Malte Mienert . Sabine Pitcher pädagogische Psychologie
Basiswissen Psychologie Herausgegeben von Prof. Dr. Jürgen Kr...
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Malte Mienert . Sabine Pitcher pädagogische Psychologie
Basiswissen Psychologie Herausgegeben von Prof. Dr. Jürgen Kriz Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Markus Bühner, Prof. Dr. Thomas Goschke, Prof. Dr. Arnold tonaus. Prof. Dr. Jochen Müsseler, Prof. Dr. Astrio Schütz Die neue Reihe im VS verlag: Das Basiswissen ist konzipiert für Studierende und Lehrende der Psychologie und angrenzender Disziplinen, die Wesentliches in kompakter, übersichtlicher Form erfassen wollen. Eine ideale Vorbereitung für Vorlesungen, Seminare und Prüfungen: Die Bücher bieten Studierenden inallerKürze einen fundierten Überblick über diewichtigsten Ansätze und Fakten. Sie wecken so Lust amWeiterdenken und Weiterlesen. Neue Freiräume in der Lehre: Das Basiswissen bieteteine flexible Arbeitsgrundlage. Damit wird Raum geschaffen für individuelle Vertiefungen, Diskussion aktueller Forschung und Praxistransfer.
Malte Mienert Sabine Pitcher
pädagogische Psychologie Theorie und Praxis des Lebenslangen Lernens
III VS VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Kea S. Brahms VS verlagfür Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer sclence-ausiness Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seinerTeile ist urheberrechtlich geschützt. Jede verwertung außerhalb der engen Grenzen des urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung desVerlags unzulässig undstrafbar. Das gilt insbesondere für vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undverarbeitungin elektronischen Systemen. DieWiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervon jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druckund buchbinderische verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16945-3
Inhalt
1
Vorwort - Ein Überblick über das Buch
2 Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich? 2.1 Die Pädagogische Psychologie zwischen Pädagogik und Psychologie 2.1.1 Die Definitionen von Pädagogik und Psychologie 2.1.2 Der Begriff "Erziehung" 2.1.3 Das Gegenstandsgebiet der Pädagogischen Psychologie 2.1.4 Die Aufgaben der Pädagogischen Psychologie 2.2 Ein kurzer Blick in ihre Geschichte 2.3 Forschungsmethoden der Pädagogischen Psychologie 2.3.1 Unterrichtsforschung 2.3.2 Die PISA-Studien 2.3.3 Entwicklung von Bildungsangeboten und Interventionsmaßnahmen 2.3.4 Grundzüge der Evaluation von Bildungsangeboten und Trainingsmaßnahmen 2.4 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 3
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Entwicklung als Handeln im Kontext - ein neuer Blick auf das Lernen Eine Einführung in die handlungsorientierte Entwicklungspsychologie Theorieklassen menschlicher Entwicklung Leitsätze einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne Entwicklung als Handeln im Kontext Zusammenfassung und weiterführende Literatur
4 Der Lernende im Zentrum 4.1 Was ist Lernen? 4.2 Lernen als Verhaltensänderung 4.2.1 Lernen als Wissenserwerb
9 11
12 12 13 14 15
17 18 19 20 21 23 23
25 25 25 27 28 31 33 33 33 35
6
Inhatt
4.3 Führenden Paradigmen der Lernforschung 4.3.1 Die Bedeutung behavioristischer Lerntheorien in der Pädagogik 4.3.2 Die Spezifik kognitivistischer Lerntheorien 4.3.3 Forderungen an Lernunterstützung aus konstruktivistischer Sicht 4.4 Die Lehrkraft im Spiegel der Paradigmen des Lernens 4.5 Zusammenfassung und weiterführende Literatur
37 40 43 47 49 51
5
Individuelle Interessen - Die Zielorientierungen und Motive von Lernenden 5.1 Welche Ziele verfolgen Lernende? 5.1.1 Lernziele und Leistungsziele 5.1.2 Lernmotive und Lernmotivation 5.1.3 Die Beschreibung von Annäherungsund Vermeidungszielen 5.1.4 Emotionen beim Lernen 5.2 Wie funktioniert selbstgesteuertes Lernen? 5.2.1 Bildungsprozesse als Selbststeuerung von Lernern 5.2.2 Einsatz und Messung von Lernstrategien beim selbstgesteuerten Lernen 5.2.3 Die Rolle der Lehrkraft im selbstgesteuerten Lernen 5.3 Zusammenfassung und weiterführende Literatur 6 6.1 6.2 6.3
6.4
Erziehungs- und Unterrichtsziele - Die Lernumwelt und ihre Anforderungen Gesellschaftliche Erziehungsziele unter der Lupe Lernen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe Erziehungsziele - der Blick auf ihre Planung und Umsetzung 6.3.1 Die Unterrichtsziele in der Schule 6.3.2 Die Begründung von Erziehungszielen 6.3.3 Die Erziehungsziele von Ettern Die Psychologie der Lehrkraft 6.4.1 Auf der Suche nach der guten Lehrkraft - die Paradigmen der Lehrerforschung 6.4.2 Die Lehrerpersönlichkeit im Persönlichkeitsparadigma 6.4.3 Das Lehrerverhatten im Prozess-Produkt-Paradigma 6.4.4 Der Blick auf Lehrexperten - Das Expertenparadigma
53 53 54 57 58 60 62 62 63 64 66 69 69 70 71 73 75 78 79 79 81 83 84
Inhatt 6.4.5 Die Wirkung impliziter Persönlichkeitstheorien von Lehrkräften auf die Leistungen von Schülern 6.4.6 Die Attribution von Schülerleistungen 6.5 Mehr als nur die Lehrkraft: Wie können Lernumgebungen ökopsychologisch beschrieben werden? 6.6 Kulturelle Aspekte von Lehren und Lernen 6.7 Zusammenfassung und weiterführende Literatur
7
85 88 89 93 95
7.4
Individuelles Leistungsvermögen Die Psychologie von Lernenden Kognitive Leistungsvoraussetzungen des Lernens unter der Lupe 7.1.1 Die Entwicklung des Denkens 7.1.2 Die Beschreibung des menschlichen Gedächtnisses 7.1.3 Entwicklungsprozesse des menschlichen Gedächtnisses 7.1.4 Denken und Gedächtnis beim Aufbau von Wissensstrukturen Intelligenz, Hochbegabung, Expertise - Vom Umgang mit Unterschiedlichkeit 7.2.1 Die Intelligenz von Lernenden Das Phänomen Hochbegabung 7.3.1 Die Entwicklung von bereichsspezifischem Wissen (Expertise) Zusammenfassung und weiterführende Literatur
8 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6
Der Lebensverlauf - Lernen ein Leben lang Aktuelle Trends - Das lebenslange Lernen im Blick Lernen im Kleinkindalter Schulisches Lernen und Erwachsenenbildung im Vergleich Erwachsenenbildung im Fokus Lernen im höheren Lebensatter Zusammenfassung und weiterführende Literatur
121 121 123 124 125 127 128
Lebenswelten von Lernenden - Anwendungsfelder der Pädagogischen Psychologie 9.1 Beruf: Pädagogischer Psychologe 9.2 Pädagogisch-psychologische Diagnostik 9.2.1 Grundlagen der pädagogisch-psychologischen Diagnostik 9.2.2 Die Bedeutung von Normen in der Psychodiagnostik
131 131 132 132 133
7 7.1
7.2 7.3
97 97 98 102 104 106 109 109 114 117 119
9
Inhalt
8
9.3 9.4 9.5 9.6 9.7
Pädagogisch-psychologische Intervention in der Schule Fortbildung und Trainingsmaßnahmen Beratung Familienbildung Zusammenfassung und weiterführende Literatur
10 Literaturverzeichnis
135 136 138 139 140 143
Vorwort - Ein Überblick über das Buch
