Wolf-Dietrich Bukow . Gerda Heck Erika Schulze· Erol Yildiz (Hrsg.) Neue Vielfalt in der urbanen stadtgesellschaft
Interkulturelle Studien Herausgegeben von Georg Auernheimer Wolf-Dietrich Bukow Christoph Butterwegge Hans-Joachlm Roth Erol Yildiz
Wolf-Dietricll Bukow . Gerda Heck Erika schulze . Erol Yildiz (Hrsg.)
Neue Vielfalt in der urbanen StadtgeseIischaft
III VS VERLAG
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1.AUflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt I eori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eineMarke von sprlnger Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer sclence-auslness Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung desVerlags unzulässig undstrafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen. Die wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen. Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutztwerden dürften. umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17754-0
Inhalt
Urbanität ist Vielfalt. Eine Einle itung Wolf-Dietrich Bukow / Gerda Heck / Erika Schulze / Erol Yildiz
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Vielfalt im städtischenAlltag
Global Heimat. Der Alltag junger Migranten in den Widersprüchen der Einwanderungsgesellschaft Regina Römhild
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Vielfalt als Motor städtischer Entwicklung. Das Beispiel der Keupstraße in Köln Elizabeta Jonuz / Erika Schulze
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Stadt als Transitraum: Ein Blick hinter den Bronx-Mythos Birgit Mattausch-Yildiz Pragmatisch im Alltag, hegemonial im Diskurs. Vom vielfältigen Umgang mit Migrationsprozessen in Österreich am Beispiel von St. Ruprecht in Klagenfurt Erol Yildiz / Mare Hill
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Zum Umgang mit Vielfalt in gesellschaftlichen Institutionen
Wenn Schulen Vielfalt nutzen (möchten). Möglichkeiten und Hindernisse im Umgang mit Diversität im Bildungssystem Joachim Schroeder Heiliger Schrecken - schreckliche Heilige Ulrich Steuten
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Berliner Diversitäten: Das immerwährende Werden einer wahrhaftigen Metropole Stephan Lanz
Inhalt
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III Vielfalt im staatlichen Kontext Zur sozialen Grammatik der Vielfalt in der globalisierten Stadtgesellschaft Erol Yildiz
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Political Recognition of Cultural Diversity in Turkey on the Way to the European Union AyhanKaya
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Multikulturalismus - das kanadische Modell des Umgangs mit Diversität ... 161 Rainer Geißler
Vom Schutz der Minderheit zum Minderheitenschutz - alte und neue Vielfalt in Südtirol Leonhard Voltmer
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IV Ausblick - Zukunftsperspektiven Integration ist von gestern, .Diversity" für morgen - Ein Vorschlag für eine gemeinsame Zukunft Mark Terkessidis
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Vielfalt in der postmodernen Stadtgesellschaft - Eine Ortsbestimmung ........ 207 Wolf-Dietrich Bukow
Autorinnen und Autoren
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Urbanität ist Vielfalt. Eine Einleitung Wolf-Dietrich Bukow / Gerda Heck / Erika Schulze / Erol Yildiz
Vielfalt war schon immer eine zentrale Eigenschaft von Stadtgesellschaften. Dabei handelt es sich nicht etwa um einen entwicklungsbedingten Nebeneffekt, vielmehr war die durch Mobilität und Handel hervorgebrachte zunehmende gesellschaftliche Vielfalt der Auslöser dafür, die gesellschaftlichen Reglungsmechanismen zu überdenken und nach Alternativen zu rein verwandtschaftlich geordneten Integrationsformen zu suchen. Die verwandtschaftsbasierten Reglungsmechanismen, wie sie sich in einfachen Gesellschaften bewährt hatten, waren überfordert; es war aus pragmatischen Gründen notwendig, neue Formen des Zusammenlebens und damit der veränderten Situation entsprechende, verwandtschaftsfreie Regeln zu entwickeln. Und tatsächlich kann man beobachten, dass die Geschichte der Städte damit beginnt, neue Reglungsmechanismen zur Bewältigung einer zunehmend komplexeren und diverseren Gesellschaft zu entwickeln und dass sich schließlich recht prägnante Grundmuster herausbilden, die sich schnell verbreiten. So kam es zur Ausbildung von zunehmend komplexeren Stadtgesellschaften, die sich anfangs im kleinasiatischen Raum entwickelten, dann schrittweise um das ganze Mittelmeer herum kopiert wurden und schließlich auch in Zentraleuropa selbst angekommen sind. In jedem Fall war es ein langwieriger, schwieriger, konfliktreicher und von vielen Pannen und Rückschlägen begleiteter Prozess. Dabei haben sich die unterschiedlichsten Stadtgesellschaftsformen entwickelt, angefangen bei der straff organisierten und gezielt errichteten römischen Stadt mit einer zentralen politischen und religiösen Verwaltung bis hin zu völlig informell gewachsenen Agrostädten mit ihrem Klientelsystem. Das antike Modell, das dann vor allem vom römischen Staat favorisiert wurde, hat in jedem Fall schon früh eine sehr große Ausbreitung erfahren und war in der Lage, eine extrem heterogene und diverse Bevölkerung, ja Großstädte mit über einer Million Menschen zu organisieren und zusammen zu halten. Vor diesem Hintergrund hat sich auch der für uns bis heute wichtigste Typ, die "europäische Stadt" ausgebildet. Sie hat zweifellos viele Elemente vorausgegangener Stadtgesellschaften, vor allem der römischen Stadt, übernommen. Das waren vor allem die Ausdifferenziemng formaler Systeme, die Entwicklung eines Machttandems (Politik und Religion), die Ausweisung eines öffentlichen Raumes und die Inszenierung einer lokalen Identität (Wappen, Bauten, Beschaffung von Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Reliquien usw.). So wurde die Vielfalt eingefangen und zur Komplexitätssteigerung der Stadt genutzt. Konzentriert man sich idealtypisch auf diese uns am ehesten vertraute Version einer Stadtgesellschaft, dann erkennt man einen gewissen Rhythmus. Am Anfang steht das Bemühen, die durch Handel und Mobilitätsströme ausgelöste lokale Vielfalt im Rahmen von formalen Macht-, Rechts-, Verwaltungs- und Religionssystemen zu bändigen. Dann folgt der Versuch, der Stadtgesellschaft einen baulichen, sozialen, politischen und religiösen bzw. kulturellen Mittelpunkt zu geben , in dem die vorhandene Vielfalt schrittweise eingeschmolzen wird und auf diese Weise eine neue, komplexere, "hybride" Wirklichkeit entsteht. Schließlich wird die Stadtgesellschaft rechtlich (Bürgerrechte usw.) und städtebaulich (Grenzen, Mauern, Grünzäsuren usw.) ein- und abgegrenzt. Je nach Kontext stand am Ende dieses Weges wieder eine freiwillige oder gewaltsame Öffuung der Stadtgesellschaft und die ganze Dynamik entfaltete sich neu. Damit konnte die Stadtgesellschaft, ohne sich strategisch zu verändern, immer wieder eine weitere Komplexitätsstufe erreichen. Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang ist, dass im Rahmen eines solchen wohlgeordneten urbanen Zusammenlebens Vielfalt nicht reduziert, abgelehnt oder ausgegrenzt wird, sondern im Gegenteil aufgenommen und allmählich eingeschmolzen bzw. veralltäglicht wird, so dass die Stadtgesellschaft aufdiese Weise im Großen und Ganzen an Komplexität immer weiter zugenommen hat. Die Fähigkeit, Vielfalt zu verarbeiten und damit ihre Komplexität zu steigern, haben die Stadtgesellschaften vor allem durch die Entwicklung von formalen Strukturen erreicht. Diese sind seit langem für alle europäischen Städte typisch und haben sich ganz besonders bewährt seit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, die in den Städten ein exponentielles Wachstum ausgelöst hat. Erneut hat sich die formale Struktur beim Ausbau der Städte im 20. Jahrhundert und nach dem 2. Weltkrieg vor allem in Mittel- und Osteuropa bei der Einbeziehung von Flüchtlingen und später der Einwanderer bewährt. Für uns heute sind an diesem Prozess zunächst zwei Dinge wichtig: a,
Erstens ist es die Erkenntnis, dass die Stadtgesellschaften eine Reaktion auf Vielfalt sind. Das bedeutet, wenn überhaupt eine Gesellschaft im Umgang mit Vielfalt Erfahrungen gesammelt hat, dann ist das die Stadtgesellschaft. Beispiel dafür sind schon die antiken Städte, unter denen es ja bereits damals Großstädte im heutigen Sinn gab. Weiter entwickelt wurde dieses Konzept beispielsweise in den Stadtgesellschaften des Mittelmeerraums von Kleinasien über Italien bis Spanien. Mit dem Beginn der Neuzeit setzt sich die europäische Stadt überall in Europa durch . Mit der Industrialisierung wird noch einmal Anschluss an die antiken Großstädte und deren Fähigkeit, Viel-
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falt zu absorbieren, gewonnen, indem vor allem der öffentliche Raum ausgebaut und als Öffentlichkeit politisch aufgewertet wird. Und zweitens ist es die Erkenntnis, dass die Dynamik, die bei dem Umgang mit Vielfalt in Gang gesetzt wird, auf praktischer Vernunft basiert. Vielfalt wird zum Anlass genommen wird, urbanes Zusammenleben zu organisieren. Aber Vielfalt als solche steht nicht zur Disposition. Es geht nur noch darum, Vielfalt der Komplexität der Gesellschaft einzuverleiben. Freilich sind dabei sehr unterschiedliche Strategien entwickelt worden. Mal wird Vielfalt additiv inkorporiert (durch eine Ständestruktur oder noch radikaler durch Ghettobildung), mal durch Hybridisierung absorbiert (Entwicklung neuer lokaler Kulturen und Identitäten) und mal nachhaltig veralltäglicht und damit gewissermaßen entschärft (,,konstitutiv belanglos"). Vielfalt wirdjedoch in allen Fällen in eine formale Struktur eingebettet (durch politische, rechtliche, wirtschaftliche, bildungsspezifische, kulturelle und religiöse Systeme).
Auf den zweiten Blick erkennt man nicht nur, dass selbst innerhalb der europäischen Stadt sehr unterschiedliche Wege gesucht und praktiziert wurden, mit Vielfalt umzugehen, sondern auch, dass immer wieder versucht wurde, die gesamte Strategie aufden Kopfzu stellen, also die soziale, kulturelle, religiöse und sprachliche Vielfalt zu politisieren und zur Ausgestaltung der urbanen Machtstrukturen heranzuziehen. In diesem Fall geht es nicht länger darum, Vielfalt zu entschärfen und der Entwicklung der Stadtgesellschaft zu inkorporieren, um sie nutzen zu können, sondern umgekehrt, sie zu verschärfen, sie herauszustellen, neu zu definieren, um sie für den Ausbau bestimmter Machtstrukturen dienstbar zu machen (Bukow 2010: 151ft). So kann man beobachten, wie der Gang der Dinge, nämlich die Veralltäglichung von Vielfalt und ihr Einbau in die urbane Komplexität angehalten und die bis zu diesem Zeitpunkt veralltäglichte hybride Wirklichkeit neu geordnet und anschließend normiert wird. Der so definierte Status wird nun zum Status quo erklärt, die insoweit entwickelten Strukturen der Stadtgesellschaft werden festgeschrieben und nach innen und außen "ein für alle mal" fixiert . Der Diskurs der Macht setzt dem pragmatischen Arrangement ein Ende. Die europäische Stadt ist also durchaus ambivalent mit Vielfalt umgegangen. Meist waren es freilich nicht die Stadtgesellschaften selbst, die den konstruktiven Umgang mit Vielfalt aufkündigten, sondern größere politische oder kirchliche Regime. Diese Tendenz, Vielfalt zu verschärfen und politisch aufzuladen, um an ihr die Ordnung der Macht zu demonstrieren, ist immer wieder zu beobachten und wird das erste Mal extrem sichtbar anlässlich der brutalen Vertreibung der Juden und Moslems aus Spanien, dann in Mitteleuropa in Zusammenhang mit dem Dreißigjährigen Krieg, wo man versuchte, die neue Vielfalt der Religionen, wenn schon
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nicht zu reduzieren, so doch wenigstens zu territorialisieren, und diese Tendenz greift erneut in der Zeit der Nationalstaatsbildung massiv um sich. Am Ende gehen die Stadtgesellschaften und der Staat als Nationalgesellschaft nicht nur Hand in Hand vor, sondern im Rahmen der Nationalstaatsentwicklung wurde dieser Mechanismus auf staatlicher Ebene umfassend neu modelliert. So werden Bürgerechte für die Alteingesessenen reserviert, die mit der zum nationalen Gut erklärten einen Sprache, einen Religion, einen Kultur usw. (dem "Volkscharakter") konform gehen. Es werden Staatsangehörigkeiten definiert und das Wahlrecht damit verknüpft. Es werden Pässe erfunden und zu Dokumenten der Zugehörigkeit erklärt. Wenn der Prozess der Veral1täglichung zu einem bestimmten Zeitpunkt angehalten und der Staus quo zur Norm erklärt wird, bedeutet das offenbar nicht nur, dass man einfach an einem bestimmen Komplexitätsgrad von Gesel1schaft festhält, es bedeutet eben immer auch, dass man Konflikte sät, Probleme erzeugt, ausgrenzt, was bislang eingegrenzt war, Unterschiede politisiert, Kulturen ethnisiert, die bislang inkorporiert waren. Diese Tendenz, Vielfalt zu verschärfen und zu politisieren und damit Konflikt zu säen, ist schon in traditionel1en Gesel1schaften, wie die Beispiele zeigen, sehr folgenreich gewesen. Noch viel problematischer wird es al1erdings,wenn sich Gesel1schaften im Rahmen der Globalisierung schnel1 wandeln, wenn die Vielfalt der Stadtgesel1schaft qualitativ und quantitativ eine neue Stufe erreicht: Die bereits mit der ersten großen Globalisierungswel1e, nämlich der weltweiten Industrialisierung im 19. Jahrhundert erzeugten bis dahin unbekannten Mobilitätsund Kommunikationsformen bewirkten eine massive Diversifizierung des urbanen Al1tags, der Stadtgesel1schaften, der Nationalstaaten und der Weltgesel1schaft insgesamt. Und das gilt erst Recht für die gegenwärtige zweite Globalisierungswel1e, die erneut bislang unbekannte Mobilitäts- und Kommunikationsformen bewirkt und noch einmal ganz anders die im Verlauf von Generationen veral1täglichte, gewohnheitsmäßig geronnene und politisch immer wieder neu normierte gesellschaftliche Wirklichkeit in Frage stellt. Besonders im Rückblick wird deutlich, dass die beiden Globalisierungswellen einerseits keine wirklich neuen Herausforderungen darstellen, weil sie sich in die überkommene Dynamik eindeutig einfügen, anderseits aber doch von bislang völlig unbekannten Effekten begleitet werden, nämlich einer Mobilität, die nicht mehr Generationen, sondern nur noch Stunden benötigt, und einer Kommunikation, die nicht mehr auf einem sich über Jahre erstreckenden Informationsaustausch basiert, sondern just-in-time funktioniert (Bukow 2007:39f). Deshalb sprechen Migrationsforscher wie Steven Vertovec heute zu Recht von einer urbanen "Super-Vielfalt" (Vertovec 20 I 0).
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Entscheidend ist, dass es bis heute nicht gelungen ist, sich hier eindeutig zu positionieren und die Stärken der Stadtgesellschaft wirklich in den Mittelpunkt zu stellen, obgleich die Bedeutung der Nationalstaaten längst zurückgegangen ist und angesichts der wachsenden Bedeutung der Stadtgesellschaften im Kontext eines globalgesellschaftlichen Horizontes genug Spielraum wäre. So bleiben die Reaktionen auf diese neue Vielfalt ambivalent: a,
b.
Die einen sehen sich nicht wirklich neu herausgefordert und folgen ihrer praktischen Vernunft, indem sie sich als autochthone genauso wie allochthone Bevölkerungsgruppen arrangieren. So entwickeln sich gerade in den Quartieren, die besonders betroffen sind, wo beispielsweise innerhalb von zwei Generationen sich die Hälfte der Bevölkerung ausgetauscht hat, neue hybride Wirklichkeiten. Die anderen sehen sich in ihrem Status quo und in ihrer gesellschaftlichen Position von der Entwicklung tangiert. Ungewohnte Lebensstile, unbekannte Sprachen, eine neue Mischung der urbanen Optik irritieren . In diesem Fall geht es um die Bevölkemngsgruppen, die schon da waren, ihre Ansprüche schon abgesteckt und gesichert haben. Das sind nicht nur die längst selten gewordenen Alteingesessenen, das sind auch diejenigen, die ihre Mobilitätsgeschichte schon länger hinter sich haben . Und es sind diejenigen, die ihre Mobilitätsgeschichte trivialisiert haben, weil sie ja im Rahmen ihrer Mobilität keine Staatsgrenzen (z.B. als Flüchtlinge) oder doch zumindest keine "Volksgrenzen" (als Übersiedler, Spätaussiedler usw.) überschritten haben .
Die Gesellschaft reagiert also ambivalent, wobei ein Blick in die Quartiere zeigt, das die neue Vielfalt dort sehr viel selbstverständlicher hingenommen wird, wo schon bisher die Vielfalt größer war. Gemischte Quartiere tun sich leichter mit der neuen Vielfalt als homogene Quartiere. Warum das so ist, lässt sich heute, wie ein Blick in die Arbeiten der Forschungsstelle für interkulturelle Studien in Köln oder des Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Frankfurt zeigt, um nur zwei Beispiele zu nennen, ganz gut erklären. Viel problematischer ist die Reaktion der Öffentlichkeit und hier insbesondere der Kommunen, der gesellschaftlichen Institutionen und des Staates. Die Reaktionen dort sind häufig nach wie vor von einem Containerdenken bestimmt, das von der Gleichung "ein Staat - eine Gesellschaft - eine Sprache - eine Kultur - eine Religion - eine Identität - eine Staatsangehörigkeit" geprägt ist. Das bedeutet, dass Vielfalt allenfalls auf Zeit geduldet wird. Angesichts der aktuellen "Supervielfalt" ist man bestenfalls bereit, etwas mehr Zeit einzuräumen, bis die Einwanderer wirklich "angekommen" sind, also seine Erwartungen zu prolongieren. Damit wird ein Assimilationsdmck aufgebaut, der in jedem Fall in eine Sackgasse führt (Vertovec,
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Wessendorf 20 I0). Vor diesem Hintergrund erschein das Bemühen, einen Status quo, noch dazu einen fiktiven Status quo zu fixieren, nicht nur unzeitgemäß, sondern vor allem auch extrem gefährlich, weil Vielfalt damit zum Störfaktor erhoben wird und diejenigen, die sie repräsentieren, alsbald zum Opfer entsprechender Ordnungsregime werden (Bukow 2008 :159f). Diejenigen, die dem Druck widerstehen und auf ihrer individuell gelebten Vielfalt beharren, werden schnell zu einer Minderheit mit geringeren Chancen. Diejenigen, die sich assimilieren, passen sich dem sozialen Mythos einer Nationalgesellschaft an, die es so nie gegeben hat geschweige denn geben wird.
Zur vorliegenden Diskussion über die neue Vielfalt Vielfalt hat die urbane Wirklichkeit schon immer geprägt. Aber die Reaktionen sind bis heute ambivalent. In diesem Spannungsfeld bewegen sich auch die folgenden Beiträge. Zwei Präzisierungen sind hier wichtig: a,
b.
In den Beiträgen wird nicht mehr danach gefragt, ob Vielfalt wirklich eine relevante Größe darstellt, sondern nur noch danach, inwieweit diese Erkenntnis angesichts der globalisierten Stadtgesellschaft in der Gesellschaft wirklich angekommen ist. Die Beiträge konzentrieren sich folglich auf die Situation im urbanen Alltag und prüfen, inwieweit man sich in der Gesellschaft auf diese neue Vielfalt eingestellt hat. Der Begriff Vielfalt wird dementsprechend auf die Veränderungen in der Stadtgesellschaft bezogen. Häufig wird er sehr viel breiter verwendet und auf sehr unterschiedliche Diversifizierungsprozesse bezogen, eben auch solche, die weder durch die neuen Mobilitäts- noch die neuen Kommunikationsformen heraufgeführt worden sind. Die Ausweitung des Begriffs beispielsweise auf die Gender-Frage oder die Disability-Problematik oder die soziale Frage hat ihre guten Gründe . Dabei besteht jedoch die Gefahr, dass man damit der Unterschiedlichkeit der Phänomene nicht mehr gerecht wird und sie in einen Topf geworfen werden, obgleich sie sich sehr unterschiedlichen Kontexten verdanken. Wenn diese Fragen mit einbezogen werden sollen, müsste ein sehr viel komplexerer Ansatz gewählt werden - ein Ansatz, der der Komplexität solcher sehr unterschiedlich gelagerter Ausdifferenzierungsprozesse gerecht wird. Damit wären wir allerdings mitten in einer anderen Diskussion.
Vor diesem Hintergrund werden wir in der folgenden Debatte in vier Schritten vorgehen. Zunächst geht es um das Abbild der Vielfalt im urbanen Alltag, dann
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um die Reaktionen der wichtigsten urbanen Institutionen. Da aber der urbane Alltag nur einen Ausschnitt aus der Gesellschaft insgesamt darstellt, muss man auch überlegen, wie Gesellschaften insgesamt auf diese neue Vielfalt reagieren und am Ende wäre kritisch zurückzufragen, wie weit der Begriffder Vielfalt trägt, und ob damit schon das gesagt ist, was für die weitere gesellschaftliche Entwicklung ausschlaggebend ist.
Zum ersten Teil: Zunächst geht es, wie gesagt, um das Abbild der Vielfalt im urbanen Alltag. Regina Römhild blickt aufjunge Migranten in Frankfurt. Sie beobachtet das Szenario einer Schulklasse und stellt fest, dass es sich hier um einen ganz gewöhnlichen Mikrokosmos der deutschen Einwanderungsgesellschaft handelt, ein Szenario, das von manchen zwar als Migrantenghetto diskreditiert wird, von den anderen, den Betroffenen, freilich schlicht als Normalfall - schon weil hier die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten ausfallen - angesehen wird. Sie kommen miteinander und mit den Alteingesessenen gut aus, ein typischer Fall von "Selbst-Integration". Folglich orientieren sie sich auch nicht an irgendeiner ihnen ohnehin unbekannten Herkunftskultur, sondern am Hier und Jetzt, der transnationalen Lokalität. Angesichts der mangelhaften Dynamik der Alteingesessenen werden sie so zu Pionieren einer globalisierten Stadtgesellschaft. Ähnlich beschreiben Elizabeta Jonuz und Erika Schulze das Leben auf der Keupstraße in Köln . Hier geht es um eine andere Variante der Inszenierung von Vielfalt. Hier wird die alltäglich gelebte urbane Vielfalt, wie sie sich im Quartier tagtäglich ergibt, nicht nur völlig selbstverständlich gelebt, sondern diese auch gezielt inszeniert und ökonomisch herausgearbeitet. Dabei entstehen ganz neue Mischungen von Vielfalt. Diese Inszenierungen sind ökonomisch durchaus erfolgreich und machen die Straße weit über Köln hinaus bekannt und zu einer Attraktion. All das schützt sie aber weder vor Diskriminierung in den Medien noch vor Anfeindungen durch die lokale Politik. Es fällt offenbar den kommunalen Instanzen und der Öffentlichkeit sehr schwer, sich auf den überall greifbaren urbanen Wandel einzulassen, geschweige denn hier mitzuhalten. Immer wieder lässt sich belegen, dass Vielfalt der Stoffist, aus dem die Stadtgesellschaft schon immer ihre Kraft bezogen hat. Und angesichts der aktuellen Situation, in der Vielfalt qualitativ und quantitativ enorm zugenommen hat, sollte das noch viel deutlicher werden können, wenn man der durch die Vielfalt freigesetzten Dynamik den notwendigen Raum zugesteht. Birgit Mattausch-Yildiz belegt dies an der Entwicklung der Bronx, die denn auch 1997 den All American City Award für vorbildliche Stadtentwicklung und ziviles Engagement erhielt. Ein
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Blick auf die Geschichte dieses Quartiers zeigt, mit welcher unglaublichen Energie sich die Quartierbevölkerung ("Amerikas Dritte Welt") auch gegen Ignoranz und Widerstand der Behörden, der Investoren und der Stadtentwicklung durchgesetzt hat, um ihr Wohnumfeld zu verbessern und ihr Quartier schließlich aufzuwerten. Dies ist auch eine Auseinandersetzung mit der Definitionsmacht; wer bestimmt, was modem ist und was dem Zerfall geweiht, was Ghetto und Parallelgesellschaft, was öffentlich ignoriert und abgewertet oder was gefördert und aufgewertet wird . Im Beitrag von Erol Yildiz und Mare Hill wird die Aufinerksamkeit noch einmal stärker auf die Diskrepanzen zwischen dem Alltag und der vom hegemonialen Diskurs bestimmten kommunalen Praxis gelenkt, wofür das ehemalige "Haiderland" sicherlich besonders geeignet erscheint. Am Beispiel von St. RuprechtIKlagenfurt lässt sich deutlich machen, wie sich die Lebenswirklichkeit des Stadtteils aus unterschiedlichen persönlichen Netzwerken und Milieus, die durch gewachsene Mobilität geographischer und mentaler Art immer wieder neu interpretiert und kombiniert werden, zusammensetzt. Man kann aber auch beobachten, wie die nationalen Inszen ierungen auf der politischen und medialen Bühne Kärntens an der urbanen Alltagsrealität vorbei gehen - und das trotz der durch die Osterweiterung der EU gewonnenen Mittlerstellung. Zum zweiten Teil:
Es ist klar, dass den gesellschaftlichen Institutionen im Umgang mit Vielfalt eine wichtige Rolle zukommt. Die Beiträge in diesem Teil versuchen das an drei zentralen Schnittstellen deutlich zu machen . Joaehim Schroeder skizziert die Situation im Bildungssystem, hier in den Schulen, und fragt, warum der Umgang mit Diversität trotz des Siegeszuges der interkulturellen Pädagogik in den Schulen immer noch nicht zum Normalfall geworden ist. Er verweist hier nicht nur auf das Beharrungsvennögen des eurozentrischen Blicks, der vor allem auch durch die Medien gestützt wird, sondern auch auf strukturelle Defizite eines Bildungssystem, das die neue urbane Wirklichkeit immer noch nicht wirklich zur Kenntnis genommen hat. Noch viel weniger sei es dem Bildungssystem gelungen, die Vielfalt des Schulquartiers in seine Praxis einzubeziehen. In eine ganz andere Richtig blickt Ulrieh Steuten. Er wirft einen kritischen Blick auf das aktuelle Religionsverständnis. Dabei zeigt sich nicht nur, dass die Religionen im Zeitalter der Globalisierung an Selbstbewusstsein und Tiefenschärfe verloren haben, sondern auch, dass sie sich zunehmend als .Jight't-Produkte präsentieren und auf dieser Ebene in einen Konkurrenzkampf eintreten. Zugleich TÜcken sie an die Stelle der religiösen Faszination das Spektakel. Diese Entwicklung macht die Religionen zunehmend unberechenbar und beliebig. Und es er-
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schwert eine Auseinandersetzung mit religiöser Diversität. Es ist deshalb kaum erstaunlich, wenn diese Auseinandersetzung besonders in der Öffentlichkeit zunehmend polemische Züge annimmt und vor allem dazu dient, den eigenen religiösen claim zu sichern. Stefan Lanz wirft am Beispiel Berlins die Frage auf, inwiefern, warum und aufweiche Weise in einer Stadt, in der Einwanderer bislang als Fremdkörper galten, sie heute als zentraler Bestandteil der Stadtgesellschaft betrachtet werden. Er beschreibt, wie sich das Bild der Stadt in der lokalen politischen Öffentlichkeit allmählich wandelt, das lange gepflegte national-homogene Großstadtdispositiv schrittweise unter dem Druck der neuen kosmopolitischen sozio-ökonomischen Realität zerbröselt und nach einer Zwischenphase letztlich in ein kosmopolitischdiversitäres Dispositiv übergeht - ohne dass allerdings die älteren Dispositive schon gänzlich verschwunden wären. Zum dritten Teil:
Der Umgang mit Diversität ist nicht nur eine Herausforderung für die Menschen in den Quartieren und für die hier präsenten Institutionen. Es stellt sich auch die Frage, wie Gesellschaften damit insgesamt umgehen, wobei diese Frage auch an andere Gesellschaften zu richten ist, weil wir es ja mit einer globalgesellschaftlichen Herausforderung zu tun haben, die dementsprechend auch viele andere Länder beschäftigt. Eine erste Antwort formuliert hier Erol Yildiz, Er prüft, inwiefern es schon gelungen ist, die durch die Öffnung der Orte zur Welt entstandene Vielfalt - eine Vielfalt, die man ja nicht mehr zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen kann - so zu fassen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt weiterhin gesichert ist. Er fragt deshalb nach einer sozialen Grammatik der Vielfalt in der globalisierten Gesellschaft. Der urbane Alltag gibt diese Antwort selbst, wenn man ihn entsprechend genau beobachtet: Die Gesellschaft schafft urbane Räume, die zu Bühnen, Ausgangspunkten und Schnittstellen für neue Verortungsstrategien werden, die längst über das Lokale hinausgehen. Lokale Orte wandeln sich zu Multizentren für unterschiedliche Traditionen, Kulturen, Erinnerungen, Ereignisse und Erfahrungen. Wenn man den national-homogenisierenden Blick ablegt, erkennt man, dass es sich hierbei um eine soziale Grammatik handelt, die neue Möglichkeitsräume erlaubt, um Differenzen neu denkbar zu machen. Die Aufmerksamkeit auch auf andere Länder zu richten, ist schon deshalb nützlich, weil sie ja genauso von der Thematik betroffen sind und dementsprechend eigene Erfahrungen gemacht haben dürften. Ayhan Kaya richtet seine Aufmerksamkeit auf die Türkei, ein Land, dass schon sehr viel länger mit Vielfalt umgeht,
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aber teilweise ähnliche Probleme damit hat wie Deutschland. Auf der einen Seite konstatiert er, die Türkei sei multi-ethnic bzw. multi-cultural. Es gebe circa 50 unterschiedliche ethnic groups . Aufder anderen Seite versuche man mit einer ultranationalistischen Politik eine national-ethnisch homogene Gesellschaft zu modellieren. Der Druck, der von dort aus auf die nach wie vor existierenden Minderheiten ausging, provozierte lange nur Widerstand. Heut setzen diese Gruppierungen ihre Hoffnung auf die EU. Beide Seiten, so dokumentiert er, sind nun genötigt, sich neu aufzustellen. So entstehen neue Diskurse, ein Demokratisierungs-, ein "Vergangenheitsbewältigungs-" und ein Diversitydiskurs. Auch Leonhard Voltmer präsentiert eine Debatte, die schon lange anhält, nämlich den Weg, den Südtirol vom "Schutz ethnischer Minderheiten" zu einem differenzierten "Minderheitenschutz" gegangen ist. Er arbeitet hier ein Phänomen heraus, das auch aus anderen Ländern vertraut ist, aber sonst nicht so im Blickfeld liegt, nämlich einen politischen Neuorientierungsprozess, der damit zu tun hat, dass man die Fixierung an die überkommenen Minderheiten aufgibt, bzw. die diversen neuen Minderheiten einbezieht. Offenbar ist aber die Umstellung der Gesellschaft auf eine diversitätsgerechte Struktur schwierig, weil die alten Minderheiten weiter auf ihren Gruppenrechten bestehen. Dieses Beharrungsvermögen kann als sekundäre Folge eines unbewältigten Nationalismus, als Resultat eines einst entwickelten Gegennationalismus betrachtet werden kann - eines Gegennationalismus, der wie der Nationalismus selbst eine echte Umstellung der Gesellschaft auf Diversity bis heute behindert. Spätestens in diesem Augenblick ist es wichtig, die kanadischen Erfahrungen mit einzubeziehen. Rainer Geissler skizziert das kanadische Modell des Umgangs mit Diversität. Der entscheidende Punkt ist hier nicht, dass es in Kanada seit der Anerkennung von immer mehr Minderheitengruppierungen keine Mehrheitsgesellschaft mehr gibt, sondern dass diese Situation zum Leitgedanken der Politik wurde, mehr noch, dass die Politik dies nicht nur notgedrungen akzeptiert, sondern umgekehrt die ethno-kulturelle Verschiedenheit prinzipiell positiv eingeschätzt - eben nicht nur, weil sie ein Grundbestand der kanadischen Wirklichkeit ist, sondern auch, weil sie als vorteilhaft und produktiv angesehen wird. Geissler dokumentiert sorgfältig, wie in diesem Kontext die gewohnten gesellschaftlichen Leitdifferenzen vollständig neu modelliert werden. Zum obersten Begriff wird "unity-within-diversity". Das impliziert auch, dass jeder gleichzeitig mehreren ethnisch-kulturellen oder sozialen Clustern zugehören kann, eine Diversitypolitikjenseits der alten Minderheiten- und Mehrheitenklischees. Bleibt die Frage der Übertragbarkeit. Hier ist er skeptisch, weil er sich weitgehend auf historische Argumente beschränkt.
