für unsere Zwecke eine enge Verwendung des Begriffs sinnvoll und gerechtfertigt ist. Zumindest im für uns relevanten Sinne ist nicht jeder Roman narrativ. In Bezug auf die zuerst zurückgewiesene Implikationsbeziehung gibt es in der laufenden Debatte jedoch erneut einige Konfusion zu beklagen. Die Probleme, die sich daraus ergeben, variieren mit der Art von Literatur, die man zum Paradigma kürt. Zum einen kann man z. B. Wilhelm Meisters Lehrjahre wählen. Dann mag man kritisieren, dass unsere biographischen Konzeptionen weniger durchkomponiert, elaboriert, stringent und dergleichen seien als jenes Beispiel. Versteht man dies aber als eine Kritik einer Theorie narrativer Identität, so macht man sich genau der besagten Konfusion schuldig. Alternativ mag man Romane der literarischen Moderne und „Postmoderne“ als paradigmatisch verstehen. Dann wird man umgekehrt darauf hinweisen, dass diese Beispiele zu wenig stringent und intelligibel sein, um als Rahmen intakter Personalität fungieren zu können. Meine These würde sich demnach eines naiven und rückständigen Verständnisses von Literatur schuldig machen. Sie würde speziell die subversiven und sinnauflösenden Aspekte von Literatur ausblenden. Dieser Einwand beruht jedoch, wie unschwer zu erkennen ist, auf genau derselben Konfusion. Wer ihn vorbringt, übersieht, dass es in diesem Buch und in meiner These überhaupt nicht um Literatur geht.
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Teil II: Was ist eine Narration?
Im Übrigen schließt aber nichts an meiner Theorie aus, dass unsere biographischen Geschichten ästhetische Qualitäten haben können, die den besten Teilen der Literatur gleichkommen. Ebenso ist klar, dass zwischen der Sphäre der Literatur und der Sphäre lebensweltlicher Geschichten komplexe hermeneutische Relationen bestehen. (Diese Zusammenhänge hat P. Ricœur im Modell „dreifacher Mimesis“ dargestellt, siehe Ricœur 1988). Meine These ist dennoch nur narrativistisch, nicht ästhetizistisch. Diese Diskussionen zeigen, dass einige terminologische Klarstellungen hilfreich sind. Vor allem sind die Begriffe der Narration oder der Geschichte, um die es hier geht, nicht koextensional mit dem literarischen Gattungsnamen „Erzählung“. Um daher Missverständnisse zu vermeiden, soll im Folgenden nicht mehr von Erzählungen die Rede sein, sondern von Narrationen. Es gilt: Der Begriff „Narration“ wird im Produktsinne verwendet, und seine Anwendung auf einen Gegenstand impliziert weder, dass die Prädikate „ist literarisch“ oder „ist fiktional“ auf diesen zutreffen, noch gilt das Umgekehrte. Der Begriff „eine Geschichte“ wird weiterhin verwendet. Zwar hat er in Kontexten wie „Erzähl keine Geschichten!“ deutliche Konnotationen von Fiktionalität, die hier unerwünscht sind. Aber „eine Geschichte“ ist gleichwohl unser treffendster vortheoretischer Ausdruck für die Vehikel von Sinn, um die es hier gehen soll. Eine weitere wichtige Anmerkung betrifft das Adjektiv „narrativ“, das ja eine prominente Rolle in (N1) spielt. Es erscheint nämlich intuitiv zulässig, etwas als narrativ zu bezeichnen, obwohl es keine Narration ist. Wir können zum Beispiel einen Satz, der mit dem Versatzstück „Es war einmal...“ beginnt, „narrativ“ nennen oder von „narrativer Sprache“ sprechen. Das ist auch dann möglich, wenn gar keine Narration folgt. An diesem Sprachgebrauch ist nichts auszusetzen. Um aber für die folgenden Ausführungen Klarheit zu schaffen, stipuliere ich hiermit Folgendes: Alles das, wovon hier Prädikate wie „ist narrativ“ oder „instantiiert Narrativität“ ausgesagt werden, ist auch eine Narration.
§ 26. Alltagsnarratologie, Analyse und Revision Ich habe oben angekündigt, meine Theorie der Narrativität auf dem Wege einer Analyse unserer alltäglichen Intuitionen über Narrativität zu entwickeln. Die Kriterien, die unsere Alltagsnarratologie bestimmen, sollen also Kriterien der Narrativität simpliciter sein. In diesem Abschnitt geht es jedoch darum, bestimmte alltägliche Verwendungen des Narrativitätsbegriffs als für unsere Zwecke ungeeignet zu qualifizieren. Es werden also Hinsichten spezifiziert, in denen hier ein
§ 26. Alltagsnarratologie, Analyse und Revision
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etwas anderer Begriff verwendet und definiert werden soll, als wir ihn aus unserem Alltagsdiskurs kennen. Hier scheint sich mein Vorhaben in ein Dilemma zu verstricken. Daher lohnt es sich, noch einmal darauf hinzuweisen, warum nicht einer der beiden Aspekte aufgegeben werden kann. Warum also sind Analyse und Revision essentiell für mein Projekt? Für die Analyse kann ich dabei nur wiederholen, dass eine Definition des Begriffs „Narrativität“ keine andere Grundlage haben kann als die Alltagspraxis der Produktion und Identifikation von Narrationen. Wenn meine Theorie sich nicht eines Themenwechsels schuldig machen soll, dann muss ich sicherstellen, dass ihr Gegenstand tatsächlich das ist, was wir „Geschichten“ nennen. Unsere Alltagskriterien müssen Ausgangspunkt und Quelle der Definition sein. Zum zweiten Punkt ist zu sagen: Der Grund, aus dem Revision nötig ist, ist zunächst theoriestrategischer Art. Der Narrationsbegriff wird nämlich in unserer Alltagspraxis in einer Weise verwendet, die für meine Theorie zu inklusiv ist. Wir zählen oft Entitäten zur Extension des Prädikats „ist eine Narration“, die ich im Interesse meines Projekts nicht dazu rechnen sollte. Warum liegt eine Verengerung des Begriffs „im Interesse meines Projekts“? Aus einem Grunde, der bereits in der Einleitung angesprochen wurde: Wenn der Begriff der Narrativität in meiner Theorie zu inklusiv verwendet würde, würde dieselbe trivial und uninteressant. Ich habe ja auf die wichtige Kritik P. Lamarques und auf die höheren Ansprüche an den Begriff der Narrativität, die sie mir abverlangt, einleitend hingewiesen. Nun sind aber auch „minimale“ Verwendungen des Narrationsbegriffs, wie z. B. Williams8 sie vorschlägt, beileibe nicht künstlich, sondern mit unserem Alltagsgebrauch einwandfrei kompatibel. Wenn dies aber zutrifft, dann folgt daraus eine Schwierigkeit. Es wäre selbstredend verfehlt, einen Begriff in seiner Alltagsbedeutung zu manipulieren, um eine Theorie vor der Trivialität zu bewahren. Im Gegenteil: Wenn der Alltagsbegriff der Narrativität so beschaffen ist, dass eine narrative Theorie der Personalität trivial ist, dann ist sie eben trivial. Einen künstlich verengerten Begriff vorzuschlagen, der die Theorie interessanter macht, wäre tatsächlich nichts als ein Themenwechsel mit künstlicher Äquivokation. Gibt es also überhaupt einen Weg, die revisionären Aspekte meiner Theorie zu rechtfertigen und sie zudem mit dem Ziel einer Begriffsanalyse zu vereinbaren? Die Antwort lautet, wie der Leser antizipiert haben wird: Ja. Abweichungen von der Alltagsverwendung von Begriffen sind nämlich dann mit einer Begriffsanalyse vereinbar, wenn sie einem besseren Verständnis der Begriffe gerade dienen. Sie können also den Kern der Bedeutung eines Begriffs erfassbar machen.
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Williams (2002), 233 ff.
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Teil II: Was ist eine Narration?
Folgendes dürfte für jeden, der nicht gerade zu den hardliners der „ordinary language philosophy“ zählt, eine unkontroverse Behauptung sein: Wenn wir die Kriterien erkennen wollen, die der alltäglichen Verwendung eines Begriffs zugrunde liegen, sollten wir nicht allen seinen empirischen Vorkommnissen gleiches Gewicht einräumen. Eine Begriffsanalyse, die mehr sein soll als eine induktive Generalisierung empirischer Regelmäßigkeiten, muss repräsentative Verwendungsfälle eines Begriffs von eher bildlichen, laxen oder fehlerhaften Fällen unterscheiden können. Speziell gilt für viele Prädikate natürlicher Sprachen, dass sie in einem engen und einem weiten Sinne verwendet werden. Und eine Analyse, die auf einen Begriff im engen Sinne abzielt, wird daher im Hinblick auf unseren Alltagsdiskurs selektiv verfahren müssen. Ich habe nun die Hoffnung, dass meine revisionären Restriktionen bezüglich des Narrativitätsbegriffs in die letztere Klasse fallen. Sie sollen also das zutage fördern, was diesen Begriff im engen Sinne ausmacht. Ich hoffe, mit anderen Worten, dass das besagte theoriestrategische Erfordernis eine Rechtfertigung im Gegenstand hat. Mir scheint nämlich, dass unsere Alltagsklassifikation durchaus Unterschiede zwischen richtigen Geschichten und Geschichten im weiten Sinne beinhaltet. Gewissheit lässt sich in dieser Frage jedoch nur dann gewinnen, wenn wir unsere Intuitionen an echten Exemplaren prüfen. Es folgen dazu vier kurze Beispiele (n1) bis (n4). Mir scheint, dass wir diese Texte intuitiv in zunehmendem Maße als Narrationen qualifizieren würden. Daher lässt sich an diesen Beispielen zuerst veranschaulichen, welche Gebilde in unserer Alltagsnarratologie als Kernfälle betrachtet werden. Anschließend lässt sich dann rekonstruieren, welche Kriterien es genau sind, die uns in solchen Klassifikationen leiten. (n1)
Es war Frühling, und der Baum grünte. Es war Sommer, und der Baum wurde von der Sonne beschienen. Es war Herbst, und der Baum verlor seine Blätter. Es war Winter, und der Baum war von Schnee bedeckt.
(n2)
Als es Frühling wurde, begann der Baum im Park zu grünen. Dann kam der Sommer, und er wurde von der Sonne beschienen. Als es dann Herbst wurde, verlor der Baum seine Blätter, und schließlich, im Winter, wurde er von Schnee bedeckt.
(n3)
Als es Frühling wurde, machte sich der Baum im Park vergnügt daran, zu grünen. Dann kam der Sommer, den der Baum bereits herbeigesehnt hatte, und die Sonne beschien ihn warm. Als dann der Herbst folgte, nahm der Baum Abschied von seinen Blättern,
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die ihm schwer geworden waren, und er streifte sie ab, um schließlich im Winter, von Schnee bedeckt, von den Strapazen des Jahres ausruhen zu können. (n4)
Als es Frühling wurde, machte sich der Baum im Park daran, zu grünen. Etwas jedoch war anders in diesem Jahr. In ihm war ein Entschluss gereift, und als es Sommer wurde, ließ er sich traurig, aber auch voller Erwartung noch einmal von der warmen Sonne bescheinen. Schließlich wurde es Herbst, aber der Baum war zu gedankenverloren, um Abschied von den Blättern zu nehmen, die ihn durch dieses besondere Jahr begleitet hatten. Und als dann der Winter kam und eines Morgens der erste Schnee fiel, war der Baum, wie der verstörte Parkaufseher später beteuerte, ohne jede Spur seiner vormaligen Existenz aus dem Park verschwunden.
Das intuitive Urteil, das diese Beispiele motivieren sollen, lautet: (n1) bis (n4) sind in der Reihenfolge ihrer Nummerierung zunehmend eindeutiger als Narrationen zu qualifizieren. (n1) ist dabei intuitiv keine richtige Geschichte, und Ähnliches gilt auch noch für (n2). (n3) hingegen kann in einem weiten Sinne als eine Narration gelten, und (n4) schließlich ist es auch im engen Sinne. Komplexe linguistische Gebilde wie (n3) sind dabei die angekündigten Grenzfälle. Es erscheint zwar nicht verfehlt, sie als Narrationen zu qualifizieren. Aber meine Theorie wird sie als narrativ im weiten Sinne ausscheiden und nur (n4) zum Paradigma küren. Was genau sind, in erster Orientierung, die Unterschiede, die für diese intuitiven Unterscheidungen den Ausschlag geben? Diese sind es ja, die in meine spätere Definition Eingang finden müssen. Eine informale und vorgreifende Charakterisierung würde etwa so lauten: Schon (n1) und (n2) erfüllen einige semantische Voraussetzungen für Narrativität. Sie handeln von dem, wovon Narrationen eben handeln; sie nehmen auf eine diachrone Sequenz von Ereignissen Bezug und stellen Verknüpfungen zwischen ihnen her. Beispiel (n2) erfüllt darüber hinaus noch eine weitere Bedingung für Narrativität, die grammatischer Art ist. Die Sätze in (n2) sind so durch Konjunktionen, anaphorische Referenz und andere linguistische Mittel verknüpft, dass (n2) als eine satzübergreifende linguistische Einheit gelten kann. Die Sätze in (n1) sind nicht auf dieser Ebene integriert; je nach dem zeitlichen Abstand, mit dem sie geäußert werden, könnten sie vielleicht gar nicht als eine zusammenhängende Äußerung gelten. A fortiori wären sie keine Narration. Weder die Beschreibung einer verknüpften Ereignissequenz in (n1) und (n2) noch die grammatische Integration von (n2) reichen jedoch für Narrativität hin. Die Differenz, die (n3) vor den Vorgängern auszeichnet,
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liegt wiederum eher auf einer semantischen Ebene. Genauer gesagt, liegt sie darin, wie die beschriebene Ereignissequenz beschrieben wird. Zwar geht es um dieselben Ereignisse wie in (n1) und (n2). Aber es wird darüber hinaus auf intentionale und phänomenale Zustände eines personifizierten Protagonisten Bezug genommen. Die Ereignisse werden als Handlungen („sich daran machen, zu grünen“, „abstreifen“ etc.) oder als Umstände und Konsequenzen von Handlungen beschrieben. Zweitens werden sie durch die Verwendung psychologischer und phänomenaler Prädikate („vergnügt“, „warm“ etc.) als Gegenstand einer subjektiven Perspektive charakterisiert. (Ein weiteres Mittel der Perspektivierung ist, obwohl in (n3) nicht sehr prominent, die Generierung intensionaler Kontexte.) Die Ergänzung um diese zusätzlichen Merkmale gilt uns, wie gesagt, oft bereits als hinreichend für Narrativität. Der entscheidende Unterschied aber, der nur (n4) als genuin narrativ auszeichnet, ist einer, mit dem sich die Narratologie bislang erheblich schwerer tut. Dabei ist er intuitiv recht klar erkennbar und für Narrativität im engen Sinne unabdingbar. Diesen Aspekt könnte man intuitiv vielleicht als „dramatische Geschlossenheit“ bezeichnen: Im Verlauf der Geschichte kündigt sich ein bedeutsames Ereignis an. Und indem dieses Ereignis eintritt, kommt die Geschichte zu einem Abschluss. Bei genauerer Betrachtung scheint es sich bei dieser dramatischen Geschlossenheit sogar eher um zwei Merkmale zu handeln: Erstens ist das Beispiel (n4) das, was in der Poetik des Aristoteles „ein Ganzes“ genannt wird. Es weist also eine erkennbare Struktur aus „Anfang, Mitte und Ende“ auf (vgl. Poetik 1450b). Zweitens hat (n4) bestimmte Wirkungen auf die Erwartungen und Emotionen eines Rezipienten, die wir oft durch dramatische Begriffe wie „Spannungsaufbau“ und „Auflösung“ ausdrücken. Auch auf den wichtigen Stellenwert solcher Effekte auf Rezipienten hat bekanntlich Aristoteles hingewiesen. Er fordert ja, die Tragödie müsse nicht nur „eine in sich geschlossene Handlung zum Gegenstand [haben], sondern auch Schaudererregendes und Jammervolles“ (ebda., 1452a). Meine nachfolgend formulierte Theorie berücksichtigt diese beiden von Aristoteles betonten Aspekte stärker als viele andere Ansätze der zeitgenössischen Narratologie. Daher ist es nicht übertrieben, meine Theorie der Narrativität als eine aristotelianische Theorie zu bezeichnen. Gleichwohl wird meine Behandlung der zwei Aspekte der Geschlossenheit und der dramatischen Wirkung klar von Aristoteles abweichen. Eine wichtige Abweichung ist diese: Ich betrachte die Geschlossenheit von Narrationen und ihre dramatische Wirkung als miteinander verknüpft. Um angemessen erklären zu können, in welchem Sinne eine Narration wie (n4) ein geschlossenes Ganzes ist, muss man gerade auf die Ebene der dramatischen kommunikativen Effekte Bezug nehmen. Narrationen sind
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Ganzheiten im Hinblick auf ihre dramatischen kommunikativen Effekte in einem Kontext. Kurz gesagt: Eine Menge S von Token-Sätzen konstituiert dann ein Ganzes im aristotelischen Sinne, wenn gilt, dass S eine geeignete Sequenz dramatischer kommunikativer Effekte auf ihre Rezipienten im Kontext ihrer Äußerung hat. Dies ist nicht nur eine informative (wenn auch vorläufig wirklich sehr skizzenhafte) Weise, die eigentümliche Geschlossenheit einer Narration in pragmatischen Begriffen zu explizieren. Sondern sie ist auch intuitiv die richtige: Die Ebene, auf der Narrationen einen Anfang und ein Ende haben, ist die Ebene der Entwicklung von Spannung, Erleichterung, Trauer etc. Bis vor kurzer Zeit ist es der narratologischen Forschung nicht gelungen, eine befriedigende und informative Erklärung für die aristotelische Geschlossenheit von Narrationen zu finden. Das liegt insbesondere daran, dass versucht wurde, sie unabhängig von externen Bedingungen wie den Erwartungen und der Anteilnahme von Rezipienten zu erklären. D. Velleman (2003, 13 ff) behauptet gar, dass die Wurzel für diesen Fehler bereits bei Aristoteles selbst liegt. Dieser betont zwar, wie gesagt, die Wichtigkeit bestimmter emotionaler Wirkungen der Tragödie auf ihr Publikum. Aber, so Velleman, er berücksichtigt nicht, dass diese Wirkungen auch erklären, dass Tragödien nicht nur Ereignisse aneinanderreihen, sondern eben strukturierte Ganzheiten mit „Anfang, Mitte und Ende“ sind. Erst neuere Ansätze (wie der Vellemans) gehen davon aus, dass die eigentümliche Geschlossenheit oder Ganzheit einer Narration in Begriffen der Dramatik, und das heißt: in pragmatischen Begriffen der emotionalen Bedeutung in einem kommunikativen Kontext verstanden werden muss. Diese überaus wichtige Erkenntnis wird auch meine Analyse einbeziehen. Meine These DNT besagt nun also: Die biographischen Überzeugungen, auf die uns Identifikationen festgelegen, sind am natürlichsten mit (n4) zusammen zu klassifizieren. Unter diesen Bedingungen ist eine narrative Theorie der Personalität keineswegs trivial. Vielmehr erfüllt sie Lamarques Bedingung (s. o.) eindeutig. Ich werde nun daran gehen, die soeben charakterisierten Intuitionen zu einer Theorie auszuformulieren. Danach wird diese Theorie dann weiter erläutert und verteidigt.
§ 27. Die Theorie der Narrativität (N ) Ich werde die angekündigte Theorie notwendiger und hinreichender Bedingungen für Narrativität in diesem Abschnitt vollständig angeben; sie wird als „(N )“ bezeichnet. In den folgenden Abschnitten werden die Elemente und Formulierungen von (N ) einzeln erläutert und präzisiert.
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Eine wichtige Einschränkung vorab: Die folgende Formulierung von (N ) wird nur von Mengen von Token-Sätzen, also von datierten Satzvorkommnissen sprechen. (Allerdings geht es auch hier um Narrationen im Sinne der Produkte, der geäußerten Träger syntaktischer Eigenschaften und semantischer Werte). Damit klammere ich eine Menge anderer Entitäten aus, die Narrativität instantiieren können: Bilder, Gesten, Filme etc. Diesen Mangel werde ich in diesem Buch nicht beheben können. Es würde jeden Rahmen sprengen, (N ) in einer Weise zu formulieren, in der Tokens aller denkbaren semiotischen Arten berücksichtigt werden. Auch so ergeben sich aber schwierige Anschlussfragen: Zunächst einmal erscheint es intuitiv so, als müsste man Typen als die eigentlichen Träger von Narrativität begreifen. Geschichten, so scheint es, sind Abstrakta, die zu verschiedenen Gelegenheiten erzählt werden können. Sie sind daher nicht mit solchen Äußerungsvorkommnissen identifizierbar. So ist z. B. ist das Märchen vom Rotkäppchen eine Geschichte, aber es befindet sich nicht irgendwo (oder irgendwann). Ich werde jedoch an späterer Stelle dafür argumentieren, dass es wichtige Vorteile hat, datierte und kontextgebundene Tokens als Narrationen zu begreifen. Narrativität ist nämlich, wie ich – im Anschluss an Aristoteles – behaupten werde, eine Eigenschaft von Äußerungen in Kontexten. Es ist entscheidend, dass Rezipienten an dem, wovon erzählt wird, in bestimmten Weisen Anteil nehmen. Sicher ist es intuitiv natürlich, das, was zu verschiedenen Gelegenheiten erzählt werden kann, als Narration zu bezeichnen. Aber aus theoretischer Perspektive macht es Sinn, den Ausdruck „Narration“, wenn er von derlei abstrakten Objekten ausgesagt wird, als derivativ und logisch sekundär aufzufassen. Diesen abstrakten Narrationsbegriff charakterisiere ich an späterer Stelle. Eine zweite Anschlussfrage ist diese: Meine These DNT spricht gar nicht von Sätzen, seien es Typen oder Tokens. Sie spricht von Einstellungen – genauer: von Überzeugungen. Nun ist überhaupt nicht klar, ob Überzeugungen Entitäten sind, die narrativ sein können. Ich werde jedoch an späterer Stelle behaupten, dass der Begriff einer gedachten oder mentalen Narration durchaus nicht ungewöhnlich ist. Und ich werde definieren, was es für Mengen von Einstellungen heißt, Narrationen zu konstituieren, indem ich auf (N ) und das, was (N ) über Satztokens sagt, Bezug nehme. Trotz alledem gilt aber: Was immer sonst narrativ sein mag, die Äußerungsvorkommnisse, von denen (N ) spricht, sind jedenfalls unstrittige Kandidaten. Wenn unsere Theorie ergäbe, dass das, was wir allabendlich an den Betten unserer Kinder produzieren, keine Geschichten sind, wäre das absurd. Wovon (N ) dann auch redete: Geschichten wären es nicht. Die folgende Theorie gibt also an, wie Mengen von Satztokens beschaffen sein müssen, um narrativ zu sein. Um der folgenden Formulie-
§ 27. Die Theorie der Narrativität (N )
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rung von (N ) größere Übersichtlichkeit zu verleihen, seien dabei ein paar Anmerkungen zu ihrer Struktur vorangeschickt: Die rechte Seite des Bikonditionals (N ) ist eine Konjunktion von Bedingungen, die in drei Bedingungsfamilien aufteilbar ist. Diese Familien umfassen jeweils die grammatischen, semantischen und pragmatischen Bedingungen für Narrativität. Ich nenne die Bedingungsfamilien α, β und γ. Den einzelnen Bedingungen gebe ich für spätere Bezugnahmen ebenfalls Namen, die in Klammern angefügt sind. Alle Bedingungen sind individuell notwendig und zusammen hinreichend für Narrativität. (N ) Eine Menge von Token-Sätzen S ist genau dann eine Narration, wenn gilt: S erfüllt die Bedingungen α, β und γ. Dabei gilt: S erfüllt Bedingung α ↔ Die Sätze in S sind in der Weise durch sprachliche Mittel verknüpft, die notwendig ist, damit S im Äußerungskontext K als eine satzübergreifende linguistische Einheit gelten kann. (Textualitätsbedingung). S erfüllt Bedingung β ↔ Die Sätze in S nehmen auf eine Menge Γ von faktischen oder kontrafaktischen Ereignissen Bezug (Bedingung der Ereignisreferenz), & Die Sätze in S implizieren, dass die Kardinalität der Menge Γ ≥ 2 ist und mindestens zwei Elemente in Γ zeitlich getrennt sind (Diachronizitätsbedingung), & Die Sätze in S drücken aus, dass es eine reflexive und transitive Relation R auf Γ gibt, die eine Quasiordnung auf Γ definiert und als zeitlich zu interpretieren ist (Sequenzialitätsbedingung), & Für jedes Ereignis e1 in Γ gibt es mindestens ein Ereignis e2 in Γ, so dass S eine sinnhafte Verknüpfung zwischen e1 und e2 beschreibt, und jede zwei Ereignisse in Γ sind durch Iterationen solcher Verknüpfungen verknüpft (Bedingung des Sinnzusammenhangs), & Eine Teilmenge I der Ereignisse in Γ wird von S explizit oder implizit im Skopus intentionaler Operatoren beschrieben, und für jedes weitere Ereignis e in Γ beschreibt S eine sinnhafte Verknüpfung zu mindestens einem Element von I (semantische Intentionalitätsbedingung).
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S erfüllt Bedingung γ ↔ Die von S beschriebene Menge von Ereignissen Γ hat eine dramatische Struktur für die Rezipienten Z im Äußerungskontext K, und diese Struktur superveniert über der emotionalen Signifikanz und den subjektiven Wahrscheinlichkeitswerten der Ereignisse in Γ für Z in K (Dramatizitätsbedingung), & S beschreibt eine vollständige Handlung, sofern die dramatische Struktur der beschriebenen Menge von Ereignissen Γ für Z in K geschlossen ist (Ganzheitsbedingung). Es steht dringend zu befürchten, dass (N ) in dieser Form zunächst für Ratlosigkeit sorgt, der vorgreifenden informalen Ausführungen im letzten Abschnitt zum Trotz. Daher werden alle drei Bedingungsfamilien nachfolgend in eigenen Abschnitten erklärt und präzisiert.
§ 28. Erläuterungen I: Grammatische Bedingungen Die erste der Bedingungen in (N ) heißt „Textualitätsbedingung“. Sie enthält Bedingungen, die sich aus Bedingungen der Individuation satzübergreifender linguistischer Einheiten ergeben. (Im Einklang mit der Terminologie der Linguistik heißen alle solchen satzübergreifenden Einheiten hier „Texte“.) Um zu erkennen, worum es dabei geht, sei zuerst auf den Unterschied zwischen einer bloßen Menge einzelner Äußerungen und einer komplexen linguistischen Einheit aus solchen Äußerungen hingewiesen. Für jede beliebige Ansammlung von n (≥ 1) Satzvorkommnissen aus der Geschichte menschlicher Kommunikation lässt sich die Menge bilden, die alle und nur diese n Tokens umfasst. Das sagt jedoch überhaupt nichts über ihren raumzeitlichen und kausalen, geschweige denn ihren grammatischen oder logischen Zusammenhang aus. Nur wenige Token-Mengen konstituieren daher umfassendere Äußerungen wie Dissertationen, Bedienungsanleitungen, Gardinenpredigten oder eben Geschichten. Mengen sind aber zunächst alles, wovon (N ) spricht. Daher muss (N ) explizit fordern, dass die fraglichen Mengen Einheiten darstellen. Die genauere Spezifikation der Bedingungen, die dazu gegeben sein müssen, ist alles andere als trivial. So ist raumzeitliche Nähe zwischen Tokens weder notwendig noch hinreichend für Textualität. Man kann eine linguistische Einheit, z. B. eine Fortsetzungsgeschichte, in großen raumzeitlichen Abständen äußern. Ebenso kann man in einem sprichwörtlichen Atemzug zwei Sätze äußern, die keine zusammenhängende Äußerung konstituieren.
§ 28. Erläuterungen I: Grammatische Bedingungen
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Warum aber geht es in der ersten Bedingung nur um „grammatische“ Aspekte? Ist nicht klar, dass Narrationen alle Kriterien für Textualität erfüllen müssen, welche es auch sind? Dies trifft natürlich zu. Tatsächlich fordert (N ) dies aber auch – nur, dass dies nicht durch die Klausel, die ich „Textualitätsbedingung“ nenne, allein gefordert wird. Vielmehr umfasst diese Klausel ausschließlich die Bedingungen für Textualität, die nicht von den anderen Bedingungsfamilien in (N ) ohnehin impliziert werden. Welches sind überhaupt die Bedingungen der Individuation von Texten (im linguistischen Sinne)? Die Beantwortung dieser Frage fällt natürlich nicht in den Aufgabenbereich der Philosophie, sondern in denjenigen der Textlinguistik (vgl. z. B. Brinker 2005 und DeBeaugrande/Dressler 1981). Die Bedingungen, die diese Disziplin formuliert, fallen in drei große Gruppen. Diese Gruppen enthalten erstens sprachliche Oberflächeneigenschaften, zweitens semantische Eigenschaften und drittens pragmatische Eigenschaften, die für Textualität konstitutiv sind. Die erste Gruppe von Bedingungen fordert insbesondere, dass Texte bestimmte sprachliche Wiederaufnahmestrukturen aufweisen müssen. Derlei Strukturen entstehen daraus, dass verschiedene Sätze nicht nur auf dieselben Entitäten referieren, sondern dies mithilfe von sprachlichen Ausdrücken tun, die auch aufeinander verweisen. Die texthafte Kohärenz einer Menge von Sätzen wird also u. a. von der Distribution anaphorisch unabhängiger und anaphorisch abhängiger Ausdrücke über sie bestimmt. Ausdrücke ersterer Art führen ein neues Denotat ein und heißen „Textanfangsausdrücke“ oder „syntagmatische Substituenda“. Die der zweiten Art heißen „Textfortsetzungsausdrücke“ oder „syntagmatische Substituentia“ (vgl. Harweg 1968). Ausdrücke beider Typen unterscheiden sich oft nur durch den Artikel, der einem Substantiv voran steht: „Ein Baum“ ist ein Textanfangsausdruck, während „der Baum“, „jener Baum“, aber auch „er“ und „derselbe“ Textfortsetzungsausdrücke sind. Sie sind nur innerhalb eines Textes verständlich, in dem ihr Denotat bereits durch andere Ausdrücke eingeführt wurde. Zur zweiten, inhaltlichen oder semantischen Gruppe der Textualitätsbedingungen: Sie beinhalten vor allem die Forderung, dass die Entitäten, auf die Bezug genommen wird, durch Relationen der Nähe, Ähnlichkeit, Kontiguität und dergleichen verknüpft sind. Kurz: Sätze, die einen Text konstituieren, handeln von einem bestimmten Thema, das sie verbindet (dazu Brinker 2005, DeBeaugrande/Dressler 1981). Die dritte Gruppe der pragmatischen Textualitätsbedingungen umfasst schließlich Anforderungen wie die, dass Sätze, die einen Text konstituieren, als Ganze eine erkennbare kommunikative Funktion haben und erfüllen müssen (vgl. Brinker 2005).
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Mit dieser kurzen Liste wichtiger textlinguistischer Kriterien vor Augen lässt sich nun unschwer erkennen, warum (N ) nur auf die grammatischen Bedingungen explizit eingehen muss. Die semantischen und pragmatischen Textualitätsbedingungen werden nämlich von allen komplexen Äußerungen erfüllt, die die entsprechenden Bedingungen in (N ) erfüllen. So enthält (N ) ja sehr starke semantische Vorgaben über die Arten von Entitäten und Relationen, von denen Narrationen handeln dürfen. Ebenfalls stellt (N ) starke Ansprüche bezüglich der pragmatischen Rolle in einem Kontext. Diese Vorgaben sind in jedem Falle logisch stärker als die, die von der Textlinguistik in Anschlag gebracht werden. Was also den semantischen Bedingungen für Narrativität in (N ) genügt, genügt auch den semantischen Bedingungen für Textualität. Und was den pragmatischen Bedingungen für Narrativität in (N ) genügt, genügt den pragmatischen Textualitätsbedingungen. Es verhält sich damit alles so, wie es intuitiv sollte: Wenn etwas inhaltlich kohärent genug ist, um eine Narration zu sein, ist es a fortiori kohärent genug, um ein Text zu sein. Und dasselbe gilt für die kommunikative Funktion. Ex negativo lässt sich nun aber auch erschließen, welches die „grammatischen“ Bedingungen sind, von denen (N ) spricht: Es handelt sich eben um die sprachlichen Oberflächeneigenschaften, die instantiiert sein müssen, damit etwas mehr als eine Menge unverbundener Äußerungen ist. Dies sind eben die skizzierten transphrastischen anaphorischen Dependenzstrukturen, aber auch Verknüpfungen durch grammatische Konjunktionen und dergleichen. Die als „Textualitätsbedingung“ betitelte Klausel in (N ) besagt also letztlich: Die Satztokens in S müssen so durch anaphorische Referenz, grammatische Konjunktionen und andere sprachliche Mittel verknüpft sein, wie es notwendig ist, damit S als satzübergreifende linguistische Äußerungseinheit gelten kann. Damit sind die grammatischen Bedingungen, die die erste Klausel in (N ) einfordert, in einer groben, aber für unsere Zwecke sicherlich ausreichenden Weise charakterisiert. Ich will nur noch zwei Ergänzungen vorschlagen: Es erscheint mir sinnvoll, die grammatischen Bedingungen in (N ) in epistemischer und relativer Weise aufzufassen. Erstens reicht es nicht hin, dass die Elemente einer Menge von Token-Sätzen faktisch durch sprachliche Mittel verknüpft sind. Vielmehr müssen diese Tokens so verknüpft sein, dass es einem normal ausgestatteten menschlichen Wesen möglich ist, zu erkennen, dass es so ist. Man kann sich Sätze denken, die zwar stark grammatisch verknüpft sind, die aber so absurd lang und kompliziert sind, dass ihre Verknüpfungen einem Wesen mit endlichen Fähigkeiten nicht erkennbar sind. Ich plädiere dafür, die Textualitätsbedingung in (N ) so zu verstehen, dass sie solche Fälle ausschließt.
§ 28. Erläuterungen I: Grammatische Bedingungen
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Zweitens bietet es sich an, den erforderlichen Grad grammatischer Verknüpfung relativ zu spezifizieren. Dazu erinnere ich an das Beispiel (n1). Es enthielt Sätze, die, wenn sie in unmittelbarer Folge geäußert werden, durchaus als zusammenhängend wahrgenommen werden können. Durch leichte zeitliche Verzögerungen würde (n1) diesen Zusammenhang jedoch einbüßen. Demgegenüber duldet eine grammatisch stärker verknüpfte Äußerung der Form (n2) eher Unterbrechungen oder Pausen. Das legt die folgende abschließende Explikation dessen nahe, was die erste Klausel von (N ) besagt: Eine Menge von Tokensätzen S ist nur dann eine Narration, wenn die Elemente von S in dem Maße durch anaphorische Referenz, grammatische Konjunktionen und andere sprachliche Mittel verknüpft sind, das (abhängig von Kontextbedingungen, Komplexität der Sätze etc.) nötig ist, um im Kontext von S von normal ausgestatteten Sprechern/Hörern als linguistische Einheit erkennbar zu sein.
§ 29. Erläuterungen II: Semantische Bedingungen Nach der Grammatik von Narrationen geht es nun im nächsten Schritt um ihre Semantik: Wovon muss eine Menge von Äußerungen handeln, damit sie als narrativ gelten kann? Semantische Kriterien haben einen wichtigen Stellenwert in unserer Alltagsnarratologie. Wenn wir Kindern zum Einschlafen ein Programm einer großen Partei oder Abstracts naturwissenschaftlicher Aufsätze vortragen, mag dies dem Einschlafen zwar förderlich sein. Aber wir riskieren den Protest, dass es sich nicht um richtige Geschichten handele. Dieser Protest wird sich nun nicht zuletzt darauf berufen, dass das Vorgetragene nicht von dem handelt, was für Geschichten wesentlich ist – er wird z. B. lauten: „Es passiert ja gar nichts in deiner angeblichen Geschichte!“ Narrationen berichten von vielerlei Arten von Gegenständen. Aber konstitutiv ist es für sie, von Ereignissen zu handeln, also z. B. von dem, was Protagonisten passiert, von Veränderungen, die sie erfahren, die sie herbeiführen, geschehen lassen, nicht verhindern können usw. Die Struktur einer Narration ist wesentlich von der Abfolge und von den intelligiblen Verbindungen zwischen den Ereignissen, von denen sie handelt, geprägt. Die Klausel β in (N ) spezifiziert, was der Fall sein muss, damit eine Menge von Sätzen von dem handelt, wovon Narrationen handeln. Bevor allerdings auf Einzelheiten eingegangen wird, eine allgemeine Bemerkung zu den semantischen Bedingungen: Mit Grund ist in (N ) nie davon die Rede, dass bestimmte Ereignisse existieren müssen, oder dass es der Fall sein muss, dass sie bestimmte Eigenschaften und Relationen auf-
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Teil II: Was ist eine Narration?
weisen. Stattdessen wird überall nur gesagt, dass S dergleichen ausdrücken oder beschreiben muss, ob es stimmt oder nicht. Nichts hält eine falsche, fiktionale Geschichte davon ab, eine Geschichte zu sein – solange sie das beschreibt, was Geschichten beschreiben müssen. a) Die Bedingung der Ereignisreferenz Es ist an dieser Stelle unnötig, die metaphysische Frage zu beantworten, was genau Ereignisse sind. Um aber einen begrifflichen Rahmen für die nachfolgenden Ausführungen zur Verfügung zu haben, werde ich dennoch eine bestimmte metaphysische Ereignistheorie bemühen. Der Leser wird sich aber leicht überzeugen können, dass für meine Argumentation nichts von dieser speziellen Wahl abhängt. Obschon die gewählte Theorie mir faktisch als richtig erscheint, hätte ich also alles, was folgt, auch im Rahmen konkurrierender Ansätze sagen können. Ich schlage vor, Ereignisse als Eigenschaftsexemplifikationen zu verstehen, wie es in Varianten u. a. J. Kim, D. Lewis und J. Bennett vorschlagen.9 Kim zufolge besteht jedes Ereignis aus einem n-Tupel von Substanzen, einem bestimmten Zeitpunkt und einer n-adischen „konstitutiven Eigenschaft“. Es existiert genau dann, wenn das n-Tupel von Substanzen zu jenem Zeitpunkt die konstitutive Eigenschaft exemplifiziert.10 Kim führt einen Operator „[...]“ ein. Dieser bindet Tripel aus Termen für Substanzen, Eigenschaften und Zeitpunkte und erzeugt singuläre Termini für die Ereignisse, die aus jenen Substanzen, Eigenschaften und Zeitpunkten bestehen. Der Term für ein Ereignis, das aus der Substanz a, der monadischen Eigenschaft P und dem Zeitpunkt t besteht, ist also „[a, P, t]“. Die volle Theorie besteht dann aus einer Existenzbedingung und einer Identitätsbedingung für Ereignisse. Sie lesen sich in Kims Notation wie folgt: Ein Ereignis [a, P, t] existiert gdw. Substanz a zum Zeitpunkt t Eigenschaft P hat, und Ereignis [a, P, t] ist identisch mit Ereignis [b, Q, t´] gdw. a=b, P=Q und t=t´. Die Metaphysik der Ereignisse als Eigenschaftsexemplifikationen wird hier, wie gesagt, als heuristischer Rahmen vorausgesetzt. Daher ist es unnötig, die Schwierigkeiten der Theorie an dieser Stelle zu diskutieren. 11
_____________ 9 Vgl. J. Kim, v. a. (1993a) und (1993b), Lewis (1986b), Bennett (1988). 10 Lewis und Bennett zufolge sind Ereignisse ebenfalls Eigenschaftsexemplifikationen, aber bei ihnen sind es statt physikalischer Objekte raumzeitliche Regionen, die diese Eigenschaften exemplifizieren. Beide sparen dadurch die dritte Stelle in Kims Notation, die speziell die Komponente des Zeitpunktes enthält. 11 Das Hauptproblem ist dabei sicherlich dasjenige der allzu feinkörnigen Individuation. Wenn man annimmt, dass verschiedene Prädikate verschiedene Eigenschaften he-
§ 29. Erläuterungen II: Semantische Bedingungen
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Wenden wir uns dem entscheidenden Gegenstand zu, nämlich unserer alltäglichen (narrativen und anderen) Rede von Ereignissen. Wenn Narrationen von Ereignissen handeln: Wie genau tun sie das? Formale Terme der Form „[a, P, t]“ sind hilfreich, aber taugen kaum für gute Geschichten. Was sind die sprachlichen Mittel, mit denen wir von Ereignissen erzählen? Natürliche Sprachen enthalten verschiedene Möglichkeiten, auf Ereignisse Bezug zu nehmen, und soweit ich sehe, können sie alle in Narrationen eine Rolle spielen. Ich werde als allgemeine Ausdrücke für diese verschiedenen Möglichkeiten die Verben „beschreiben“ oder „handeln von“ einführen. Wenn ich also sage, ein Satz s beschreibe ein Ereignis e, ist das nicht unbedingt im alltagssprachlichen Sinne zu verstehen. Es heißt nicht unbedingt, dass s die Qualitäten von e charakterisiere. Vielmehr ist es in meiner Terminologie dann der Fall, dass ein Satz ein Ereignis beschreibt (oder von ihm handelt), wenn er in einer der nachfolgend charakterisierten Weisen auf dieses Bezug nimmt. Welche verschiedenen Möglichkeiten gibt es nun für Sätze, Ereignisse zu beschreiben (oder von ihnen zu handeln)? Nimmt man das Deutsche als Beispiel, so enthält es erstens bestimmte Mittel der singulären Referenz auf Ereignisse. Zu diesen zählen zunächst Quantorenausdrücke („Es ist etwas geschehen, das mir sehr leid tut“), Demonstrativa („Das war ja gerade ein ziemlich peinlicher Auftritt!“) und Eigennamen für Ereignisse (z. B.: „Der Big Bang fand vor etwa 15 Milliarden Jahren statt“). Des Weiteren verfügen Sprecher des Deutschen über verschiedene Ressourcen, um definite Kennzeichnungen für bestimmte Ereignisse zu bilden. Z. B. können ereignisspezifische Sortalbegriffe („Explosion“, „Match“, „Gitarrensolo“) und Verb-Nominalisierungen mit bestimmtem Artikel („das Anklopfen“, „die Sprengung“) Ereignisse herausgreifen. Neben singulärer Referenz scheint es aber eine weitere Möglichkeit zu geben, von Ereignissen zu sprechen. Wir scheinen auch mit ganzen Sätzen, die keine (oder keine an der sprachlichen Oberfläche erkennbaren) singulären Terme für Ereignisse enthalten, auf Ereignisse Bezug nehmen
_____________
rausgreifen, dann nehmen „Tims Lachen“, „Tims lautes Lachen“ und „Tims albernes lautes Lachen“ auf verschiedene Ereignisse Bezug, selbst wenn dieselbe Person und derselbe Zeiptunkt involviert ist. Wann immer wir also lachen, würde demnach unwahrscheinlich viel gelacht. – Dieses Problem wird vom Hauptgegner der skizzierten Position, D. Davidson, kritisiert. Verfechter wie Goldman (1970) jedoch argumentieren, dass die Konsequenz in keiner Weise absurd ist, sondern z. B. durch unsere Praxis der Kausalerklärung erfordert ist. In jedem Falle scheint mir eine derart feine Ereignisindividuation aber nicht zwingend aus dem Ansatz zu folgen. Ein Ausweg, den z. B. Bennett (1988) empfiehlt, liegt darin, Eigenschaften gröber zu individuieren als Prädikate, mit denen wir dieselben herausgreifen. Ebenso kann man zwischen Eigenschaften unterscheiden, deren Exemplifikation ein Ereignis ausmacht oder konstituiert, und den Eigenschaften, die es nur hat.