"Studierende wurden über ihre Studiengewohnheiten befragt. Es sollte herausgefunden werden, wie die Motivation das Studienverhalten beeinflusst. Als Ergebnis zeigte sich, dass hoch motivierte Studenten weniger an Gruppenarbeiten teilnahmen als weniger motivierte Studenten." "Durch Beobachtung von Eltern mit Säuglingen wollte man herausfinden, wie Eltern mit ihren Säuglingen in den ersten drei Lebensmonaten sprechen. Ein Ergebnis war, dass Eltern im Laufe der Zeit immer sicherer wurden und dabei immer mehr Babysprache verwenden (wau-wau, da-da ...)." Das weiß doch jeder? Wie hätten Sie geantwortet? Langfeldt (1989, 1991) hat solche Alltagsfragen verwendet, um herauszufinden, wie pädagogisch-psychologisches Wissen im Alltag verankert ist. Seine Versuchspersonen - Studierende der Pädagogik und Fachleute - sollten antworten, ob die dargestellten Befunde von den Befragten genauso vorhergesagt worden wären oder ob die Befragten das Gegenteil der dargestellten Aussage vorhergesagt hätten. Das Antwortverhalten der Befragten wurde dann tatsächlichen Studienbefunden gegenübergestellt. Deutlich wurde eins: Pädagogikstudierende wie auch Experten von Pädagogik und Pädagogischer Psychologie waren fest in ihren Überzeugungen zu den dargestellten Befundberichten - und lagen nahezu genauso häufig richtig wie auch falsch. Hätten Sie gewusst, dass die erste Aussage oben falsch und die zweite Aussage wahr ist? Und wie sicher sind solche uneingeschränkten Befunddarstellungen aus wissenschaftlichen Untersuchungen tatsächlich ableitbar? Kann man denn so eindeutig "richtige" und "falsche" Aussagen über komplizierte Sachverhalte treffen? Selbst die Befunddarstellungen von Langfeldt (1989, 1991) blieben nicht ohne Kritik von Kollegen (Giesen & Kloft, 1991). Vielleicht wird an dieser Stelle bereits deutlich, in welchem Spannungsfeld zwischen Alltags- und Erfahrungswissen einerseits und Anspruch an Wissenschaftlichkeit und Exaktheit psychologischer Forschung andererseits die Pädagogische Psychologie angesiedelt ist. Sie bemüht sich um die wissenschaftliche Untermauerung erzieherischen Wissens - und bewegt sich damit in einem Feld, in dem fast jeder sich alltagserprobte, intuitive Fachkenntnisse zugesteht. M. Mienert, S. Pitcher, Pädagogische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-531-92095-5_1, © VS verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Vorwort
Ziel unseres Buches ist es, Sie in die pädagogische Psychologie zu begleiten und Sie für den Fachdiskurs über erzieherische Themen zu stärken. Wir wollen Sie mit den Grundbegriffen der Pädagogischen Psychologie vertraut machen und dabei die unterschiedlichen Sichtweisen auf unser Themengebiet verdeutlichen, ohne Sie dabei dogmatisch zu führen. Leitbild wird dabei ein Verständnis menschlicher Entwicklung sein, das als "Handeln im Kontext" gekennzeichnet wird. Der Mensch gestaltet seine Entwicklung anhand eigener Ziele und Wünsche, ist aktiv und baut sich Wissensbestände und Verhaltensmöglichkeiten beim Lernen auf. Dabei ist er jedoch nicht völlig frei, sondern bewegt sich beim Lernen in einem Kontext innerer Leistungsvoraussetzungen (körperliche und geistige Ausgangsbedingungen) genauso wie in einem Kontext äußerer Bedingungen (Erziehungsziele der Gesellschaft und Umweltbedingungen), die ihn beim Lernen begleiten, sein Lernen befördern, erschweren oder unmöglich machen. Diesen Kontextfaktoren ist der Lernende! jedoch nicht ausgeliefert, er kann sie beeinflussen, seine inneren Leistungsvoraussetzungen verändern und die Lernumwelt entsprechend seiner Lerninteressen gestalten.
Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir an vielen Stellen in diesem Buch der besseren Lesbarkeit halber nur die männliche Schreibweise verwenden, wenn es keine geschlechtsneutrale Alternative gibt. Dabei sind, wenn nicht anders angegeben, in der Regel die weiblichen Mitglieder der betreffenden Gruppen ausdrücklich mit einbezogen. 1
Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich ?
Fragen Sie Fachleute - Psychologen wie auch Pädagogen - nach ihrer Einschätzung der Pädagogischen Psychologie, und Sie werden erstaunt sein, wie unterschiedlich die Auffassungen von ihr sein werden. Von "Schulpsychologie" über "Alltagspsychologie'~"geringe Anforderungen an Wissenschaftlichkeit', "hoher Gebrauchswert für den Alltag", "interessant" und "nicht naturwissenschaftlich" wird viel dabei sein. Während einige die Pädagogische Psychologie als die "einzige Psychologie, die für Nicht-Psychologen interessant ist" bezeichnen, siedeln andere sie noch immer als Randgebiet der Entwicklungspsychologie an, die für Schulpraktiker, aber nur für diese, Relevanz besitzt. Geändert hat sich die Einschätzung der Pädagogischen Psychologie in den letzten Jahren langsam durch die zunehmende Bedeutung der Bildungsforschung im Zuge von PISA und Co. Die "wissenschaftliche Erforschung der psychologischen Seite von Erziehung", so lautet die Definition der Pädagogischen Psychologie, hat wichtige Erkenntnisse für die Gestaltung von Lehr- und Lernumgebungen geliefert. Die wissenschaftliche Exaktheit ihrer Untersuchungsmethoden und die hohe Aussagekraft ihrer Befunde hat der Pädagogischen Psychologie neues, großes Selbstbewusstsein verschafft. Wir werden uns in den nächsten Abschnitten die Definition Pädagogischer Psychologie genauer ansehen und für ihr Verständnis einen ihrer Grundbegriffe näher erläutern - den Begriff der Erziehung. Nach einem kurzen Rückblick in die Geschichte der Pädagogischen Psychologie werden wir ihre Anwendungsfelder in den Blick nehmen und dabei von der ursprünglichen "Schulpsychologie" auf alle Altersbereiche Lernender und Lehrender erweitern. Die Forschungsmethoden der Pädagogischen Psychologie werden im Überblick dargestellt und neue Forschungstrends aufgezeigt.
M. Mienert, S. Pitcher, Pädagogische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-531-92095-5_2, © VS verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2.1
Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich?
Die Pädagogische Psychologie zwischen Pädagogik und Psychologie
2.1.1 Die Definitionen von Pädagogik und Psychologie Zwei Wissenschaftsgebiete sind im Begriff der "Pädagogischen Psychologie" miteinander vereint. Die Schnittstellenfunktion zwischen Pädagogik und Psychologie wird bereits an dieser Stelle deutlich: Pädagogik: Die Wissenschaft von der Bildung und Erziehung des Menschen. Psychologie: Die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen. Merken Sie etwas? So ähnlich beide Definitionen auf den ersten Blick auch klingen mögen, Psychologie und Pädagogik unterscheiden sich in erster Linie im Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen. Während Pädagogen den Prozess der zielorientierten und häufig auch angeleiteten Veränderungen des Menschen in Bildungskontexten in den Blick nehmen, betonen die Psychologen zunächst die Ausgangsbedingungen, die ein Mensch für seine Bildungs- und Lernprozesse mitbringt. Kurz - und auch überspitzt gesagt - gilt somit: Psychologen sagen, wie der Mensch ist, Pädagogen sagen, wie der Mensch sein sollte und wie man ihn dazu bringt, so zu sein. In Fachdiskussionen zwischen Experten beider Disziplinen ist somit genau darauf zu achten, dass beide Ebenen nicht miteinander vermischt werden. Geht es jetzt gerade darum, wie der einzelne Mensch eigentlich ist, wie seine Lernvoraussetzungen und Handlungsmöglichkeiten sind, oder geht es eher darum, was Menschen im Allgemeinen erreichen müssen und sollen? Bei der Diskussion eines einzelnen Schülers kann diese Frage schnell zu einem Glaubenskrieg werden. Vor der Pädagogik wie auch der Pädagogischen Psychologie steht außerdem die bisher noch ungenügend bewältigte Anforderung, die Einschränkung erzieherischen Handeins auf die Altersgruppe der Kinder zu überwinden. Schon scheint der Titel "Pädagogik" nicht mehr zu passen, da Pädagogik direkt übersetzt "Knabenführung" bedeutet und eine Altersdifferenz zwischen Erzieher und zu Erziehenden festschreibt. Auf die gesamte Lebensspanne ausgerichtete Begriffsalternativen wie .Jnstrukttonspsychologie" und "Bildungswissenschaften" ist es bisher noch nicht gelungen, den traditionellen Pädagogik-Begriff aus den Definitionen und dem Denken der Fachdisziplinen zu verdrängen. Auch wenn allgemein einer Ausweitung auf die Betrachtung lebenslangen Lernens zugestimmt wird, so sind die Forschung wie auch die Ausbildung in Pädagogik und Pädagogischer Psychologie nach wie vor überwiegend auf die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet.
Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich?
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2.1.2 Der Begriff"Erziehung" Der Begriff der Erziehung stellt ein wichtiges Definitionsmerkmal Pädagogischer Psychologie und gleichzeitig ein Bindeglied zwischen den Fachtraditionen der Pädagogik und der Psychologie dar. Brezinka (1974, S. 98) hat den Begriff wie folgt definiert: "Erziehung umfasst alle Handlungen, durch die Menschen versuchen, das Gefüge der psychischen Dispositionen anderer Menschen in irgendeiner Weise dauerhaft zu verbessern oder seine als wertvoll erachteten Komponenten zu erhalten oder die Entstehung von Dispositionen, die als schlecht bewertet werden, zu verhüten." Erziehung stellt also einen Prozess dar, kein Ergebnis von Handlungen ("X hat eine gute Erziehung"). Dieser Prozess ist ein aktives Geschehen, das zielorientiert und wertbezogen verläuft. Gerade die Zielorientierung im erzieherischen Handeln, die sich an bestimmten Wertmaßstäben orientiert, hat zu vielen Diskussionen über die Rechtmäßigkeit erzieherischen Handeins geführt. Dürfen Menschen überhaupt andere Menschen beeinflussen und ändern wollen? Gilt dies bei Erziehung von Kindern genauso wie bei erzieherischem Handeln innerhalb einer Altersstufe (z.B. in der Erwachsenenbildung)? Was rechtfertigt Erziehungsziele, wann sind sie angemessen, wann sind sie falsch? Vieles gilt es beim Erziehungsbegriff zu beachten, und sachliche und ideologische Stolpersteine finden sich reichlich: Erziehung ist effektbezogen: Der Prozess der Erziehung im engeren Sinne ist das Handeln von Menschen gegenüber anderen Menschen, mit dem die eine Seite bei der anderen bestimmte Ziele verwirklichen möchte. Hieraus speist sich für die Erziehenden gegenüber den zu Erziehenden (die manchmal auch als "Edukanten" bezeichnet werden) die Last großer Verantwortung. Erziehungsziele sind genau zu überlegen und gut zu begründen. Erziehung ist intentional: Die Absichten, die ein Erzieher gegenüber einem Edukanten hat, sollten stets offen gelegt werden und diskutiert werden können. Eine Beeinflussung des Gegenübers ohne dessen Wissen kommt Machtausübung und Manipulation nahe. Erziehung ist wertbezogen: Die Erziehungsziele sind grundsätzlich von einer Haltung gegenüber dem zu Erziehenden bestimmt, die es zu ergründen und offenzulegen gilt. Die Werte der Erzieher sind häufig Teil eines größeren erzieherischen Wertgefüges, das dann auch als Erziehungsideologie bezeichnet werden kann. Gesellschaftlich vorherrschende Erziehungsideologien einer
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Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich?
Zeitepoche oder einer Gemeinschaft nehmen auf alles erzieherische Handeln Einfluss. Erziehung ist alters- und gruppenunabhängig: An dieser Stelle befreit sich die Pädagogische Psychologie aus der Konzentration auf die Altersgruppe der Schulkinder. Erziehung im Sinne der oben definierten Einflussnahme kann in allen Altersgruppen stattfinden und kann auch die klassischen Altersvorgaben sprengen. Erziehung ist dauerhaft ausgerichtet: Ziel des erzieherischen Handeins sind zumeist auf Dauer angelegte Veränderungen beim Edukanten. Diese Veränderungen werden nicht immer so erreicht, aber immer so intendiert. Damit steht die Erziehung im Einklang mit üblichen Definitionen von Lernen, in denen ebenfalls länger dauernde Veränderungen in Wissen und Verhalten von Menschen betont werden. Erziehung ist normorientiert: Der Begriff der Norm ist so vielschichtig, dass er eigener Erläuterungen in Kapitel 9.2.2 bedarf. Die in der Schule nach Beschluss der Kultusministerkonferenz nach wie vor vorherrschende Kriteriumsnorm (als sachlicher Abstand zu einem vorformulierten Lernziel) hat Konkurrenz durch weitere Normen erhalten. Allen gemeinsam ist jedoch, dass es einen Maßstab beim erzieherischen Handeln dafür geben muss, inwiefern es zwischen dem Erziehungsziel und dem tatsächlichen Ist-Stand beim Edukanten Übereinstimmungen oder Diskrepanzen gibt.
2.1.3 Das Gegenstandsgebiet der Pädagogischen Psychologie Die Pädagogische Psychologie hat es sich zum Ziel gemacht, die psychologische Seite von Erziehungsprozessen zu erforschen. Sie bleibt dabei ihrer Hauptdisziplin - der Psychologie als der Lehre vom Erleben und Verhalten von Menschenverhaftet und fragt, inwieweit der Mensch in seinem Erleben und Verhalten tatsächlich erzieherisch beeinflussbar ist und wie Erziehungsverhalten gestaltet sein muss, damit es der Psyche des Menschen angemessen ist. Das Gegenstandsgebiet der Pädagogischen Psychologie sind demzufolge Prozesse der Einflussnahme auf Menschen. Diese Prozesse der Einflussnahme müssen dabei nicht unbedingt immer bewusst und planvoll geschehen, und nicht immer müssen die Versuche der Einflussnahme tatsächlich auch erfolgreich sein, um zum Gegenstand der Pädagogischen Psychologie zu werden. Zum besseren Verständnis wieder ein paar Begriffsbestimmungen:
Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich?
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Als "Erziehung im engeren Sinne" werden alle Prozesse der Einflussnahme auf Menschen bezeichnet, die bewusst und planvoll erfolgen und auf längerfristige Veränderungen abzielen. Als "Sozialisation" werden die indirekten Prozesse bezeichnet, die ebenfalls längerfristige Veränderungen beim Menschen bewirken, ohne dass sie bewusst und planvoll mit Veränderungsabsicht initialisiert wurden. "Sozialisation" (auch als das "Hineinwachsen in gesellschaftliche Rollen" definiert) ist also ein Prozess, der in der alltäglichen Auseinandersetzung des Menschen mit den Anforderungen seiner Umwelt stattfindet. Beide Prozesse gehören zum Gegenstandsgebiet der Pädagogischen Psychologie, obgleich die Erziehungsprozesse in der pädagogisch-psychologischen Forschung und Literatur weit stärker präsent sind als die Sozialisationsprozesse - wahrscheinlich eine Folge ihrer besseren Operationalisierbarkeit. Der Kontext, in dem Menschen lernen und sich verändern, ist vielschichtig und beschränkt sich keineswegs auf pädagogisch arrangierte Umwelten wie Kindertagesstätte, Schule und die Institutionen der Erwachsenenbildung. Zum Gegenstandsgebiet der Pädagogischen Psychologie gehören somit: die lernende Person selbst mit ihren Veränderungsprozessen, die selbstgesteuert oder fremdgesteuert sein können die pädagogisch arrangierte Umwelt in den Bildungsinstitutionen die natürliche Umwelt außerhalb der Bildungsinstitutionen die Personen der Lehrenden (Lehrkräfte, Eltern, Pädagogische Fachkräfte) die Medien der Wissensvermittlung. Die Betrachtung von Medien im pädagogischen Prozess wird aus Gründen der knappen Darstellung im vorliegenden Buch keinen Platz finden. Eine gute Übersicht dazu findet sich bei Weidenmann (2001).