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Zum vierten Teil: Ausblick Im abschließenden Diskurs wird noch einmal grundsätzlicher zum hier immer wieder verwendeten Begriff der Vielfalt Stellung bezogen. In einer Rückschau kann Mark Terkessidis zeigen, wie sich die mit dem Begriffverbundenen Vorstellungen im Verlauf der Rezeption und Verwendung in der hiesigen Debatte verändern. Vor allem gehen die strukturellen Implikationen verloren und Diversity wandelt sich zu so etwas wie einer Stimmungsvorlage. Harte Anerkennungs- und Gleichstellungsforderungen verwandeln sich dabei in nette Einstellungsformate, kaum mehr als eine "blumige Vokabel". Er plädiert deshalb dafiir, angesichts der vielfältigen Zusammensetzung der Bevölkerung das "Haus", in dem diese Menschen leben, völlig umzubauen und die geteilte Wirklichkeit "kreativ neu zu erfinden". Ähnlich plädiert Wolf-Dietrich Bukow dafiir, sich endlich von den ohnehin längst diskreditierten nationalen Erzählungen abzuwenden und die gesellschaftliche Wirklichkeit ernst zu nehmen. Gleichzeitig plädiert er aber auch fiir mehr Gelassenheit, weil Vielfalt fiir die Stadtgesellschaften schon immer basal war, also nichts Neues war und ist. Sie hat schon immer die urbanen Kompetenzen stimuliert und die Komplexität der Gesellschaft forciert . Und die Bevölkerung hat hier seit je mitgespielt und die Vielfalt ihrem Repertoire einverleibt, womit Vielfalt nichts Besonderes mehr darstellt. Was sich heute verändert hat, ist, dass all diese Prozesse schneller und umfassender ablaufen. Deshalb ist es wichtig, die globalisierte Bevölkerung in ihrer praktischen Vernunft zu mobilisieren. Die "Vielen als Viele" müssen sich schneller als bisher einer wachsenden "Vielfalt von Vielfalt" stellen und dabei endlich unterstützt werden, statt von den gesellschaftlichen Instanzen aus Angst vor Machtverlusten weiter behindert zu werden.
Zu guter Letzt möchten sich die Herausgeber(innen) bei den Autorinnen und Autoren fiir ihre Mitarbeit bedanken, durch die ein hoffentlich spannender und perspektivenreicher Sammelband entstanden ist. Ein besonderer Dank geht an dieser Stelle auch an Asmaa Elhafsi und Mare Hill fiir ihre Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit an diesem Buch.
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Literatur Bukow, Wolf-Dietrich (2007): Die Rede von Parallelgesellschaften. In: Nikodem, Claudia; Schulze, Erika; Yildiz, Erol; Bukow,Wolf-Dietrich (Hg.): Washeißt hier Parallelgesellschaft? Zum Umgang mit Differenzen. Wiesbaden: VS-Verlag, S. 29-52. Bukow, Wolf-Dietrich (2008): Kriminalisierung als gouvernementales InstrumentvonEinwanderungspolitik. In: Sessar, Klaus (Hrsg.): Herrschaftund Verbrechen. Kontrolleder Gesellschaftdurch Kriminalisierung und Exklusion. Berlin: LIT, S. 157-180. Bukow,Wolf-Dietrich (2010): Urbanes Zusammenleben. Zum Umgangmit Migrationund Mobilität in europäischen Stadtgesellschaften. Wiesbaden: VS Verlag. Sessar,Klaus (Hrsg.) (2008): Herrschaftund Verbrechen. Kontrolleder Gesellschaftdurch Kriminalisierungund Exklusion. Berlin: LIT. Vertovec, Steven (2010) : Anthropology ofMigration and Multicultura1ism. New Directions. London: Routledge. Vertovec, Steven; Wessendorf, Susanne(2010): The Multiculturalism Backlash.EuropeanDiscourses, Policies, and Practices. London: Routledge.
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Vielfalt im städtischen Alltag
Global Heimat. Der Alltag junger Migranten in den Widersprüchen der Einwanderungsgesellschaft Regina Römhild
.Dieses ewige,Wo gehöre ich hin?', das gibt's bei mir nicht", sagt der Regisseur Fatih Akin am Schluss seines Dokumentarfilms "Wir haben vergessen zurückzukehren" aus dem Jahr 2000 . Seine Haltung teilen viele - vor allem junge - Migranten. Sie haben längst gelernt, mit mehreren Heimaten zu leben, sich selbst transnationale kulturelle Räume zu schaffen, die der üblichen Festlegung auf eine nationale Herkunft und eine daran geknüpfte Zugehörigkeit widersprechen. Während in Deutschland Integration noch immer als eine Entweder-Oder-Entscheidung zwischen verschiedenen Zugehörigkeiten verstanden wird, leben Migranten in grenzüberschreitenden kulturellen Räumen des Sowohl-Als-Auch. Sie kreieren damit eine neue Vielfalt möglicher ldentitäten und widersetzen sich der Diskurs beherrschenden Vorstellung einer ethnischen Container-Gesellschaft, wie sie der Nationalstaat und seine hierarchische Anordnung von Mehrheit und Minderheiten propagiert. Dennoch sind Migranten und Migrantinnen zugleich täglich mit diesen Hierarchien und dem wirkmächtigen Sortiermuster der ethnischen Unterscheidungen konfrontiert (vgl. Beck-Gernsheim 2004; Bukow 1992). Im Spannungsfeld zwischen ethnisierender Zuschreibung und transnationaler Selbst-Eingliederung entwickeln sie ihre Kompetenzen im Umgang mit den Widersprüchen der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Frankfurt ist eine der deutschen Metropolen weltweiter Migration, und damit ein gutes Beispiel, um sich diesem noch immer weitgehend unsichtbaren Alltag zu nähern. Denn mit knapp einem Drittel an Einwohnern ohne deutschen Pass steht Frankfurt (wie das Rhein-Main-Ballungsgebiet generell) an der Spitze der internationalen Städte in Deutschland. Ein Teil dieser Einwanderungsbevölkerung wird von den multinationalen Dienstleistungsunternehmen gestellt, die Frankfurt zu einer zwar kleinen, aber im weltweiten Netz der Finanzplätze wichtigen Global City macht. Ein anderer - größerer - Teil geht auf die vielfältigen Einwanderungsbewegungen der Arbeitsmigration und der Flucht aus den Krisengebieten der Welt Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zurück. In einem Forschungsprojekt am Frankfurter Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie haben wir die diversen Formen der Transnationalisierung, wie sie sich hier in den Büros der Hochhaustürme, aber ebenso auch auf den Straßen, den Schulhöfen, in den Wohnquartieren, den Clubs und Szenen der Einwanderungsstadt entfalten, zum Thema gemacht (vgl. BergmannJRömhild 2003). Mit Saskia Sassen (1998) gingen wir davon aus, dass in Metropolen wie Frankfurt eine ökonomische und politische Transnationalisierung "von oben" auf eine soziale und kulturel1e Transnationalisierung "von unten" trifft . Während allerdings der einen Form der Transnationalisierung, die gemeinhin mit der Global City identifiziert wird, viel Raum und Sichtbarkeit gewährt wird, führt die andere Form, wie sie sich in den vielfältigen Welt-Räumen der Einwanderungsstadt entwickelt, noch immer ein Schattendasein am Rande der politischen und der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Das Gal1usviertel war eines der Untersuchungsfelder im Projekt "global heimat" : ein ehemaliges Industriequartier am Rande der Frankfurter City, in dem heute im städtischen Vergleich besonders viele Migranten leben und das in direkter Nachbarschaft zu einem geplanten Renommierprojekt der Global City - dem .Europaviertel" -liegt (vgl. Bergmann, Henrich, Kämper, Sprenger 2003). Die Forscherin Tanja Kämper lernte hier in vielen Gesprächen und ethnografischen Beobachtungen Jugendliche einer 10. Gesamtschulklasse, ihre Erfahrungen, ihre Perspektiven im Al1tag der Einwanderungsstadt kennen (vgl. Kämper 2003). Eine der Schülerinnen ist Katja, die als Tochter russlanddeutscher Spätaussiedler nach Deutschland kam . Zu ihren Freunden in der Klasse gehören Antonija, die mit ihren Eltern vor dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien nach Deutschland geflüchtet ist, und Antonijas Freund Jeffrey, der als Sohn einer deutschen Mutter und eines US-amerikanischen Vaters in Frankfurt geboren wurde. Fast al1eMitschüler von Katja kommen aus migrantischen Familien, deshalb gehört Annika - als Deutsche ohne Migrationshintergrund - in dieser Schule zu einer Minderheit. Auch Katja könnte den Status der Deutschen für sich reklamieren, denn als Spätaussiedlerin aus Usbekistan hat sie einen deutschen Pass . Aber sie selbst bezeichnet sich lieber als Russin. ",Russisch sprechen"', schreibt Tanja Kämper, "die ,Freundschaft mit anderen Russen' ist ihr wichtig, und sie bevorzugt ,Diskotheken, wo Russen hingehen'. Dafür fährt sie auch mit ihren Freundinnen bis nach Rodgau, das ungefähr 20 Kilometer von Frankfurt entfernt liegt . Und obwohl Katja erzählt, dass sie viel ,mit Türken und Kroaten abhängt', beharrt sie auf der Abgrenzung, dass sie eigentlich nur was ,mit Russen zu tun haben will' ." (a.a.O .: 230f.) Tulays Eltern kamen vor vielen Jahren als "Gastarbeiter" aus der Türkei nach Deutschland. Auch Tulay geht lieber in den Burger King, in ,jugoslawische" oder "türkische"
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Cafes und Clubs als in "deutsche" Diskotheken. Mit ihren Freundinnen Rada und Zeynep hört sie türkischen Pop und Techno. In ihrer Freizeit bevorzugen sie die Innenstadt, wo sie außer Sichtweite der Eltern shoppen können, ins Kino gehen oder in Cafes sitzen und rauchen (vgl. a.a.O.: 229). Im Leben der Jugendlichen spielen aber auch viele andere Orte weitab von Frankfurt eine alltägliche Rolle. Auf die Frage: "Wo leben eure Freunde und Freundinnen?" antwortet Antonija: "Gallus, Griesheim, Kroatien." (Römhild 2003: 8) Auf dem Schulhof unterhalten sich die Jugendlichen darüber, wer in den Ferien wohin fährt, um Verwandte zu besuchen. Katja war auch schon ein paar Mal bei ihren Großeltern und ihren Freunden in Usbekistan. Sie freut sich jedes Mal, sie wieder zu sehen, kommt aber ebenso gerne wieder zurück nach Frankfurt. Das Szenario dieser Schulklasse ist ein ganz gewöhnlicher Mikrokosmos der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Und doch macht die Tatsache, dass hier die deutschen Schüler und Schülerinnen in der Minderheit sind, die Schule aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft zu einem paradigmatischen Ort des oft beschworenen und befürchteten "Migranten-Ghettos". Dabei tragen die deutschen Eltern oft selbst zu dieser Ghettoisierung bei, wenn sie nämlich alles daran setzen, ihre Kinder in den Schulen anderer Stadtteile unterzubringen. Diese Tendenz zur räumlichen Segregation wird von der Stadtpolitik ganz offensiv unterstützt. So hat man bislang bewusst daraufverzichtet, eine Oberstufe in dieser Gesamtschule einzurichten, mit dem Argument, dass ein Wechsel der Schule - und des Quartiers "die Integrationsfähigkeit fördere" und deshalb nicht nur für deutsche Schüler und Schülerinnen empfehlenswert sei: "Jedes gut beratene Migrantenkind geht nicht auf diese stigmatisierte Schule", meinte ein Vertreter der FDP (zit, nach Kämper 2003 : 227) . Statt sich gegen das Stigma und für die Aufbesserung der Schule einzusetzen, leistet hier die Politik der Ethnisierung des Viertels zum MinderheitenGhetto weiter Vorschub. Ursache und Wirkung stehen Kopf: Nicht die Benachteiligung und Ausgrenzung der Migranten, sondern die Migranten selbst, ihre bloße Anwesenheit, machen einen Raum zur Problemzone (vgl. Pott 2001). Die Jugendlichen erleben ihr Viertel dagegen nicht als Minderheiten-Ghetto - gerade weil hier die Mehrheitsverhältnisse zu ihren Gunsten ausfallen. Migrant, Migrantin zu sein ist im Gallus der Normalfall. Das Attribut "deutsch" gilt bei den meisten als unattraktiv, und Annika, die in Deutschland geborene Deutsche, wird im Streit schon mal "Kartoffel" genannt. Im Verhältnis zu ihr sehen sich ihre Mitschüler als Nicht-Deutsche mit der Gemeinsamkeit, aus Einwandererfamilien zu stammen. Dadurch wird das Gallus für sie - trotz aller Benachteiligung - zu einem Möglichkeitsraum, der für eigene Projekte der Selbstermächtigung genutzt werden kann.
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Dennoch setzen auch die jungen Migranten untereinander ethnische Grenzziehungen ein, vor allem zwischen "Türken" und "Jugoslawen" gegenüber "Russen" . Diese Unterscheidungen sind allerdings weder eine ,,natürliche" Folge der Einwanderung im Sinne "mitgebrachter" Kulturen und Identitäten, noch sind sie nur einfache Reproduktionen ethnisierender Zuschreibungen. Sich selbst oder andere hier als türkisch, deutsch oder russisch zu bezeichnen, geschieht vielmehr vor dem Hintergrund des eigenen Wissens über die Bedeutungen und die Wirkungen ethnischer Kategorien in der Einwanderungsgesellschaft. Alle haben unmittelbare Erfahrungen damit, was es in verschiedenen Kontexten heißt, als "Ausländerin", als "Russin", "Türkin" oder "Deutsche" adressiert und eingeordnet zu werden. Aufgrund dieser Erfahrungen sind Migranten zwangsläufig Experten für das die deutsche Einwanderungsgesellschaft noch immer regierende ethnische Unterscheidungssystem, vor allem auch für seine "banalen" Erscheinungsweisen im Alltag (vgl. Terkessidis 2004 : 118ff.). Mit Stuart Hall lässt sich sagen, dass Menschen durch diese Erfahrungen und dieses Wissen erst zu Migranten werden: Es ist ein Lernprozess, die Kategorien, in denen man gedacht wird, kennen zu lernen und ihre Bedeutungen für das eigene Leben zu verstehen. Prozesse der Aneignung, der Selbstermächtigung und des Widerstands sind letztlich nur aus dieser Erkenntnis heraus und durch eine daran geknüpfte Identifikation mit dem Migranten-Sein möglich (vgl. Hall 1994). Die Positionierungen der Jugendlichen lassen sich als eine solche Form der Identifikation verstehen. Im Frankfurter Gallus "Russin" oder "Türkin" zu sein, bedeutet zunächst einmal, sich auf die Seite der Migranten und gegen das ansonsten übermächtige .Deutschsein" zu stellen. Im Kontext dieser markanten gemeinsamen Identifikation tauchen die ethnisch konnotierten Abgrenzungen zwischen den Jugendlichen eher situativ und temporär auf. Im Normalfall des Alltags, beim gemeinsamen ,,Abhängen", können sie jederzeit wieder außer Kraft gesetzt werden. Während man in den Ethno-Cafes und -Clubs weitgehend innerhalb der Grenzziehungen "unter sich" bleibt, ist der Burger King der bevorzugte Platz, an dem sich dann alle wieder treffen. Die jungen Migranten schätzen solche Orte, an denen keine Nationalität dominiert - auch die deutsche nicht. Das trifft auf Transiträume wie die Fast Food-Lokale der Systemgastronomie zu, aufFußgängerzonen, U-Bahnhöfe oder Shopping Malls. Gerade weil sie global genormt und austauschbar sind, werden sie zu heterotopischen "Möglichkeits-Orten": Sie können als ethnisch nicht vorstrukturierte, als entnationalisierte Frei-Räume mit Anbindung an eine transnationale Jugendkultur verstanden und angeeignet werden (vgl. Sprenger 2003: 221f.; Carbonilla u.a. 2007) . Solche Möglichkeits-Orte finden sich nicht nur im ,,Migranten-Ghetto", sondern auch in den urbanen Zentren der Frei-
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zeit- und Konsumlandschaft. Die migrantische Aneignung dieser Orte macht gerade die Innenstädte zu Zeugen der laufenden De-Zentrierung der Nation in der Einwanderungsgesellschaft (vgl. Caglar 2001). In diesen Formen migrantischer Selbst-Eingliederung spielt die deutsche Mehrheitsgesellschaft keine herausragende Rolle. Viele Migranten fühlen sich in selbst organisierten Vereinen, Clubs und Szenen wohler als in der deutschen Gesellschaft, die ihnen das Integrationsmodell verordnen will . Dem Modell nach ist es vor allem an den Einwanderern, sich den Deutschen anzunähern, sich in eine scheinbar deutsche Kulturlandschaft passend einzufügen: aus der Perspektive vieler Migranten ein einseitiger, nur an sie gerichteter Tntegrationsimperativ. "Es wird immer nur gefordert", meint eine junge Migrantin, "es wird nie was gegeben im politischen Kontext. Deswegen würde ich mich persönlich weigern. Also, ich wüsste nicht, wie ich mich noch hier in diese Gesel1schaft oder in Frankfurt zu integrieren hätte." (Kämper 2003: 232) Dass sich viele Migranten nicht in einer fiktiven Gesellschaft der Deutschen, sondern in die Realität der Einwanderungsgesellschaft orientieren, gilt in einem populistischen Diskurs als bedrohliches Anzeichen von ethnischer Abschottung und Parallelgesellschaft. Aber diese Ängste verweigern sich einer Wirklichkeit, die auch aus Deutschland längst eine spätmoderne, transnationale - und damit hochgradig heterogene, "super-diverse" (vgl. Vertovec 2006; Soysal 2001) - Gesellschaft gemacht hat. Die jungen Frankfurter Migranten kommen mit den meisten Deutschen, mit denen sie ganz selbstverständlich jeden Tag zu tun haben, gut aus. Sie unterscheiden sehr genau zwischen den Personen, die ihnen im Alltag begegnen, und einer strukturellen Dominanz des Deutschseins, gegen die sie sich wehren und von der sie sich abgrenzen. Dass es hier einen Unterschied gibt, erfahren sie täglich in der Schule. Denn viele Lehrer stehen durchaus auf ihrer Seite und setzen sich ihrerseits für eine Verbesserung der Bildungssituation ein. Aber dennoch bleibt die institutionelle Diskriminierung, wie sie Mechthild Gomolla und Frank-OlafRadtke (2002) untersucht haben, auch unabhängig von diesen individuellen Einsätzen bestehen: denn gerade die deutsche Schule ist politisch und konzeptionell noch immer eine Schule der Nation, die zwangsläufig alle, die von der nationalen Norm abweichen, als Minderheiten behandelt. Und manchmal greift der Rassismus auch direkt auf den gemeinsamen Alltag über. Tulay erzählt ein Beispiel: "Hier leben eigentlich voll viele, die aus verschiedenen Ländern kommen. Ich denk', das macht auch keine Probleme - außer paar Ausnahmen (...). Zum Beispiel bei uns in Griesheim gibt's so einen Deutschen also nichts gegen Deutsche, aber der (.. .). Da meine Mutter Kopftuch trägt (...). Wenn er mich sieht, ist er voll lieb, und wenn ich mit meiner Mutter gehe, schreit
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er: Ja, ihr Ausländer, ihr macht uns alles kaputt, raus mit euch!" (Kämper 2003: 225f.) Anscheinend macht das Kopftuch für den Mann einen entscheidenden Unterschied, und er zieht daraus den simplen Schluss: Kopftuch = Türken + Islam = Bedrohung. Für dieses "Wissen" kann er sich täglich in den laufenden Diskursen und ihren schematischen Bildern vom "Kampf der Kulturen" bedienen. Tatsächlich aber weiß er praktisch nichts über Tulays Alltag und den ihrer Mutter. Und so verbirgt sich hinter dem platten Rassismus auch ein tragisches Missverständnis. Das Kopftuch führt auf die falsche Fährte: Denn eigentlich versteht sich nur Tulay in ihrer Familie als gläubige Muslimin. Sie befolgt als einzige die Regeln des Ramadan. Die Mutter macht sich darüber Sorgen, denn sie hält ihre Tochter auch so schon für zu dünn. Tulay fällt es leicht, während der Fastenzeiten auf das Essen zu verzichten - nicht zu rauchen, findet sie viel schwerer. Sie beschreibt ihre Mutter als "echt cool, obwohl sie Kopftuch trägt" (a.a.O .: 230) . Für Tulay käme das aber nicht in Frage. Ihr Islam steht nicht im Widerspruch zu den Orientierungen, den Praktiken und den Looks einer transnationalen Jugendkultur. Wie viele andere hat sie kein Problem damit, ihre Religiosität mit der deutsch-türkischen Migrationsgeschichte und mit dem Frankfurter Großstadtalltag zu verbinden. Als Muslimin folgt sie weder einer familiären Doktrin, noch der Erbschaft einer türkischen "Herkunftskultur". Es ist vielmehr eine ihrer - vorläufigen - Antworten auf die Herausforderung, in der deutschen Einwanderungsgesellschaft aufzuwachsen und sich darin eine Position zu suchen. Wenn Tulay sich mit ihren Freundinnen im Burger King unterhält, kann sie über ihren Nachbarn in Griesheim nur den Kopf schütteln. Aus ihrer Sicht ist er der Fremde in einem Deutschland, das sich längst verändert hat. Und nicht nur sie stellt sich dann schon mal die Frage, wie sehr die Deutschen eigentlich in dieser neuen Wirklichkeit angekommen sind und ob es nicht auch auf ihrer Seite Integrationsdefizite gibt. Wie Tulay setzen sich junge Migranten aber nicht nur mit dem Rassismus und den Integrationsforderungen der Mehrheitsgesellschaft kritisch auseinander, sondern auch mit der kulturellen Welt ihrer Eltern, die oft noch stärker herkunftsorientiert ist: eine nicht nur für sie, sondern in der Adoleszenz generell wichtige Entwicklungsphase (vgl. Sauter 2000). Im Migrationsprozess wird die Familie nicht nur - wie derzeit oft behauptet - zu einem ethnischen oder religiösen Rückzugsort, sondern vor allem auch zu einem Mikrokosmos der Aushandlung neuer Identitätsentwürfe in der Einwanderungsgesellschafl:. Auch Katjas Selbst-Positionierung als Russin entwickelt sie eher in Abgrenzung, denn in Übereinstimmung mit ihrer Familie. Denn ihre Eltern mussten noch von der ehemaligen Sowjetunion aus minutiös ihre "deutsche Abstammung" und
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ihre "deutsche Volkszugehörigkeit" nachweisen, um den Status als Spätaussiedler und damit die Auswanderungserlaubnis nach Deutschland zu erlangen (vgl. Römhild 1998: 255ff.). Die Anerkennung als Spätaussiedler setzt voraus, sich als Vertreter deutscher Minderheiten im ehemals sozialistischen Osten Europas und als "Heimkehrer" zu verstehen - obwohl schon die Vorfahren seit Generationen außerhalb Deutschlands lebten . Dies verlangt den so Angerufenen ab, das aus ihrer Sicht Untrennbare zu trennen: "das Deutsche" aus ihrer Biographie und der ihrer Familie herauszuschälen, säuberlich getrennt von der Teilnahme am gesel1schaftliehen Leben ihrer ansonsten im wesentlichen nicht-deutschen Umwelt in Polen, Rumänien oder der ehemaligen Sowjetunion (vgl. a.a.O .: 257). Die deutsche Migrationspolitik behandelt Aussiedler explizit nicht als Migranten, sondern als "ethnische Deutsche" mit unm ittelbarem Anspruch auf die deutsche Staatsangehörigkeit bei der Ankunft in Deutschland. So schürt sie bei ihnen entsprechende Hotlhungen, als "Deutsche unter Deutschen" wahrgenommen, also inmitten der Mehrheitsgesel1schaft akzeptiert zu werden; und sie befördert entsprechende Erwartungen der Eltern an ihre Kinder, sich auch als "deutsche" Einwanderer zu verstehen und zu präsentieren - Erwartungen und Hotlhungen, die dann al1erdings im Al1tagder Einwanderungsgesel1schaft, wo sie sich dennoch im großen Pool der "Fremden" wieder finden, enttäuscht werden (vgl. GraudenzIRömhild 1996). Das scheinbare Privileg des "Deutschseins" erweist sich in diesem Al1tag als sozialer Zündstoff. Es fiihrt zu heftigen symbolischen und materiel1en Konkurrenzkämpfen unter den verschiedenen Herkunftsgruppierungen der Spätaussiedler, besonders aber auch mit den Kindern und Enkeln der ehemaligen "Gastarbeiter". Denn sie sind von vergleichbaren politischen und gesel1schaftlichen Rechten ausgeschlossen, obwohl sie meist selbst schon in Deutschland geboren wurden (vgl. a.a.O.: 52ff.). Die Konflikte zwischen jungen Deutsch-Türken und jungen Spätaussiedlern sind auch eine Folge dieser Politik der Ungleichheit. Einiges davon scheint noch in Katjas Abgrenzung gegenüber "den Türken" in ihrer Klasse auf. Aber als selbsternannte Russin setzt sie sich gleichzeitig auch von der ethnisierenden Kategorie der deutschen Spätaussiedlerin ab. Dabei bezieht sich ihr Russischsein nicht auf eine geradlinige, retrospektive Bindung an Usbekistan oder die ehemalige Sowjetunion. Sie fiihlt sich wohl in Frankfurt und schätzt die Freiheiten, die ihr eine auch von den Migranten mitgestaltete Großstadt bietet. Und so ist ihre Identifikation als Russin eher eine Konsequenz dieser spezifischen Migrations- und Ethnisierungsgeschichte als die einer spezifischen ethnischen Herkunft. Aus der Umklammerung des ethnischen Deutschseins brechen gerade junge Spätaussiedler oft aus und erfinden dann das Russische fiir sich neu. Dabei entwickeln sie auch neue Bündnisse mit anderen Einwanderern gleicher
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Herkunft: ihren ehemaligen Mitbürgern unterschiedlicher Nationalität aus Russland und den GUS-Staaten (vgl. Schmidt 2005 ; Salein 2005). Orientierungspunkt für viele Jugendliche ist nicht die ,,Herkunftskultur" oder das, was in den Familien und Communities davon weiter getragen wird, sondern die Kultur einer jungen transnationalen Diaspora in den Städten Deutschlands und Europas. Vergleichbar mit anderen Bewegungen der Vorstädte in Frankreich oder Großbritannien, hat sich diese migrantische Diaspora gemeinsam mit schwarzen Deutschen, Sinti und Roma vom "Ghetto" aus mit eigenen Kulturproduktionen in den Minderheiten-Rap Europas eingeschrieben. Sie hat sich damit, wie Fatima EITayeb schreibt, selbst eine politische Stimme verliehen gegen den grassierenden Rassismus der 1990er Jahre (vgl. EI-Tayeb 2004, 100ff.; Güngör/Loh 2002). Mit türkischem, osteuropäischem oder griechischem Pop und mit Bars, die sich am weltstädtischen Life-Style der Clubszenen in Istanbul, Athen oder Belgrad orientieren, hat sich diese neue Jugendkultur aber auch längst im Zentrum der deutschen Städte etabliert (vgl. Caglar 2001). Und gleichzeitig sind neue Formen der Selbstorganisation entstanden, die der fortdauernden Macht des ethnischen Ausschlusses mit Mitteln der Ironie, der Kunst und des subkulturel1en Protests zu Leibe rücken. Gruppierungen wie "Die Unmündigen", die "Gesel1schaft für Legalisierung" oder .Kanak Attak" verstehen sich explizit als nicht-ethnische, nationalitätenübergreifende Initiativen. Sie sind aber dennoch dem migrantischen Widerstand verpflichtet. .Kanak Attak", so ist im Man ifest der Gruppe zu lesen, "fragt nicht nach dem Paß oder der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft." (www.kanak-attak.de, 13.9.2007) Auch dabei zeichnet sich eine zunehmend transnationale Orientierung ab: so entstehen neue Querverbindungen zwischen der Situation der Migranten erster bis dritter Generation in den alten Einwanderungsländern im Westen Europas und der illegalisierten, prekären Migration über die EU-europäischen Außengrenzen. Der Zusammenschluss und die Zusammenarbeit migrantischer Selbstorganisationen über die Grenzen Europas hinweg deuten die Entstehung einer neuen Dimension nicht nur kultureller, sondern auch politischer Selbstermächtigung an. Längst hat sich dieses neue migrantische Selbstbewusstsein, das sich überall in Deutschland artikuliert, auch in den gesellschaftlichen Mainstream kulturell eingeschrieben. Populäre Kulturschaffende wie FatihAkin, Feridun Zaimoglu oder Wladimir Kaminer zählen zur Avantgarde eines neuen Kanak-Chic. So ist in der Einwanderungsgesellschaft ein Markt der Kulturen entstanden, der ethnische Referenzen in einer zusätzlichen Weise kategorisiert: nach ihrem Stellenwert in unterschiedlichen sub- und popkulturellen Kontexten. Auf diesem Markt der Kulturen kann dasselbe ethnische Label mit sehr unterschiedlichen Konnotationen aus-
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gestattet sein: So hat die türkische Kultur, wie sie in den deutschen Kontroversen um den Islam und seine Kopftücher verhandelt wird, derzeit einen denkbar niedrigen Kurswert. Ganz anderes sieht es dagegen mit der jungen deutsch-türkischen HipHop-Kultur aus: Nicht nur das gemischte Publikum der diversen Orient-Deluxe-Parties in den großen deutschen Städten, sondern auch der durchschnittliche Zuschauer von SATI und RTL zählt diese Ausdrucksformen inzwischen ganz selbstverständlich zum neuen kulturellen Repertoire Deutschlands. Populäre Formate wie Wladimir Kaminers .Russendisko" oder Shantels .Bukovina Club" werten den ansonsten als rückständig geltenden Osten vom Balkan bis nach Russland als Herkunftsregion einer kulturellen Avantgarde auf (vgl. Akkaya/Tews 2003). Dazwischen rangieren die Wertsetzungen des Multikulturalismus, denen es vor allem um das "Authentische" in den Spielarten der Weltmusik oder in den gastronomischen Beiträgen der Migranten geht. Das Leben in der Einwanderungsgesellschaft erfordert es, sich auch mit diesem Spiel der Identitäten auszukennen, seine Regeln zu beherrschen, um sie mitzugestalten, sich gegen sie abzugrenzen, sie aber auch für die eigenen Interessen zu nutzen . So kann es manchmal sinnvoll sein, sich selbst im passenden ethnischen Kostüm zu präsentieren - und so das Prinzip der Ethnisierung mit seinen eigenen Mitteln zu schlagen. In seinem Essay "Geschäftstarnungen" lässt Wladimir Kaminer die bulgarischen Betreiber einer Imbissbude erklären, warum sie sich als Türken ausgeben: .Berlin ist zu vielfältig. Man muss die Lage nicht unnötig verkomplizieren. Der Konsument ist daran gewöhnt, dass er in einem türkischen Imbiss von Türken bedient wird, auch wenn sie in Wirklichkeit Bulgaren sind." (Kaminer 2000) Das Authentizitätsversprechen des "kulinarischen MultikulturaIismus", so Manuela Bojadzijev (1998), verlangt nach einer übereinstimmenden Identität von Koch und Küche. Mit Hilfe von Ethno-Mimikry lässt sich diese Doktrin unterlaufen und - wie in Kaminers fiktivem Beispiel - zur Maskierung einer prekären, wenig marktförmigen Herkunft nutzen. Solche Identitätsspiele gehören nicht nur in der Gastronomie zum Alltag der Selbstbehauptung in der Einwanderungsgesellschaft. Ein paradigmatisches Beispiel für diese flexiblen kulturellen Kompetenzen ist die Salsa-Disco (vgl. Papadopoulos 2003). Hier probieren allabendlich nicht nur deutsche Tänzer und Tänzerinnen eine explizit transnationale Identität als "Salseiro" oder "Salseira" für sich aus. Es sind vor allem auch Migranten lateinamerikanischer und anderer Herkunft, die sich die deutsche "Salsamania" für eine Positionierung auf dem Markt der Kulturen zunutze machen. Viele Migranten aus Lateinamerika entdecken sowohl die Salsa, als auch die Option der .Latino't-Identität erst nach ihrer Einwanderung nach Deutschland. Der Interpretationsspielraum
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dieses Labels eröffuet aber auch kreative Möglichkeiten für die Migranten mediterraner, asiatischer und afrikanischer Herkunft, sich das ansonsten weniger positiv besetzte Mentalitätsetikett des "Südländers" aufneue Art anzueignen. Die Forscherin Maria Papadopoulos berichtet von dieser Kreativität: "Da ist Z.B. Pino, der vor 30 Jahren aus Sizilien nach Deutschland gekommen ist, vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal mit der Salsa-Musik in Kontakt kam und seitdem regelmäßig SalsaVeranstaltungen besucht. Der Pass oder die Nationalität sind seiner Meinung nach unbedeutend in der Salsa-Szene - was zähle, sei die Musik und der Tanz: ,Mittlerweile werden wir verwechselt. Ich werde auch oft für einen Latino gehalten!' Ali, der Geschäftsführer (...) einer Latino-Bar in Alt-Sachsenhausen, kommt aus der Türkei. Seinen Gästen erzählt er, er sei Latino. Er spricht fließend Spanisch, und zwar einen Dialekt aus einer Region Kolumbiens. (...) Luis, ein weiterer Akteur in der Salsa-Szene, heißt eigentlich Nazir und kommt aus Afghanistan. Seit Jahren gibt er Salsa-Kurse. Er war einer der ersten, der mich vor etwa acht Jahren in die Szene eingeführt hat. Trotzdem mag er es immer noch nicht, dass ich ihn Nazir und nicht Luis nenne." Aus der Perspektive dieser Akteure erweist sich auch die Salsa-Disco, wie Maria Papadopoulos schreibt, "als Möglichkeits-Ort neuer Identitkation" (a.a.O.: 98). Migranten, so lässt sich abschließend zusammenfassen, sind Pioniere einer neuen kulturellen Vielfalt, die sich nicht mehr an die äußeren und die inneren Grenzen des Nationalstaats hält. Sie sind zugleich Experten im Umgang mit den Zumutungen, den affirmativen wie rassistischen Zuschreibungen, den vielen Spielarten der Kulturalisierung und Ethnisierung, die ihnen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft täglich begegnen. So werden sie, wie Ulrich Beck (2004: 157) schreibt, zu "Artisten der Grenze": indem sie Grenzen in Frage stellen, unterwandern und mit ihren eigenen Mitteln überlisten (vgl. Transit Migration Forschungsgruppe 2007). Einer aktuellen Diskussion in der Anthropologie und den Sozialwissenschaften folgend, lässt sich diese Kompetenz und dieses Wissen der Migration als eine neue, zeitgemäße Form von Kosmopolitismus verstehen (vgl. Beck 2004; BeckiGrande 2004; Vertovec/Cohen 2002; Römhild 2007) - ein Kosmopolitismus, der die nationalstaatliche Fixierung aufethnische Herkunft und Zugehörigkeit überwindet und stattdessen transnationale - im besten Sinne "weltoffene" - Kulturen und Identitäten entwirft. Das mediterranisierte, transnationale Deutschland ist ein Produkt dieser Kräfte der Migration (vgl. Eryilmaz u.a. 2005).