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Teil II: Was ist eine Narration?
zu können. Dies wäre zum Beispiel in dem Satz „Tim hat vor zwei Minuten laut gelacht“ der Fall. Er scheint ebenso von einem Ereignis zu handeln wie der Satz „Vor zwei Minuten gab es ein lautes Lachen von Tim“. Aber er enthält im Gegensatz zu letzterem keinen ereignisbezeichnenden singulären Terminus. Hier stellt sich allerdings ein technisches Problem: Sätze drücken keine Ereignisse aus (das ist nicht einmal eine grammatisch korrekte Redeweise), sondern propositionale Entitäten wie den Sachverhalt, dass ein bestimmtes Ereignis stattfindet. Das, wovon jene beiden Sätze als ganze Sätze handeln, wäre also kein Ereignis (Tims lautes Lachen vor zwei Minuten), sondern ein Sachverhalt (dass Tim vor zwei Minuten laut gelacht hat.) Aber, diese metaphysische Unterscheidung in allen Ehren: Wir müssen einen Weg finden, zu erklären, dass „Tim hat vor zwei Minuten laut gelacht“ in irgendeinem Sinne eben doch von einem Ereignis handelt. Diese Intuition ist kaum wegzudiskutieren. Eine Möglichkeit, ihr gerecht zu werden, ist D. Davidsons Theorie der logischen Struktur von Ereignissätzen.12 Davidson weist darauf hin, dass eine adäquate Rekonstruktion der logischen Form eines Satzes wie „Tim hat vor zwei Minuten laut gelacht“ u. a. dessen inferentielle Kraft in Bezug auf die Sätze „Tim hat gelacht“ und „Tim hat laut gelacht“ widerspiegeln muss. Und diesem Erfordernis ist, so Davidson, nur dadurch gerecht zu werden, dass man annimmt, dass dieser Satz eine versteckte existenzquantifizierte Variable für Ereignisse enthält. Er hätte demnach also die logische Form: „∃x (x ist ein Lachen & x ist von Tim & x geschah vor zwei Minuten & x ist laut)“. Davidson erklärt also den Umstand, dass manche ganzen Sätze auf Ereignisse Bezug zu nehmen scheinen, dadurch, dass sie eine versteckte singuläre Referenz enthalten. Falls er Recht hat, gäbe es doch keine zwei Weisen, von Ereignissen zu reden, wie ich angekündigt habe, sondern nur die Bezugnahme durch singuläre Terme (inklusive Quantoren). Es gibt jedoch eine andere Erklärung. Sie verbietet sich zwar für Davidson (aus Gründen seiner Ereignismetaphysik), aber unserer an Kim orientierten Theorie steht sie zu Gebote.13 Diese Möglichkeit gründet in einer logischen Äquivalenz zwischen Aussagen über die Existenz von Ereignissen und Aussagen über bestimmte Sachverhalte. Diese Äquivalenz ergibt sich unter der Voraussetzung von Kims oben genannter Existenzbedingung für Ereignisse. Wenn nämlich der Term „[a, P, t]“ ein mögli-
_____________ 12 Vgl. Davidsons „The logical form of action sentences“ (in: ders. 1982, 105 ff). 13 Dabei steht es Verfechtern einer Kimschen Theorie frei, komplexe inferentielle Verhältnisse zwischen Sätzen mit adverbialen Bestimmungen dennoch à la Davidson zu erklären, vgl. Kim 1993b, 39 f.
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ches Ereignis bezeichnet14, dann können wir sagen: Der Satz „a hat P zu t“ handelt in dem Sinne von ebendiesem Ereignis, dass er den Satz „Das Ereignis [a, P, t] existiert“ in Konjunktion mit der Existenzbedingung impliziert. Der erste Satz drückt dann zwar das Bestehen eines Sachverhalts aus, aber er ist äquivalent mit einer ereignisbezogenen Existenzaussage. „Tim hat vor zwei Minuten laut gelacht“ handelt demnach nicht auf dem Wege einer versteckten Referenz von einem Ereignis, sondern weil er „Das Ereignis [Tim, Lachen, vor zwei Minuten] existiert“ impliziert. Welche Alternative man letztlich befürwortet, ist an dieser Stelle so lange nicht entscheidend, wie man irgendwie erklären kann, dass ein Satz wie „Tim hat vor zwei Minuten laut gelacht“ von einem Ereignis handelt. In jedem Falle haben wir (zwei, oder für Davidsonianer: eine) Weisen rekonstruiert, auf die wir über Ereignisse sprechen. Erstens gibt es die singuläre Referenz durch Quantorenausdrücke, Demonstrativa, Eigennamen und Kennzeichnungen (mit Sortalen oder Nominalisierungen), zweitens die Referenz durch Sätze, die Existenzaussagen mit diesen Termini implizieren (bzw. sind). Unsere Alltagssprache enthält schließlich jedoch noch eine weitere Möglichkeit, Ereignisse zu thematisieren. Sie ist noch subtiler, indirekter und komplizierter als die bisher angesprochenen. Man nehme etwa eine Narration, die von einer stürmischen Seefahrt handelt, und die den dramatischen Satz enthält: „Erst jetzt bemerkten die entsetzten Passagiere, dass sie bis zu den Knöcheln im Wasser standen.“ Von einem solchen Satz würden wir sagen, dass er neben dem Ereignis, von dem er explizit handelt, außerdem andeutet, dass es ein weiteres Ereignis gibt. (Dieses weitere Ereignis wäre natürlich ein Einbruch von Wasser durch ein Leck im Schiff.) Der Satz sagt dabei jedoch nichts dergleichen. Und was immer die Relation des Andeutens in Bezug auf Sätze sein mag, sie ist jedenfalls nicht die Relation der (formalen oder materialen) Implikation. Wie funktioniert die Rede von Ereignissen durch die Andeutung, dass sie stattfinden? Mir scheint, die Relation des Andeutens ist eine evidentielle Relation. Ein Satz A steht in einer evidentiellen Relation zu einem Satz B, wenn die Wahrheit von A einen Beleg für die Wahrheit von B darstellt, also, probabilistisch gesprochen, die subjektive Wahrscheinlichkeit der Proposition erhöht, die B ausdrückt. Unser Satz deutet also an, dass es einen Einbruch von Wasser durch ein Leck gab, indem er einen Satz, der von so einem Ereignis handelt, für uns sehr wahrscheinlich macht.
_____________ 14 Diese Klausel ist nötig, weil Kim (und anderen Autoren) zufolge nicht jede Instantiierung einer Eigenschaft durch eine Substanz zu einem Zeitpunkt glücklich als ein Ereignis aufzufassen und zu bezeichnen ist. Wenn aber die Instantiierung von P durch a zu t ein Ereignis wäre, dann drückt der Satz „a hat P zu t“ einen Sachverhalt aus, handelt aber vermittels logischer Implikation vom fraglichen Ereignis.
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Damit sind einige der wichtigsten Aspekte dessen dargestellt worden, was die Bedingung der Ereignisreferenz in (N ) fordert. Nun muss aber noch darauf eingegangen werden, was es heißt, dass es in solchen Narrationen um „faktische oder kontrafaktische“ Ereignisse gehe. In Bezug auf den ontologischen Status von Kontrafaktischem werde ich hier keine Festlegungen eingehen. Es sei nur darauf hingewiesen, dass kontrafaktischer Diskurs ein essentieller Bestandteil sowohl der Alltagssprache als auch der Wissenschaft ist. Dies lässt uns keine Alternative als zuzugestehen, dass wir, wie auch immer, oft sinnvoll und wahrheitsfähig von Möglichem und Notwendigem reden. Das legt uns jedoch beileibe nicht auf irgendeine realistische Theorie der possibilia fest.15 Der Rekurs auf „faktische oder kontrafaktische Ereignisse“ in (N ) sagt nur, dass auch Narrationen von diesen Ressourcen der Alltagssprache Gebrauch machen. An späterer Stelle werde ich Gelegenheit haben, ein einfaches Modell der Kommunikation und des Verstehens von Narrationen einzuführen. Es wird uns erlauben, pragmatische Aspekte der Narrativität, von denen (N ) spricht, zu erklären und formal darzustellen. Dieses Modell wird es dabei auch ermöglichen, genauer zu erklären, wie die Referenz auf faktische und kontrafaktische Ereignisse in Narrationen zu verstehen ist. Hier will ich vorerst nur darauf hinweisen, dass diese Differenzierung nicht unmittelbar mit der Unterscheidung fiktionaler und nichtfiktionaler Narrationen zusammenhängt. Auch für nicht-fiktionale Narrationen gilt, dass sie auf kontrafaktische Ereignisse Bezug nehmen können. Das kann etwa der Fall sein, wenn wir davon erzählen, was uns einmal beinahe zugestoßen wäre. Ebenso kann eine fiktionale Geschichte im Kontext wahrer, tatsächlicher Ereignisse stattfinden, auf die ebenfalls Bezug genommen wird. So viel vorerst zur Ereignisreferenz. Die weiteren Bedingungen der semantischen Bedingungsfamilie in (N ) betreffen die Frage, was Narrationen über die Ereignisse sagen, auf die sie so referieren, wie es hier dargestellt wurde. b) Diachronizitätsbedingung und Sequenzialitätsbedingung In Narrationen geht es nicht nur um Ereignisse, sondern um Folgen oder Sequenzen von Ereignissen. Die dringlichste Frage, die sich uns angesichts einer guten Geschichte stellt, lautet daher typischer Weise: „Und was pas-
_____________ 15 In diesem Punkt ist D. Lewis bekanntlich anderer Ansicht. Die Frage des „extremen modalen Realismus“ à la Lewis ist allerdings heiß diskutiert, und ich habe für meine soeben geäußerte Ansicht hier kein ausführliches Argument vorzubringen.
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sierte dann?“ C. Taylor sieht es daher sogar als einen wichtigen Hinweis auf die narrative Natur unserer Lebensgeschichten an, dass die Konjunktion „und dann“ eine prominente Rolle in ihnen spielt (Taylor 1996, 95). Ebendiese Forderung, dass Narrationen von einer Folge von Ereignissen als einer Folge erzählen müssen, wird in (N ) durch die „Diachronizitätsbedingung“ und die „Sequenzialitätsbedingung“ ausgedrückt. Die erstere ist dabei weder sehr anspruchsvoll noch sehr erklärungsbedürftig: Sie besagt, dass die Menge Γ der Ereignisse, auf die die Sätze einer Narration S Bezug nehmen, mindestens zwei Ereignisse [a, P, t] und [b, Q, t´] enthält, wobei gelten muss, dass t ≠ t´. Einfacher gesagt: Eine Narration erzählt davon, was zu mindestens zwei Zeitpunkten geschieht. Es gibt kaum Zweifel daran, dass die Diachronizität ihrer Bezugsgegenstände ein essentielles Merkmal von Narrationen ist. Mitunter wird die diachrone Referenz sogar als das definierende Merkmal der Narrativität betrachtet. In seinem Klassiker „Analytical Philosophy of History“ (1965) analysiert A. Danto eine Klasse von Sätzen, die er „narrative sentences“ nennt.16 Dantos „narrative sentences“ stellen tatsächlich eine sehr spezielle Klasse von Sätzen dar. Es zeichnet sie aus, auf zwei zeitlich getrennte Ereignisse Bezug zu nehmen, indem sie das frühere der beiden explizit beschreiben und auf das spätere lediglich verweisen. Typischerweise geschieht dies, indem der Satz ein Ereignis anhand einer Kennzeichnung herausgreift, die zugleich auf ein späteres Ereignis referiert. (Ein Beispiel Dantos: „The Thirty Years War began in 1618“.) Offenkundig ist ein solcher Satz in keinem plausiblen Sinne eine Narration. Ebenso wenig müssen Sätze dieser Art in Narrationen vorkommen. Aber bezeichnend ist, dass Danto den Terminus „narrative sentence“ wegen der diachronen Referenz dieser Sätze wählt. Es erscheint mir an dieser Stelle unkontrovers, die Diachronizitätsbedingung als notwendig für Narrativität anzusehen. Ebenso wenig dürfte es strittig sein, dass Narrationen diese zeitlich getrennten Ereignisse in eine zeitliche Ordnung bringen, sie also als eine Folge präsentieren. Im nächsten Abschnitt wird darauf eingegangen, mit welchen Mitteln Narrationen solche Folgen als intelligible, sinnvolle Folgen darstellen. Hier geht es jedoch vorerst um das Problem, zu bestimmen, was es überhaupt heißt, dass eine Narration eine Folge von Ereignissen als Folge darstellt. (N ) spezifiziert die Sequenzialitätsbedingung so: Eine Menge von Token-Sätzen S sei nur dann narrativ, wenn „die Sätze in S ausdrücken, dass es eine reflexive und transitive Relation R auf Γ gibt, die eine Quasiord-
_____________ 16 Danto versteht diese Sätze als ein konzeptuelles Instrument (nicht nur) der Geschichtswissenschaften, und er hält es für nicht verlustfrei durch andere sprachliche Mittel ersetzbar.
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nung auf Γ definiert und zeitlich zu interpretieren ist“. Ich werde diese Bedingung nun schrittweise erläutern und etwas präziser ausformulieren. Ich beginne dabei mit der zeitlich zu interpretierenden Relation R und ihren wichtigsten Eigenschaften: Das Bestehen der Relation R ließe sich in umgangssprachlichen Begriffen etwa durch ein Prädikat wie „ereignet sich nicht später als“ ausdrücken. Diese Relation ist reflexiv, weil für jedes Element x in Γ gilt: xRx („x ereignet sich nicht später als x“). Sie ist transitiv, weil für alle Elemente x, y und z in Γ gilt: Aus xRy und yRz folgt, dass xRz. Schließlich ist die Relation R in Γ weder symmetrisch noch antisymmetrisch: Aus xRy folgt nicht zwangsläufig yRx, und aus der Wahrheit von xRy und yRx folgt nicht die Identität von x und y. Dass die Relation R schließlich auch nicht asymmetrisch ist, folgt schon aus ihrer Reflexivität. Es sei zunächst in etwas intuitiveren Ausdrücken erklärt, was es mit R auf sich hat. Zunächst einmal sollte ich noch einmal deutlich darauf hinweisen, dass es die Ereignisse sind, von denen eine Narration handelt, zwischen denen die Relation R besteht. Keineswegs müssen die Sätze der Narration, die diese Ereignisse und ihre Relation beschreiben, in einer isomorphen zeitlichen Relation stehen (oder, bei gedruckten Tokens, einer entsprechenden räumlichen Relation). Die Reihenfolge der Ereignisse, von denen erzählt wird, muss nicht in der Reihenfolge des Erzählens gespiegelt werden. Narrationen können achronologisch sein und sogar mit dem letzten Ereignis einsetzen. Was die Sätze einer Narration aber leisten müssen, ist, auszudrücken, dass zwischen ihren Bezugsgegenständen eine solche zeitliche Relation besteht. Statt dies aber durch ihre eigene Abfolge zu tun, werden sie gewöhnlich verschiedene andere semantische Mittel benutzen – von einer expliziten Referenz auf ein absolutes Zeitmaß (Angabe von Datum und Uhrzeit) über Mittel der relativen zeitlichen Positionierung (Satzkonjunktionen und adverbiale Bestimmungen wie „danach“, „zuvor“, „dann“, „währenddessen“ sowie das Tempus der Verben) bis zu impliziten zeitlichen Positionierungen, die z. B. durch die Beschreibung von Kausalzusammenhängen oder durch Verben wie „sich erinnern an“ material impliziert werden können. Die Sequenzialitätsbedingung besagt also zum Teil, dass Narrationen mit Hilfe jener Mittel das Bestehen einer solchen zeitlichen Relation ausdrücken müssen. Nun stellt sich jedoch die Frage, warum es sich ausgerechnet um eine Relation mit den eigentümlichen Eigenschaften von R handeln soll. Warum eine so vergleichsweise schwache und indirekte Relation und nicht etwas Eindeutigeres, etwa „ereignet sich später als“? Warum also keine Relation, die asymmetrisch und irreflexiv ist? Die einfache Antwort lautet, dass Narrationen eben auch Ereignisse beschreiben, die gleichzeitig stattfinden. Dies lässt sich am einfachsten berücksichtigen,
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indem man eine zeitliche Relation mit weniger strengen Eigenschaften heranzieht. Trotzdem ist es möglich und sinnvoll, die Relation R zu ergänzen, und so für etwas mehr intuitive Einsichtigkeit zu sorgen. Dazu muss aber erst ein zweiter Begriff, der der Quasiordnung, erklärt werden. Der Begriff der Quasiordnung ist, ebenso wie die Begriffe der Menge, der Relation und der Funktion, ein mathematischer Terminus. 17 Wenn gesagt wird, dass die Relation R auf der Ereignismenge Γ eine Quasiordnung definiert, dann bedeutet das, dass R die Elemente von Γ in eine Reihenfolge bringt, die bestimmte Eigenschaften hat. Erstens nämlich können zwei (oder mehr) Ereignisse die gleiche Position in dieser Reihenfolge innehaben. Das folgt daraus, dass R nicht antisymmetrisch und nicht asymmetrisch ist; deshalb kann es der Fall sein, dass für zwei numerisch distinkte Ereignisse a und b sowohl aRb als auch bRa gilt. Zweitens gibt es in einer Quasiordnung Elemente, die unvergleichbar im Hinblick auf R sind. Es werden also nicht alle Elemente in eine Reihenfolge gebracht. Das folgt nicht aus Eigenschaften der Relation R, sondern ist ein Merkmal, das erst durch den Begriff der Quasiordnung in (N ) eingeführt wird. Ist dies adäquat für Narrationen? Auf den ersten Blick: Ja. Eine Narration kann erstens von numerisch distinkten Ereignissen handeln, die in der zeitlichen Folge des Geschehens zeitgleich passieren. Zweitens kann eine Narration es für manche Ereignisse auch offen lassen, in welcher Reihenfolge sie passieren. Beispielsweise mag sich ein Protagonist an verschiedenen Stellen einer Geschichte an Ereignisse aus seiner Kindheit erinnern. Diese können sein Tun intelligibel machen, ohne dass die Erzählung diese erinnerten Ereignisse untereinander zeitlich ordnen müsste. Dennoch ist das Erfordernis, eine Narration müsse die Ereignisse, von denen sie handelt, nur in eine Quasiordnung bringen, etwas zu schwach. Es würde auch dann erfüllt, wenn die Narration uns z. B. für einige wenige Ereignisse sagt, dass sie gleichzeitig stattfinden, und für alle anderen offen lässt, in welcher Folge sie geschehen. Es gibt aber eine Möglichkeit, das Erfordernis so zu stärken, dass es angemessen wird. Dazu muss ich kurz daran erinnern, dass eine Relation wie R eine mengentheoretische Entität ist und als solche in verschiedene Teilmengen geteilt werden kann. Die zweistellige Relation R auf Γ ist nämlich eine Menge geordneter Paare aus Elementen von Γ (äquivalent: eine Teilmenge des Cartesischen Produkts Γ × Γ). Dank der speziellen Eigenschaften von R können wir diese Menge vollständig in zwei disjunkte Mengen von Paaren teilen, nämlich in eine strikte Wohlordnungsrelation
_____________ 17 In der mathematischen Ordnungstheorie wird oft keine einheitliche Terminologie gepflegt. Statt „Quasiordnung“ wird dort mitunter auch der Terminus „schwache partielle Ordnung“ verwendet.
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und eine Äquivalenzrelation. Die erstere ist dann eine asymmetrische, irreflexive und transitive Relation, die als streng lineare Folge ohne gleichzeitige Elemente interpretierbar ist. Die zweite ist die symmetrische, reflexive und transitive Relation der Gleichzeitigkeit. 18 Ich führe diesen Gedanken noch kurz zu Ende, bevor die technischen Details intuitiv erklärt werden. Berücksichtigt man diese mengentheoretischen Zusammenhänge, lässt sich die Sequenzialitätsbedingung wie folgt stärken: Eine Menge S von Token-Sätzen ist nur dann narrativ, wenn die Sätze in S ausdrücken, dass es eine reflexive und transitive Relation R in Γ gibt, die eine Quasiordnung in Γ definiert und zeitlich zu interpretieren ist, und wenn die Teilmenge von R, die eine strikte Wohlordnung definiert, einen bestimmten Mindestumfang hat. Was hier gefordert wird, lässt sich nun auch in intuitiverer Weise verständlich machen: Ich habe die Relation „nicht später als“ gewissermaßen zweigeteilt, nämlich in die Relationen „früher als“ und „gleichzeitig mit“. Daher stehen mir jetzt differenzierte Möglichkeiten zur Verfügung. Ich kann Ereignisse als „früher als“ oder als „gleichzeitig mit“ ordnen, wo ich vormals unterschiedslos „nicht später als“ gesagt hätte. Danach habe ich als Stärkung der Sequenzialitätsbedingung gefordert, dass der Teil der Ereignisse, zwischen denen auch die Relation früher als instantiiert ist, nicht zu gering sein darf. Eine Narration muss, so die gestärkte Bedingung, für einen Teil der Ereignisse, von denen sie handelt, doch eine strikte zeitliche Abfolge ohne Gleichzeitigkeit und Unvergleichbarkeit etablieren. Ein letzter wichtiger Punkt: In der Sequenzialitätsbedingung in (N ) heißt es, dass die Sätze in S das Vorliegen einer zeitlich zu interpretierenden Relation mit den eben benannten formalen Eigenschaften ausdrücken müssen. Das bedeutet, dass (N ) nicht schon dadurch erfüllt wird, dass Sätze Ereignisse in irgendeine Quasiordnung bringen. Mehr noch: Es bedeutet, dass es möglich ist, dass von zwei Mengen von Sätzen, die dieselbe Menge von Ereignissen in eine extensional ununterscheidbare Ordnung bringen (also genau dieselben Mengen geordneter Paare kombinieren), dennoch nur eine die Vorgaben von (N ) erfüllt. Was also in (N ) gefordert ist, ist, dass die Sätze in S das ausdrücken, was man eine Relation-in-Intension nennt. Und die muss eben eine spezifisch zeitliche Relati-
_____________ 18 Insgesamt ergäben sich dann in der Menge aller geordneten Paare aus Elementen von Γ, eben dem Produkt Γ × Γ, vier disjunkte Teilmengen: Erstens gibt es die Menge aller Paare <x, y>, die Elemente von R sind, deren inverses Paar es aber nicht ist; diese Menge ist die strikte Wohlordnung. Zweitens gibt es die Menge der Paare in R, deren inverses Paar auch in R ist; sie ist die Äquivalenzklasse. Drittens gibt es die Menge der Paare, die nicht Teil von R sind, aber deren inverses Paar es ist. Viertens gibt es eine Klasse der R-unvergleichbaren Paare, die nicht selbst in R sind und deren inverses Paar ebenfalls nicht in R ist.
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on sein. Sonst wäre es auch adäquat für Narrativität, dass Ereignisse anhand ihrer Dauer, ihrer Lautstärke, ihrer Kosten oder dergleichen in eine Quasiordnung gebracht würden. (N ) würde keine Unterschiede in Bezug auf die inhaltlichen Dimensionen dieser Ordnungen machen. c) Die Bedingung des Sinnzusammenhangs Es gibt nun aber Mengen von Token-Sätzen, die alle bisher erläuterten Bedingungen erfüllen, die aber dennoch aus semantischen Gründen keine Narrationen sind. Sie handeln also trotz allem nicht von dem, wovon Narrationen handeln. Solche Mengen sind zwar linguistische Einheiten und handeln von Ereignissen, die sie in eine (partiell strikte) zeitliche Ordnung bringen. Aber sie verleihen diesen Ereignissen keinen intelligiblen Zusammenhang. „Eines Morgens spielte Peters Radio verrückt. Am Nachmittag desselben Tages fiel der Börsenkurs des Dollar auf seinen Jahrestiefststand, und in dieser Nacht gab es in München den ersten Frost.“ Was sagt unsere Alltagsnarratologie über diese Menge von Satztokens? Zweifellos, dass sie in dieser Form keine Narration ist. Als Anfang einer solchen würde sie uns jedoch dann gelten, wenn sie mit weiteren Sätzen fortgesetzt würde, die zeigen, dass diese Ereignisse etwas miteinander zu tun haben. Es müsste also Verbindungen geben, die dieselben zu Teilen einer Geschichte machen. Eine Narration beschreibt mithin nicht nur eine temporale Folge von Ereignissen. Außerdem gibt sie für jedes Ereignis, von dem sie handelt, Informationen darüber, was dasselbe mit den anderen Ereignissen, von denen sie handelt, verbindet. Dies wird in der „Bedingung des Sinnzusammenhangs“ in (N ) gefordert. Dort heißt es ja, eine Menge von Tokensätzen S sei nur dann eine Narration, wenn es „für jedes Ereignis e1 in Γ mindestens ein Ereignis e2 in Γ gibt, so dass S eine sinnhafte Verknüpfung zwischen e1 und e2 beschreibt“. Zudem müsse gelten, dass „jede zwei Ereignisse in Γ [...] durch Iterationen solcher Verknüpfungen verknüpft“ seien. Ich werde hier erklären, was das heißt, indem ich – so präzise wie in diesem Rahmen möglich – expliziere, was eine solche „sinnhafte Verknüpfung“ ist. Eine kurze Anmerkung zur Terminologie: Der Begriff „Sinn“, wie er im Terminus „sinnhafte Verknüpfung“ verwendet wird, tritt hier nur mit leichtem philosophischem Gepäck auf. Er sollte von seinen tradierten theoretischen Konnotationen unabhängig verstanden werden. Stattdessen ist er in der eher losen Bedeutung zu nehmen, in der wir im Alltag sagen, dass etwas „Sinn ergibt“. Um vorerst ganz intuitiv zu sprechen: Der Begriff einer sinnhaften Verknüpfung signalisiert, dass die Kenntnis einer
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solchen Verknüpfung für unser Verständnis der Ereignisse, die sie verknüpft, einen Unterschied macht. Sie ermöglicht uns also z. B. eine Erklärung oder eine Rationalisierung derselben. Da diese Verknüpfungen für Narrativität jedoch zentral sind, will ich sie genauer charakterisieren. Dabei könnte es zunächst günstig erscheinen, die typischen Begriffe zu untersuchen, in denen sich solche Verknüpfungen ausdrücken lassen. So ließen sich kausale und intentionale Begriffe, aber auch Begriffe für konventionelle Regeln oder erfahrungsbasierte Schemata typischer Ereignissequenzen anführen. Dann wäre zu klären, wie man mit solchen Begriffen Ereignisse in intelligible Relationen bringen kann. Ich gehe jedoch anders vor: Um den Beitrag, den solche Verknüpfungen zur Struktur einer Narration leisten, besser erkennen zu können, ist ein formaler Zugang sinnvoll. „Formal“ ist er dabei in dem Sinne, dass er von bestimmten Inhalten und Begriffen abstrahiert. Erst im Anschluss an die formalen Analyse werde ich darlegen, in welchen inhaltlichen Kategorien Verknüpfungen dieser Art ausgedrückt werden können. Auf formaler Ebene lassen sich drei allgemeine Klassen sinnhafter Verknüpfungen unterscheiden. Ich bezeichne sie als explanatorische, teleologische und konstitutive Verknüpfungen. Ich beginne mit einer Charakterisierung der ersten dieser Klassen: Eine Menge S von Sätzen etabliert genau dann eine explanatorische Verknüpfung zwischen zwei Ereignissen e1 und e2, wenn gilt: S gibt eine Antwort auf die Frage, warum e1 stattfindet, und diese Antwort enthält eine Referenz auf e2, die nicht eliminierbar ist, ohne ihre erklärende Kraft zunichte zu machen. Um ein Beispiel zu nennen: Das Märchen vom Dornröschen beantwortet die Frage, warum die Protagonistin in einen hundertjährigen Schlaf fällt, indem sie auf eine Vielzahl vorhergehender Ereignisse (Spindelstich etc.) Bezug nimmt. Damit etabliert sie eine explanatorische Verknüpfung. Es ist zu bedenken, dass es in dieser Charakterisierung nicht darum geht, zu sagen, was eine Erklärung ist. Ich muss hier voraussetzen, dass der Erklärungsbegriff verständlich ist. Daher sind etwaige Zirkel zwischen „Erklärung“ und „Antwort auf eine Warum-Frage“, die die Charakterisierung enthalten mag, völlig harmlos. Was ich explizieren wollte, ist, was es heißt, durch eine Erklärung eine Verknüpfung zwischen Ereignissen herzustellen. In dieser Hinsicht lauern keine Zirkel in der obigen Explikation. Es lässt sich jedoch etwas besser verstehen, was hier mit einer Erklärung gemeint ist, wenn ich nun, wie angekündigt, die eher formale Ebene kurz verlasse. Mit welchen begrifflichen Mitteln lassen sich explanatorische Verknüpfungen in Narrationen beschreiben? Hier ist insbesondere hervorzuheben, dass ich den Erklärungsbegriff nicht auf den der kausalen
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Erklärung beschränke. Ich beziehe auch intentionale Erklärungen ein, ohne dabei festzulegen, ob diese als Spielart der ersteren anzusehen sind. In diesem Sinne kann eine explanatorische Verknüpfung zwischen e1 und e2 also z. B. dadurch etabliert werden, dass e1 als ein Teil der Kausalgeschichte von e2 beschrieben wird. (Genauer gesagt: e1 wird dabei als das beschrieben, was J. Mackie eine INUS-condition nennt19). Ebenso wäre dies aber z. B. dadurch möglich, dass e1 als Gegenstand der Einstellungen eines Akteurs beschrieben wird, der daraufhin e2 herbeiführt. Gibt es, neben Erklärungen in kausalen oder intentionalen Begriffen, noch andere Möglichkeiten? Mir scheint, dass ich die für Narrationen wichtigsten explanatorischen Begriffe damit genannt habe. Aber sofern es weitere Erklärungsarten gibt, sehe ich nicht, warum sie nicht auch zur intelligiblen Kohärenz einer Narration sollten beitragen können. Ich charakterisiere nun den zweiten Typ sinnhafter Verknüpfungen: Eine Menge S von Sätzen beschreibt genau dann eine teleologische Verknüpfung zwischen zwei Ereignissen e1 und e2, wenn e2 von S als ein angestrebtes Ziel beschrieben wird, und wenn S ausdrückt, dass das Eintreten von e1 die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von e2 beeinflusst. Ich werde umgehend auf die Frage eingehen, was es heißt, dass S ein Ereignis e als ein angestrebtes Ziel beschreibt. Zuvor will ich aber erst anschaulicher machen, was in dieser formalen Charakterisierung eigentlich charakterisiert wird. Beispiele für teleologische Verknüpfungen finden sich überall, wo bestimmte Ereignisse als günstig oder ungünstig, als Fördernisse oder Hindernisse, als Probleme oder Lösungshilfen dargestellt werden. Nur wegen ihres Einflusses auf das Eintreten eines bestimmten angestrebten Ereignisses sind andere Ereignisse nämlich so beschreibbar. Beispielsweise etabliert die „Odyssee“ zwischen den Hindernissen, die sich Odysseus entgegenstellen, und seiner Heimkehr nach Ithaka solche Verknüpfungen, indem sie sie eben als Hindernisse in Bezug auf jene beschreibt. Über welche Begriffe verfügen wir, um derlei Verknüpfungen zu beschreiben? Eine Beschreibung einer teleologischen Verknüpfung zwischen Ereignissen muss, dem Obigen zufolge, das eine von ihnen als ein angestrebtes Ziel auszeichnen und das andere als probabilistisch relevant für das erstere beschreiben. Zunächst zum ersten Relatum: Was heißt es, dass eine Menge von Sätzen S ein Ereignis e als ein angestrebtes Ziel beschreibt? Gewöhnlich bedeutet es, dass S auf einen Wunsch eines Akteurs oder einer Gruppe Bezug nimmt, zu dessen Erfüllungsbedingungen das
_____________ 19 Vgl. Mackie (1974). Auf die Bedeutung solcher kausalexplanatorischen Verknüpfungen in Narrationen hat (mit Bezugnahme auf Mackie) N. Carroll (2001) hingewiesen, der ihre Bedeutung jedoch, wie D. Velleman (2003) zutreffend kritisiert, zu stark einschätzt.
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Eintreten von e zählt. Die Auszeichnung des einen Relatums einer teleologischen Verknüpfung muss in diesen Fällen also in intentionalen Begriffen des Wünschens o. ä. erfolgen. Ähnlich wie für den Erklärungsbegriff gilt jedoch, dass an dieser Stelle keine Probleme der Theorie der Teleologie gelöst werden können. Dies gilt besonders für die Frage, ob die Bezugnahme auf intentionale Zustände von Akteuren die einzig sinnvolle Möglichkeit ist, von Zielen zu reden. Wenn es sinnvolle nicht-intentionale Möglichkeiten gibt, Ereignisse als Ziele zu beschreiben, dann sollen auch diese Möglichkeiten hier berücksichtigt werden. In Bezug auf das zweite Relatum gibt es keine prinzipiellen inhaltlichen Beschränkungen der Beschreibung. Insbesondere ist es für teleologische Verknüpfungen weder notwendig noch typisch, sie als probabilistisch relevant zu charakterisieren. Vielmehr können die fraglichen Verknüpfungen inhaltlich in ganz verschiedener Weise beschrieben werden – als kausale Hindernisse oder Fördernisse, als rationale Gründe, als psychologische Ereignisse, als juristische und institutionelle Hindernisse und Fördernisse und dergleichen. Was all dies jedoch als Hindernis oder Fördernis auszeichnet, ist, dass erkennbar ist, inwiefern es die Aussichten darauf verändert, dass ein Ziel erreicht wird. Der probabilistische Einfluss, den ein Relatum auf das andere haben soll, ist als Einfluss auf die subjektive Wahrscheinlichkeit des letzteren für Rezipienten zu verstehen. Es kommt also darauf an, dass sich die konditionale subjektive Wahrscheinlichkeit des einen Ereignisses, gegeben die kausalen, rationalen o. a. Eigenschaften des anderen, signifikant von seiner einfachen Wahrscheinlichkeit unterscheidet. Drittens komme ich nun zur letzten großen Kategorie sinnhafter Verknüpfungen, nämlich denjenigen konstitutiver Art. Eine Menge S von Sätzen etabliert genau dann eine konstitutive Verknüpfung zwischen zwei Ereignissen e1 und e2, wenn gilt: S drückt aus, dass es ein weiteres Ereignis e3 gibt, das ein Token eines komplexen Ereignistyps ist, und S drückt aus, dass das Eintreten von e3 partiell oder vollständig darin besteht, dass e1 und e2 stattfinden. Eine Menge von Sätzen etabliert also solche Verknüpfungen, indem sie auf Einzelereignisse Bezug nimmt und beschreibt, dass ihr Stattfinden ein umfassenderes Ereignis, etwa eine Havarie, ein Promotionsverfahren oder eine Wurzelbehandlung, partiell oder ganz ausmacht. Dabei ist zu beachten, dass die konstitutive Verknüpfung, wie sie hier definiert wird, nicht die „vertikale“ Verknüpfung der Konstitution selbst ist. Vielmehr ist sie die „horizontale“ Verknüpfung zwischen einzelnen Ereignissen, die als die Konstituenten eines Konstituendum beschrieben werden. Sie wird also z. B. zwischen den einzelnen Steinfällen etabliert, von denen eine Menge von Sätzen beschreibt, dass sie zusammen eine
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Lawine darstellen. Ebenso wird sie zwischen den einzelnen Handgriffen etabliert, von denen eine Menge von Sätzen aussagt, dass sie zusammen ein Fahrradflicken sind. Sie besteht jedoch nicht zwischen Steinschlägen und Lawinen oder zwischen Handgriffen und Fahrradflicken. Die „vertikale“ Relation der Konstitution, wie sie zwischen diesen letzteren Ereignissen besteht, ist ein umstrittenes Thema. Fraglich ist zum Beispiel, ob sie einfach numerische Identität ist oder ob sie eine Verknüpfung zwischen distinkten Entitäten ist.20 Zum Glück ist es hier jedoch ebenso wenig nötig, eine Analyse der Konstitutionsrelation vorzulegen, wie es nötig war, mit Theorien der Erklärung oder der Teleologie aufzuwarten. Für die Analyse des Narrationsbegriffs ist weniger die Relation zwischen einem Fußballspiel und den Einzelereignissen, die es konstituieren, interessant. Entscheidend ist der Umstand, dass diese Einzelereignisse verknüpft werden können, indem man beschreibt, dass sie in dieser Relation, wie immer sie auch beschaffen ist, zu einem Fußballspiel stehen.21 Auf die Frage, wie solche konstitutiven Verknüpfungen beschrieben werden können, ist Folgendes zu antworten: Erstens müssen sortale Begriffe für komplexe oder höherstufige Ereignistypen verwendet oder impliziert werden. Zweitens müssen die Einzelereignisse in der Weise beschrieben werden, die sie als mögliche Konstituenten für Tokens jener komplexen Ereignistypen ausweist. Im Falle des Ereignistyps Gerölllawine z. B. müssen die Einzelereignisse, die ein Token einer solchen konstituieren, als kausale Vorkommnisse einer bestimmten Art beschrieben werden. Bei Tokens des Typs Schützenfest hingegen müssen einige konstituierende Ereignisse als intentionale Handlungen beschrieben werden. Andere müssen dadurch charakterisiert werden, dass man ihre konventionelle Bedeutung in einem Kontext von Vereinsregeln angibt etc. Versucht man jedoch, geeignete sortale Begriffe für höherstufige Ereignistypen zu spezifizieren, stößt man auf ein Problem: Was unterscheidet komplexe Ereignisse wie Havarien, Fußballspiele oder Schützenfeste, die wir natürlicher Weise als solche klassifizieren, von künstlichen Typen wie Niesen-und-einen-roten-Hut-tragen-und-später-fotografiert-werden? Damit Narrationen nicht zwischen beliebigen Ereignispaaren trivialer Weise konstitutive Relationen etablieren (weil sich einfach immer ein entsprechender
_____________ 20 Die letztere Sichtweise vertreten in unterschiedlicher Form z. B. L. Baker (2000) und A. Goldman in seinem Modell der Ebenengenerierung, vgl. ders. 1970, 20 ff u. 45. 21 Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Vorstellung einer Konstitutionsrelation für Ereignisse, die in allen genannten Beispielen instantiiert wird, verfehlt ist, und dass in Fällen, in denen jeweils ein Ereignis aus getrennten kleineren Ereignissen zu bestehen scheint, in Wahrheit sehr unterschiedliche Relationen zwischen jenem und diesen bestehen können. Diese Möglichkeit kann hier gefahrlos eingeräumt werden.
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künstlicher Ereignistyp definieren lässt), scheint es im Sinne einer informativen Bestimmung unabdingbar, diese Unterscheidung zu formulieren. Anders jedoch als in wissenschaftstheoretischen Diskussionen über ähnliche Fragen (vgl. Goodmans grue-Problem) ist es hier klarer Weise unnötig, der Unterscheidung ein robustes metaphysisches Fundament zu geben. Ein bestimmter komplexer Ereignistyp ist dann für konstitutive Verknüpfungen geeignet, wenn wir ihn nicht einfach ad hoc erfunden haben. Stattdessen kann sich dieser Typ in der Vergangenheit vor dem Hintergrund unserer Interessen und Bedürfnisse als relevant erwiesen haben. Dann haben wir wahrscheinlich auch bereits ein entsprechendes Sortale. Und nichts schließt aus, dass wir eines Tages ein Interesse am Ereignistyp Niesen-und-einen-roten-Hut-tragen-und-später-fotografiert-werden entwickeln und ein Sortale für ihn einführen. Damit wird es dann auch möglich, sinnhafte Verknüpfungen zwischen Ereignissen zu etablieren, die ein Token dieses für uns signifikanten Typs konstituieren. Ein solches geteiltes Interesse entsteht aber nicht schon dadurch, dass man willkürlich ein Sortale kreiert. Allerdings will ich betonen, dass Narrationen selbst durch ihre Handlung bestimmte komplexe Ereignistypen einführen können, die geeignet sind. Angenommen, in einer Spionagegeschichte wird eine Sequenz von Klopfzeichen als Code vereinbart. Dann kann eine spätere Beschreibung bestimmter Einzelereignisse eine konstitutive sinnhafte Verknüpfung zwischen ihnen als Teilen einer Nutzung des Codes etablieren. Komplexe Ereignistypen, die wir bereits als solche betrachten, entstammen ganz unterschiedlichen Quellen. Zum ersten gibt es in jeder Kultur Ereignistypen, die institutionalisiert sind, bei uns etwa Hochzeiten, Fußballspiele, Gerichtsverfahren und Fahrzeugkontrollen. Für jeden Sortalbegriff F, der einen solchen institutionalisierten Ereignistyp bezeichnet, gibt es explizite soziale Regelsysteme, die festlegen, wann etwas als ein F gilt. Zum anderen haben wir ein umfangreiches, wenngleich finites Repertoire generischer kognitiver Schemata für typische Ereignisabläufe. Dieses haben wir im Zuge unserer Ontogenese in einer bestimmten natürlichen und kulturellen Umwelt erworben. Solche organisierten, induktiv erworbenen Wissensrepräsentationen werden in den Kognitionswissenschaften mit Schank und Abelson (1977) als scripts bezeichnet.22 Die Wichtigkeit solcher generischen Repräsentationen typischer Ereignissequenzen für Narrativität wird schon von R. Barthes (1987) hervorgehoben. (Allerdings versteht er sie weniger kognitionspsychologisch
_____________ 22 Scripts bestehen aus einem Begriff (i. S. eines mentalen Tokens) wie „Restaurantbesuch“, „Joggen gehen“, „Banküberfall“, einer Menge von Bedingungen für den Abruf des script (den header) sowie einer Repräsentation der prototypischen Ereignissequenz inklusive einiger Leerstellen (slots), für deren Belegung es default-Werte, aber auch Variationsspielraum gibt, um eine flexible Anwendbarkeit des script zu gewährleisten.
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als vielmehr kultursemiotisch.) Eine systematische Erforschung dieser Repräsentationen und ihrer Rolle im Verstehen von Narrationen findet jedoch erst in der neueren, kognitionswissenschaftlich orientierten Narratologie statt (vgl. z. B. Herman 2002). Indem hier auf die Bedeutung dieser kognitiven Ressourcen von Rezipienten hingewiesen wird, wird ein Element von Kultur- und Rezipientenrelativität in die Definition des Begriffs „Narrativität“ eingeführt. Was in der für Narrationen typischen Weise sinnhaft verknüpft ist, hängt also nicht allein von intrinsischen Merkmalen der Sätze und der beschriebenen Ereignisse ab, sondern es hängt auch davon ab, wer diese Sätze versteht und über welche Repertoires er verfügt.23 Mehr zur Relativitätsproblematik folgt in § 31. Ich habe bisher in einiger Ausführlichkeit dargelegt, was die Bedingung des Sinnzusammenhangs in (N ) beinhaltet – nämlich zusammengefasst dies: Eine Menge von Tokensätzen S ist nur eine Narration, wenn es für jedes Ereignis e1 in Γ mindestens ein Ereignis e2 in Γ gibt, so dass S eine explanatorische, teleologische oder konstitutive Verknüpfung zwischen e1 und e2 beschreibt. Ich habe gesagt, was es mit diesen Verknüpfungstypen auf sich hat. Damit sind drei wichtige Aspekte der Semantik von Narrationen abgehandelt. Mit diesen Ergebnissen lässt sich nun bereits ein weiterer Begriff präzise bestimmen, der in der Beschreibung von Narrationen wichtig ist. Dies ist der Begriff der Handlung (oder des plot). Es gibt in der Literatur keine einheitliche Verwendung dieses Begriffs, aber für meine weiteren Ausführungen ist die folgende Festlegung die sinnvollste: Handlung einer Narration Die Handlung einer Narration besteht erstens aus der Menge der Ereignisse, die sie beschreibt, zweitens aus der zeitlichen Ordnungsrelation, die sie zwischen ihnen beschreibt, und drittens aus der Menge der sinnhaften Relationen, die sie zwischen ihnen beschreibt.
_____________ 23 Eine noch stärkere Form von Relativität wird im nächsten Abschnitt erkennbar werden, wenn es um die pragmatischen Eigenschaften von Narrationen geht. Im Anschluss an jene Ausführungen wird die Frage der Kultur- und Rezipientenrelativität von Narrativität daher eingehender diskutiert. Hier weise ich vorerst nur darauf hin, dass diese Relativität in jeder angemessenen Definition von Narrativität einen Platz finden muss. Für Wesen, die nicht wissen, was eine Hochzeit ist, was sie involviert und was sie bedeutet, wird eine Menge von Sätzen, die den Verlauf einer Hochzeit beschreibt, offensichtlich nicht die sinnhafte Kohärenz aufweisen können, die für Narrativität notwendig ist. Für uns hingegen kann sie dies sehr wohl. Es gibt also in einem bestimmten Maße tatsächlich eine Kulturrelativität dessen, was jeweils als eine Geschichte gelten kann. Offen ist aber, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
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Das heißt also: Zwei Mengen von Tokensätzen S und S’ beschreiben genau dann dieselbe Handlung, wenn für alle x und y gilt, dass sie erstens genau dann zu den Ereignissen zählen, die S beschreibt, wenn sie auch zu den Ereignissen zählen, die S’ beschreibt, und wenn zweitens S genau dann eine zeitliche Relation R bzw. eine sinnhafte Relation T zwischen x und y beschreibt, wenn auch S’ beschreibt, dass xRy bzw. xTy. Dieses Individuationskriterium wäre nur dann trennscharf, wenn wir über ebenso präzise Individuationskriterien für Ereignisse, zeitliche Relationen und sinnhafte Verknüpfungen verfügten.24 Das tun wir zweifellos nicht. Dennoch ist meine Bestimmung gerade darin korrekt, denn die Vagheit liegt im Gegenstand selbst: Es gibt in der Tat Fälle, in denen es keine klare Antwort auf die Frage gibt, ob zwei Narrationen dieselbe Handlung beschreiben. Meine Bestimmung bringt auf den Punkt, wovon es abhängt, ob zwei Geschichten dieselbe Handlung haben. Zudem kann sogar eine lose Verwendung dieses losen Kriteriums sinnvoll sein. Oftmals genügt uns eine Erfüllung in einem kontextuell relevanten Maße, damit wir akzeptieren, dass zwei Narrationen dieselbe Handlung haben. Es bleibt nun die letzte Klausel der Bedingungsfamilie β, nämlich die „semantische Intentionalitätsbedingung“, zu diskutieren. Dieser Bedingung zufolge ist es notwendig für Narrativität, dass die Handlung aus der Perspektive bestimmter Akteure präsentiert wird. d) Semantische Intentionalitätsbedingung Die semantische Intentionalitätsbedingung in (N ) besagt, dass Sätze nur dann eine Narration bilden, wenn sie die Ereignisse, von denen sie handeln, als Gegenstand der Perspektive des Denkens, Wünschens, Wollens, Hoffens etc. von Akteuren beschreiben. Wenn sie die Geschehnisse, von denen sie handeln, nicht in direkten oder indirekten Bezug zur Perspektive von Akteuren bringen, sind sie keine Narration. Um dies mit den Worten C. Bremonds, eines Vorreiters der französischen Narratologie, zu sagen: „[W]here [...] narrated events [are] neither being produced by agents nor experienced by anthropomorphic beings [...], there can be no narrative“ (Bremond 1996, 64). Ist dies wirklich plausibel als eine notwendige Bedingung? Ich werde zunächst eine Erläuterung und Veranschaulichung dieser Bedingung in
_____________ 24 Zu einigen Schwierigkeiten in der Identifikation und Individuation von plots siehe Nehamas (1993). Mir scheint jedoch nicht, dass dieser Begriff eine so ausgeprägte Vagheit aufweist wie Nehamas behauptet.