2.1.4 Die Aufgaben der Pädagogischen Psychologie Um die Aufgaben der Pädagogischen Psychologie gibt es durchaus fachliche Kontroversen. Durch das Spannungsfeld zwischen Pädagogik und Psychologie und die zum Teil herrschenden Diskrepanzen zwischen erzieherischer Praxis im Alltag und wissenschaftlichem Anspruch der Forschung ist die Pädagogi-
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Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich?
sche Psychologie immer wieder neu gefordert, ihre Aufgaben zu beschreiben und zu erfüllen. Zwei Aufgaben stehen dabei im Vordergrund: Die Bereitstellung technologischen Wissens: die Pädagogische Psychologie stellt Erkenntnisse und Ergebnisse psychologischer Forschung für die Erziehungs- und Unterrichtspraxis zur Verfügung. Die Erweiterung von Grundlagenwissen: sie beschränkt sich dabei nicht nur auf das bereits bestehende psychologische Wissen, sondern erweitert es durch systematische empirische Forschung. Lehrkräfte können aus den Erkenntnissen der Pädagogischen Psychologie somit zum Beispiel: ein erhöhtes Wissen über soziale Zusammenhänge in Schulklassen und das Verhalten von Individuen in Gruppen erlangen; Handlungsmöglichkeiten für Schüler aufzeigen, die psychologisch fundiert das Lernen unterstützen; Lernstrategien vermitteln, die Selbstbildungsprozesse befördern können; das eigene Verhalten im Unterricht besser reflektieren; mit Unterrichtsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Schülern psychologisch adäquat umgehen. Die Pädagogische Psychologie ist jedoch nicht nur ein Dienstleister für die Pädagogik, die immer dann gerufen wird, wenn pädagogisches Wissen nicht ausreicht. Sie soll darüber hinaus durch die Anwendung wissenschaftlichpsychologischer Forschung Diagnosen und Prognosen in Erziehungskontexten ermöglichen, Beratung und Intervention unterstützen, Programme im Bildungswesen evaluieren und Empfehlungen zu deren Umsetzung geben sowie bestehendes Wissen über den Menschen im Bildungs- und Erziehungsprozess erweitern. Die Pädagogische Psychologie steht in enger Interaktion mit den anderen psychologischen Disziplinen, aus denen sie Erkenntnisse entnimmt oder für die sie Erkenntnisse bereitstellt. Insbesondere die Nähe der Pädagogischen Psychologie zur Entwicklungspsychologie wird mitunter so stark betont, dass beide Fächer synonym genannt werden. Dabei wird jedoch vergessen, dass die Abhängigkeit von Erziehungs- und Bildungsprozessen von Alter und Entwicklungsstand zwar ein wichtiger, aber keineswegs der einzige Ausgangspunkt Pädagogisch-Psychologischer Forschung ist. Zum Beispiel im Hinblick auf die Planung und Evaluation von Interventionsmaßnahmen sind Pädagogische Psychologie und Klinische Psychologie stark benachbart. Sie unterscheiden sich jedoch durch ihr Störungsverständnis. Die Klinische Psychologie nimmt die außerhalb der Normalität menschlichen Erlebens und Verhaltens angesiedelten
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Phänomene in den Blickund beschreibt ihre Ursachen und Folgen anhand von Störungsmodellen. Die Pädagogische Psychologie teilt dieses klinische Störungsverständnis nicht, sondern beschreibt Präventionen und Interventionen in der "normalen" Erziehungspraxis, wobei der Begriff der Normalität dabei sehr weit ist und genauerer Definitionen bedarf. 2.2
Ein kurzer Blick in ihre Geschichte
"Erstes und letztes Ziel unserer Didaktik soll es sein, die Unterrichtsweise aufzuspüren, und zu erkunden, bei welcher die Lehrer weniger zu lehren brauchen, die Schüler dennoch mehr lernen; in den Schulen weniger Lärm, Überdruss und unnütze Mühe herrschen, dafür mehr Freiheit, Vergnügen und wahrhaftiger Fortschritt." Kommt Ihnen dieses Zitat modern und zeitgemäß in unserer aktuellen Bildungsdebatte vor? Es stammt von Comenius (2007, Orig. 1657), einem der großen Bildungsforscher, der von 1592 bis 1670 lebte. Schon damals haben sich Menschen wie er darüber Gedanken gemacht, wie schulische Bildungsund Erziehungsprozesse so gestaltet werden können, dass sie der Psychologie (auch wenn dieses Wort noch nicht benutzt wurde) des Menschen bestmöglich entgegenkommen. Die Empfehlungen, die Comenius in seinen Werken gab, klingen nach wie vor zeitgemäß und bleiben leider häufig auch immer noch unerfüllt. "Die Schule selbst soll eine liebliche Stätte sein, von außen und von innen den Augen einen angenehmen Anblick bieten: Innen ein helles, sauberes Zimmer, das rundherum mit Bildern geschmückt sein soll (...). Draußen soll nicht nur ein Platz vorhanden sein zum Springen und Spielen, denn dazu muss man den Kindern Gelegenheit geben (...), sondern auch ein Garten, in den man sie ab und zu schicken soll, dass sie sich am Anblick der Bäume, Blumen und Gräser freuen können." Comenius "Didactica magna" (Comenius, 2007, Orig. 1657)
In seiner Tradition haben viele Didaktiker, Psychologen und Pädagogen die Erziehungsrealität in den Blick genommen und Veränderungen in der pädagogischen Praxis eingefordert. Einige von ihnen gelten auch als Gründerväter der Pädagogischen Psychologie, so unter anderem: [ean-jacques Rousseau (1712-1778), der forderte, dass die Pädagogik von den Lernbedürfnissen und Lernvoraussetzungen der Schüler ausgehen solle.
18
Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich? Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), der schon auf die frühe Bildung im Elternhaus aufmerksam machte und die Interaktion zwischen individuell-psychischen und sozialen Merkmalen des Lernenden betonte. Friedrich Fröbel (1782-1852), der die Kindergartenidee begründete und die Erwachsenen aufforderte, die Kinder beim Spiel als ihrem Prozess des Begreifens der Welt zu unterstützen. Johann Friedrich Herbart (1776-1851), der als einer der Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik und Psychologie gilt und die Beförderung der Selbstentwicklung und des Selbstbewusstseins von Schülern betonte.