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Vielfalt als Motor städtischer Entwicklung. Das Beispiel der Keupstraße in Köln Elizabeta Jonuz / Erika Schulze
Alle klassischen Einwanderungsländer weisen Kontinuitäten wie auch Bruche innerhalb ihrer Einwanderungsgeschichten auf. Dabei beschritt die Bundesrepublik, die von Beginn an durch Migration geprägt war, einen sehr spezifischen Weg: sie verleugnete über viele Jahrzehnte, ein Einwanderungsland zu sein, folgte weitgehend geschlossen der "parteiübergreifenden Lebenslüge" (Bade 1994: 20). Erst im letzten Jahrzehnt - mit dem Zuwanderungsgesetz - hat sich die Bundesrepublik dazubekannt, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, die durch Migration und Vielfalt geprägt ist. Diese späte Öffnung hatte und hat politische Folgen, die nur allmählich überwunden werden; der öffentliche wie auch der mediale Diskurs wandelt sich nur langsam. Trotz Einwanderungsrealität und einer gewissen ,Geübtheit' im Alltag hält sich ein hartnäckiger ethnisch-nationaler Umgang innerhalb des städtischen Alltagslebens (Yildiz 2009: 2). Besonders skeptisch ist dabei der Blick, der aufdie migrationsgeprägten Quartiere gerichtet wird, aufdas ,Gallus' in Frankfurt, ,Kreuzberg' in Berlin oder die ,Keupstraße' in Köln. Schnell sind hier Begriffe wie ,Ghetto' oder der ,Parallelgesellschaft' bei der Hand, mit denen man die Entwicklung dieser Stadtviertel zu beschreiben meint (vgl. Schulze 2006). So überschreibt die BILD-Zeitung im Mai 2010 einen Artikel über einen von Migration geprägten Kölner Stadtteil mit dem Titel "Straßen der Angst, in die sich kein Polizist mehr alleine wagt."! Die problemorientierten und kulturalistischen Diskurse prägen weiterhin die öffentliche Debatte über Migration in starkem Maße - und die Debatte wird regelmäßig auf dem Terrain der Stadtgesellschaft (Hess 2009) ausgetragen. Unsichtbar bleibt dabei die Bedeutung der Migration für die Entwicklung der Städte. Denn ohne Migration wären Köln, Frankfurt, und Berlin nicht das, was sie heute sind: Metropolen Europas. Unsichtbar bleiben auch die
Siehe unter: http ://www.bild.deIBILD/regionaVkoeln/aktueIV201 O/OS/18/ostheim-koelnbergfinkenberg!bild-in-koelns-strassen-der-angst.html. Hinzuzufiigen ist allerdings , dass derartige Skandalisierungen und Stigmatisierungen nicht nur in den Boulevardzeitungen, sondern sich immer wieder ebenso in bürgerlichen und liberalen Medien finden lassen.
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kompetenzen der StadtbewohnerInnen, die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Städte, das Alltagsleben der Menschen. Im Folgenden soll das Spannungsfeld zwischen Alltagsrealität im Stadtteil und öffentlicher Wahrnehmung austariert werden - exemplarisch an der Keupstraße, einer kleinen Straße im rechtsrheinischen Köln. Zunächst wird hierzu die Keupstraße in ihrer Entstehungsgeschichte nachgezeichnet - unter Rückgriff auf Untersuchungen, die zwischen 1999 und 2006 von MitarbeiterInnen der Forschungsstelle für Interkulturelle Studien durchgeführt wurden ' . So können aktuelle Prozesse in Kenntnis historischer und epochaler Entwicklungslinien besser beurteilt werden. In einem zweiten Schritt wird die ökonomische Struktur der Straße im Vordergrund stehen. Es soll gezeigt werden, wie selbst Diskurse, die von der eingespielten Problemorientierung Abstand nehmen, alten Paradigmen verhaftet bleiben, den Alltagsrealitäten vor Ort nicht gerecht werden und zu einem neuerlichen Ausschluss führen.
1. Die Keupstraße in Köln-Mülheim Die Keupstraße, gelegen im rechtsrheinischen Stadtteil Mülheim, entstand im Zuge der Industrialisierung. Zunächst unter dem Namen Wolfsstraße wurde sie Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, als Wohnstraße für die ArbeiterInnen des Drahtseilproduzenten Felten-Guilleaume. (Daneben gehörten. auch die Firmen wie Andreae (Textilverarbeitung) und Böeking (Metallverarbeitung) zu den Mülheimer Industriebetrieben, die auch außerhalb des Rheinlandes einen hohen Bekanntheitsgrad genossen.) Obschon als Wohnstraße mit einfachen Arbeiterunterkünften konzipiert, beherbergte die Keupstraße von Beginn an immer auch kleine Geschäfte und Produktionsstätten - verfugte also über eine ökonomische Infrastruktur. Vor allem Geschäfte des alltäglichen Bedarfs waren traditionell hier angesiedelt. Untersuchungen belegen (vgl. Bremer 1934), dass die Keupstraße, trotz aller prosperierenden Entwicklungen, die bis zum Ende des ersten Weltkriegs anhielten, aufgrund ihrer proletarischen BewohnerInnenschaft und des regen Straßenlebens verrufen war. Nach dem ersten Weltkrieg setzte ein allmählicher Verfall der Straße ein. Die Arbeitslosigkeit stieg an, Häuser wurden abgerissen, um an dieser 2
Dem Artikel liegen vor allem Untersuchungen und Diskussionen einer kleinen Forschungsgruppe zugrunde . Dieser Gruppe gehörten neben den Autorinnen folgende Personen an: Wolf-Dietrich Bukow, Silvia Dahrnen , Melahat Kisi, Claudia Nikodem, Saskia Pfeiffer und Erol Yildiz . Der Keupstraße näherten wir uns auf ganz unterschiedlichen Wegen: Teilnehmende Beobachtung vor Ort und fotodokumentarische Ansätze , Interviews mit Geschäftsleuten, Bewohnerinnen und Bewohnern der Straße sowie eine Dokumenten- und einer Medienanalyse führten zu einer Fülle von Eindrücken und Material.
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Stelle neue Wohnungen für die ArbeiterInnen zu bauen und Teile der Geschäftsstruktur wurden wegsaniert (BukowlYildiz 2001: 157). Zu Beginn der 1930er Jahre ist ein Aufwind zu beobachten - im Kontext der prosperierenden rüstungsrelevanten Industrie, doch der Zweite Weltkrieg hinterließ auch seine Spuren in der Keupstraße. Im Gegensatz zur Industrie, die sich in der Zeit des Wiederaufbaus in einem hohen Maße wieder konsolidierte, erholte sich die Keupstraße nur schwerlich und eine sukzessive Abwanderung besser verdienender Bevölkerungsgruppen setzte ein (ebenda: 158). Der schrittweise Wandel der Bevölkemngsstruktur und auch des Stadtteils Mülheim setzte dann mit den Anwerbeverträgen für Arbeitskräfte in den 1950er und 1960er Jahren ein. Viele MigrantInnen ließen sich im Stadtteil nieder, der durch günstige Mieten aufgrund des zumeist unsanierten Altbaubestandes geprägt war. Paral1el hierzu verließen viele der Alteingesessenen - sofern sie es sich leisten konnten - vor al1em in den 1970er Jahren die innerstädtischen und innenstadtnahen Quartiere. Sie bezogen die moderneren, mit mehr Komfort ausgestatteten Wohnungen in Stadtteilen der Außenbezirke. Die wirtschaftlich guten Jahre, die durch eine deutliche Erhöhung der Real1öhne und damit zu einem ,Fahrstuhleffekt ' (Ulrich Beck 1986) innerhalb der autochthonen Bevölkerung geführt hatten, machte dies möglich. Doch ebenso setzten in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Deindustrialisierungsprozesse ein, die nicht nur in der BRD zu einer Verschiebung zugunsten des Dienstleistungs- und zu Ungunsten des Industriesektors führten. Auch Mülheim, ein Stadtteil, in dem neben Felten-Gui11eaume noch weitere industriel1e Betriebe angesiedelt waren, wurde hiervon erfasst. Es kam in den folgenden Jahrzehnten zu immer mehr Produktionsverlagemngen und Betriebsschließungen. In dieser Situation wagten viele Einwanderer den Schritt in die ökonomische Selbstständigkeit, gründeten kleine Betriebe und fassten vor al1emim Einzelhandel Fuß. Ein Mitglied der heutigen Interessengemeinschaft Keupstraße erinnert sich: "Und dann später kamen die Gastarbeiter aus Polen oder aus Italien , die haben Einlass in dieses Viertel gefunden. Und dann wurde das Viertel deswegen diskriminiert. Hinter denen sind die Türken gekommen aus Anatolien und dann haben die hier die Möglichkeit gefunden hier ihr Leben zu gründen, zuerst fing das natürlich mit den Teestuben an und danach kamen die Lebensmittelgeschäfte, besonders für die islamischen Mitbürger Fleisch und so weiter. Und ja dannkamen die Imbisse zum Beispiel. Seit 1985 kenne ich diese Straße, 1985 hat es drei Imbisse gegeben, später haben sich diese Imbisse erweitert, jetzt haben wir hier vier große Restaurants ." (Interview Herr D. S.l)
Vor diesem Hintergrund erfuhr die Ökonomie der Keupstraße eine Wiederbelebung. Zahlreiche der eingesessenen kleinen Geschäfte waren von ihren Besitzern aufgegeben worden, standen leer und vor allem türkische Einwanderer übernah-
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men in der Keupstraße die oftmals arbeitsintensiven Betriebe des Einzelhandels. Angesichts dieses bereits in den Anfängen zu verzeichnenden ökonomischen Erfolges wurden schnell deutsch-nationale Grundmelodien angestimmt und es wurde von einer Verdrängung der deutschen Bevölkerung durch die EinwanderInnen gesprochen (ebenda 168ff.). So berichtet Herr D. von der Stimmung, die in den 1980er Jahren in der Interessengemeinschaft Keupstraße (IG Keupstraße) herrschte. Die migrantischen Geschäftsleute seien zu dieser Zeit auch in der Initiative unerwünscht gewesen, da sich die Initiative gegen eine Übernahme der Geschäfte durch die MigrantInnen gewandt habe . Die Anerkennung der Keupstraße als ein Ort der Diversität sei schwierig gewesen, ein demokratisches Klima habe es vorerst nicht gegeben. Entgegen aller Widrigkeiten gelang es der ersten Generation der ArbeitsmigrantInnen den Grundstein für eine weitgehende Inklusion auch der zweiten und dritten Generation zu legen. Anerkennend fasst Herr D. rückblickend zusammen: "Trotz der Sprachschwierigkeiten, sie haben eine Geschichtegeschrieben, eine Historie geschaffen. Ohne Sprachmöglichkeiten haben sie ihre Geschäfteund Gebetshäusergegründet,ohne Hilfe der Verwaltung." (Interview Herr D. S.2)
Gegen zahlreiche bürokratische Barrieren bauten die Unternehmensgründer ihre Geschäfte auf. Im Besonderen wird dabei in den Gesprächen von Problemen mit der Handwerkskammer, Schwierigkeiten seitens des Gewerbeamtes oder aber mit der Ab- bzw. Anerkennung von Ausbildungen berichtet. Aufdie Bitte hin, ein Beispiel zu nennen, erzählt Frau Ö., die zum Zeitpunkt des Interviews in der Konditorei der Familie arbeitet, folgende Geschichte: ,,Das find ich toll an meinem Vater. Wissen Sie, was der gemacht hat? Der ist zur Handwerkskammer und hat gesagt: ,Ich möchte backen und einen Laden eröffnen,' Und dann hieß es, ,kein Deutsch, Analphabet', er ist offiziellAnalphabet, ,Können Sie nicht. Können Sie vergessen.' Er so: ,Ich kann Ihnen was backen und dannkönnen Sie entscheiden, ob das hier fiir den deutschen Markt, ne Konkurrenz fiir die deutschen Bäcker ist.' Ja, und dann habe die gesagt: .Spritzgebäck in Öl, das interessiert keine Deutschen, das interessiert keinen.'" (Interview Frau Ö. S. 3)
Eine Weiterbildungsmaßnahme habe der Vater absolvieren müssen, seine bisherige Tätigkeit als Bäcker wurde ihm aberkannt. Mittlerweile wird die Konditorei von circa acht Familienmitgliedern geführt. Drei weitere Geschäfte wurden im Rheinland eröffnet, bundesweit wird das Spitzgebäck exportiert. Der Aufbau, die Aufrechterhaltung und die Ausweitung der Betriebe erfolgte, wie bei zahlreichen anderen Geschäften, unter Einsatz und Mitarbeit des familiären Netzwerkes.
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In den I 990er Jahren entwickelte sich auf diese Weise aus dem ehemals vernachlässigten Quartier eine prosperierende Keupstraße, deren ökonomische Struktur im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterzogen werden soll.
2. "Kennzeichen Vielfalt" - Zur ökonomischen Struktur der Keupstraße Der genauere Blick auf die Ökonomie der Keupstraße offenbart zunächst eine erstaunliche Konitunität der Geschäftsstruktur. Während die südöstlich gelegene Frankfurter Straße - die Hauptgeschäftsstraße des Viertels - durch eine hohe Fluktuation und eine wachsende Landnahme von Billigketten und ,Ein-Euro-Läden' geprägt ist, zeichnen sich die meisten Läden in der Keupstraße durch eine hohe Konstanz aus . Dabei handelt es sich weitgehend um kleine Läden und Betriebe in privater Hand, deren Anzahl zudem ansteigt. Wurden im Jahre 1999 noch insgesamt 64 Geschäfte in diesem relativ kurzen Straßenzug gezählt, so hatte sich ihrer Anzahl im Jahre 2005 auf insgesamt 84 unterschiedliche Läden erhöht. Diese Einzelhandelsstruktur präsentiert sich in einer hohen Ausdifferenzierung, insofern die vorhandenen Geschäfte eine breite Palette des al1täglichen Bedarfs abdecken. Neben Bäckereien und Konditoreien finden sich Bekleidungsgeschäfte, aber auch ein Elektrofachhandel und eine Buchhandlung. Zu finden sind zudem mehrere Restaurants, Bistros und Imbissbuden, ebenso wie Kneipen und die für Köln so typischen Kioske. Nicht zu finden ist der Lebensmitteleinzelhandel - vermutlich aufgrund der in den letzten Jahren in der Umgebung eröffneten Supermarktketten, die für den Lebensmitteleinzelhandel wenig ökonomische Chancen lassen. Doch diese Lücke wird zumindest an einigen Wochentagen durch einen mobilen Verkauf von Gemüse bzw. einen die Straße regelmäßig anfahrenden Fischwagen geschlossen. Neben dieser hohen Ausdifferenzierung kennzeichnet eine spezifische Schwerpunktsetzung und Spezialisierung das Angebot auf der Keupstraße. Hier präsentiert sich eine Struktur, die durch die Vernetzung verschiedener Geschäfte geprägt ist, die zu dem Thema ,Feierlichkeiten' in Beziehung stehen . Die lokale Infrastruktur bietet eine breite Angebotsstruktur für Feste wie beispielsweise Geburtstage, Verlobungen, Hochzeiten oder auch Beschneidungsfeiern. So wirbt die Konditorei mit opulenten mehrstöckigen Torten, während die Friseure eindruckvolle Beispiele festlicher Frisuren in ihren Schaufenstern ausstellen. Feierliche Garderobe wird von mehreren Boutiquen angeboten und die erworbenen Kleidungsstücke können bei Bedarf in der Änderungsschneiderei individuell angepasst werden. Die lokale Druckerei wirbt mit Beispielen ihrer Verlobungs-, Geburtstags- und Hochzeits(einladungs) karten und mehrere, in der Straße angesiedelte Juweliere präsentieren eine breite
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Schmuckauswahl. Nicht zuletzt findet sich in der Keupstraße ein Dienstleistungsanbieter für die Organisation von Verlobungs- und Hochzeitsfeiern. Mit dieser doppelten Struktur bedienen die Geschäftsleute der Keupstraße einerseits den lokalen Bedarf, andererseits verleiht sie der Keupstraße eine hohe Attraktivität weit über den lokalen Rahmen hinaus. Hierauf verweist beispielsweise Frau Ö. im Gespräch: "Wir haben so viele Kunden, die wirklich von Remscheid, Solingen, Mannheim, Monheim, Frankfurt, Stuttgart, Langenfeld, Wuppertal, überall her, die das Ganze auch weitersagen und hierher kommen, Hier kriegt man ja auch Alles von Abis Z. Wenn Sie heiraten wollen, kriegen Sie hier Alles was noch damit zu tun hat." (Interview Frau Ö. S.15)
Doch nicht nur die Breite und Spezialisierung des Angebotes führt dazu, dass die Kundschaft nicht nur aus dem Stadtteil selbst, sondern aus der Region und darüber hinaus stammt - wie die Kennzeichen der parkenden Autos und die Eindrücke vor allem am Samstag verdeutlichen. Auch die Qualität der Waren und Dienstleistung werden von den Geschäftsleuten als Grund für dieses weite Einzugsgebiet angeführt. So erläutert der Besitzer eines Restaurants auf die Frage nach seiner Kundschaft: "Stammgäste sehr viel ... früher hatten wir ja nur Außenverkauf und jetzt essen die alle hier ... zu 80% sind das Stammkunden,die nicht nur aus Köln kommen, sondern aus ganz NRW auch Leute, die von Frankfurt nach Hamburg fahren wollen, die fahren extra von Köln durch, um nur hier auf die Straße zu kommen, um hier zu essen, sei es bei uns oder bei meinen Nachbarn, aber die kommen eben nur fürs Essen hier auf die Straße." (Interview Herr P., S.3)
Die Straße wird für den Einkauf gezielt angefahren, Durchreisende biegen zum Essen in die - nahe an der Autobahnausfahrt gelegene - Keupstraße ein und selbst Touristen werden in Reiseführern oder auf diversen Homepages auf diesen Ort hingewiesen', Die Angebote der Keupstraße richten sich an eine hoch divergente Kundschaft - nicht nur in Hinblick aufWohnort und Anfahrtsweg. Allochthone und autochthone Bevölkerungsgruppen werden gleichermaßen angesprochen - und hierbei ganz unterschiedliche Milieus und Lebensstilgruppen. Hier sind zum einen türkischstämmige und muslimische Bevölkerungsgruppen zu nennen, für welche die verdichtete, spezialisierte Angebotspalette wie auch die durchgehende Mehrsprachigkeit die Keupstraße als Einkaufsort attraktiv macht. Jedoch würde eine ausschließliche Wahrnehmung dieser Straße als eine "ethnische Ökonomie" (Schuleri-Hartje, Floeting, Reimann: 2005) eine unzulässige Reduktion der Realität bedeuten. Vielmehr speist sich die Motivation, die Keupstraße aufzusuchen aus ganz unterschiedlichen 3
So zum Beispiel auf der Seite Hotelbewertungen.net , eine Homepage,die zahlreicheReisetipps für ganz Europa führt: http://suche.hotelbewertungen.net/rtJbid/486.
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Quellen. Am Abend zeigt sich vorrangig ein Publikumsverkehr aus dem nahe gelegenen E-Werk, einem lokalen Veranstaltungsort für Konzerte - KundInnen, die vor allem die Imbisse und Lokale vor Ort aufsuchen. Für TouristInnen hingegen ist die Straße aufgrund ihres ,türkischen Flairs', ihrer "orientalischen Inszenierung'" attraktiv. Dies zeigen nicht nur die Interviews, sondern auch die Empfehlungen auf den oben bereits angesprochenen Reisehomepages. So ist hier beispielsweise als Reisetip von Gerd" zu lesen: ,,Ein Straßenzugvoller türkischerSpezialitäten Falls Sie gerne türkischessen oder Urlaubserinnerungen an die Türkei auffrischenwollen, fahren Sienach Köln-Miilheim, zur Keupstraße, SiefindeneinfacheImbisse, gepflegte Restaurants, Pide-Bäckerund Konditoreien mit süßen Spezialitäten. Es lohnt sich!Afiyetolsun!!" (www.holidaycheck.de/reisetipp_bewertung-Keupstrasse+Ein+Strassenzug+voller+tuerkischer +Speziaiitaeten-chJt-id_486.htrnlvom16.01.2010)
Dass sich die Kundschaft jedoch noch weiter ausdifferenzieren lässt als nach den Schnittstellen lokal- überregional oder migrantisch - autochthon, daraufverweist der folgende Ausschnitt aus dem Interview mit Frau Ö, deren Familie eine Konditorei in der Keupstraße betreibt. Er zeigt deutlich, wie heterogen die Kundschaft ist, welch unterschiedliche Milieus und Lebensstile angesprochen, welch unterschiedlichen Bedürfnisse und Ansprüche abgedeckt werden. Auf die Frage nach der Laufkundschaft in der Konditorei erläutert die Geschäftsfrau: ,,Laufkundschaft? Das könnenSie sichja gleichmal angucken, ist sehr,sehrunterschiedlich. Natürlich,zu 60 Prozentnoch rein türkisch,aberwir habenganz tolles spanischesPublikum. Dann kommenKundengerne, die dann ihrer Tochtersone schöneKitschtortemachen lassen wollen, mit Photos und mit allem drum und dran, und das kommt halt sehr gut an. Wir haben schwule Brautpärchen hier, an die wir verkaufen, dann kommen auch schwulePärchenhierhin. Das ist halt, aber das sind unsereFreunde,das istjetzt unsere, die Kindergeneration von Ö., die schleppen dann ihre Freundean, dann ist es mal ein Transvestit, dann ist es mal ein schwulerKollege, und dann klappt das auch, ne?" (InterviewFrau Ö. S.5)
Diese Heterogenität der Kundschaft kommt nicht von ungefähr, vielmehr entspricht sie der Heterogenität des Angebotes und der Selbstdarstellungen. Denn kennzeichnend für die ökonomische Struktur sind neben den bislang angeführten Aspekten die vielfaltigen Bezugspunkte in Angebot und Selbstdarstellung. Mit der Reduktion auf das Kennzeichen,türkisch' ist das untemehmerische Handeln 4
WolfBukow und Erol Yi1diz verwiesenin diesem Kontext auf die Orientalische Inszenierung, die in der Keupstraßeaugenfälligist. ,,Auf den zweiten Blick fällt das ,orientalische' Flair der Straße auf. Diese, auch aus anderen modemen Großstädten wie Berlin oder London vertraute Szenerie, lässtsichambestenals ,orientalische Inszenierung' beschreiben undstellteineMischung aus Konzessionenan die Wünscheder Einwandererund an die europäischen Vorstellungen von ,Orientalismus' dar." (vgl. Bukow/Yildiz 2001: 162)
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nicht zu fassen, eindeutig national oder kulturell kodierte Bezüge werden kontinuierlich überschreiten. Zwar ist die Straße durch eine deutliche Sichtbarkeit der türkischen Sprache gekennzeichnet, doch die Hochzeitskarten, die von der Druckerei gedruckt werden, sind meist zwei- oder gar dreisprachig. Ebenso werden aktuelle lokale Geschehnisse aufgegriffen. Während des Weltjugendtages 2005, als tausende christlicher Jugendlicher nach Köln kamen und der neu gewählte Papst Benedikt XVI ebenfalls zu einer Visite in Köln weilte, zierte eine große Torte mit seinem Portrait das Schaufenster der Konditorei. Mit dem seit einigen Jahren organisierten Karnevalszug durch die Keupstraße greifen die Geschäftsleute hingegen den höchsten Kölner Feiertag auf. Eine Straßenbeleuchtung, die zur Vorweihnachtszeit in der Keupstraße aufgehängt wurde, erlebte in den folgenden Monaten eine wechselnde, den jeweiligen Feiertagen folgende Nutzung, wie uns ein Geschäftsmann berichtet: "Wir haben im letzten Jahr hier eine auf der Straße eine Straßenbeleuchtung arrangiert. (...) Weihnachtsbeleuchtung, Silvesterbeleuchtung und dannhaben wir Ramadan gehabt. Zweieinhalb Monate hat das dagestanden. Das war gut, das war ein super Erlebnis. Das kam auch in den Medien." (Interview Herr P., S.11)
In der Keupstraße wird im ökonomischen Al1tagdas sichtbar, was Robert Pütz als "transkulturel1e Praxis" (pütz 2004) gekennzeichnet hat. Die Vielfalt, die in der Keupstraße manifest wird, ist Ausdruck einer al1täglich gelebten Diversität, sie ist Ausdruck "sozialer Lebenswirklichkeit in Deutschland als de-territorialisierten transnationalen Zwischenraum" (Sprenger 2003 : 222). Sichtbar wird die Verortung in unterschiedlichen Milieus und Räumen sowie die je individuelle Transkulturalität, die ökonomisch nutzbar gemacht wird. Sie stel1t eine Ressource dar, die als eine solche eingesetzt wird und Bestandteil einer Ökonomie ist, die sich durch eine hohe Flexibilität und Beweglichkeit auszeichnet. Dies zeigt sich in den Interviews auch am Beispiel der unterschiedlichen Zugänge zu den verschiedenen Käufergruppen und den verschiedener Strategien diese anzusprechen. Dies wird auch in der folgenden Sequenz deutlich: ,,Aber durch unsere Mehrsprachigkeit und unseren Freundeskreis sind auch andere Nationalitäten darauf aufmerksam geworden, also inklusive auch gemischte Pärchen, das ist auch immer ganz schön. Wenn die dannauch sehr gerne multi-ku1ti essen gehen , gehört dann unser Laden auch dazu. Und das macht die Keupstraße auch dann aus. Aber die deutschen Kunden haben wir durch unsere tolle Medienpräsenz gewonnen. Also, dass wir halt beim WDR dann fiinfinal hintereinander über fiinf Jahre, äh, gleiche Berichte ausgestrahlt worden sind, dannhaben sich unsere deutschen Kunden auch geöffnet und getraut, hierher zu kommen und ihre Geburtstagstorten und die essen auch sehr gern unser Gebäck, was wir auch als Weihnachtsgebäck mittlerweile an die Düsseldorfer Weihnachtsmärkte hier vorbereiten, und wir verkaufen die dann da." (Interview Frau Ö. S. 5)
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Die ökonomisch-strukturelle Vielfalt der Keupstraße ist ein zentraler Aspekt ihrer Prosperität. Vergleicht man sie mit der nahe gelegenen Berliner Straße, welche die zentrale Einkaufsstraße des Stadtviertels ist, so wird ihre hohe Beständigkeit augenfällig. Während sich in der Berliner Straße vor allem im letzten Jahrzehnt eine Entwicklung abzeichnet, die durch eine hohe Fluktuation der Geschäfte und eine wachsende Präsenz von Ein-Euro-Läden sowie Niederlassungen großer Ketten geprägt ist, ist in der Keupstraße eine hohe Kontinuität kleiner Geschäfte zu beobachten. Die hohe Beweglichkeit und Flexibilität der Gewerbetreibenden und ihre Fähigkeit, gerade auch migrationsspezifische Ressourcen einzusetzen, spielen dabei eine wesentliche Rol1e.
3. Gesellschaftlicher Umgang mit der Vielfalt - der öffentliche Diskurs über die Keupstraße Dieser Al1tagsrealität und ökonomischen Struktur der Keupstraße steht ihre Außenwahrnehmung im öffentlichen und hierbei vor al1em auch medialen Diskurs häufig diametral entgegen. Denn diese ist in starkem Maße durch Skandalisierung und Problematisierung geprägt, wenngleich hier eine Veränderung zu beobachten ist. Noch Ende der I 990er Jahre war die Keupstraße vor al1em als ,sozialer' oder ,kulturel1er Brennpunkt' stigmatisiert (Bukow/ Yi1diz 2001) - mit den daran geknüpften Assoziationen als gefährlicher Ort. Berichte über Kriminalität und Drogenhandel sowie Konflikte zwischen Türken und Kurden prägten das öffentliche Wissen - innerstädtisch aber auch darüber hinaus. Dieser Blick auf die Straße ist in den letzten Jahren deutlich in den Hintergrund getreten, der Diskurs hat einen Wandel erfahren. Die Skandalisiemng ist verhaltener geworden und hat einem zunehmend positiven Rekurs auf die Straße Platz gemacht. In der offiziel1en Politik setzte sich sukzessive der Begriff des ,Erfolgsmodells' durch, nachdem sie der inzwischen abgelöste Kölner Oberbürgermeister Fritz Schramma öffentlich mehrfach als ein solches bezeichnete - ein Erfolgsmodell, das Vorbildcharakter für die restliche Kölner Bevölkerung habe',
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So erklärte Kurt Schramma 200 I anlässlich der Veranstaltung "Erfolgreich in der Keupstraße": ,,Heute ist die Keupstraße wieder legendär. Legendär im Erfolg von Aus- und Weiterbildung. Legendär für erfolgreiche türkische Unternehmerinnen und Unternehmer. Legendär für Kreativität und Einsatzwillen. Legendär für gelungene Integration. Die jungen türkischen Untemehmerinnen und Unternehmer aller Branchen in der Keupstraße zeigen eindrucksvoll, wohin Weiterbildung und der Wille , weiterzukommen, führen kann. Manch einem deutschen Altersgenossen können sie dabei echtes Vorbild sein." (www.stadt-koe1n.de/mediaassetlcontentlpdf-ob/reden/2001l11/08erfolgreich-keupstr.pdf)
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Dennoch ist die Skandalisierung nicht ganz verschwunden. Beispielhaft lässt sich hierfür der mediale Verweis darauf anführen, dass Frauen nicht unbehelligt durch die Keupstraße gehen könnten. Diese Behauptung (die weder durch eigene Beobachtungen, noch durch Gespräche mit AnwohnerInnen und KundInnen zu verfizieren war), knüpft an das Bild der Keupstraße als gefährlichen Ort an - unter dem Rückgriff auf das Bild des ,anderen' - muslimisch-patriarchalen - Mannes. Dieses Thema, die Keupstraße als gefährlicher Ort insbesondere für Frauen, thematisieren wir innerhalb eines Interviews. Frau G., die seit 1985 in der Keuprstraße lebt, konstatiert in diesem Zusammenhang: ,,Das ist ganz dummer Quatsch und das ist dieses dumme Gerede, das mich manchmal nervt. Meine Tochterist 15. Gut aussehendes, junges Mädchen. Ich bin jetzt schon eher ältere Dame, ich krieg hier schon die Einkaufstütengetragen als sonst was. Meine Tochter wird auch nicht angemacht. Was man kennt sind die Geschäftsleute, die man kennt durch das tägliche Sehen. Die kennen einen, die wissen, dass ich hier wohne. Die wissen, dass meine Tochterdazugehört. Wir werden nicht angemacht. Oder da vorne, da hat ein Mieter gewohnt, dessen Tochter war auch so um die 15, die wurde auch nicht angemacht. Hier kriegen Sie auch keine Handtasche geklaut." (InterviewFrau G. S.6)
Ebenso ist der Diskursstrang ,Kriminalität' weiterhin latent vorhanden und bei Bedarfjederzeit aktivierbar: Nach dem Anschlag am 9. Juni 2004, als in der Keupstraße eine Nagelbombe explodierte und nur durch großes Glück kaum Menschen verletzt wurden, spekulierte ein Teil der Medien wie auch Politiker vorschnel1über Täter aus dem kriminel1en Milieu, während ein rechtsextremer Hintergrund ebenso schnel1 ausgeschlossen wurde. Und auch in anderen Feldern werden diese skandalisierenden Bilder verankert bzw. werden aufgegriffen - und in diesem Fal1 - vermarktet: In dem KölnKrimi "Mordstafel" von Brigitte Glaser", dessen Handlung vor der Kulisse der Keupstraße inszeniert wird, spielen ,Schutzgelderpresser' und die ,türkische Mafia' eine nicht unwesentliche Rol1e (Glaser 2005)1. 6 7
Wie viele andere Städte verfügt auch Köln über zahlreiche Kriminalgeschichten, die ihre Attraktivität in hohem Maße aus ihrer lokalenVerortungund damit dem enthaltenenLokalkolorit ziehen. In derAnkündigungist folgenderTextzu lesen: "Die SpitzenköchinKatharinaSchweitzerkehrt zurücknachKöln.Auf der schälSiek, am Ende der Keupstraße inMülheim,verwirklichtsie ihren Traum vom eigenen Restaurant.Doch leider steht die "WeißeLilie" unter keinem guten Stern. Trotzder schickenMedienszene auf der Schanzenstraße bleibt der ganz großeAnsturmaus- und Katharina kann ihre Schuldennicht bezahlen. Da tut sich völlig unerwarteteine Geldquelleauf. Leider ist diese mit einem Mordvor ihrer Haustür, demVerschwinden ihrerPutzfrau, dem Ärger mit Schutzgelderpressem und der türkischenMafiaverbunden.DiesmalbrauchtKatharinamehr als ihre gute Spürnase,um sich aus diesem Schlamassel herauszuwinden." (www.buchgourmet. com/prod_details.asp?productid=15028&subcat=470).