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Angriff nehmen. Erst wenn dergestalt Klarheit geschaffen ist, scheint es sinnvoll, dieser Frage nachzugehen. Die Intentionalitätsbedingung in (N ) besagt in ihrem Wortlaut, dass eine Menge von Token-Sätzen S nur dann eine Narration ist, wenn S eine Menge Γ von Ereignissen beschreibt, und wenn es eine Teilmenge I dieser Ereignisse in Γ gibt, die S explizit oder implizit im Skopus intentionaler Operatoren beschreibt, und wenn S für jedes weitere Ereignis e in Γ eine sinnhafte Verknüpfung zu einem Element von I beschreibt. Zur Erläuterung stelle ich nun zuerst dar, was es heißt, dass eine Beschreibung eines Ereignisses „im Skopus eines intentionalen Operators“ steht. Intentionale Operatoren sind so genannte intensionale (mit einem „s“) Operatoren. Diese binden Sätze und bilden so neue Sätze, deren Wahrheitswert sensitiv für die Intersubstitution koreferentieller Terme im gebundenen Teilsatz ist. Ihre spezifische Differenz zu anderen intensionalen Operatoren liegt in ihrer Bezugnahme auf intentionale Einstellungen wie Überzeugungen und Wünsche von Akteuren. Im einfachsten Falle steht also ein Satz, der von einem Ereignis handelt, dann im Skopus eines intentionalen Operators, wenn er in einen bestimmten sententialen Kontext eingebettet ist. Genauer: Ihm ist ein Präfix wie „A glaubt, dass...“, „A wünscht, dass...“ oder „A fürchtet, dass...“ vorangestellt, zu dem er die Hypotaxe bildet. Als solche gibt er den intentionalen Gehalt der Einstellung des Subjekts an, die im Präfix denotiert werden. Natürlich ist dies nur eine Möglichkeit, die natürliche Sprachen bieten, um Sätze in den Skopus intentionaler Operatoren zu stellen. Weitere Möglichkeiten werden umgehend dargestellt, aber zuvor sind Fragen zur Semantik und Logik zu klären, für die diese Sätze die einfachsten Beispiele abgeben. Ein wichtiges semantisches Problem für die Intentionalitätsbedingung ist dieses: Es ist nicht klar, ob Beschreibungen von Ereignissen im Skopus intentionaler Operatoren überhaupt Beschreibungen von Ereignissen sind. Ich erkläre dies etwas genauer: Sätze der soeben skizzierten Form spezifizieren die Gehalte der Einstellungen von Akteuren, und zwar de dicto. Ein Beispiel einer solchen de dicto-Spezifikation wäre: „Peter hofft, dass die Geldübergabe glimpflich vonstatten geht“. Im Gegensatz zu einer de re-Spezifikation („Peter hofft von der Geldübergabe, dass sie glimpflich vonstatten geht“) kann man von diesem Satz gar nicht behaupten, er nehme auf das Ereignis der Geldübergabe Bezug. Das Problem ist, dass der scheinbar ereignisbezügliche Term („die Geldübergabe“) nicht salva veritate durch koreferentielle Terme ersetzbar ist. Wenn es aber darum ginge, auf ein Ereignis zu referieren, dürfte so eine Substitution eigentlich keinen solchen Unterschied machen. Aber im Gegensatz zur de re-Spezifikation ist dies auch nicht das, was der Beispielsatz tut. Vielmehr beschreibt er eine Relation zwischen Peter und
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einer abstrakten Entität, nämlich einer Proposition. Nehmen wir solche Sätze daher als beispielhaft für das, was die Intentionalitätsbedingung fordert, dann hieße das, dass Narrationen weniger von Ereignissen als vielmehr von abstrakten Gehalten handeln. Dies ist sicher keine sinnvolle Forderung. Was die Intentionalitätsbedingung fordern sollte, ist ja eher dies: Eine Narration muss eine Sequenz von Ereignissen beschreiben und dabei auch deutlich machen, wie diese sich aus der Perspektive der Protagonisten präsentieren. Es sollte also Möglichkeiten geben, sowohl auf Ereignisse als auch auf die Aspekte Bezug zu nehmen, unter denen sie sich Akteuren präsentieren. Sonst widerspräche die Intentionalitätsbedingung der Bedingung der Ereignisreferenz. Aber bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass es keinen solchen Konflikt gibt. Erstens nämlich gibt es bestimmte einfache de dictoSpezifikationen mentaler Gehalte, die faktive intentionale Verben wie „wissen“, „erkennen“, „sich erinnern“ etc. enthalten. Diese Verben implizieren die Wahrheit der Sätze, die sie einbetten. Daher kann man durchaus sagen, dass ein Satz wie „Peter wusste, dass es einen Unfall gegeben hatte“ auf dem Wege der Implikation auf das letztere Ereignis (den Unfall) Bezug nimmt. Dies ist möglich, obwohl diese Bezugnahme in oratio obliqua steht. Zweitens und vor allem fordert (N ) ja gar nicht, dass bestimmte Ereignisse in einer Narration nur im Skopus intentionaler Operatoren beschrieben werden dürfen. Es gibt vielerlei Möglichkeiten, in Narrationen sowohl in intentionalen Kontexten als auch außerhalb derselben auf ein und dasselbe Ereignis zu referieren. Zum Beispiel ist dies durch anaphorischen Rückverweis aus einem intentionalen Kontext nach außerhalb möglich: „Der Zeitpunkt der Geldübergabe rückte näher. Peter hoffte, sie würde glimpflich vonstatten gehen.“ Auch de reGehaltsspezifikationen stellen eine solche Möglichkeit dar. In einem solchen Satz steht die Bezugnahme auf das Ereignis zwar nicht im Skopus des Operators. (Sie steht außerhalb des „dass“-Satzes und ist substituierbar salva veritate.) Aber: Auch dieser Satz beinhaltet, hierin stimme ich z. B. G. Evans zu, dass das Ereignis unter bestimmten Aspekten Gegenstand der Einstellungen des Subjekts ist. Allerdings impliziert er nicht, dass dies ein bestimmter, sprachlich ausdrückbarer Aspekt ist. 25 Hiermit sind die wesentlichen semantischen Optionen dargestellt. Ich will nun noch darauf eingehen, dass diese Optionen in Narrationen oft indirekt realisiert sein können. Man nehme etwa diese Sätze: „Hans sah
_____________ 25 In (1982) bejaht Evans, wie mir scheint zu Recht, ein Prinzip, dass er „Russell’s Principle“ nennt und das sinngemäß beinhaltet: Wann immer ein Subjekt S einen Gedanken an ein Objekt o unterhält, dann muss S in irgendeinem substantiellen Sinne wissen, welches Objekt o ist. Das bedeutet, dass wir auch in de re-Zuschreibungen fordern müssen, dass o für S in irgendeiner Weise gegeben ist.
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ungeduldig in die Ferne. Da endlich erschien Peter am Horizont.“ Hier wird das Ereignis, von dem der zweite Satz handelt, implizit im Skopus eines intentionalen Operators beschrieben, und zwar gleich doppelt. Die Satzfolge impliziert nämlich material gleich zwei Sätze über jenes Ereignis, die dasselbe im Skopus intentionaler Operatoren beschreiben. Zum einen wird durch die Verbkonstruktion „da endlich erschien“ impliziert, dass Peter nicht nur kommt, sondern dass Hans auch sieht, dass Peter kommt. Zum anderen drücken die Bestimmungen „ungeduldig“ und „da endlich“ aus, dass Peters Ankunft etwas ist, das Hans wünscht. Schließlich gibt es noch komplexere indirekte Möglichkeiten. Sätze können uns den Verlauf einer Geschichte so erzählen, dass rekonstruierbar wird, dass ein Akteur bestimmte Dinge auf eine bestimmte Weise verstehen muss. Unsere besten Narrationen sind voller Beispiele: Wir können aus der Lebensgeschichte von Ödipus erschließen, dass er nicht wissen kann, dass Iokaste, seine Ehefrau, zugleich seine Mutter ist. Wir können so schließen, dass er die Handlung, sie zu heiraten, nur unter bestimmten Beschreibungen beabsichtigt. Und wenn Shakespeares Romeo Julia leblos in seinen Armen hält, wissen wir Rezipienten, dass er glauben muss, sie sei tot. Hier wird durch den Gang der Geschichte die epistemische und konative Perspektive der Akteure rekonstruierbar. Die semantische Intentionalitätsbedingung in (N ) fordert nun nicht, dass jedes Ereignis im Kontext eines intentionalen Operators thematisiert werden muss. Aber die Ereignisse, die nicht selbst als intentionale Gegenstände dargestellt werden, müssen in sinnhaften Verknüpfungen zu Ereignissen stehen, die es werden. Nicht alle Ereignisse, von denen eine Geschichte erzählt, müssen von Akteuren bemerkt, bedacht, bewertet, gewünscht oder gefürchtet werden. Aber sie müssen in intelligiblen Beziehungen zu dem stehen, was die Akteure bemerken, bedenken, bewerten, wünschen oder fürchten. Damit ist nun ein genauerer Eindruck davon gewonnen, was die semantische Intentionalitätsbedingung in (N ) eigentlich beinhaltet. Es bleibt die Frage, ob die dergestalt erläuterte Bedingung wirklich notwendig für Narrativität ist. Nun wäre sie als Aussage über empirische Eigenschaften von Narrationen zweifellos korrekt. In der Tat scheint es in allen Narrationen, die wir kennen, um das Handeln und die Intentionen von Akteuren zu gehen, sowie um ihre glaubende und wünschende Perspektive auf das, was sie tun und was ihnen widerfährt. Gerade dann, wenn Narrationen nur von Entitäten handeln, von denen wir sonst keine intentionalen Prädikate aussagen würden, lässt sich beobachten, dass diese Entitäten personifiziert werden. Unsere Geschichten sind bevölkert von einer erstaunlichen Vielzahl sprechender, denkender und sonstwie anthropomorphisierter Tiere und Artefakte. Und dieser prima facie überraschende Umstand kann
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durchaus bereits als ein Beleg zugunsten der These einer engen begrifflichen Verknüpfung zwischen Narrativität und intentionaler Sprache gelten. Dennoch ist dies natürlich allerhöchstens ein vages Indiz dafür, dass es nicht nur typisch, sondern notwendig für Narrationen ist, die Perspektive von Akteuren darzustellen. Ist die fragliche Bedingung in (N ) also wirklich gerechtfertigt? Vertreter der klassischen russischen und französischen Narratologie bejahen dies. Im Versuch, ein kombinatorisches System von Elementen und Bildungsregeln zu rekonstruieren, aus dem sich alle wohlgeformten Narrationen ableiten lassen, haben sie daher gemeinhin Handlungen zu den Elementen erkoren. C. Bremond (1996) zum Beispiel entwickelt eine Grammatik wohlgeformter Handlungssequenzen. Und V. Propp (1972) und A.-J. Greimas (1996) vertreten ein einflussreiches „Aktanten-Modell“, demzufolge allen Narrationen eine Tiefenstruktur gemein ist. Sie besteht aus einer finiten Menge generischer Akteursrollen („Aktanten“), die in wohlgeformten Narrationen realisiert werden und deren Interrelationen die Form der jeweiligen Narration bestimmen. Generell ist der Universalitätsanspruch dieser strukturalistischen Modelle jedoch mit Vorsicht zu genießen. Sie beruhen auf induktiven Generalisierungen aus einem limitierten Korpus von Daten; und das macht ihren Anspruch, universale Modelle ihrer Gegenstände darzustellen, fragwürdig. Daher scheint mir der fundamentale Stellenwert, den intentionale Kategorien in strukturalistischen Modellen haben, allenfalls die bereits erwähnte de facto-Omnipräsenz derselben in Narrationen zu unterstreichen. Hier aber geht es um den de jure-Status intentionaler Sprache als notwendige Bedingung. Letztlich bleibt erneut nichts anderes übrig, als unseren Intuitionen das letzte Wort zu geben. Die Frage lautet also: Können wir uns eine Narration vorstellen, die vollständig ohne intentionale Sprache auskommt? Mir scheint, dass dem nicht so ist. Ein Großteil der narratologischen Forschung geht darin, so weit ich sehe, mit mir einig. Bestreitet man dies aber, so hat dies für meine Arbeit keine gravierenden Konsequenzen. Die Entitäten, über deren Narrativität ich hier zu entscheiden suche (i. e. bestimmte Einstellungen über die Geschichte von Personen), erfüllen die semantische Intentionalitätsbedingung nämlich in jedem Falle – ob dies nun notwendig oder nur typisch für Narrationen ist. Wesentlich größeres Gewicht als auf der semantischen Intentionalitätsbedingung ruht aber auf den Bedingungen der dritten, pragmatischen Bedingungsfamilie. Um die Erläuterung dieser pragmatischen Bedingungen in (N) wird es nun gehen.
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§ 30. Erläuterungen III: Pragmatische Bedingungen Ob etwas eine Geschichte ist, ist – so will es meine Theorie – nicht nur eine Frage seiner grammatischen und semantischen Eigenschaften. Es zählt also nicht nur, wovon erzählt wird, und die sprachliche Form, in der es getan wird. Außerdem ist die Bedeutung wichtig, die das Erzählte im Lichte des Wissens und der Empathie der Rezipienten im jeweiligen Äußerungskontext hat. Ich werde nun erläutern, was die einschlägigen pragmatischen Bedingungen in (N ) genau fordern und inwiefern sie plausibel sind. Zunächst allerdings werde ich an Beispielen zeigen, um was es geht. Man nehme an, ein Subjekt äußere in einem bestimmten Kontext vor einer Gruppe von Rezipienten eine Menge von Sätzen. Er oder sie beschreibt mit ihnen, wie eine gemeinsame Bekannte aller Beteiligten, nennen wir sie Maria, einen bestimmten Tag verbracht hat. Man nehme also an, der Sprecher äußere Folgendes: (n5)
Maria hatte alles genau geplant. Zuerst besuchte sie ihre Eltern zu einem ausgedehnten Frühstück, dann ging sie in die Stadt, um Besorgungen zu machen. Dabei entdeckte sie ein Kleid, das sie sich kaufte und gleich anbehielt. Nach ihrem Stadtbummel besuchte sie Andreas, um ihre Neuerwerbung vorzuführen und mit ihm einen harmonischen Abend zu verbringen. Schließlich fuhr sie in ihre Wohnung und legte sich erschöpft, aber glücklich hin, um von einem langen Tag auszuruhen.
Um nun erkennen zu können, inwiefern Narrativität kontextabhängig ist, schlage ich vor, verschiedene alternative Zusatzinformationen über den Kontext dieser Äußerung in Betracht zu ziehen. So wird sich beobachten lassen, ob diese einen Unterschied in der Frage der Narrativität von (n5) machen, und – falls ja – worin dieser Unterschied besteht. Ohne besondere Informationen über den Kontext würden wir (n5) zunächst wohl nur in einem eher weiten Sinn als eine Geschichte qualifizieren. Es handelt sich um eine alltägliche Beschreibung dessen, was jemand an einem bestimmten Tag so alles angestellt hat. Dabei spricht, wie gesagt, vom Standpunkt unserer Alltagssprache nichts dagegen, dies als Geschichte zu qualifizieren. Aber wir verfügen eben auch über einen engeren Begriff einer Geschichte, den wir hier eher nicht in Anwendung bringen wollen würden. Nun stellen wir uns aber vor, in Bezug auf den Kontext der obigen Äußerung wäre Folgendes der Fall: Sprecher und Rezipienten verfügen über ein bestimmtes Vorwissen. Dieses beinhaltet, dass es sich bei dem beschriebenen Tag um einen besonderen Tag im Leben Marias gehandelt
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hat, nämlich, genau gesagt: um den letzten Tag ihres Lebens. Außerdem wissen Sprecher und Rezipienten, wie wir annehmen wollen, dass Maria (aus irgendeinem Grunde) lange gewusst hat, dass jener Tag der letzte Tag ihres Lebens sein würde. Schließlich nehmen wir weiter an, dass Sprecher und Rezipienten wissen, dass Maria mit ihren Eltern seit langem und bis zu jenem Tag heillos zerstritten war, nie Kleider tragen mochte und ihre Beziehung mit Andreas stark vernachlässigt hatte. Wendet man sich (n5) unter dieser Annahme zu, so bemerkt man, dass sie einen deutlichen intuitiven Unterschied in der Frage der Narrativität von (n5) macht. Worin besteht dieser Unterschied, und was an den Kontextfaktoren macht diesen Unterschied? Man könnte zunächst vermuten, er bestünde einfach darin, dass (n5) ohne die Angaben über den Kontext einfach nicht die ganze Geschichte erzählt. Erst die Anreicherung um weitere Informationen macht aus (n5) eine vollständige Geschichte. Wäre dieses Zusatzwissen aber in expliziter Form ein Teil der Äußerung geworden, dann wäre sie auch außerhalb dieses speziellen Kontextes als richtige Geschichte erkennbar gewesen. Wäre dies also alles, was der Kontext zur Narrativität von (n5) beitrüge, dann wäre es gar nicht gerechtfertigt, hier von echter Kontextrelativität zu sprechen. Es wäre nur ein Fall, in dem ein Teil einer Geschichte als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Diese Replik übersieht aber das Wesentliche, denn sie erklärt zu wenig. Natürlich ist es die Ergänzung durch weiteres Wissen über den beschriebenen Tag, der aus der Beschreibung eine Narration macht. Die wichtige Frage aber muss lauten: Warum macht gerade dieses Zusatzwissen einen solchen Unterschied? Die richtige Antwort darauf lautet: Indem ich auf dieses spezielle Vorwissen der Beteiligten rekurriert habe, habe ich implizit deutlich gemacht, was die beschriebenen Ereignisse in einem emotionalen Sinne für die Beteiligten bedeuten, was sie an dem Erzählten berühren, überraschen, glücklich oder traurig machen wird. Entscheidend an meinem Beispiel ist also nicht einfach, dass die Beteiligten mehr wissen. Sondern sie wissen etwas, das die emotionale Bedeutung des Erzählten für sie verändert. Dies macht einen qualitativen Unterschied. Das lässt sich vielleicht durch ein alternatives Szenario noch deutlicher machen. Dieses macht noch klarer, dass der Unterschied in Sachen Narrativität nicht einfach durch einen kognitiven Vorsprung der Hörer zu erklären ist. Man nehme also an, der Sprecher, der die oben angegebenen Sätze äußert, sei Maria selbst, und der Kontext ihrer Äußerung sei folgender: Maria ist Insasse einer Strafanstalt, die sie und ihre Zuhörer auf absehbare Zeit nicht mehr werden verlassen dürfen. Wann immer für sie und ihre Schicksalsgenossinnen die Verzweiflung übergroß zu werden droht, pflegen sie den Brauch, einander auszumalen, was sie täten, wenn ihnen mor-
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gen nur ein einziger Tag in Freiheit zugestanden würde. Zu einer dieser Gelegenheiten äußert Maria obige Sätze (natürlich mit den naheliegenden Veränderungen im Tempus und in der Referenz in der ersten Person). Auch hier wird das Geäußerte eher als eine Geschichte gelten können. Und das, was diesen Unterschied macht, ist dasselbe wie im vorhergehenden Fall: Die Hörer verstehen, dass es hier um etwas Wichtiges geht. Die erzählten Begebenheiten, die in weniger ungewöhnlichen Kontexten einigermaßen trivial erscheinen würden, werden in diesen speziellen Kontexten als Produkte schwerwiegender Entscheidungen verständlich. Die Rezipienten nehmen emotional an ihnen Anteil, weil sie ihre Tragweite verstehen. Im Lichte dieser Anteilnahme ist es eine spannende Frage, für welche Handlungsoptionen Maria sich entscheidet. Und jeder Satz trägt zur Auflösung dieser Spannung bei. Mit der schrittweisen Beantwortung dieser Frage kommt die Erzählung auch auf der Ebene dieser Anteilnahme an ihr Ende. Sie ist, wie ich es an früherer Stelle ausgedrückt habe, ein geschlossenes Ganzes im Hinblick auf ihre dramatische Wirkung. Die dritte Bedingungsfamilie in (N ) besagt, dass diese Art von Signifikanz in einem Kontext nicht nur ein Merkmal besonders gelungener Narrationen ist. Vielmehr ist sie konstitutiv für Narrativität überhaupt. Nachdem die Beispiele hoffentlich einen Eindruck davon vermittelt haben, worum es geht, erläutere ich diese Bedingungen nun schrittweise. Dabei wird speziell folgender Punkt deutlich zu machen sein: Der dramatische Charakter und die emotionale Signifikanz einer Menge von Sätzen in einem Kontext ist, anders als die Beispiele suggerieren, nicht mit bestimmten emotionalen Reaktionen identisch, die diese Sätze in Rezipienten hervorrufen. Es gibt Geschichten, die uns kalt lassen und die wir nicht als dramatisch empfinden. Auch diese Geschichten können dennoch als Geschichten gelten, denn auch sie können emotional signifikant sein. Die beiden Klauseln der pragmatischen Bedingung in (N ) sind sehr dicht und es erfordert einige Arbeit, sie genau zu erläutern. Ich werde diese beiden Teilbedingungen daher in insgesamt fünf Schritten behandeln: Erstens gebe ich einige allgemeine Erläuterungen zum Begriff der Dramatik oder der dramatischen Struktur. Danach erläutere ich die zwei Merkmale, über denen diese Struktur superveniert. Ich erkläre also zweitens, was es mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit auf sich hat. Und drittens erläutere ich das Merkmal der emotionalen Signifikanz; speziell ist diese Signifikanz von einer erlebten emotionalen Qualität zu unterscheiden. Viertens werde ich darstellen, wie emotionale Signifikanz und Wahrscheinlichkeit eine dramatische Struktur konstituieren können. Fünftens schließlich stelle ich dar, inwiefern die dramatische Struktur einer Narration ihre Ganzheit im aristotelischen Sinne erklärt, und unter welchen Bedingungen eine Menge von Sätzen eine solche aristotelische dramatische Ganzheit instan-
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tiiert. Damit wird meine Erläuterung von (N ) abgeschlossen und ein genaues Verständnis des Begriffs der Narrativität erlangt sein. Dies ermöglicht dann die Prüfung der These DNT. a) Zum Begriff der Dramatik Die erste der zwei pragmatischen Narrativitätsbedingungen besagt dies: Eine Menge von Token-Sätzen S ist nur dann eine Narration, wenn S eine dramatische Struktur für ihre Rezipienten Z im Äußerungskontext K hat. Diese Struktur soll dabei über der emotionalen Signifikanz und der subjektiven Wahrscheinlichkeit der Ereignisse in Γ für Z in K supervenieren. Ich mache mich nun daran, Aspekte dieser Bedingung zu erklären. Intuitiv gesprochen geht es hier darum, dass eine Äußerung nur dann eine Narration ist, wenn sie Spannung für ihre Rezipienten erzeugt und diese schließlich auflöst. Diese Spannung wird erstens dadurch konstituiert, dass die Ereignisse, von denen erzählt wird, für die Rezipienten mehr oder minder wahrscheinlich oder erwartet sind. Und zweitens müssen diese Ereignisse für die Rezipienten in einem emotionalem Sinne bedeutsam sein. Bevor diese beiden Konstituenten jedoch genauer untersucht werden, sind noch einige allgemeine Punkte zu diskutieren. Zu diesem Zweck ist es hilfreich, vorerst mit der intuitiven Verständlichkeit von Ausdrücken wie „dramatisch“, „spannend“ etc. vorliebzunehmen. Sätze, die in einem bestimmten Kontext geäußert werden, können aus vielfältigen Gründen dramatisch oder spannend sein. Das kann selbst dann passieren, wenn ihr Inhalt uninteressant ist. Es kann z. B. der Fall sein, weil sie kunstvoll betont werden, oder weil sie musikalisch untermalt werden. Aber Sätze können diese Signifikanz auch deshalb haben, weil ihr Inhalt für Rezipienten dramatisch ist. Sie können also dramatisch sein, weil die Ereignisse, von denen sie handeln, und die Personen, die sie beschreiben, den Rezipienten aufregend, grausig oder lustig erscheinen. Es gibt keinen Grund, einige dieser Möglichkeiten als inadäquat für Narrationen auszuschließen. Aber es wird doch nur eine von ihnen in (N ) gefordert. Sicher steigert nichts den Genuss an einer Geschichte mehr, als wenn sie nicht nur Spannendes erzählt, sondern auch spannend erzählt wird. Trotzdem ist Letzteres nicht hinreichend, um die entsprechende Bedingung in (N ) zu erfüllen. Diese fordert inhaltliche Dramatizität. Wir würden die pragmatischen Bedingungen in (N ) trivialisieren, wenn wir alle obigen Möglichkeiten als adäquat gelten ließen. Mit der passenden Musik und der passenden Betonung erzeugen auch Lesungen aus einem Telefonbuch und a fortiori Handlungsbeschreibungen und „mininarratives“ dramatische Spannung. Damit hätte diese Bedingung keine
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zusätzliche diskriminatorische Kraft in Bezug auf Narrationen im engen Sinne. Sie brächte uns keinen Deut über „mini-narratives“ hinaus. Und in der Tat war das, was (n5) in den skizzierten speziellen Kontexten als Narration ausgezeichnet hat, mehr und etwas anderes als ein dramatischer Effekt durch Betonung, musikalische Untermalung oder Ähnliches. Es war spannend, weil das, wovon (n5) erzählt hat, für die Rezipienten spannend war. Und ebenso war (n5) rührend, weil das, wovon (n5) erzählt hat, für die Rezipienten rührend war. Um diese letzteren Fälle als die notwendigen auszuzeichnen, kann man sagen, dass der dramatische Charakter der Sätze einer Narration eine inhaltliche Grundlage haben muss. Was das wiederum heißt, wird in der oben wiedergegebenen Bedingung in (N) spezifiziert. Da heißt es ja gerade, dass die dramatische Struktur, die für Narrativität notwendig ist, von Eigenschaften der Ereignisse, von denen sie handelt, abhängt oder, wie (N ) fordert, über ihnen superveniert. Diese Supervenienzthese wird sich erst im Laufe meiner Ausführungen genau erklären und als plausibel ausweisen lassen. Zunächst sei aber kurz gesagt, was sie bedeutet: Es kann aus begrifflichen Gründen keine zwei Mengen von Tokensätzen geben, die typdistinkte dramatische Strukturen exemplifizieren, obschon die Ereignisse, von denen sie handeln, im selben Äußerungskontext qualitativ identisch in ihrer subjektiven Wahrscheinlichkeit und ihrer emotionalen Signifikanz für die Rezipienten sind. Im üblichen Slogan: Kein Unterschied in der dramatischen Struktur ohne Unterschied in der subjektiven Wahrscheinlichkeit oder der emotionalen Signifikanz des Erzählten. Stehen diese letzteren Merkmale fest, so auch die dramatische Struktur der Geschichte. Diese Charakterisierung der dramatischen Struktur einer Menge von Sätzen klingt zunächst irritierend, und sie ist sicherlich in gewissem Maße künstlich. Sie beinhaltet ja, dass die dramatische Struktur einer Geschichte nur durch das bestimmt wird, wovon erzählt wird, nicht aber durch die Reihenfolge oder die Kunstgriffe des Erzählens. Zwei verschiedene Narrationen, die dieselbe Folge von Ereignissen unterschiedlich strukturiert und elaboriert präsentieren, hätten also in diesem Sinne dieselbe dramatische Struktur. Das gälte sogar dann, wenn eine von ihnen den Ausgang der Handlung gleich als erstes präsentiert, während die andere chronologisch erzählt und die Spannung zuletzt auflöst. Obschon es sicherlich natürlich wäre, den Begriff der dramatischen Struktur anders zu verwenden, ist die Eigenschaft, die er hier bezeichnet, entscheidend für Narrativität. Um sie noch einmal intuitiv zu beschreiben: Die für Narrativität notwendige dramatische Struktur ist eine Eigenschaft der Handlung einer Geschichte, nicht ihrer Darstellung. Damit soll nicht die Wichtigkeit und der ästhetische Wert einer spannend strukturierten Erzählung geleugnet werden. Entscheidend für den Status, überhaupt eine Geschichte zu sein, ist die dramatische Struktur der Handlung. Für den
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Status, eine gute Geschichte zu sein, mag es aber wichtiger sein, ob die Darstellung ebendieser Handlung spannend ist. Obschon ich im Folgenden also oft von der dramatischen Struktur einer Narration spreche, wäre es korrekter, von der dramatischen Struktur ihrer Handlung zu sprechen. Bevor ich nun über die Konstituenten dieser Struktur spreche, sind Überlegungen zur Frage nötig, was mit Dramatik überhaupt gemeint sein kann. Bislang wurde nämlich suggeriert, dass der dramatische Charakter eines Satzes mit tatsächlichen emotionalen Reaktionen seiner Rezipienten zusammenhängt. Dies muss ich richtig stellen: Der dramatische Charakter von Sätzen ist nicht dasselbe wie eine bestimmte empfundene Qualität. Er ist also nicht etwa mit bestimmten emotionalen Reaktionen der Rezipienten zu identifizieren. Zwar habe ich einleitend gesagt, es zeichne Narrationen aus, bestimmte Emotionen wie Spannung, Rührung usw. hervorzurufen. Dies war aber eine etwas ungenaue Redeweise, die den Einstieg erleichtern sollte, nun aber ergänzt werden muss. Es wäre fatal, wenn (N ) fordern würde, dass Narrationen in ihren Rezipienten tatsächlich bestimmte emotionale Reaktionen wecken müssen. Wäre dies gefordert, dann hätte (N ) die widersinnige Konsequenz, dass es kontradiktorisch wäre, von einer langweiligen Geschichte zu sprechen. Würde (N ) also besagen, dass Äußerungen nur narrativ sind, wenn sie für ihre Rezipienten tatsächlich dramatisch, aufregend etc. sind, dann wäre damit ausgeschlossen, dass eine Geschichte keine solchen Emotionen hervorruft. Mehr noch: Schon diese Vorstellung würde unter diesen Prämissen einen begrifflichen Fehler beinhalten. Schließlich wären Geschichten als Entitäten definiert, die dramatische Empfindungen in uns wecken. Dies wäre eine heillos absurde Konsequenz. Das Problem ist also dieses: Einerseits hoffe ich, oben plausibel gemacht zu haben, dass Narrativität konstitutiv mit einer bestimmten emotionalen Anteilnahme verknüpft ist. Andererseits aber kann (N ) nur dann korrekt sein, wenn berücksichtigt wird, dass es auch Geschichten gibt, die keinerlei Spannung oder sonstige Emotionen in uns erzeugen. Die Lösung ist folgende: Wir können Sätzen auf der Grundlage ihres Inhalts einen dramatischen Charakter zuschreiben, ohne sie dazu in der entsprechenden Weise als dramatisch empfinden zu müssen. In diesem Sinne wäre dieser dramatische Charakter also eher intellektuell erfassbar, ein Gegenstand von Urteilen, nicht von Empfindungen. Solche Urteile über den dramatischen Charakter von Sätzen sind, wie ich dartun werde, von korrespondierenden Empfindungen zu unterscheiden. Die Existenz der entsprechenden Empfindungen ist kein Teil der Wahrheitsbedingungen von Urteilen über den dramatischen Charakter einer Geschichte. Es wird einige Feinarbeit brauchen, bis wir diesen Umstand so erklären können, dass der Schein der Paradoxie auflösbar wird.
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Wir werden uns dazu eingehend mit den Konstituenten dramatischer Struktur zu befassen haben. Vor allem werden wir klären müssen, dass emotionale Signifikanz nicht mit emotionalen Wirkungen auf Rezipienten identifiziert werden darf. Einstweilen aber lassen sich diese Ausführungen vielleicht schon mit einem alltagsnahen Beispiel plausibel machen: der langweiligen Kriminalgeschichte. Gerade in schlechten Exemplaren dieser Gattung ist dem Leser oftmals klar, dass eine bestimmte Passage eine der spannenden Stellen darstellt, in der für einen Protagonisten alles auf dem Spiel steht. Aber dabei ist alles so wenig überzeugend und vorhersehbar erzählt, dass sich keine wirkliche Spannung einstellt. Wir können solche Passagen umstandslos als die beurteilen, in denen die dramatische Spannung einen Höhepunkt erreicht, und langweilen uns doch. Dieses Beispiel zeigt: Es gibt eine Klasse von Urteilen der Form „Dies ist eine der spannenden Stellen der Geschichte“, „Hier wird die Spannung aufgelöst“ usw., zu deren Wahrheitsbedingungen es nicht gehört, dass der Sprecher bestimmte emotionale Zustände hat. Solche Urteile handeln also nicht von empfundenen Qualitäten, sondern sie weisen ihren Bezugsgegenständen (Mengen von Sätzen) einen dramatischen Charakter zu. Daher können wir der dramatischen Dimension von Narrativität Gerechtigkeit zuteil werden lassen, ohne die offenkundige Möglichkeit langweiliger Geschichten zu leugnen. Nachdem aber dargestellt wurde, was die Wahrheitsbedingungen jener Urteile nicht beinhalten, bleibt zu sagen, was ihre Wahrheitsbedingungen sind. Was sagen wir, wenn wir etwas als spannend beurteilen, ohne es doch als spannend zu empfinden? Wie in der entsprechenden Klausel von (N ) ausgeführt, gibt es zweierlei, was die dramatische Struktur einer Narration ausmacht. Es handelt sich dabei um die subjektive Wahrscheinlichkeit und die emotionale Signifikanz dessen, wovon die Narration handelt, für die Rezipienten im Kontext der Äußerung. Ich werde nun genauer zu erklären haben, was es mit diesen Konstituenten auf sich hat. Dazu werde ich ausführen, dass kommunikative Kontexte unter anderem von zwei kognitiven Ressourcen geprägt sind, über die Akteure verfügen, um Äußerungen zu verstehen und zu bewerten. Diese zwei Ressourcen nenne ich den epistemischen Horizont und das emotionale Urteilsvermögen. Im Lichte ihres epistemischen Horizonts weisen Rezipienten dem, was Sätze ausdrücken, subjektive Wahrscheinlichkeiten zu, und kraft ihres emotionalen Urteilsvermögens weisen sie dem, was sie ausdrücken, emotionale Signifikanz zu. Beides zusammen konstituiert die dramatische Struktur, die einer Menge von Sätzen zugewiesen wird.
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Teil II: Was ist eine Narration?
b) Epistemischer Horizont, Wahrscheinlichkeit und Überraschungswert Der epistemische Horizont ein Akteurs A zum Zeitpunkt t ist seine aktuelle Konzeption davon, wie die Welt beschaffen sein könnte. Intuitiv gesprochen, setzt sich dieser Horizont aus zweierlei zusammen: Die erste Komponente bilden die verschiedenen Weisen, wie die Welt nach allem, was A zu t weiß, beschaffen sein könnte. Dies sind also, anders gesagt, alle für A vorstellbaren Situationen, von denen er nicht ausschließen kann, dass sie bestehen. Technischer gesagt, können wir uns diese Komponente als eine Menge W epistemisch möglicher Welten vorstellen. 26 W enthält dabei speziell die Welten, von denen A nicht ausschließen kann, dass sie die tatsächliche Welt sind. (Wenn A also weiß, dass seine Schlüssel auf dem Nachtschrank liegen, enthält W nur Welten, in denen seine Schlüssel eben dort liegen. Ist A unsicher, enthält W eine Vielzahl von Welten, in denen seine Schlüssel z. B. im Badezimmer oder beim Bäcker liegen usw.) Die zweite Komponente bilden die Erwartungen von A zu t bezüglich der Frage, wie wahrscheinlich es für jede dieser möglichen Situationen ist, dass sie der Fall sind. Wieder technisch gesagt, handelt es sich um eine subjektive Wahrscheinlichkeitsfunktion P über der Potenzmenge von W. P nimmt also verschiedene für A vorstellbare Szenarien (Teilmengen von W) als Argumente und bildet sie auf Wahrscheinlichkeitswerte ab. (P ist dabei kein Maß im strengen Sinne, sondern ist als eine Funktion zu modellieren, die den Kapazitäten alltäglichen Denkens in Präzision und Konsistenz entspricht.27)
_____________ 26 Die grundsätzliche Idee wird z. B. vor allem von R. Stalnaker vertreten, vgl. v. a. Stalnaker 1984 und 1999a. Stalnaker versteht sein Modell freilich als eine deskriptiv adäquate Theorie des Geistes und der Kommunikation, während meine Ansprüche an dasselbe moderater sind, sofern es mir hier nur als ein expositorisches Modell dient. Der nachfolgend übernommene Vorschlag, die Welten in W als epistemisch mögliche Welten aufzufassen, stammt von S. Soames (ders. 2003, 378). Dass es sich hier um epistemisch mögliche Welten handelt, besagt nur, dass die Überzeugungen, die diese Welten repräsentieren sollen, von dem abweichen können, was tatsächlich (in Kripkes Terminologie: metaphysisch) möglich ist. W kann z. B., je nachdem, was A zu t glaubt, Welten enthalten, in denen Wasser nicht H2O ist. (Zum Begriff einer epistemisch möglichen Welt siehe z. B. Chalmers 2006. Chalmers nennt diese Welten scenarios.) 27 Es ist weder sinnvoll, zu fordern, dass P als mögliche Werte für die verschiedenen für A vorstellbaren Möglichkeiten die Menge aller reellen Zahlen zwischen 0 und 1 hat, noch scheint es z. B. sinnvoll, zu fordern, dass P Teilmengen von W, die disjunkt sind und W erschöpfen, eine gemeinsame Wahrscheinlichkeit von genau 1 zuweist. A muss also in seinen Erwartungen nicht so konsistent sein, dass er jederzeit sieht, dass sein Schlüssel entweder auf seiner Kommode oder nicht dort ist, und er muss die individuelle Wahrscheinlichkeit von Möglichkeiten nicht sehr feinkörnig angeben können. Welche Abschwächungen gegenüber mathematischen Standards genau nötig wären, muss hier allerdings nicht entschieden werden. Eine sinnvolle Möglichkeit eines entsprechend
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Der epistemische Horizont eines Akteurs A lässt sich also in diesem (ziemlich vereinfachten) Modell als das geordnete Paar <W, P> repräsentieren. Mit diesem Modell lässt sich nun genau sagen, was mit der subjektiven Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses angegeben wird, und was ihre Bedeutung im Verstehen von Narration ist. Wenn A nämlich erfährt, dass ein Ereignis e stattfindet, dann gibt die Funktion P genau den Grad an, in dem diese Neuigkeit für A zu erwarten oder auch unerwartet ist. In Begriffen der Informationstheorie gesagt: P gibt an, in welchem Maße eine neue Aussage (wie die über e) für A einen „Informationswert“ oder „Überraschungswert“ (surprisal) hat.28 Dies lässt sich so darstellen: Wenn A dazu kommt, die Proposition, dass e stattfindet, zu akzeptieren, dann lässt sich dieser Erkenntnisgewinn in unserem Modell als eine Reduktion der für A vorstellbaren Möglichkeiten begreifen. Gewinnt A also die Information, dass e stattfindet, so verengert sich sein epistemischer Horizont. Er eliminiert alle epistemisch möglichen Welten, die inkompatibel mit dieser Proposition sind, aus W. Der Überraschungswert dieser Information ergibt sich dabei wie folgt. Wenn V die Teilmenge der Welten in W ist, in denen e nicht stattfindet, und wenn W′ die Komplementärmenge von V in W ist, dann gilt: Je höher die Wahrscheinlichkeit P(V) ist, und je geringer folglich die Wahrscheinlichkeit P(W′), desto höher ist der Überraschungswert der Behauptung, dass e stattfindet, für A zum betreffenden Zeitpunkt. Der Überraschungswert einer Aussage für A steigt also in dem Maße, in dem die Wahrscheinlichkeit ihres Inhalts für A abnimmt – in dem Maße also, in dem der Inhalt dieser Aussage As Erwartungen zuwiderläuft.29 In dieser Weise hängt also der Überraschungswert einer Äußerung von der subjektiven Wahrscheinlichkeit dessen ab, was sie beschreibt. Jedoch ist in (N ) von der subjektiven Wahrscheinlichkeit der beschriebenen Ereignisse die Rede. Hier ging es jedoch bisher nicht um die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses, sondern um die der Proposition, dass es stattfindet. Aber erstens gibt es eine eineindeutige Zuordnung zwischen
_____________ abgeschwächten Modells der Informationsverarbeitung im Verstehen von Texten schlagen DeBeaugrande und Dressler (1981) vor. 28 Zwei Anmerkungen: Im Unterschied zur mathematischen Informationstheorie behandle ich diese Ausdrücke hier erstens als Synonyme, und zweitens verwende ich beide so, dass der Informations- oder Überraschungswert eines Satzes von der Wahrscheinlichkeit dessen abhängt, was er beschreibt. In der mathematischen Theorie wird dies anders gehandhabt. Vgl. den Klassiker Shannon u. Weaver (1949). Die beste Einführung in die Informationstheorie für Philosophen ist sicher immer noch Dretske (1981). 29 Wären wir nicht übereingekommen, P nicht als numerisches Maß im strengen Sinne zu verstehen, wäre das surprisal der Aussage, dass e stattfindet, für A als log2(1/P(W′)) bit zu berechnen.
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der Menge aller Ereignisse {e1, e2 ...} und der Menge der Propositionen, dass e1 (bzw. e2 bzw. ...) stattfindet. Und zweitens gilt, dass die denkbaren Umstände (epistemisch mögliche Welten), in denen ein Ereignis e stattfindet, genau die Umstände sind, in denen die zugeordnete Proposition, dass e stattfindet, wahr ist. Daher kann man die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses mit derjenigen der Proposition identifizieren. Das skizzierte Modell stellt also dar, wie Äußerungen mit dem Vorwissen und den Erwartungen ihrer Adressaten interagieren und so bestimmte Überraschungswerte für sie gewinnen können. Die These dieses Abschnitts lautet nun, dass der dramatische Charakter, den ein Rezipient einem Äußerungstoken zuweist, partiell durch diesen Überraschungswert konstituiert wird. Der dramatische Charakter eines Satzes für eine Person in einem Kontext besteht also zum Teil in dem Maße, in dem das, wovon dieser Satz handelt, für die Person erwartet, unerwartet, überraschend, verblüffend etc. ist. Bevor eine wichtige Ergänzung erfolgt, will ich kurz darstellen, welche Vorzüge dieses Modell hat: Zum ersten entspricht es der Vorgabe einer inhaltlichen Grundlage des dramatischen Charakters eines Satzes und der dramatischen Struktur einer Menge solcher Sätze. Der Überraschungswert eines Satzes hängt meinem Modell zufolge ja von der Wahrscheinlichkeit des Ereignisses ab, von dem er handelt.30 Und zum zweiten entspricht das Modell der Forderung, den Begriff der Dramatik unabhängig vom Vorliegen bestimmter Empfindungen seitens des Rezipienten zu explizieren. Hier ist zu betonen, dass der Begriff des Überraschungswerts nicht als psychologischer Begriff verstanden werden darf. Ich habe dies im Dienste einer intuitiven Darstellung bislang verunklart, indem ich von dem Maß gesprochen habe, in dem Sätze für Rezipienten „verblüffend“ sein können etc. Dass einem Satz aber ein hoher Überraschungswert im Sinne meines Modells zukommt, bedeutet nicht, dass er in einem Rezipienten tatsächlich die psychologische Reaktion der Überraschung zur Folge hat. Es hängt von Faktoren wie dem Temperament, der Stimmung etc. ab, ob Rezipienten über etwas überrascht sind, das informationstheoretisch überraschend für sie ist. Zwar kann man sicher davon ausgehen, dass eine
_____________ 30 Hierin liegt ein wichtiger Unterschied zur mathematischen Theorie der Kommunikation. Dort richtet sich das surprisal eines Satzes nach der Wahrscheinlichkeit seines Auftretens in einem Kommunikationssystem. In den idealisierten Zusammenhängen und für die Zwecke der mathematischen Theorie der Kommunikation ist es sicherlich ein legitimes Verfahren, den Informationsgehalt eines Satzes mit der statistischen Wahrscheinlichkeit seines Auftretens als einer bestimmten syntaktischen Folge zu identifizieren. Was alltäglichen Äußerungen wie „Gestern habe ich Bob Dylan im Supermarkt getroffen“ aber ihren Informationsgehalt gibt, ist nicht die Unwahrscheinlichkeit ihres Auftretens in Konversationen, sondern die Unwahrscheinlichkeit des Ereignisses, von denen sie berichten.