Ende des 19.Jahrhunderts sammelten sich die unterschiedlichen Strömungen in einem entstehenden Anspruch an eine vereinigte Pädagogische Psychologie, die auf wissenschaftlichen Methoden begründet ist und sich eigenständig in der Psychologie vertritt. Diese Zeit des Aufbruchs, die durch die Gründung zahlreicher Institute und Zeitschriften gekennzeichnet ist, endete in den 1920er Jahren. Die gesellschaftlichen Spannungen, Instrumentalisierungsversuche der Psychologie und Pädagogik durch gesellschaftliche Ideologien sowie ein beginnender Zweifel an der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlichen, psychophysischen Forschungsmethoden bewirkten ein Auseinanderdriften von Pädagogik und Psychologie. Erst in den 1950erJahren näherten sich beide Disziplinen wieder an, in Versachlichung ihrer Ansprüche und Zielsetzungen. Mit der "kognitiven Wende" - der Abkehr vom Behaviorismus als der führenden Lehrmeinung innerhalb der Psychologie und der zunehmenden Betonung intrapsychischer Prozesse bei Bildung und Erziehung - wurde die Forschung und Theoriebildung innerhalb der Pädagogischen Psychologie sachlicher, praxisangemessener und individuumszentrierter. Einen großen Schritt in Richtung Anerkennung als Disziplin wissenschaftlicher Grundlagenforschung hat die Pädagogische Psychologie zweifelsohne im Zug der aufkommenden systematischen Bildungsforschung in den 1990er Jahren getan. Durch PISA, TIMMS, IGLU und Co. sind pädagogisch-psychologische Forschungserkenntnisse heute ein wichtiger Beitrag zur Gestaltung von Lehr-Lernprozessen in Bildungsinstitutionen. 2.3
Forschungsmethoden der Pädagogischen Psychologie
Die Beschreibung der Forschungsmethoden der Pädagogischen Psychologie kann in einem einführenden Werk wie diesem nur lückenhaft bleiben. Grundsätzlich gilt, dass die wissenschaftlichen Forschungsmethoden der Psychologie auch in der Pädagogischen Psychologie - angewendet auf die Forschungshypo-
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thesen und die untersuchten Stichproben - zum Einsatz kommen. Die häufig beschriebene Kontroverse zwischen qualitativer und quantitativer Forschung sowie der damit zum Teil verbundene Unterschied in idiografischer (am einzelnen Phänomen oder Individuum orientierter) und nomothetischer (an allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten orientierter) Vorgehensweise findet sich auch in der Pädagogischen Psychologie. Sie wird jedoch zunehmend durch eine zeitgemäßere pragmatischere Forschung verdrängt, die qualitatives Vorgehen zur Hypothesengenerierung und quantitatives Vorgehen zur Überprüfung der Verallgemeinerbarkeit individueller Erkenntnisse und Phänomene vereint. Typische Forschungsstrategien sind Laborexperimente, Feldexperimente sowie nicht-experimentelle Vorgehensweisen wie Feldstudien und Korrelationsstudien. Dabei kommen die typischen Forschungsvorgehen wie Querschnittanalysen, Längsschnittanalysen und Quersequenzanalysen (Kohortenstudien) zum Einsatz. Häufig verwendete Erhebungsmethoden sind Fragebögen und Ratingskaien, Beobachtungsverfahren, experimentelle Prozeduren, normorientierte und kriteriumsorientierte diagnostischen Testverfahren sowie Interviewstudien und Fallanalysen. Aus dem großen Forschungsmethodenpool haben wir die Unterrichtsforschung - und hier spezifisch die PISA-Studien für ein paar nähere Erläuterungen ausgewählt. Gute Beschreibungen der weiteren Forschungsmethoden finden sich u. a. bei Krapp und Weidenmann (2001) und Rost (2001).
2.3.1 Unterrichtsforschung
Unterrichtsforschung wird als empirische Sozialforschung, die sich ausdrücklich mit den Intentionen, Themen, Methoden und Medien des Unterrichtens, den teilnehmenden Personen sowie den zugehörigen Institutionen beschäftigt (nach Häcker & Stapf, 2004), definiert. Deutlich wird schon in dieser Definition, dass es sich bei der Unterrichtsforschung nicht um eine spezifische Forschungsmethode handelt, sondern um ein Ziel, unter dem verschiedene Forschungsmethoden miteinander vereinigt wurden. Wichtigstes aktuelles Ziel von Unterrichtsforschung ist es dabei, den Einfluss bestimmter Lehrmethoden, Hintergrundfaktoren und Merkmalen des Bildungssystems auf vordefinierte Ziele wie Lernleistung, Wissenszuwachs und affektive Merkmale (z.B. Unterrichtszufriedenheit und Gesundheit) zu untersuchen. Das Lernen des Individuums als Ergebnis seines Handeins unter und in Auseinandersetzung mit bestimmten Kontextfaktoren (und dazu gehört auch das Lehrerverhalten) zu verstehen, ist Ausgangspunkt und gleichzeitig größte Herausforderung für die moderne Unterrichtsforschung. Hier ist nach wie vor
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große Vermittlungsarbeit bei den Rezipienten von Unterrichtsforschungsergebnissen zu leisten. Die Befunde der PISA-Studien sind ein Beispiel dafür, wie Forschungsergebnisse - je nach politischer Interessenlage - so oder ganz anders interpretiert werden können, und bildungspolitische Schlussfolgerungen ganz nach individuellem Belieben auf Länderebene gezogen werden können. Aus diesem Grund wollen wir einen Blick auf die PISA-Studien werfen und Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation ihrer Befunde andeuten. 2.3.2 Die PISA-Studien
Systematische Unterrichtsforschung scheint erst in den letzten Jahren in Deutschland entstanden zu sein. Der Begriff des "PISA-Schocks" gibt dabei einen Hinweis darauf, wie überraschend die Befunde der Studien gewesen sind und wie tiefgreifend das Nachdenken ist, das sie in der Bildungslandschaft in Deutschland ausgelöst haben. Solche Schocks hatte es jedoch in der Vergangenheit bereits häufiger gegeben. Schon dass die Sowjetunion - und nicht die westlichen Industrienationen - 1957den ersten Satelliten (Sputnik) in die Erdumlaufbahn gebracht hatte, hatte für tiefgreifende Verunsicherung über die Bildungseffizienz gesorgt. In der Bundesrepublik Deutschland gab es daraufhin für einige Zeit ein erhöhtes Interesse an internationaler Bildungs- und Unterrichtsforschung, das aber mit der Teilnahme an der Six-Subject-Study (FISS) (Walker, 1976)1968bis 1972für viele Jahre zu enden schien, da die Ergebnisse der deutschen Schüler in Biologie, Chemie und Physik eher unterdurchschnittlich waren. Erst Mitte der 1990-er Jahre begann die Bundesrepublik wieder, sich an Studien der International Association for the Evaluation of Educational Achievement zu beteiligen. In der aktuellen Unterrichtsforschung nehmen die PISA-Studien einen zentralen Rang ein. PISA steht dabei für "Programme for International Student Assessment" und wird von der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) im Auftrag der Regierungen der beteiligten Staaten durchgeführt. Untersucht wird dabei der Ertrag des Schulsystems für den Lernerfolg der Schüler. Dieser Ertrag kann international verglichen werden, und die teilnehmenden Staaten können darüber hinaus auch nationale Vergleiche (z.B. zwischen den Bundesländern) in Auftrag geben. Typisch für die Organisation der PISA-Studien sind: die Regelmäßigkeit der Durchführung (in den Jahren 2000, 2003, 2006, 2009 ...)
Pädagogische Psychologie - was ist das eigentlich?
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die Untersuchung von Kompetenzen, nicht Schulfächern (Lesekompetenz, mathematische Kompetenz, naturwissenschaftliche Kompetenz) die Konzentration auf Altersstufen, nicht auf Klassenstufen die hohe Alltagsrelevanz der Aufgaben mit Fokus auf die Problemlösefähigkeit der Schüler im natürlichen Kontext. Aus methodischer Sicht sind bemerkenswert: die hohe Teilnehmerzahl an den Untersuchungen (2006: 400.000Schüler aus 57 Ländern) die aufwändige Itemkonstruktion in Voruntersuchungen zur internationalen Vergleichbarkeit die Orientierung an der Item-Response-Theorie hohe Qualitätsstandards in der Stichprobenziehung die Umrechnung der Antworten in Kompetenzstufen von Kompetenzstufe I (Elementarstufe) bis Kompetenzstufe V (Expertenstufe) die Normierung der internationalen Befunde auf den Mittelwert von 500 Punkten (SD=100). In den Ergebnissen der Untersuchungen sind sowohl die Länder- und Bundesländermittelwerte in den Kompetenzen vergleichbar, als auch die Anteile von Schülern in den jeweiligen Kompetenzstufen. Zu den wichtigsten Befunden für Deutschland gehört, dass die deutschen Schüler im internationalen Vergleich relativ mittelmäßig abschneiden. Verbesserungen sind seit 2000 insbesondere in den naturwissenschaftlichen Kompetenzen zu beobachten, in Mathematik herrscht seit 2003 eher Stagnation. Die Lesekompetenz der deutschen Schüler bleibt relativ schwach, auch in Gymnasien. Tiefere Analysen der Befunde im Hinblick auf soziodemografische Unterschiede zwischen den Schülern verdeutlichen die suboptimale Förderung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Typisch für Deutschland ist die nach wie vor starke Kopplung zwischen sozialer Herkunft und Schulleistungen. Im Vergleich der Bundesländer gelten Sachsen, Bayern und Thüringen als Erfolgsmodelle, Bremen und Hamburg bleiben Schlusslichter (Prenzel et. al, 2008).