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Die Volkshochschule TroisdorfNiederkassel hingegen bietet eine Exkursion in die Keupstraße an, die als der geeignete Ort erscheint, um unter anderem etwas über "die Stellung der Frauen im Islam" und "die Bedeutung extremistischer Islamistengruppen" zu erfahren". Trotz dieser Beispiele überwiegt inzwischen eine wohlwollend-positive Berichterstattung über die Keupstraße. Es wird weniger auf einen ,Brennpunkt' rekurriert, sondern auf eine gut situierte Geschäftsstraße türkischer Provenienz - wie folgendes Beispiel aus der lokalen Presse i11ustriert. ,,Der Integrationsbericht weist auf Zahlen des Amtes für Wirtschaftsförderung hin, wonach türkische Unternehmenmit 220 Finnen den größtenAnteil ausländischenwirtschaftlichenEngagements in Köln ausmachen. Sie tragen somit wesentlich zur Stärkung der lokalen Ökonomie bei. Als gutes Beispiel dient dem Bericht die Keupstraße: ,Türkische Migrantenhaben in Mülheim die Atmosphäre einer türkischen Kleinstadt entstehen lassen.' Handlungsbedarfbestehe hier bei Parkplätzen, Ordnung, Sicherheit(...). So ließen sich die Entfaltungsmöglichkeiten der Geschäftsleuteerheblichverbessern." (KötnerStadtanzeiger, 23.3. 2005 ausAnlass des Integrationsberichtes für den BezirkMülheim)
Die ökonomische Bedeutung der Keupstraße wurde von städtischer Seite erkannt, nicht nur in Hinblick auf die Stärkung der lokalen Ökonomie, sondern ebenso in Hinblick auf ihre touristische Bedeutung. Denn die vermeintliche ,Exotik' der Straße, die immer wieder auch als .Klein-Istanbul' oder das ,Istanbul von Köln' bezeichnet wird, trägt zu ihrer Anziehungskraft bei. Dies zeigen die diversen Verweise auf die Keupstraße im Internet, auf die bereits oben verwiesen wurde. So lässt sich beispielsweise auf der Seite von ,cosmotourist beta' lesen: ,,Dic Kcupstraßcist cin türkisches Viertel im Stadtteil Mülhcim auf der rcchtsrhcinischenSeitc, die auch als die "schäl sick" bekannt ist. (...) Hier reihen sich Dönerbuden, türkischeRcstaurants, Obstläden,Konditoreien, Friseure und andere Geschäfte aneinander. Du findesthier z.B. einen Musikladen, in dem es nur türkische CDs und Musikkassettengibt. Hier kannst du u.a. Wasserpfeifenund türkische Tcczubereitungsscts günstig erwerben. Auch Juweliere haben sich hier niedergelassen. Alles in allem ein bunter Mix aus Geschäftenund Lokalen, so dass du dich wie in Klein Istanbul fühlst. Ich komme gerne hierher,um in dieAtmosphäreeinzutauchenund frisch zubereitete, türkische Pizza zu essen." (www.cosmotourist.de/reisetipp/45794/koe1nlkeupstrasse/klein-istanbull 16.01.20I0)
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"Die Keupstraßein Köln-Mühlheim nennenviele das .Jstanbul von Köln". Mit der Kursleiterin, Frau Kücük, entdecken Sie diese einmaligeStraße. Sie erfahren etwas über das türkischeLeben und die Kultur, die Stellung von Muslimen in Deutschland,die Stellung der Frauen im Islam, die BedeutungextremistischerIslamisten-Gruppen u. v. m. Siebesucheneine Moschee." (www. vhs-tdf-ndk.de/vhs/vhs-trdf.nsfiO/e4da1a4a4237ee5ac12572370027b4fb?OpenDocument&Cli ck=).
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Dieses Image wird auch von den lokalen Geschäftsleuten aufgegriffen und gepflegt . Sie nutzen es, arbeiten mit ihm, arbeiten es um, ebenso wie sie der "orientalischen Inszenierung" zuarbeiten - eine Präsentation der Straße, die "eine Mischung aus einer Konzession an die Wünsche der Einwanderer und an die europäischen Vorstellungen von ,Orientalismus'" darstellen (Bukow/Yildiz 2001: 162). Denn die Inszenierung der Straße als ,Klein-Istanbul' ist ein Element ihres ökonomischen Erfolges. Die Wirkung dieser kulturalistischenAufladung ist allerdings durchaus ambivalent, denn die Kennzeichnung als ,Türkische Kleinstadt' oder ,Klein-Istanbul' beinhalten Vorstellungen von importierten ,türkischen' Traditionen und kultureller Authentizität. Der Rekurs aufIstanbul, rekurriert nicht aufIstanbul als globale und moderne Megastadt, sondern auf die Vorstellung von Istanbul als ,türkischer Stadt'. Mit dieser Wahrnehmung wird die Keupstraße zum Ort des kulturell Anderen, der zwar weniger gefährlich, dafür aber umso exotischer ist. Die Konsequenz dieser hegemonialen Wahrnehmung und Inszenierung der Keupstraße ist letztendlich ihre Abspaltung von der urbanen Realität. Als,Klein-Istanbul' oder,Türkische Kleinstadt' wird sie aus Köln ausgelagert, es findet eine symbolische Exterritorialisierung statt. Mit Hilfe einer "räumlich relationierten Symbolik" (Pütz 2003: 77) wird eine Grenzziehung vollzogen. Nach dieser bleibt auf der einen Seite das moderne, urbane Leben Kölns, auf der anderen Seite eine ,Ethnonische', ein Art reelles Phantasialand", In diesem Sinne ist ihre Präsentation als ,ethnic theme park' (Bukow 20 10: Seite 179) eine durchaus problematische Entwicklung. Die Übergänge zu der Kennzeichnung der Keupstraße als ,Ghetto' sind dabei fließend. So waren in der Wochenzeitung ,Die Zeit' folgende Sätze über die Keupstraße zu lesen: ,,Die Keupstraße ist wie ein bunter Hund in der großen Stadt. Die Wohnhäuser - meist aus dem 19. Jahrhundert - beherbergen rund einhundert Läden. Exotische Schilder werben fiir Reisebüros, Schneider, Tuchläden, es gibt ein Modegeschäft fiir Beschneidungsfeiem, eine Anlaufstelle fiir die »türkischen Landsleute«. Historische Fassaden sind mit blauen Kacheln verziert wie die Innenwände einer Mosche. Verschleierte Frauen bändigen ihre Kinder. Eine junge Frau in Jeans und mit langen Haaren windet sich aus einem Sportwagen. Junge Männer in teuren Anzügen machen einen Bogen um eine alte Frau mit weißem Kopftuch, die mitten auf einem Gehsteig laut klagend bettelt. Deutsche Passanten sind so selten wie in einem kurdischen Dorf." (Die Zeit, 17.3.2008)
Nachdem hier zunächst an die ,Exotik' der Keupstraße angeknüpft und ein heterogenes Straßenbild gezeichnet wird, hebt der Autor mit einem Vergleich, der kei9
Das Phantasialand ist ein nahe Köln gelegener Vergnügungspark, in dem in so genannten Themenwelten unter anderem ,,Alt-Berlin" "Ch inatown" und "Afrika" im Miniaturformat und unter Hinzuziehung der verfügbaren Klischees und Stereotype nachgebaut wurden.
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ner Überprüfung standhalten würde, auf die vermeintliche ethnische Homogenität der Straße ab. Wenngleich der Begriff des Ghettos oder der Parallelgesellschaft in diesem Zusammenhang nicht explizit verwendet wird, so schwingt er doch als Subtext mit. Auch andere Artikel verweisen regelmäßig aufdie ,türkische' Bewohnerschaft der Keupstraße, die als zentrales Strukturmerkmal herausgehoben wird, verbunden mit der Feststellung einer damit verknüpften Fremdheit, wie zum Beispiel eine für die Mehrheitsbevölkerung ,unlesbare' Beschilderung, worauf wohl auch der Begriff der ,exotischen Schilder' in dem Artikel von Ulrich Gineiger in der Zeit abzielt. Vereinzelt taucht der Begriff des Ghettos auch weiterhin auf, mancherorts auch in interessanten Variationen, wie Z.B. der des "türkischen Nobelghettos"!", Zwar hat dieser Begriff den Beigeschmack von Kriminalität und Drogenabhängigkeit, Verwahrlosung und Armut (vgl. Lanz 2001) verloren, dennoch bleibt die Keupstraße damit ein abgeschlossener, segregierter Ort. Gefolgt wird dabei dem hegemonialen Bild der räumlichen Platzierung von EinwanderInnen, ein Bild welches zugleich ihre komplexe Präsenz verkürzt, "indem es ihre Sichtbarkeit auf die Grenzen ethnischer Nachbarschaften beschränkt." (Caglar 2001 : 334). Eine solche Berichterstattung hat Auswirkungen - nicht nur auf die nicht im Quartier lebenden LeserInnen, sondern ebenso auf die Menschen vor Ort. Dies zeigte sich in den Interviews nicht zuletzt in der Tatsache, dass unsere GesprächspartnerInnen von sich aus immer wieder Bezug auf den Anteil der türkischstämmigen Bevölkerung nahmen, den Begriff des ,Ghettos' aufgriffen und die Folgen der Berichterstattung schilderten.
4. Ignorierte Ressourcen Führt man nun die beiden Stränge - die Analyse der ökonomischen Struktur der Keupstraße einerseits, ihre Wahrnehmung und Präsentation im öffentlichen Diskurs andererseits - zusammen, so wird der Bruch zwischen beiden augenfällig. Einerseits zeigt sich hier eine postmoderne Straße, deren Prosperität in einem engen Zusammenhang mit ihrer Vielfalt und Flexibilität steht. Die hohe Diversität ihrer Geschäftsstruktur, die transkulturelle und transnationale Elemente ebenso einbezieht wie die verschiedenen Lebensstile und Milieus, führt dazu, dass diese 10
,,6027 Stimmen sind bei den Deutschtürken in der Keupstraße und Köln-Mülheimleicht zu holen. Die Gegend hier ist das, was Kreuzberg in Berlin ist. Nur wohlhabender. ,Das ist eine Art türkischesNobelgetto', sagt Trafikant Rolf Klaes, der einzige deutsche Geschäftsmann in der Straße. ,Die Leutehier sind Unternehmer, keine arbeitslosenMalocherwie in Köln-Kalk.'" (Prantner2005)
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Straße weit über den lokalen Rahmen hinaus bekannt ist. Die Kundschaft, die auf diesem Wege erreicht wird, ist dabei ebenso vielfältig wie das Angebot. Dem gegenüber steht eine Außenwahrnehmung der Keupsstraße, die diese Realitäten beständig ignoriert. Die Diversität vor Ort wird eingeebnet, indem innere Differenzierungen ignoriert und eine vermeintliche (kulturelle Homogenität) produziert wird . Die Straße wird zu einer,türkischen Straße', mit imaginierten ,türkischen Traditionen' gemacht. Mit Beharrlichkeit wird so an alten Mythen und eingespieltem Alltagswissen festgehalten . Dabei wird die Keupstraße zwar kaum mehr als gefährlicher Ort imaginiert, sondern als erfolgreiche Geschäftsstraße anerkannt. Doch ist dieser Prozess durchaus ambivalent. Denn in ihrer Imagination als ,Klein-Istanbul' findet eine symbolische Exterritorialisierung statt, ihr erneuter Ausschluss. Zwar ist sie nun nicht mehr der andere, gefährliche Ort. Doch bleibt sie als ,Ethno-Nische' weiterhin aus dem modemen, urbanen Raum ausgeschlossen - obwohl sie gerade diesen in besonderer Weise repräsentiert. Dem gegenüber wäre ein Perspektivwechsel vonnöten, der - vor dem Hintergrund der allgemeinen und umfassenden Pluralisierung und Heterogenisierung der Städte, Quartiere wie die Keupstraße nicht weiter skandalisiert oder exterritorialisiert, sondern vielmehr als alltäglichen Bestandteil bundesrepublikanischen Lebens anerkennt - und ihre Potentiale und ihren ,Modernitätsvorsprung' (vgl. Ursula Apitzsch 2004) in Zeiten wachsender Globalisierung und Transnationalisierung wahrnimmt.
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Elizabeta Jonuz / Erika Schulze
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Stadt als Transitraum: Ein Blick hinter den Bronx-Mythos Birgit Mattausch-Yildiz
"Eine Nachricht ist erst dann eine Nachricht, wenn der zweite Blick den ersten bestätigt", heißt ein oft gebrauchtes Pulitzer-Zitat. Doch jedes Wissen, das erst einmal den Status einer Normalität erreicht hat, wird kaum hinterfragt, es bestimmt die Perspektive und falls ein zweiter Blick für notwendig erachtet wird, bestätigt er oft genug den vorangegangenen. Die Geschichte der Bronx - weltweites Synonym für urbanen Verfall- macht nachvollziehbar, wie Negativrnythen entstehen, wie diese im Laufe der Zeit den Status von Naturgegebenheiten annehmen können, die nicht mehr hinterfragt werden und folglich wie Naturgewalten auf die Realität zurückwirken. Diese Geschichte ist nicht nur exemplarisch für das Missverhältnis zwischen einem öffentlichen, zu Symbolen erstarrten Bild und der vielschichtigen Lebenswirklichkeit von Stadtbewohnern. Sie veranschaulicht darüber hinaus, dass Diversität kein statisches Nebeneinander von Elementen ist, die wie Mosaiksteine ein einheitliches Gesamtbild ergeben würden, sondern vor allem in Bewegung und Gegenbewegung, Überlagerung, Brüchen und Widersprüchen zu finden ist und daher immer wieder zu Umorientierung und Perspektivwechsel zwingt. 1997 erhielt die Bronx den All American City Award für vorbildliche Stadtentwicklung und ziviles Engagement - allerdings relativ unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, von Medien oder Stadtforschern. Als Erfolgsstory wurde diese Nachrichtjedenfalls nicht gewertet. Im Gegenteil: Die Bronx-Metapher dient weiterhin dazu, vor Ghettoisierung, Kriminalität und Parallelgesellschaften zu warnen. Wie transnational und politisch brisant die Folgen solcher Darstellungspraktiken sind, zeigte sich 2007 als rassistische Äußerungen eines Ausbilders der deutschen Bundeswehr auch den betroffenen Bronx-Einwohnern bekannt wurden und dort für Empörung sorgten . Bürgermeister Adolfo Carriön wandte sich daraufhin an die deutsche Politik: Die Bundeswehr solle eine Abordnung schicken, er würde sie herumfahren und ihnen zeigen, wie die Bronx wirklich ist. Deutschland müsse die Menschen seiner Stadt um Verzeihung bitten. Der deutsche Generalkonsul HansJürgen Heimsoeth, der selbst einige Jahre in der Bronx zur Schule gegangen war, musste vermitteln. Er habe bei seinen Gesprächen, so berichteten anschließend di-
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Birgit Mattausch-Yildiz
verse online-Medien, junge Leute getroffen, die verwundert und nachdenklich darüber waren, dass ,ihr Ruf in der Welt' so schlecht sei. Diesem Fall lässt sich auch eine positive Seite abgewinnen: Er ist ein Beleg dafür, dass bei der rasanten Entwicklung weltweiter Kommunikation und Vemetzung immer öfter mit Konfrontationen zu rechnen ist: zwischen denen, die ,Wissen' über Andere produzieren und denen, die bislang die Objekte solcher Wissensbestände waren - nicht nur in den Akademien, sondern auch in Medien, Politik und Alltag. Dennoch sind Negativsymbole in Form von Stereotypen und Klischees zählebig, denn sie sind statisch. Historische Aspekte von Bewegung, von Brüchen und Übergängen, auch von Subjektivität und Asymmetrie, die ja wesentliche Elemente einer vielfältigen Lebenswirklichkeit sind, kommen darin nicht vor. Ich möchte in diesem Beitrag das Hauptaugenmerk aufBewegung im räumlichen und übertragenen Sinn richten, auf eine Mobilität, die weder linear noch harmonisch ist, die aber die Geschichte und Lebenswirklichkeit der Bronx seit ihrer Entstehung geprägt hat.
1. Historischer Rückblick:
1.1 Der Aufstieg eines Stadtteils Der Name The Bronx geht aufden ersten Siedler 1639, den Schweden Jonas Bronck und dessen Familie (,the Broncks') zurück - so lautet zumindest die landläufige Erklärung für den Artikel als Namensbestandteil. Historischen Chroniken zufolge wurde zunächst der große Fluss mit dem indianischen Namen Aquahung, der weite Teile des Gebietes durchquert, Bronck's River genannt. 1874 wurden die südlich gelegenen Orte Morrisania, West Farms und Kingsbridge der Stadt New York angegliedert. Erst 1895, nach der Eingemeindung der restlichen Orte nordöstlich des Flusses, wurde das gesamte Gebiet als "the borough of the Bronx bezeichnet. Bis Ende des 19. Jahrhunderts waren weite Teile noch ein ländliches Refugium. Mit dieser Idylle war es in den südlichen Lagen allerdings bald vorbei, als 1886 die erste Hochbahnlinie, die Third Avenue ,EI' (Elevated Train) bis in die Bronx erweitert wurde und nun zahlreiche Arbeiter aus Manhattans Industriebetrieben, vorwiegend europäische Immigranten, sich hier niederließen und ein reger Pendelverkehr begann, der mit der ersten U-Bahnlinie 1904 stetig anwuchs. Bis dahin verfügten nur die südlichsten Gebiete wie Morrisania und Mott Haven durch ihre Nähe zu Harlem und ihre berühmten Pianofabriken, in denen vor allem deutsche, holländische und irische Einwanderer beschäftigt waren, über eine städtische Infrastruktur. In den jetzt erreichbaren nördlicheren Lagen entstanden bald neue Wohngebiete, Geschäfte und Schulen. Deutsche Bierbrauereien wurden zu
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Magneten für weitere deutsche Zuwanderer, später gefolgt von osteuropäischen Juden und einer großen Zahl Italiener, die sich vor allem im nördlicher gelegenen Stadtteil Belmont niederließen. Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die Bronx einen Boom. Die Bevölkerungszahl wuchs von 200 .000 im Jahr 1900 auf 1,2 Millionen im Jahr 1930. Zahlreiche weitere Verkehrsverbindungen wurden in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts gebaut. Im Süden entstanden neue Industriebetriebe und Unternehmen, die eine rasante Urbanisierung vorantrieben, während höhere Einkommensschichten sich in mondänen Villen weiter nördlich niederließen. Ehrgeizige städtebauliche Pläne wurden verwirklicht, der Region die besten Perspektiven unter allen New Yorker Stadtteilen prophezeit. Viel Geld floss in die Planung und Umsetzung eines von den Pariser Champs Elysees inspirierten elfspurigen Prachtboulevards, dem Grand Concourse, der von hohen Apartmenthäusern im Art-Deco-Stil gesäumt wird. Der Zoo und der Botanische Garten mit ihren imposanten Gebäuden wurden von namhaften Landschaftsgestaltern und Architekten angelegt, auf dem weitläufigen Gelände des Woodlawn Friedhofs Mausoleen und teure Grabstätten für die New Yorker High Society errichtet, der Pelham Bay Park, eine der größten Parklandschaften New Yorks mit Sandstränden am Meer, Fahrradwegen und zahlreichen Sportplätzen, einem Wildgehege und kulturellen Attraktionen zum Naherholungsgebiet ausgebaut und nach dem Ersten Weltkrieg per Bahn für jeden schnell erreichbar gemacht. 1923 er öffnete das weltberühmte Yankee-Stadion, das zum Besuchermagneten für legendäre Baseballspiele wurde. Neben diesen Attraktionen machten einladende Restaurants mit internationaler Küche, von Grünflächen gesäumte Wohnblocks, lebendige Einkaufsmeilen, Kinos, Jazz- und Nachtclubs die Bronx in den zwanziger und dreißiger Jahren zum beliebten Wohnort, aller Einkommensklassen. Mitte der dreißiger Jahre verfügten fast alle Haushalte über ein eigenes Bad und heißes Wasser und immerhin die Hälfte über Klimaanlagen. Dieser Standard war für die USA - und wahrscheinlich weltweit - einzigartig.
1.2 Weiterkommen: der moderne Traum von Mobilität Bevölkerungsfluktuation, Ein- und Auswanderung haben die Bronx seit jeher geprägt. Historisch betrachtet, aber auch in der Wahrnehmung der Einwohner selbst, erweckt dieser New Yorker Stadtteil den Eindruck ein Durchgangsortes, eines Transitraums. Modernität und Mobilität im sozialen und physischen Sinn waren Leitbegriffe, an denen sich das Leben der Stadt ausrichtete, auch das der unteren Mittelschicht und der Arbeiter. Der Urbanitätsforscher Marshall Berman erklärt dies, wie viele andere Autoren, im Bezug auf die eigene Biographie:
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Birgit Mattausch-Yildiz "... the Bronx ofmy youth was possessed, inspired, by the great modem dream ov mobility. To live well meant to move up social1y,and this in turn meant to move out physical1y; to live one's Iife close to home was not to be alive at all. Dur parents, who had moved up and out from the Lower East Side, believed this just as devoutly as we did - even though their hearts might break when we went ." (Berman 1988: 326)
So ähnlich die Beweggründe für diese Mobilität anfangs gewesen sein mögen, so unterschiedlich waren die konkreten Anlässe. Selbst ein Kinofilm erwies sich als Auslöser für eine regelrechte Einwanderungswelle in die Brome Der Film "The Jazz Singer", 1927 der erste Tonfilm der Warner Brothers mit dem damals berühmtenjüdischen Entertainer Al Jolson in der Hauptrolle, verhalf diesem Ort zu amerikaweitem Ruhm. Als der Musiker seiner Mutter aufKnien schwört, er würde sie aus ihrer schäbigen Wohnung in Lower Manhartan herausholen, uptown, also herauf in die Bronx, in ein helles geräumiges Apartment auf dem Grand Concourse, sollen diesem Ruf über 600.000 Juden gefolgt sein, um sich hier niederzulassen. In jener Zeit symbolisierte die Bronx den amerikanischen Traum aller Immigranten: Aufstieg und Erfolg: "The Bronx was a place where things were better for the little man, the immigrant, the unwanted. It was the suburb of erarly twentieth-century America." (Sullivan 2007: 76) Bis zu Beginn der vierziger Jahre war die Bevölkerung noch mehrheitlich irischer, italienischer, holländischer, deutscher oder osteuropäischer Abstammung, 45 Prozent davon Juden. Als Arbeiter in den Fabriken von Manhattan oder in den Industriebetrieben der Bronx, als Angehörige der Mittelschicht in Schulen, Behörden und Büros verfolgten alle ein ähnliches Ziel: Wohlstand und den sozialenAufstieg ihrer Familien. Aus diesem Grund waren sie in die Bronx gekommen und dort von den südlichen in die zentralen und nördlichen Gebiete weitergezogen. Aus diesem Grund würden sie von den komfortablen, modemen Apartments in Eigenheime ziehen, sobald ihre Ersparnisse ausreichten, und aus dem gleichen Grund würden viele die Bronx irgendwann ganz verlassen. Noch bot der Stadtteil eine funktionierende Infrastruktur, kostenlose Schulen und zahlreiche soziale Vergünstigungen - Chancen, die von großen Bevölkerungsteilen genutzt wurden, um weiterzukommen, auch im räumlichen Sinn. Ihnen folgten, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, eine große Zahl Afroamerikaner aus Harlem und den Südstaaten sowie Puertoricaner und andere Zuwanderer von den karibischen Inseln, ebenfalls mit dem Wunsch des sozialen Aufstiegs. Blühender Wohlstand und zunehmende Flexibilität der Bevölkerung führten gerade in der aufstrebenden Mittelschicht dazu, dass der amerikanische Traum für viele nicht länger darin bestand, in komfortablen Apartments in der Nähe von Parks und öffentlichen Verkehrsmitteln zu wohnen - wer sich ein Auto leisten konnte,
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strebte auf den neuen Schnellstraßen hinaus in die Vororte, wo man mit staatlicher Hilfe Eigenheime bauen konnte.
1.3 .L adies and Gentlemen, the Bronx is buming!" Wie konnte aus dem Mythos sozialer Aufwärtsmobilität ein weltweites Symbol für urbanen Zerfall werden? Die Antwort darauf ist keinesfalls eindeutig; Ursachen, Auslöser und Symptome sind komplex und widersprüchlich. Erste Spuren lassen sich schon in der amerikanischen Depressionszeit finden. Ende der dreißiger Jahre wurden in den südlichen Gebieten der Bronx Wohnblöcke mit Grünflächen und sozialen Einrichtungen für niedrige Einkommen geplant. Die Mieten begannen dort jedoch schnell zu steigen, denn der Andrang war größer als der vorhandene Wohnraum, so dass Überbelegung im Laufe der Zeit zu Abnutzung und Vernachlässigung führte - ein Problem, das sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch rückkehrende Soldaten und so genannte Sium Clearings in Manhattan, die weitere 170.000 Menschen in die Bronx zwangen, drastisch verschärfte. Viele Unternehmen zogen nach dem Krieg nach New Jersey, die Arbeitslosenrate stieg sprunghaft an; weitere Hochhausblocks wurden mit öffentlichen Mitteln gebaut, um den Bedarf an bezahlbaren Wohnungen zu decken. Für viele der neuen Mieter, vor allem Latein- und Afroamerikaner, die aus Manhattan, aber auch aus ganz Amerika und der Karibik zuwanderten, gab es längst keine Arbeitsplätze mehr. Dennoch existierten bis in die sechziger Jahre hinein, nicht nur dank kommunaler Sozialpläne, noch viele intakte und gemischte Nachbarschaften. Noch war die Bronx eine Großstadt wie viele andere: dicht besiedelt und lebendig, und von Behörden und Medien wurde eine Gewalttat oder ein Brand nicht anders behandelt als andernorts. Doch eine fatale Schneise der Verwüstung wurde Anfang der sechziger Jahre vom New Yorker Masterplaner Robert Moses regelrecht in den Stadtteil gehauen, getreu seinem Motto : Wer in einer dicht bebauten Metropole operieren will, muss sich seinen Weg mit der Fleischeraxt bahnen (Berman 1988: 290) . Mit dem Cross Bronx Expressway entstand eine Schnellstraße mitten durch besonders dicht besiedelte Arbeiterviertel, der mehrere hundert Wohn- und Geschäftshäuser zum Opfer fielen . Nach ihrer Fertigstellung verpesteten endlose Auto- und LKW-Kolonnen die angrenzenden Wohngebiete mit Abgasen und Lärm. Diese Straße diente nur dazu, von Manhattan aus die Bronx schnellstmöglichst zu durchqueren, bedeutete jedoch keine Verbesserung für die Infrastruktur des Stadtteils selbst. Zusätzlich wurden in den sechziger und siebziger Jahren die Wohnungen von 60.000 Menschen im Rahmen von ,slum clearings' vernichtet (vgl. Bermann 1988: 290) .
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Auch Rassismus erwies sich als ein wesentlicher Anlass für gewaltige Bevölkerungsbewegungen in der Brome Je mehr Latein- und Afro-Amerikaner zuwanderten, desto schneller floh die übrige Bevölkerung, die entsprechenden Stadtteile galten dann in der öffentlichen Wahrnehmung als entwertet. Versicherungen erhöhten daraufhin ihre Beitragsraten, Mieten und Immobilienpreise sanken. Die kommunale Aufmerksamkeit für diese Nachbarschaften nahm drastisch ab, nach und nach wurden sie ihrem Schicksal überlassen. Der Autor James Baldwin beschreibt den rassistischen Trend der ,white flight' besonders eindrücklich: ,,(...) when we made a little money, enough to put something aside (.. .) we began 10 move across the river to the Bronx, and all those people who had lately become white fled in terror .. . The Motion ofthe white people ofthis country has been - and it is a terrible thing to say, but it is time to face it - a furious attempt 10 get away from the niggers ." (zit. In Sullivan 2007 : 78)
1970 bewohnten die Bronx nach offiziel1en Angaben 1,08 Mi11ionen Weiße, einige ,Hispanics' inbegriffen. Zehn Jahre später war ihre Zahl bereits auf die Hälfte gesunken. Der Trend der,white flight' setzte sich weiter fort: bis 2000 waren insgesamt 700 .000 weggezogen. Eine Volkszählung aus dem Jahr 2002 reproduziert dieses rassistische Muster, indem sie die Gesamtbevölkerung von inzwischen 1,3 Mi11ionen nach Hautfarbe sortiert: in 14 Prozent Weiße, 25 Prozent Schwarze, 48 Prozent Hispanics und einen geringen Anteil von drei Prozent Asiaten (vgl. Sullivan 2007: 78). Während bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch über 600.000 Juden in der Bronx gelebt hatten und damit fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung, war ihre Zahl fünfzig Jahre später auf 50.000 gefal1en.Al1eindieser Schwund weist schon daraufhin, dass in einer verhältnismäßig kurzen Zeit eine regelrechte Bevölkerungsumwälzung stattgefunden hat. Viele der öffentlich vernachlässigten Wohnblöcke, kurz ,projects' genannt, entwickelten sich seit den sechziger Jahren zu Schauplätzen von Drogenhandel und Kriminalität. Häuser wechselten für wenig Geld in den Besitz von Spekulanten und ,Slumlords'. Als eine Kommission der Stadt New York endlich für geregelte Verhältnisse sorgen wollte, war es bereits zu spät - niemand war mehr bereit, in die heruntergekommenen Wohnungen und Häuser zu investieren, viele behalfen sich durch Brandstiftung. Anfangs kassierten die Besitzer ansehnliche Versicherungssummen, den Mietern wurde der Hausrat ersetzt und bessere Wohnungen angeboten, bis die Versicherungen ihre Zahlungen einstellten. In den siebziger Jahren war bei einer Fahrt mit der Hochbahn durch die südlichen Viertel überall aufsteigender Rauch zu sehen. Der Ausruf eines Sportreporters aus dem Yankee-Stadion, wo hinter den Zuschauertribünen eine Feuersbrunst
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am Himmel stand, ging um die Welt und haftet bis heute im öffentlichen Gedächtnis: .Ladies and Gentleman, the Bronx is burning!" Eine Welle der Zerstörung schien von da an über die südlichen Gebiete hinwegzurollen. Es dauerte nicht lange, bis diese Straßenzüge unter dem Eindruck der medialen Darstellung zur imaginären Einheit ,South Bronx' verschmolzen. Diese stand in der öffentlichen Wahrnehmung bald für die gesamte Stadt, immerhin eine Metropole von der Größe Münchens. Immer wieder beschworen Medien das Bild von Einwohnern, die ihr ,eigenes Nest ausräucherten', ihre Nachbarschaft in Schutt und Asche legten (vgl. Berman 1999: 72). Bald schien es legitim, den Stadtteil seinem Schicksal zu überlassen. Eine radikale Kürzung des New Yorker Sozialhaushalts während der siebziger Jahre verschärfte die Krise, welche ihren vorläufigen Höhepunkt im Sommer 1977 erreichte: Bei einem zweitägigen Stromausfall kam es in ganz New York zu Gewalt, Brandstiftung und Plünderungen im großen Stil. Polizei und Feuerwehr konzentrierten ihre Kräfte in Manhattan, die Bronx erlebte einen Schock. Die ärmsten Gegenden waren am meisten betroffen. Hunderte Geschäfte wurden zerstört, kleine Gewerbetreibende verloren in einer Nacht ihre Existenz. Hier wurde der Strom erst Stunden später angeschaltet als in der übrigen Stadt. Von nun an galt die Bronx als ,gesetzloser Ort', als,Vorhof zur Hölle', als ,brodelndes Chaos' . Gebäude verfielen weiter, ausgebrannte Ruinen, Baulücken und Müll umgaben die noch bewohnten Blöcke. Die New York Times veröffentlichte täglich eine ,Ruinenseite' , auf der sämtliche in der Vornacht zerstörten Wohnhäuser aufgelistet wurden wie Todesanzeigen. Jährlich waren es mehr als tausend Gebäude, die in Flammen aufgingen. Action- und Horrorfilme wie Fort Apache, Wolfen oder Koyaanisqatsi (ein Wort der Hopi-Indianer, das ,Leben im Ungleichgewicht' bedeutet), eine apokalyptische Großstadtvision mit Bildern aus der South Bronx, trugen vor dieser Kulisse zur Entnormalisierung und zum Stigma der zerfallenden Straßenzüge bei. Drei Monate nach dem fatalen ,black-out-Iooting' - ein Begriffunter dem die Plünderungen nach dem Stromausfall in die Geschichte eingingen - besuchte Präsident Jimmy Carter, gefolgt von Presse und Kamerateams, die South Bronx und nannte sie den schlimmsten Slum Amerikas, womit der Ruf endgültig besiegelt war. Die Bronx, die mittlerweile zwei Drittel ihrer Einwohner verloren hatte, verkam zum weltweiten Synonym für urbanen Verfall und galt für die Medien fortan als ,Amerikas Dritte Welt' (Sullivan 2007 :77). Diese Analogie ist bezeichnend, denn die rassistischen Bilder und rhetorischen Strategien, mit denen die Bronx und ihre Einwohner seit den 70er Jahren in den öffentlichen Medien inszeniert wurden, sind kolonialen Repräsentationspraktiken auffallend ähnlich (vgl. stellvertretend für viele postkoloniale Theoretiker Hall 1992 oder den Sammelband und Ausstel-
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lungskatalog des Bronx Museum oftheArts "Urban Mythologies. The Bronx Represented Since the 1960s").
2. Bewegungsräume und Gegenbilder: Kunst als Ressource Um Passanten, die auf den Schnellstraßen oder mit der Hochbahn EI (Elevated Train) die Bronx durchquerten, den Anblick von Trümmern zu ersparen, wurden die Zeichen des Verfalls von den Behörden durch riesige Vorhänge und Transparente verdeckt, auf denen Szenen einer urbanen Idylle mit gartenstädtischen und folkloristischen Motiven abgebildet waren - in der Tradition ,Potemkinscher Dörfer'. Die zerbrochenen Fensterscheiben leerstehender Wohn- und Geschäftsgebäude wurden an diesen Durchgangsschneisen mit heruntergelassenen Ro111äden und Jalousien verhängt. Für solche Maßnahmen stellten kommunale Behörden große Summen bereit, ohne dabei lokale Künstler einzubeziehen.