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gewisse Korrelation zwischen diesen Merkmalen besteht. Dennoch handelt es sich um unterschiedliche Merkmale von Sätzen. Aus diesem Grunde ist die obige Vorgabe erfüllt und eine erste Komponente der Dramatik einer Narration in adäquater Weise analysiert. Zu den Wahrheitsbedingungen von Urteilen, die Sätzen einen dramatischen Charakter für einen Rezipienten zuschreiben, zählt, dass bestimmte subjektive Wahrscheinlichkeiten für diesen Rezipienten bestimmte Bedingungen erfüllen – nicht, dass er Empfindungen von einer bestimmten Qualität hat. Es bleiben Punkte zu ergänzen. Zunächst ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Sätze nicht nur individuelle Überraschungswerte haben. Stattdessen nehmen sie in Konjunktion mit anderen Sätzen auch wechselseitig auf die Überraschungswerte der anderen Einfluss. Die Überraschungswerte, die Sätzen in größeren Zusammenhängen zukommen, unterscheiden sich mitunter erheblich von ihren Überraschungswerten in Isolation. Das heißt für uns, dass die dramatische Struktur sich nicht aus der Summe der individuellen Überraschungswerte einzelner Sätze ergibt. Das bedarf der Erklärung. Oft sind die Wahrscheinlichkeiten, die unsere P-Funktionen zwei Ereignissen zuweisen, nicht voneinander unabhängig. Ist dies der Fall, dann hat von zwei Sätzen, die das Bestehen solcher probabilistisch abhängigen Ereignisse ausdrücken, mindestens einer einen Einfluss auf das surprisal des anderen. Zur Veranschaulichung dieses Umstands betrachte man die zwei folgenden Beispielsätze: (1) Heute Morgen ist Paul mit einem schweren Kater aufgewacht. (2) Heute Morgen hat Paul ein schweres logisches Problem gelöst. Wird Satz (1) in einem bestimmten Kontext geäußert, so hat er für Rezipienten einen Informationswert. Je nachdem, was sie über Pauls Lebenswandel glauben, werden sie dem ausgedrückten Sachverhalt eine gewisse Wahrscheinlichkeit beimessen und den Satz mithin überraschend oder eher selbstverständlich finden. Auch in Kontexten, in denen Satz (2) geäußert wird, wird er abhängig davon, wie wahrscheinlich man den ausgedrückten Sachverhalt findet, einen hohen oder niedrigen Überraschungswert haben. Nun stelle man sich aber einen Kontext vor, in dem (1) und (2) geäußert werden, vielleicht in grammatisch verknüpfter Form: „Heute morgen ist Paul mit einem schweren Kater aufgewacht, und er hat dann ein schweres logisches Problem gelöst.“ Der wichtige Punkt ist: In dieser Konjunktion ist Satz (2) überraschender und informativer, als wenn er allein geäußert wird. (1) hat also signifikanten Einfluss auf den Überraschungswert, den wir mit (2) verknüpfen. Denn unabhängig davon, wie wahrscheinlich wir es finden, dass Paul schwere logische Probleme löst,
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finden wir es jedenfalls unwahrscheinlicher, dass Paul dies unter der Bedingung, verkatert zu sein, tut. Um es probabilistisch zu sagen: Der Überraschungswert von (2) hängt von der konditionalen Wahrscheinlichkeit31 des Ereignisses, das (2) beschreibt, gegeben das Ereignis, das (1) beschreibt, ab. Der Überraschungswert eines Satzes in einer linguistischen Einheit S hängt also von der konditionalen Wahrscheinlichkeit des von ihm beschriebenen Ereignisses, gegeben die Ereignisse, die die weiteren Sätze in S beschreiben, für seine Rezipienten ab. Dieser Umstand wird in (N ) aber bereits berücksichtigt. Immerhin ist in der Dramatizitätsbedingung nicht vom Überraschungswert von Sätzen in Isolation die Rede. Es heißt dort, dass die dramatische Struktur partiell über den Überraschungswerten der Sätze in einer umfassenderen Menge S superveniert. So lässt sich nun also bereits ein Teil dessen intuitiv erläutern, was diese Dramatizitätsbedingung fordert: Abhängig davon, was Rezipienten in einem Kontext wahrscheinlich finden, sind Sätze (qua Teile einer größeren linguistischen Einheit) in einem bestimmten Maße überraschend für sie (nicht notwendig im psychologischen Sinne). Dies ist Teil dessen, was dieser Menge von Sätzen für diese Rezipienten eine bestimmte dramatische Struktur verleiht. Bevor es nun um die emotionale Signifikanz (als dem zweiten Konstituens dramatischer Struktur) gehen soll, ist eine Ergänzung anzufügen. Es gibt nämlich einen wichtigen Typ von Geschichten, die ein Problem für meine Theorie darstellen. Dies sind fiktionale Geschichten. Sie können natürlich eine einwandfreie dramatische Struktur haben, aber sie scheinen keine Überraschungswerte haben zu können. Bei fiktionalen Sätzen wissen wir nämlich, dass sie Sachverhalte behaupten, deren Wahrscheinlichkeit 0 ist. Daher hätten sie keinen definierten Überraschungswert. Wäre mein Modell also vollständig, so ginge allen fiktionalen Narrationen alle Dramatizität vollständig ab. Ein solches Resultat würde meine Theorie der Dramatizität natürlich umgehend disqualifizieren. Es ist daher eine Ergänzung nötig. Dabei kann hier keine vollständige Theorie des Verstehens von Fiktionen vorgelegt werden. Ich werde aber darzulegen versuchen, wie das beschriebene Modell erweitert werden kann. Dabei stimme ich D. Lewis (1983c) zu, dass wir unseren epistemischen Horizont im Verstehen von fiktionalen Äußerungen vorübergehend akkommodieren, dies aber in einer konservativen Weise tun. Wenn wir eine Menge von Sätzen S als fiktional verstehen, dann vollziehen wir zunächst einen Einstellungswechsel. Der besteht darin, dass wir vorübergehend eine Konzeption der Welt akzeptieren, von der wir wissen, dass sie falsch ist. Wir sind also vorübergehend bereit, die Menge W der
_____________ 31 Zum Begriff der konditionalen Wahrscheinlichkeit vgl. z. B. R. Jeffrey (1965).
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möglichen Welten, die mit unseren Überzeugungen kompatibel sind, durch eine Menge Wf zu ersetzen, in denen das der Fall ist, was S ausdrückt. Jedoch wird, und dies ist der wichtige Punkt, Wf nicht einfach alle Welten umfassen, in denen S wahr ist. Vielmehr enthält Wf nur die ausgewählte Menge von Welten, in denen S wahr ist, die aber ansonsten den Welten in W so ähnlich wie möglich sind.32 Nur weil wir also beispielsweise für eine Geschichte wider besseres Wissen Situationen in Betracht ziehen, in denen ein genialer Detektiv in der Baker Street 221b lebt, ziehen wir nicht auch gleich Welten in Betracht, in denen diese Figur zwölf Nasenlöcher hat oder auf Drachen reitet. Wenn wir unseren Horizont im Verstehen von Fiktionen verändern, so entgrenzen wir ihn nicht willkürlich. Wir erweitern ihn nur so sehr, wie es die Geschichte fordert. Demnach beruht unser Verstehen von Fiktionen auf einem konservativen Prinzip größtmöglicher Ähnlichkeit zur tatsächlichen Welt. Dieser Grundgedanke erklärt nun unter anderem, inwiefern es unproblematisch ist, von Wahrscheinlichkeiten im Rahmen einer Fiktion zu sprechen. In Anbetracht eines Märchens über Einhörner nehmen wir eben einen Einstellungswechsel vor; wir betrachten eine Menge Wf von Welten, in denen es wahr ist, dass Einhörner existieren. Unter diesen Bedingungen erscheint es vernünftig, zu sagen, es sei im Rahmen dieser Menge fiktionaler Welten sehr viel wahrscheinlicher, dass jemand ein Einhorn trifft, als es dies tatsächlich ist. Wenn wir Fiktionen als solche verstehen, ziehen wir also eine Art hypothetische Wahrscheinlichkeitsfunktion Pf heran. Diese weist Sachverhalten eine Wahrscheinlichkeit im Rahmen einer Fiktion zu. Aber welche Grundlage kann die Zuweisung subjektiver Wahrscheinlichkeiten im Rahmen solcher faktisch falschen Annahmen überhaupt haben? Haben wir für eine Welt, in der es Einhörner, Drachen, Unsterblichkeit oder vielleicht sogar eine höchste Primzahl gibt, denn überhaupt irgendeine Ahnung, wie wahrscheinlich etwas in dieser Welt ist? In genau diesem Punkt kommt uns eben die Konservativität unserer fiktionalen Imagination zugute. Wenn Lewis und andere Autoren recht haben, denken wir uns die Welt, die eine Menge S fiktionaler Sätze beschreibt, für gewöhnlich so, dass sie nur in den Hinsichten von der tat-
_____________ 32 Die noch immer aufschlussreichsten Ausführungen zur Relation der Ähnlichkeit, ihren formalen Eigenschaften, ihrer Vagheit und Kontextsensitivität finden sich bei D. Lewis (1973). Lewis benutzt den Begriff der Ähnlichkeit allerdings komparativ, und ich habe ihn soeben anders verwendet, indem ich gesagt habe, die Welten in Wf müssten unserer Konzeption der tatsächlichen Welt, also W, so ähnlich wie möglich sein. Hier kann man sagen: Eine Welt w, in der der kontrafaktische Sachverhalt A der Fall ist, ist der tatsächlichen Welt so ähnlich wie möglich, wenn es keine Welt v gibt, in der A der Fall ist und die der tatsächlichen Welt ähnlicher ist als w. Wf kann aber durchaus mehrere Welten enthalten, die der tatsächlichen Welt in diesem Sinne so ähnlich wie möglich sind.
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sächlichen Welt abweicht, in denen S dies unbedingt erfordert. Man kann daher sagen: Pf weist jedem fiktiven Sachverhalt A, von dem eine Menge S handelt (die auch von weiteren fiktiven Sachverhalten B, C ... handelt), die konditionale Wahrscheinlichkeit zu, die A unter der doppelten Voraussetzung hat, dass erstens B, C ... bestehen, und dass zweitens größtmögliche Übereinstimmung mit der Aktualität besteht. Ich bin mir bewusst, dass dies nur eine sehr skizzenhafte Behandlung des Problems der Fiktionalität ist. Aber mehr ist an dieser Stelle nicht möglich. Ich fasse meinen Vorschlag zusammen: Der generell konservative Charakter unseres Verständnisses von Fiktionen kann erklären, wieso uns auch im Rahmen offenkundig falscher Geschichten bestimmte Dinge wahrscheinlicher oder überraschender erscheinen können als andere. So können wir diesen Aspekt einer dramatischen Struktur auch fiktionalen Sätzen zuweisen. Bevor es nun endlich um den anderen Teil dramatischer Strukturen geht, folgt eine letzte Anmerkung. Die Narrationen, um die es in der These DNT geht, sind nicht fiktional, warum also schlage ich mich mit dem Problem fiktionaler Narrationen überhaupt herum? Weil meine Lösung dieses Problems eine Möglichkeit aufzeigt, ein weiteres Problem zu lösen: Wir können auch wahren Geschichten, die wir bereits kennen, dramatischen Charakter zuschreiben. Gleichwohl haben die Ereignisse, von denen solche Geschichten erzählen, keinen Überraschungswert mehr für uns. Dieses Problem der bereits bekannten Geschichten ist deshalb wichtig, weil viele unserer biographischen Narrationen uns natürlich bekannt sind. Wie könnten sie also in der richtigen Weise dramatisch sein? Auch hier ist die Möglichkeit, unseren epistemischen Horizont zu akkommodieren, wichtig. Auch für unsere biographischen Geschichten können wir einklammern, was wir bereits wissen, um ihre Dramatik zu würdigen. Obschon sie von Dingen handeln, die ein surprisal von 0 für uns haben, können wir also erkennen, wie überraschend sie für uns gewesen wären, wenn wir das, wovon sie erzählen, noch nicht gewusst hätten. c) Emotionales Urteilsvermögen und emotionale Signifikanz Teilnehmer an kommunikativen Kontexten verfügen neben ihrem epistemischen Horizont, so habe ich behauptet, auch über ein emotionales Urteilsvermögen. Dieses erlaubt es ihnen, dem, was Sätze beschreiben, emotionale Signifikanz zuzuschreiben. Das, so habe ich angedeutet, ist der zweite Aspekt dessen, was es heißt, der Handlung einer Narration eine dramatische Struktur zuzuweisen. Bevor ich dies erkläre, werde ich aber erst eine phänomenologische Skizze dessen geben, worum es hier geht.
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Als normal ausgestattete menschliche Wesen können wir nicht nur emotionale Zustände haben, sondern wir können mitunter auch verstehen, wie andere Menschen sich in bestimmten Situationen fühlen müssen. Ein solches Verstehen drücken wir in Äußerungen wie: „Mein Gott, das war ja bestimmt schrecklich für dich!“, „Das ist ja toll, da freue ich mich mit dir!“ oder: „Ich kann ja verstehen, dass dich das wütend macht, aber sieh doch auch mal meine Situation“ aus. Wir können also angesichts bestimmter Vorfälle und Situationen beurteilen, welche Gefühle Subjekte haben, die mit ihnen konfrontiert sind. Dieses Urteilsvermögen liegt unserer Fähigkeit zur Rücksichtnahme ebenso zugrunde wie unserer Fähigkeit, das Handeln von Akteuren zu interpretieren. Dabei wenden wir dieses Vermögen natürlich nicht nur auf die Widerfahrnisse anderer, sondern auch auf den eigenen Fall an. Auch Situationen, die uns selbst zustoßen, beurteilen wir mitunter als schrecklich, traurig oder erfreulich. Der drittpersönliche Fall zeigt aber den Unterschied an, der uns noch eingehend beschäftigen wird: Etwas als furchterregend, traurig etc. zu beurteilen ist etwas anderes, als Furcht oder Trauer darüber zu empfinden. Es wird nun darum gehen müssen, genau zu verstehen, was es heißt, etwas als traurig, ärgerlich, peinlich etc. zu beurteilen. Sagen wir zunächst, dass uns unser emotionales Urteilsvermögen zu einer Klasse von Aussagen befähigt, deren allgemeine Form x ist F ist. In dieses Satzschema können für die ungebundene Variable x singuläre referierende oder quantifizierte Terme jeder Art eingesetzt werden, für F jedoch müssen ganz bestimmte Prädikate substituiert werden. So weit ich sehe, sind es vor allem zwei Klassen natürlichsprachlicher Prädikate, die in Frage kommen (ich beschränke mich hier auf das Deutsche). Zum einen sind dies Prädikate wie „fürchterlich“, „erfreulich“, „unheimlich“ oder „aufwühlend“, zum anderen Ausdrücke mit nominalisierten Infinitiven wie „zum Fürchten“, „zum Heulen“ etc. Diesen Ausdrücken ist gemeinsam, dass sie das bezeichnen, was in der Philosophie der Emotionen als „formaler Gegenstand“ (formal object) eines Emotiontyps bezeichnet wird. (Vgl. dazu Kenny 1963, 132 und de Sousa 1997, 204 ff.) Kenny zufolge ist dieses Formalobjekt eines Zustands der Gegenstand desselben unter der Beschreibung, die auf ihn zutreffen muss, damit der Zustand überhaupt möglich ist. Mir scheint aber eine andere Explikation verständlicher, die de Sousa33 vorschlägt. Er charakterisiert
_____________ 33 De Sousas eigene Definition des Begriffs eines Formalobjekts eines Typs emotionaler Zustände unterscheidet sich von der meinigen. Vereinfacht gesagt, ist ein Formalobjekt eines Emotionstyps für de Sousa eine Eigenschaft, die wir Gegenständen zuschreiben müssen, auf die sich ein Token dieses Typs bezieht, wenn dieses Token für uns „verständlich sein soll“ (a.a.O.). Diese Erklärung ist für meine Zwecke bereits zu eng mit der speziellen Fragestellung de Sousas, der Rationalitätsthematik, verbunden.
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das Formalobjekt eines Emotionstyps als eine Eigenschaft höherer Ordnung. Genauer: Das Formalobjekt eines Emotionstyps E ist eine Eigenschaft höherer Ordnung B, die eine so enge begriffliche Verbindung zu E unterhält, dass der Satz E bezieht sich meist auf etwas, das B ist analytisch ist.34 Das Formalobjekt der Furcht wäre also die Eigenschaft des Zum-Fürchten-Seins, und dasjenige des Typs Ärger wäre das Ärgerlich-Sein. Aussagen dieser Form x ist F, also beispielsweise „Das ist ja wirklich ärgerlich“, nenne ich emotionale Aussagen. (Hier bezieht sich „emotional“ natürlich auf den Gehalt der Sätze, nicht auf irgendeine Qualität derselben.) Wir verwenden Aussagen dieser Form für sehr verschiedene Zwecke, und ich werde keine allgemeine Theorie dieser Verwendungen entwickeln. Aber ich werde eine Klasse von Sprechakten charakterisieren, die wir mit solchen Aussagen vollziehen können. Ich nenne diese Akte emotionale Urteile. Die Fähigkeit, solche emotionalen Urteile zu fällen, ist das, was ich als emotionales Urteilsvermögen bezeichne. Fällen wir Urteile dieser Form, nenne ich dies eine Zuweisung emotionaler Signifikanz. Es gilt also genauer: Wenn wir einen Satz x ist F äußern (wo F eine Eigenschaft ausdrückt, die das Formalobjekt eines Emotionstyps E darstellt) und wir dabei ein emotionales Urteil fällen, so weisen wir dem Denotat des für x eingesetzten Ausdrucks die emotionale Signifikanz zu, F zu sein. Wie sind Urteile dieser Klasse zu verstehen? Ich behaupte: Emotionale Urteile sind konditionale expressive Urteile. Mit einem emotionalen Urteil drücken Sprecher aus, was sie unter bestimmten Umständen fühlen würden. Genauer gesagt haben solche Urteile folgende Wahrheitsbedingungen: Ein emotionales Urteil der Form a ist F (wobei F wieder den formalen Gegenstand eines Emotionstyps E bezeichnet) ist genau dann wahr, wenn der Sprecher dann, wenn er in geeigneter Weise mit a konfrontiert wäre, Emotion E hätte. Ein Beispiel: Wenn ein Sprecher äußert: „Das ist ja zum Fürchten“ und damit ein emotionales Urteil vollzieht, dann drückt er aus, dass er sich, wenn er in geeigneter Weise mit dem Objekt des Demonstrativums konfrontiert würde, fürchten würde. Was bedeutet die Phrase „in geeigneter Weise“? Was heißt es, wenn ein Sprecher sagt, er hätte eine Emotion, wenn er „in der geeigneten Weise“ mit etwas konfrontiert wäre? Der intuitive Gehalt und die intuitive Berechtigung dieser Qualifikation sind leicht ausweisbar. Wir können zum Beispiel einem Kind wahrheitsgemäß beipflichten, dass ein Auftritt der Figur Graf Zahl in der „Sesamstraße“ bestimmt furchterregend gewesen sei. Damit diese Äußerung wahr ist, muss nicht gelten, dass wir uns auch
_____________ 34 Oder, falls den Leser quineanische Skrupel gegenüber dem Analytizitätsbegriff plagen: in hohem Maße uninformativ sind. Ich bin von derlei Skrupeln jedoch frei und bleibe daher bei meiner Formulierung.
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gefürchtet hätten. Wir drücken aus, dass wir uns, wenn wir auch Kinder mit einer bestimmten Sensitivität für Donner und Blitz und schallendes Gelächter gewesen wären, ebenfalls gefürchtet hätten. Zur „geeigneten Weise“ der Konfrontation zählt die kindliche Perspektive. Ein anderes Beispiel: Wir können einem Freund gegenüber das emotionale Urteil äußern, es sei sehr traurig, dass seine Frau ihn verlassen habe. Dazu muss nicht gelten, dass wir auch traurig gewesen wären, wenn sie uns verlassen hätte. Wir drücken aus, dass wir in seiner Situation ebenfalls traurig gewesen wären. Zur „geeigneten“ Konfrontation gehört hier also seine Perspektive – insbesondere, in eine bestimmte Frau verliebt zu sein. Kurz: Die Klausel „in geeigneter Weise“ drückt aus, dass kontextspezifische Relationen der Ähnlichkeit in emotionalen Urteilen eine zentrale Rolle spielen. Der Leser hat hoffentlich eine ungefähre Vorstellung davon, was mit dieser Klausel gefordert wird. Ein Problem, das zu diskutieren ist, ist der Individualismus meiner Theorie emotionaler Urteile. Ich habe ja vorgeschlagen, dass wir mit diesen Urteilen nur über die Emotionen sprechen, die wir unter bestimmten Bedingungen hätten. Für diese Analyse sprechen sicher zunächst einmal Fälle wie die oben genannten: Was wir unserem verlassenen Freund mit unserem Urteil zu sagen scheinen, ist eben, dass wir uns fühlen würden wie er, wenn wir in seiner sprichwörtlichen Haut steckten. Gleichwohl ergeben sich bei näherer Betrachtung Einwände: Wir würden das Urteil „Kleine Lämmchen sind zum Fürchten“ auch dann nicht akzeptieren, wenn der Sprecher sich tatsächlich vor kleinen Lämmchen fürchten würde. Wäre es jedoch nur ein hypothetisches expressives Urteil individueller Art, so gäbe es keinen Grund zum Widerspruch. Der Sprecher hätte seine emotionalen Dispositionen35 ja korrekt charakterisiert. Stattdessen aber scheuen sogar ausgeprägte Phobiker vor Urteilen dieser Art zurück. Auch ein Phobiker würde „Leere Plätze sind zum Fürchten“ oder Ähnliches kaum uneingeschränkt sagen. In Anbetracht dessen könnte man eine andere Theorie bevorzugen; diese könnte sich z. B. Urteile über Farben zum Vorbild nehmen. Es käme dann eher auf die emotionalen Dispositionen repräsentativer Subjekte unter Standardbedingungen an. Ich kann diesen Alternativvorschlag hier nicht eingehend diskutieren. Für meine Konzeption der Narrativität wäre auch er nicht ungeeignet. Ich will nur andeuten, warum ich ihn für meinem eige-
_____________ 35 Der Begriff „emotionale Disposition“ wird hier in loser Weise verwendet. Ein Subjekt A hat diesem Begriffsgebrauch zufolge eine emotionale Disposition, wenn ein Konditional der Form „Wenn A mit Bedingungen des Typs B konfrontiert wäre, hätte A eine Emotion des Typs E“ wahr ist. Der Begriff der Disposition hat hier also weder irgendein metaphysisches Gewicht, noch soll er suggerieren, den fraglichen emotionalen Reaktionen müsste etwas Mechanisches oder Arationales eignen.
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nen Vorschlag unterlegen halte. Erstens ist er selbst nicht ohne Probleme. Ein Phobiker kann z. B. akzeptabler Weise sagen: „Nun, für mich sind leere Plätze jedenfalls zum Fürchten.“ Ginge es, wie bei Farburteilen, um die Dispositionen repräsentativer Subjekte, wäre das Unsinn. („Für mich ist es jedenfalls grün“ ist Nonsens – eventuell bis auf Ausnahmefälle, die mit der Auflösung von Vagheit zu tun haben.) Und zweitens gibt es für meinen Vorschlag eine Möglichkeit, das Problem des Phobikers überzeugend zu lösen. Was an „Kleine Lämmchen sind zum Fürchten“ inakzeptabel ist, muss nicht unbedingt der Umstand sein, dass das Urteil falsch ist. Inakzeptabel könnte vielmehr die irrationale emotionale Disposition sein, der es Ausdruck verleiht. So könnte ich die individualistische Theorie emotionaler Urteile beibehalten und doch darauf beharren, dass das subjektive Empfinden oft nicht zur Rechtfertigung für diese Urteile hinreicht. Das subjektive Empfinden selbst kann eben ungerechtfertigt sein. Diese Antwort setzt freilich voraus, dass wir Emotionen rational bewerten können. Das scheint mir zwar zu stimmen (siehe dazu auch de Sousa, a. a. O.). Aber ich könnte noch eine andere Lösung vorschlagen. Wir teilen viele unserer emotionalen Dispositionen, und zwar sowohl aufgrund unserer Naturgeschichte als auch aufgrund geteilter soziokultureller Traditionen. Auch unsere emotionalen Begriffe erwerben wir in sozialer Interaktion. Diese überindividuelle Genese könnte zumindest eine starke Präsumtion überindividueller Geltung begründen. Es wäre demnach einfach zu erwarten, dass Wesen wie wir kleine Lämmchen nicht fürchten, und daher stehen Aussagen über emotionale Reaktionen auf Lämmchen unter der allgemeinen Erwartung, kollektiv geteilte emotionale Dispositionen auszudrücken. Diese Präsumtion müsste keine semantische Norm sein. Sie könnte dennoch dazu führen, dass „Kleine Lämmchen sind zum Fürchten“ ohne eine explizite Einschränkung inakzeptabel ist, weil sie gegen eingespielte Erwartungen verstößt. Aber das muss hier sprachphilosophische Spekulation bleiben. Zurück zum eigentlichen Thema: Emotionale Urteile sind Urteile, mit denen wir ausdrücken, was wir in bestimmten Situationen fühlen würden. Solche konditionalen expressiven Urteile sind nun auch das, was (N ) zufolge dem Verstehen der dramatischen Struktur von Narrationen zugrunde liegt. Für ein solches Verstehen braucht es also nicht nur die Fähigkeit, Ereignisse, von denen erzählt wird, im Lichte unseres epistemischen Horizonts als mehr oder minder überraschend zu qualifizieren. Zudem beruht es auf der Fähigkeit, bezüglich dieser Ereignisse zu beurteilen, wie wir uns fühlen würden, wenn wir sie erleben würden. So können wir in der Lektüre des Buches Hiob die Verzweiflung des Protagonisten verstehen, weil auch wir den Ereignissen, die er erlebt, eine entsprechende Signifikanz zuschreiben. In anderen Fällen sind unsere Urteile weniger mitfüh-
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lend, etwa wenn wir emotionale Signifikanz zuschreiben, die nicht dem entspricht, was der Protagonist der Narration empfindet. So können wir beispielsweise Zeuge einer Situation werden oder auch eine Geschichte hören, in der ein Held furchtlos große Gefahren meistert. Wir können dabei das emotionale Urteil fällen, dass das, was dem Helden widerfährt, furchteinflößend sei. Aber damit bringen wir dann gerade zum Ausdruck, dass wir nicht mit dem Helden fühlen würden, der ja unbeeindruckt ist. Bevor ich nun auf den zentralen Begriff der dramatischen Struktur zu sprechen komme, muss ich auf einen wichtigen Punkt zurückkommen: Einem Gegenstand eine E-spezifische emotionale Signifikanz zuzuschreiben ist etwas anderes als das Haben der Emotion E. Wir können also aufrichtig von einer Situation urteilen, sie sei erschreckend, traurig oder peinlich, ohne dass wir selbst Schrecken, Trauer oder Scham fühlen müssten. Dies wird nicht nur von meiner Theorie emotionaler Urteile impliziert, sondern es ist überhaupt plausibel. Wenn jemand von seiner bevorstehenden Wurzelbehandlung erzählt, und wir sagen, diese Aussicht sei zum Fürchten, dann tun wir so vielleicht unser Mitleid kund. Aber es ist gewiss nicht Teil der Aussage, dass wir gerade Furcht empfinden. Erneut gibt es sicherlich eine gewisse Korrelation zwischen der Zuweisung einer E-spezifischen emotionalen Signifikanz und einem Haben der Emotion E. Nur deshalb war es nicht völlig irreführend, wenn an früheren Stellen von emotionalen Reaktionen statt von emotionaler Signifikanz die Rede war. Die Verknüpfung ist aber nicht begrifflich.36 So ist nun ein wichtiges Beweisziel erreicht. Ich habe eine Supervenienzthese für dramatische Strukturen einerseits und Überraschungswerte und emotionale Signifikanzen andererseits formuliert. Demnach ist die dramatische Struktur einer Narration ganz von den Überraschungswerten und emotionalen Signifikanzen der Ereignisse bestimmt, von denen sie handelt. Diese Basiseigenschaften sind, wie nun deutlich wird, beide im Prinzip unabhängig von manifesten Empfindungen. Das wurde soeben auch für emotionale Signifikanz gezeigt: Narrationen müssen uns nicht wirklich traurig, erschrocken usw. machen. Es ist hinreichend, wenn wir das, wovon sie handeln, als traurig, erschreckend usw. beurteilen. Daher
_____________ 36 Erstpersönliche Fälle sind in dieser Hinsicht freilich anders. Steht uns selbst eine Wurzelbehandlung bevor, und wir äußern: „Diese Wurzelbehandlung nächste Woche ist wirklich furchteinflößend“, dann kann man daraus zu Recht schließen, dass wir uns in der Tat vor ihr fürchten. Diese Klasse von Fällen wird in meiner Analyse emotionaler Urteile berücksichtigt, die ja beinhaltet, dass zu den Wahrheitsbedingungen eines solchen Urteils die kontrafaktische Bedingung zählt, dass der Sprecher sich fürchten würde, wenn er in passender Weise mit der Wurzelbehandlung konfrontiert wäre. Dass es diese Verknüpfung zwischen emotionalen Urteilen und dem Haben der Emotion im erstpersönlichen Falle gibt, ist aber völlig kompatibel damit, dass es ein Unterschied bleibt, a als zum Fürchten zu beurteilen oder sich vor a zu fürchten.
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können wir einer Narration eine bestimmte dramatische Struktur zuschreiben, ohne dass wir implizit davon sprächen, was wir empfinden. d) Emotionen, Erwartungen und dramatische Struktur Zunächst ein kurzer Rückblick: Nach allem, was bisher deutlich wurde, fordert (N ) von Narrationen, dass sie erstens transphrastische linguistische Äußerungseinheiten sind, dass sie zweitens eine bestimmte Handlung beschreiben, dass sie diese Handlung drittens z. T. in intentionalen Begriffen beschreiben und dass die Teile dieser Handlung viertens bestimmte Überraschungswerte und emotionale Signifikanzen für ihre Hörer haben. Nun reicht es jedoch nicht, dass die einzelnen Ereignisse in der Handlung einer Narration für sich genommen einen Überraschungswert und eine emotionale Signifikanz haben. Vielmehr sollen diese Eigenschaften eine Art von Struktur bilden. Die Ereignisse müssen also kraft ihrer emotionalen Signifikanzen und Überraschungswerte einen Zusammenhang bilden, innerhalb dessen sie bestimmte Rollen spielen. Kurz: Es soll eine dramatische Struktur sein, die die Ereignisse der Handlung verknüpft. Diese dramatische Struktur besteht darin, dass manche Ereignisse der Handlung eine Spannung aufbauen, die andere Ereignisse auflösen oder deren Auflösung andere Ereignisse verzögern. Ich werde nun zunächst etwas Genaueres darüber sagen, wie es möglich ist, dass die Ereignisse einer narrativen Handlung kraft ihrer emotionalen Signifikanzen und ihrer Überraschungswerte Strukturen bilden. Danach zeige ich, inwiefern es gerechtfertigt ist, Strukturen, die sich auf diesem Wege generieren lassen, als dramatische Strukturen zu bezeichnen. Ich zeige also, dass solche Strukturen tatsächlich von der Art sind, die wir mit Begriffen wie „Spannung“ und „Auflösung“ beschreiben. Zuletzt erläutere ich, wie Sätze vermöge einer solchen dramatischen Struktur ein aristotelisches Ganzes bilden können. Wie können Ereignisse also kraft ihrer subjektiven Wahrscheinlichkeiten und ihrer emotionalen Signifikanzen die gesuchten Zusammenhänge oder Strukturen bilden? Am einfachsten ist dies zunächst für Wahrscheinlichkeiten zu erklären; für sie habe ich es nämlich bereits erklärt: Man erinnere sich an die beiden Beispielsätze „Heute morgen ist Paul mit einem schweren Kater aufgewacht“ und „Heute morgen hat Paul ein schweres logisches Problem gelöst“. In ihrer Konjunktion beschreiben sie eine Ereignissequenz, die in einem Maße unwahrscheinlich ist, das sich nicht aus
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den Wahrscheinlichkeiten der Einzelereignisse herleiten lässt. 37 Die Ereignisse bilden also vermöge dependenter Wahrscheinlichkeiten einen Zusammenhang. Eines macht das andere unwahrscheinlich bzw. überraschend, und das zweite wird vom ersten unwahrscheinlich bzw. überraschend gemacht. An der Natur dieses Zusammenhangs ist dabei nichts Rätselhaftes: Er besteht einfach darin, dass die beiden beschriebenen Ereignisse probabilistisch abhängig sind. Mein Vorschlag wird nun lauten, dass solche Zusammenhänge tatsächlich einen wichtigen Teil der dramatischen Struktur einer Geschichte ausmachen. Dazu müssen sie nur mit bestimmten emotionalen Signifikanzen zusammen kommen. Spannende Passagen sind solche, die Ereignisse beschreiben, die andere Ereignisse wahrscheinlich oder unwahrscheinlich machen, die ihrerseits besonders furchtbar (oder auch erfreulich) sind. Bevor ich diesen Vorschlag ausformuliere, möchte ich darstellen, wie emotionale Signifikanzen für sich genommen bereits Zusammenhänge erzeugen können. Es kann strukturelle Interdepedenzen zwischen beschriebenen Ereignissen kraft ihrer emotionalen Signifikanz geben. Diese Möglichkeit ergibt sich aus der diachronen Natur vieler Emotionstypen. Was das heißt, kann man intuitiv an Beispielen erkennen: Tokens von Emotionstypen wie Erleichterung oder Enttäuschung etwa denken wir uns immer als Teile bestimmter diachroner Kontexte; sie setzen voraus, dass es zuvor bestimmte weitere Emotionen und weitere Ereignisse gegeben hat. Erleichterung etwa resultiert daraus, dass es Befürchtungen gab, die durch spätere Ereignisse nicht bestätigt wurden. Enttäuschung resultiert aus Hoffnungen oder aus Vorfreude, die durch bestimmte Ereignisse zunichte gemacht wurden. Viele Emotionstypen können dabei aufgrund ihrer diachronen Voraussetzungen und Konsequenzen sogar lange Sequenzen generieren.38 D. Velleman schreibt dazu: „One emotion often gives way to another: puzzlement to curiosity, curiosity to foreboding, foreboding to horror, horror to grief – or perhaps instead to anger, which gives way to resentment, and so on“ (Velleman 2003, 14). Velleman erklärt die „diachrone Natur“ (vgl. ebda., 13) von Emotionstypen dabei, indem er Vorschläge aus der Kognitionspsychologie und Neurologie heranzieht. Speziell geht es dabei um die „affect program theory of emotions“ (für eine neuere Darstellung siehe DeLancey 2002). Dieser Theorie zufolge sind Emotionstypen als Syndrome aufzufassen, die typische physiologische, motorische, neuronale, behaviorale und motivationale Prozesse sowie charakteristische Auftretensbedingungen und Auflö-
_____________ 37 Ihr gemeinsamer Überraschungswert lässt sich also, anders als bei stochastisch unabhängigen Propositionen, nicht einfach durch Multiplikation ihrer individuellen Wahrscheinlichkeiten errechnen. 38 Voss (2004) spricht deshalb sogar von einer narrativen Natur bestimmter Emotionen.
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sungsmuster in koordinierter und zeitlich geordneter Form, eben als Programme, umfassen. Es ist nicht klar, wie sehr sich Velleman in seinen Ausführungen an die genannten Theorien und ihre empirischen Thesen hält. In jedem Falle liegt ein Problem dieser Ansätze, wie mir scheint, darin, dass sie den Erlebnisaspekt von Emotionen ausklammern und sie funktional auf die genannten Syndrome reduzieren. Auch ohne eine Bezugnahme auf so kontroverse Konzeptionen ist die These der diachronen Natur vieler Emotionstypen aber sicher plausibel. Dieser These zufolge sind bestimmte Typen von Emotionen essentiell Teil bestimmter Sequenzen von Emotionen. Unter dieser Prämisse ist leicht erkennbar, wie Ereignisse in einer narrativen Handlung vermöge ihrer emotionalen Signifikanzen Zusammenhänge bilden können. Ein Ereignis kann etwa enttäuschend sein, weil ein vorhergehendes Anlass zur Vorfreude gegeben hat. Oder es kann erleichternd sein, weil ein anderes beunruhigend war etc. Zusammenhänge dieser Art bestehen genau dann, wenn die Ereignisse die emotionalen Signifikanzen von Emotionstypen haben, die essentiell Teile einer Sequenz von Emotionen sind, und wenn diese Signifikanzen dabei in der Tat eine entsprechende Sequenz konstituieren. Ich werde gleich Genaueres über solche emotionalen Zusammenhänge zu sagen haben. Es ist nun erkennbar geworden, wie die Überraschungswerte und die emotionalen Signifikanzen Verknüpfungen zwischen den Ereignissen in der Handlung generieren können. Die nächste Frage auf meiner Arbeitsliste lautet dann: Sind dies tatsächlich die Arten von Verknüpfung, die man dramatische Verknüpfungen nennen kann? Können also die skizzierten Verknüpfungen tatsächlich eine dramatische Struktur konstituieren? Meine Antwort ist, wie angekündigt, positiv. Um dieses Votum zu begründen, weiß ich mir keinen besseren Weg, als ein Beispiel zu bemühen, das bereits Erwähnung gefunden hat. Wenden wir uns also erneut den beiden Sätzen über Pauls verkatertes Erwachen und über seine Lösung eines logischen Problems zu. Ich habe behauptet, dass mit dem probabilistischen Zusammenhang der beschriebenen Ereignisse bereits eine von zwei Bedingungen für Dramatizität erfüllt ist. Wenn wir den Ereignissen nun noch geeignete emotionale Signifikanz verleihen, so meine These, verleihen wir der Handlung dieser Sätze eine dramatische Struktur. Um dies erreichen zu können, werde ich die Kurzgeschichte um weitere Sätze erweitern. Es sollte dabei erkennbar bleiben, dass dies die Handlung nicht nur verkompliziert, sondern eine qualitative Differenz schafft. Diese Differenz beruht darauf, dass den beschriebenen Ereignissen eben eine bestimmte emotionale Signifikanz verliehen wird. Hier also das Beispiel, das ich (n6) nenne:
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(n6)
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Als Paul eines Abends auf einer Feier schon ziemlich angetrunken war, erhielt er eine Nachricht seines Kontaktmannes beim Geheimdienst, der ihn darüber informierte, dass das Überleben Tausender davon abhing, dass er am folgenden Tag ein schweres logisches Problem lösen würde. Am nächsten Morgen erwachte Paul mit einem schweren Kater. Sein Mut sank; nach Stunden verzweifelter Arbeit jedoch hielt er plötzlich inne – und stellte fest, dass er die Lösung des Problems gefunden hatte.
Worin besteht die Dramatik dieser kurzen Narration? Man erinnere sich zunächst an den einfachen wahrscheinlichkeitstheoretischen Zusammenhang zwischen verkatertem Aufwachen und nachfolgender Lösung des Problems. Dieser bestand darin, dass das erstere Ereignis das zweite Ereignis weniger erwartet und mithin überraschender macht. Dann ist einfach zu erkennen, dass die Ergänzung um eine emotionale Dimension aus dem probabilistischen Zusammenhang einen dramatischen macht. Spannend wird die Geschichte dadurch, dass der wahrscheinlichkeitstheoretische Zusammenhang mit einer emotionalen Bedeutung der Ereignisse verknüpft wird. Das nämlich, was infolge des ersten Ereignisses unwahrscheinlicher ist, ist zugleich etwas, das erhofft wird. Und das, was im Gegenzug wahrscheinlicher wird, ist zum Fürchten. Diese Interaktion von subjektiver Wahrscheinlichkeit und emotionaler Signifikanz lässt sich intuitiv so ausdrücken: Die Spannung in einer Geschichte entsteht und entwickelt sich mit der Aussicht darauf, dass etwas geschieht, das erfreulich, furchtbar, enttäuschend etc. ist. Auf der Grundlage dieser Überlegungen lässt sich nun genauer sagen, was der Fall sein muss, damit eine Narration eine dramatische Struktur aufweist. Eine wichtige Rolle kommt in unserer Beispielnarration ja der Furcht vor einem Ausgang zu. Furcht gehört zu einer Klasse von Emotionen, die eine zentrale Rolle in der Konstitution dramatischer Strukturen spielen. Ich nehme daher eine etwas allgemeinere Charakterisierung dieser Klasse von Emotionen in Angriff. Dann lege ich dar, wie emotionale Signifikanzen dieses Typs zusammen mit anderen emotionalen Signifikanzen und mit subjektiven Wahrscheinlichkeitswerten über die Ereignisse in einer narrativen Handlung distribuiert sein müssen, damit dieselbe eine dramatische Struktur aufweist. Furcht zählt zu einer Klasse von Emotionstypen, die auch Hoffnung, Sehnsucht, Begehren, Ehrgeiz und andere Emotionen umfasst. Diese Emotionen haben wir deshalb, weil bestimmte mögliche Ereignisse in der Zukunft bestimmte andere Emotionen in uns wecken würden. Hoffnung beispielsweise empfinden wir deshalb, weil etwas geschehen könnte, das uns glücklich machen würde. Furcht haben wir, weil etwas geschehen
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könnte, das Schmerz oder Trauer o. ä. in uns wecken würde. Wegen dieser Gerichtetheit auf zukünftige Ereignisse und deren Signifikanz nenne ich diese Emotionen antizipierend. Introspektiv ist diese Klasse von antizipierenden Emotionen sicherlich jedem vertraut. Ich weiß keinen Weg, genau zu definieren, was antizipierende Emotionen ausmacht. Aber da sie das zentrale Element in der dramatischen Struktur von Narrationen darstellen, werde ich einige ihrer allgemeinen Eigenschaften etwas genauer darstellen. Zunächst einmal zeichnet es antizipierende Emotionstypen aus, dass ein Subjekt A, das ein Token eines solchen Typs zu t1 exemplifiziert, die Menge W der für ihn (oder sie) epistemisch möglichen Welten zweiteilt. Und zwar teilt A sie in die Teilmenge, in der ein bestimmtes Ereignis e zu einer späteren Zeit t2 stattfindet, und die Komplementärmenge, in der e nicht stattfindet. (Es handelt sich also um ein Ereignis, das zumindest im Raum der für A vorstellbaren Möglichkeiten kontingent ist.) Dieses Ereignis ist der intentionale Gegenstand der fraglichen Emotion zu t1. Es ist also z. B. das, wovor A sich fürchtet oder worauf A hofft. Nennen wir jede Welt, in denen das zukünftige Ereignis stattfindet, eine Erfüllung der Emotion, und jedes Element der Komplementärmenge eine Nichterfüllung. Es zeichnet antizipierende Emotionen aus, dass ihre Subjekte zwischen zukünftigen Weltverläufen diskriminieren, die Erfüllungen oder Nichterfüllungen der Emotion sind. Weiter zeichnet es antizipierende Emotionen aus, dass das Subjekt A mit Erfüllungen oder Nichterfüllungen ebenfalls bestimmte Emotionen verknüpft. Es gibt also Emotionen, die A zu haben erwartet, falls das Ereignis stattfindet oder nicht. Schließlich gilt aber noch mehr: Nicht nur muss A zu t1 eine bestimmte Emotion haben und zwei alternative zukünftige Weltverläufe unterscheiden, in denen A bestimmte andere Emotionen erwartet. Zudem muss A seine gegenwärtige Emotion wegen dieser erwarteten anderen Emotionen haben. Z. B.: A ersehnt ein Ereignis, weil A spürt, dass dessen Eintreten Freude, Glück oder dergleichen mehr für ihn oder sie bedeuten würde. Das „weil“ drückt dabei einen explanatorischen Zusammenhang im weiten Sinne aus. Je nachdem, wie man den zugrunde liegenden Vorgang deuten will, kann man spezifizieren: Die emotionale Signifikanz des späteren Ereignisses ist der (kausale) Auslöser oder der (rationale) Grund für die Emotion von A zum früheren Zeitpunkt. Analoge Zusammenhänge bestehen nun nicht nur für manifeste Emotionen, sondern auch auf der Ebene emotionaler Signifikanzen. Wir beurteilen eine Menge von Ereignissen z. B. nur als furchterregend, sofern wir dabei den Raum der vorstellbaren nachfolgenden Verläufe binär partitionieren in Erfüllungen, deren emotionale Signifikanz ist, schrecklich zu sein, sowie in Nichterfüllungen, die wir für erleichternd befinden.