2.3.3 Entwicklung von Bildungsangeboten und Interventionsmaßnahmen
Der Ertrag von Bildungsangeboten wird nicht nur in übergreifenden und großen Studien überprüft. Die Evaluation von Interventionsmaßnahmen und Unterrichtsformen kann fast schon als Alltagsarbeit von Pädagogischen Psycho-
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logen bezeichnet werden. Unterschiedlich stark sind Pädagogische Psychologen an der Entwicklung der Bildungsangebote und Interventionen selbst beteiligt. Hier arbeiten sie häufig mit Pädagogen zusammen oder beschränken sich auf die Effektmessung der neuen Trainings. Der oft genannte Begriff der Trainingsforschung ist dahingehend zu hinterfragen, ob tatsächlich ein Training entwickelt wird, oder ob es in erster Linie um die Evaluation eines Trainings geht. Die Entwicklung einer Interventionsmaßnahme, eines Trainings oder eines Bildungsangebots sollte an dem folgenden Schema ausgerichtet sein: 1.
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Modellvorstellungen von einer guten Ausprägung der zu trainierenden Fähigkeit entwickeln (mit Hilfe von Expertiseforschung): Am Anfang muss eine Einigung über das Ziel des Trainings stehen. Hilfe gibt dabei die Expertiseforschung: Sie regt dazu an, sich in der Zielgruppe des Trainings nach den Personen umzuschauen, die übereinstimmend als Modell in der zu trainierenden Fähigkeit angegeben werden. Überprüfung des Modells in der Referenzgruppe: Wenn ein Modell darüber entwickelt ist, wie das gewünschte Wissen und Verhalten aussehen soll, gilt es dieses erneut in der Zielgruppe zu überprüfen. Makro- und Mikroregeln für den Aufbau komplexer Strategien entwickeln: Nach Absicherung (oder ggf. auch Modifizierung) des Trainingsziels in der Zielgruppe sind nun die Schritte und Methoden zu überlegen, wie im Training das derzeitige Wissen und Verhalten (Ist-Zustand) in den gewünschten Zielzustand (Soll-Zustand) überführt werden kann. Instruktionsmodell zur Strategievermittlung entwickeln: Die entwickelten Makro- und Mikroregeln sind in einem Gesamtkonzept zusammenzuführen, das dann zum Beispiel in Form eines Trainingsmanuals vorliegen kann und detaillierte Planungen enthalten sollte. Evaluation: Das zuvor entwickelte Trainingsmanual dient als Grundlage für eine Überprüfung der Wirksamkeit des Trainings. Dabei werden eine erste formale Evaluation (die Überprüfung und Weiterentwicklung des Trainings nach den unmittelbaren Rückmeldungen der Trainer und Trainierten) und eine summative Evaluation (die Quantifizierung der Trainingseffekte nach einem festen Ablaufschema mit Prä-Post-FollowUp Messungen in Experimental- und Kontrollgruppen) unterschieden. Absicherung von Ökonomie und Machbarkeit der Intervention: Nach den vorliegenden Evaluationsergebnissen ist zu entscheiden, ob die Ergebnisse den Aufwand des Trainings rechtfertigen.
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2.3.4 Grundzüge der Evaluation von Bildungsangeboten und Trainingsmaßnahmen Im vorherigen Abschnitt wurden schon Grundzüge der Evaluation von Bildungsangeboten und Trainingsmaßnahmen angedeutet. Die Evaluation dient der Effektivitätsbestimmung von Trainingsmaßnahmen und stellt somit einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung von pädagogischen Prozessen dar. Durch die methodisch fundierte Evaluation der Effekte von Trainings wird sichergestellt, dass die vorformulierten Trainingsziele tatsächlich auch erreicht werden und das Training zur Verbesserung der Dispositionen in der Zielgruppe beiträgt. Darüber hinaus müssen weitere Faktoren berücksichtigt werden wie zum Beispiel die Durchführungspraktikabilität, die Ökonomie des Trainings, seine Zuverlässigkeit und Gültigkeit, die Relevanz der Inhalte sowie ihre Transparenz und Kommunikation. In der inhaltlichen Ausgestaltung der summativen Evaluationen hat sich das Vorgehen nach Donald und [ames Kirkpatrick (2006) bewährt. Beide beschreiben die Grundbedingungen gelingender Trainingsmaßnahmen, die so auch in ihrer Evaluation berücksichtigt werden müssen. Nach den Autoren gelingen Wissenserwerb und Verhaltensänderungen in der Zielgruppe durch Trainingsmaßnahmen nur dann, wenn Folgendes erreicht wird (Tabelle 1):
Tabelle 1
Ebenen der Evaluation nach Kirckpatrick und Kirkpatrick (2006)
Ebene der Evaluation
Inhalt
1. Unmittelbare Reaktionen
Zufriedenheit der Teilnehmenden mit dem Training, Spaß, Dabeisein, Einbezug der Teilnehmenden
2. Lernen
Aufbau von Wissensbeständen, Wissen über Verhaltensalternativen, Reflektion von Wissen und Verhalten
3. Verhalten
Änderungen in konkreten Verhaltensweisen, Umsetzung des Gelernten im Alltag
4. Resultate auf organisationalerEbene
Gewinn des Trainings über das Individuum hinaus, Kostensenkungen, Produktivitätssteigerungen
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Zusammenfassung und weiterführende Literatur
Die Pädagogische Psychologie bewegt sich im Schnittbereich zweier eigenständiger Wissenschaftstraditionen - der Pädagogik und der Psychologie. Während die Psychologie sich mit dem Erleben und Verhalten von Menschen beschäftigt,
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liegt der Fokus der Pädagogik auf der Erforschung der wissenschaftlichen Seite von Erziehung und Bildung. Grob verallgemeinernd könnte demzufolge gesagt werden, dass die Psychologie sich damit beschäftigt, wie der Mensch ist, und die Pädagogik ihren Schwerpunkt darauf setzt wie der Mensch sein sollte und welche Möglichkeiten es gibt, ihn in eine gewünschte Richtung hin zu lenken. Eine Aufgabe der Pädagogischen Psychologieist es, für die pädagogische Praxis notwendiges psychologisches Wissen bereitzustellen und die Möglichkeiten und Grenzen von Erziehung und Bildung damit auch wissenschaftlich zu fundieren. Die Pädagogische Psychologie gibt sich jedoch nicht mit der Rolle einer Hilfswissenschaft für die Schulpraxis zufrieden, sondern sie erweitert durch wissenschaftliche Forschung die theoretischen und methodischen Grundlagen von Psychologie und Pädagogik. Pädagogische Psychologie beschränkt sich nicht nur auf das Lernen von Schülern in Schulen. sondern hat ihren Blickwinkel inzwischen auf die gesamte Lebensspanne erweitert. Lebenslanges Lernen ist das Schlüsselwort dieses aktuellen Trends in der Pädagogischen Psychologie.