2.1 Tags und Signifyin(g) Nach der drastischen Kürzung von außerschulischen Bildungs- und Freizeitangeboten, die bis in die 60iger Jahre für Kinder und Schüler aus ärmeren Verhältnissen zum Alltag gehört hatten, und nachdem viele von ihnen durch auseinanderbrechende Familien, Drogen, Arbeitslosigkeit und Aids auch im privaten Umfeld belastet und zunehmend auf sich selbst gestellt waren, entstanden unabhängige künstlerische Ausdrucksformen, die sich radikal von den bisher vertrauten abgrenzten. Zwar wurden Elemente unterschiedlicher Herkunft, beispielsweise aus Jazz und Latino-Musik oder Cartoons und Wandmalerei aufgegriffen. Aber nicht die berühmten Jazz-Clubs, Piano-Bars und Museen moderner Kunst, sondern die Realität des Alltags bildete jetzt das treibende Motiv. Die Straßen und Plätze waren Inspiration und Veranstaltungsort zugleich. Wo es keine gesellschaftlich anerkannten Aufstiegsmöglichkeiten und Ressourcen mehr gab, wurden lokale Gegenhierarchien entworfen und auf der Straße ausgehandelt, neue ,Stile' erfunden und damit eine Position im öffentlichen Raum erobert: "You make a new style. That's what life on the street is all about. What's at stake is honor and position on the street. That's what makes it so important . .. that pressure on you to be the best. Or to try to be the best. To develop a new style nobody can deal with ." (Fab Five Freddy, in Rose 1999: 89)
In den frühen siebziger Jahren kam Graffiti von Brooklyn über Manhattan in die Bronx und gelangte dort in ständiger Interaktion mit der städtischen Umgebung zu neuer Vitalität und Brisanz. Nachdem anfangs Künstlernamen bzw. Signets
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mit fetten Stiften an möglichst vielen Orten hinterlassen wurden, erreichten die Schriften mit dem Einsatz von Spraydosen und dem daraus entstehenden raumgreifenden ,bubble style' bald neue Dimensionen. Stars der Szene setzten mit ihren Signaturen auf Loks und Zügen, die ihre Namen in riesigen, stilisierten Lettern durch ganz New York transportierten, eine neue Bewegung in Gang, die in der gesamten Stadt nicht zu übersehen war: "the art ofwriting one's name" (Rose 1999: 90), man könnte auch sagen, die Kunst, seinen Namen in die Stadt zu schreiben. Die,writer' oder,bomber', wie sie sich selbst nannten, wurden zu Stylisten, die immer wieder neue Schrifttypen erfanden. Auf diese Weise begann eine indirekte Kommunikation zwischen der Bronx und den anderen New Yorker Boroughs, zwischen uptown und downtown. Public Transit, der öffentliche Nahverkehr, wurde zum beweglichen Medium für monumentale Bilder und Signaturen. Der Stadtforscher Marshall Bennan erinnert sich: ,,1 rememberstandingunder tbe EI [ElevatedTrain,Anm. d.V.]witb my motber one summerafternoon, on 125th Street and Broadway, telling her to watch, a rainbow was about to go by. My motber was a reserved and skepticallady, but when tbe next gaudily colored train swept by, she let go a big smile."(Berman 1999: 73)
Ganze Waggonreihen waren zu signierten Meisterstücken geworden, zeigten Szenen aus Phantasie und Alltagsleben, aus Annageddon und dem New Yorker Straßenleben oder waren dem Gedenken an Idole wie dem Cartoonisten Charles Schulz gewidmet. An Plätzen, die eine gute Sicht boten, trafen sich Graffiti-Writer und Zuschauer und warteten voller Spannung auf ihre vorbeifahrenden ,Namenszüge' . Dieses Medium ist ein Sinnbild für die Sichtbarkeit und die Mobilität im öffentlichen Raum, für eine Wiederbelebung und Umdeutung durch Gegenentwürfe und eine Aufforderung zur urbanen Kommunikation. MTA, die öffentliche Verkehrsbehörde, und andere Autoritäten führten allerdings einen unerbittlichen Kampfgegen,Vandalismus'. Einige Graffiti-Writer schlugen vor, einen Zug zu bemalen und dann die Öffentlichkeit abstimmen zu lassen . Schließlich sei ihre Kunst die beste Reklame für New Yorks lädierte Verkehrsbetriebe. Doch der damalige MTA-Präsident lehnte mit der barschen Begründung ab, die gesamte Öffentlichkeit wäre einhellig seiner Meinung. Neben diesen mobilen Bildern und Signaturen gab es Wandgemälde und Mauerinschriften - viele davon konterkarierten die öffentliche Berichterstattung. Inschriften wie,this is a fake', ,this is a ruin', ,this is a decal ' aufden behördlich angebrachten Sichtblenden entlang der Hauptverkehrsadern, enthüllten die Realität dahinter. Auch dies war eine Botschaft über lokale Grenzen hinaus : an Durchreisende, Medienpublikum und Politiker. Künstler aus Manhattan und dem Ausland waren die ersten, die mit Projekten und der Schaffung öffentlicher Treffpunkte in
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diesen Dialog eintraten und sich von der Kreativität der Jugendlichen inspirieren ließen. Da Ruinen und Müllberge einen Anziehungspunkt für Berichterstatter aus aller Welt bildeten, eigneten sie sich besonders für künstlerische Gegenaktionen. Als Ronald Reagan sich 1980 zwischen den Trümmern der Charlotte-Street aufhielt, wurden ,Guerilla-Signaturen' wie .Falsas Promesas' und ,Broken Promises' auf den Ruinenwänden zur unfreiwilligen Kulisse sämtlicher Fernsehübertragungen. Von den Zügen und Mauem transferierten viele Jugendliche ihre Bilder später aufLeinwände für Galerien und Museen, erhielten Aufträge für öffentliche Gebäude, wurden gefragte Maler, Theater-, Mode- und Video-Designer, von denen sich ein Großteil weiterhin als Lehrer und in sozialen Projekten für ihre Nachbarschaften engagierte. Die Gruppe K.G.S . - Kids of Survival, die aus einem Artand-Knowledge-Workshop des Künstlers Tim Rollins entstand, erlangte schnel1 weltweite Berühmtheit. Medien, Galeristen und sogar europäische Bürgermeister rissen sich um ihre Wandgemälde für Galerien, Rathäuser und öffentliche Plätze. Visuel1eAusdruckformen wurden durch Musik und Tanz ergänzt. Die meisten Graffiti-Künstler waren gleichzeitig Dichter, Rapper, Musiker oder Tänzer. Ende der siebziger Jahre erschal1te an jeder Straßenecke die Musik der großen BronxDJs, die auf Straßen, Plätzen, Schulhöfen, in Parks oder in den Gemeinschaftsräumen der Hochhäuser auftraten . Vor allem Jugendliche afroamerikanischer und karibischer Herkunft entwarfen aus neu erfundenen Traditionen im Kontext afrikanischer Symbolik und aus unterschiedlichen Elementen von Black Culture, die ihre Wurzeln in Befreiungsbewegung und Widerstand haben, eine neue Identität. Es ist eine Aneignung durch Recycling, wie es der Herausgeber eines Bronx-Literaturmagazins ausdrückt: "The hiphop aestetic is largely about the recycling, the sampling. (Miles Marshal1 Lewis 2006, i). Die inszenierten Wort- und Reimgefechte werden auch signifyintg) (andeuten, parodieren, verspotten) genannt, ein Begriff, der auf eine bekannte Trickstergestalt westafrikanischer Folklore (,the signifying monkey') zurückgeht, die sich mit List, Witz und mit Hilfe doppeldeutiger rhetorischer Strategien gegen Stärkere behauptet. Es geht um das Aushandeln von Positionen im öffentlichen Raum, also um Bedeutung in jedem Wortsinn . In vielen Texten war auch vom Existenzkampf und den desolaten Zuständen in der South Bronx die Rede; ,The Message' von Grandmaster Flash, gilt in dieser Hinsicht als Klassiker. Die ,Meta-Message' sei jedoch, schreibt Marshall Berman enthusiastisch, dass durch diese kulturelle Energie, durch die explosive Kreativität inmitten von Ruinen, eine Kommunikation über lokale Grenzen hinaus in Gang gesetzt wurde, dass eine Generation Jugendlicher aus Armut und Ghettoisolation aufgebrochen und zu gebildeten New Yorkern mit globalem Horizont geworden sei (Berman 1999:75) .
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Es ist bekannt, dass diese Fonnen subversiver Kunst zum Exportschlager wurden, neben Jugendlichen in aller Welt die etablierte Kunstszene eroberten und schrittweise zum leicht konsumierbaren Kulturgut städtischer Eliten aufstiegen. Inzwischen haben auch kommunale Behörden Kreativität und Innovationsgeist als Ressource der Stadtteilentwicklung erkannt. Kunst im öffentlichen Raum gehört längst zum Selbstverständnis der Bronx. Sogar die öffentlichen Verkehrbetriebe haben ihren Sinn dafür entdeckt und fördern junge Kunst, beispielsweise in Form von Mosaiken, Glasmalerei und Graffiti in Metrostationen und Bahnhöfen.
2.2 Erinnern und Erzählen: Oral History Kommunale Einrichtungen vor Ort - Schulen , Museen, Universitäten, historische Archive oder Stadtteilbibliotheken - ermutigen die Bewohner heute, sich zu erinnern und das multikulturelle Gemisch, die daraus entstehende Spannung und Kreativität als Potenzial ihres Stadtteils zu sehen . Die unterschiedlichsten Medien werden dafür genutzt: Stadtführungen, Kunstprojekte, Straßenfeste und die großen jährlichen ,project-Treffen' der ehemaligen Einwohner der Sozialbauten zum Beispiel. Außerdem gibt es Künstler wie Daniel Hauben u.v.a., deren Werke die Menschen und Straßenzüge ihrer Nachbarschaft porträtieren und an öffentlichen Plätzen zu sehen sind. Interessant ist auch, dass das Internet zunehmend zum Medium der Erinnerung und biographischer Rekonstruktionen geworden ist. In zahlreichen blogs und online communities wird über die Bronx kommuniziert, werden neighborhood stories und Autobiographisches veröffentlicht (vgl. z.B. citylore.com, placematters.com, backinthebronx.com, bronxboard.com, bronxhistoricalsociety.org u.v.a.) Interviews aus dem African American History Project, das Mark Naison von der Bronx Fordham University in Kooperation mit der Historischen Gesellschaft vor Ort durchführt, Autobiographien von Stadtteilbewohnern und ,neigborhood stories', die in Buchform, in Stadtteil archiven und in großer Zahl im Internet zugänglich sind, erinnern nicht nur an die Blütezeit des Jazz und der Latin Music, an legendäre Namen wie Tito Puente oder Thelonious Monk, an das berühmte Blue Morocco auf der Boston Road oder den Club 845 auf der Prospect Avenue, sondern auch an das ganz normale Alltagsleben in den Hochhäusern mit ihren Bewohnern unterschiedlicher Herkunft. Neben dem täglichen Existenzkampf berichten sie von familiärer Geborgenheit, sozialen Netzwerken und einem Heimatgefühl, das Tausende ehemaliger Bewohner der so genannten ,projects' heute wieder zu jährlichen Treffen in den Stadtteil zieht. Bekannte Zeitzeugen, u.a. die Witwe des Tenorsaxophonisten Dexter Gordon, wurden von Naison als Projektmitarbeiter gewonnen. Zahlreiche Interviews mit ehemaligen Bewohnern der südlichen Stadtteile, die wie die meisten Einwoh-
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ner afroamerikanischer und karibischer Herkunft nach dem Zweiten Weltkrieg zugezogen waren, sind bereits dokumentiert und archiviert. Über die lokalen Grenzen hinaus werden hier andere Geschichten aus der Alltagsperspektive erzählt. Befragt nach ihren frühen Kindheitserinnerungen berichtet eine ehemalige Anwohnerin über die Vielzahl kostenloser kultureller Angebote für Schüler aus den Sozialsiedlungen, denen damals die ganze Stadt New York bis nach Coney Island offen gestanden habe: "We had a lot of fun. We bad a vacation day camp, every summer, for the children in the projects. We went to museums on a regular basis, every single museum you could think of, to Coney Island , to baseball games, to the planetarium (...) I started going from the time I was in kindergarten (.. .) Sometimes I got tired of going to the zoo every week because it seemed like I knew the Bronx Zoo like the back ofmy hand . We went to Prospect Park, we went to the Botanical Garden, near Fordham. I don't think there was one spot in the city that we didn't cover," (Victoria Archibald-Good in Naison 2006)
Vor diesem Hintergrund der städtischen Bewegungsfreiheit ist leicht vorstellbar, welchen tiefen Einschnitt in das Leben der Jugendlichen die Folgen von Deindustrialisierung, Arbeitslosigkeit und Sozialkürzungen, der Wegfall aller sozialen Angebote und Freiheiten, die Erfahrung von Marginalisierung und Abstieg ihrer Familien bedeuteten. Dennoch zeugen die Erinnerungen auch vom Zusammenhalt in den ,projects', der sich in den ersten Krisenjahren noch verstärkte und von einem Gefühl der Stabilität, das daraus entstanden sei: "To me, it was a safe place ... In fact everybody looked out for everybody. Nobody had any real money ... I acquired a sense of stability not only in my own house , but in the other families, in the way they came together in a crisis ." (ebenda)
Der Alltag ging in Familien und Nachbarschaften weiter, auch wenn sich die Einwohner bald gezwungen sahen, ihre Sicherheit selbst in die Hand zu nehmen, da von Feuerwehr und Polizei eher Schikanen als Schutz zu erwarten waren. Was in den Medien als kriminelle Gangs bezeichnet wurde, nannten die Bewohner,Social Clubs'. Vielen Kindern und Jugendlichen wuchs in dieser Zeit eine familiäre Verantwortung zu, die eine zusätzliche soziale Belastung bedeutete. In den Krisenjahren gab es offenbar noch andere Alltagswirklichkeiten, die in den Massenmedien nicht erwähnt wurden, wie aus der Autobiographie eines Jugendlichen deutlich wird. Auf der Jagd nach Skandalphotos forderten Reporter die Kinder immer wieder auf, sich in heruntergekommen Straßen photographieren zu lassen, die sie sonst nie betreten hätten: ,,He was telling me to go through these fields to show all the garbage . So people see the pictures he took and say, 'Wow'. He told me to walk through this street that I would never walk down
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in rny life and dribble my basketball .. . Why wou1dit be good for people to see garbage on the fioor, fields of dirt, and stripped cars in the background? Why not show the good parts? If I'm living here, why do I have to got to his block, that I would never in rny life got to, and take pictures?" (Alicea 1995:54)
Der Künstler David Gonzalez berichtet, dass die Kinder seiner Photoklasse ihre Nachbarschaft als Zuhause betrachteten und nur normale Alltagssituationen aufnahmen: ihre Eltern auf dem Sofa, ihre Freunde beim Spielen im Park - Bilder, die man sonst nicht zu Gesicht bekam: "Their pictures were not of the rubble, but of the ordinary things that filled their days: goofy shots of their friends, Mami and Papi hanging out in the living roorn, their friends playing in Crotona Park. Too bad the tourists never saw how these younsters looked at their own world." (Gonzalez 1999: 102, 103)
2.3 Urban Recycling Auf der Fahrt mit der Metro von Manhattans Upper East Side in Richtung Norden ist vor Harlem ein abrupter Wechsel der Fahrgäste zu beobachten - Touristen und Manhartans Mittelschicht verlassen die Waggons. In der South Bronx taucht der Zug aus dem Untergrund auf und fährt als Hochbahn weiter, vorbei an den renovierten Backsteinfassaden mehrstöckiger Apartmenthäuser, ein Ausblick wie in anderen Städten auch. Unter dem Eindruck der Bilder und Schlagzeilen, die sich im Kopf festgesetzt haben, ist das fast überraschend. Etwa auf Höhe der 190. Straße an der Station Fordham Road beginnt die gleichnamige Einkaufsmeile: flache Gebäude mit aneinandergedrängten Läden, geschäftiges Treiben, Motorenlärm, Musik aus Lautsprechern und Autoradios. In ihrem Umfeld befinden sich breite Straßenzüge mit mehrstöckigen, gepflegten Apartmenthäusern in Ziegelbauweise, umsäumt von Grünanlagen, die Fordham University mit überwachtem Campus (nur eine von elf Universitäten und Hochschulen in der Bronx), der weitläufige Park mit dem größten Stadtzoo Amerikas, künstlichen Dschungellandschaften und Botanischem Garten - Attraktionen, die auch Besucher aus Manhattan anziehen. Weniger bekannt sind die Straßenzüge um die nah gelegene Arthur Road, die zum angrenzenden Stadtteil Belmont gehören . Hier befindet sich New Yorks ,Real Little Italy'. Eine verblasste Maueraufschrift und italienische Flaggen verkünden den selbst gewählten Namen des Viertels. Restaurants und Bistros, große und kleine Läden und Dienstleister reihen sich aneinander, in den Auslagen Backwaren, Salami, Käse und Meeresfrüchte aller Art, hinter einer Toreinfahrt, neben der eine lebensgroße Al-Capone-Figur sitzt, verbirgt sich ein großer überdachter Markt, an dessen Ständen neben Haus-
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rat und frisch gedrehten Zigarren, Obst und Gemüse alles erhältlich ist, was die italienische Küche zu bieten hat. Italienischkenntnisse sind hier nicht notwendig, ein Großteil der Anwohner lebt schon seit Generationen in der Brome Am Ende der Straße, umsäumt von Wohnhäusern, eine Grünanlage mit Columbusdenkmal, die zum Picknick auf einer der zahlreichen Bänke einlädt. Richtung Süden schließen sich Wohngegenden an, in denen Trödelhändler, Autowerkstätten und Ersatzteilhändler das Straßenbild bestimmen. In den südlichen Vierteln fanden die größten Veränderungen statt. Seit Ende der 70er Jahre haben gemeinnützige Organisationen, aktive Pfarrer mit ihren Gemeinden, Künstler und Selbsthilfeprojekte, die ihre Straßen in der South Bronx nicht einfach aufgeben wol1ten, nach und nach wieder intakte Wohngebiete geschaffen. Die inzwischen legendäre Bürgerinitiative Banana Kel1y beispielsweise setzte in der Gegend um das berühmt-berüchtigte Mott Haven verlassene Gebäude instand und klagte deren Besitz erfolgreich bei New Yorker Gerichten ein. Mittlerweile ist sie mit zahlreichen Angestel1ten ein zentraler Machtfaktor im öffentlichen Leben der South Bronx, verwaltet ein Mi11ionenvermögen und die Budgets für kommunale Sozial- und Gesundheitsprogramme. Je größer die Erfolge bei Sanierung und Neubau von Gebäuden und bei der Bekämpfung sozialer Probleme waren, desto mehr änderten sich auch die Wahrnehmung und Wertschätzung der Bewohner für ihren Stadtteil, der schließlich wieder für den Zuzug attraktiv wurde . Ob bereits seit Generationen, als Rückkehrer oder bloß aufDurchreise - einen ,Migrationshintergrund' haben fast al1eBewohner. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kamen wieder neue Zuwanderer: aus der Karibik oder aus asiatischen und afrikanischen Ländern, aber auch zahlreiche europäische Immigranten aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Griechenland, Albanien und Irland. Der Bronx-Reporter Su11ivan berichtet über einen Priester aus Tansania, der seit Jahren die Gemeinde einer ehemals italienischen Kirche betreut und diese als Ausgangspunkt für eine ,Fortbildung' in jedem Sinn des Wortes beschreibt: "The poor begin here. They leam how to move on." (Sullivan 2007 : 87) Die Autorin Jille Jonnes sieht in dieser Mobilität eine ständige Wiederbelebung: Der alte Glanz der Bronx kehrt zurück - mit neuen Einwohnern. ,,Black and Hispanic professionals ... have discovered the glories ofthe boulevard's extraordinary apartments, with their spacious foyers, sunken living rooms, formal dining rooms, and eat-inkitchens .. . An so the Concourse is slowly regaining its identity as the Grand Concourse, center ofthe borough and horne to the upwardly mobile , though they are Black and Hispanic, not Jewish ..." (Jonnes in Ultan! Unger 2006: 279)
Der permanente Wandel durch Migration hat zu einer historisch gewachsenen Vielfalt beigetragen, die inzwischen größer ist als je zuvor. Da liegt das Fazit eigent-
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lieh auf der Hand: "The future ofthe Bronx will not be found in its politicians ... The Bronx will be saved the same way it was built: by the people who live there and call it home." (Su1livan 2007 : 88, 89)
3. Resümee und Ausblick Auch Stadtdiskurse sind eingebunden in soziale und politische, globale und lokale Dominanzverhältnisse. Wer bestimmt, was modem ist und was dem Zerfall geweiht, was Ghetto und Parallelgesellschaft, was öffentlich ignoriert und abgewertet oder was gefördert und aufgewertet wird? Die Geschichte der Bronx, das Klischee von ,Amerikas Dritter Welt', macht diesen Zusammenhang noch einmal deutlich. Unter Bezugnahme aufdie ;Holy Trinity' der postkolonialen Studien (Edward Said, Gayatri Spivak und Homi K. Bhabha) hat in den letzten beiden Jahrzehnten eine stetig wachsende Zahl an Wissenschaftlern aus den ehemaligen Kolonien, aber auch Vertreter der transatlantischen ,Africana Critical Theory' die historischen und globalen Bezüge europäischer Wissensstrukturen und ihrer medialen Repräsentationsformen aufgezeigt und ihre Einbindung in historisch begründete Dominanzverhältnisse nachgewiesen. Sie haben mehrfach belegt, in welchem Ausmaß Konzepte von Binarität (das Denken in polaren Gegensätzen OstlWest, Wirl die Anderen, Tradition/Moderne) und Skalarität (die Vorstellung von stufenförmiger Entwicklung, also Entwicklungshierarchien) seit der europäischen Aufklärung und vor dem historischen Hintergrund von Sklaverei und Kolonialismus bis heute als kulturelle Ordnungsmodelle fungieren, als rhetorische Strategien zur Herstellung einer eurozentrischen Autorität, die mit Begriffen von Statik, Homogenität und Eindeutigkeit operiert. Diese Konzepte werden zwar unter dem Einfluss der angloamerikanischen Cultural Studies seit einiger Zeit kritisch hinterfragt, weil sie Aspekte von Bewegung, Übergang, Vielfalt, Hybridität und Widerspruch, die ja ein wesentlicher Aspekt jeder menschlichen Lebens- und Ausdrucksform sind, entweder ignorieren oder äußerst pessimistisch betrachten. Doch in öffentlichen Argumentationen, ob es um globale Entwicklungen, Migration oder Stadtpolitik geht, werden statische, normative Ordnungsmodelle reflexartig angewendet. Dabei ist es gerade die Fähigkeit, mit Ungewissheit, Widersprüchen und Konflikten umzugehen, also auch Kreativität und Improvisation, die man als urbane Kompetenz bezeichnen kann . Deshalb kommen neben bewegten Lebensläufen und migrationsgeprägten Lebensstilen auch ,rebellischen' künstlerischen Lebens- und Ausdrucksformen, dem Denken in Möglichkeiten, jenseits des schon immer Gedachten, eine besondere Rolle in Veränderungsprozessen zu. Solche Lebensentwürfe verweigern sich dem Ordnungsanspruch wissenschaftlicher oder nationaler Ka-
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tegorien. Die Stadt als Transitraum zu beschreiben heißt auch, sich von statischen Konzepten bzw. einer nostalgischen Auffassung von Diversität als Gemeinschaft ,immer gleich verschiedener' Elemente zu verabschieden. Aus diesem Grund kritisiert Berman, dessen Modernitätsstudie ,All that is Solid Melts into Air' in der angloamerikanischen Literatur viel zitiert wird, die ebenso bekannte Autorin und Stadtaktivistin Jane Jacobs (, The Death and Life of Great American Cities') für ihre pastorale Sicht auf Diversity. Ihr Ansatz erscheine zwar auf den ersten Blick als ein "Mikrokosmos der gesamten Vielfalt der modemen Welt", sei auf den zweiten Blick jedoch äußerst exklusiv, wenn nämlich Großstadtviertel dennoch in statischen Begriffen einer dörflichen Idylle beschrieben würden: " ... for the sake of the neighborhood's integrity, all racial minorities, sexual and ideological deviants, controversial books and films, minority modes of music and dress, are to be kept out ..." (Berman 1988: 323) Großstädte und Stadtteile als Bewegungs- und Durchgangsräume - das sind nicht bloß neue Metaphern in den Kulturwissenschaften, sondern pragmatische Perspektiven einer Zeit, in der immer mehr Menschen unterwegs und über kurz oder lang auf ,Zwischenstation' sind. Aus stadtplanerischer Sicht haben Gliemann! Caesperlein (2009: 119ff.) diesen Bedarfeines Perspektivwechsels gezeigt. Die Autoren plädieren nicht etwa für Durchgangsschneisen im Sinne einer autogerechten Stadt, sondern für offene Räume, die Begegnung und Austausch ermöglichen . Denn gerade im urbanen Lebensumfeld gehören Wandel durch Migration und Umbrüche jeder Art zur täglichen Erfahrung.
Literatur Afro-American-History-Project (Interviews und Transkriptionen):fordham.edulacademics..Jlrograms_ atjordhamJbronx_african_americ/transcript_summaries_48610.as Alicea, G. C./DeSena, C. (1995): The Air Down Here. True tales from a South Bronx Boyhood.San Francisco Anastasia,1. (2007):,,MyLife in Graffitis", in Berman!Berger,S. 90-10 1 Asher, R. (2000): "Tbe Bronx as art: exploringthe urban environment", in: Art EducationBd. 53, 4, S.33-39 Berman,M. (1988):All that is Solid Melts into Air.The experienceofmodernity. New York Berman,M. (1999): "Views from the BurningBridge", in: Urban Mythologies (1999), S. 70-83 Berman,M./Berger, B. [eds.] (2007): New YorkCalling.From Blackout 10 Bloomberg. London
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Pragmatisch im Alltag, hegemonial im Diskurs. Vom vielfältigen Umgang mit Migrationsprozessen in Österreich am Beispiel von St, Ruprecht in Klagenfurt Erol Yildiz / Mare Hill
"Eine Art, die Dinge zu sehen, ist auch eine Art des Übersehens"
Kenneth Burke
Einleitung Globale Öffnungsprozesse und die EU-Osterweiterung, die neue Mobilitätsbewegungen in Gang gesetzt haben, machen es erforderlich, über Migrationsprozesse neu nachzudenken. Es entstehen täglich neue Verbindungen, soziale Beziehungen und Netzwerke, die über große Distanzen hinweg aufrechterhalten werden (können) . Diese neue Dynamik erfordert das Überdenken unserer Vorstellung von Zusammenleben, Kultur, Raum und Zeit (vgl. Albrow 1997: 288), auch ganz konkret im eigenen Lebensumfeld, in Städten und Stadtteilen. Zahlreiche sozialhistorische Studien belegen, dass Städte schon immer Verdichtungsräume waren, in denen bedeutende historische Veränderungen frühzeitig einsetzten bzw. vorweggenommen wurden. Gerade in Europa kann man diese Entwicklung anschaulich demonstrieren. Zuwanderung führte insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zur Entstehung bzw. Weiterentwicklung von Stadtvierteln. Dass Migranten wesentlich zur Stadtentwicklung und Urbanität beitragen, wird aber öffentlich kaum wahrgenommen. Stattdessen ist immer wieder die Rede von ,Parallelgesellschaften' oder ,gescheiterter Integration' . Von oben herab betrachtet, ist es wenig erstaunlich, dass die vielfältige Alltagspraxis und die Potentiale, die solche Stadtviertel angesichts globaler Entwicklungen bieten, regelmäßig übersehen werden . Im vorliegenden Beitrag wird daher der Blickwinkel einmal gewechselt und die Lebenspraxis vor Ort zum Ausgangspunkt gemacht. In historisch industriell geprägten Großstädten wie Graz oder Wien sind Migrationsprozesse im Stadtbild nicht zu übersehen. In kleineren Städten wie Klagenfurt erkennt man die Präsenz von Migration erst auf den zweiten Blick. Der Stadtteil St. Ruprecht in Klagenfurt ist ein solches Viertel. Obwohl der prozentuale Anteil von Migranten in St. Ruprecht vergleichbar mit dem mancher Großstädte ist, fällt dies nicht unmittelbar ins Auge . Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Erol Yildiz / Mare HilI
Unsere ethnographischen Forschungsergebnisse bezüglich St. Ruprecht zeigen einen pragmatischen Umgang mit Migrationsprozessen und eine unspektakuläre Funktionsweise des urbanen Zusammenlebens. Dieser Befund steht im Gegensatz zum hegemonial geführten öffentlichen Diskurs und ist eine Aufforderung nationale Mythen zu überdenken.