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Diese komplexe diachrone Struktur ist konstitutiv für dramatische Strukturen. Spannend sind Folgen aus Ereignissen, die emotionale Signifikanz antizipierenden Typs haben, und ihren Erfüllungen oder Nichterfüllungen. Furcht vor etwas, das schrecklich sein wird, die Hoffnung auf etwas, das glücklich machen wird – solche emotionalen Zusammenhänge sind es, die Narrationen ausnutzen. Ich versuche, all dies zusammenzufassen: Sei S eine Menge von Token-Sätzen, die eine finite Menge Γ von Ereignissen beschreibt, die (partiell strikt) temporal geordnet sind. Dann hat S (besser: die Sequenz von Ereignissen, die S beschreibt – ich werde aber beide Redeweisen pflegen) genau dann eine dramatische Struktur für einen Rezipienten Z im Kontext K, wenn folgendes gilt: Es gibt mindestens ein U und ein V, so dass (i) U und V nichtleere und disjunkte Teilmengen von Γ sind; und (ii) U enthält nur Ereignisse, die in der zeitlichen Ordnung vor denen in V stehen; und (iii) es gibt eine probabilistische Abhängigkeit der Ereignisse in V von denen in U für Z in K; und (iv) die Ereignisse in U haben eine antizipierende emotionale Signifikanz für Z in K; und (v) V enthält genau die Ereignisse, die Erfüllungen oder Nichterfüllungen zu der emotionalen Signifikanz von U darstellen. Mit diesem Ergebnis ist zugleich geklärt, was die Dramatizitätsbedingung in (N ) fordert. Es geht eben darum, dass eine Menge von Tokens, die narrativ sein soll, im eben spezifizierten Sinne eine dramatische Struktur haben muss. Es gehört also zum Wesen einer Narration, uns z. B. Furcht vor etwas einzuflößen, das sich nachher bestätigt oder nicht bestätigt, oder uns Hoffnung auf etwas zu machen, das nachher eintritt oder nicht eintritt. In diesen Zusammenhängen spielen, wie angekündigt, die emotionale Signifikanz eines antizipierten Ereignisses und seine Wahrscheinlichkeit die zentralen Rollen. Spannung entsteht, wenn emotional signifikante kommende Ereignisse für Rezipienten wahrscheinlich gemacht werden. Spannung entwickelt sich, wenn die Wahrscheinlichkeit oder die Signifikanz dieser Ereignisse sich im Laufe der Handlung verändern. Spannung wird aufgelöst, wenn das antizipierte Ereignis schließlich eintritt oder endgültig ausbleibt. Dies erscheint mir als eine plausible Erklärung der Dramatik von Narrationen. Im nächsten Abschnitt ist zu untersuchen, unter welchen Bedingungen dramatische Strukturen geschlossen sind. Damit wird sich auch die letzte der Bedingungen in (N ) schließlich erläutern und präzisieren lassen: die Ganzheitsbedingung.
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e) Ganzheitsbedingung Die Ganzheitsbedingung ist erneut etwas kompliziert. Was sie jedoch erfassen soll, ist einfach zu sagen: Wir können in Bezug auf Narrationen in besonderer Weise fragen, ob sie vollständig sind. Dies ist weniger trivial, als es klingt. Denn eine Narration ist nicht schon dadurch vollständig, dass sie eben alles ist, was zu einer bestimmten Gelegenheit geäußert wird. Wir können alles gehört haben, was ein Sprecher zu sagen hatte, und doch finden, dass wir nicht alles gehört haben, was zu der Geschichte gehört. Zwei einfache Beispiele können dies zeigen: Man stelle sich einen Text vor, an dessen Ende ein Protagonist in der misslichen Lage ist, an einer Klippe zu hängen. Der Text endet also mit diesem sprichwörtlichen cliffhanger, ohne dass erzählt würde, ob eine Rettung oder ein Absturz erfolgt. Nach der Lektüre dieses Textes hätten wir zweifellos den Eindruck, nicht erfahren zu haben, wie die Geschichte ausgeht. Und das impliziert: Wir haben den Eindruck, dass wir nicht die ganze Geschichte gehört haben. Ein zweites Beispiel illustriert den umgekehrten Fall: Nehmen wir an, man erzählte uns zum ersten Male das Märchen vom Rotkäppchen. Nachdem man uns die Rettung des Mädchens und seiner Großmutter beschrieben hat, ergeht sich der Erzähler noch in langen Schilderungen vieler späterer Begebenheiten. Er erzählt etwa, dass Rotkäppchen auf dem Heimweg mehrfach ihre Schnürsenkel neu bindet. Hier hätten wir den Eindruck, Dinge zu hören, die nicht mehr zur eigentlichen Handlung gehören. Und das heißt: Wir betrachten die Geschichte als etwas Abgeschlossenes, das diese Episoden nicht umfasst. In der Narratologie ist der Umstand, dass Narrationen in einer bestimmten Weise geschlossene Ganzheiten sein können, oft erkannt worden. Bekanntestes Beispiel ist eine bereits zitierte Forderung des Aristoteles: Ihm zufolge muss die „Fabel“, die für ihn das narrative Grundgerüst oder der plot einer Tragödie ist, „eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende“ (Poetik 1459a) sein. Ein neuerer Autor, der eine ähnliche Forderung formuliert, ist L. Mink (1987, 52). Er beschreibt das Verstehen der Handlung einer Narration wie folgt: „[A]ctions and events, although represented as occuring in the order of time, can be surveyed as it were in a single glance as bound together in an order of significance, a representation of a totum simul.“ Zugleich ist aber kaum zu leugnen, dass diese eigentümliche Ganzheit die bisherige narratologische Forschung vor große Schwierigkeiten gestellt hat. Es ist weitgehend unklar, wie genau eine Narration eine solche Ganzheit sein kann. Diese Schwierigkeit soll im Folgenden behoben werden. Einiges lässt sich dabei vorab sagen: Wenn im ersten Beispiel gesagt wurde, wir hätten den Eindruck, nicht die ganze Geschichte gehört zu haben,
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so war das vieldeutig. Wenn man mit „die Geschichte“ auf die geäußerten oder gedruckten Sätze referiert, so haben wir natürlich die ganze Geschichte gehört. (Es sei denn, wir haben etwas überhört oder in unserem Buch fehlen Seiten.) Das jedoch, dessen Vollständigkeit auch dann noch in Frage steht, wenn wir alles gehört haben, ist das Beschriebene. Dies ist die Geschichte im Sinne dessen, wovon die geäußerten Sätze handeln. Eindeutiger ist dies als die Handlung der Narration zu bezeichnen. Wenn wir also im hier gemeinten Sinne sagen, wir hätten die ganze Geschichte gehört, so meinen wir: Uns wurde eine vollständige Handlung präsentiert. Das ist nun aber genau das, was die Dinge erst kompliziert macht: In Bezug auf eine Menge von Äußerungen lässt sich ja noch absehen, was sie vollständig machen könnte. (Man könnte z. B. sagen: Sie ist vollständig, wenn sie alles umfasst, was der Sprecher zu sagen intendiert hat.) Aber inwiefern können die Geschehnisse, die solche Äußerungen beschreiben, abgeschlossen sein? Das ist schwieriger zu erklären. Betrachten wir nämlich eine beliebige Sequenz von Ereignissen, so ist kaum zu erkennen, was sie abgeschlossen machen könnte. Zu jedem ersten Ereignis in so einer Ereignissequenz gibt es immer kausale oder intentionale Vorbedingungen. Ebenso wird es zu jedem letzten Ereignis einer Sequenz immer noch Konsequenzen geben. Warum sollten solche Vorbedingungen oder Konsequenzen nicht mehr zur fraglichen Ganzheit gehören? Aristoteles zufolge ist das Ende oder der Abschluss der Handlung einer Narration dort erreicht, wo nach einem Ereignis nichts anderes mehr mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit eintrete (vgl. Poetik 1450b). Aber gibt es solche Ereignisse? D. Velleman bestreitet dies; er reagiert auf den aristotelischen Vorschlag wie folgt: „Yes, of course – but on second thought, no. The beginning of a story always has sufficient antecedents, causally or probabilistically speaking, and the ending is always sufficient for further consequences. There are no beginnings or endings in the flow of events“ (ebda.).39 Verdeutlichen wir uns die Schwierigkeit anhand unserer Beispiele: Natürlich gibt es viele Dinge, die Rotkäppchen nach seiner Errettung tut. Und viele dieser Dinge stehen in intelligiblen Relationen zu den Geschehnissen, die wir zur Handlung zählen. Warum sind diese Ereignisse trotz der Verbindung nicht Teil der Handlung? Wir beschreiben nur dann die vollständige Handlung, wenn wir die Ereignisse vor ihrer Rettung beschreiben, die späteren aber können wir fortlassen. Warum? Und zum anderen Beispiel: Warum sind wir nicht zufrieden, solange uns nicht er-
_____________ 39 Ich will dahingestellt sein lassen, ob dies tatsächlich eine treffende Aristoteles-Kritik ist. Es erscheint gut möglich, dass es sich um eine unvorteilhafte, zu wörtliche Lesart der Poetik handelt.
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zählt wird, ob der Held abstürzt? Warum ist dies ein Ereignis, das zur vollständigen Handlung dazugehört? Was unterscheidet den Absturz oder die Rettung dieses Protagonisten von Rotkäppchens Heimweg? Was also macht eine vollständige narrative Ereignissequenz aus? Die Antwort, der ich mich anschließe, stammt von D. Velleman: „The sense in which nothing precedes the beginning or follows the ending of a story is emotional. The story begins with the circumstances that initiate some affect, or sequence of affects, and it ends when that emotional sequence is in some way brought to a close“ (ebda.). Dies scheint mir in Bezug auf unsere Beispiele die richtige Lösung zu sein: Die Geschichte vom Rotkäppchen empfinden wird dann als abgeschlossen, wenn mit ihrer Rettung Furcht in Erleichterung umschlägt. Die Geschichte des an der Klippe hängenden Helden ist unabgeschlossen, solange die Furcht über seine Lage oder die Hoffnung auf seine Rettung nicht durch nachfolgende Ereignisse in Erleichterung oder Schrecken umschlägt. Dies scheint mir zumindest im Groben Vellemans Idee zu sein, und sie ist überzeugend. Ich werde sie hier allerdings in einer Weise formulieren, die mir sinnvoller erscheint. Insbesondere werde ich auf emotionale Signifikanz statt auf emotionale Reaktionen rekurrieren. In Vellemans Text klingt es ja, als könnten nur die Narrationen abgeschlossene Ganzheiten für uns sein, die tatsächlich bestimmte Empfindungen in uns hervorrufen. Das wäre jedoch verfehlt. Auch bei Geschichten, die uns emotional kalt lassen, können wir mitunter erkennen, wann wir an ihrem Ende angelangt sind. Ich nehme also Vellemans Vorschlag auf und variiere ihn wie folgt: Die Sequenz von Ereignissen, die eine Menge von Sätzen S beschreibt, ist eine vollständige Handlung, wenn die Rezipienten von S diesen Ereignissen in ihrer zeitlichen Folge geeignete emotionale Signifikanzen zuweisen. Nun ist oben bereits einiges über die richtige Distribution solcher emotionalen Signifikanzen über Ereignisse in einer narrativen Handlung gesagt worden; vor allem müssen diese Signifikanzen so verteilt sein, dass eine dramatische Struktur resultiert. Das heißt, dem letzten Abschnitt zufolge: Es müssen Ereignisse beschrieben werden, die antizipierende emotionale Signifikanz haben, und Ereignisse, die deren Erfüllung oder Nichterfüllung darstellen. In diesen dramatischen Konfigurationen von emotionalen Signifikanzen liegt nun auch die Lösung zur Frage der Ganzheit narrativer Handlungen. Die Ganzheitsbedingung, die ich in (N ) formuliere, besagt nämlich dies: Die Handlung, die eine Menge von Tokensätzen S beschreibt, ist dann vollständig, wenn die dramatische Struktur der Ereignissequenz, die S beschreibt, „geschlossen“ ist.
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Ich beschreibe nun, was es heißt, dass die dramatische Struktur der Handlung einer Narration geschlossen ist. Danach kann ich erläutern, was die Ganzheitsbedingung fordert. Im letzten Abschnitt ging es um Bedingungen dafür, dass die Handlung einer Narration eine dramatische Struktur hat. Dabei wurde, wie gesagt, gefordert, dass Ereignisse mit antizipierender emotionaler Signifikanz beschrieben werden müssen, auf die eine Erfüllung oder Nichterfüllung folgt. Aber es war nicht Teil der Bedingung, dass es für jede antizipierende emotionale Signifikanz eine solche Erfüllung oder Nichterfüllung geben muss. Nicht alles also, was in einer Ereignissequenz z. B. als furchterregend zu beurteilen ist, muss auch seine Erfüllung finden. Mein Vorschlag lässt die Möglichkeit zu, dass eine Narration zwar eine dramatische Struktur hat, aber mit einem Ereignis endet, das eine emotionale Signifikanz antizipierenden Typs aufweist. Nun soll gelten, dass eine Narration eine geschlossene dramatische Struktur hat, wenn sie eine dramatische Struktur hat und wenn es keine solche unaufgelöste Spannung in ihr gibt. Dann gäbe es für alles, was emotionale Signifikanz antizipierenden Typs hat, auch eine Erfüllung oder Nichterfüllung. Sei S also wieder eine Menge von Token-Sätzen, die eine Menge Γ von partiell strikt temporal geordneten Ereignissen beschreibt. Dann hat S genau dann eine geschlossene dramatische Struktur für Z in K, wenn gilt: S hat eine dramatische Struktur, und für jede nichtleere echte Teilmenge U von Γ, die eine emotionale Signifikanz antizipierenden Typs für Z in K hat, gibt es eine andere Menge V von zeitlich nachfolgenden Ereignissen in Γ, so dass V die Erfüllungen oder Nichterfüllungen zur antizipierenden Signifikanz von U enthält. Eine narrative Handlung hat also dann eine geschlossene dramatische Struktur, wenn z. B. jede Hoffnung, die sie weckt, befriedigt oder enttäuscht wird etc. Ist damit nun die gesuchte Bedingung gefunden, unter der wir die Handlung einer Narration als vollständig beurteilen? Man betrachte erneut das Beispiel des cliffhanger. Warum finden wir angesichts einer Geschichte, die mit einem solchen Ereignis endet, eigentlich, dass sie unvollständig ist? Die Antwort scheint mir klarer Weise zu lauten: Weil die Geschichte uns etwas befürchten lässt, ohne dass wir erführen, ob unsere Furcht sich bestätigt oder nicht. Ebenso könnte man sagen: Weil sie uns etwas hoffen lässt, ohne dass wir erführen, ob diese Hoffnung erfüllt wird oder nicht. Wie Velleman sagt: Der Sinn, in dem die Geschichte unvollständig ist, ist emotional. Freilich ist dabei der Unterschied zwischen Empfindungen und Zuweisungen emotionaler Signifikanz zu bedenken. Wenn man sich noch einmal die Natur antizipierender Emotionstypen vor Augen führt, wird begreiflich, warum sie diese ganzheitsstiftende
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Kraft haben. Emotionen dieses Typs haben wir, wie gesagt, weil wir in die Zukunft schauen und etwas sehen, das uns nicht kalt lässt. Dasselbe gilt für die Zuweisung der entsprechenden Signifikanz. Etwas als antizipierend emotional signifikant zu beurteilen setzt eben voraus, dass wir mögliche weitere Entwicklungen emotional signifikant finden. Etwas ist gerade deshalb antizipierend emotional signifikant, weil emotional signifikant ist, wie es weitergeht. Es ist erneut die Konfiguration aus antizipierender Emotion und ihrer Erfüllung oder Nichterfüllung, die erklären kann, wieso Geschichten Anfänge und Enden haben. Obwohl die Welt in kausaler oder intentionaler Perspektive keinerlei Anfänge und Enden hat, hat sie dieselben auf der Ebene der Emotionen und der emotionalen Signifikanz. Es bleibt zu fragen, ob es wirklich notwendig für Narrativität ist, dass die erzählte Handlung kraft ihrer geschlossenen dramatischen Struktur vollständig ist. Aristoteles vertritt diese Ansicht sowohl für die Tragödie als auch für epische Werke. Sie alle müssen ihm zufolge „eine einzige, ganze und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende“ (Poetik 1459a) beschreiben. Auch Velleman scheint die Notwendigkeit der Ganzheitsbedingung zu bejahen. 40 Auch ich vertrete diese Ansicht, wie ein Blick auf (N ) zeigt. Aber es gibt ein Problem: das Phänomen der Geschichten mit „offenem“ Ende. Geschichten mit offenem Ende sind solche, die zwar klarer Weise auf ein Ende hinauslaufen, die aber offen lassen, welches Ende sie genau nehmen. Stürzt der Held von der Klippe ab, oder wird er gerettet? Wird der knapp entkommene Übeltäter schließlich doch noch gefasst? Ist das Ungeheuer wirklich tot, oder ist die Sicherheit vielleicht nur ein Trug? Oft bleiben uns abschließende Antworten auf Fragen wie diese vorenthalten. Manche Filme verlangen nach Fortsetzungen, in denen offen gebliebene Probleme oder Aufgaben gelöst werden. Ebenso enden manche Romane, ohne dass ihr Protagonist die von ihm angestrebte Erfüllung erreicht, aber auch ohne dass er resignierte und aufgäbe. Geschichten mit offenem Ende sind in der Tat ein schwieriges Phänomen. Einerseits erzielen sie ihren Effekt dadurch, dass sie unsere Erwartungen an Geschichten nicht erfüllen. Es gibt in der Tat einen Sinn, in dem Geschichten mit offenem Ende etwas fehlt, das wir von einer Geschichte erwarten – eben ein Ende. Es wäre zu begrüßen, wenn unsere Theorie der Narrativität dies deutlich macht. Andererseits wäre es aber ebenfalls problematisch, wenn unsere Theorie Geschichten mit offenem
_____________ 40 Dies ist nicht völlig klar. Velleman hält es für methodisch geboten, die Frage, was eine Narration ausmache, zu beantworten, indem er zuerst die Frage beantwortet, was eine gute Narration ausmache. Daher bleibt unklar, ob es nur für gute Narrationen notwendig ist, dass ihre Handlung geschlossen ist.
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Ende nicht als narrativ qualifizierte. Immerhin sind Geschichten mit offenem Ende doch Geschichten – oder? Ich werde meine Ansicht dazu erst formulieren und dann erläutern. Sie lautet: Eine Geschichte mit offenem Ende ist selbst keine Geschichte. Sie ist vielmehr Teil von etwas, das eine Geschichte ist. Wir nennen sie aber irreführender Weise selbst eine Geschichte, weil wir sie uns nur als Teil einer solchen umfassenden Geschichte denken können. Ich will das erläutern. Der Witz an Geschichten mit offenem Ende ist, dass sie uns eine Handlung genau so weit präsentieren, dass klar wird, was als ein Ende gelten würde: Entweder stürzt der Protagonist oder nicht, wird der Gangster gefasst oder nicht, ist das Ungeheuer für immer vertrieben oder nicht. Zugleich wird uns das tatsächliche Ende aber vorenthalten. Aus diesem Grunde haben wir an ihrem Schluss die bereits erwähnte Intuition, dass wir nicht erfahren haben, wie die Geschichte ausgeht. Das impliziert: Wir haben die Intuition, dass wir nicht die ganze Geschichte gehört haben. Daher schließe ich, dass das, was wir eigentlich eine Geschichte nennen würden, etwas Umfassenderes ist. Was Geschichten mit offenem Ende also auszeichnet, ist, dass sie uns einen Teil der ganzen Geschichte vorenthalten. Daher sollte eine Theorie der Narrativität nicht sie selbst, sondern sie inklusive des vorenthaltenen Teils als Narrationen qualifizieren. Sie selbst hingegen sind Teile von Geschichten, keine Geschichten. Daher ist es gerechtfertigt, wenn die Ansätze von Aristoteles und Velleman Geschichten mit offenem Ende ausschließen. Und daher erscheint es mir ebenfalls gerechtfertigt, dass (N ) dies tut. Aber müssen Geschichten mit offenem Ende deshalb einfach als Nicht-Geschichten angesehen werden? Sind sie ebenso wenig narrativ wie Beipackzettel und Einkaufslisten? Nein; hier kommt der zweite Teil meines Vorschlags ins Spiel. Es ist kein Zufall, dass wir so genannte Geschichten mit offenem Ende als Teile vollständiger Geschichten verstehen. Sie beschreiben Begebenheiten, die wir uns nur als Teil abgeschlossener Handlungen denken können. Sei S erneut eine Menge von Sätzen, die eine Menge Γ von Ereignissen beschreiben, und seien Z die Rezipienten und K der Kontext von S. So gilt: S ist genau dann eine „Geschichte mit offenem Ende“, wenn es in jeder für Z epistemisch möglichen Welt, in der Γ existiert, eine finite Menge Γ′ gibt, deren Teilmenge Γ ist und die eine geschlossene dramatische Struktur hat. Die Rezipienten können sich die Sequenz von Ereignissen, die S beschreibt, also nur als Teil einer umfassenderen Sequenz von Ereignissen denken, für die z. B. gilt: Alles, was in jener ursprünglichen Sequenz
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furchterregend war, findet in der umfassenderen Sequenz seine Erfüllung oder seine Nichterfüllung, etc. In diesem Sinne sind Geschichten mit offenem Ende zwar keine Narrationen, aber sie sind ebenfalls keine bloßen Nicht-Narrationen. Sie sind in dem starken Sinne Fragmente von Geschichten, dass wir sie nur als Teil von Geschichten verstehen können. Sie sind notwendig Teile von Geschichten. Hiermit habe ich das Ende meiner umfangreichen Erläuterungen zur Definition (N ) erreicht. Das Fazit dieser komplizierten Theorie der Narrativität ist, wenn es knapp formuliert wird, ernüchternd kurz: Fazit zu Narrationen Narrationen beschreiben Mengen temporal geordneter und sinnhaft verknüpfter Ereignisse. Sie setzen dieselben in Beziehung zum Wollen und Handeln von Akteuren. Und sie entwickeln in der Interaktion mit den Erwartungen und dem emotionalen Urteilsvermögen von Rezipienten eine Dramatik, die eine abschließende Auflösung findet. Diese knappe und intuitive Zusammenfassung der Theorie (N ) kommt wie eine bloße Trivialität daher. Aber dies zeigt nur, dass mir das Vorhaben einer Analyse unserer zentralen Alltagskriterien gelungen ist. Derlei Plattitüden müssen Ausgangspunkt und Maßstab bestimmter philosophischer Begriffsanalysen sein. Und die Komplexität und der Umfang meines Versuchs, genau zu sagen, was diese Plattitüden besagen, zeigen allemal, dass dies keine Trivialisierung der Aufgaben der Philosophie bedeutet. Es bleiben nun lediglich einige abschließende Ergänzungen zu (N ) anzufügen. Anschließend werde ich mich im Lichte dieses gründlicheren Verständnisses dessen, was Narrativität ausmacht, an eine Prüfung und Evaluation der These DNT machen können.
§ 31. Bemerkungen zu Individuation und Kontextabhängigkeit Ich habe soeben eine Menge von Bedingungen formuliert, die individuell notwendig und gemeinsam hinreichend für Narrativität sind. Dies ist eigentlich schon alles, was für meine Zwecke erforderlich ist. Mehr braucht es nicht, um meine These zu prüfen, dass bestimmte Festlegungen, die mit Identifikationen verbunden sind, narrativ sind. Um die Theorie der Narrativität aber zu vervollständigen, will ich einige Anmerkungen anfügen. Was für Arten von Gegenständen sind Geschichten beispielsweise? Wie schon angedeutet gibt es für „eine Geschichte“ eine Type-Token-
§ 31. Bemerkungen zu Individuation und Kontextabhängigkeit
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Ambiguität. Einerseits erscheint es natürlich Geschichten, wie bisher geschehen, als partikulare Vorkommnisse aufzufassen. Wir sagen ja z. B., unser Kind sei während einer Gute-Nacht-Geschichte eingeschlafen, wenn es eben während eines Äußerungsereignisses eingeschlafen ist. Andererseits aber sagen wir, wenn zu zwei Gelegenheiten das Märchen vom Rotkäppchen erzählt wird, oftmals, dass hier dieselbe Geschichte erzählt wurde. Hier bezeichnet „eine Geschichte“ ein Abstraktum, das der Inhalt verschiedener Äußerungen sein kann. Die Konfusion beider Verwendungen führt zu Nonsens. „Mir ist gestern Kleists Erzählung ‚Das Erdbeben in Chili’ aus der Hand gefallen“ ist in der Token-Lesart unproblematisch. Nehmen wir Kleists Erzählung jedoch als das abstrakte Typobjekt, das viele Male wiedergegeben und gedruckt wurde, ist die Äußerung absurd. Wie individuieren wir Narrationen im Sinne abstrakter Typobjekte? Unter welchen Bedingungen erzählen wir zu zwei Gelegenheiten dieselbe Geschichte? Mir scheint, dass in unserer Praxis der Individuation narrativer Typen oft unterschiedliche Maßstäbe anlegt werden. In Bezug auf anerkannte literarische Werke z. B. individuieren wir sehr fein: Kleists Erzählung „Das Erdbeben in Chili“ ist qua Typ mehr als nur ein bestimmter plot, den einzelne Tokens sehr unterschiedlich präsentieren können. Wir betrachten einen gekauften Text z. B. nur dann als Token von Kleists Erzählung, wenn er Wort für Wort ein bestimmtes Original reproduziert. Sogar bei Übersetzungen haben wir oft Skrupel, zu sagen, sie seien wirklich Tokens desselben Werks. Kurz: Für literarische Erzählungen sind Typ-Narrationen Mengen von Typ-Sätzen plus eine strikte Ordnungsrelation, die ihre Abfolge definiert. Dabei werden Typ-Sätze ihrerseits fein individuiert und können z. B. nicht etwa durch heterophone, aber gleichbedeutende Tokens instantiiert werden. Bei alltäglichen Geschichten verfahren wir in der Typindividuation grobkörniger. Wir akzeptieren z. B. ohne weiteres, dass ein und dasselbe Märchen vom Rotkäppchen in verschiedenen medialen und landessprachlichen Formen erzählt werden kann. Hier scheint mir, dass eine Geschichte im Typsinne als das aufzufassen ist, was ich die Handlung genannt habe: ein Tripel aus einer Menge von Ereignissen, einer zeitlichen Ordnungsrelation über dieser Menge und einer Menge sinnhafter explanatorischer, teleologischer und konstitutiver Relationen (auch über jener Ereignismenge). Das, was zu allen Gelegenheiten erzählt wird, zu denen eine bestimmte Typ-Geschichte erzählt wird, ist eben dies: Dass es eine bestimmte temporale Folge von Begebenheiten in bestimmten intelligiblen Verknüpfungen gab. Diese grobkörnige Individuation von Typ-Narrationen ist dabei in praxi nicht ohne Vagheit, und muss es auch nicht sein. Jedoch habe ich in den obigen Ausführungen überwiegend nicht über bestimmte Gegenstände namens „Narrationen“ – sie seien abstrakt oder
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Teil II: Was ist eine Narration?
konkret – gesprochen. Stattdessen ging es um etwas, das mit „Narrativität“ und „narrativ“ bezeichnet wurde. Das Bezeichnete fällt offensichtlich in eine andere ontologische Kategorie, nämlich die der Eigenschaften. Die fragliche Eigenschaft kann nun aber, wie soeben dargestellt wurde, sowohl Tokens als auch Typobjekten zukommen. (N ) gibt jedoch nur darüber Auskunft, unter welchen Bedingungen Tokens narrativ sind. Schlimmer noch: Das tut (N ) so, dass es schwierig wird, zu erkennen, wie denn Typen narrativ sein können. Meine Theorie verlangt nämlich, dass Narrationen mit bestimmten Bedingungen in ihrem Kontext in der richtigen Weise interagieren. Wenn wir Tokens „narrativ“ nennen, so sprechen wir also auch darüber, was in den Kontexten vorgeht, in denen sie geäußert werden. Dies macht es jedoch schwierig, zu sagen, was Narrationen im Typ-Sinn narrativ macht. Dass Typen überhaupt nicht zur Kategorie der Entitäten gehören, die in Kontexten stattfinden, ist dabei noch vergleichsweise unproblematisch. Man könnte ja sagen, etwas sei genau dann eine Typ-Narration, wenn seine Tokens in ihren Kontexten narrativ sind. Hier lauert aber erst das eigentliche Problem: Manche Tokens eines Typs können Narrationen im Token-Sinn sein, andere aber nicht. Mehr noch: Zu vielen abstrakten Typen lassen sich Kontexte konstruieren, in denen Tokens derselben narrativ sind. Und zu denselben Typen lassen sich Kontexte denken, in denen ihre Tokens es nicht sind. Da Narrativität also kontextabhängig ist, scheint zu gelten, dass Typen nur relativ zu manchen Kontexten Geschichten sein können. Narrativität wäre eine relative Eigenschaft. Ich will das erläutern: Was in manchen Kontexten und für manche Subjekte in narrativer Weise kohärent und dramatisch ist, ist es in anderen Kontexten und für andere Subjekte oft nicht. Vieles, was für uns eine sinnvolle und dramatisch geschlossene Geschichte ist, wäre für Vertreter anderer Kulturen nur ein willkürlicher Ausschnitt aus dem flow of events. Man nehme etwa eine Beschreibung einer gewöhnlichen Taxifahrt durch New York. Präsentiert man sie einer Gruppe von New Yorkern, wird sie ihnen kaum besonders dramatisch erscheinen. Für Urwaldbewohner dagegen könnte sie, sofern sie anschaulich genug ist, die Dramatik eines Kampfes mit mythischen Gefahren haben. Für Tokens stellt sich das Problem der Relativität nicht, oder zumindest nicht unmittelbar (s. u.). Tokens sind kontextgebunden. Wenn sie in ihren Kontexten narrativ sind, gibt es keinen Grund, sie nicht narrativ simpliciter zu nennen. Es gibt also einen Sinn, in dem das, was wir den Urwaldbewohnern präsentieren, eine Geschichte ist, während das, was wir den New Yorkern präsentieren, lediglich ein Bericht ist. Beide Prädikationen müssen nicht auf Kontexte oder Zuhörer relativiert werden, denn sie sind Prädikationen von Tokens, numerisch distinkten Gegenständen.
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Für das jedoch, was zu beiden Gelegenheiten erzählt wird, stellt sich in der Tat die Frage der Relativität der Narrativität. Ist ein Typ nur relativ zu Kontexten und Zuhörern narrativ, für die seine Tokens narrativ sind? Oder ist er narrativ im absoluten Sinne, solange bestimmte relevante Tokens in ihren Kontexten narrativ sind? Es könnte sich ja wieder wie mit Farben verhalten: Wenn Tokens eines Typs für normale Subjekte unter Standardbedingungen dramatisch, kohärent etc. genug sind, ist er narrativ. Diese letztere Erwägung mag auf den ersten Blick als hoffnungslos erscheinen. Für Farberfahrungen mag es angehen, zu sagen, was normale Subjekte und Bedingungen ausmacht. In Bezug auf unsere Sinne sind menschliche Wesen ja hinlänglich ähnlich. So eine speziesweite Ähnlichkeit der Voraussetzungen für das Verstehen von Geschichten gibt es aber nicht. Wen sollte man also als maßgeblich in Sachen Narrativität ansehen? Trotz dieser Schwierigkeit sollten wir den Vorschlag nicht umstandslos aufgeben, denn die Frage der Relativität stellt sich auch für Tokens. Es ist ja möglich, dass sich zwei Subjekte in demselben Kontext so stark unterscheiden, dass ein Vorkommnis für das eine Subjekt eine Geschichte ist, für das andere aber nicht. Ein Zuhörer ist gefesselt vor Spannung, der andere langweilt sich sprichwörtlich zu Tode. Man nehme nur an, der Bericht von der Taxifahrt würde einem New Yorker und einem Stammesbewohner zugleich präsentiert. Wer von ihnen ist dann maßgeblich? Angenommen, man hält keinen von beiden für maßgeblich. Man hält stattdessen auch die Narrativität von Tokens für relativ. Das würde bedeuten, dass (N ) in obiger Form inadäquat ist. Denn (N ) definiert eine absolute Eigenschaft und referiert nur im Definiens auf Subjekte und Kontexte. Müssen wir (N ) also umformulieren? Gibt es also überhaupt keine absolute Eigenschaft der Narrativität, sondern nur Narrativität-für-Subjektezu-Zeitpunkten? Diese Konsequenz erschiene mir hochgradig kontraintuitiv. Ich glaube, dass wir zumindest Tokens gewöhnlich in nicht-relativierter Weise als Geschichten qualifizieren. Und mir scheint, dass wir in Bezug auf Tokens tatsächlich große Unterschiede in der Frage machen, wessen Perspektive maßgeblich ist. Wenn etwa jemand krankhaft nervös und ängstlich ist, mag ihm noch der fadeste Bericht spannend wie ein Krimi erscheinen. Wir aber würden nicht sagen, hier sei eine Geschichte erzählt und Spannung erzeugt worden. Wäre Narrativität jedoch subjektrelativ, gäbe es keine Meinungsverschiedenheit zwischen uns und der schreckhaften Person. Wenn jemand zu lernen begehrte, was eine spannende Geschichte ist, müssten wir ihn guten Gewissens zu ihr schicken können. Man kann festhalten, dass wir gewöhnlich anders denken. Dennoch ist dieser Fall natürlich besonders einfach. In Bezug auf krankhaft schreckhafte Personen mag es angehen, ihre Reaktionen als nicht maßgeblich zu
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Teil II: Was ist eine Narration?
disqualifizieren. Die schwierige Frage aber betrifft die Reaktionen des Urwaldbewohners und des New Yorkers. Was könnte uns berechtigen, ohne pathologische Voraussetzungen solche Unterschiede zu machen? Meine Antwort fällt für Tokens und Typen unterschiedlich aus: Für Tokens gibt es Kriterien für maßgebliche subjektive Verstehensweisen, und die Frage ihrer Narrativität lässt sich daher absolut beantworten. Typen hingegen sind tatsächlich nur in relativer Weise narrativ – aber in einer Weise, die sich nur in Ausnahmefällen als Relativität bemerkbar macht. Ich werde diese Teilantworten nun nacheinander erläutern. Zunächst zur Frage der Narrativität einzelner Äußerungstokens. Was sie betrifft, benötigen wir gar keine externen Kriterien, um über die Maßgeblichkeit einer Perspektive zu entscheiden. Vielmehr entscheidet sich durch die hermeneutischen Prozesse im Kontext selbst, welche Perspektive maßgeblich ist. Bleiben wir bei dem New Yorker und dem Urwaldbewohner. Man muss bedenken, dass es in kommunikativen Kontexten Wechselwirkungen zwischen den Perspektiven der Rezipienten gibt. Wenn sich der New Yorker nämlich des staunenden Zuhörers neben sich bewusst wird, wird ihm klar werden, dass das, was er als Alltag erlebt, tatsächlich eine ziemlich beeindruckende Sache ist. Er beginnt, den Bericht sprichwörtlich „mit den Ohren“ des Urwaldbewohners zu hören. Dergleichen ist keine Seltenheit: Oft bemerken wir erst dann, wie unglaublich etwas ist, das uns geschehen ist, wenn wir es jemandem erzählen. Oder etwas, das uns in Begeisterung versetzt, klingt für uns plötzlich trivial, wenn wir es anderen beschreiben. Ein New Yorker und ein Urwaldbewohner mögen einen Bericht also unterschiedlich verstehen und bewerten, wenn sie ihn getrennt hören. Das heißt nicht, dass dieser Unterschied in einem geteilten kommunikativen Kontext genauso erhalten bleibt. Vielmehr scheint mir, dass so etwas wie das folgende Prinzip gilt: Wenn es einen Teilnehmer in einem Kontext gibt, aus dessen Perspektive eine Äußerung etwas hinreichend Spannendes und Kohärentes beschreibt, und wenn der Gesichtspunkt dieses Teilnehmers für alle anderen Beteiligten nachvollziehbar ist, dann ist die Äußerung in diesem Kontext im Normalfall hinreichend spannend und kohärent simpliciter. Das bedeutet nicht, dass die anderen Teilnehmer die Perspektive des ersteren übernehmen. Es heißt nur, dass sie seiner Perspektive besondere Relevanz in bestimmten Fragen zuerkennen. Werden sie also gefragt, ob soeben etwas Spannendes erzählt wurde, werden sie antworten: „Ja – obschon es für mich persönlich eher nicht spannend war.“
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Ich kann diesen Vorschlag zur Relevanz subjektiver Perspektiven hier nicht ausreichend verteidigen. Zum Beispiel kann ich nicht ausführen, wann eine Perspektive „nachvollziehbar“ ist. Ebenso wenig kann ich hier sagen, wie genau wir überhaupt erkennen, wie dramatisch und kohärent eine Äußerung aus der Perspektive anderer ist. Mir scheint aber, dass unsere hermeneutische Erfahrung zeigt, dass es uns möglich ist. Was ich allerdings zu erklären versuchen möchte, ist dies: Warum soll prinzipiell die Perspektive desjenigen zählen, der die Dinge dramatisch findet? Warum sollte also der Gesichtspunkt des Urwaldbewohners im obigen Beispiel maßgeblich in Sachen Dramatik sein? Nun habe ich selbst ja bereits angedeutet, dass es auch Kontexte gibt, in denen jemand, der etwas Aufregendes zu hören meint, erst im Lichte fremder Perspektiven der Trivialität des Erzählten innewird. Aber mir scheint doch, dass es eine gewisse Präferenz für Perspektiven gibt, die eine Äußerung als dramatisch qualifizieren. Wir finden im normalen Falle also die Perspektive auf eine Äußerung maßgeblich, aus der dieselbe den größten Eindruck macht. Dies könnte seinen Grund in fundamentalen pragmatischen Kommunikationsprinzipien haben. Grice (1975) und Sperber/Wilson (1986) zufolge verstehen wir, was Sprecher sagen, indem wir ihre Beiträge so interpretieren, dass sie möglichst relevant sind. Es gibt ein Interpretationsprinzip der Maximierung von Relevanz. Dieses macht es z. B. so natürlich für den New Yorker, den Bericht aus der Perspektive des Urwaldbewohners zu betrachten. Es gebietet ihm, den größeren kognitiven und emotionalen Effekt, den dieser Bericht für den anderen hat, als das zu betrachten, worauf es ankommt. Daher wird er jenen Hörer als den betrachten, an den die Äußerung primär gerichtet ist, und er wird die Relevanz der Äußerung „alterzentrisch“ bewerten. Es wäre tatsächlich eine Art hermeneutischer Fehlleistung, wenn er den Bericht als mäßig interessant verbuchte, während er neben sich staunende Hörer sieht. Dies wäre ein möglicher Ansatz, das obige Prinzip zu begründen. Ein weiteres Beispiel für die Geltung dieses Prinzips sind Fälle, in denen Kindern in Anwesenheit von Erwachsenen Geschichten erzählt werden. Sie handeln oft nicht von Ereignissen, die Erwachsene in der für Narrativität angemessenen Weise emotional signifikant finden. Gleichwohl hätten Erwachsene zu Recht den Eindruck, die Relevanz des Geäußerten falsch einzuschätzen, wenn sie ihre Perspektive als Maßstab nähmen. Sie können nachvollziehen, dass der Beitrag für die kindlichen Adressaten dramatisch ist. Und das gilt ihnen gewöhnlich als ausschlaggebend dafür, dass etwas Spannendes erzählt wurde. Selbstverständlich gibt es jedoch viele Umstände, die unsere Präferenz für „dramatisierende“ Perspektiven suspendieren können. Die Perspektive der krankhaft nervösen Person aus obigem Beispiel etwa können wir nicht
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Teil II: Was ist eine Narration?
nachvollziehen. Daher beurteilen wir sie auch nicht als maßgeblich in der Frage der Narrativität. Ich kann, wie angekündigt, nicht alle Fragen beantworten, die mein Vorschlag aufwirft. Ich denke aber, dass er zumindest eine viel versprechende Möglichkeit darstellt, zu erklären, wie es bei divergenten Perspektiven einen nicht subjektrelativen Maßstab für Narrativität geben kann. Dabei könnten Begriffe wie derjenige der Nachvollziehbarkeit sicher kaum so sehr geschärft werden, dass es für jedes Token eine klare Antwort gibt. Aber die Vagheit, die dergestalt bestehen bliebe, wäre kein Mangel meiner Analyse; sie liegt im Begriff selbst. Wir sollten nicht erwarten, dass es für einen Alltagsbegriff wie den einer Geschichte keinerlei strittige Grenzfälle gibt. Und mein Vorschlag benennt eine der Quellen der Vagheit dieses Begriffs mit der wünschenswerten Klarheit: die Grenzen der Kommensurabilität verschiedener Weisen des Verstehens. Ich werde darauf verzichten, eine umfassende Reformulierung von (N ) vorzulegen, die meinen eben skizzierten Ergänzungsvorschlag aufnimmt. Ich habe in allen obigen Erläuterungen Reformulierungen und Einschränkungen für das korrekte Verständnis der Bedingungen in (N ) gegeben. Und ich habe es in keinem Falle für sinnvoll, ökonomisch und leserfreundlich gehalten, jeweils eine aktualisierte Version von (N ) nachzuliefern. Es ist also Folgendes zu bedenken: (N ) repräsentiert meinen endgültigen Vorschlag zur Theorie der Narrativität nur, sofern die späteren Erläuterungen berücksichtigt werden. So werde ich auch hier bei dieser Verfahrensweise bleiben und lediglich eine explizite Anweisung zum korrekten Verständnis von (N ) formulieren. Wenn in der pragmatischen Teilbedingung von (N ) auf die Rezipienten Z einer Äußerung S Bezug genommen wurde, so war nicht einfach jeder Rezipient von S in K gemeint. „Die Rezipienten Z im Kontext K“ ist im obigen Kontext besser als ein Ausdruck mit implizit restringiertem Quantifikationsbereich41 zu verstehen. Er soll nicht alle, sondern nur die maßgeblichen Rezipienten in K herausgreifen. Wer maßgeblich ist, ist nicht anhand externer Kriterien zu beurteilen. Vielmehr ergibt es sich aus den hermeneutischen Prozessen in K selbst. Maßgeblich sind die Perspektiven in K, die von den Rezipienten in K als solche anerkannt werden. Eine wichtige Restriktion scheint mir dabei eine gewisse Präferenz für Perspektiven, die für Dramatik und Narrativität sprechen, zu sein. Tokens instantiieren die Eigenschaft Narrativität demnach, wie in (N ) formuliert, absolut. (Allerdings müssen in (N ) die Bezugnahmen auf Re-
_____________ 41 Quantorenrestriktionen nehmen wir oft implizit vor. Wenn ich in meinen Kühlschrank sehe und meinen Freunden mitteile: „Es gibt kein Bier mehr“, behaupte ich nicht, es gebe nirgendwo in der Welt mehr Bier.
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zipienten als implizit auf die maßgeblichen Rezipienten beschränkt begriffen werden.) Es bleibt jedoch der zweite Teil meiner Antwort auf die Frage nach der Relativität von Narrativität zu erläutern. In Bezug auf Typ-Narrationen plädiere ich, wie gesagt, für die relative Lesart. Ein solcher Typ ist, genauer gesagt, relativ zu genau den Kontexten narrativ, in denen seine Tokens gemäß (N ) absolut narrativ wären. Ich vermag nicht zu sehen, welche andere Lösung es geben könnte. Narrativität im von mir bevorzugten Sinne erfordert u. a. bestimmte kontextrelative Eigenschaften, die kein Abstraktum haben kann. Losgelöst von speziellen Rezipienten, ihren Voraussetzungen und ihrer Anteilnahme ist nichts narrativ. Selbst dann, wenn eine bestimmte Typ-Narration relativ zu allen möglichen Kontexten in dieser Welt narrativ wäre, wäre sie eine universale, nicht aber eine absolute Narration. Dieser Konsequenz kann man ihren etwaigen Stachel durch den Hinweis nehmen, dass die meisten unserer Narrationen in den meisten Kontexten narrativ wären. Dies liegt an der großen Übereinstimmung in dem, wovon alle Kulturen und Zeiten erzählen. Die strukturalistische Idee einer universalen Grammatik narrativer Ereigniskonfigurationen ist zumindest insofern plausibel, als die elementaren Bausteine unserer Erzählungen sich auch material gleichen. Das, wovon wir erzählen, ist oft an fundamentale und allgemeine Probleme menschlicher Existenz gebunden. Daher erschließt sich seine Dramatik den meisten Menschen zu den meisten Zeiten zumindest im Prinzip. Tod, Begehren, Freundschaft, Liebe, Verrat usw. sind interkulturell und transhistorisch relevant, und sie bilden die Hauptthemen vieler Narrationen. Auch wenn Geschichten im Typsinne also nur relativ narrativ sind, ist diese Relativität doch nur selten bemerkbar. Hiermit schließe ich dieses Kapitel endgültig ab. Mit den erzielten Resultaten kann ich mich nun der abschließenden Verteidigung der These DNT zuwenden.
Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration § 32. Einleitung In diesem letzten Hauptteil des Buches geht es darum, die Ergebnisse der beiden vorhergehenden Teile zusammenzufügen. Dies wird schließlich meine These bestätigen. In Teil I habe ich behauptet, dass es zum Gehalt unseres Begriffs der Person gehört, dass wir von Personen bestimmte Einstellungen erwarten. Wir betrachten es als Teil eines nicht-defizitären personalen Lebens, dass eine Person sich praktisch an dem orientiert, was sie im emphatischen Sinne wirklich will. Solche Einstellungen der Identifikation haben Rechtfertigungsbedingungen. Deshalb gehen sowohl Subjekte von Identifikationen als auch intersubjektive Kritiker derselben bestimmte Begründungslasten ein. Diese müssen sie explizit machen und einlösen können. Insbesondere gilt: Es ist nur dann gerechtfertigt, dass eine Person sich mit einer Einstellung identifiziert, wenn bestimmte Überzeugungen über ihre Geschichte gerechtfertigt sind. Sowohl die Person selbst als auch intersubjektive Beurteiler müssen daher bestimmte biographische Überzeugungen vertreten. Subjekte von Identifikationen haben darüber hinaus schließlich auch bestimmte wertende Einstellungen zu Teilen ihrer Geschichte. Sie müssen sich im Kontext einer Geschichte wichtiger Anliegen situieren. In Teil II habe ich dann notwendige und hinreichende Bedingungen für Narrativität ausformuliert. Das wichtigste Ergebnis lautete: Beschreibungen von zeitlich geordneten und intelligibel verknüpften Ereignissen sind nur Narrationen, wenn diese Ereignisse die richtige Art von Bedeutsamkeit für Rezipienten der Beschreibungen haben. Hier zeige ich nun, dass die biographischen Einstellungen von Subjekten und intersubjektiven Kritikern von Identifikationen diese Bedingungen erfüllen. Für die Subjekte argumentiere ich, dass die biographischen Überzeugungen und Wertungen, die mit ihrer Identifikation verknüpft sind, Narrativität konstituieren. Wer sich gerechtfertigt mit einer Einstellung identifiziert, nimmt auf eine Geschichte Bezug, die für ihn die Art von Bedeutsamkeit hat, die Narrationen auszeichnet. Kurz: Subjekte von Identifikationen müssen sich im Kontext dramatischer Erzählungen über ihre Geschichte situieren.
§ 33. Was ist es genau, das narrativ sein soll?
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Auch für intersubjektive Kritiker von Identifikationen wird sich ein solcher Befund verteidigen lassen. Allerdings ist hier eine Einschränkung zu beachten: Man kann eine Person, die sich mit einer Einstellung identifiziert, natürlich auch deshalb kritisieren, weil diese Einstellung überhaupt keine Rolle in ihrer Geschichte spielt. Dazu bedarf es zwar trotzdem biographischer Überzeugungen; aber diese konstituieren keine Geschichten. Doch zumindest affirmative intersubjektive Urteile über Identifikationen legen den Urteilenden auf narrative Einstellungen fest. Das Problem, das in diesem Zusammenhang vor allem zu lösen ist, ist folgendes: Wir können von intersubjektiven Beurteilern nicht erwarten, dass sie der Geschichte des Subjekts die emotionale Bedeutung beimessen, die wir bei diesem selbst voraussetzen dürfen. Dies nenne ich das Problem der mangelnden emotionalen Signifikanz im intersubjektiven Falle. Auch dieses Problem wird sich aber als lösbar erweisen. Das also ist das verbleibende Programm: Es ist zu zeigen, dass die biographischen Einstellungen, um die es in Teil I geht, nach Maßgabe der Kriterien in Teil II Narrationen sind. Wenn sich dieses Programm erfüllen lässt, wird meine These begründet sein: Wir erwarten von Personen aus begrifflichen Gründen bestimmte Einstellungen, und diese Einstellungen bedürfen der Rechtfertigung durch Geschichten. Auch die Relevanz von Narrationen für unsere Praxis wird so in einem ihrer Aspekte verständlich: Wir benötigen Geschichten, um zu verstehen, wer wir sind und was unsere wirklichen Anliegen sind.
§ 33. Was ist es genau, das narrativ sein soll? Es geht nun also darum, zu belegen, dass bestimmte Entitäten die Bedingungen für Narrativität erfüllen, die im letzten Teil rekonstruiert wurden. Welche Entitäten sind es aber genau, die als narrativ erwiesen werden müssen, damit meine These bestätigt ist? Zunächst einmal lässt sich festhalten, dass es Überzeugungen über Ereignisse in der Lebensgeschichte einer Person sein sollen. Denn solche Überzeugungen sind es ja, auf die Subjekte von Identifikationen ebenso festgelegt sind wie intersubjektive Kritiker. Es lässt sich aber noch mehr sagen: Das, worauf diese Akteure festgelegt sind, sind Überzeugungen über die lebensgeschichtliche Karriere von Einstellungen. An früherer Stelle wurde bereits gesagt, welche Ereignisse im Leben einer Person zu einer solchen Karriere zählen: Es sind die, die der fraglichen Einstellung intentional korrespondieren, sowie deren Antezedenzien. Ich nenne die Menge der Überzeugungen, die ein Akteur A zu einer Zeit t über Ereignis-
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
se in der lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung ψ eines Akteurs B (möglicherweise identisch mit A) hat, As Konzeption dieser Karriere von ψ zu t. Eine solche Konzeption umfasst dabei nicht nur bewusste Überzeugungen von A zu t. Sie enthält alle Überzeugungen, die A zu t explizit machen und verteidigen würde, wenn es um Fragen der lebensgeschichtlichen Karriere von ψ ginge. In dieser Begrifflichkeit kann man sagen, dass es im Folgenden um die Frage der Narrativität solcher Konzeptionen gehen muss. Auch dies beschreibt meine Aufgabe jedoch nicht genau genug. Denn damit meine These zutrifft, ist es natürlich nicht erforderlich, dass jede Konzeption, die irgendwer irgendwann über die Geschichte irgendeiner Einstellung von irgendwem hat, narrativ ist. Welche Konzeptionen haben wir also zu prüfen? Kurz gesagt: Diejenigen, die Identifikationen rechtfertigen können. Denn diese sind es ja, von denen meine These spricht: Nicht irgendwelche faktischen biographischen Überzeugungen von Personen sind ihr zufolge narrativ. Vielmehr sind es die, auf die Personen festgelegt sind, weil sie zur Rechtfertigung ihrer Identifikationen erforderlich sind. Anders gesagt: Meine These ist, dass das, was wir von Personen als rechtfertigende Gründe fordern dürfen, narrativ ist. Auch für meine intersubjektivitätstheoretische Erweiterung der These gilt dies: Es geht darum, dass die Überzeugungen narrativ sind, die gerechtfertigt sein müssen, damit eine affirmative Stellungnahme zu einer Identifikation gerechtfertigt ist. (Ich habe ja bereits darauf hingewiesen, dass diese Erweiterung der These für den intersubjektiven Fall sich auf affirmative Urteile wird beschränken müssen.) Dies schränkt die Liste der Überzeugungssysteme, deren Narrativität hier zu prüfen ist, bereits erheblich weiter ein. Nun haben meine Ausführungen im ersten Teil einiges darüber ergeben, welche Überzeugungen gerechtfertigt sein müssen, damit Identifikationen (und affirmative Stellungnahmen zu ihnen) gerechtfertigt sind. Zunächst einmal gilt: Eine Identifikation mit einer Einstellung ist nur dann gerechtfertigt, wenn es gerechtfertigt ist, zu glauben, dass diese Einstellung authentisch ist. Und dies bedeutet wiederum, wie ich behauptet habe: Es muss gerechtfertigt sein, zu glauben, dass diese Einstellung oder hinreichend viele weitere Einstellungen des Subjekts lebensgeschichtlich eingebunden ist bzw. sind. Es muss also beispielsweise gerechtfertigt sein, zu glauben, dass die lebensgeschichtliche Karriere dieser Einstellung sie als verlässlich, akzeptabel bedingt und deliberativ robust ausweist, oder dass es biographische Gründe für sie gibt, oder beides, oder anderes. Das heißt aber: Ich muss zeigen, dass die Konzeptionen der lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung, die derlei beinhalten, narrativ sind. Zu zeigen ist also: Jede Konzeption der Karriere einer Einstellung, die be-
§ 34. Biographische Konzeptionen und ihre Verbalisierungen
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inhaltet, dass diese lebensgeschichtlich eingebunden ist, ist narrativ. Lässt sich dies verteidigen, ist meine These gerechtfertigt. Eine Identifikation mit einer Einstellung ist ja nur gerechtfertigt, wenn wir gerechtfertigt glauben dürfen, dass diese Einstellung (oder andere) biographisch eingebunden ist (sind). Und wenn nun Überzeugungen, die ebendies beinhalten, in der Tat narrativ sind, ergibt sich: Identifikationen sind Einstellungen, deren Rechtfertigung davon abhängt, dass wir bestimmte Geschichten kennen und erzählen können. Und dies bestätigt meine These. Ich werde in der folgenden Diskussion in einer harmlosen Hinsicht vereinfachen. Die Rechtfertigung einer Identifikation mit einer Einstellung setzt ja nicht voraus, dass wir diese Einstellung als biographisch eingebunden ansehen dürfen. Es ist auch möglich, dass diese Einstellung mit weiteren Einstellungen einen kohärenten Zusammenhang bildet, die ihrerseits dergestalt eingebunden sind. Ich werde im Folgenden jedoch vorwiegend vom unmittelbaren Fall reden. Ich werde also in vielen Beispielen so reden, als ob eine Identifikation direkte lebensgeschichtliche Einbindung erfordert. Damit treffe ich keine unzulässigen Vorentscheidungen, sondern vereinfache die Diskussion etwas. Ich erspare mir und dem Leser also einige lange differenzierende Klammerbemerkungen.
§ 34. Biographische Konzeptionen und ihre möglichen Verbalisierungen Die Frage lautet nun also: Sind Mengen von Überzeugungen, die beinhalten, dass eine bestimmte Einstellung eines Akteurs lebensgeschichtlich eingebunden ist, Narrationen? Ein erstes Hindernis auf dem Weg zur positiven Beantwortung dieser Frage ist dieses: Bisher war nicht davon die Rede, ob Überzeugungen überhaupt zur Klasse der Entitäten zählen, die narrativ sein können. Eine wichtige Frage lautet daher: Gibt es so etwas wie gedachte oder mentale Narrationen? Zunächst einmal kann ich nicht sehen, was dagegen spricht. Es scheint ein durchaus vertrautes Phänomen zu sein, dass wir uns Geschichten denken oder sie uns im Geiste ausmalen können. Und sofern es um Geschichten geht, die wir für wahr halten, sind die Konstituenten dieser Geschichten eben Überzeugungen. Generell können wir den Inhalt von Gedanken und Überzeugungen oft ohne große Umstände in Form von Sätzen ausdrücken und vice versa. (Das bedeutet nicht, dass wir jederzeit genau sagen können, was wir denken.) In Anbetracht dessen könnte eine adäquate Erweiterung von (N ) wie folgt aussehen. Man könnte definieren:
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
Eine Menge von Überzeugungen, die ein Akteur in einem bestimmten Kontext hat, instantiiert genau dann Narrativität, wenn es eine Menge von Sätzen gibt, so dass gilt: Tokens dieser Sätze würden diese Überzeugungen in diesem Kontext ausdrücken, und sie wären in diesem Kontext narrativ gemäß (N ). Man könnte sich dies z. B. wie folgt vorstellen: Die Sätze müssten in einer bijektiven Zuordnung zu Elementen der Überzeugungsmenge stehen, so dass Tokens derselben den zugeordneten Elementen in ihrem semantischen Gehalt äquivalent sind. Wir müssten dann also einfach prüfen, ob für die biographischen Überzeugungen, deren Narrativität in Frage steht, gilt, dass die ihnen korrespondierenden Äußerungen in ihrem Kontext narrativ wären. Dieses Vorgehen beruht aber eben auf der Annahme, dass es mentale Narrationen gibt. Doch selbst wenn man sich auf diese (durchaus plausible) Annahme nicht einlassen möchte, ist dieser Weg der richtige, um DNT zu verteidigen. Wenn man die Annahme nämlich ablehnt, besteht der einzige Weg, die These DNT überhaupt in gehaltvoller Form zu vertreten, ohnehin darin, Folgendes zu behaupten: Die biographischen Überzeugungen, auf die uns Identifikationen festlegen, wären narrativ, wenn sie in Form von Sätzen (oder anderen semiotischen Vehikeln) ausgedrückt würden. Wäre diese konditionale Behauptung aber nicht eine vollständige Preisgabe der Substanz von DNT? Nein. Erstens wäre sie noch immer eine sehr anspruchsvolle These. Und zweitens ist es ja Teil meiner Behauptung, dass jene biographischen Überzeugungen zur intersubjektiven Rechtfertigung dienen können müssen. Und dazu müssen wir sie explizit machen und ausdrücken können. Das Antezedens der konditionalen Behauptung spezifiziert also nicht nur eine zu vernachlässigende, spezielle Bedingung, sondern einen Fall, der in unserer Praxis zentral ist. Die Substanz der These, dass Identifikationen uns auf Rechtfertigungen durch Geschichten verpflichten, bliebe also in jedem Falle erhalten. Daher konzentrieren sich meine nachfolgenden Ausführungen in der Tat auf die Frage der Narrativität von Äußerungsmengen. Ich werde dies als einen Weg verstehen, zu zeigen, dass die durch sie ausgedrückten Einstellungen narrativ sind. Der Begriff einer mentalen oder gedachten Narration erscheint mir unproblematisch. Wer dies aber anders sieht, der mag die folgenden Ausführungen in der abgeschwächten Version nehmen. In jedem Falle ist es sinnvoll, Genaueres darüber zu sagen, welches die Äußerungen sind, deren Narrativität wir zu prüfen haben. Nennen wir die Menge von Überzeugungen, die ein Akteur A zu t von der lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung ψ hat, Kψ. Dann gibt es eine Menge Sψ von Typ-Sätzen, die die folgende Bedingung erfüllt:
§ 34. Biographische Konzeptionen und ihre Verbalisierungen
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Für alle Propositionen p: Der Satz, dessen Äußerung durch A zu t bedeutet, dass p, ist genau dann Element von Sψ, wenn die Überzeugung, dass p, Element von Kψ ist. Nun soll es hier um Äußerungen in Kontexten gehen, also um Satztokens. Dennoch habe ich mit Sψ eine Menge von Typ-Sätzen spezifiziert. Dies hat den Vorteil, dass ich nicht unmittelbar von möglichen Tokens oder dergleichen sprechen muss. Ich will ja prüfen, ob bestimmte Überzeugungsmengen als narrativ gelten können, indem ich prüfe, ob ihre Verbalisierung eine Geschichte konstituieren würde. Dazu muss ich fragen, was der Fall wäre, wenn das Subjekt dieser Überzeugungen bestimmte Sätze äußern würde. Dabei könnte ich entweder unmittelbar von möglichen Äußerungen sprechen, oder eben von den Sätzen (Satztypen), die dergestalt geäußert werden würden. Mir schien letztere Herangehensweise eleganter zu sein, aber ich hätte ebenso gut die erstere wählen können. Zweck der Bedingung ist es ja, mit Sψ die Menge von Sätzen herauszugreifen, für die gilt: Tokens von Sψ würden genau das sagen, was ein Akteur in einem bestimmten Kontext über die lebensgeschichtliche Karriere von ψ denkt. Einige Anmerkungen zum Verständnis des Wortlauts der Bedingung: Zuerst einmal sind Propositionen feinkörnig zu individuieren. Würden sie nämlich grobkörnig (z. B. als Mengen möglicher Welten) individuiert, käme eine Vielzahl von nicht-synonymen Sätzen infrage, die dieselben Propositionen ausdrücken. Die Bedingung spezifizierte also viele distinkte Mengen Sψ. Stattdessen sollten wir Propositionen durch das fregesche Kriterium der kognitiven Signifikanz (in Freges Worten: der Möglichkeit eines „Erkenntniswerts“) individuieren: Dass-p und Dass-q denotieren demnach genau dann distinkte Propositionen, wenn es für einen rationalen Akteur möglich ist, p und q verschiedene Wahrheitswerte zuzuweisen. 1
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Eben genau so, wie es sich bei „Die Venus ist der Abendstern“ und „Die Venus ist der Morgenstern“ verhält, vgl. Frege (1962) und (1976). Ich behaupte nun nicht, dass eine fregeanische Individuation propositionaler Gehalte allgemein die korrekte Herangehensweise in der Semantik und in der Philosophie des Geistes ist. Vielmehr ist sie hier ein heuristisches Mittel: Fasst man Propositionen nämlich dergestalt feinkörnig auf, dann lässt sich eben umstandslos in der soeben angegebenen Weise die Menge von Sätzen S ψ definieren, mit denen ein Akteur zu einem Zeitpunkt seinen Überzeugungen über die Geschichte von ψ Ausdruck verleihen kann. Auch hier vereinfache ich natürlich noch. Es gibt noch immer verschiedene Typ-Sätze, die nach Maßgabe einer fregeanischen Individuation synonym sind, so dass noch immer nicht die Satzmenge Sψ definiert ist, sondern verschiedene Mengen, die dem angegebenen Kriterium genügen. Da es sich jedoch um Mengen synonymer Typ-Sätze handelt, ist das Problem kein gravierendes. Der Genauigkeit halber aber sei angemerkt, dass wir S ψ eher als eine Menge von Äquivalenzklassen synonymer Typ-Sätze definiert haben, wobei diese Äquivalenzklassen in einer bijektiven Zuordnung zu den Elementen von
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
Eine zweite wichtige Anmerkung ist diese: Die vorgeschlagene Bedingung definiert eine Äquivalenz zwischen Äußerungen von Sätzen und Überzeugungen eines Akteurs zu einem Zeitpunkt. So ist es auch möglich, indexikalischen Überzeugungen in Kψ entsprechende indexikalische Sätze in Sψ zuzuordnen. Diese sind den ersteren relativ zu dem Index aus Sprecher und Zeitpunkt im strengen, fregeanischen Sinne äquivalent. 2 Ich kann meine Frage nun wie folgt präzisieren: Angenommen, ein Akteur A hat zu einer Zeit t eine Konzeption Kψ der biographischen Karriere einer Einstellung ψ. Und Kψ beinhaltet, dass ψ lebensgeschichtlich eingebunden ist. Wäre eine Äußerung der Sätze in der korrespondierenden Satzmenge Sψ durch A zu t dann eine Narration gemäß (N )? Nachdem ich die Frage dergestalt auf mögliche Äußerungen verlagert habe, bin ich in einer Position, sie zu beantworten. Denn Äußerungen sind es eben, für die Narrativität in (N ) definiert ist. Dabei hatte sich erwiesen, dass es gute Gründe gab, so zu verfahren. Narrativität ist nämlich eben nicht nur eine grammatische und semantische Eigenschaft, die sich auch an Typ-Sätzen hätte erklären lassen. Sondern sie hat eine pragmatische Dimension, beruht also auf Merkmalen, die nur Satzvorkommnisse in Kontexten haben. Ich habe nun zu prüfen, ob die Tokens, die soeben spezifiziert wurden, diese semantischen, syntaktischen und pragmatischen Eigenschaften aufweisen. Speziell wird zu prüfen sein, ob sie nicht nur bestimmte Ereignissequenzen beschreiben, sondern ob die beschriebenen Ereignisse auch die richtige Dramatizität im Äußerungskontext hätten. Bevor ich dies zeigen kann, muss ich zunächst auf eine generelle Anforderung an solche Konzeptionen eingehen, die noch nicht genannt wurde: Sie dürfen nicht nur atomistisch sein. Es gibt minimale Komplexe
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Kψ stehen. Zur Abhilfe könnte man entweder die Bedeutungen von Sätzen und die Gehalte von Einstellungen in einer noch feineren Weise individuieren, die z. B. auch sensitiv für Unterschiede der syntaktischen Struktur ist (man könnte Propositionen also z. B. mit sogenannten interpretierten logischen Formen identifizieren, siehe Larson und Ludlow (1993), oder mit iterativen Funktionen über möglichen Welten, wie z. B. D. Lewis es in (1983d) für Bedeutungen vorschlägt). Oder man könnte festlegen, dass S ψ eine Menge sein soll, die genau ein beliebiges Element aus jeder der Klassen von synonymen Sätze enthält, die durch das obige Kriterium definiert wurden. Hätten wir die Äquivalenzbedingung hingegen unmittelbar für die (Typ-)Sätze in Sψ formuliert, so wären Sätze mit indexikalischen Ausdrücken semantisch partiell uninterpretiert gewesen. (Der Satz „Ich bin hier“ hat als Typ, in D. Kaplans (1989) Begriffen, einen character, aber keinen content.) Oder die Typsätze, die den Elementen in Kψ unmittelbar hätten äquivalent sein sollen, hätten Kennzeichnungen oder andere koreferentielle Substitute für alle indexikalischen Konzepte, die Teil der Gehalte der Einstellungen in Kψ sind, enthalten müssen. Solche Substitute sind aber, wie v. a. Castañeda (1966) und Perry (1979) gezeigt haben, nach dem Kriterium der kognitiven Signifikanz nicht semantisch äquivalent mit indexicals.
§ 34. Die kleinsten Einheiten lebensgeschichtlicher Einbindung
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aus lebensgeschichtlichen Ereignissen, die sie als solche zum Gegenstand machen müssen. Diese Komplexe nenne ich Episoden.
§ 35. Die kleinsten Einheiten lebensgeschichtlicher Einbindung: Episoden Als „Episoden“ will ich im Folgenden die kleinsten Einheiten lebensgeschichtlicher Einbindung bezeichnen. Das heißt: Es sind solche Episoden, nicht einzelne Ereignisse, mit denen wir uns befassen müssen, wenn wir gerechtfertigt glauben sollen, dass eine Einstellung lebensgeschichtlich eingebunden ist. Wenn sich zeigen lässt, dass solche Komplexe die kleinsten Einheiten lebensgeschichtlicher Einbindung sind, dann sind wir einen gehörigen Schritt weiter. Es wird nämlich deutlicher werden, welche Struktur die biographischen Konzeptionen haben, auf die Identifikationen uns festgelegen. Und es wird sich auch leichter zeigen lassen, dass diese Konzeptionen Geschichten sind. Nun wurden in Teil I keine notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür formuliert, dass eine Einstellung lebensgeschichtlich eingebunden ist. Es wurden nicht einmal alle relevanten Faktoren benannt. Dennoch lassen meine Ausführungen einige allgemeine Aussagen zu. Insbesondere erlauben sie den Schluss, dass eine Kenntnis der Ereignisse, die einer Einstellung intentional korrespondieren, nicht hinreicht, um deren lebensgeschichtliche Einbindung zu beurteilen. Wir müssen nicht nur die Handlungen, Entschlüsse und bewussten Episoden kennen, in denen sie eine Rolle spielt. Außerdem müssen wir wissen, wie es zu diesen Handlungen, Entschlüssen und Gedanken kam. Wir müssen also die Antezedenzien intentional korrespondierender Ereignisse kennen. Sonst könnten wir nicht die akzeptable Bedingtheit und deliberative Robustheit der Einstellung in der Geschichte des Akteurs beurteilen. Ebensowenig wüssten wir zu sagen, ob zu den Antezedenzien in der Karriere dieser Einstellung besondere biographische Gründe zählen. Mithin könnten wir nicht beurteilen, ob sie lebensgeschichtlich eingebunden ist. Soviel haben meine skizzenhaften Ausführen in Teil I allemal ergeben. Was immer sonst also für oder gegen die lebensgeschichtliche Einbindung einer Einstellung spricht: Wenn wir nicht ausschließen können, dass wir nur gezwungen wurden, sie zu verfolgen, oder dass wir sie nur gedankenlos verfolgt haben, oder dass es ein Ereignis gegeben hat, das ihr eine besondere Bedeutung verleiht, so wissen wir nicht, ob diese Einstellung durch unsere Geschichte als unsere wirklich eigene ausgewiesen wird.
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
Das heißt, dass wir mindestens auf Komplexe aus intentional korrespondierenden Ereignissen und ihren Antezedenzien Bezug nehmen müssen. Es liegt also nahe, solche Komplexe als die kleinsten Einheiten lebensgeschichtlicher Einbindung zu qualifizieren. Es zählt aber noch mehr zu diesen kleinsten Einheiten. Um dies zu zeigen, muss ich daran erinnern, wie der Begriff eines lebensgeschichtlichen Antezedens definiert wurde. Ein Ereignis a ist genau dann ein Antezedens eines Ereignisses e, wenn a vor e stattfindet, und wenn e ohne a nicht stattgefunden hätte, und wenn aber drittens auch gilt: Wir würden urteilen, dass, wenn e nicht stattgefunden hätte, zuvor wohl auch a nicht stattgefunden hätte. Ich hatte dieses letztere backtracking conditional in intuitiver Weise wie folgt ausgedrückt: Antezedenzien von e sind genau die Ereignisse, die unter den naheliegendsten Umständen, unter denen e hätte ausbleiben können, auch gefehlt hätten. Dann aber kann man auf ein Antezedens a eines Ereignisses e nicht als solches Bezug nehmen, ohne auf einen weiteren Teil der Vorgeschichte von e Bezug zu nehmen. Wir verstehen a nur dann als ein Antezedens von e, wenn wir urteilen, dass die Dinge, wie sie vor a lagen, leicht einen Fortgang hätten nehmen können, der nicht zu e geführt hätte. Nur wenn wir uns die Vorgeschichte von e als in einem bestimmten Maße neutral gegenüber dem Eintreten von e denken, können wir a als eine entscheidende notwendige Bedingung für e begreifen. (Solche entscheidenden notwendigen Bedingungen sind es ja, die hier „Antezedenzien“ heißen.) Wenn wir also auf die Antezedenzien von e als solche Bezug nehmen, dann müssen wir auch auf einen weiteren Teil der Vorgeschichte von e Bezug nehmen, der nicht ohne weiteres zu e hätte führen müssen. Diese Vorgeschichte kann man als „e-neutrale Vorgeschichte“ eines Ereignisses e bezeichnen. Mein Vorschlag für die Definition von Episoden als kleinsten Einheiten lebensgeschichtlicher Einbindung wird also etwa so lauten: Episoden bestehen aus einem intentional korrespondierenden Ereignis e, seinen Antezedenzien und einem Teil der e-neutralen Vorgeschichte. Kann man etwas genauer sagen, was die e-neutrale Vorgeschichte eines Ereignisses e ist? Man könnte zunächst sagen, dass die e-neutrale Vorgeschichte eines Ereignisses e alle Ereignisse umfasst, die vor e stattfinden, abzüglich der Antezedenzien von e. In Begriffen der Semantik kontrafaktischer Aussagen (anhand derer wir Antezedenzien ja herausgreifen): Betrachten wir die Menge möglicher Welten W¬e, die genau die Welten umfasst, in denen e nicht stattfindet, die aber der aktualen Welt sonst so ähnlich wie möglich sind. Dann sind Antezedenzien per definitionem genau die Ereignisse, die in der tatsächlichen Welt vor e stattfinden, aber nicht in allen Welten in W¬e. Die e-neutrale Vorgeschichte hingegen umfasst dann
§ 35. Die kleinsten Einheiten lebensgeschichtlicher Einbindung
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genau die Ereignisse, die in der tatsächlichen Welt vor e stattfinden und die zugleich in allen Welten in W¬e stattfinden. Nun können wir zu Episoden nicht Ereignisse, ihre Antezedenzien und ihre ganze neutrale Vorgeschichte zählen. Denn dann umfasste eine Episode die ganze Vorgeschichte eines Ereignisses (mindestens bis zum Big Bang). Wir benötigen etwas Bescheideneres: Episoden müssen eine Ausgangssituation umfassen, die dem korrespondierenden Ereignis und seinen Antezedenzien vorausgeht und die neutral in Bezug auf das korrespondierende Ereignis ist. Ausgangssituationen zu einem Ereignis e sind Bruchteile der e-neutralen Vorgeschichte. Dabei ist der Begriff der Ausgangssituation vage im Hinblick auf seine zeitliche Erstreckung: Es ist klar, dass die Ausgangssituation einer Episode so, wie ich sie verstehe, mit dem Eintreten des frühesten Antezedens endet. Aber wo genau beginnt sie? Es erscheint mir an dieser Stelle nur natürlich, die zeitliche Erstreckung einer Ausgangssituation unbestimmt zu lassen. Dies ist folgendermaßen möglich: Man nehme zunächst die Menge aller Ereignisse in der Geschichte einer Person A, die vor einem Ereignis e stattfinden, abzüglich der Antezedenzien von e. Dann kann man aus dieser Menge die Potenzmenge bilden (also die Menge aller ihrer Teilmengen). Aus dieser kann man wiederum genau die Teilmengen herausgreifen, die kontinuierliche Sequenzen von Ereignissen umfassen, welche mit dem Eintreten des ersten Antezedens enden. Diese Teilmengen sind mögliche Kandidaten für Ausgangssituationen zu e. Sie unterscheiden sich dabei in ihrem zeitlichen Umfang stark. Ich schlage nun vor, diese Kandidaten als äquivalent zu behandeln. Wenn man die Menge dieser Kandidaten Δ nennt, dann kann man fordern, dass eine Episode um ein Ereignis e neben e und den Antezedenzien von e auch eine Ausgangssituation in Form eines beliebigen Elements aus Δ umfassen muss. Noch einmal offiziell: Eine lebensgeschichtliche Episode um ein Ereignis e ist ein Tripel <e, A, s>, das neben e die Menge A der Antezedenzien von e und eine Ausgangssituation s ∈ Δ umfasst. Da es verschiedene Kandidaten für s gibt, gibt es auch verschiedene Episoden um e, die ich im Folgenden aber als äquivalent behandeln werde. Eine Anmerkung ist hier allerdings noch nötig: Indem ich lebensgeschichtliche Episoden als geordnete Tripel definiere, definiere ich sie als mengentheoretische und mithin als extensionale Entitäten. Man mag es jedoch natürlicher finden, Episoden als intensionale Gegenstände anzusehen, die nicht nur anhand ihrer Teile spezifizierbar sind. Dieselbe Menge von Ereignissen kann doch, so mag man sagen, ganz unterschiedliche
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
sinnhafte Episoden konstituieren. Hier ist jedoch Missverständnissen vorzubeugen: Episoden sind hier nicht als Teile von Narrationen zu verstehen, sondern als Komplexe von Ereignissen, von denen Narrationen handeln. Eine Episode ist ein Teil der Geschichte eines Akteurs, aber sie ist Gegenstand von Narrationen über seine Geschichte. Solche Komplexe von Ereignissen kann man verschieden auffassen. Aber im Unterschied zu den semantischen Entitäten, die man auch „Episoden“ nennen kann (eben Teilen von Geschichten über Ereignisse), muss man Episoden in unserem Sinne nicht intensional auffassen. Und es ist hier am einfachsten, sie als extensionale Entitäten zu definieren, von denen verschiedene Geschichten (und deren „Episoden“) handeln können. Ich fasse kurz zusammen: Konzeptionen der Karriere einer Einstellung, die beinhalten, dass diese lebensgeschichtlich eingebunden ist, können nicht nur auf einzelne Ereignisse Bezug nehmen. Sie müssen vielmehr auf Komplexe von Ereignissen referieren, die ich Episoden nenne. Dies liegt einfach daran, dass lebensgeschichtliche Einbindung auch von Antezedenzien abhängt. Indem wir jedoch auf Antezedenzien als solche Bezug nehmen, vertreten wir ipso facto auch ein bestimmtes Verständnis der vorhergehenden Lage der Dinge. Deshalb sind die kleinsten biographischen Einheiten, über die wir Überzeugungen haben müssen, eben Episoden. Denn sie umfassen Ereignisse, deren Antezedenzien und die Lage der Dinge vor dem Eintreten derselben. Es mag nicht direkt offensichtlich sein, aber mit diesem Ergebnis bin ich meinem Ziel bereits ein gutes Stück näher gekommen. Was ich zu zeigen habe, ist ja dies: Konzeptionen der lebensgeschichtlichen Karriere einer Einstellung, die beinhalten, dass dieselbe lebensgeschichtlich eingebunden ist, sind narrativ. (Bzw.: Äußerungen, die ihnen Ausdruck verleihen würden, wären Narrationen.) Und ich habe soeben immerhin gezeigt, dass solche Konzeptionen bestimmte komplexe biographische Strukturen zum Gegenstand haben müssen. Um also die Rechtfertigung einer Identifikation zu bestätigen, müssen wir über komplexe Episoden aus der Lebensgeschichte ihres Subjekts sprechen. Nach dieser Vorarbeit kann ich mich nun schließlich den einzelnen Konditionen der Definition (N ) zuwenden. Dabei ist zu zeigen, inwiefern die fraglichen Konzeptionen (bzw. ihre möglichen Verbalisierungen) diese Bedingungen tatsächlich erfüllen.
§ 36. Konzeptionen, grammatische und semantische Bedingungen
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§ 36. Biographische Konzeptionen und die grammatischen und semantischen Bedingungen für Narrativität Sei Kψ wieder die Konzeption, die ein Akteur von der Karriere einer (eigenen oder fremden) Einstellung ψ hat. Angenommen Kψ beinhaltet, dass ψ lebensgeschichtlich eingebunden ist. Dann muss Kψ auf Episoden aus der Geschichte des Subjekts von ψ Bezug nehmen. Dafür wurde im vorhergehenden Paragraphen argumentiert. Nun widme ich mich der Frage, ob Kψ (bzw. eine korrespondierende Menge Sψ von Äußerungen im fraglichen Kontext) gemäß (N ) narrativ wären. In diesem Abschnitt beginne ich mit den grammatischen und semantischen Bedingungen in (N ). Meine Antwort auf diesen Teil der Frage wird affirmativ ausfallen. Aber ich muss ankündigen, dass diese Antwort nicht in der detaillierten Form begründet wird, in der dies bei genügend Raum möglich wäre. Dies liegt daran, dass die grammatischen und semantischen Bedingungen letztlich nicht diejenigen sind, die wirklich problematisch sind. Ich würde einem Kritiker wie P. Lamarque Recht geben, dass dieser Teil der Bedingungen für Narrativität ziemlich anspruchslos ist. Das gilt speziell in Anwendung auf unsere Konzeptionen unserer Geschichte: Wann immer temporal quasi-geordnete, sinnhaft verknüpfte und z. T. intentional repräsentierte Ereignisse beschrieben werden, sind diese Bedingungen erfüllt. Es sollte nicht überraschen, dass Konzeptionen eines Teils einer Lebensgeschichte (noch dazu Konzeptionen, die sich thematisch mit der Rolle einer bestimmten Einstellung in dieser Geschichte befassen) diese Bedingungen erfüllen. Gleichwohl ist diese Erkenntnis nicht gänzlich trivial. Für die grammatischen Bedingungen ergibt sich ein Problem: Die Menge Sψ von Sätzen, deren Tokens in ihrem Kontext der Konzeption Kψ korrespondieren würden, wurden so definiert, dass sich keine Vorgaben für deren grammatische Form ergeben. Aber auch nach Maßgabe fregeanischer Kriterien haben semantisch äquivalente Sätze verschiedene grammatische Realisierungen. Daher ist nicht gewährleistet, dass Verknüpfungen (Satzkonjunktionen, anaphorische Wiederaufnahme etc.) vorliegen, die aus den Tokens von Sψ eine transphrastische Einheit machen. Es gibt jedoch eine plausible und anderweitig harmlose Zusatzbedingung, die wir formulieren können, aus der genau dies folgt. Sie lautet, dass Sψ nicht nur Elemente enthalten muss, deren Tokens den Elementen in Kψ eineindeutig zugeordnet und jeweils semantisch äquivalent sind. Zudem muss Sψ so beschaffen sein, dass diese Tokens für normal ausgestattete Hörer verständlicher Weise einer Konzeption Ausdruck verleihen. Mit dieser Zusatzbedingung sind keine Forderungen an Äußerungen verbunden, die ungewöhnlich wären und nur der Bestätigung meiner These dienten. Vielmehr scheint mir, dass
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
sie implizit bereits ein Teil der Idee einer Verbalisierung einer Menge von Einstellungen ist. Daher ist diese Zusatzannahme also sicherlich plausibel. Wie verhält es sich mit den semantischen Bedingungen, die (N ) für Narrationen formuliert? Bei der Beantwortung dieser Frage ist erneut Folgendes zu bedenken: Tokens von Sψ drücken eine Konzeption der lebensgeschichtlichen Karriere von ψ aus, die beinhaltet, dass ψ lebensgeschichtlich eingebunden ist. Es wurde bereits dargelegt, dass dies bedeutet, dass Sψ auf Episoden Bezug nehmen muss. Schon dies impliziert, dass Tokens von Sψ die Bedingung der Ereignisreferenz sowie die Diachronizitätsbedingung erfüllen. Auch die Sequenzialitätsbedingung erfüllen sie klarer Weise: Um Antezedenzien und Ausgangssituationen als solche zu identifizieren, muss jede solche Konzeption Kψ (bzw. Tokens von Sψ) Ereignisse in eine temporale Quasiordnung bringen. Ebenfalls muss die Bedingung des Sinnzusammenhangs erfüllt sein. Zwischen Ereignissen, die eine Episode bilden, bestehen zunächst explanatorische Verknüpfungen. Die Antezedenzien erklären, warum es zu einem Ereignis kommt, und die Ausgangssituation erklärt, inwiefern die Antezedenzien tatsächlich Antezedenzien sind. Es gibt aber noch weitere sinnhafte Verknüpfungen innerhalb von Episoden, nämlich solche teleologischer Art. Zumindest für Subjekte von Identifikationen gilt nämlich, wie gesagt, dass sie intentional korrespondierende biographische Ereignisse in bestimmten Weisen bewerten. Sie sind nämlich angestrebte Ziele dieser Subjekte, etwas, das ihnen wichtig ist. Antezedenzien derselben sind daher förderliche oder hinderliche Bedingungen in Bezug auf sie. Ich komme nun zur letzten der semantischen Narrativitätsbedingungen in (N ), der Intentionalitätsbedingung. Erfüllen Tokens von Sψ dieselbe? Zweifellos. Immerhin geht es in ihnen um die biographische Karriere einer Einstellung. Was die Ereignisse, auf die in Sψ referiert wird, gemeinsam haben, ist gerade, dass sie entweder selbst intentionale Ereignisse sind (sie sind eben intentional korrespondierende Ereignisse) oder aber unmittelbar in sinnhaften Relationen zu jenen Ereignissen stehen. Es lässt sich also klar erkennen, dass Tokens von Sψ auch die semantischen Bedingungen für Narrativität erfüllen. So ergibt sich bereits ein wichtiges Teilresultat: Die biographischen Überzeugungen, auf die wir durch Identifikationen festgelegt werden, sind in grammatischer und semantischer Hinsicht Geschichten gemäß (N ). Bis hierher hat es sich als bequem erwiesen, vor allem auf der Ebene einzelner lebensgeschichtlicher Episoden zu argumentieren. Aber so sind die Komplexität und der Umfang biographischer Konzeptionen natürlich gar nicht ganz zu erkennen. Zweifellos muss eine Konzeption, die die biographische Einbindung einer Einstellung bestätigt, auf mehr als nur einzelne Episoden Bezug nehmen. Keine Menge von Überzeugungen, die
§ 36. Konzeptionen, grammatische und semantische Bedingungen
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sich nur auf der Ebene solcher Episoden bewegt, könnte dies leisten. Schon die Varianten lebensgeschichtlicher Einbindung, die ich angesprochen habe, können dies bestätigen: Die lebensgeschichtliche Einbindung einer Einstellung erfordert nicht nur eine Menge akzeptabel bedingter und deliberativ robuster Episoden. Vielmehr müssen diese die richtige diachrone Distribution haben und so eine umfassendere Praxis der richtigen Art konstituieren. Sie müssen also beispielsweise das darstellen, was ich eine verlässliche Praxis genannt habe. Oder sie müssen im Anschluss an bestimmte Ereignisse, die biographische Gründe darstellen, verstärkt und verlässlich auftreten, oder dergleichen. Erneut ist zu betonen, dass meine Ausführungen in diesem Punkt keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Aber zumindest Fragen der diachronen Distribution von Episoden sind wesentliche Aspekte lebensgeschichtlicher Einbindung. Daher muss eine Konzeption wie Kψ auch umfassende diachrone Zusammenhänge beschreiben. Und auch auf dieser umfassenderen Ebene wird Kψ (bzw. Tokens von Sψ) die grammatischen und semantischen Bedingungen zweifellos erfüllen. Dabei ergibt sich eine Besonderheit für sinnhafte Verknüpfungen zwischen Episoden. Es ist ja nicht generell anzunehmen, dass zwischen ihnen explanatorische oder teleologische Zusammenhänge bestehen. Aber: Indem Kψ die einzelnen Episoden als Teile einer umfassenden Praxis beschreibt, werden konstitutive Verknüpfungen zwischen ihnen etabliert. Sie werden als Beiträge zum umfassenden Projekt einer Praxis im Zeichen der Einstellung ψ beschrieben. Dieses umfassendere Projekt ist dabei kein „künstliches“ komplexes Ereignis, das sich für zwei beliebige Ereignisse konstruieren ließe. Vielmehr ist diese umfassende Praxis im Kontext zu t von unabhängigem Interesse. Denn das Wissen darum, ob es so eine Praxis gibt, hat immerhin unmittelbare Implikationen für die Rechtfertigung einer Identifikation mit ψ. Im Folgenden wird es nun um den wirklich schwierigen Teil meiner Aufgabe gehen, an dem sich der Erfolg meiner Argumentation entscheidet. Ich muss mich folgender Frage widmen: Ist eine Konzeption Kψ, die beinhaltet, dass eine Einstellung ψ lebensgeschichtlich eingebunden ist, auch in pragmatischer Hinsicht narrativ? Beschreiben korrespondierende Äußerungen also Ereignisse, die im Kontext zu t in der richtigen Weise überraschend und emotional signifikant, i. e. dramatisch sind? Erfüllen sie also die Dramatizitätsbedingung und die Geschlossenheitsbedingung aus (N )? Diese Frage ist weitaus weniger offenkundig mit „Ja“ zu beantworten. Vielmehr scheint zunächst sogar Skepsis angebracht: Kann es tatsächlich sein, dass wir darauf festgelegt sind, Konzeptionen unserer Geschichte zu haben, die spannend sind und dramatische Entwicklungen aufweisen? Es ist diese pragmatische Dimension, die den Kern des Problems darstellt und an der sich entscheiden wird, ob DNT zu bestätigen ist.
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
Zugleich ist es diese Dimension, die in einer Behandlung des Themas Narrativität oft übersehen wird. Daher gehen Kritiker wie Lamarque fehl, wenn sie aus der Schwäche der grammatischen und semantischen Kriterien für Narrativität schließen, eine narrative Theorie der Personalität sei insgesamt anspruchslos. Narrativität liegt nicht nur darin, wie Ereignisse beschrieben werden. Sondern sie liegt auch darin, wie wir uns wertend und affektiv zu den beschriebenen Ereignissen verhalten. Eine narrativistische Theorie ist insofern anspruchsvoll, als sie behauptet, dass wir uns zur Geschichte von Personen in dieser speziellen Weise wertend und affektiv verhalten. Dies will ich nun zeigen. Dazu schlage ich für das Folgende eine methodische Aufteilung vor. Ich konzentriere mich zuerst allein auf die Frage, ob Konzeptionen des Typs Kψ für Subjekte von Identifikationen in der richtigen Weise bedeutsam sind. Danach werde ich zu zeigen versuchen, dass auch für intersubjektive Beurteiler eine solche Dramatizität besteht. (Zumindest soll es für den Fall gelten, dass sie zu affirmativen Urteilen kommen). Warum diese Aufteilung? Nun, es wurde bereits argumentiert, dass Subjekte von Identifikationen manchen biographischen Ereignissen eine bestimmte evaluative Bedeutung zuweisen. An dieses Ergebnis werde ich anknüpfen. Ich zeige also, dass jenes wertende Verhältnis zur eigenen Geschichte einschließt, bestimmten Ereignissen die richtige emotionale Signifikanz zuzuweisen. Wer sich demnach mit bestimmten Anliegen identifiziert, für den bilden die Teile seiner Lebensgeschichte, die mit diesen Anliegen zu tun haben, dramatische Zusammenhänge narrativer Art. Für den intersubjektiven Fall jedoch ist es anders: Akteure, die Identifikationen anderer Akteure beurteilen, werden den Ereignissen in deren Geschichte oft keine solche evaluative Bedeutung beimessen. Für Subjekte von Identifikationen lässt sich daher leichter zeigen, dass bestimmte biographische Ereignisse für sie dramatisch sind. Für den drittpersönlichen Fall ist dies ebenfalls möglich, aber schwieriger. Um für Transparenz der Diskussion zu sorgen, werde ich daher der Frage, ob intersubjektive biographische Konzeptionen prinzipiell dramatisch sind, später einen eigenen Abschnitt widmen.