Literaturernpfehlungen: Einen guten Überblick über Geschichte und Gegenstandsgebiet der Pädagogischen Psychologie geben Andreas Krapp, Manfred Prenzel und Bernd Weidenmann (2001). Wer sich näher mit dem Thema Evaluation beschäftigen will, kommt am Klassiker von Heinrich Wottawa und Heike Thierau (2003) nicht herum. Arnold Lohaus und Holger Domsch (2009) beschreiben wichtige Interventionsverfahren im Kindes- und Jugendalter. Wertvolle Einstiege für einen ersten Überblick über pädagogisch-psychologische und entwicklungspsychologische Themen gibt es in den Arbeitsblättern von Werner Stangl im Internet unter www.stangl-taller.at.
Entwicklung als Handeln im Kontext ein neuer Blick auf das Lernen
3.1
Eine Einführung in die handlungsorientierte Entwicklungspsychologie
In den vorangehenden Abschnitten haben wir die Pädagogische Psychologie in ihrem Gegenstandsgebiet bestimmt und ihre Methoden und Aufgabenfelder betrachtet. Ein zentraler Gedanke war dabei die Erweiterung der Perspektive des Lernens auf das ganze Leben. Ein zweiter zentraler Gedanke wird in den folgenden Abschnitten verstärkt hinzukommen. Dabei handelt es sich um den Gedanken der Eigenaktivität des Lernenden in seinen Lern- und Bildungsprozessen. Dass Lernen die Eigenaktivität des Individuums voraussetzt, ja ohne sie unmöglich ist, ist keinesfalls ein neuer Gedanke. Er scheint jedoch in Pädagogik und Pädagogischer Psychologie häufig zum Lippenbekenntnis zu werden, da traditionelle Lehrvorstellungen vom unidirektionalen Wissenstransfer vom Lehrer auf den Schüler nach wie vor stark vertreten sind. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass diese Vorstellung pädagogisches Handeln und Erziehen scheinbar leichter macht: es ist die Handlung des Lehrenden, die direkte Veränderungen beim Lernenden bewirkt. Da es die Lehrenden sind, die sowohl über das Wissen der Ziele als auch die Methoden des Lerntransfers verfügen, sind sie als die Akteure auszubilden und zu bestärken, sind sie es, die die Verantwortung für den Lernfortschritt des Schülers übernehmen. Dies begründet durchaus auch ein Machtverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden, dient als Quelle pädagogischen Selbstverständnisses und gibt scheinbar Sicherheit im erzieherischen Alltag. "Ich weiß, was gut und richtig für dich ist, und ich werde dir beibringen, dies auch selbst so zu empfinden." 3.2
Theorieklassen menschlicher Entwicklung
Was ist eigentlich "Entwicklung"? Aktuelle Definitionen von Entwicklung haben sich von Vorstellungen einer "Perfektionierung" kindlicher Schwächen M. Mienert, S. Pitcher, Pädagogische Psychologie, DOI 10.1007/978-3-531-92095-5_3, © VS verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Entwicklung als Handeln im Kontext
auf dem Weg hin zum Erreichen des Erwachsenenalters verabschiedet. Mit dem psychologischen Begriff der Entwicklung werden alle Arten von Veränderungen in den Blick genommen: Entwicklung beinhaltet diejenigen Veränderungen des Individuums, die auf die Dimension Lebensalter bezogen werden können. Veränderungen finden sich dabei u. a. im Verhalten. im Denken, in der Wahrnehmung, in der Haltung und Einstellung sowie in der Leistungsfähigkeit des Individuums. Entwicklungspsychologische Grundlage für das traditionelle Lehrverständnis waren die behavioristischen Theorien, die Umwelteinflüsse als aktive Kraft für die Entwicklung des Einzelnen sahen, wohingegen das Individuum selbst seiner Entwicklung und den Umweltkräften eher passiv ausgeliefert sei. Diese Entwicklungsvorstellung steht in Konkurrenz zu anderen Klassen von Entwicklungstheorien, die die Eigenaktivität des Lernenden stärker betonen. Endogenistische Theorien beschreiben Entwicklung als Entfaltung innerer Entwicklungsprogramme und Ausdifferenzierung bereits angelegter, genetisch prädisponierter Fähigkeiten und Verhaltensweisen. Begriffe wie "Reifung", "Reife'~ "Prägung", "Entfaltung", "Anlagen", "Nativismus" weisen auf endogenistische Ansätze hin. In ihnen ist Entwicklung genetisch vorgezeichnet, kaum beeinflussbar, und nur die Leistungsfähigkeit bereits gereifter Funktionen ist steigerungsfähig. Oft werden phasenhafte Verläufe beschrieben, wobei Entwicklung als irreversibel angesehen wird. Die Reife des Erwachsenenalters gilt als Ziel gelingender Entwicklung. Demgegenüber betonen die exogenistischen, behavioristischen Theorien menschliches Verhalten als Folge von Reizen und Verhaltenskonsequenzen und den Menschen selbst als reizgesteuertes Wesen, das sich durch externe Stimulation verändert. Begriffe wie "tabula rasa"; "Konditionieren'~ "Black Box'; "Reflexe", "Verstärker", "Milieutheorie" und die Vorstellung, dass Menschen als "unbeschriebene Blätter" auf die Welt kommen, deuten auf exogenistische Entwicklungsvorstellungen hin. Häufig liegt die Betonung auf elterlichem Erziehungsverhalten, aber auch die Pädagogik hat sich der exogenistischen Erziehungsvorstellungen bedient, um aus ihnen Ansätze für Verhaltensmodifikationen zu entwickeln. In der Theorie des sozialen Lernens von Alfred Bandura sind exogenistische Einflüsse noch deutlich zu erkennen, sie markieren aber auch den Übergang zu eher kognitiven Entwicklungsvorstellungen durch die Berücksichtigung interner Prozesse beim Lernenden selbst. Den Menschen in seiner Eigenaktivität zu betonen, steht im Zentrum konstruktivistischer Ansätze, die insbesondere durch Jean Piaget weiterentwickelt
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wurden. Merkmale konstruktivistischer Theorien sind: der Mensch steuert seine Entwicklung selbst und konstruiert seine subjektive Wirklichkeit. Begriffe wie "Akkommodation'~"Assimilation", "Äquilibration'~ "Erkenntnistheorie" und "Kognition" sind eng mit konstruktivistischen Theorien verknüpft. Da die Eigenaktivität des Individuums im Erkenntnisprozess betont wird, ist Entwicklungsförderung kaum möglich und sind differenzielle Aussagen über Entwicklungsunterschiede schwierig. Kognitivistische Lernvorstellungen stehen in enger Verbindung zu konstruktivistischen Ideen. Sie unterscheiden sich im Hinblick auf den Grad der Beschreibung einer realen (ontologischen) Welt, die durch das Individuum "erkannt" oder "konstruiert" wird. Bei der Beschreibung der Lerntheorien kommt dieser Klärung besondere Bedeutung zu und wird von uns in Kapitel a.j.z genauer erläutert. Die moderne Entwicklungspsychologie hat sich mehr und mehr von der traditionellen Dominanz von Umwelt oder Person in der individuellen Entwicklung verabschiedet und vertritt heute überwiegend gemäßigte Positionen, die sowohl der Umwelt als auch dem Individuum Einflüsse auf Entwicklungsprozesse zugestehen. Solche Theorien werden als interaktionistische, ko-konstruktivistische oder systemische Theorien bezeichnet. Wichtige Merkmale dieser Theorien sind, dass Ausgangspunkt menschlicher Entwicklung das Gesamtsystem Mensch-Umwelt und die darin stattfindenden Interaktionsprozessen sind. Entwicklung ist nicht universell gleich, sondern von gesellschaftlichen, ökonomischen und ideengeschichtlichen Prozessen abhängig. Begriffe wie "Homöostase'~"System'~ "Ökologie'~"Austausch" kennzeichnen diese Theorien. Ihnen ist gemeinsam, dass das Individuum seine Umwelt gestalten kann und selbst die Bedingungen mitbestimmt, unter denen sich sein Lernen vollzieht. 3.3