Migrantenviertel zwischen Ent- und Renationalisierung Obwohl wir in einer globalisierten Welt leben, die sich schrittweise entnationalisiert und nationale Deutungen fraglich erscheinen lässt, sehen wir uns im Umgang mit Migranten und Flüchtlingen, die als mobile Bevölkerungsgruppen zu den Vorboten der Globalisierung gehören, zunehmend mit Renationalisierungstendenzen konfrontiert (vgl. Sassen 2008) . Während alte Grenzen durchlässiger geworden sind, gibt es offenbar eine neue Wahrnehmungsmauer: Sobald Migranten in Stadtvierteln sichtbar werden, dom inieren binäre Konstruktionen wie ,die Einheimischen' und ,die Fremden' oder ,Mehrheitsgesellschaft' und ,Parallelgesellschaft' den öffentlichen Diskurs. Solche Gegenüberstellungen führen zu ethnischzentrierten Differenzlinien, dienen als Wegweiser öffentlicher Wahrnehmung und schließlich als Ausschlussargumente. Die Liste der Sprach- und Denkregeln über Migranten oder migrationsgeprägte Stadtviertel ist lang . Sie enthält Schlagwörter wie ,Ausländerkriminalität' , ,ethnische Konflikte', ,Ghettos', ,Sicherheitsrisiko' und ,Fundamentalismus'. Wie Migranten und deren Nachkommen in den Städten oder Stadtvierteln leben, mit urbanen Strukturen umgehen und welchen Beitrag sie - trotz immer wieder errichteter Barrieren - zur Stadtentwicklung, urbaner Kultur und Kommunikation leisten, bleibt dagegen unerkannt oder wird als desintegrativer Faktor abgewertet (vgl. YildizlMattausch 2008) . Dabei könnte man auch die Auffassung vertreten, dass Migranten, obwohl politisch unerwünscht, auf eigene Rechnung die Leistung erbracht haben, städtische Räume für sich und andere nutzbar zu machen (vgl. Kastner 2005 : 7). Der Anspruch, die Lebensräume von Migranten nicht zu stigmatisieren, besteht auch darin, die Produktivität und das Potenzial solcher Orte zu sehen, die gemeinhin als ,anders' oder ,fremd' wahrgenommen werden: von Migranten betriebene Cafes, Restaurants, Diskotheken, Kultur- und Sportvereine (vgl. Terkessidis 2005 : 24). Eine exemplarische Quelle für das Verstehen der Alltagsfunktion eines ,türkischen Männercafes' ist ein Artikel des Autors Imran Ayata mit dem Titel "Sabri Abis Männercafe", Dort heißt es:
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"In der Türkei suche ich Männeresfes nur dannauf, wenn es sich wirklich nicht vermeiden lässt. Anders in Frankfurt: Neben dem Umstand, in angenehmer Atmosphäre die Spiele von Galatasaray Istanbul sehen zu können, kommt diesem Ort hier eine besondere Bedeutung zu, da er einer der wenigen Plätze ist, wo ich nicht als Ausländer, Migrant oder was auch immer wahrgenommen werde . Das reicht aus, um Anstrengungen und Überforderungen in Kauf zu nehmen ..." (Ayata 1998: 161)
Die Suche nach Schutz vor der Wahrnehmung als ,Fremder' bezieht sich bei Ayata aufkonkrete Erfahrungen im deutschen Alltag. Dazu gehört die ständige Konfrontation mit Äußerungen wie : "Da ist schon eine unüberwindbare Distanz zwischen euch und uns ." oder "Ihr mit eurer fremden Kultur." (Ayata 1998: 150)
Österreich hadert mit seiner langen Tradition als transnationaler Knotenpunkt Die "Wir-und-die-Anderen-Problematik" tritt weltweit in Erscheinung. Formen der Kulturalisierung und Ethnisierung sowie binäre Konstruktionen treten jedoch immer in spezifischen historischen Kontexten auf. Die Situation in Österreich zeigt uns im besonderen Maße auf, in wie weit eine sesshafte Mobilität der Bevölkerung aus historischer Perspektive zum Normalfall geworden sein müsste, jedoch vom öffentlichen Diskurs ständig in Frage gestellt wird. Österreich ist bis heute offiziell kein Einwanderungsland, obwohl das Land de facto schon immer von Migrationsbewegungen, Vielsprachigkeit sowie Grenzöffnungen bzw. -verschiebungen geprägt war. Vornehmlich ist das gegenwärtige Selbstbild von Österreich beeinflusst durch eine nationale, heimatorientierte und monolinguale Imagination, die immer wieder von der Politik, den Medien und von der so genannten ,Volksseele' kommuniziert wird. Die österreichisch-ungarische Monarchie ist in die Geschichtsbücher als Vielvölkerstaat eingegangen und ihr Territorium umfasste Gebiete, die heute als Herkunftsländer von Migranten in Österreich gelten. Das Einzugsgebiet der DoppelMonarchie erstreckte sich über das ehemalige Jugoslawien, Ungarn, Tschechien, Slowakei, über Teile Polens und Rumäniens sowie über die Ukraine. Die transnationale Zusammensetzung der Bevölkerung aus der Zeit der Doppel-Monarchie ist heute wieder sehr aktuell. Spätestens mit der EU-Osterweiterung im Jahre 2003 wurde Österreich mit seiner langen Tradition als transnationaler Knotenpunkt in Europa offiziell wieder konfrontiert. Das konstitutive österreichische Element der Transnationalität blitzt in allen geschichtlichen Facetten wieder auf, aber anstatt dies als eine Ressource zu sehen, entladen sich die gegenwärtigen Irritierungen strenger nationaler Kons-
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trukte in kulturellen Integrations- und Sicherheitsdebatten. Bis heute weigert sich Österreich, seinen Status als Ein- und Auswanderungsland zu akzeptieren. Insgesamt sind wesentliche Gründe für eine offizielle Erklärung Österreichs als Einwanderungsland gegeben, insbesondere vor dem Hintergrund der transnationalen Tradition des Landes, stattdessen kocht die,Volksseele', da kein Tag vergeht, an dem nicht über Flüchtlinge, Abschiebung, Minderheitenprobleme und ,Parallelgesellschaften' aus einer hegemonialen Perspektive diskutiert wird. Auch die Sozialwissenschaften verbreiten ein ethnisch-zentriertes Rezeptwissen im Umgang mit Migranten. Erst kürzlich argumentierte eine österreichische Studie wieder, dass es die Zielsetzung der österreichischen Integrationspolitik sein müsste ,,[.. .] nicht nur die Einhaltung der geltenden rechtlichen Vorschriften einzufordern, sondern die Zuwanderer auch zu Akzeptanz und Übernahme zentraler gesellschaftlicher und politischer Grundwerte hinzuführen" (Ulram 2009: 7). Hauptsächlich werden in dem Zusammenhang die Bildung von ,soziokulturellen Subkulturen' unter Muslimen und türkischen Migranten beklagt. Der Begriff ,soziokulturelle Subkulturen' wird von der Studie im Sinne von ,Parallelgesellschaften' verwendet. In der Studie zur Integration in Österreich werden Hausfrauen, politisch-religiös orientierte sowie muslimische Migranten als besonders anfällig für die Bildung einer ,Parallelgesellschaft' genannt. Als Kriterien gesel1elschaftlicher Abschottung gelten die Pflege der Muttersprache, die Bewahrung der eigenen Identität und die freie Ausübung der Religion. Die aufgelisteten Verhaltensweisen, Tätigkeiten und Einstellungen werden vor allem den muslimischen und türkischen Migranten zugeschrieben und gleichzeitig als kontraproduktiv für ihre ,Integration' erklärt. Sie gelten in dem Bericht als Integrationsdefizite (vg1. ebd. : 24). Die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Sprachkenntnisse aus dem Herkunftsland könnten genau so gut als besondere Lernleistung und gesellschaftliche Ressource interpretiert, die Bewahrung der Identität als Persönlichkeitsentwicklung verstanden und die Ausübung der Religion als eine freie und geistige Tätigkeit aufgefasst werden. Die Integrations-Studie sieht aber in diesen Punkten hauptsächlich eine Abwehrhaltung gegenüber der österreichische Gesellschaft seitens der türkischen Migranten und speist damit den Integrationsdiskurs mit binären Deutungsmuster. Im Grunde ist es aber umgekehrt; nicht Migranten schotten sich von der Gesellschaft ab, sondern Österreich versucht sich gegenüber Zuwanderern aus Drittländern und neuerdings auch aus EU-Ländern abzugrenzen: "Es kommen die, denen man es nicht verbieten kann", erschienen in der Tageszeitung "Der Standard" am 21. März 2010, bringt die Situation der gegenwärtigen Migrationsbewegungen folgendermaßen auf den Punkt:
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"Österreich schottet sich gegen Migranten von außerhalb der EU ab. Die EU-Binneneinwanderung aber nimmt zu. Laut dem Sozialhistoriker Andreas Weigl ähnelt die Situation jener der späten k. u. k. Monarchie ." (Brickner 2010)
Die meisten ausländischen Zuzüge nach Österreich kamen 2008 aus Deutschland (16%) und den EU-Beitrittsstaaten von 2004 (14%) und 2007 (16%) (vgl. StatistikAustria 2010: 106). Ein Blick aufdie Wanderungsbilanz Österreichs im Zeitraum vom 01.01 .2008 bis 31.12.2008 zeigt, dass die Zuzüge aus dem Ausland (110.074) die Wegzüge ins Ausland (75 .638) mit insgesamt 34.436 übersteigen (vgl. ebd .: 41) . Für das Jahr 2008 ist also ein positiver Wanderungssaldo zu verzeichnen. Unter denjenigen, die Österreich im Jahr 2008 verlassen haben, besitzen bemerkenswerter Weise 27% die österreichische Staatsbürgerschaft und bilden damit die größte Gruppe unter den Auswanderern. Weiterhin zogen 2008 mehr Österreicher in andere Länder der EU, als wieder zurückkamen. Das Defizit betrug insgesamt 3.189 (vgl. ebd.: 106 ff.). Österreich ist also nicht nur ein Einwanderungsland, sondern auch einAuswanderungsland, das von den Grenzöffnungsprozessen im Rahmen der EU profitiert. Eine Minderheiten freundliche Politik könnte dies weiter unterstützen und für Österreich weiter ausbauen. Abschließend kann für das Jahr 2008 festgestellt werden, dass die demographische Entwicklung der österreichischen Gesellschaft durch einen positiven Wanderungssaldo stabilisiert werden konnte. Österreich könnte in Zukunft von
Kärntens verhängnisvolle Repräsentation als ,No-Go-Idyll' Das südlichste Bundesland Kärnten mit seiner lang gezogenen Außengrenze entlang der europäischen Nachbarstaaten Italien und Slowenien ist weltweit, vor allem in Deutschland, bekannt für seine Seen, Berge und Jörg Haider. Insbesondere der Wörthersee wurde durch eine Fernsehsendung mit dem Schlagersänger Roy Black in Deutschland berühmt. Die TV-Ausstrahlungen von "Ein Schloss am Wörthersee" in den 1990er Jahren erreichten ein Millionenpublikum im deutschsprachigen Raum. Die Seen und Fließgewässer werden auch von politischen Interessen aus als eine Art Kärtner Dauer-Event in Szene gesetzt. Das ,,Kärntner Wasserreich" war lange Zeit ein Motto unter der Regierung des ehemaligen Landeshauptmanns Haider (vgl. Ottomeyer 2009: 65) . Die Berge im Land (z.B. Gerlitzen und Naßfeld Sonnenalpe) sind ein beliebtes Reiseziel von Skifahrern und Wanderern auf der ganzen Welt. Die Tourismusindustrie wirbt ganzjährig mit einem idyllischen, heimatorientierten und sonnigen Image.
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Darüber hinaus erlangte Kärnten durch den von Haider vorangetriebenen Rechtspopulismus internationale Aufmerksamkeit. Das Gefühl der internationalen Bedeutsamkeit schien vielen Kärntnern zu gefallen und Haider verstand es, dieses aufrechtzuerhalten und der Bevölkerung in Kärnten Geborgenheit zu vermitteln. Der Sozialpsychologe Klaus Ottomeyer hat eine psychologische Landkarte gezeichnet, in dem die Politik Haiders als binäres Konzept repräsentiert und ,,Die Haider Show", also die öffentliche Selbstinszenierung von Haider, skizziert wird (vgI. ebd.: 9). Haider trat häufig als "König der Herzen" auf. Weiterhin hielt er die Kärntner Traditionen hoch und schenkte jedem ambitionierten Kärntner 60 EUR für den Kauf eines maßgeschneiderten Trachtengewandes vom "Kärntner Heimatwerk" (vgI. ebd. : 56). Bei diesen Wohltätigkeiten trat Haider als eine glorreiche Figur in der .Lichtwelt" auf. Die .Lichtwelt" ist der Ort auf der psychologischen Landkarte, dem sich Haider zugewandt hatte, wo er Wahlgeschenke verteilte und Minderheiten auf rechtspopulistische Weise verunglimpfte. Als Gegenpol gab es auf der politischen Landkarte Haiders eine "Schattenwelt". In ihr hielten sich in der Logik von Haiders Politik Sozialparasiten, Künstler, Ausländer und Kinderschänder auf. Hier wurde der Neid und die Missgunst der Kärntner entsorgt und Abgrenzungsmöglichkeiten geschaffen. Eine Gruppe trat jedoch bei Haider deutlich aus der "Schattenwelt" hinaus und das war die Kriegsgeneration inklusive Waffen-SS . Haider versuchte diese gesellschaftliche Gruppe wieder in die "Lichtwelt" zu überführen. Darin bestand wohl sein politischer Rehabilitationsauftrag (vgl. ebd.: 22ff.). Das rechtslastige politische Klima, worunter der berüchtigte ,Ortstafelstreit' und der restriktive Umgang mit Migranten fällt, hat wesentlich zu einem Kärntenbild beigetragen, das sich zwischen heimatorientiert, lokalpatriotisch und rassistisch bewegt. Kärnten gilt in der Außenwahrnehmung - trotz gegenteiliger Anstrengungen der Tourismusindustrie - als engstirnig, national und fremdenfe indlich . Erst 2009 erschien in Deutschland ein Zeitungsartikel über das vermeintliche "No-GoIdyll" Kärnten (vgl. Süddeutsche Zeitung Magazin 2009: H 15). Bei genauerer Betrachtung gehen die nationalen Selbstinszenierungen Kärntens auf der politischen Bühne und die Außenwahrnehmung als ,No-Go-Idyll' an der Alltagsrealität vorbei. Anerkannte Minderheiten, eine weit verbreitete Bilingualität in der Bevölkerung und die grenzräumliche Lage des Landes, internationale Städtepartnerschaften und weltweite Kooperationen zwischen einer Vielzahl von Institutionen sowie zahlreiche Unternehmen der Migrantenökonomie lassen sich als lokale Belege für eine weltoffene Alltagspraxis anführen. Globale Öffuungsprozesse gehören in Kärnten zur Normalität und werden im Alltagsleben pragmatisch genutzt. Man lebt also gut damit. Dennoch wird die historisch gewachsene
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Vielfalt vom heimatorientierten Diskurs und von idyllischen Repräsentationen Kärntens ausgeklammert. Es scheint also ein zweiter, genauerer Blick notwendig zu sein, der die Situation vor Ort näher beleuchtet, damit die internationalen Ressourcen des Landes erkannt, akzeptiert und schätzen gelernt werden.
St, Ruprecht - Ein Klagenfurter Ort in Bewegung In Berichten regionaler Medien über ,Ausländer', ,Kriminalität' oder ,Sicherheit' taucht regelmäßig der Name St. Ruprecht' auf. Auch wer sich selten bis gar nicht dort aufhält, geht davon aus, dass es sich um einen ,problematischen Ausländerstadtteil ' handelt. Eine Lehrerin sagt dazu : "Wir haben leider den Ruf, dass in den Zeitungen geschrieben wird, St. Ruprecht liege hinter dem Bosporus, also wir sind eigentlich abgestempelt ..." Eine andere Lehrerin meint: "Wo die Vorurteile herkommen, weiß ich nicht. Die rühren wahrscheinlich noch von der Geschichte von St. Ruprecht ... und jetzt halt weil Ausländer dazu gekommen sind." Wenn man mit Anwohnern spricht und die Bildungseinrichtungen im Stadtteil besucht, sieht man sich al1erdings mit einer unspektakulären Al1tagspraxis konfrontiert. Es stel1t sich schnel1 heraus, dass St. Ruprecht kein Stadtviertel einer irgendwie geschlossenen ,Paral1elgesel1schaft' ist, sondern ein flexibles und differenziertes Viertel, in dem die Bewohner leben, miteinander kommunizieren, sich arrangieren, wie in anderen Stadtteilen und in anderen Städten auch (vgl. YildizIHi11 2010) . Darüber hinaus gibt es eine historisch gewachsene geographische Mobilität. Zeugen davon sind die Bahnlinie, das Arbeiterwohnhaus von 1925 und die Geschäfte der Migranten. Es sind die aus dem Blick geratenen banalen Dinge, die sowohl Anziehungspunkt als auch Ausdruck von Migrationsprozessen sind. Unsere ethnographischen Beobachtungen im Stadtteil zeigen, wie die Anwohner ihre Nachbarschaft wahrnehmen, welche Rolle Mobilität in ihren Lebensentwürfen spielt, wie sie ihr Leben definieren, mit Problemen und Konflikten umgehen, welche Handlungsstrategien dabei sichtbar werden und welche Rolle Familie und Freundschaften dabei spielen. So entstehen höchst unterschiedlich gestaltete Orte und Räume, die in ihrer Summe für das Leben in St. Ruprecht stehen. Lokale Traditionen, Lebens- und Kommunikationsformen werden neu erfunden. Dabei St. Ruprecht ist ein Stadtbez irk der Kärntner Landeshauptstadt Klagenfurt und hat rund 7.000 Einwohner sowie einen ,Ausländeranteil' von 19% (vgl. Public Management. Klagenfurt 2010) . In der offiziellen Statistik über St. Ruprecht taucht nur die juristische Kategorie ,Ausländeranteil' auf, nicht aber der Terminus Migranten, der die eingebürgerten Personen noch erfassen würde .
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entstehen, wie Martin Albrow (1997) feststellt, unterschiedliche "Soziosphären" mit unterschiedlich gelagerten gesellschaftlichen bzw. alltagsweltlichen Verknüpfungen, die in einem weltweiten Kommunikationszusammenhang stehen . So wird eine durch globale und lokale Entwicklungen geprägte Alltagspraxis sichtbar, eine Art transkultureller Praxis (vgl. Pütz 2004) . Die Lebenswirklichkeit des Stadtteils setzt sich aus unterschiedlichen persönlichen Netzwerken und Milieus zusammen, die durch gewachsene Mobilität geographischer und mentaler Art immer wieder neu interpretiert und kombiniert werden . In den Gesprächen zeigten sich aufallen Ebenen diverse, sich überlagernde und überkreuzende soziale und kulturelle Erfahrungen. Unsere Beobachtungen und Gespräche im Stadtteil belegen, wie Menschen unterschiedliche kulturelle Elemente nutzen, neu definieren und zu neuen Lebensentwürfen verbinden. Die folgende Passage aus dem Gespräch mit einer Studentin, die im Stadtteil geboren und aufgewachsen ist, zeigt exemplarisch eine verdeckte historisch und biographisch bedingte Mobilität: ,,Esist eigentlichso, wennman es ganzweit herholt,ist es so, dass meineOma,kommteigentlich aus Frankreichund hat meinen Opa im Krieg kennen gelerntund dannsind sie nach Klagenfurt gezogen. Also mein Großvaterwar neun oder acht Jahre in Frankreichnoch."
Viele Migrationsbewegungen haben in St. Ruprecht ihre Spuren hinterlassen und prägen bis heute das Selbstverständnis - auch wenn dies im öffentlichen Bewusstsein nicht vorkommt. Die Stadt Klagenfurt ist durch unterschiedliche kulturelle Strömungen (romanische, slawische, germanische und orientalische) geprägt. Dies wirkt sich auf die urbane Kommunikation nachhaltig aus. Beides wird durch die Erzählungen eines Einzelhändlers aus St. Ruprecht mit türkischem Migrationshintergrund untermauert, wie in der folgenden Gesprächspassage deutlich wird : ,,Für mich ist 81. Ruprechtdie schönsteGegendin Klagenfurt. Ja eben, weil ich weißnicht,es gibt so viele Leute, zum BeispielAraberund Türken, Kurdenund so, mit denenwir zusammensind."
Ein Grund für die Ansiedlung des Einzelhändlers in Klagenfurt ist die geographische Grenzlage, die es einem Kleingewerbetreibenden ermöglicht, frisches Obstund Gemüse direkt aus Italien für den Weiterverkauf an die Klagenfurter Kundschaft zu besorgen: "Wir holen das Obst und Gemüse selbstaus Italien. Das suchenwir selber aus. In Veronagibt es einenGroßmarktoder in Udine. Wirsuchenimmerdas Besteoder einesderbestenProdukteaus."
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Klagenfurt zieht Menschen aus der ganzen Welt an. Die Wahl des Ortes hängt meistens von den Anschlussmöglichkeiten ab, die man vor Ort hat. Ein Betreiber eines indischen Restaurants hat beispielsweise von Indien, wo seine Eltern leben, über Finnland, wo seine Schwester ein Restaurant sowie ein Reisbüro führt und dann von Villach, wo er seinen Bruder nur kurz besuchen wollte, nach Klagenfurt gefunden. Seine Familie lebt über die ganze Welt verstreut und er kann dies als jüngster von insgesamt sieben Geschwistern als Ressource nutzen. Die Kontakte zur Familie werden ganzjährig aufrechterhalten. Als seine Eltern aus Indien zu Besuch waren, zeigte auch er ihnen die Idylle, die sie von Kärnten/Klagenfurt erwarteten - Die Seen, die Berge und die kleine Stadt. In Klagenfurt lebt er nun seit 30 Jahren. Er arbeitete zunächst als Koch, Yoga-Lehrer und Kinderbetreuer. Später eröffnete er ein auf indische Weise inszeniertes Restaurant, zunächst in Villach und dann in Klagenfurt, da er annahm, Klagenfurt sei aufgrund des Flughafens und der Universität internationaler als Villach. Er selbst sagt, dass in Indien nicht so viel Wert aufindische Ornamente in der Restaurantausstattung gelegt werden würde, wie er es in Klagenfurt arrangiert hat. Darüber hinaus ist er vegetarischer Hinduist und musste sich den österreichischen Essgewohnheiten anpassen: "Ich biete trotzdem Fleisch an. Wenn ich nach meiner Speisekarte zu 100% ein vegetarisches Restaurant wäre, dann könnte ich in einem halben Jahr zusperren. Der Anteil der Vegetarier ist immer noch zu wenig. Wenn der Anteil weiter steigt, koche ich sofort kein Fleisch mehr. Dann spezialisiere ich mich nur auf vollständig vegetarische Menüs. Vollwert und vegetarisches Gemüse . Alles mit Getreide. Aber ich muss Fleisch zubereiten, kochen, ich bin ja Koch."
Er hat sich also an die Verhältnisse in Klagenfurt pragmatisch angepasst und dies hat sich auf eine völlig unspektakuläre Art und Weise vollzogen. Er schätzt Klagenfurt als "multkulti" ein und fühlt sich, nicht zuletzt durch die grenzräumliche Lage Klagenfurts, sehr wohl. Klagenfurts grenzräumlich Lage bedeutet in vielfacher Hinsicht Lebensqualität. Nach der politischen Öffnung Anfang der 1990er Jahre und durch die "EU-Osterweiterung" ist das ökonomische, kulturelle und soziale Potenzial weiter gestiegen. Klagenfurt hat sich aus seiner ehemaligen Randlage heraus zu einem transnationalen Knotenpunkt im Alpen-Adria-Raum entwickelt. Dies wäre ein idealer Ausgangspunkt für eine Neupositionierung im europäischen Raum. Doch gerade Orte, an denen die gegenwärtigen Entwicklungen spürbar sind, wie der Stadtteil St. Ruprecht, werden hier mit Misstrauen betrachtet. Mehrere Anwohner kommen zum gleichen Resümee wie der von uns befragte Einzelhändler: ,,Also St. Ruprecht kennen die meisten als Ghetto, als sehr negativer Stadtteil." Auf die Frage, wie er damit privat umgehe, erwidert er: "Ja, das ist mir eigentlich
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egal. Weil die Kunden wissen, was wir hier tun. Wenn jemand irgendetwas macht, dann ist es ja nicht gleich ganz Klagenfurt oder ganz St. Ruprecht." An dieser Reaktion zeigt sich der pragmatische Umgang mit Stigmatisierungsprozessen im Alltag. Es erfolgt oftmals eine Dekonstruktion der negativen Kategorien seitens der Betroffenen: Der Verweis auf die Pauschalität der öffentlichen Meinung und auf das unspektakuläre, normale Leben im Viertel enttarnt das negative Image als unrealistisch. Oftmals wird St. Ruprecht auch unter einem allgemeinen Fundamentalismusverdacht gestellt. Dabei spielt das Kopftuch einiger Bewohnerinnen eine zentrale Rolle, da gerade hierüber zahlreiche negative Wissensbestände verbreitet werden. In diesem Punkt reagiert eine Bewohnerin, die als Kleinkind aus der Türkei nach Österreich kam und inzwischen Anfang 20 ist, folgendermaßen: "Ich hasse das Thema .Kopftuch' . Das ist ach, eine Katastrophe! In der Kirche gibt es auch Schwestern , die eine Haube tragen. Es gibt auch Leute, die mit einem Hut oder mit einer Kappe herumlaufen, aber warum die Kopftuchdebatte. Das habe ich letztes Mal x-mal erklärt, weshalb und wieso und jetzt reichts mir."
Dass Tragen eines Kopftuches ist aus der Perspektive der Migrantin eine individuelle und subjektive Angelegenheit. Der Vergleich mit der Haube zeigt deutlich, dass sie sich im Alltag immer wieder rechtfertigen muss für das Tragen von Kopftüchern und Argumente finden musste, die den Vorwurf eines normabweichenden Verhaltens entkräftigen. Mittlerweile erscheint ihr die ständige Konfrontation mit diesem Thema dermaßen oberflächlich, dass sie es aufgegeben hat. Für sie ist es unverständlich, dass in anderen Kontexten, also jenseits des muslimischen, Bekenntnisse in Form der Kopfbedeckung, sei es als Symbol der Zugehörigkeit zu einer Religion oder als Ausdruck eines Lebensstils, als normal empfunden werden und bei dem Kopftuchthema breite Differenzlinien und gesellschaftliche Markierungen gezogen werden. Ein anderes großes Thema ist die Mehrsprachigkeit, die insbesondere in der Schule verankert sein und als besondere Kompetenz anerkannt werden müsste. Die Schulen in St. Ruprecht gehen mit Migrationsprozessen selbstbewusst um und versuchen, Ressourcen zu nutzen: "Wir brauchen keine Dolmetscher. Oft helfen uns die Kinder aus, wenn wir so Kleinigkeiten haben, dann haben wir Kinder, die zum Glück chinesisch und deutsch können. Wir greifen das auf, außer es sind brisante Sachen, die zu besprechen sind, was nur die Eltern angeht. Dann müssen wir schon Dolmetscher einladen", sagt ein Lehrer stellvertretend. Die Akzeptanz und der selbstbewusste Umgang mit Mehrsprachigkeit ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Dennoch muss es in einem zweiten Schritt zu einer weiteren Professionalisierung im Umgang mit Mehrsprachigkeit kom-
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men . Bilingualität sollte offiziell noch mehr gefördert werden und auch die Übersetzungsleistungen sollten nicht nur von der Schülerseite, sondern auch institutionell erfolgen. Das folgende Zitat einer ehemaligen Schülerinnen offenbart die noch zu schließende Sprachlücke im Bildungssystem: "Ich habe schon in der Schule angefangen zu dolmetschen. Es sind von der Türkei Schüler gekommen und jedes Mal wurde ich mit der Bitte , ,ja, kannst du bitte zum Übersetzen kommen' , aus der Klasse herausgeholt. Ein bisschen war das auch schon nervig . Du wirst in der Stunde, im Unterricht gestört. Und ich habe dann auch meistens nichts mehr mitbekommen."
Die Schulen müssen den Migrationsprozessen begegnen und meistem dies erstmal, indem sie die Situation als Alltagsnormalität akzeptieren und pragmatisch damit umgehen. Daraus ergeben sich neue pädagogische Handlungsfelder und Kompetenzen, die grundsätzlich für die Gestaltung einer Migrationsgesellschaft von Bedeutung sind . Ein Gespräch mit einem Lehrer der Hauptschule in St. Ruprecht zeigt, wie man hier auf die Alltagswirklichkeiten von Schülern zeitgemäß reagiert - was andernorts noch längst nicht selbstverständlich ist, wenn man den allgemeinen schulischen Umgang mit Migrantenkindern betrachtet: "Wir haben keine Spannungen. Auch nicht, was die Nationalitäten betrifft . Wir haben Kinder aus Schwarzafrika, aus Kongo , aus Somalia , wir haben Kinder aus China, aus der Dominikanischen Republik, aus Brasilien, um so die exotischen Länder einmal aufzuzählen, neben den klassischen Einwanderungen aus Ländern aus Ex-Jugoslawien und aus Tschetschenien kommen immer wieder Kinder. Aber es kommen teilweise Kinder aus Polen, auch Deutschland, Italien. USA haben wir schon gehabt. Ja, also unterschiedlich. Und die Eltern schicken Ihre Kinder hierher, weil sie glauben , dass sie hier die Deutschkenntnisse am besten verbessern können. Es ist förderlich fiir die Schüler miteinander umzugehen. Wir können davon lernen und sie können auch davon lernen . Ich habe diesbezüglich keine Spannungen erlebt. Ich glaube, das ist schon ein großer Vorteil, wenn die Schüler hier keine Berührungsängste haben und wir arbeiten gut mit anderen Schulen zusammen."
Vor dem Hintergrund der Alltagswirklichkeit, die zu einem wesentlichen Teil von Globalisierung und Individualisierung beeinflusst ist, wäre eine strukturkonservative Haltung im Bildungssystem nicht zielführend, sondern eher kontraproduktiv. Der pragmatische Umgang in St. Ruprecht steht exemplarisch für eine lebendige Korrespondenz zwischen Alltags- und Bildungswirklichkeit (vgl. Schulze/Yildiz 2009 ; Yildiz 2010). Hinter einer solchen Korrespondenz zwischen den unterschiedlichen Alltagskontexten der Schülerinnen und Schüler in einer Stadtgesellschaft und den Anforderungen der Schule, verlieren nationale Kategorien zunehmend an Bedeutung, da die schulischen Herausforderungen nicht in der Abarbeitung von kulturellen Dif-
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ferenzen zu suchen sind, sondern in der Bewältigung struktureller Probleme, die mit der Umsetzung von bilingualen Konzepten sowie der Etablierung eines diversitätsbewussten Bildungsverständnisses auftreten. Es erscheint unabdingbar, (migrationsbedingte) Diversität als eine zentrale Ressource für die Gestaltung schulischer Bildungsnormalität anzuerkennen und zu nutzen Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass kognitive, räumliche und soziale Mobilität offensichtlich eine alltägliche Erfahrung in einer globalisierten Welt darstellt, die vor allem in alltagsweltlicher Vielfalt zum Ausdruck kommt. Man kann das migrantisch geprägte Leben in St. Ruprecht als lokale Manifestation globaler Entwicklungen, als einen kleinen Ausschnitt weltweiter Migration bzw. deren Folgen betrachten. Stadtteile sind Bühnen, Ausgangspunkte und Schnittstellen für viele diverse Lebensentwürfe und deren Einbindung in translokale und globale Räume, die weit über die geographische Grenze der Stadt hinausweisen und längst zur banalen Alltagsnormalität gehören, auch in Klagenfurt. Nur wenn hybride Selbstbeschreibungen, transkulturelle Kompetenzen und "bewegte Zugehörigkeiten" (Strasser 2009) in einer globalisierten Welt ernst genommen werden, kann es wirkliche Bildungsprozesse geben. Nur so ist es möglich, Schule zu einem Ort zu machen, an dem Mehrsprachigkeit und kulturelle Diversität gelebt werden können. Mit einem Zitat von Mark Terkessidis, das eine solche pragmatische Strategie zum Ausdruck bringt, möchten wir unseren Beitrag beenden: ,,Die historischen Fäden verlaufen in alle möglichen Richtungen. [... ] Was existiert, ist die gemeinsame Zukunft. Es ist egal, woher die Menschen kommen, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Polis aufhalten. Wenn erst einmal die Zukunft im Vordergrund steht, dann kommt es nur darauf an, dass sie jetzt, in diesem Moment anwesend sind und zur gemeinsamen Zukunft beitragen" (2010: 220)
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Zum Umgang mit Vielfalt in gesellschaftlichen Institutionen
Wenn Schulen Vielfalt nutzen (möchten). Möglichkeiten und Hindernisse im Umgang mit Diversität im Bildungssystem Joachim Schroeder
1. Interkulturelle Bildung - eine Erfolgsstory? Der pädagogische Diskurs über die Herausforderungen von Migrationsprozessen für die Umgestaltung der mit der Organisation und dem Angebot von Bildung befassten Institutionen wurde in den 1960er Jahren so gut wie gar nicht und in den 1970er Jahren im Wesentlichen von den für die .Ausländerpädagogik" zuständigen Experten geführt. Demgegenüber kann für die 1980er und 1990er Jahre eine sich verbreiternde und verstetigende Auseinandersetzung darüber konstatiert werden. In immer mehr pädagogischen Teilsystemen und Praxisfeldern ist eine zunehmende interkulturelle Orientierung nachweisbar. Innere Reformen, im Sinne einer Umgestaltung der jeweiligen institutionellen Binnenverhältnisse, und äußere Reformen, verstanden als Veränderung struktureller Rahmenbedingungen und allmählicher Institutionalisierung von Praxis- und Projekterfahrungen, haben in den vergangenen Jahrzehnten im allgemein bildenden Schulsystem tiefgreifende Veränderungen erbracht. Einer einstimmig gefassten Empfehlung der Kultusministerkonferenz zur "Interkulturellen Bildung und Erziehung in der Schule" (KMK 1996) folgend, wird in den Lehrplänen aller sechzehn Bundesländer zumindest in den Präambeln auf die ethnische und sprachliche Vielfalt der Schülerschaft explizit hingewiesen und sind interkulturelle Unterrichtsthemen angeregt oder verpflichtend vorgeschrieben (GogolinlNeumann/Richter 1998). Auch in der Lehrerbildung ist die Interkulturelle Pädagogik zu einem festen Bestandteil der Studienpläne geworden, fast überall können Studierende einen solchen Schwerpunkt wählen, viele Universitäten bieten außerdem entsprechende Erweiterungsund Zusatzstudiengänge an. Könnte die jüngere Geschichte der interkulturellen Pädagogik in der Bundesrepublik somit als eine Erfolgsstory erzählt werden, so zieht Hans Reich eine eher pessimistische Bilanz der Debatte: "Die interkulturelle Pädagogik hat ihre Nothelferfunktion erfüllt und ihre Blütezeit gehabt. Es ist ihr schwergefallen oder Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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schwer gemacht worden, eine Pädagogik für den Normalfall zu werden und den selbstgesetztenAnspruch, ein Bildungskonzept für alle zu sein, zu erfüllen." (Reich 1994: 21) Ist es einerseits fast ein pädagogischer Allgemeinplatz, daraufhinzuweisen, dass die Vielfalt der Lemvoraussetzungen und Bildungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen - in der Erziehungswissenschaft wird in diesem Zusammenhang zumeist von "Heterogenität" gesprochen (vgl. Sauter/Schroeder 2007) - eine Grundbedingung in allen pädagogischen Handlungsfeldern darstellt, sich also individuelle Bildungsprozesse entlang von Differenzlinien wie Geschlecht, Sozialstatus, Ethnizität, Sprachen, Religionen, psychischen oder körperlichen Dispositionen unterscheiden, so birgt diese Einsicht gleichwohl einiges an Brisanz, weil sich an solchen Differenzlinien eben auch Bildungschancen ungleich strukturieren. In den folgenden Überlegungen möchte ich in zwei Schritten vorgehen: Zunächst beschäftige ich mich mit den Problemen der Inneren Schulreform, also mit der Frage, weshalb es so schwierig ist, dass der Umgang mit Diversität zum pädagogischen Normalfall im Unterrichtsalltag werden kann. Danach möchte ich darauf hinweisen, dass es zudem dringlich Probleme der äußeren, bildungspolitischen Reform zu lösen gälte, um einige der institutionalisierten und verrechtlichten Behinderungen der Vielfalt im deutschen Bildungswesen zu überwinden.
2. Drei Merksätze zu den Chancen und Grenzen einer ,Pädagogik der Diversität' Wie angedeutet, möchte ich mich zunächst aus der schulischen Innenperspektive mit einigen Schwierigkeiten der Wahrnehmung und produktiven Verarbeitung von Diversity beschäftigen. Ich werde meine Überlegungen in drei apodiktisch formulierte ,Merksätze' einmünden lassen - Vielfalt braucht (l) Profil, (2) Anerkennung und (3) die Arbeit am Tabu - die ich im Folgenden differenziert entfalten möchte.