§ 37. Biographische Konzeptionen und die pragmatischen Bedingungen für Narrativität Die Ergebnisse bisher: Von einem Akteur, der sich mit einer Einstellung ψ identifiziert, dürfen wir eine bestimmte Konzeption der eigenen Geschichte erwarten. Speziell muss diese Konzeption von bestimmten Episoden in seiner Geschichte handeln. Dies können Episoden um Ereignisse
§ 37. Biographische Konzeptionen und pragmatische Bedingungen
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sein, die ψ intentional korrespondieren, oder solche, die anderen Einstellungen korrespondieren. Weiter muss er die Überzeugung haben, dass diese Episoden eine umfassende Praxis einer bestimmten Art konstituieren. Wenn er diese Überzeugungen verbal expliziert, dann sind seine Äußerungen in grammatischer und semantischer Hinsicht Narrationen. Die Frage ist nun: Muss diese Konzeption (und müssen die ihr korrespondierenden Äußerungen) von etwas handeln, das für den Akteur in narrativer Weise dramatisch ist? Man kann sich dieser Frage nähern, indem man sich an das Beispiel von Karl, dem Killer (aus § 19), erinnert. Ich untersuche zunächst, welchen intuitiven Eindruck dieser Fall macht, und erarbeite dann eine allgemeine Antwort. Angenommen, Karl sei von der Amnesie genesen und identifiziere sich mit seinen moralischen Werten. Seine beruflichen Interessen hingegen empfindet er als äußere Zwänge oder fremdartige Gelüste, die ihn beherrschen. Nun muss Karls Konzeption der biographischen Karriere der Einstellungen, mit denen er sich identifiziert, auf bestimmte Episoden Bezug nehmen. Man nehme an, eine dieser Episoden sei folgende: Karl erinnert sich an einen Fall, in dem seine Skrupel gesiegt haben und er eine anvisierte Zielperson aus Gewissensgründen verschont hat. Schon diese einzelne Episode hat intuitiv die dramatische Struktur einer Narration. Immerhin geht es hier um einen Punkt in Karls Geschichte, an dem zwei alternative Fortgänge möglich sind. Beide sind für Karl dabei sehr bedeutsam. Denn der eine steht für etwas, das er wertschätzt (die Treue zu seinen Werten und die Willensstärke, ihnen gerecht zu werden). Der andere hingegen ist etwas, das er fürchtet und verurteilt (der Sieg der fremden Zwänge). Zugleich handelt es sich um einen Punkt in seiner Geschichte, nach dem eine der Wendungen eintritt und der Ungewissheit ein Ende bereitet. Es geht also hier um eine Situation, in der etwas auf dem Spiel steht, das für Karl wichtig ist, und in der eine Wendung zum Guten oder zum Schlechten möglich ist. Das ist aber, zumindest intuitiv und in einer ersten Annäherung, das, was ich als Grundform einer dramatischen Struktur dargestellt habe. Die Ausgangssituation dieser Episode ist eine Situation der Unsicherheit in Bezug auf den bedeutsamen Ausgang. Und die Antezedenzien wirken sich ermöglichend oder hinderlich darauf aus, dass dieser Ausgang eintritt. Die Episode weist also eine bestimmte Distribution von Unsicherheit und Bedeutsamkeit über ihre Elemente auf. Diese Distribution ist genau die, die eine dramatische Struktur narrativer Art konstituiert. Auf einer umfassenderen Ebene kommen dabei weitere Episoden hinzu, die dann eine umfassendere dramatische Struktur bilden. Denn auch seine gesamte Praxis wird Karl daraufhin bewerten, ob es ihm gelingt, seine Ideale verwirklichen. Und auch dieses umfassende bedeutsame Ziel
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
ist wiederum eines, dessen Verwirklichung mit jeder Episode vorangetrieben oder verfehlt werden kann. Dass die Episoden und ihr Zusammenhang sich Karl dramatisch präsentieren, liegt daran, dass er einen persönlichen Blick auf seine Geschichte hat. Er misst Ereignissen in seinem Leben Wert bei und nimmt an ihnen Anteil. Der zentrale Punkt, den das Beispiel Karls vorgreifend plausibilisieren sollte, ist also folgender: Ein evaluativer Blick auf unsere eigene Geschichte ist, wie ich behauptet habe, Teil einer Identifikation. Und er bringt es mit sich, dass wir in unserer Geschichte viele Situationen finden, in denen etwas Wichtiges auf dem Spiel stand, und in denen Ausgänge zum Guten oder zum Schlechten möglich waren. Die evaluative Bedeutsamkeit, die wir als Subjekte von Identifikationen in Episoden unserer Geschichte finden, schließt also eine dramatische Qualität ein. Es gibt jedoch mindestens zwei wichtige Fragen, die zu klären sind, damit diese Behauptung wirklich als gerechtfertigt gelten kann. Erstens ist zu fragen, inwiefern jene evaluativen Einstellungen zur eigenen Geschichte eine Zuweisung emotionaler Signifikanz einschließen. Zweitens muss man fragen, inwiefern die wertende Haltung nicht nur überhaupt eine emotionale Dimension hat, sondern dies außerdem in genau der Form tut, die konstitutiv für narrative Dramatizität ist. Kurz: Dass Subjekte von Identifikationen biographische Ereignisse als bedeutsam bewerten, zeigt nicht, dass sie in narrativer Weise als dramatisch empfinden müssen. Hier hat das Beispiel einige subtile Unterscheidungen ignoriert, die zu berücksichtigen sind. Ich muss nun also plausibel machen, dass die biographischen Wertungen, die Teil einer Identifikation sind, „dramatisierende“ Zuweisungen emotionaler Signifikanz beinhalten. Ich arbeite dabei vorerst weiter mit anschaulichen Beispielen. Allerdings hat der Fall Karls auf Dauer problematische Eigenschaften. Immerhin gilt: Dass ein imaginärer Profikiller eine gewisse Dramatik in seiner Lebensgeschichte findet, sollte uns wahrlich nicht überraschen. Aber dies scheint nur wenig beweiskräftig in Bezug auf konventionellere Lebensgeschichten zu sein. Es ist daher sehr gut möglich, dass die zufälligen Eigenheiten dieses Beispiels einen Eindruck machen, der nicht generalisierbar ist. Um dies nicht insgeheim zugunsten meiner Argumentation auszunutzen, wende ich mich fortan einem meiner anderen imaginären Protagonisten zu: Paul, dem Philatelisten. Um auch an dieses Beispiel kurz zu erinnern (siehe auch § 14): Paul identifiziert sich stark mit dem Wunsch, seine Briefmarkensammlung zu vervollkommnen. Er betrachtet seine Liebe zu seltenen Briefmarken, ihrer Sammlung und Archivierung als einen zentralen Teil seiner Persönlichkeit und seines Lebens. Dabei ist entscheidend, dass er diesen Wunsch auch als den Wunsch, das Lebenswerk seines geliebten Großvaters fortzufüh-
§ 37. Biographische Konzeptionen und pragmatische Bedingungen
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ren, artikuliert. Es ist diese Artikulation, die wiedergibt, in welcher Hinsicht Paul nicht nur Briefmarken mag, sondern sich mit der Philatelie identifiziert. An Paul lässt sich nun darlegen, dass es nicht der aufregende Lebenswandel Karls ist, der eine entscheidende Rolle im obigen Beispiel spielt. Pauls Hobby ist nicht sonderlich aufregend. Dennoch lässt sich zeigen, dass auch er aufgrund seiner Identifikation bestimmten biographischen Episoden die gesuchte emotionale Signifikanz zuschreibt. Ich entwerfe einige Beispiele für mögliche Episoden in Pauls Geschichte, die zur lebensgeschichtlichen Einbindung seiner Leidenschaft beitragen: Erstens sei A eine Situation, in der Paul als Kind von seinem Großvater mit dem Reiz seltener Briefmarken aus fernen Ländern bekannt gemacht wurde. Zweitens sei B der Punkt, an dem Paul zu dem Entschluss kam, wie sein Großvater im großen Stil Briefmarken zu sammeln. Schließlich sei C eine der vielen Situationen, in denen Paul großen Aufwand betrieben hat, um ein Stück für seine Sammlung zu ergattern. Dann ist zunächst zu fragen, ob Paul solchen Ereignissen überhaupt irgendeine emotionale Signifikanz zuschreiben muss. Zunächst einmal ist zu wiederholen, dass eine Zuweisung emotionaler Signifikanz nicht dasselbe ist wie das Haben einer bestimmten Emotion. Eine solche Zuweisung ist vielmehr ein emotionales Urteil. Ich habe solche Urteile weiter oben analysiert (siehe § 30c); dabei ergab sich: Sie können mit Sätzen der Form „dies ist erfreulich/traurig/zum Fürchten...“ vollzogen werden und drücken typischer Weise aus, dass der Sprecher, wenn er in einer geeigneten Weise mit dem Gegenstand des Demonstrativums konfrontiert würde, eine entsprechende Emotion hätte. Was ich also nun zu zeigen habe, ist dies: Paul muss nicht einfach bestimmte Emotionen angesichts der besagten Ereignisse haben. Vielmehr muss das folgende kontrafaktische Konditional zutreffen: Wenn Paul in einer geeigneten Weise mit diesen Ereignissen konfrontiert würde, so würde er bestimmte Emotionen haben. Wenn dies der Fall ist, so folgt, dass bestimmte emotionale Urteile aus Pauls Mund wahr wären. Damit hätten diese Ereignisse für ihn emotionale Signifikanz. Meine semantischen Überlegungen zu emotionalen Urteilen verwenden dabei die vage Klausel „in geeigneter Weise“. Ich habe darauf hingewiesen, dass diese Vagheit in verschiedenen Weisen aufgelöst werden kann, die für bestimmte, im Kontext sinnfällige Merkmale sensitiv sind. („In geeigneter Weise“ kann z. B. in manchen Kontexten eine kindliche Perspektive denotieren, etc.) Es ist also zu zeigen, dass bestimmte emotionale Urteile im Falle Pauls unter einer Interpretation dieser Klausel zutreffen, die auch für die Rezeption von Narrationen adäquat ist. Ich muss zeigen, dass Paul Ereignissen in einer Hinsicht emotionale Signifikanz zuweist, in der es auch Rezipienten von Narrationen tun.
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
Nun habe ich in § 22 bereits dafür argumentiert, dass Paul Episoden wie A, B und C positiv bewerten und wichtig finden muss. Es gibt eine inakzeptable Spannung in der Vorstellung von einem Akteur, der sich mit einem Anliegen identifiziert und früheren Ereignissen, die mit diesem zu tun haben, prinzipiell gleichgültig gegenübersteht. Nun ist also zu fragen, ob diese evaluative Haltung einschließt, dass Paul, wenn er in geeigneter Weise mit A, B oder C konfrontiert würde, bestimmte Emotionen hätte. Dabei muss geprüft werden, wie genau die Qualifikation „in geeigneter Weise“ zu interpretieren ist. Man nehme also an, Paul identifiziere sich von ganzem Herzen mit seinem Wunsch. Und er messe den Situationen A, B und C in diesem Zusammenhang positiven lebensgeschichtlichen Wert bei. Aber er bestreite hartnäckig, dass er diese Situationen als erfreulich beurteile. Nun gibt es eine naheliegende Interpretation dieser Behauptung, unter der sie völlig unproblematisch ist. Immerhin ist das, was geschehen ist, geschehen. Paul weiß längst um seine Versäumnisse und Großtaten, und er kann durchaus insistieren, dass sie ihn heute weder freuen noch enttäuschen. Er könnte, wie man gemeinhin sagt, seinen Frieden mit der Vergangenheit gemacht haben und nur noch nach vorne blicken. Selbstverständlich ist diese Haltung zur eigenen Geschichte verbreitet und legitim. Aber es gibt andere Interpretationen der Behauptung Pauls, die problematischer sind. Und zu diesen anderen Interpretationen zählt auch eine, die auf etwas abzielt, das ein für Narrativität adäquater Modus der Zuweisung emotionaler Signifikanz wäre. Die Möglichkeit verschiedener Interpretationen der Behauptung Pauls resultiert, wie gesagt, aus der Vagheit der Klausel „in der geeigneten Weise konfrontiert“. Ein „geeigneter“ Modus der Konfrontation wäre Pauls bloße Retrospektion aus seiner heutigen Position. Dies ist der Modus, der soeben diskutiert wurde. Nach seiner Maßgabe kann es sicher stimmen, dass Paul vergangene Ereignisse nicht als erfreulich oder enttäuschend etc. beurteilt. Denn er ist ja heute nicht (oder nicht mehr notwendig) erfreut oder enttäuscht. Aber wir können verändern, was im fraglichen Kontext als „geeignete Weise“ gelten soll, indem wir erwidern: „Natürlich, im jetzigen Augenblick wirst du dich sicherlich nicht mehr über Vergangenes freuen oder enttäuscht sein. Was wäre aber, wenn du dich deiner Geschichte zuwenden würdest, ohne sicher zu sein, dass sie wirklich jenen Verlauf genommen hat? Angenommen, du wärest in einem Zustand echter Unsicherheit darüber, ob in deiner Geschichte das geschehen ist, woran du dich zu erinnern glaubst. Das heißt, es bestünde die genuine epistemische Möglichkeit für dich, dass manche der Ereignisse anders oder überhaupt nicht stattgefunden haben. Nehmen wir an, unter dieser Voraussetzung würde dir berichtet, ob die für dich – wie du ja sagst – evaluativ
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bedeutsamen Ereignisse tatsächlich stattgefunden haben. Würdest du auch unter diesen Umständen nicht von diesen biographischen Informationen emotional affiziert werden? Wenn es sich also für dich als eine Täuschung herausstellen könnte, dass deine Erlebnisse mit deinem Großvater, deine Erfolge auf der Suche nach seltenen Marken etc. stattgefunden haben – wärest du auch dann nicht erfreut, die Wahrheit zu erfahren?“ Mir scheint, dass wir von Paul eine Antwort wie diese erwarten können: „Sicher, wenn du das meinst, dann ja. In diesem Sinne finde ich in der Tat, dass es erfreulich ist, dass A, B und C Teil meiner Geschichte geworden sind. Und ich fände es in demselben Sinne enttäuschend, wenn sie anders verlaufen wäre. Das heißt nicht, dass ich jetzt gerade manifeste Freude oder Trauer ob der Ereignisse spüre – aber unter der genannten Bedingung wäre es vermutlich so.“ Was ist in diesem fiktiven Dialog vorgegangen? Wir haben Paul zugestimmt, dass bestimmte Ereignisse in einem bestimmten Sinne nicht erfreulich, enttäuschend oder dergleichen für ihn sind. Aber dann haben wir mit unserer Bemerkung einen zweiten Sinn unserer Frage ins Spiel gebracht. In diesem zweiten Sinne hat Paul zugeben müssen, dass jene Ereignisse in der Tat erfreulich für ihn sind. Wir haben diesen zweiten Sinn der Frage dabei dadurch eingeführt, dass wir festgelegt haben, was als eine „geeignete“ Weise der Konfrontation mit jenen Ereignissen gelten soll. Genauer gesagt, haben wir Paul dazu angehalten, eine vorübergehende Akkommodation seines epistemischen Horizonts vorzunehmen. Dann haben wir ihn gebeten, zu erwägen, wie seine emotionale Reaktion in jener modifizierten epistemischen Situation ausfiele. Wir haben Paul dabei dazu angehalten, sein Wissen „einzuklammern“. In Begriffen des schon oben verwendeten Modells gesprochen: Er hat die Menge der für ihn epistemisch möglichen Welten so erweitert, dass auch die Welten zu ihr zählen, in denen A, B oder C nicht stattfinden, die den anderen Welten aber sonst so ähnlich wie möglich sind. Diesen Modus der Konfrontation kann man Konfrontation unter epistemischer Ungewissheit nennen. Paul hat uns also zugestanden, dass er im Falle einer solchen Konfrontation tatsächlich bestimmte Emotionen angesichts von Beschreibungen von A, B und C hätte. Damit wäre ein emotionales Urteil Pauls wahr, wenn die obige semantische Klausel „in geeigneter Weise“ so interpretiert wird, dass sie jene epistemische Ungewissheit meint. Dies ist jedoch in der Tat ein Modus der Konfrontation, der auch im Verstehen der Dramatik von Narrationen zentral ist. Ich habe oben (siehe § 30b) das Problem der Narrationen angesprochen, die wir bereits kennen. Dieses Problem bestand darin, dass Dramatik mit (probabilistischer) Unsicherheit und unseren emotionalen Reaktionen auf sie zu tun hat, dass es aber bei bekannten Narrationen keine solche Unsicherheit gibt. Ich habe auf eine Theorie des Verstehens fiktionalen Diskurses zurückgegriffen, die
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z. B. bei D. Lewis formuliert wird. Sie beruht auf dem Prinzip der konservativen Akkommodation des eigenen epistemischen Horizonts: Wir ziehen vorübergehend mögliche Weltverläufe, die wir als genuine Möglichkeiten ausschließen können, dennoch als solche in Betracht. Wir versetzen uns also in eine Position, in der wir nicht wissen, was wir wissen. Dieses Modell des Verstehens von Fiktionen erwies sich als umstandslos übertragbar auf nicht-fiktionale, bereits bekannte Geschichten. Das erbrachte eine attraktive Lösung des Problems ihrer Dramatizität: Wir können sie als dramatisch qualifizieren, weil wir von dem Umstand, dass sie bereits bekannt sind, hypothetisch absehen können. Wir können beurteilen, wie wir auf sie reagieren würden, wenn wir nicht wüssten, was wir wissen. Das ist nun aber genau das, wozu Paul soeben angehalten wurde. Wenn dies also ein adäquater Weg ist, Narrationen emotionale Signifikanz zuzuweisen, folgt: Paul weist den Ereignissen in seiner Geschichte in einem Sinne emotionale Signifikanz zu, in dem dies auch für Narrationen hinreichend ist. Paul findet bestimmte Ereignisse in seiner Geschichte in genau dem Sinne erfreulich etc., in dem auch Rezipienten von Geschichten die Ereignisse, von denen erzählt wird, dieselben erfreulich etc. finden. Allerdings ist damit noch nicht gezeigt, dass dies mehr als nur eine natürliche Haltung Pauls ist. Muss es Teil seiner Identifikation sein, solche emotionalen Urteile über bestimmte biographische Ereignisse zu bejahen? Ich muss gestehen, dass mir kein Weg bekannt ist, mit einem Argument zu beweisen, dass es sich so verhält. Ich kann lediglich auf die Überzeugungskraft der folgenden Überlegungen hoffen. In § 22 wurde ja schon behauptet, dass die Idee einer Identifikation mit gleichzeitiger Gleichgültigkeit gegenüber einschlägigen biographischen Ereignissen keinen Sinn macht. Nun gilt es, weiter zu fragen: Angenommen, jemand identifiziert sich mit einem Anliegen. Deshalb findet er bestimmte Ereignisse in seiner Geschichte wichtig und wertvoll. Ist es nun wirklich vorstellbar, dass er prinzipiell keinerlei Emotionen hätte, wenn er erführe, dass diese Ereignisse gar nicht stattgefunden haben? Diese Person wäre wohlgemerkt nicht nur äußerlich ungerührt oder weniger sensibel als andere Menschen. Vielmehr wäre sie jemand, den das Ganze prinzipiell völlig kalt lässt. Trotzdem soll es sich zugleich um Ereignisse handeln, die mit ihren wichtigsten Idealen und Belangen zu tun haben, und die sie deshalb aufrichtig als positiv bewerten soll. Im Einzelfall könnten wir so eine Haltung vielleicht nur als irritierend betrachten. Angenommen aber, ihre Haltung zu allen Ereignissen, die sie als positive Teile ihrer Geschichte bewertet, wäre so. Dann, so scheint mir, würde die fragliche Person unseren Begriff dessen, was es heißt, etwas als einen wichtigen und positiven Teil seiner Geschichte zu bewerten, einfach nicht erfüllen.
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Natürlich kann man Mönch werden und sein bisheriges Leben hinter sich lassen. So könnte man eine tiefe emotionale Gelassenheit gegenüber früheren Mühen, Erfolgen und Misserfolgen erlangen. Aber schließt dies nicht gerade ein, dass man diese Dinge dann auch als weniger wichtig bewertet und sich weniger mit ihnen identifiziert? Kurzum, folgende These erscheint korrekt: Wenn sich eine Person mit einer Einstellung identifiziert, dann hätte sie, wenn sie unter einer Bedingung epistemischer Ungewissheit mit bestimmten biographischen Ereignissen konfrontiert würde, bestimmte Emotionen. Dies impliziert, dass bestimmte emotionale Urteile dieser Person, sofern die Klausel „in geeigneter Weise konfrontiert“ entsprechend interpretiert wird, wahr sind. Und das heißt, dass für jemanden, der sich mit einer Einstellung identifiziert, bestimmte biographische Ereignisse emotional signifikant sind. Und sie sind es dabei in dem Sinne, in dem für Rezipienten einer Geschichte das, wovon sie handelt, emotional signifikant ist. Es erübrigt sich zu betonen, dass die obigen Überlegungen keinen Beweis für diese Schlussfolgerungen darstellen. Vielmehr geht es hier nur um Intuitionen darüber, was es heißt, bestimmte Ereignisse in seiner Geschichte positiv zu bewerten. Dabei habe ich nicht einmal eine Analyse des Begriffs der Evaluation oder eine Theorie evaluativer Einstellungen vorgelegt, die diese Thesen berechtigen könnte. Gleichwohl ist die Intuition, um die es geht, immerhin sehr deutlich, wie mir scheint. Wer unter einer Bedingung von Unsicherheit etwas über seine Geschichte erführe und dabei prinzipiell keine Emotion der Freude, des Stolzes, der Reue, der Unzufriedenheit usw. hätte – von dem würden wir nicht sagen, dass er etwas in seiner Geschichte wertvoll findet. Die Bewertung der eigenen Geschichte im Lichte einer Identifikation beinhaltet also tatsächlich eine Zuweisung emotionaler Signifikanz. Aber die zweite angekündigte Frage lautet: Muss es sich dabei tatsächlich um die Typen emotionaler Signifikanz handeln, die dramatische Strukturen konstituieren? Müssen es also antizipierende emotionale Signifikanzen und ihre Erfüllungen sein? Für die Bezugnahme auf einzelne Episoden ist das ziemlich umstandslos erkennbar. Narrationen handeln ja von Begebenheiten, die eine bestimmte Dramatik entwickeln und diese nachfolgend auflösen – entweder in Wohlgefallen oder in eine Katastrophe. Für ein Subjekt, das sich mit einer Einstellung identifiziert, sind Episoden um Ereignisse, die derselben korrespondieren, genau solche Folgen von Begebenheiten. Episoden sind ja geordnete Tripel <e, A, s> aus einer Ausgangssituation s, einer Menge von Antezedenzien A und einem Ereignis e. Es wurde eben dargelegt, dass e qua intentional korrespondierendes Ereignis eine bestimmte emotionale Signifikanz für das Subjekt haben muss. Ist es ein positiv korrespondierendes Ereignis, so muss das Subjekt e z. B. als erfreu-
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lich beurteilen; als negativ korrespondierendes Ereignis wäre es eher traurig, ärgerlich oder enttäuschend. Angenommen nun, ein Subjekt wende sich unter epistemischer Unsicherheit einer solchen Episode um ein dergestalt bedeutsames Ereignis zu. Wie müsste seine Reaktion angesichts einer Beschreibung der Ausgangssituation einer Episode ausfallen? Da e erfreulich oder enttäuschend o. ä. ist, wäre dann die Ausgangssituation nicht eine, in der eine Emotion antizipierenden Typs einschlägig ist? Eine Ausgangssituation ist ja definiert als eine, in der das Eintreten des korrespondierenden Ereignisses ungewiss ist. Für das Subjekt ist sie also eine Situation, in der zwei Fortgänge möglich sind, deren einer erfreulich und deren anderer enttäuschend wäre. Ist es denkbar, dass das Subjekt mit einer Situation konfrontiert wird, die es in diesen emotional wichtigen Hinsichten in Ungewissheit lässt, ohne dabei Gefühle von Vorfreude, Furcht, Sorge etc. zu haben? Und ist es wirklich denkbar, dass diese Gefühle in der Konfrontation mit den Antezedenzien nicht gesteigert oder gemindert werden, je nachdem, wie sie die Aussichten beeinflussen? Kehren wir hier zum Beispiel zurück: Angenommen, Paul sei sich unsicher über A, B und C. Ich habe bereits argumentiert, dass er sich über einen bestätigenden Bericht über A, B, und C freuen würde. Nun nehme man weiter an, Paul würden zunächst die anderen Teile der Episoden um diese Ereignisse präsentiert. Man erzählte ihm also zuerst, ob die Ereignisse stattfinden, die zu A, B und C geführt haben. Wenn Paul nun angesichts all dessen völlig gleichgültig bliebe – gliche seine plötzliche Freude über A, B und C dann nicht eher einem irrationalen Impuls als einem Ausdruck von Wertschätzung? Müsste Paul über die Information, dass A stattgefunden hat, nicht erleichtert sein? Und würde das nicht nach allem, was wir mit diesem emotionalen Begriff meinen, bedeuten, dass er zuvor Beunruhigung oder Sorge, also antizipierende Emotionen, gespürt hat? Wenn jemandem ein biographisches Ereignis in der thematischen Weise wertvoll ist, dann ist es kontraintuitiv, zu sagen, die Episode um dasselbe könnte ihm dergestalt gleichgültig sein. Vielmehr hätte er unter Bedingungen der Unsicherheit antizipierende Emotionen. Daher erscheinen mir die Schlussfolgerungen plausibel, die ich nun nenne. Wenn A ein Akteur ist, der sich mit einer Einstellung ψ identifiziert, und wenn e ein Ereignis in seiner Geschichte ist, dass ψ intentional korrespondiert, dann gilt: A hätte unter epistemischer Unsicherheit bezüglich des Eintretens von e bestimmte Emotionen angesichts aller Elemente der Episode um e. Angesichts der e-neutralen Ausgangssituation würde A eine Emotion antizipierenden Typs haben. Das ist der Fall, weil sie zwei alternative Fortgänge erlaubt, die ihrerseits emotional signifikant sind. In Anbetracht der Antezedenzien von e würden diese antizipierenden Emotio-
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nen As verstärkt oder vermindert. Schließlich wird das Ereignis e emotionale Wirkung auf A haben. Dies wäre dann die Erfüllung oder Nichterfüllung der früheren antizipierenden Emotion. All dies beinhaltet nun erneut, dass entsprechende emotionale Urteile As wahr sind. (Diese sind wieder so zu interpretieren, dass der geeignete Modus der Konfrontation die epistemische Ungewissheit ist.) Und das heißt wiederum, dass für jemanden, der sich mit einer Einstellung identifiziert, Episoden um intentional korrespondierende Ereignisse die fraglichen emotionalen Signifikanzen haben. Die Distribution dieser Signifikanzen ist dabei genau diejenige, die narrative dramatische Strukturen auszeichnet. Daraus folgt: Ein Akteur A, der sich mit einer Einstellung ψ identifiziert, wird den Elementen von Episoden um Ereignisse in seiner Geschichte, die ψ korrespondieren, in genau der Weise emotionale Signifikanz zuschreiben, die laut Definition (N ) konstitutiv für dramatische Strukturen narrativer Art ist. Da nun schließlich gilt, dass eine Konzeption Kψ, die eine lebensgeschichtliche Einbindung von ψ beinhaltet, auf solche Episoden Bezug nehmen muss, folgt: Mein Beweisziel ist erreicht. Als Subjekte von Identifikationen sind Personen auf biographische Überzeugungen festgelegt, die narrativ sind. Tokens der Satzmenge Sψ, mit der sie diese Überzeugungen zu einem Zeitpunkt explizit machen können, sind nicht nur in grammatischer und semantischer Hinsicht Narrationen. Vielmehr beschreiben sie Folgen von Ereignissen, die die richtigen Arten von emotionaler Signifikanz haben. Subjekte von Identifikationen situieren sich selbst im Kontext dramatischer Erzählungen. Freilich sind noch einige Nachträge zu leisten. Zum ersten ist zu zeigen, dass Konzeptionen des Typs Kψ auch auf einer umfassenderen Ebene auf dramatische Zusammenhänge Bezug nehmen. Zum zweiten wirft dieser Rekurs auf die umfassendere Ebene die Frage auf, inwiefern Konzeptionen des Typs Kψ tatsächlich beide pragmatischen Bedingungen in (N ) erfüllen. Auch wenn sich ihre Dramatizität bestätigen lässt: Sind unsere biographischen Konzeptionen wirklich auch geschlossene Narrationen? Zunächst zum ersten Punkt: Auch jene umfassenderen Zusammenhänge haben für das Subjekt der Identifikation eine dramatische Struktur. Hier ist erneut daran zu erinnern, dass ein solches Subjekt nicht nur isolierten Ereignissen Wert beimisst, sondern das Ziel einer umfassenden Praxis im Zeichen dieser Einstellung wertvoll findet. Daher ist jede einzelne Episode um korrespondierende Ereignisse ein Punkt, an dem auch
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dieses übergeordnete Ziel auf dem Spiel steht. Ich werde hier nicht wieder auf die Frage eingehen, ob diese Bewertung eine Zuweisung emotionaler Signifikanz einschließt. Die Parallele zu den bisher diskutierten Fällen ist wohl deutlich. Ebenso verfüge ich hier nicht über neue Argumente für meine Ansicht. Daher gebe ich nur einige Hinweise bezüglich der Besonderheiten dramatischer Strukturen auf der höheren Ebene. Jede biographische Episode um ein Ereignis, das einem persönlichen Anliegen korrespondiert, ist ein Punkt, an dem ein größeres Ziel verwirklicht oder verfehlt werden kann. Damit stellt die Ausgangssituation jeder solchen Episode auch einen Punkt dar, an dem auch das Gelingen des umfassenderen Projekts ungewiss ist. Sie ist ein Punkt, an dem sich entscheidet, ob das, was die vorhergehenden Episoden angestrebt haben, weiter auf seine Erfüllung zuschreitet oder scheitert. Angenommen, Paul hat bislang mit großer Opferbereitschaft sein Anliegen verfolgt, jetzt aber langweilt er sich lieber vor dem Fernseher, als eine wichtige Gelegenheit zu nützen. In gewisser Weise scheitern damit auch seine vorhergehenden Bemühungen qua Teile eines größeren Projekts. Kurz: Jede Episode hat nicht nur eine interne dramatische Struktur, sondern sie ist ein Punkt, an dem sich zugleich eine umfassendere Struktur verwirklicht. Darüber hinaus sind auch die Gegenwart und die Zukunft eines Subjekts einer Identifikation Teil dieses Zusammenhangs. Auch sie umfassen Zeitpunkte, in denen sich ein Subjekt einer Identifikation bestimmten alternativen Möglichkeiten gegenüber sieht, die sein Anliegen verwirklichen würden, oder in denen er demselben untreu werden könnte. Ich lasse es mit diesen kurzen Bemerkungen zu dramatischen Strukturen auf umfassender biographischer Ebene bewenden. Stattdessen wende ich mich der letzten der Narrativitätsbedingungen in (N ) zu, der Ganzheitsbedingung. Lebensgeschichtliche Episoden instantiieren ziemlich offensichtlich nicht nur dramatische Strukturen, sondern geschlossene dramatische Strukturen im definierten Sinne. In Episoden herrscht ja Unsicherheit gerade in Bezug auf die Ereignisse, mit denen die Episode endet. Daher finden die antizipierenden emotionalen Signifikanzen auch ihre Auflösung. Daher wurde dieser Punkt oben gar nicht eigens angesprochen. Die umfassendere Praxis hingegen, die diese Episoden konstituieren, erfüllt die Ganzheitsbedingung nicht. Diese umfassende Praxis schließt, wie gesagt, auch Gegenwart und Zukunft ein. Diese Zukunft aber ist für uns mindestens epistemisch offen; daher ist das Erreichen des umfassenderen Ziels einer gelungenen Praxis nichts, was wir jemals als gegeben betrachten könnten. Gewöhnlich wird der Zusammenhang aller relevanten Episoden in unserer Geschichte die Ganzheitsbedingung in (N ) also nicht erfüllen. Dies
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scheint für meine These zunächst zwar nicht fatal, aber gleichwohl unbefriedigend zu sein. DNT ist zwar schon dadurch bestätigt, dass einzelne Episoden in unseren Lebensgeschichten die Dramatizitäts- und die Ganzheitsbedingung erfüllen. Auf der Ebene einzelner Episoden sind wir also in jedem Falle Wesen, die ihre Praxis durch Geschichten rechtfertigen. Aber DNT würde dann eben nur wegen vergleichsweise kleiner Einheiten biographischer Bezugnahme zutreffen. Die größeren Zusammenhänge jedoch, die uns ebenfalls wichtig sind, wären nicht narrativ. Damit aber hätte das Resultat einiges an Reichweite eingebüßt. Diese Konklusion wäre jedoch übereilt. Ein Fehler der eben vorgetragenen Kritik ist, von der Ebene kleinster biographischer Einheiten direkt auf die Ebene unserer ganzen Geschichte zu wechseln. Diese umfassendste Ebene ist sicherlich von Bedeutung für uns. Aber daraus, dass wir auf dieser höchsten Ebene keine geschlossenen dramatischen Strukturen finden können, folgt nicht, dass es dieselben nur auf der untersten gibt. Vielmehr gibt es mittlere Ebenen, die sowohl gewichtig genug sind, um DNT interessant zu machen, als auch die fraglichen Bedingungen von (N ) erfüllen. Wir bringen in einzelnen Episoden immer größere Teile unserer Projekte zum Abschluss. Mit der dramatischen Struktur einzelner Episoden koinzidiert ja, wie ich geschildert habe, auch eine umfassendere dramatische Struktur. Gelingt es uns in einer Episode, unserem Anliegen gerecht zu werden, so gelingt damit auch unser umfassendes Projekt zu einem bestimmten Teil. Was wir also erkennen können, ist, ob es uns bisher gelungen ist, unsere persönlichen Anliegen zu verfolgen. Das gilt nicht nur in Bezug auf jede einzelne Episode, sondern auch in Bezug auf unsere umfassendere Praxis bisher. Sofern auch das Gelingen immer größerer Teile dieser Praxis für uns emotional signifikant ist, bilden sich mit jeder Episode umfassendere geschlossene Strukturen. Mit jeder Ausgangssituation einer Episode ist das Gelingen unserer ganzen Bemühungen bislang unsicher. Durch die Antezedenzien der Episode wird dieses Ziel leichter oder schwieriger erreichbar. Und mit dem korrespondierenden Ereignis ergibt sich Gewissheit. Auch diese umfassenderen Teile instantiieren also geschlossene dramatische Strukturen. Ich werde daher nun zusammenfassen, inwiefern die bisherigen Resultate die These DNT bestätigen: Ein Subjekt einer Identifikation ist auf Überzeugungen festgelegt, die von biographischen Episoden und ihren umfassenderen Zusammenhängen handeln. Diese biographischen Zusammenhänge präsentieren sich dieser Person auf unterschiedlichen Ebenen als geschlossene dramatische Strukturen. Damit erfüllen die Überzeugungen, auf die diese Person festgelegt ist, alle Bedingungen für Narrativität in (N ). Identifikationen sind daher in der Tat Einstellungen, die zu ihrer Rechtfertigung Geschichten erfordern. Damit ist DNT bestä-
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tigt: Es ist eine begrifflich geltende Norm für Personen, dass sie bestimmte Einstellungen haben, zu deren Rechtfertigung Narrationen nötig sind. Allerdings bleibt eine offene Rechnung zu begleichen. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, zu zeigen, dass Narrationen wichtige intersubjektive Rollen spielen. Sie sollen Gründe in einer sozialen Praxis des Verstehens, der Kritik und der Begründung personaler Selbstverhältnisse sein. Es ist ein wichtiger Teil dieser Praxis, darüber zu streiten, wie die Geschichte einer bestimmten Person zu erzählen ist, und was demnach ihre authentischen Anliegen sind. Lebensgeschichtliche Narrationen erfüllen einige ihrer wichtigsten Funktionen in solchen Kontexten intersubjektiver Kritik. Aber bislang wurde nur gezeigt, dass das, was in dieser intersubjektiven Praxis produziert und ausgetauscht wird, für die Subjekte der Identifikation narrativ ist. Es hat sich ja lediglich bestätigt, dass die Ereignisse, von denen dabei die Rede ist, für diese Subjekte emotional signifikant und dramatisch sind. Wenn dies alles wäre, wären diese Konzeptionen nur für bestimmte Subjekte Narrationen, und die narrative Natur unserer biographischen Konzeptionen hätte keine generelle Bedeutung in unserer Praxis. Die intersubjektive Wichtigkeit biographischer Konzeptionen hätten meine bisherigen Ausführungen also belegt, aber die Narrativität dieser Konzeptionen wäre etwas, was sich niemandem außer den Subjekten selbst mitteilte. Sie wäre, pointiert gesagt, ein Privatvergnügen, und Wittgensteinianer würden wohl einwenden, man könne durch sie „kürzen“. 3 Das erschiene mir falsch. Nicht nur personaler Selbstbezug, sondern das kritische Verstehen von Personen überhaupt ist ein narratives Unterfangen. Um diese umfassendere These zu begründen, muss ich nun zeigen, inwiefern auch intersubjektive lebensgeschichtliche Konzeptionen die Bedingungen in (N ) erfüllen.
§ 38. Intersubjektivität und Narrativität Werden wir als Subjekte von Identifikationen zur Rechtfertigung derselben aufgefordert, so müssen wir Konzeptionen unserer Geschichte vorbringen, die narrativ sind – jedenfalls narrativ für uns. Die Narrativität jener Konzeptionen hängt davon ab, dass sie etwas evaluativ und emotional Bedeutsames beschreiben. Und nach unserem gegenwärtigen Diskussionsstand dürfen wir lediglich annehmen, dass sie dies für uns als Subjekte tun.
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Dieser Ausdruck findet sich bekanntlich in: Wittgenstein (1960), § 293.
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Ich will jedoch nicht nur zeigen, dass biographische Konzeptionen eine wichtige intersubjektive Rolle in Kontexten der Kritik und des Begründens spielen. Mir ist auch daran gelegen, zu zeigen, dass die Narrativität dieser Konzeptionen nicht nur eine private Größe ist. Biographische Konzeptionen spielen ihre intersubjektive Rolle als narrative. Aber das Problem ist, wie gesagt, dieses: Was Subjekten von Identifikationen dramatisch erscheinen wird, muss sich aus der intersubjektiven Perspektive nicht so präsentieren. Vielmehr ist diese Anteilnahme im intersubjektiven Fall kaum zu erwarten. Es mag also z. B. plausibel sein, dass Paul in Begebenheiten wie A, B und C eine bestimmte emotionale Bedeutsamkeit findet. Aber warum sollten wir, wenn wir die Rechtfertigung seiner Identifikation prüfen, dieselben emotional signifikant finden? Würden wir unter epistemischer Ungewissheit mit jenen Teilen seiner Geschichte konfrontiert, so müssten wir sicherlich keine Freude oder Enttäuschung verspüren. Wir könnten anerkennen, dass Pauls Anliegen durch all diese Episoden lebensgeschichtlich eingebunden ist, ohne ihnen dabei in dieser Weise emotionale Signifikanz zuzuschreiben. Dies ist das Problem der mangelnden emotionalen Signifikanz im intersubjektiven Falle. Bevor ich es diskutiere, eine Erinnerung: Ich habe schon gesagt, dass der intersubjektive Fall ohnehin eine Einschränkung erfordert. Kritisieren wir jemandes Identifikation mit einem Wunsch, weil dieser uns keine Rolle in seiner bisherigen Geschichte zu spielen scheint, so vertreten wir zwar eine bestimmte biographische Überzeugung. Aber diese hat gerade keine Episoden oder dergleichen zum Gegenstand. Aber es lässt sich dennoch zeigen, dass uns mindestens affirmative Urteile über die Rechtfertigung einer Identifikation auf biographische Konzeptionen festlegen, die in der Tat narrativ sind. Die Schlussfolgerungen in § 21 besagen bereits, dass solche Konzeptionen beinhalten, dass bestimmte Einstellungen lebensgeschichtlich eingebunden sind. Für Konzeptionen dieses Inhalts wurde oben bereits allgemein bestätigt, dass sie die grammatischen und semantischen Bedingungen in (N ) erfüllen. Für die pragmatischen Bedingungen ist nun das Problem der mangelnden emotionalen Signifikanz zu lösen. Wenn wir also jemandes Geschichte betrachten und erkennen, dass ein bestimmtes Anliegen in sie eingebunden ist, müssen wir die Geschichte wirklich dramatisch finden? Eine direkte Strategie, diese Frage zu bejahen, bestünde darin, auf unsere allgemeine Fähigkeit zur Empathie hinzuweisen. Wenn wir uns mit den Anliegen und der Geschichte einer Person befassen, können wir oftmals nachempfinden, welche Bedeutung bestimmte Ereignisse für sie haben. Ich habe bereits nahegelegt, dass diese Empathie auch unserer Fähigkeit zugrundeliegt, die Dramatik von Ge-
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schichten zu verstehen. Es geht uns oft so, dass Ereignisse, von denen uns erzählt wird, für uns nur insofern dramatisch sind, als wir uns vorstellen können, wie wir uns an Stelle des Protagonisten fühlen würden. Diese kontrafaktische Perspektive schließt dabei auch die Bedingung ein, dass die Anliegen und Wünsche des Protagonisten unsere wären. Solche empathischen Urteile sind also durchaus eine für Narrativität adäquate Form der Zuweisung emotionaler Signifikanz. Es steht außer Frage, dass wir diese Fähigkeit zu empathischen intersubjektiven emotionalen Urteilen haben. Schon deshalb würden intersubjektive biographische Konzeptionen, die es mit persönlichen Anliegen anderer zu tun haben, die Bedingungen für Narrativität oft erfüllen. Auch für uns werden sie etwas Dramatisches beschreiben, weil wir mitfühlen können, dass es sich um etwas Bedeutsames für das Subjekt handelt. Dennoch muss meine Argumentation sich nicht auf eine bloße Bereitschaft zum Mitgefühl verlassen. Vielmehr ist eine Sensitivität für die emotionale Signifikanz, die Ereignisse für andere haben, ein fundamentaler Bestandteil unserer kommunikativen Kompetenz. Hier muss ich an die Überlegungen erinnern, die in Teil II (§ 31) zum Problem divergierender Perspektiven angestellt wurden. Dort wurde behauptet: Wenn uns in einem Kontext Begebenheiten beschrieben werden, und wir wissen, dass dieselben für einen anderen Teilnehmer bedeutsam sind, so prägt seine Perspektive auch unser Urteil. In normalen kommunikativen Kontexten sind dramatisierende Perspektiven, sofern sie uns im Prinzip nachvollziehbar sind, ceteris paribus interpretativ maßgeblich. Wenn also Subjekte präsent sind, für die ein Bericht nachvollziehbar dramatisch ist, so ist er in diesem Kontext dramatisch simpliciter. Ich habe versucht, diese Behauptung durch kommunikative Prinzipien relevanzmaximierender Interpretation zu begründen. Auch wenn man diese Begründungsskizze nicht plausibel findet, wird man die intuitive Plausibilität vieler Beispielfälle kaum bestreiten können: Wenn wir einer Gruppe aus vielen Kindern und Erwachsenen eine Geschichte erzählen, die den Kindern spannend erscheinen muss, und wenn sich einer der Erwachsenen nachher beschwert, das sei ja tödlich langweilig gewesen – so werden wir urteilen, er habe den Witz des Erzählten verfehlt. Er hat nicht genügend berücksichtigt, wie die Geschichte auf die Kinder wirkt. Oben wurde also behauptet, dass wir die Fähigkeit zu intersubjektiven emotionalen Urteilen haben. Weiter wurde gesagt, dass eine „alterzentrische“ Zuweisung emotionaler Signifikanz eine der Formen darstellt, in der wir Narrationen als dramatisch verstehen. Nun habe ich argumentiert, dass dergleichen oftmals nicht fakultativ oder eine Sache des guten Willens ist. Es ist ein wichtiger Teil unserer kommunikativen und hermeneutischen Kompetenz. Wir verstehen die Relevanz einer Äußerung oft nur
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dann richtig, wenn wir einsehen, dass diese Relevanz aus der Perspektive einer anderen Person einzuschätzen ist. Unter diesen Prämissen lässt sich das Problem der mangelnden emotionalen Signifikanz im intersubjektiven Falle lösen. Angenommen, wir beurteilen es als gerechtfertigt, dass jemand sich mit einem Anliegen identifiziert. Dann sind wir auf biographische Überzeugungen festgelegt, die ergeben, dass manche seiner Einstellungen biographisch eingebunden sind. Eine solche Konzeption muss von Episoden in der Geschichte dieser Person handeln. Für diese Person selbst haben diese Episoden eine bestimmte emotionale Signifikanz. Nun wurde deutlich, dass es unsere Aufgabe ist, die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse für jene Person zu erkennen und alterzentrisch zu bewerten. In intersubjektiven Kontexten des Verstehens und der Kritik ist die emotionale Signifikanz dessen, worüber diskutiert wird, keine Privatsache. Sondern sie ist Teil dessen, was kommuniziert und verstanden werden muss. Dieser Umstand erklärt, warum auch die Dramatik lebensgeschichtlicher Episoden nichts Privates ist. Die narrative Dramatik unserer Geschichten ist also auch in intersubjektiven Kontexten präsent und relevant. Ich halte daher fest, dass unsere lebensgeschichtlichen Konzeptionen ihre intersubjektive Funktion als narrative erfüllen. Wir können also zusammenfassen: Wir müssen unsere Identifikationen rechtfertigen, indem wir biographische Beschreibungen produzieren, die für alle Beteiligten narrativ sind. Die narrative Dramatik des Erzählten, die primär für uns besteht, teilt sich auch unseren Diskussionspartnern mit. Und auch die anderen Teilnehmer müssen zumindest positive Beurteilungen unserer Identifikationen durch Konzeptionen rechtfertigen, die für sie und andere narrativ sind. Unsere intersubjektive Praxis der Kritik und der Begründung von Identifikationen dreht sich daher immer auch um die Frage, wie unsere Geschichten zu erzählen sind. Dieses narrative Bild unseres Selbstverhältnisses und seiner intersubjektiven Begründung sollte in dieser Arbeit expliziert und verteidigt werden. Es zeigt uns nicht als Wesen, die kontinuierlich mit bewussten autobiographischen Projekten befasst sind. Es zeigt uns als Wesen, die Entscheidungen treffen und diese mit Gründen rechtfertigen. Und ein großer Teil dieser Begründungen hat die Form von Geschichten über die eigene Geschichte. Solche Geschichten produzieren wir dann, wenn Rechtfertigung nötig oder fragwürdig wird, statt sie immerzu als mentales Bewusstseinsprotokoll zu führen. Es wäre die Aufgabe für eine weitere Arbeit, die Implikationen dieses Bildes unseres personalen Selbstverhältnisses auszuloten. Hier ging es nur um die Aufgabe, eine korrekte theoretische Beschreibung desselben zu entwickeln. Ich hoffe, verständlich gemacht zu haben, warum Personen
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Teil III: Biographische Rechtfertigung und Narration
Wesen sind, die Geschichten austauschen. Sie tun es, weil sie überlegen und darüber streiten, wer sie sind und was ihre wichtigsten Anliegen sind. Die Gründe, die sie dabei anführen, bestehen in biographischen Zusammenhängen mit der Struktur und der Dramatik narrativer Handlungen. Diese spezifischen praktischen Gründe zu artikulieren erfordert daher, biographische Geschichten zu erzählen.