Leitsätze einer Entwicklungspsychologie der Lebensspanne
Entwicklung ist ein kompliziertes Wechselspiel von drei Entwicklungsmotoren, die sich gegenseitig befördern, aber auch behindern können. Diese drei Entwicklungsmotoren lassen sich als "Reifung'~ "Erziehung" und "Selbststeuerung" zusammenfassen. Genetische Prädispositionen und Reifungsprozesse bilden in gewisser Weise den Rahmen, unter dem aktuell sich Entwicklung vollziehen kann. Durch Erziehung werden die Erwartungen der Umwelt an den Einzelnen übermittelt. Selbststeuerung kennzeichnet die Art und Weise, wie sich der Einzelne mit seinen körperlichen Leistungsvoraussetzungen und den Erwartungen seiner Umwelt auseinandersetzt und diese mit seinen eigenen Entwicklungszielen abgleicht. Leitgedanken einer Entwicklungspsychologie
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der Lebensspanne hat Paul Baltes (1990) formuliert. Sie enthalten die Anforderungen, die ein modernes Entwicklungsverständnis - und damit auch eine moderne Pädagogische Psychologie - des Lebenslangen Lernens erfüllen muss: Prinzip der lebenslangen Entwicklung, Entwicklung als Grundprinzip allen Lebens Multidirektionalität von Entwicklung: von einem Ausgangszustand aus sind viele Entwicklungswege denkbar Gewinn und Verlust: Entwicklung ist kein kontinuierliches Voranschreiten hin zu einem höchsten Zielzustand Plastizität: Einbußen in Funktionsbereichen können durch andere Fähigkeiten ausgeglichen werden Geschichtliche Einbettung wie auch aktuell-gesellschaftlicher und kultureller Bezug: Entwicklung passiert im sozial-historischen Kontext Interaktionismus: Berücksichtigung endogener und exogener Faktoren wie auch der Eigenaktivität des Individuums als Entwicklungsrnotoren Multidisziplinäre Betrachtung: Verknüpfung von psychologischem Fachwissen mit anderen Wissenschaftsdisziplinen zur Beschreibung und Erklärung von Entwicklungsphänomenen Kontextualismus: Entwicklung als Handeln im Kontext Gerade der letzte Aspekt, die handlungstheoretische Beschreibung von Entwicklung als Eigenaktivität des Individuums im Entwicklungskontext innerer und äußerer Anforderungen, bedarf der näheren Erläuterung, da er in unserer Beschreibung Pädagogischer Psychologie den Modellrahmen bildet. 3.4
Entwicklung als Handeln im Kontext
Gene und körperliche Voraussetzungen sind bei Entwicklungsbeschreibungen genauso zu berücksichtigen wie die gesellschaftlichen Erwartungen, die über Eltern, Pädagogen und Gleichaltrige an die Lernenden herangetragen werden. Dabei liegt es an den Lernenden selbst, sich mit ihren Leistungsvoraussetzungen und den Erwartungen anderer auseinanderzusetzen. Ihre eigenen Ziele und Wünsche bilden eine entscheidende Triebkraft für die weitere Ausgestaltung von Entwicklung. Dies findet in der modernen Psychologie der Lebensspanne nun endlich auch seine theoretische Entsprechung. Heutige Entwicklungspsychologen stellen den Lernenden selbst ins Zentrum. Sie beschreiben Lernende bewusst als aktive Gestalter ihrer eigenen Entwicklung. Lernende aller Altersstufen erkennen,
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welche Entwicklungsaufgaben (u.a. Oerter & Dreher, 1995) vor ihnen liegen, und entwickeln für sich selbst Lösungsversuche, wie diese zu bewältigen sind. Allerdings sind sie nicht ganz frei in der Art und Weise, wie sie dies tun können. Der Kontext, der die Lernenden umgibt, schränkt sie auf bestimmte Handlungsmöglichkeiten ein oder legt ihnen bestimmte Bewältigungsmöglichkeiten nahe. Entwickeln ist "Handeln im Kontext" - in der Beschreibung Rainer K. Silbereisens (siehe sein Buch von 1986),eines der bekanntesten Entwicklungspsychologen in Deutschland, bedeutet das für die Lernenden: "Ich kann handeln und mich als die Person, die ich sein möchte, selbst erschaffen, aber diese Handlungsmöglichkeiten sind durch den Kontext, der mich umgibt und in dem ich lebe, definiert, zum Teil eingeschränkt, zum Teil aber auch erweitert." Der gleiche Entwicklungskontext kann bei unterschiedlichen Lernenden zu unterschiedlichen Entwicklungswegen führen, je nachdem wie der Kontext von den Lernenden wahrgenommen wird und wie jeder Lernende für sich definiert, was "das Beste" ist, was man aus den vorgegebenen Bedingungen machen kann. Der Begriff des Kontextes ist sehr weit gefasst und bezieht sich nicht nur auf die Umwelt des Lernenden, sondern auch auf innere Bedingungen, die in ihm selbst zu finden sind. Zu den kontextuellen Vorgaben, die seine Handlungsmöglichkeiten einschränken oder erweitern, gehören u. a. auch sozialhistorische und aktuelle gesellschaftliche Bedingungen wie sie unter anderem in Abschnitt 6.2 beschrieben werden und auch in den Bildungsplänen und curricularen Vorgaben der Bundesländer dargelegt sind. Zu den kontextuellen Vorgaben gehören darüber hinaus auch interne biologische sowie genetische Rahmenbedingungen (Körpergröße und -form, zum Teil auch der Intellekt und bestimmte Persönlichkeitseigenschaften des Lernenden), aber auch bestimmte soziodemographische Merkmale. Es gibt Entwicklungsverläufe, die bei allen Lernenden gleich sind, diese sind jedoch die Ausnahme. Die Vorstellung einer universellen Entwicklung des Menschen an sich gibt es nahezu nicht mehr - es ist zu differenzieren nach Geschlechtsunterschieden, Herkunft aus Stadt oder Land, ob jemand In- oder Ausländer ist. Auch bestimmte ontogenetische Abläufe gehören dazu: Die Vorerfahrungen aus den ersten Lebensjahren, bestimmte benachbarte Entwicklungsaufgaben, die schon bewältigt oder nicht bewältigt wurden, sowie zukünftige Ereignisse, auf die das Individuum hinarbeiten muss. Die individuelle Entwicklung zeigt auf, wie der aktuelle Lebensabschnitt in den gesamten biografischen Verlauf einzuordnen ist.
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Entwicklung als Handeln im Kontext
Es wird deutlich, dass Handeln stark vom Kontext mitbestimmt wird. Lernende sind nicht völlig frei in ihrer Entscheidung, wie sie ihre Entwicldungsaufgaben bewältigen. Sie sind aber diesem Kontext auch nicht hilflos ausgeliefert, denn sie können ihn verändern, indem sie erkennen, weldlen Einsduinkungen sie erliegen und sich.einen anderen Kontext suchen, Die zentrale Größe bleibt immer das Individuum selbst. Keine Lehrkraft kann es dem Lernenden abnehmen/ seine Entwick1ungsaufgaben wahrzunehmen und für sich Pläne zu ihrer Bewältigung zu entwickeln. Kein anderer kann sich "für den Lernenden" entwickeln. Wenn die eigene Motivation des Individuums fehlt, ein innerer Antrieb für eine bestimmte Lemaufgabe nicht zu beobachten ist, dann hilft kein Ziehen und kein Zerren, dann greifen die besten Entwick1ungsangebote, Lernsituationen., Spielzeuge und gutgemeinten Ratschläge und Einladungen von Pädagogen ins Leere. Abbildung 1 verdeutlicht das Schema der handlungsorientierten Entwicklungsbetrachtung: Entwic klung als Individuell es Leis tungsvermögen • Körperliche und geis ige Vora ussetzungen • Denken, W issen, Gedächt nis • Intelligenz, Hochbegabung. Expertise
Gesellschaft/Um lelt • Erziehungs- und Unterrichts ziele • Familie • Bildungse i richtungen - - -
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