2.1 Vielfalt braucht Profil Die Überrepräsentation von Kindern und Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund in den unteren Bildungsgängen und deren ,schlechten' schulischen Leistungen werden in den einschlägigen Schulvergleichsstudien zwar immer wieder neu konstatiert (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006), doch kann das, was bislang an Bemühungen zur interkulturellen Öffnung im Schulsystem stattgefunden hat, ganz und gar nicht befriedigen. Diese Behauptung lässt sich belegen, wenn man gedanklich durchspielt, was sich in Sonder- oder Hauptschulen, in Real- oder Gesamtschulen, und durchaus auch an Gymnasien verändern müsste,
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würden sie sich in ihren Profilbildungen systematisch auf die spezifischen Lernausgangslagen und Bildungsbedürfnisse dieser Mädchen und Jungen einlassen. In einer ,interkulturellen' Schille würde sich das Kollegium vornehmlich aus Lehrkräften zusammensetzen, die über profunde Kenntnisse im Schulrecht für ethnische Minderheiten der Länder, des Bundes und der Europäischen Gemeinschaft sowie zum Ausländer- und Asylrecht und deren Bedeutung für Schulpflicht bzw. Bildungsrecht verfügen (HansenlWenning 2003). Sie wissen um die besonderen kranken- und sozialversicherungsrechtlichen Gegebenheiten und die Spezifika im Kinder- und Jugendhilfegesetz sowie in der Sozialhilfe für Ausländer. Sie sind gründlich ausgebildet in der Sprachstandsdiagnostik für Kinder ohne deutsche Muttersprache, haben einen Überblick zu den didaktischen Ansätzen für zwei- und für mehrsprachigen Unterricht und halten sich auf dem Laufenden über die aktue11 verfügbaren Lernmaterialien. Ebenso sind ihnen die spezifischen Konzepte für den Fachunterricht - beispielsweise Mathematik - in mehrsprachigen Lerngruppen bekannt und verbinden die sprachliche Förderung damit. Sie haben sich zumindest exemplarisch mit der Struktur und Themenfolge von Lehrplänen auch außereuropäischer Länder beschäftigt und knüpfen in der Erste11ungder Förderpläne daran an. Es sind Schulen, die in ihrer empirischen Selbstbeobachtung systematisch auf interkulture11e Zusammenhänge achten: In Fa11besprechungen wird untersucht, ob konstatierte Lern- oder Verhaltensauffälligkeiten tatsächlich in einem biografischen Zusammenhang zur Migration stehen und z.B. aufgrund von Traumatisierungserfahrungen auf der Flucht hervorgerufen wurden, oder ob ein Fa11 von "institutione11er Diskriminierung" (Gomo11a1Radtke 2002) vorliegt, die Bildungsbenachteiligungen somit eher in ethnisierenden Zuschreibungen zu suchen sind (vgl. Weber 2003). Die Schule hat nicht nur ein Schulprogramm, in dem dargelegt ist, was sie erreichen möchte und mit welchen Wegen und Mitteln, sondern sie erste11t auch regelmäßig einen schulinternen Bildungsbericht, der darüber Auskunft gibt, wie viele benachteiligte Schülerinnen und Schüler die Schille bezogen aufwelches Kriterium hat, wie sich die Zahl der ,Fälle' im Vergleich mehrerer Jahre entwickelt und was man getan hat, um mit den Schwierigkeiten umzugehen. Wir verzeichnen in Deutschland insgesamt einen Anstieg der Zahl bildungserfolgreicher Migrantenjugendlicher, die Schule vergleicht sich mit diesen Durchschnittswerten und entwickelt gegebenenfalls Förderinstrumente, um ihre eigenen Erfolge zu erhöhen. In ihrer Vemetzung werden solche Schulen nicht nur enge Kontakte zu den ausländerrelevanten Behörden und Beratungsstellen knüpfen, sondern auch intensive Kooperationen zu Migrantenvereinen, Ausländerinitiativen und zu den lokal relevanten Religionsgemeinschaften pflegen. Diese Schulen kooperieren mit her-
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kunftssprachlichen Ärztinnen, Anwälten und Polizisten, sie können rasch auf ehrenamtlich tätige Dolmetscher zurückgreifen und bevorzugen Sozialpädagogen mit Migrationshintergrund. "Interkulturelle" Schulen akquirieren für ihre Schülerschaft verstärkt Arbeits- und Ausbildungsplätze in den rund 280.000 Betrieben mit Inhabern ausländischer Herkunft in Deutschland, denn Schätzungen besagen, dass ca. 11.000 Ausbildungsplätze in den ,ethnischen' Unternehmen potenziell brach liegen (OECD 2005). Auch diese Betriebe werden ganz selbstverständlich in die Praktikums-, Job- und Ausbildungsplatzkartei der Schule aufgenommen und Jugendliche ,passgenau' vermittelt. Es empfiehlt sich zudem eine enge Kooperation mit der .Koordinierungsstelle Ausbildung in ausländischen Unternehmen" (KAUSA), weil hier die Schulen wie auch die Betriebe gute Unterstützung in den erforderlichen bürokratischen Schritten erhalten (Kanschat 2005). In einer ähnlichen Weise arbeiten auch die "Unternehmer ohne Grenzen" (2005). Zu klären sind ebenso die Reichweite bzw. Relevanz interkulturel1er Schulprofile. In den städtischen Zentren Westdeutschlands wird es mehrere Schulen mit einem solchen Programm geben, in den ostdeutschen Schulen dagegen sind sie weithin überflüssig. Denn dort stel1tsich Migration genau umgekehrt dar: Es geht weniger um die rasche Integration von einwandernden Kindern, sondern um die adäquate Vorbereitung der Abwanderung der jungen Leute. Gleichwohl ist auch für Jugendliche in Vorpommern und in der Lausitz schon längst nicht mehr nur die innerdeutsche Binnenmigration typisch, vielmehr führt die Suche nach einer Zukunftsperspektive die jungen Schulabsolventen in die Industriezentren Polens und Tschechiens, auf die Werften der skandinavischen Länder, in die Touristenorte Österreichs und des Mittelmeerraums. Ob sie wohl auf ihre Migration in der Schule gut vorbereitet wurden? Dagegen werden in Westdeutschland in den interkulturel1en Schulen nicht nur Kinder und Jugendliche ohne deutschen Pass und mit Migrationserfahrungen aufgenommen, sondern ebenso die .Passdeutschen'' aus Kasachstan und Russland oder Roma- und Sintikinder, weil sie sich in ihren Lemausgangslagen kaum von anderen Migranten unterscheiden. Und ist die ,interkulturelle' Schule gut, wird sie sogar attraktiv für deutsche Kinder sein.
2.2 Vielfalt braucht Anerkennung Diversity stellt aber auch die Unterrichtsentwicklung vor neue Herausforderungen. Es ist zumeist ein Leichtes, die ,Monokulturalität' des Unterrichts zu belegen; ein Unterricht also, der auf eine unterstellte Homogenität der Schülerschaft und ihrer Lebenswelten bezogen ist; ein Unterricht, in dem es nicht gelingt, die Vielfalt gesellschaftlich verfügbarer Kultur wenigstens ausschnitthaft abzubilden; ein Unterricht, der die Vielfalt von Perspektiven sowie die Unterschiedlichkeit von Erfah-
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rungen der Schülerinnen und Schüler nicht berücksichtigt. Gleichwohl ist es alles andere als leicht, konsequent Diversität als eine curriculare, didaktische und methodische Dimension im Unterricht zum Tragen kommen zu lassen. Es geht jedoch auch und vor allem um die Begründung der gesellschaftspolitischen Anerkennung von Vielfalt, also um die Frage: Weshalb brauchen wir eine interkulturelle Orientierung der Schule, ein Mainstreaming der Diversity? Die üblichen Antworten lassen sich zumeist zwei dominierenden Argumentationsfiguren zuordnen: Multikulturelle Bildungsarbeit wird als Möglichkeit zur Erweiterung des kulturellen Blickfeldes verstanden mit dem Ziel anzuerkennen, dass ,andere' Kulturen zum ,Weltkulturerbe' wichtige intellektuelle und ästhetische Beiträge geleistet haben, die es wert sind, vermittelt zu werden. Diese Begründung macht es erforderlich zu klären, wie denn hoher und niedriger ästhetischer Rang bestimmt und wie objektive Kriterien zur Beurteilung von Kunstwerken, Ideen und Theorien gefunden werden können - eine Diskussion, die bislang im Wesentlichen immer eurozentrlsch ausgegangen ist. Ein anderer Grund könnte darin gesehen werden, den bisher Ausgeschlossenen und Ausgegrenzten ihre Anerkennung zuteil werden zu lassen: Weil sie denn nun mal da sind, gewähren wir ihnen das Recht auf Anerkennung ihrer Kultur. In dieser Begründung liegt das Risiko, die Migranten - wie alle anderen Randgruppen - zu Toleranzobjekten zu machen, also Minderheiten Rechte deshalb zuzugestehen, um die ,Toleranz' und das demokratische Bewusstsein der Mehrheit daran zu beweisen - ein patemalistischer Grund. Habermas (1996: 254) hat für Deutschland, als noch immer und zutiefst von der "romantisch inspirierten und bildungsbürgerlichen Idee der Kulturnation" geprägt, dringend angemahnt, solche "Selbstverständigungsdiskurse" zu führen: ,,Das sind Auseinandersetzungen, in denen sich die Beteiligten z.B. darüber klar werden , wie sie sich als Bürger einer bestimmten Republik, als Bewohner einer bestimmten Region, als Erben einer bestimmten Kultur verstehen wollen , welche Traditionen sie fortsetzen oder abbrechen, wie sie mit ihrem historischen Schicksal [...] umgehen wollen . Und natürlich berührt die Wahl der Amtssprache oder die Entscheidung über das Curriculum öffentlicher Schulen das ethische Selbstverständnis einer Nation." (Habermas 1996: 254)
Die Anerkennung des Anderen, so wird in dieser Sichtweise nahegelegt, begründet sich nicht lediglich daraus, dass auch ,die Anderen' Kultur geschaffen haben, gar solche von Rang . Es basiert auch nicht exklusiv und allgemein in einem demokratischen und ethischen Bewusstsein. Denn in beiden Positionen wird letztlich die Beweislast, dazugehören zu dürfen, ,den Anderen' auferlegt. Vielmehr wäre zu klären, was denn ,unsere' Kultur und ,unser' Kontext jeweils ist, was zu ,unserer' Tradition gehört und ,unser' intellektuelles und ästhetisches Erbe bein-
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haltet. Wer ist,unser', wen oder was zählen wir dazu? Wen lassen wir zu in dieser Diskussion? Und: Wer entscheidet?
2.3 Vielfalt braucht die Arbeit am Tabu Die Frage der Anerkennung beinhaltet einen weiteren wichtigen Aspekt, nämlich die Bereitschaft, Konflikte und Schwierigkeiten der interkulturellen Unterrichtsarbeit offen zu thematisieren. Neben den ganz allgemeinen pädagogischen Schwierigkeiten, die auftreten, wenn Kinder und Jugendliche nicht so funktionieren, wie es in den von den Erwachsenen strukturierten Institutionen erwartet wird, klingt in Erfahrungsberichten von Pädagoginnen und Pädagogen immer wieder eine besondere Form von Konflikten an: Schwierig sei es nicht nur, mit der kulturellen Differenz umzugehen, sondern Schwierigkeiten mache der enorme ökonomische Druck, unter dem die Familien stünden, aus dem die Kinder und Jugendlichen, wenigstens für einige Stunden in der Schule entfliehen wollten, und all diese Probleme eben dahin ,mitbringen' . Interkulturelle Arbeit lässt sich somit nicht nur auf die Breite der kulturellen gesellschaftlichen Vielfalt ein, sondern vor allem auch auf eine erhebliche soziale Ungleichheit. Meine These ist: Eine ,Pädagogik der Diversität' gelingt noch am ehesten, wenn sie sich auf den kulturellen Reichtum des Fremden bezieht, solange das Fremde uns Staunen lässt, es uns neugierig macht, es spannend und unterhaltsam ist, sind die durch Angebote interkultureller Erziehung angeregten Lernprozesse - seien es Ausstellungen, Autorenlesungen, schulische Unterrichtsprojekte - bildsam und sie tun vor allem nicht weh . Die bereichernden Möglichkeiten werden zu schmerzhaften Grenzen, wenn das Fremde uns nervt und abstößt, aufregt und verletzt, kränkt, beschämt und erniedrigt. Gerade dies ist aber eine pädagogische Alltagserfahrung in der Schule, und zumeist werden diese Erfahrungen in einem hohen Maße tabuisiert. Auch hier können pädagogische Tage ein Anlass sein, darüber ins Gespräch zu kommen. Wenn sich die interkulturelle Bildungsarbeit auf soziale Ungleichheit einlässt, auf die Auswirkungen der erbarmungslosen Hierarchisierung von Lebenschancen sowie auf die latent und offen verfassten rassistischen gesellschaftlichen Verhältnisse, so arbeitet sie in der spannungsreichen Dialektik von Scham und Beschämung: Es ist für Lehrkräfte schwierig, tagtäglich die eigenen Privilegien, den relativen materiellen Reichtum und die Möglichkeiten persönlicher Selbstentfaltung in ihrer Schülerschaft gleichsam wie in einem Spiegel sehr krass zu erkennen die pädagogische Arbeit mit ,armen Fremden' ist eine ständige Selbsterfahrung ökonomischer und sozialer Differenzen. So bleibt es eine alltägliche Herausforderung der pädagogischen Tätigkeit, solche Erfahrungen nicht mit Gleichgültig-
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keit oder mit Zynismus zu verarbeiten. Das Thema Menschenrechte ist für viele junge Migrantinnen und Migranten eine doppelt persönliche Erfahrung: In ihren Herkunftsländern wurden ihnen elementare Grundrechte systematisch entzogen, und hier in Deutschland müssen sie ebenfalls immer wieder neu eingeklagt werden. Rassismus, Gewalt und Intoleranz stellen für sie Primärerfahrungen dar, die wir als Lehrkräfte allenfalls aus der Tagespresse, der Fachliteratur oder als Lehrplanthemen, seltener als persönliche Erfahrung kennen: Wir leben in aller Regel weder in Armut noch in der Fremde. Pädagogisches Arbeiten in einer multikulturellen, multi ethnischen und mehrsprachigen Gesellschaft benötigt deshalb eine auf Dauer gestellte pädagogischkulturelle Selbstreflexion, um kulturalisierende und ethnisierende Zuschreibungen in der pädagogischen Arbeit systematisch aufzudecken. Zu schnell wird,Fremdes' in ethnozentrischen Deutungsmustern verrechnet, wie auch langjährig in interkulturellen Zusammenhängen Tätige an und bei sich ständig entdecken können. Sich in der pädagogischen Arbeit kontinuierlich selbst zu verdächtigen, ethnisierenden Vorurteilen aufzusitzen, ist ein wesentlicher Schritt, um Strategien einer reflexiven Selbstbeobachtung zu entwickeln. Mit anderen zusammen dies zu tun, sich beispielsweise gegenseitig über den Unterricht auszutauschen oder auch Schülerinnen und Schüler zu fragen, wie sie denn das so finden, was sie in der Schule erleben, sind weitere hilfreiche Möglichkeiten. Mit solchem ,Material' kann, beispielsweise an einem Pädagogischen Tag, weitergearbeitet werden (vgl. Hiller/ Jauch 2005). Es geht nun nicht so sehr darum, neue Informationen über die Gruppe der Migrantinnen und Migranten zu geben, sondern Lehrkräfte aufzufordern, etwas über sich selbst und über die eigene Praxis in Bezug auf diese Kinder und Jugendlichen und im Umgang mit ihnen zu lernen.
3. Bedingungen für die äußere Reform von Schulen Seit Jahrzehnten werden im schulischen Bereich vielfältige Bildungskonzepte erarbeitet und zumindest modellhaft in der praktischen Umsetzung erprobt, um auf die Heterogenität der Lembedürfnisse pädagogisch angemessen, also mit dem Anspruch der Herstellung von Chancengleichheit, zu reagieren. Dem stehen allerdings viele Hindernisse entgegen, die es den Schulen erschweren, Vielfalt konstruktiv zu nutzen. Ich möchte deshalb einige Erwartungen und Forderungen formulieren: •
an die Bildungspolitik, denn es sind die erforderlichen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen und die notwendigen bildungspolitischen Entscheidungen zu treffen, damit Diversity Mainstreaming im Bildungswesen realisierbar wird;
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an Betriebe, Unternehmen und Wirtschaftsverbdnde, denn die unzureichende Verdichtung der Nahtstelle zwischen Schule und Arbeitswelt ist noch immer ein zentrales Hindernis gesellschaftlicher Integration junger Menschen; an die Medien, denn um Schulen die Möglichkeit zu eröffnen, Vielfalt produktiv zu nutzen und zu entfalten, benötigen sie im Doppelsinn eine gute Presse.
3.1 Erwartungen und Forderungen an die Bildungspolitik In Deutschland wird nicht allen Kindern und Jugendlichen uneingeschränkt ein Recht auf allgemeine oder berufliche Bildung zugestanden. Je nach Aufenthaltsstatus werden manche Jungen und Mädchen gar nicht in die Schulpflicht einbezogen, viele sind von den Möglichkeiten, eine berufliche Ausbildung zu absolvieren oder auch einen Job nach Abschluss der Schulbildung anzunehmen, gesetzlich ausgeschlossen, weil ihnen keine Arbeitserlaubnis erteilt wird. Vor allem junge Flüchtlinge im Anerkennungsverfahren sowie Geduldete sind zudem im Kinderund Jugendhilfegesetz gleichaltrigen Deutschen nicht gleichgestellt, außerdem sind sie vom BAföG-Bezug ausgeschlossen und kaum ein arbeitsmarktpolitisches Förderinstrument ist für sie geöffnet (vgl. Schroeder 2007) . Dies führt dazu, dass es für Schulen sehr schwierig ist, solche Jugendlichen überhaupt zu unterrichten wie auch eine Überleitung in das Ausbildungssystem so gut wie unmöglich ist. Die Kinder von Migranten, seien sie nun geflohen oder im Zuge der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik gekommen, sind in der Regel zwei- gar mehrsprachig, ihre Familiensprachen sind andere als Deutsch. Manche Bundesländer bieten diese Sprachen zumindest auf freiwilliger Basis an, in anderen Ländern gibt es Vereinbarungen mit Konsulaten, die Zuschüsse erhalten, wenn sie einen solchen Unterricht für die Kinder ihrer Staaten anbieten. Gleichwohl sind wir in Deutschland von einem Recht auf muttersprachliche Bildung weit entfernt. Auch die aktuell gültigen Fremdsprachenregelungen erschweren es vielen Kindern und Jugendlichen, bildungserfolgreich zu sein. Nur in wenigen Bundesländern können Jugendliche mit Migrationshintergrund anstelle von Englisch Unterricht in der Amtssprache des Herkunftslandes belegen oder ihre Muttersprache als "Fremdsprache" anerkennen lassen. Nicht nur Englisch und Französisch, sondern auch Türkisch und Arabisch, Spanisch und Russisch sind Sprachen, die in Deutschland einen hohen Marktwert haben, weil sie in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen wie auch für den Binnenmarkt bedeutsam sind. Jugendliche, die eine, gar mehrere dieser Sprachen beherrschen, werden in Deutschland in der Regel jedoch
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entweder im Fremdsprachenunterricht mit Lernanfangern zusammen beschult und somit völlig unterfordert, oder sie werden überhaupt nicht gefördert. Wenn Schulen Vielfalt nutzen wollen, muss Schulentwicklung im Quartier, in der Stadt oder in der Region konzeptualisiert werden. Einzelne Schulen sind überfordert, erst der Bezug aufein Netz von Schulen im lokalen Raum ermöglicht weitergehende Perspektiven (Schroeder 2002). Lokale Bildungsräume entstehen in der Herausbildung einer Infrastruktur für Kinder, Jugendliche und Erwachsene als Lernende, die von Schule, Jugendhilfe, Wirtschaft, kulturellen Einrichtungen und Organisationen sozialer Dienstleistung getragen wird. Um lokale Bildungsräume gestalten und entwickeln zu können, bedarf es jedoch geeigneter Instrumente der Steuerung. Dazu sollten Jugendhilfe- und kommunale Schulplanung stärker aufeinander bezogen und beispielsweise Beratungsbüros für die Gestaltung von lokalen Bildungsräumen eingerichtet werden. Ziel wäre es, in Stadtteilen ein Netz von Bildungsagenturen aufzubauen, das den engen Rahmen des "Schul"systems verlässt, um zu einem wirklichen .Bildungsvsystem zu werden (Otto/Oelkers 2004) . Noch immer erfolgt jedoch die Gestaltung von Bildungsräumen allenfalls bezogen auf die Entwicklung des lokalen Schulsystems, nicht auf die einer Bildungslandschaft, mit einer konsequenten Verzahnung und Vernetzung formaler, non-formaler und informeller Lernorte und Bildungsangebote. 3.2 Erwartungen und Forderungen an Betriebe. Unternehmen und Wirtschaftsverbände
Schulen sind darauf angewiesen, dass Betriebe, Unternehmen und Wirtschaftsverbände sich weitaus mehr als bislang darin engagieren, für alle Jugendlichen, und nicht nur für die Leistungsstarken, Praktikums-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze bereitzustellen. Die jahrelang seitens der Wirtschaft vorgetragene Kritik, in den Schulen würde nicht präzise genug an den Erfordernissen der Arbeitswelt entlang unterrichtet, ist überholt. Wo soll es denn in Deutschland noch Schulen geben, die im Unterricht keine gezielte Vorbereitung auf die Arbeitswelt durchfuhren? Wo werden keine Betriebs- und Sozialpraktika organisiert, in denen die Schülerinnen und Schüler Erfahrungen in und mit der Arbeitswelt sammeln können? Wo wird denn kein Bewerbungstraining durchgefiihrt und wo werden denn die Jugendlichen nicht nach zahlreichen Ablehnungen immer wieder neu für die Stellensuche motiviert? Die Einfiihrung eines Berufsbildungspasses, die Durchfiihrung schuljahresbegleitender Praxistage, die Gründung von Schülerfirmen oder Produktionsschulen - all dies sind Beispiele, die zeigen, was seitens des Bildungssystems geleistet wird, um die Ansprüche der Wirtschaft an den Nachwuchs zu befriedigen. Wird aber auch die Ökonomie den an sie gerichteten Erwartungen gerecht?
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Viele, und durchaus nicht nur große Unternehmen, haben sich ein am .Diversity Management" (Jung/Schäfer 2003) orientiertes Leitbild gegeben und sind in ihrer Belegschaft vielfältiger und "bunter" geworden. Untersuchungen und Projekterfahrungen zur Verbesserung des Zugangs von benachteiligten Jugendlichen zum Beschäftigungssystem zeigen immer wieder neu, dass Praktikums-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes allenfalls durch eine ,,Direktakquise" erschlossen werden können. In einem solch schwierigen Feld wie dem der beruflichen Förderung von Benachteiligten, sind in einem hohen Maße persönliche Kontakte, informelle Kommunikationswege, intensiv betriebene und passgenaue Bewerbungen sowie "Matching", also der Abgleich individueller Profile mit Stellenangeboten, erforderlich, um die Nischen des Arbeitsmarktes ausfindig zu machen und entsprechende Vermittlungen zu erreichen. Bei einer nachweislich wenig wirksamen Berufsberatung und -vermittlung der Arbeitsverwaltung ist es somit den Jugendlichen, ihren Familien und dem Engagement von Lehrkräften überlassen, ob eine Einmündung in das Beschäftigungssystem gelingt . Diversity Management müsste auch beinhalten, die Bemühungen benachteiligter Jugendlicher zu unterstützen. Jugendliche mit Migrationshintergrund scheiden oft auf Grund unzureichender Schulnoten und vieler Rechtschreibfehler schon im ersten Schritt des Bewerbungsverfahrens aus. Viele bestehen wegen fehlender Sprachkenntnisse die Einstellungstests nicht. Im Bewerbungsgespräch fehlt es ihnen häufig an Selbstbewusstsein, eigene Stärken können nicht benannt werden. Trotz Berufsorientierungsangeboten in den Schulen fühlen sich viele Jugendliche nicht ausreichend beraten, es fehlen ihnen differenzierte Kenntnisse über die unterschiedlichen Ausbildungswege. Die Jugendlichen haben häufig wenige Erwartungen an die Regeleinrichtungen der beruflichen Beratung, es finden sich zudem nach wie vor sehr wenige Ansprechpartner mit Migrationshintergrund im öffentlichen Dienst. Schule vermittelt bisher Wissen ohne einen Ansatz von Integration, Berufsorientierung an Schulen ist nicht gezielt genug und bezieht Eltern zu wenig ein. In Beratungseinrichtungen fehlt es an Mitarbeiterinnen, die interkulturelle Kompetenzen bei den Jugendlichen diagnostizieren können, Einstellungsverfahren der Firrnen sind bislang monokulturell angelegt. Im Dialog mit Unternehmen können solche Zugangsbarrieren verringert werden, es gilt zu vermitteln, dass Schulnoten nicht alles aussagen, vielmehr sollte die Bewerberauswahl in Firmen so verändert werden, dass die interkulturellen Kompetenzen der Jugendlichen Berücksichtigung finden.
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3.3 Erwartungen und Forderungen an die Medien Die Schule ist ein Lieblingsthema der Medien. Zumeist konzentriert sich die Berichterstattung auf die angeblich katastrophalen Verhältnisse im deutschen Bildungssystem: Die Lehrkräfte werden als überfordert, frustriert, ausgebrannt und faul beschrieben, die männlichen Schüler als gewalttätig und lustlos, die Schülerinnen als desinteressiert; Eltern, so heißt es, kümmerten sich zuwenig um ihre Kinder, förderten diese nicht ausreichend. Je ,bunter' eine Schule ist - je höher also ihr Migrantenanteil- als desto schwieriger gelten die Verhältnisse in solchen Einrichtungen: Regulärer Unterricht, so wird in Zeitschriften und Fernsehdokumentation berichtet, könne nicht stattfinden, weil die Kinder keine ausreichenden Deutschkenntnisse hätten; behinderte, verhaltensauffällige oder Migrantenkinder hemmten den Fortgang der anderen Schüler; ebenso werden sie dafür verantwortlich gemacht, dass Deutschland bei internationalen Schulleistungsvergleichen recht schlecht abschneidet. Die Medien sind in einem erheblichen Maße beteiligt, das Bild zu zeichnen und zu reproduzieren, dass es äußerst schwierig sei, in Schulen mit heterogener Schülerschaft zu unterrichten, und dass es deshalb besser sei, möglichst homogene Lemgruppen zu schaffen und somit wieder angeblich ,normale Verhältnisse' herzustellen. Die Medien können und müssen dazu beitragen, das Thema Migration entsprechend der gesellschaftlichen Realität zu platzieren und einen Blickwechsel hin zur angstfreien Betrachtung von Unterschiedlichkeit zu ermöglichen. Lassen sich die Medien vom hegemonialen Diskurs der Mehrheitsgesellschaft dominieren oder fördern sie diesen sogar noch wissentlich durch eine meinungsmachende, polemische Berichterstattung gegen Minderheiten, tragen sie zur Zersplitterung und Polarisierung der Gesellschaft bei. Ein berüchtigtes Beispiel ist die bereits mehrfach ausgestrahlte Fernsehdokumentation "Nix Deutsch - Eine Schule kämpft für Integration" des Norddeutschen Rundfunks über die Schule Slomanstieg in Hamburg-Veddel. Der Film zeichnet das Bild unvereinbarer Gegensätze zwischen muslimischen Einwanderern und hilflosen Deutschen; Väter werden gezeigt, die ihre Töchter vom Schwimmunterricht fern halten; strenggläubige Muslime, die nicht gewillt sind, sich mitteleuropäischen Werten und Normen anzupassen; Konflikte einzelner Schüler, die regelmäßig wegen der ethnischen Konflikte eskalieren. Doch: ,,Die Schule Slomanstieg taugt nicht als Beleg der heruntergekommen Ghetto-Schule. Anstatt Spuren des Vandalismus bietet sich dem Besucher ein erfreuliches Bild. Im Treppenhaus sind Kunstarbeiten der Schüler ausgestellt. Fotos und Schautafeln zeugen von regen Aktivitäten über den Pflichtunterricht hinaus . Die modeme und aufwendig ausgestattete Schulmensa bietet nicht nur den Schülern, sondern auch Gästen aus der Nachbarschaft ein kostengünstiges Mittagessen. Und mit der Aula, die mehr als 500 Menschen Platz bietet, drängt sich die Schule Slomanstieg dem Viertel als kulturelles Zentrum nahezu auf." (Seidel 2005: 49)
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Solange die Schule in den Medien vornehmlich als ein "Tollhaus" dargestellt wird, können sich Lehrkräfte noch so anstrengen, können sich Eltern noch so engagieren und können sich Schülerinnen und Schüler noch so Mühe geben, gegen eine solche Öffentlichkeitsarbeit ist nicht anzukommen. Nicht die Vielfalt - der Herkunftsländer, Sprachen, Lernbedürfuisse, Behinderungen und Problemlagen - der Kinder und Jugendlichen macht den Schulen den Alltag schwierig, sondern die mangelnde Unterstützung durch Politik, Wirtschaft und Wissenschaft für einen angemessenen pädagogischen Umgang mit der Vielfalt bringt Schulen in Schwierigkeiten . Es wäre wichtig, die Medien würden darüber regelmäßig berichten. Ebenso wäre es wünschenswert, in den Medien die ganz alltägliche pädagogische ,good practices' zu würdigen, doch eine ,normale' Schule hat kaum die Chance, in die Schlagzeilen zu gelangen. Schulen ziehen dann die mediale Aufinerksamkeit auf sich, wenn sie in einem sozialen Brennpunkt liegen und als ,Ghettoschulen' mit angeblich amerikanischen Verhältnissen denunziert werden können - oder wenn sie zu Modellprojekten werden. Multikulturelle Schulen haben immer noch ein Imageproblem, für das es keine Gründe gibt.
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Konsortium Bildungsberichterstattung (2006): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Im Auftrag der Kultusministerkonferenz und des Bundesministeriums fiir Bildung und Forschung. Bonn. OECD (2005) : Die Arbeitsmarktintegration von Zuwanderern in Deutschland. Paris . Otto, Hans-Uwe; Oelkers, Jürgen (Hrsg .) (2004) : Die andere Seite der Bildung. Zum Verhältnis von formellen und informellen Bildungsprozessen. Wiesbaden. Reich, Hans (1994) : Interkulturelle Pädagogik - eine Zwischenbilanz. In: Zeitschrift fiir Pädagogik, 40. Jg. S. 9-27. Seidel, Eberhard (2005): Stadtteilpalaver mit Ergebnis . In: Kleff, Sanem (Hrsg.) : Islam im Klassenzimmer. Impulse fiir die Bildungsarbeit. Hamburg, S. 47-53. Sauter, Sven; Schroeder, Joachim (2007): Heterogenität. Eine Einführung in eine bildungswissenschaftliche Grundkategorie. Studienbrief der FernUniversität Hagen . Schroeder, Joachim (2002): Bildung im geteilten Raum . Schulentwicklung unter Bedingungen von Armut und Migration. Münster: Waxmann. Schroeder, Joachim (2007): Recht auf Bildung - auch fiir Flüchtlinge. Aktuelle Regelungen, konzeptionelle Überlegungen und bildungspolitische Folgerungen. In: Die Deutsche Schule, 99. Jg., S.224-241 Unternehmer ohne Grenzen (Hrsg .) (2005): Schauen Sie doch mal genau hin! Vielfalt erkennen. Potenziale nutzen. Perspektiven entwickeln. Arbeit und Selbstständigkeit in der Hamburger Einwanderungsgesellschaft. Hamburg Weber, Martina (2003): Heterogenität im Schulalltag. Konstruktion ethnischer und geschlechtlicher Unterschiede. Opladen: Leske + Budrich
Heiliger Schrecken - schreckliche Heilige Ulrich Steuten
1. Zum Umgang mit religiöser Differenz Wie die erotische Natur unter allen Umständen erotisch ist, gleichviel ob sie schon einen Gegenstand der Liebe kreiert hat, oder überhaupt kreiert, so ist die religiöse Natur eben unter allen Umständen religiös, gleichviel, ob sie an einen Gott glaubt oder nicht.
GeorgSimmel, Religiöse Grundgedanken und moderne WISsenschaft. 1909
Nicht erst die Verwandlung des deutschen Kardinals Karl Ratzinger zu Papst Benedikt XVI. im April 2005 machte Religion in jüngerer Zeit zu einem Megatherna. Diverse andere Ereignisse hatten religiösen Themen in den letzten Jahren bereits wieder zu neuer Popularität verholfen. Selbst die jahrzehntelang an die Ränder der Gesellschaft geschobene Kirchenreligion rückte wieder ins Zentrum des alltäglichen wie auch wissenschaftlichen Interesses. Zum einen waren es dramatische Ereignisse, die diese Entwicklung einleiteten, zum anderen eher unspektakuläre, die aber eine mediale Dramatisierung erfuhren. Zu den ersteren sind die Anschläge des 11. Septembers 2001 zu rechnen, die die Welt in Schrecken versetzten und die der Angst vor fanatischen Gotteskriegern eine neue Dimension verliehen. Zu den letzteren darf man in Deutschland wohl den Streit um das Kopftuch zählen. Ein wiederum anderes, nicht weniger interessantes religiöses Phänomen ist das gelegentliche unerwartet heftige Aufflackern von Volksfrömmigkeit, wie es sich z.B. bei der massenhaften Marienverehrung in Marpingen im Sommer 1999 zeigte. Für das Wieder-Erstarken religiösen Interesses lässt sich auch die große Beteiligung an Veranstaltungen anführen, die zum einen durch eine Vermischung von religiösen Elementen mit politischen oder kulturellen gekennzeichnet sind, zum andern durch Verbindungen von Bestandteilen verschiedener Religionen auffallen. Aktuelle Gestaltungen von Gottesdiensten, Kirchentagen, Wallfahrten und Pilgerreisen zeugen davon genauso wie die steigende Zahl von Publikationen und Tagungen zum Dialog der Religionen.
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die These, die im Weiteren verfolgt und entfaltet wird, ist daher, dass Religion in modemen Gesellschaften keinesfalls obsolet geworden ist, sondern sich diversifiziert, also in neuen Kombinationen, Aktions- und Kommunikationsformen und Gestalten zeigt. Bestimmte Aspekte traditioneller Religionen werden dabei aufgegriffen, bestimmte andere ausgeklammert. Die Tendenz zu immer wieder neu zusammengefügten "diversen postmodernen Parareligionen" (Graf2004: 96) wird von traditionellen Kirchen als eine Herausforderung erkannt und auch beantwortet. Der Gang der Überlegungen setzt bei Befunden aus dem Alltag moderner Gesellschaften an. Die Durkheimsche Trennung von Heiligem und Profanem sowie RudolfOttos Verständnis des Heiligen werden dann zum Ausgangspunkt für den weiteren Gedankengang. Mit einem exemplarischen Blick auf Formen aktueller Heiligenverehrung kehrt die Argumentation in den Alltag zurück. In den Reaktionsweisen traditioneller Kirchen aufdiesen Wandel religiöser Bedürfnisse und Spielarten werden zuletzt aktuelle Tendenzen der modemen Gesellschaft offen gelegt.