Schluss: Narrative Gründe und narrative Kritik Wir erwarten von Personen, dass sie sich an ihrem eigenen Willen orientieren, und dass sie dies im Lichte von biographischen Geschichten tun. Dies ist die These dieses Buches, die der dritte Hauptteil soeben bestätigt hat. Abschließend möchte ich meine Ergebnisse kurz in einen weiteren Rahmen stellen und einige praktische Implikationen aufzeigen. Geschichten rechtfertigen unsere Urteile darüber, wer jemand ist und was seine wirklichen Anliegen sind. Sie sind daher mehr als ein Zeitvertreib, und auch mehr als kognitive Schemata zur Verarbeitung und Speicherung von Informationen: Sie artikulieren praktische Gründe. Das soll den Nutzen narrativer Strukturen in jenen anderen Hinsichten nicht in Abrede stellen. Aber es ist ein zu wenig beachteter Umstand, dass manche praktischen Gründe in Geschichten ihre adäquaten Artikulationen haben. Wir treffen bestimmte Entscheidungen, weil wir glauben, sonst unseren wirklichen Anliegen untreu zu werden. Die junge Frau aus § 7 mag z. B. einen Heiratsantrag ablehnen, weil sie erkennt, dass Heiraten nicht das ist, was sie wirklich will. Oder ein Freund mag einen anderen davon überzeugen, dass sein gegenwärtiger Lebenswandel ihn von seinen eigentlichen Zielen entfremdet hat, und dergleichen mehr. Wir betrachten das, was solche Urteile ausdrücken, als normative Gründe für praktische Überlegungen und für Handlungen. Dass etwas unser authentisches Anliegen ist, ist sicher nicht immer der stärkste Grund, der für oder wider etwas spricht. Aber es gilt uns als ein guter Grund. Konstitutiv für diese Authentizität sind bestimmte biographische Zusammenhänge, die die Struktur und die Dramatik narrativer Plots haben. Solche Zusammenhänge sind nicht nur Ermöglichungsbedingungen von Authentizität, sondern machen sie partiell aus. Daher sind diese Zusammenhänge ihrerseits normative Gründe. Man kann sie mit J. Dancys Ausdruck contributory reasons nennen1 – Gründe also, die positives normatives Gewicht beizutragen haben. (Dass etwas zum Beispiel seit Jahren ein wichtiges Anliegen für mich ist, gibt mir einen guten Grund, es jetzt nicht einfach als eine Marotte abzutun.) Solche biographischen Zusammenhänge in der Form von Geschichten zu verbalisieren ist daher die angemessene Weise, diese normativen Gründe auszutauschen. Diese Geschichten handeln davon, wie jemand geworden ist, wer er ist, und wie bestimmte
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Siehe z. B. Dancy (2006).
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Schluss: Narrative Gründe und narrative Kritik
Anliegen besondere Bedeutung für ihn bekamen. Diese Geschichten artikulieren Gründe in einigen unserer wichtigsten Lebenszusammenhänge. Man kann das Fazit dieses Buches daher auch so formulieren: Es zeichnet Personen aus, für Gründe empfänglich zu sein, die nur als Geschichten artikulierbar sind. Auch diese Gründe selbst kann man dabei narrativ nennen. Zwar sind normative Gründe nicht mit ihren Repräsentationen (in Form von Geschichten oder anders) zu verwechseln. Unsere Gründe sind nicht Erzählungen, sondern biographische Zusammenhänge, von denen wir erzählen. Aber ich habe in § 30 darauf hingewiesen, dass wir mitunter nicht nur die Repräsentation, sondern auch das Repräsentierte eine Geschichte nennen. Und ich habe vorgeschlagen: Geschichten im Sinne dessen, wovon erzählt wird, können wir mit der Handlung identifizieren, von der erzählt wird. Eine Handlung ist dabei eine komplexe Entität aus Ereignissen und zeitlichen sowie sinnhaften Relationen zwischen ihnen. Die biographischen Zusammenhänge, die unsere besagten Gründe konstituieren, sind solche Handlungen und in diesem Sinne Geschichten. Wenn man also „narrativ“ in diesem Sinne versteht, kann man auch von narrativen Gründen sprechen. In diesem Buch ging es dann darum, dass autonome Wesen für narrative Gründe empfänglich sein müssen. Obschon selten betont wird, dass Geschichten diese Rolle praktischer Gründe spielen, vertreten doch viele Autoren, die zu den namhaftesten ihrer Zunft gehören, zumindest ähnliche Thesen. Speziell die in der Einleitung (§ 2) zitierten Arbeiten von Arendt, McIntyre, Taylor und Ricœur stimmen mit vielen meiner Schlussfolgerungen überein. Der philosophische Mehrwert, den meine Ausführungen demgegenüber anzubieten haben, liegt in der Art der Formulierung und der Begründung dieser Ansichten. Es ist deutlich geworden, dass es in diesen Punkten eine Vielzahl substantieller philosophischer Fragen zu klären gibt. Und ich hoffe, einige von ihnen mit den Mitteln der analytischen Philosophie so geklärt zu haben, dass es auch für die Projekte jener Autoren relevant ist. Letzteres ist jedoch nicht offensichtlich. Es mag scheinen, als seien die Vorzüge meiner Herangehensweise rein technischer Art, und als seien sie für die eigentlichen Anliegen der fraglichen Autoren bestenfalls gleichgültig. Womöglich drohen die „Vorzüge“ sogar, das, was eigentlich zählt, vergessen zu machen. Es geht hier immerhin um die Weise, in der wir uns selbst verstehen und bewerten. Vielleicht hätte also etwas weniger Formalismus die evaluativen Aspekte mehr zu ihrem Recht kommen lassen? Ein solcher Einwand wäre verfehlt. Ich werde versuchen, zu zeigen, inwiefern der vermeintlich rein technische Mehrwert meiner Herangehensweise auch einen Unterschied in den normativen Fragen machen kann, die mit dem Thema verknüpft sind.
Schluss: Narrative Gründe und narrative Kritik
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Nun habe ich betont, dass dieses Buch sich mit theoretischen Fragen zum Begriff der Person befasst. Zwar ging es an vielen Stellen um Normen und Werte, die Teil dieses Begriffes sind. Aber sie kamen eben nur im Zuge einer analytischen Bestimmung desselben zur Sprache. Wie in der Einleitung gesagt: Alles, was hier gesagt wurde, ist mit einer Ablehnung des Personenbegriffs und seiner normativen Aspekte vereinbar. Das heißt aber nicht, dass meine Ergebnisse normativ irrelevant wären. Im Gegenteil: Gesetzt, wir befürworten die normativen Vorstellungen, die unser Begriff der Person ausdrückt. Dann lassen sich aus meinen Ausführungen in der Tat Gesichtspunkte gewinnen, die praktisch relevant sind. Es ergeben sich also sozusagen konditionale normative Schlussfolgerungen aus meinen Überlegungen. Und in Anbetracht dessen, was die Kondition ist, dürften sie sich für viele Leser ergeben. Wer immer nämlich überzeugt ist, dass die normative Idee eines personalen Lebens wert ist, geachtet und verwirklicht zu werden, muss sich mit diesen Konsequenzen befassen. Einige von ihnen skizziere ich jetzt. Es liegt nahe, zunächst Faktoren in den Blick zu nehmen, die unsere Lebensgeschichten beeinflussen. So könnte man z. B. darauf hinweisen, dass bestimmte Systemzwänge es uns zunehmend schwieriger machen, eine Geschichte zu entwickeln, über die sich bestimmte Geschichten erzählen lassen. Dabei könnte man unter anderem auf die Anforderung der Flexibilität verweisen, die moderne Wirtschaftssysteme der Bevölkerung aufbürden. 2 In dem Maße, in dem solche Faktoren bestimmte biographische Zusammenhänge nicht mehr zulassen, erschweren sie es uns auch, begründet zu beurteilen, wer wir sind und was unsere wirklichen Anliegen sind. Die Schlussfolgerung meines Buches kann also zum Beispiel helfen, Zusammenhänge zwischen moderner Flexibilität und Identitätsverlust zu beschreiben. Gerade die begriffliche Natur meiner Ausführungen erlaubt es dabei, nicht nur auf beobachtbare Korrelationen hinzuweisen. Sie ermöglicht eine Erklärung, die auf den begrifflichen Zusammenhang von Biographie und personalem Selbstverständnis rekurriert. Es ergeben sich jedoch weitere kritische Perspektiven aus meinen Thesen. Nicht nur Faktoren, die unsere Biographien bestimmen, beeinflussen unsere Autonomie. Auch Faktoren, die beeinflussen, wie wir über unsere Biographien erzählen, erweisen sich als unmittelbar relevant. Die Art und Weise, wie wir unsere Geschichten erzählen, beeinflusst nämlich die Weise, wie wir über unsere wirklichen Anliegen denken. Wenn wir etwa bestimmte Zusammenhänge nicht als solche erkennen, sehen wir unter
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Vgl. z. B. R. Sennett (1998).
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Umständen auch nicht, welche Rollen bestimmte Anliegen in unserer Geschichte spielen. Ein Beispiel für diesen Einfluss ist die Veränderung unserer biographischen Geschichten, die auf Freud zurückgeht. S. Freud hat vorgeschlagen, dass unsere authentischen Anliegen nicht die sein müssen, die unser bewusstes Tun prägen. Vielmehr können sie gerade die sein, die wir oft verleugnen, die wir aber im Lichte bestimmter biographischer Gründe als solche identifizieren können. Unabhängig von Fragen der Wissenschaftlichkeit der Psychoanalyse lässt sich festhalten: Sie hat verändert, wie wir unsere Geschichte und die Karriere unserer Anliegen verstehen, und sie hat damit auch verändert, was wir als unsere authentischen Bedürfnisse begreifen. Auf diese Weise hat sie letztlich auch viele der praktischen Entscheidungen beeinflusst, die wir treffen. Gleichgültig, ob man solche historischen Einflüsse auf unsere Geschichten positiv oder negativ bewertet: Die Zusammenhänge, die meine Arbeit dargestellt hat, erklären, warum sie so folgenreich sind. Dabei mögen meine Analysen zur biographischen Einbindung von Wünschen und zur Form von Narrationen zunächst wirken, als ließen sie wenig Spielraum für derlei historische Einflüsse. Dieser Eindruck wäre aber verfehlt. Vielmehr hat sich durchaus ergeben, dass unser narratives Selbstverständnis an entscheidenden Stellen Raum für rückwirkende Interpretation und Artikulation lässt. Zwar wurde vor allem betont, dass biographische Geschichten unsere jetzige Haltung zu unseren Motivationen begründen können. Aber meine Arbeit zeigt auch, dass diese Geschichten ebenso von unserer jetzigen Perspektive geprägt sind. Verändert sich diese Perspektive, so werden sich auch die Geschichten verändern. Ich erinnere an J. Austens Emma: Emma erkennt, dass sich ihre gegenwärtigen Wünsche als Ausdruck ihrer Liebe zu Mr. Knightley artikulieren lassen. Und nachdem sie sich unter dieser Artikulation mit ihnen identifiziert, ändert sich auch ihre Perspektive auf die Vorgeschichte. Vieles von ihrem vorhergegangenen Verhalten gegenüber Mr. Knightley und anderen wird nun in einer ganz anderen Weise verständlich. Es zeigt sich, dass das eben identifizierte Gefühl durchaus eine längere lebensgeschichtliche Karriere hat. Es ist also nicht so, als seien die biographischen Rollen unserer Wünsche einfach vorhanden, um nur entdeckt und nacherzählt zu werden. Speziell mit dem Konzept der Artikulation habe ich darauf hingewiesen, dass es in einem erheblichen Maße eine Frage der Interpretation sein kann, welche Anliegen sich in welchen Ereignissen ausdrücken. Weiter habe ich mit Bedacht darauf verzichtet, eine erschöpfende Konzeption der Formen lebensgeschichtlicher Einbindung zu geben. Nichts schließt aus, dass wir im Laufe der Zeit neuen Formen lebensgeschichtlicher Einbindung Bedeutung beizumessen beginnen.
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Dennoch will ich betonen, dass Artikulationen Kriterien deskriptiver Adäquatheit unterliegen. Auch sind geeignete Formen lebensgeschichtlicher Einbindung nichts, was sich willkürlich einführen ließe. Meine Ausführungen lassen zwar Deutungsspielräume und historische Entwicklungen zu. Aber sie beharren darauf, dass die Geschichten, von denen hier die Rede war, keinerlei Erfindungen sind. Unsere Kreativität als biographische Erzähler richtet sich darauf, eine zutreffende Version unserer Geschichte zu finden. Meine Ergebnisse legen daher nahe, dass das Verhältnis von Personen zu ihrer Geschichte in der Form eines hermeneutischen Zirkels zu modellieren ist. Wir beziehen uns auf unsere Geschichte mit einer aktuellen Vorstellung davon, wer wir sind und was unsere wichtigsten Belange sind. Diese Vorstellung beeinflusst unsere Konzeption unserer Geschichte. Aber zugleich kann sie durch diese biographische Konzeption korrigiert werden. Die Begrenzung des Deutungsspielraums, die in meinen Ausführungen besonders betont wurde, weist diesen Zirkel als gutartig aus. Es ist also eine Konsequenz dieses Buches, dass wir die Dominanz bestimmter narrativer Formen und Muster als praktisch relevant betrachten sollten. Was immer die Weise beeinflusst, wie wir unser Leben beschreiben, ist zugleich ein wichtiger Einfluss auf unsere autonome Praxis. Verkümmert unsere Aufmerksamkeit für die Vielfalt der Weisen, in denen Wünsche biographisch eingebettet sein können, so verkümmert auch unsere Empfänglichkeit für bestimmte praktische Gründe. Es ist daher kein Wunder, dass z. B. die kritische Theorie gerade Mechanismen und Stereotypen in den Massenmedien untersucht. Auch Projekte dieser Art werden durch meine Ergebnisse weiter gestützt. Freilich habe ich bereits in der Einleitung erwähnt, dass man eine noch fundamentalere Kritik üben kann. Diese Kritik richtet sich auf unsere biographischen Geschichten selbst. Vielleicht sind es ja gerade diese Geschichten, die uns von echter Autonomie fernhalten? Dieser Verdacht kann, so weit ich sehe, zwei Formen annehmen: Zum einen kann man solche Geschichten über Vergangenes als einen einschränkenden Rahmen ansehen, der Autonomie gerade behindert. Zum anderen kann man sie als ideologisch auffassen. Die erste Variante des Verdachts gegenüber biographischen Geschichten könnte man so ausdrücken: Was ist denn mit der paradigmatischen Wandlung vom Saulus zum Paulus? Besteht Autonomie nicht auch darin, sich von seinen bisherigen Anliegen radikal lossagen zu können? Sind nicht auch radikale biographische Zäsuren mit der Autonomie von Wünschen verträglich? Umfasst Autonomie diese Befreiung von der Vergangenheit nicht sogar noch eher als eine „lebensgeschichtliche Einbindung“?
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Diese Intuition ist in gewissem Maße berechtigt. Aber meine Ergebnisse widersprechen dem auch nicht. Es ist wichtig, Fälle, in denen sich jemand von seinen bisherigen Anliegen lossagt, genau zu beschreiben. Sofern sie nämlich in der Tat Manifestationen von Autonomie sind, sind sie durchaus stimmige Teile der Geschichte der Person. Man betrachte jemanden, der beschließt, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen und Mönch in Tibet zu werden. So eine Entscheidung ist nicht in jedem Falle ein Ausdruck von Autonomie. Sie könnte ja eher ein Entschluss sein, der auf eine unmündige Orientierung an Moden und den übermäßigen Konsum von Lifestyle-Magazinen zurückgeht. Aber natürlich kann diese Entscheidung auch ein Ausdruck von Autonomie sein. Nun ist zu fragen, was Fälle dieser letzteren Art vor den anderen auszeichnen würde. Mindestens müsste wohl gelten, dass der Akteur Gründe für seinen Schritt hat. Er mag etwa mit seinem bisherigen Leben unzufrieden sein, es als oberflächlich und unbefriedigend empfinden. Er mag finden, dass er das, was wirklich zählt, verleugnet oder aus den Augen verloren hat. In diesem Falle geht der Akteur nicht nur einer Mode auf den Leim, sondern seine Entscheidung ist echt. Der Schritt einer solchen Person wäre nun zwar eine Zäsur in ihrer Geschichte, aber eine, die sich aus derselben ergibt. Die Entscheidung und die Wünsche, die sich in ihr ausdrücken, wären sehr wohl biographisch eingebunden. Gerade der leere und unerfüllte Charakter der bisherigen Lebensweise ist es ja, der den Wunsch nach einem Neuanfang zu mehr als einer Anwandlung macht. Womöglich hat es sogar besondere Erlebnisse gegeben, die dem Akteur diese Leere offenbart haben. Dann gäbe es biographische Gründe, die verständlich machen, inwiefern der Akteur nicht einfach desorientiert ist. Besonders gut wird das am Fall von Saulus und Paulus erkennbar. Hier findet nicht einfach eine spontane Abkehr von der eigenen Geschichte statt. Sondern sie ergibt sich aus einem einschneidenden biographischen Ereignis, das geeignet ist, diese Abkehr zu begründen: Saulus wird von Gott bekehrt und ändert sein Leben daraufhin. Dies ist natürlich ein biographisches Ereignis, und noch dazu eines, das einen biographischen Grund für die Wandlung darstellt (vgl. dazu § 19d). Damit ist dieser Fall natürlich weit entfernt von einer Entscheidung, die mit der eigenen Geschichte nichts zu tun hat. Hier verhält es sich wie im Beispielfall von Karl und seinem Trauma (siehe oben, § 19d): Es gibt ein biographisches Ereignis, das eine Umorientierung mehr als nachvollziehbar macht. In all diesen Fällen sind es gerade die Geschichten der Akteure, die die Veränderung ihrer Anliegen verständlich machen. Diese Geschichten sind es, die diese Fälle von solchen unterscheiden, in denen jemand einfach mit neuen Anliegen aufwacht.
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Es gäbe viel mehr an Fällen dieser Art zu diskutieren, aber das kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Es sollte aber deutlich sein, dass die einfache Vorstellung eines biographisch unmotivierten Neuanfangs in den besagten Fällen zu kurz greift. Die Komplexität dieser Fälle liegt gerade darin, dass sie Zäsuren darstellen, die biographisch Sinn machen. Und nichts an meinen Thesen verlangt, dass unsere biographischen Geschichten nur von homogenen Entwicklungen ohne Zäsuren handeln dürften. Ich komme nun zum zweiten Verdacht gegenüber der praktischen Rolle biographischer Geschichten. Ist es nicht möglich, dass solche Geschichten uns eine Form von Sinn und Selbstbestimmung in unserem Leben vorgaukeln, die es nicht gibt? Sind biographische Geschichten nicht „biographische Illusionen“ (Bourdieu), die uns als Urheber unserer Geschichten darstellen, wo wir Opfer überindividueller Verhältnisse sind? So schreibt Th. W. Adorno im November 1942 Folgendes an L. Löwenthal: „Im Grunde geht es dabei darum, dass der Begriff des Lebens selber als einer sich aus sich selbst entfaltenden und sinnvollen Einheit gar keine Realität mehr hat, so wenig wie der des Individuums, und dass die ideologische Funktion der Biographien darin besteht, dass an irgendwelchen Modellen den Menschen demonstriert wird, dass es noch so etwas wie ein Leben gebe, mit all den emphatischen Kategorien von Leben, und zwar gerade in empirischen Zusammenhängen, welche die, die kein Leben mehr haben, mühelos für die ihren reklamieren können.“3
Man kann durchaus den Eindruck teilen, dass überindividuelle Bedingungen es uns zunehmend schwerer machen, ein sinnvolles Leben zu führen und zu gestalten. Dies würde meinen Behauptungen natürlich in keiner Weise widersprechen. Es würde lediglich zeigen, dass wir einige der emphatischen Vorstellungen, die wir mit dem Begriff der Person verbinden, kaum jemals erfüllen. Wir werden unseren eigenen Ansprüchen an ein nicht-defizitäres personales Leben eben kaum jemals gerecht. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, mit so einem Befund umzugehen: Man kann am Begriff der Person festhalten, weil er genau die emphatischen Vorstellungen einfängt, in deren Licht wir fragwürdige soziale Verhältnisse kritisieren können. Oder man kann fordern, dass wir aufhören sollten, uns mit Geschichten in die Fiktion eines sinnvollen personalen Lebens zu flüchten. Beide Alternativen sind problematisch: Die erste Alternative setzt sich eben dem Ideologieverdacht aus, den Autoren wie Adorno äußern. Die zweite aber fordert, dass wir aufhören, uns als Wesen zu betrachten, in Bezug auf die man überhaupt sinnvoll von Fremdbestimmung oder Entfremdung sprechen kann.
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In: Löwenthal (1984), 158 f.
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Mir scheint, dass dieser letztere Preis zu hoch wäre. Wir sollten die normativen Vorstellungen, die wir mit dem Begriff der Person ausdrücken, nicht preisgeben. Stattdessen muss ein Weg gefunden werden, die ideologische Rolle unserer Geschichten zu kritisieren, ohne auf ihre orientierende Kraft zu verzichten. Diesen Weg aufzuzeigen wäre eine Aufgabe für eine weitere Arbeit. (Erste Schritte in diese Richtung habe ich aber an anderer Stelle unternommen, siehe Henning 2006.) Für meine Ausführungen in dieser Arbeit gilt jedenfalls, dass sie mit beiden genannten Sichtweisen kompatibel wären. Ich will jedoch nicht schließen, ohne auf eine weitere Möglichkeit hinzuweisen. Narrative Lebensgeschichten könnten nicht nur Gegenstand, sondern auch Medium einer kritischen Theorie sein. Wie das möglich ist, kann man im Anschluss an W. Benjamin verdeutlichen. Benjamins eigene Haltung zu biographischen Narrationen ist mindestens zwiespältig. Aber er entwickelt in späten Schriften4 eine Form kritischer Theorie, die mir dennoch als wie gemacht für Narrationen erscheint. Benjamins zentrale Idee lautet, grob gesagt, dass der kritische Theoretiker gut daran tut, sich der Epoche der eigenen Kindheit zuzuwenden. Seine methodologischen Ausführungen legen nahe, dass es ihm dabei um Folgendes ging: Unser Verhältnis zu der Zeit, in der wir Kinder waren, bringt uns in eine einzigartige hermeneutische Position. 5 Zum einen können wir aus dem zeitlichen Abstand erkennen, dass die Ideale der damaligen Kultur ideologisch waren. Zum anderen sind diese Ideale aber Teil der eigenen Geschichte. Dies eröffnet uns einen doppelten Zugang: Wir können die damaligen Vorstellungen nicht nur soziologisch erklären und kritisieren, wir können sie als unsere damaligen Beweggründe auch verstehen. Wir können artikulieren, worum es uns ging, und die einstige Ideologie womöglich als Ausdruck legitimer Hoffnungen und Träume erkennen. Indem wir diese Bedürfnisse im damaligen ideologischen Bewusstsein wieder finden, können wir vielleicht erkennen, dass sie auch noch die unsrigen sind. In dieser kritischen Konfrontation kann, so Benjamin, ein Ausweg aus der Entfremdung liegen. Wir erkennen uns in den Kindern wieder, die mit der ausgehenden Epoche ihrer Eltern von Erlösung geträumt haben. Dies kann uns helfen, zu erkennen, inwiefern wir immer noch in ähnlichen Träumen befangen sind. Aber es hilft uns auch, diese Träume als Ausdruck von Anliegen zu verstehen, die noch immer aktuell sind.
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Vor allem in Benjamin (1970) und (1982). Benjamin beschreibt diese Position in der für ihn charakteristischen Terminologie, z. B. mit den Metaphern der Schwelle, vor allem aber der Metapher des Erwachens, siehe ebda.
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Geschichten können ein geeignetes Mittel sein, uns in diese Position zu bringen. Man kann sogar sagen: Zu der skizzierten Form der Kritik haben gerade Wesen Zugang, die sich und ihre Ziele im Zusammenhang einer Geschichte verstehen können. Solche Wesen können davon erzählen, wie sich manche Anliegen in ihrer Geschichte als besonders wichtig erwiesen haben. Aber sie können auch davon erzählen, dass sie diese Anliegen verkannt haben und stattdessen immerzu andere Belange verfolgt haben. Ihre Geschichten können Entfremdung und Authentizität erkennbar und verständlich machen, und sie können praktische Gründe für Entscheidungen artikulieren. Es ist Teil der emphatischen Vorstellungen, die der Begriff „Person“ ausdrückt, dass Personen sensitiv für solche narrativen historischen Gründe sein sollen. Dies war die These dieses Buchs.
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Sach- und Personenregister Abelson, R., 4, 188, 281 Adorno, Th., W. 7, 271 Alltagsnarratologie, VIII, 158 f, 162-164, 173, 183 Anscombe, G. E. M., 79, 122, 274 Antezedens, 120, 124-127, 130-133, 137, 142, 146, 235, 241-246, 249, 255 f, 259 Arendt, H., 6, 7, 266, 274 Aristoteles, 154, 166-168, 220-221, 224-225, 274 Artikulation mentaler Gehalte, VII, 94-98, 100-104, 123 f, 159, 251, 265, 268 f Definition, 102 Kriterien deskriptiver Korrektheit für, 101 f Austen, J., 103 f, 274 Authentizität, VII, 20, 30, 59-64, 67-79, 8590, 93-95, 103-115, 118-120, 129-138, 142, 145, 149 f, 265, 273 als artikulationssensitiv, 95, 104 Definition, 117 historische Theorie der, 105-113. Siehe auch Verlässlichkeit, deliberative Robustheit, akzeptable Bedingtheit, biographische Gründe Kohärenztheorie der, 61, 71, 87-93, 103-105 kombinierte Theorie der, 113-118 Rechtfertigung von Urteilen über, 142 Autonomie, personale, VII, 28, 33-46, 4957, 59-62, 68-72, 75-78, 84-94, 105-108, 130-132, 267-270, 280 als begrifflich geltende Norm für Personen, 33, 35, 42 autonomieverleihende Einstellung, 56 Externalismus bezüglich, 53-56 externe Bedingungen der, 52-56 Franfurtsches Modell, 46 f historische Theorie der, Siehe Authentizität, historische Theorie im anspruchsvollen Sinne, 34
im Fähigkeitssinne, 35 im schwachen Sinne, 34 im Zustandssinne, 35 Internalismus bezüglich, 53 interne Bedingungen der, 52-54, 56 Kantische Konzeption der, 43-45 Kohärenztheorie der, Siehe Authentizität, Kohärenztheorie Kontextsensitivität von "autonom", 34 und Identifikation, 78, 84 vollständige interne Bedingung der, 5557, 78 backtracking counterfactuals, 99, 125 f, 242 Baker, L., 187, 274 Barthes, R., 154, 156, 188, 274 Bedingtheit, akzeptable, 119, 130-133, 138, 143, 150, 241 Bedingung, entscheidende, Siehe Antezedens Benjamin, W., 272-274 Bennett, J., 174 f, 274 Berofsky, B., 51, 274 Biographie, 3 f, 7-28, 31-33, 56 f, 69, 84, 87-89, 105, 107, 109, 111-113, 118, 119, 120-123, 128-131, 136-138, 143, 147151, 243 f, 248, 250, 254-256, 259-263, 267 Einbindung, lebensgeschichtliche, 112124, 127 f, 130, 134, 136 f, 150, 237, 241 f, 246, 251, 257, 268 f. Siehe auch Verlässlichkeit, deliberative Robustheit, akzeptable Bedingtheit, biographische Gründe e-neutrale Vorgeschichte, 242 f, 256 Episode, lebensgeschichtliche, 241-259, 263 Karriere, lebensgeschichtliche, 118-129, 137-140, 143, 150, 235, 236-246, 249, 268 Konzeption, biographische. Siehe Wissen, biographisches
Sach- und Personenregister und Evaluation, Siehe unter Wertung, Evaluation zukünftige vs. vergangene, 25 biographische Evaluation. Siehe unter Wertung, Evaluation BonJour, L., 90, 274 Bortolussi, M., 155, 274 Bourdieu, P., 7, 271, 274 Brandom, R., 16, 274 Brasser, M., 38, 274 Bratman, M., 57, 274 Bremond, C., 154, 190, 194, 274 Brink, D. O., 40, 274 Brinker, K., 171, 275 Bruner, J., 4, 275 Buss, S., 50, 275, 277 Carroll, N., 185, 275 Castañeda, H.-N., 240, 275 Chalmers, D., 39, 202, 275 Chatman, S., 154, 275 Christman, J., 51 f, 54, 105-108, 132, 275f, 283 Cohen, S., 141, 275 Culler, J., 154, 275 Dancy, J., 58, 265, 275 Danto, A. C., 179, 275 Davidson, D., 79, 102, 122, 175 f, 275 f DeBeaugrande, R., 171, 203, 276 DeLancey, C., 215, 276 Dennett, D., 9, 35, 102, 160, 276 DeRose, K., 141, 276 Deutscher, M., 139, 279 Dixon, P., 155, 274 DNT (These), 24 Dramatizität, 136, 197, 253. Siehe auch Narrativität, Dramatizitätsbedingung dramatische Signifikanz vs. emotionale Wirkung, 197, 200-204, 214 dramatische Struktur, 12, 197-199, 214, 219, 257 Definition, 219 dramatische Struktur, geschlossene, 166 f, 197, 222-226, 257-260, 263 Definition, 223 inhaltliche, 198 f, 204 Prinzip der Dominanz dramatisierender Perspektiven, 230 Supervenienz über subjektiver Wahrscheinlichkeit und emotionaler Signifikanz, 197-201, 206, 214-217, 254
285
und Relevanz, 231 Dressler, W., 171, 203, 276 Dretske, F., 42, 141, 203, 276 Dworkin, G., 43-45, 51, 56 f, 87 f, 276 Ekstrom, L. W., 46, 88, 92 f, 276 Elliott, J., 4, 276 Emotionen affect program theory, 216 antizipierende, 218, 256 f antizipierende emotionale Signifikanz, 218 f, 256 f antizipierende und Erfüllungen/Nichterfüllungen, 218 diachrone emotionale Signifikanz, 215 f, 219 emotionale Signifikanz und emotionale Urteile, 213 emotionale Signifikanz vs. emotionale Wirkung, 197, 201, 213 f, 251 emotionale Urteile, 209-214, 251, 254 emotionale Urteile als konditionale expressive Urteile, 210-214 emotionale Urteile, logische Form der, 210 emotionales Urteilsvermögen, 201, 209214, 262 Formalobjekte der, 210 rationale Bewertung der, 212 und dramatische Geschlossenheit, 222,226, 257-260, 263 Ereignisse, 204. Siehe auch Narrativität: Bedingung der Ereignisreferenz als Eigenschaftsexemplifikationen, 174 f, 177 Individuation, 174 f, 188 Sortalbegriffe für, 175, 177, 187 f versteckte Quantifikation über, 176 f Erinnerungen, 13, 128, 138-141 Erzählung. Siehe Narration Erzählung (lit. Gattung), 162 Evans, G., 192, 276 Feinberg, J., 35, 276 Festlegung (commitment), 16, 23 Definition, 23 und epistemische Rechtfertigung, 23 Fiktionalität, 206-208 vs. Narrativität. Siehe Narrativität Fischer, J. M., 51, 276 Fludernik, M., 155, 277 Foot, P., 4, 277
286
Sach- und Personenregister
Frankfurt, H., 38, 43-52, 56 f, 60, 88-90, 277 Frege, G., 239, 277 Ganzheit, narrative. Siehe Narrativität: Ganzheitsbedingung; Geschlossenheit, Aristotelische; Dramatizität: dramatische Struktur, geschlossene; Emotionen: und geschlossene dramatische Struktur Garcia Landa, J. A., 280 García-Carpintero, M., 275, 277 Gendler, T. S., 39, 277 Genette, G., 154, 277 Gergen, K. J. und M., 4, 277 Geschichte (historisch). Siehe Biographie Geschichte vs. Geschichten, 2 Geschichte (narrativ). Siehe Narration Geschlossenheit, Aristotelische, 166, 198, 214, 220. Siehe auch Dramatizität Goldman, A., 141, 175, 187, 277 Greimas, A.-J., 154, 194, 277 Grice, P., 231, 277 Gründe, biographische. Siehe unter Gründe, praktische Gründe, epistemische, 81, 102, 140 Gründe, praktische biographische, 90, 120, 134-138, 143, 236, 241, 247, 268, 270 motivationale, 58, 63-64, 69, 85, 149, 270 narrative, 20 f, 107, 134, 236, 260-266, 273 normative, V, 28, 50, 52, 57, 109, 128, 135, 149, 218, 265, 269 Handlung (Plot), 200, 266 Definition, 189 f Individuation, 190 Harman, G., 140, 277 Harweg, R., 171, 277 Hawthorne, J., 39, 277 Henning, T., V, 272, 278 Herman, D., 155, 189, 278 Horizont, epistemischer, 201-208, 215 Akkomodation, 206-208, 253 Dynamik, 203, 206-208 formales Modell, 203-208 und bereits bekannte Geschichten, 208 und epistemisch mögliche Welten, 202204 und Fiktionalität, 206-208
und Wahrscheinlichkeitsfunktion, 202208, 215 Hume, D., 80, 81, 278 Identifikation, VII, 28, 32-35, 42, 56-72, 7790, 93 f, 103-106, 112, 118, 123, 128, 138, 142-150, 153, 163, 190, 234-237, 244, 247, 250 f, 254-261 als begrifflich geltende Norm für Personen, 35, 42 f Definition, 69 und Anerkennung, 83 und Autonomie, 78, 84 und biographische Rechtfertigung, 142, 146 und Rechtfertigung, 23-25, 28, 33, 69, 78-84, 87, 104 Informationstheorie, 203. Siehe auch Wahrscheinlichkeit, subjektive; Horizont, epistemischer; Überraschungswert (surprisal) Jackson, F., 38, 157 f, 278 Jeffrey, R., 43, 206, 278 Kant, I., 43-45, 54, 78, 158, 278, 283 Kaplan, D., 22, 278 Kenny, A., 209, 278 Kim, J., 121, 174-177, 278 Kohärenz, 89-93 kontrafaktische Konditionalaussagen, 17, 73 f, 99 f, 109-111, 124-126, 242, 251, 262 Korrespondenz, intentionale, 120-124, 127, 129-133, 142 f, 146, 151, 235, 242 Definition, 124 negative, Definition, 129 Kripke, S., 5, 38, 40, 157 f, 278 Lamarque, P., 10-14, 245, 248, 278 Lamarques Bedingung, 12 Larson, R., 240, 278 Lebensgeschichte, personale. Siehe Biographie Lehrer, K., 92, 278 Lewis, D. K., 16, 38 f, 74, 99 f, 109, 111, 125 f, 140 f, 157, 174, 178, 206 f, 240, 254, 278 f Literarizität vs. Narrativität. Siehe Narrativität Locke, J., 9, 35, 279 Löwenthal, L., 7, 271, 279 Ludlow, P., 240, 278 Macià, J., 277 MacIntyre, A., 6 f, 266, 279
Sach- und Personenregister Mackie, J., 125, 185, 279 Manipulation, selbstreferentielle, 55 Martin, C. B., 139, 279 Mele, A., 51, 65, 106 f, 130, 132, 275, 279 Mink, L. O., 220, 279 Moore, G. E., 40, 279 Mooresche Fakten, 140 Nagel, T., 75, 279 Narration, V, VIII, 1-11, 14-21, 25, 31, 106, 127, 152, 153-235, 238, 240, 244-246, 249-268, 272, 281 Aktsinn vs. Produktsinn, 159 Geschichten mit offenem Ende, 224, 225 im Sinne eines abstrakten Typs, 227 Typ vs. Token, 168, 227 Typindividuation, 227 Narrativität, VIII, 1-3, 6, 11 f, 18, 29, 105, 147-248, 252, 259-262 als dispositionsabhängig?, 229 als Eigenschaft von Tokens vs. als Eigenschaft von Typen, 228, 230, 233 als kontextsensitiv, 148, 167, 170, 189, 195-198, 228-230 als pragmatische Eigenschaft, 12, 148, 195-198 als relative oder absolute Eigenschaft, 189, 228-230 Bedingung der Ereignisreferenz, VIII, 169, 174, 178, 192, 246 Bedingung des Sinnzusammenhangs, VIII, 169, 183, 189, 246 Definition, 169 f Diachronizitätsbedingung, VIII, 169, 178 f, 246 Dramatizitätsbedingung, 148, 170, 206, 219, 247 Ganzheitsbedingung, VIII, 170, 219226, 257-260, 263 Prinzip der Dominanz dramatisierender Perspektiven, 230 semantische Intentionalitätsbedingung, 169, 190, 193 f Sequenzialitätsbedingung, VIII, 169, 178-182, 246 Textualitätsbedingung, 169-172 Theorie als Aristotelianisch, 166 und Relevanz, 231 vs. Fiktionalität, 8 f, 159-162 vs. Literarizität, 8 f, 159-162
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Narratologie, 154-156, 166 f, 189 f, 194, 220 Neely, W., 43, 57, 279 Nehamas, A., V, 7 f, 190, 279 Noggle, R., 51, 54, 62, 86, 88, 93, 279 Norm, begrifflich geltende, 22-28, 33 und Geschlossenheit unter begrifflicher Implikation, 42 Nozick, R.,73 f, 279 Nünning, A., 155, 279 Onega, S., 274, 277, 280 Ordnungsrelation Äquivalenzrelation, 182 Quasiordnung, 169, 180-182, 246 Quasiordnung, Definition, 181 Quasiordnung, partiell strikte, 182 f, 219, 223 schwache partielle Ordnung, 181 strikte Wohlordnung, 181 zeitlich zu interpretierende, 183 Overton, L., 275, 277 Paternalismus, 54 Perry, J., 240, 280 Person Begriff "Person", 6, 9, 21 f, 28, 31-33, 153, 234, 265 Begriff "Person" als praktisch, 5, 9 f, 35, 41, 153, 234 Begriff "Person" nicht ambig, 37 Begriff "Person" und Autonomie, 33, 36, 41 Begriff "Person" und begrifflich geltende Normen, 22, 28, 35 f Begriff "Person" und Narrativität, 10, 15, 17 f, 21 f, 265, 273 Begriff "Person", Analyse in RamseyLewis-Form, 38 Begriff "Person", deskriptive Analysen zurückgewiesen, 37-41 Begriff "Person", Strawsons Definition, 36 Eigenschaft Personalität, 9 f, 15, 21, 35, 161, 163, 167, 248 und Autonomie, V. Siehe auch unter Autonomie, als begrifflich geltende Norm für Personen Polkinghorne, D. E., 4, 280 Pollock, J., 2, 280 Preyer, G., 34, 280 Prince, G., 154, 280 Propp, V., 194, 280
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Sach- und Personenregister
Putnam, H., 38, 40, 157 f, 280 Quante, M., V, 32, 38 f, 61, 139, 148, 280 Quasi-Erinnerung, 139 Quine, W. V., 93, 210, 280 Ravizza, M. 51, 276 Rechtfertigung. Siehe Identifikation und Rechtfertigung und Rechtfertigung, epistemische Rechtfertigung, epistemische, 22-24, 78, 85, 139 Definition, 22 Relevanz, 148, 231 f, 262 f relevanzmaximierende Interpretation, 148, 231 f, 262 f Ricœur, P., 6, 162, 266, 280 Robustheit, deliberative, 120, 133 f, 241 Rorty, R., 7 f, 110, 276, 280 Rorty, A. O., 276, 280, 282 Ross, W. D., 67, 280 Rumelhart, D., 4, 155, 280 Russell, B., 16, 192, 280 f Sarbin, T., 4, 281 Sayre-McCord, G., V, 60, 71, 281 Schafer, R., 4, 281 Schank, R., 4, 188, 281 Schelling, F., 45, 281 Schnieder, B., 77, 281 scripts, 188 Seit-Wann-Fragen, 19, 141 Sennett, R., 267, 281 Shannon, C., 203, 281 Shoemaker, S., 25, 139, 281 Signifikanz, dramatische. Siehe unter Dramatizität Signifikanz, emotionale. Siehe unter Emotionen Smith, M., V, 60, 71, 281 Soames, S., 37, 202, 281 de Sousa, R., 209, 212, 276 Sperber, D., 231, 281 Stalnaker, R., 16, 202, 281 Strawson, G., 10, 12-15, 150, 281 Strawsons Bedingung, 14 über den episodischen Charakter, 13 Strawson, P. F., 36-38, 81, 282 Swinburne, R., 23, 282 Tanney, J., 103, 282 Taylor, C., 6 f, 43, 50, 57, 62, 93-96, 101, 151, 179, 266, 279, 282. Siehe auch Artikulation mentaler Gehalte Taylor, J. S, 51, 282
Thomä, D., 8, 282 Thompson, M., 4, 282 Toolan, M. 155, 282 Überraschungswert (surprisal), VIII, 202208, 214 f bedingter, und konditionale Wahrscheinlichkeit, 205 f, 215 kein psychologischer Begriff, 204 Unger, P., 34, 282 Velleman, J. D., 25, 167, 185, 215, 221-225, 282 Verknüpfung, sinnhafte, 169, 183-193, 227, 244-246, 266 explanatorische, 184 f konstitutive, 184-189 teleologische, 184-186 zwischen Episoden, 247 Verlässlichkeit, 119, 128-130 Volition, 46 f, 56-60, 63-76, 84, 277 Frankfurts Humeanische Theorie der, 50 und Identifikation, 56 Völter, B., 4, 282 Voss, C., 215, 282 Wahrscheinlichkeit, subjektive, 197, 201203 konditionale, 205, 206, 215 Siehe auch Überraschunsgwert (surprisal) Watson, G., 50, 56 f, 65, 85, 282 Weaver, W., 203, 281 Welten, mögliche, 4, 22, 36, 100, 111, 202208, 239, 242 f epistemisch mögliche, 202-208, 218, 225, 253 Wertung, Evaluation, 65 f "dünne" Wertung (thin valuing), 65 biographische Wertung, 148-150, 250 biographische Wertung und Dramatizität, 255-259, 263 biographische Wertung und emotionale Signifikanz, 149 f, 250-255, 261-263 holistische biographische Wertung, 152, 250, 258 motivationaler Internalismus bezüglich, 66 prima facie-Wertung, 67-69 zeitasymmetrische biographische Wertung, 151 wholeheartedness, 89 f, 103 Willaschek, M., 43, 283 Williams, B., 11, 75, 163, 283
Sach- und Personenregister Williamson, T., 139, 283 Wilson, D., 231, 281 Wissen, 85. Siehe auch unter Wissen, biographisches Kohärenztheorie, 89 Kontextualismus, epistemischer. Siehe unter Wissen, biographisches testimoniales, 140 tracking account, 73 Wissen, biographisches, 31, 108 f, 127-130, 136-138, 143-145 Kontextualismus, 141
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Konzeption, biographische, 17, 24-26, 33, 85, 105-107, 119 f, 128, 138, 143148, 161, 236 f, 240 f, 244-249, 257, 260-263, 269 Quellen biographischen Wissens, 138140 Wittgenstein, L., 260, 283 Wolf, S., 51, 53 f, 283 Wright, C., 103, 283 v. Wright, G. H., 11, 283