2. Befunde - auf den ersten Blick Prozesse der Globalisierung und weltweiten Migration haben die unterschiedlichsten Religionen, oder zumindest einige ihrer Bestandteile, wie Waren nahezu überall bekannt und verfügbar gemacht. Betrachtete man Globalisierung zunächst in erster Linie als eine mit der Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes verbundene ökonomische Dynamik, die auf internationale wirtschaftliche Transaktionen gerichtet ist, so lässt sie sich heute längst auch im Sinne transkultureller und transreligiöser Strömungen und deren Folgen verstehen. Religiöse Ideen und Praktiken lassen sich im 21. Jahrhundert genauso wenig wie Kapital- und Datenströme auf ihre genuinen Einflusssphären begrenzen. Religion kann zudem seit jeher Ursache für und Folge von Migration sein (vgl. Hamburger 2006 : 90ft). Begegnungen mit dem .Fremdreligiösen" sind heute unmittelbar im alltäglichen urbanen Raum möglich: In jeder größeren deutschen Stadt existieren Moscheevereine, stellen sich Aleviten, Sikhs und andere religiöse Gemeinschaften aufmultikulturellen Festen vor. Weiterbildungseinrichtungen bieten Vorträge und Seminare über Buddhismus und indianische Religionen, über Kabbala und Sufismus, Klosterleben in Tibet und fernöstliche Praktiken der Meditation an. Interkulturelle Zentren und Selbsthilfegruppen geben die Möglichkeit zur Bewusstseinserweiterung und Selbsterfahrung durch schamanisches Trommeln und Tanzen sowie neue religiös-inspirierte Sensitivitätstrainings und Therapien. Verlage und knapp vierzig Zeitschriften widmen sich in Deutschland vornehmlich neuen religiösen Bewegungen. Unter den Überschriften "Esoterik" oder "New Age" füllen
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Buchhandlungen ganze Regale mit Literatur zu Mystik, Spiritualismus, Magie, Okkultismus, Yin und Yang, sowie charismatischen Meistem und Führern. Einige hundert freie charismatische Gemeinden sind seit den siebziger Jahren allein in Deutschland entstanden. Neben diesen direkten Begegnungsmöglichkeiten erfahren wir über Massenmedien von religiösen Gemeinschaften, Praktiken und Ideen in allen Winkeln der Erde. In den USA verbreitet die "Electronic Church" ihre Botschaften über mehr als 150 christliche Fernsehstationen, ca. 1600 Radiokanäle und selbstverständlich über das world wide web. In Deutschland startete kürzlich das Bistum Hildesheim mit Funcity ein katholisches Internet-Pendant zu Second Life (www.funcity.de) . Religiöse Angebote stehen somit in der globalisierten Welt längst auch in enger Konkurrenz zueinander. Etablierte Kirchen wie neue Glaubensgemeinschaften werben zwar seit je her mit der Versprechung von Erlösung, Heil, innerem und äußerem Frieden oder ewigem Leben um Mitglieder und Gefolgsleute, werden aber als konkurrierende Sirmanbieter in der modemen Gesellschaft gezwungenermaßen immer erfinderischer: "Religiöser Pluralismus erhöht religionsspezifischen Identitätspräsentationsbedarf." (Graf2004: 22) Die Palette der angebotenen Wege zum Seelenheil ist bunt und gut bestückt. Modeme Gläubige haben die Wahl zwischen strenger Gefolgschaft und Unterwerfung unter religiöses Regelwerk und temporärer Beteiligung am religiösen Event: Besinnung im Kloster oder Hiphop auf dem Kirchentag, Marienwallfahrt oder Kurzstopp in der Autobahnkirche, Hochamt oder Halfpipe to Heaven (vgl. Gronemeyer 1995: 27ft). Die Spannweite reicht von orthodoxen und fundamentalistischen Positionen über verschiedenste reformatorische Bewegungen, Kunstreligionen, Heilslehren bis hin zur schon erwähnten neuen Religiosität in der .Electronic church". Keine der alten Hochreligionen ist verschwunden und neben den traditionellen Kirchen existieren diverse Sekten, Denominationen sowie eine unüberschaubare Menge quasireligiöser (Paul Tillich) Gruppen und Verhaltensweisen. Von einer abnehmenden Präsenz oder Bedeutung der Religion in der Modeme kann also in der Tat nicht die Rede sein (vgl. Bukow 2001 : 123; Graf 2004: 56; Joas 2004: 15). Wie intensives sich auf das Vertraute wie das Fremdreligiöse einlassen, bestimmt das modeme Individuum selbst. Der aufgeklärte Staat hat diese Freiheit geschaffen und gewährleistet grundgesetzlich - in gewissen Grenzen - die Glaubensfreiheit und die ungestörte Religionsausübung. Aus diesem Gedanken religiöser Toleranz haben sich in der modemen multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft neben den erwünschten und akzeptierten Folgen auch manche unerwarteten und sogar unerwünschten Konfrontationen ergeben.
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Als eine Konsequenz der Globalisierung religiöser Phänomene ergeben sich für die Einzelnen sowohl Chancen als auch Probleme. Ulrich Beck hat sie mit dem Begriffder Individualisierung beschrieben. Folgt man Becks Analyse, so bedeutet Individualisierung dreierlei: (1) Die ,,Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge", (2), den "Verlust von traditionellen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen" und (3) "eine neue Art der sozialen Einbindung" (Beck 1986: 206). Individualisierung zwingt das Individuum dazu, ein eigenes Leben führen zu müssen. Alle drei genannten Dimensionen sind im Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung von Religion in der modemen Gesellschaft interessant. In der Gegenwartsgesellschaft vermag Religion angesichts ihrer fortschreitenden Diversifizierung zum einen weder eine gemeinschaftlich geteilte Weitsicht im Sinne von "Heimat" (vgl. Bukow 2001: 134) zu generieren noch ein alle überwölbendes Versorgungsgewebe zu garantieren. Zum zweiten befinden sich gerade die traditionellen Religionen im Hinblick auf die Vermittlung von Glaubensgewissheit in einer Krise . Und schließlich stellt gerade das durch die Globalisierung verfügbare Überangebot an Wahlmöglichkeiten hinsichtlich materieller Produkte, sozialer Kontakte und konkurrierender kultureller Stile den Einzelnen vor massive Bewältigungsprobleme. Ein Übermaß an Anschlussoptionen wirft das Individuum auf sich selbst zurück. Angesichts der neuen Nähe und Vielfalt des Angebots weltanschaulicher Darstellungsformen und Dienstleistungen haben sich die Situation und die Haltung des modernen Menschen somit grundlegend verändert. Gewissheit, welche die fraglose Zugehörigkeit zu einer stabilen Glaubensgemeinschaft Jahrhunderte lang verbürgt hatte, ist angesichts eines bunten Marktes leicht verfügbarer Offerten religiöser Sinnstiftung nicht mehr leicht zu erlangen. Die Verantwortung für die Lebensführung hat sich - insbesondere in der christlichen Religion - von der Gemeinschaft auf das Individuum verlagert. "Von guten Mächten wunderbar geborgen", wie es der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer in seinem Kirchenlied den Christen einst versprach, kann sich der Gläubige heute weder in der europäischen Heimat noch sonst wo auf der Welt fühlen. Verunsicherung gegenüber dem Religiösen bestimmt somit den Zustand des modemen Menschen. Als Ausweg aus dieser misslichen Lage bietet sich aber nur für die wenigsten eine totale Abkehr von allem Religiösen an. Einer Umfrage des Forsa-Instituts (Dezember 2005) zufolge glauben in Deutschland etwa zwei Drittel der Menschen anjenseitige Mächte. Interessanterweise glauben dabei mehr Menschen an die Existenz von
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Schutzengeln (66%) als an Gott (64%) . Dass es einen Teufel gibt, halten immerhin 27 Prozent der Befragten für möglich. Neben der Orientierung an den großen Kirchen suchen heute viele ihr Heil in sogenannten Ersatzreligionen. Und für nicht wenige triffi: zu, was der Konstanzer Soziologe Hans-Georg Soeffner vor einigen Jahren über das Verhältnis des modemen Menschen zur Religion behauptete: Wie ein Chamäleon, so Soeffner (2001 : 36), verhalte er sich dem Pluralismus gegenüber; zwischen den verschiedenen Angeboten der Sinnstiftung wechsle er je nach sozialer Umgebung bei Bedarf die Farbe. Im Zeichen von Globalisierung und Individualisierung werde das Individuum im Laufe seines Lebens zum "Weltanschauungstouristen", der aufbeständiger Sinnsuche auch zwischen den Religionen hin und her switche, Folgt man Ulrich Beck (2008: 43), so zeigt sich hier eine "neue spirituelle Kultur", die sich "ihre religiösen Inhalte und Praktiken nach Belieben ... zu Formen des .eigenen Gottes'" zusammenbastelt - und die in außereuropäischen pantheistischen Traditionen keineswegs ungewöhnlich ist. Bei näherer Betrachtung lassen sich die Einstellungen zu Religion, die der religiöse Pluralismus in den modemen westlichen Gesellschaften hervorgebracht hat, analytisch in den folgenden Dimensionen umreißen: •
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Religion als Übel: Aus dieser Position heraus werden ausschließlich die negativen Erscheinungsformen der Religion gesehen. Die "gebildeten Verächter der Religion" (Schleiermacher) haben seit jeher die Verheerungen missionarischen Eifers in Gestalt von Kreuzzügen, heiliger Inquisition, u. ä , Gräueltaten angeprangert. Aktuell liefern ihnen Terroranschläge im Namen eines Gottes, Diskriminierung von Frauen, rigide Sexualmoral und Hassprediger Argumente für ihre Sichtweise. Die sich daraus ergebende Haltung ist die des mehr oder weniger kämpferischen Atheismus. Religion als (temporärer) Nutzen: Vertreter pragmatisch-atheistischer Positionen erkennen im Rahmen einer ansonsten gleichgültigen Haltung gegenüber der Religion vorteilhafte Effekte religiöser Institutionen. Auch ohne an eine höhere Macht zu glauben bedienen sie sich religiöser Rituale, wenn es um ihre Hochzeit, Taufe, Bestattung ihrer Angehörigen, also um die Spendung von Segen und Trost geht. Religion wird hier zur Ressource für gelegentliche Momente der Erhabenheit, Besinnlichkeit und Trauer; gleichwohl aber auch zum Lieferanten von Normen und Werten für ethische Entscheidungen. Religion als Glaubensüberzeugung: Dies ist die Einstellung von Menschen mit authentisch empfundener und praktizierter Verbindung zu einer überirdischen Macht. Sie beziehen aus der Religion Kraft und Hoffnung sowie mit-
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unter Rat und Anleitung für ihre Lebensführung. Von der einfachen Volksfrömmigkeit bis hin zu intellektuellen Formen der Transzendenzbeziehung reicht das Spektrum. Religion als Experimentier- und Erlebnisraum: Religion wird hier als ein Raum für das Erleben und die Begegnung mit dem Außeralltäglichen neben anderen gesehen. Diese Einstellung scheint gegenwärtig vornehmlich bei Jugendlichen in Europa und Nordamerika verbreitet.
Freilich handelt es sich bei dieser Unterscheidung um eine idealtypische. Mischund Übergangsformen sind möglich, insbesondere zwischen Kategorie 3 und 4 bzw. 2 und 4; "Bekehrungen" und Wechsel der Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften desgleichen.
3. Weites oder enges Religionsverständnis Angesichts der Schwierigkeiten, anhand der skizzierten Phänomene die Rol1e der Religion in der modernen Gesel1schaft zu verorten, erscheint es zweckmäßig, von einem weiten beziehungsweise einem engen Religionsbegriffzu sprechen . Den einen Pol des Definitionsraumes bilden dann Verständnisweisen wie sie z. B. Thomas Luckmann (1996) in "Die unsichtbare Religion" dargestel1t hat: Bereits das universale menschliche Phänomen der 'Überschreitung der gattungsmäßigen biologischen Natur lässt sich demzufolge als ein universales religiöses Phänomen bezeichnen. Auch die Sichtweise des Theologen Paul Ti11ich von Religion als dem ,,zustand des Ergriffenseins von einem letzten Anliegen" geht in diese Richtung. Solche Verständnisweisen operieren ohne den Begriff des Göttlichen, des Heiligen oder des Übernatürlichen. Von einem engeren Religionsverständnis zeugen dagegen Sichtweisen, die mehrere Bestimmungsfaktoren als grundlegend erachten. Hierzu zählen Positionen, die Religion als ein System verstehen, dass aufein gemeinschaftlich verehrtes Heiliges bezogen ist. Durch Vorschriften und rituelle Handlungen bestimmt dieses den Glauben, die Einstellung und Verhaltensweise der Anhängerschaft und kontrolliert damit auch die Art und Weise ihrer Lebensführung. Durkheim (1981 :75) hatte Religion definiert als ein "solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken (ist), die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören." Diese Definition schließt Glauben (Vorstellungen) und Handeln (praktiken) zwingend ein; ebenso die Trennung einer profanen von einer sakralen Sphäre und die kollektive Form .
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Konzepte des Übernatürlichen, eine konkrete, gar personifizierte Gottesvorstellung sowie individualisierte Formen der Transzendenzerfahrung sind dagegen ausgeschlossen. Allein was unter "heilige Dinge, Überzeugungen und Vorstellungen" zu verstehen ist, bleibt begrifflich unscharf. Gerade diesen Aspekt gilt es jedoch genauer zu betrachten. Obwohl der Begriffdes Heiligen zu den Traditionsbeständen der Religionen und der Religionswissenschaften gehört, wird sich zeigen, dass er auch für das Verständnis religiösen Handeins in der Modeme sehr wohl geeignet ist. In Anlehnung an das Bild des "heiligen Baldachins ("sacred canopy", Peter Berger, vgl. auch Beck (2008: 31), der mehr und mehr nach Maßgabe rasch wechselnder gesel1schaftlicher Erfordernisse und individuel1 zuhandener Konstruktionsleistungen des modernen Menschen gestaltet wird, kann deutlich gemacht werden, welche Transfonnation das "Heilige" im zwanzigsten Jahrhundert erfahren hat.
4. Das Heilige Fünf Jahre nach Durkheims Veröffentlichung erschien 1917 die Arbeit des Religionswissenschaftlers RudolfOtto über "Das Heilige" nicht nur Theologen(innen), auch Sozialwissenschaftler(innen) haben Ottos grundlegendes Konzept aufgegriffen. Angesichts aktuel1 nachweislicher "mehr oder weniger intensive(r) Suchbewegungen ... , um mit dem heiligen (wieder) in Kontakt zu kommen", diskutieren beispielsweise Failing und Heimbrock (2001: hier 193) Aspekte seiner religionswissenschaftlichen und religionspädagogischen Implikationen. Laut Otto darf das Heilige nicht mit dem Sittlich-Moralischen oder dem "Guten" verwechselt werden. Es kommt in al1en Religionen vor, es ist "ihr eigentlich Innerstes", ohne dieses "wären sie garnicht (sie) Religion" (Otto 1963: 6), denn Religion ist die substanziel1e Erfahrung des Heiligen. Um Verwechselungen zu vermeiden und um Unterarten dieses rational nicht fassbaren Besonderen kenntlich zu machen, schafft Otto dafür ein neues Wort: Das Heilige, so wie er es verstanden wissen will, ist das ,,Numinose" (von lat. numen = Wink, Zeichen, Gottheit). Das Numinose hat laut Otto einen Doppelcharakter. Es beinhaltet eine .Kontrastharmonie", denn es ist zum einen etwas, das erschreckend wirkt zum anderen geht von ihm aber auch etwas Anziehendes aus. Den ersten Teil des Numinosen nennt Otto das Tremendum, den zweiten das Fascinans. Das Tremendum ist das Erschreckende am Numinosen. Sein Erleben löst beim gläubigen Menschen spezifische Gefiihlsreaktionen aus, es lässt ihn angesichts des Heiligen erschaudern und erzittern. Die Erfahrung des "heiligen Schauer", kann sich in verschiedenen Formen und Intensitäten vollziehen. In jedem Fall erlebt der Gläubige das Heilige jedoch als eine mächtige, ja übennächtige Gewalt. Sofern es
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ihm in Gestalt eines Gottes begegnet, erscheint ihm dieser als unnahbarer, energischer, Ehrfurcht gebietender, zürnender oder strafender Gott. Dämonische Scheu, Ehrfurcht, Gehorsam und Demut sind Reaktionsweisen auf diese Begegnung mit dem Heiligen. Der Aspekt des Tremendums ist es auch, der dem Menschen das Gefühl seiner eigenen Nichtigkeit vermittelt, ihn verstummen lässt und zu Sühne und Opfergaben motiviert um göttlichen Zorn zu stillen oder abzuwenden. Neben diese "sinnverwirrende" Wahrnehmung des Numinosen tritt gleichzeitig eine "sinnberückende": Im Fascinans wird das Numinose das "Sinnberückende, Hinreißende, seltsam Entzückende, das mitunter zum Taumel und Rausch sich Steigernde" (Otto 1963: 42). Es wird als wundervoll und im positiven Sinne überwältigend erfahren; die Begegnung kann geheimnisvoll bis rauschhaft-ekstatisch erlebt werden, ein Seligkeitsgefühl tritt ein, Liebe, Erbarmen, Mitleid und Hilfsbereitschaft sind Momente, die mit dieser Erfahrung einhergehen. Der Kontakt mit der numinosen Macht, in dem der Mensch sich selbst anders als gewöhnlich erlebt und mit der er sich doch aufs Engste verbunden fühlt, ermöglicht ihm die Erfahrung der Transzendenz. Der Soziologe Hans Joas beschreibt diese Erfahrungsdimension knapp hundert Jahre später als eine des "Hinausgerissenwerdens über die Grenzen des eigenen Selbst, eines Ergriffenwerdens von etwas, das jenseits meiner selbst liegt, einer Lockerung oder Befreiung von der Fixierung aufmich selbst." (Joas 2004: 17; vg1. auch Berger 1981: 34ft) Das Verlangen, sich selbst anders als in der gewöhnlichen Alltagsroutine zu erfahren, Grenzen zu überschreiten, sich auf neue, unbekannte Erlebnisse einzulassen, ist allen Menschen zu Eigen. Es ist wie das Vermögen dazu bei jedem Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt und wird nicht in allen Lebensphasen gleichermaßen stark empfunden und gesellschaftlich toleriert. Die Möglichkeiten, Grenzen des Alltäglichen zu durchbrechen, sind in jeder Kultur und Gesellschaft kontrolliert; je nach Grad der gesellschaftlichen Liberalität existieren mehr oder weniger legalisierte Formen. Staatliche Sanktionierung und soziale Ächtung von Gewalt, Drogenkonsum und sexueller Ausschweifung belegen auf der einen Seite die Kontrolle der Grenzen, wie avantgardistische Kunst, die Erfindung neuer Extremsportarten und Abenteuerurlaube vom Verlangen nach Grenzüberschreitung zeugen (vgl. Hitzler 2000 : 402). "Mitten in einer zweckrational verfassten Gesellschaft brechen Menschen aus, suchen Sonderräume zur Begegnung mit dem Außeralltäglichen, dem Transzendenten, dem Heiligen." (Failing/Heimbrock 2001: 194) Modeme religiöse Systeme reagieren darauf im Rahmen der gesellschaftlichen Möglichkeiten. Sie organisieren die Erfahrung des Heiligen in zeitgemäßen Kontexten.
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5. Auf den zweiten Blick: Religiöse Phänomene in der modernen Gesellschaft Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass von einem Verschwinden des Religiösen in den modemen Gegenwartsgesellschaften keine Rede sein kein. Wenngleich Religion in ihren traditionellen Ausgestaltungen tendenziell an Anziehungskraft verliert, so lässt sich dennoch "in diversen Lebenswelten viel Religion finden" (Graf2004:56). Zwar verzeichnen die großen christlichen Kirchen in Europa Mitgliederschwund, doch ist dies weniger ihren Inhalten sondern eher überkommenen Organisationsstrukturen zuzurechnen und gilt genauso für vergleichbare Großinstitutionen wie Parteien und Gewerkschaften. Bei genauerem Hinsehen erweist sich vielmehr, dass hier zum einen eine spezielle Einstellung des modernen Menschen bestimmend ist: Es die Abneigung in Großorganisationen langfristig feste Bindungen einzugehen, sich in zementierte Hierarchien einzuordnen und sich starren Routinen zu unterwerfen. Zum anderen spielt der zunehmende Pluralismus religiöser Erscheinungsformen jenseits institutionell verfasster Religion bei dieser Entwicklung eine nicht zu unterschätzende Rolle. Einige aktuelle Veränderungen sollen exemplarisch näher betrachtet werden, wobei es darum gehen wird, "Heiliges auch in (genuin, U.S.) nicht-religiöser Sphäre weiter zu verfolgen" (Failing/Heimbrock 2001 : 206). Der Blick konzentriert sich dabei aufTendenzen, die aktuell überwiegend in Mitteleuropa und Nordamerika zu beobachten sind.
6. Exkurs: Irdische Götter Das meistbesuchte Gebäude der Vereinigten Staaten von Amerika ist der Amtssitz des Präsidenten, das Weiße Haus in Washington. Das am zweithäufigsten besuchte Gebäude ist ein Wohnhaus auf einem privaten Landsitz in Memphis, Tennessee : Sein klangvoller Name lautet Graceland, Land der Gnade, Land der Anmut. Hier lebte zuletzt der "King ofRock n'Roll", Elvis Presley. Jährlich kommen ca. 700.000 Menschen auf das Anwesen, das zu einer Kultstätte umfunktioniert wurde. Es präsentiert sich den aus aller Welt anreisenden Pilgern als Gedenkstätte und Museum zum Leben und Wirken des 1977 verstorbenen Musikers. Neben der Möglichkeit zum stillen Gedenken an seinem Grab im Meditation Garden, der Besichtigung seines Musikstudios, seines Wagenparks und seiner achtzehn Fernseher, bietet es Devotionalien zum Kauf an. Kopien von Gegenständen, die auf dem Lebensweg des verehrten Königs eine Rolle spielten: Seinen Führerschein, seine Sonnenbrille, die erste vergoldete Schallplatte, Kugelschreiber mit Motiven entscheidender Lebensstationen, Kaffeetassen und Dollamoten mit seinem Bild (In
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God we trust) und vieles andere mehr. Originalschweiß des Idols in kleinen Parfiimfläschchen und Plastik-Säckchen mit Graceland-Erde für knapp zehn Dollar gehören zu den Verkaufsschlagern. Eine Warze, die ihm 1957 angeblich operativ entfernt wurde, und das Mikrophon, in das er seine erste Aufnahme hinein sang, sind als Reliquien ausgestellt. Wer mehr vom Leben seines Idols sehen möchte, kann sich von hier aus auf die Elvis Memorial Tour begeben. Zweimal täglich starten Busexkursionen zu den Orten in Memphis, wo der spätere King etwas mitgenommen oder hinterlassen hat: Zum Kleiderladen, wo er seinen ersten Anzug für die Bühne erstand, zum Pfandleiher, wo seine Mutter ihm seine erste Gitarre kaufte, zur ersten Arbeitsstätte, zur Highschool, zum Schallplattenstudio Sun Records, wo seine göttergleiche Bahn ihren Ursprung hat, und natürlich zum Baptist Memorial Hospital, wo der Tod des Zweiundvierzigjährigen festgestellt wurde . Man kann den Spuren des Meisters auch im Stil einer Fußwallfahrt folgen : Wie im Stadtplan von Jerusalem alle Orte verzeichnet sind, die in Verbindung mit Jesus stehen, so verzeichnet der Elvis-Presley- Stadtplan alle Stationen, die eine Bedeutung im Leben Elvis' hatten. Gläubige Verehrer lassen auch das Krankenhaus nicht aus, in dem er ein Wunder getan hat. Auf der Entbindungsstation legte er einst seine Hände auf den schmerzenden Leib einer Hochschwangeren und verhieß ihr, die Schmerzen würden auf der Stelle vergehen - was Sekunden später auch geschah. Dass die kultische Verehrung des Messias aus Memphis weder ein Strohfeuer noch ausschließlich auf die USA begrenzt war, bewies jenseits des Ozeans 1998 die deutsche Seestadt Bremerhaven. Hier setzte der Heilsbringer vierzig Jahre zuvor als Soldat der US. Army seinen Fuß zum ersten Mal auf deutschen Boden. Anlass genug, in einer 40-Jahr-Feier mit Enthüllung einer Gedenktafel, Sonderausstellung sowie einem eigens komponiertem Musical seiner zu gedenken und sich durch kollektives Verspeisen einer Elvis-Erinnerungstorte eine Stück seiner Heiligkeit einzuverleiben. In Tausenden von Imitatoren feiert er ohnehin täglich seine Auferstehung. Was hier über die Kultfigur Elvis Presley geschildert wurde, ließe sich in sehr ähnlicher Weise für eine Reihe anderer irdischer Götter sagen. Sie finden sich seit den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zunehmend in den Gefilden der populären Musik und des Sports. Mitunter erlangen sie (kurzzeitig) einen größeren Bekanntheitsgrad als traditionelle Religionsfiihrer. Ihre Anhängerschaft verteilt sich über den gesamten Erdkreis, ihr bloßes Erscheinen auf den Konzertbühnen und in den Sportarenen der Welt wird gefeiert wie eine Heilige Messe . Zeichen der Huldigung und der Verehrung werden ihnen entgegengebracht, die Gemeinde der Fans (und clevere Marketingagenten) bereiten ihnen Kultstätten und bringen
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ihnen Opfergaben. Baseball- und Fußballstadien werden in allen Kontinenten zu heiligen Orten ("Toni, (Turek, Torwart der WM-Mannschaft von 1954, U.S.) du bist unser Fußballgott!"), Hard Rock-Cafes zu Reliquienschreinen gottgleich verehrter Heroen ("Clapton is God"), Letztere geben sich heute längst nicht mehr wie Elvis Presley mit dem Namen eines Sterblichen zufrieden geben, sondern nennen sich Judas Priest, Nirvana oder Madonna und verorten sich allein dadurch in einem religiösen Kontext. Freilich ließe sich einwenden, dass es sich hierbei häufig um relativ kurzlebige "Heilige" handelt; doch wer erinnert sich andererseits heute noch an St. Venerius oder den heiligen Blasius? Was unterscheidet letztlich die Erfahrung einer Heiligen Messe von der, eines Rockkonzerts oder während eines Bundesligaspiels? Die Konzerthalle, das Stadion wird zum sakralen Raum, die Gemeinschaft der Gleichgesinnten (Fans) erlebt "Momente der Verschmelzung" (Taylor 2002 : 78), die ein kollektives WirGefühl erzeugen, die Show folgt einer quasi-religiösen Liturgie vom "Introitus", dem Einzug der Priester, bis zum .Jte, missa est", quasi der Entlassung nach der Zugabe. Ihre Inszenierung erzeugt euphorische wie auch ekstatische Gefühle, zielt auf .Kick-" und .Flow-Brlebnis", aufAusbruch des Ichs aus der Wirklichkeit des Alltags, auf die Begegnung mit einem Numinosen. Für den Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit, Pierre de Coubertin, der eine "Religion der Muskelkraft" stiften wollte, war Sport deshalb "eine Religion mit Kirche, Dogma, Kultus ..., aber besonders mit einem religiösen Gefühl" (zit. nach Koch 2002 : 93). Avery Brundage, ehemaliger Präsident des IOC, hielt die Olympische Bewegung für die Religion des 20. Jahrhunderts, für eine Religion mit universalem Anspruch.
7. Reaktionen auf konkurrierende Sinnstifter Interessant werden nun die Reaktionen der großen etablierten Religionsgemeinschaften, also beispielsweise der christlichen Kirchen in Nordamerika und Europa, aufdiese neuen Konkurrenten. Auf dem globalen Markt der Sinnstifter müssen sie sich behaupten. Dabei haben sie es nicht leicht, denn sie müssen nachweisen, dass ihr "Firmenschild, wenn es nur dem Zeitgeist abgeguckt ist, noch irgendetwas Besonderes verspricht" (Berger 1981: 30). Die Herausforderer haben eine Reihe von Vorteilen auf ihrer Seite : Sie sprechen die Umworbenen als autonome und selbstbewusste Individuen und nicht als erlösungsbedürftige Sünder an, verlangen weder dauerhafte Bindungen noch Unterwerfung unter starre Hierarchien und präsentieren sich mit diversen trendkonformen Service- und Unterhaltungsleistungen. In den USA, die seit ihrer Gründung bewusst auf eine Staatskirche und Staatsreligion verzichteten, haben sich unzählige Sekten und Denominationen von An-
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fang an auf Konkurrenz eingestellt. Die individuelle Gläubigkeit ist hier mit den Gesetzen von Angebot und Nachfrage aufs Beste kompatibel. Religiöse Gruppierungen christlicher Provenienz verhalten sich daher zunehmend wie Wirtschaftsunternehmen auf dem globalen Markt. Sie missionieren offensiv bis aggressiv und bieten neben Glaube, Hoffnung und Liebe eine Palette sozialer Dienstleistungen. Wachsende Mitgliedszahlen und positive Bilanzen dienen als Mittel der Überzeugung. Wirtschaftlichen Erfolg als einen Ausdruck göttlichen Wohlgefallens zu deuten, ist für den evangelikalen Nordamerikaner völlig fraglos - und selbstverständlich die beste Werbung für die religiöse Community. In den Staaten der alten Welt, in der sowohl die Modelle des Laizismus, der Staatskirche, als auch das der Toleranz verschiedener Weltanschauungen nebeneinander ("Versäulung") existieren, ist eine derartige Marktorientierung mittlerweile genauso weit fortgeschritten. Auch hier reagieren die christlichen Kirchen mit "verschiedenen Ansätzen der Neudefinition und Umbildung" (Taylor 2002: 96) und offerieren zum Teil skurrile Angebote (vgl. Gronemeyer 1995: 27ft) . Konzentriert man sich beispielsweise auf Deutschland so lassen sich drei Tendenzen erkennen. •
Zum ersten lässt sich der immer wieder konstatierte Schwund der Gläubigen bei genauerem Hinsehen nur als ein Rückgang an der Teilnahme an den Veranstaltungen traditionellen kirchlichen Lebens, also beispielsweise an den gewöhnlichen sonntäglichen Gottesdiensten, feststellen. Dort wo Kirchen sich zunehmend auch auf den religiös-pragmatisch orientierten Typus einstellt, weniger Ansprüche an ihre Mitglieder stellt und stattdessen spezielle karitative "religionsförmige" oder .religionsbaltige" Dienstleistungen bereitstellt, wird sie in dieser Weise auch angenommen. Dies kann unter Inkaufnahme oder unter Ausblendung des dazugehörenden christlichen Wertekodex geschehen. Geheiratet wird, beispielsweise, nicht nur standesamtlich sondern auch vor dem Altar, denn wo sonst fände sich eine authentischere Szenerie für das Bedürfnis nach zeremonieller Erhabenheit. Der einwöchige Chill-Out-Urlaub im Kloster (auf Wunsch mit Meditation, Weinprobe im Klosterkeller und Heilkräutern aus dem Klostergarten) verheißt dem gestressten Manager neue Kraft für den Beruf. Auch ohne den Glauben an das "Heilige" greift man gern auf die verhaltenssichernde Kraft der Rituale zurück. Auf Seiten der christlichen Kirchen wird hier der Wert einer Marktlücke erkannt und genutzt. Gemäß dem schon in den sechziger Jahren von Peter Berger entwickelten Marktmodell "religious economics") ist das Prinzip des "Selling God" (vgl. Moore 1994) bis in die Gegenwart professionell weiter entwickelt worden. Was sich einerseits in der Bereitstellung und andererseits in der temporären Inanspruchnahme "religionshaltiger" Leistungen
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zeigt, ist genau der Wandel vom Mitglied einer Glaubensgemeinschaft zum Kunden einer Dienstleistungseinrichtung (vgl. Bukow 2001 : 129ft) . Letztere versteht es dabei mehr und mehr, den Restwert eines traditionsreichen Symbolsystems geschickt zu vermarkten. Die vor Jahren von Peter Berger geäußerte Empfehlung an die europäischen Kirchen, sich in eine McJesus, Inc. umzuwandeln, ist offenbar in Teilen bereits in Angriff genommen worden (vgl. Leggewie 2005 : 4). Zum zweiten zeigt sich, dass christliche Kirchen gegenwärtig dort mit Aufmerksamkeitsgewinnen rechnen können, wo sie Religion an aktuelle politische und globale Problematiken koppeln (vgl. Bukow 2001 :131). Verbale Positionierungen und praktische Aktionen gegen Krieg, Zerstörung der Natur, Hunger und Armut in der Einen Welt liefern Deutungen und verschaffen dem individualisierten Einzelnen Orientierung. Kampagnen unter dem Motto "Bewahrung der Schöpfung" erfordern nicht zwingend eine dauerhafte Zugehörigkeit zu einer Kirche, sondern allenfalls punktuelle Aufmerksamkeit. Auch das sporadische Dabeisein bei herausragenden religiösen Veranstaltungen vermag Fragen zu beantworten, die Komplexität des Weltgeschehens zu reduzieren und ein - zumindest bis zum nächsten Großevent - tragfähiges Verbundenheitsgefühl auszulösen. Zum dritten ist deutlich zu erkennen, das zeitgemäße Präsentationsformen für die Vermittlung von Glaubensinhalten entwickelt werden. Zwar bestehen auch alte Formen weiter - schließlich darf man den traditionsverhafteten Gläubigen nicht aus den Augen verlieren - doch ist eine Tendenz zu einem modemen religiösen Corporate Design unübersehbar. Das Schlüsselwort lautet auch hier "event". Ob Kirchentag, Weltjugendtag, Pilgerfahrt, Pfarrfest oder Gottesdienst, die religiöse Veranstaltung ist kaum noch Fest oder Feier, sondern zunehmend Event (vgl. Ebertz 2000 : 348ft). Soziologisch gesprochen heißt das, sie wird zur strategisch geplanten, vor-produzierten, passageren Gelegenheit, "zur massenhaften Selbstinszenierung der Individuen auf der Suche nach einem besonderen ... , eigenen Leben" (Hitzler 2000 : 402). Die Besonderheiten des Events, nämlich, Vergemeinschaftung, Außergewöhnlichkeit, Vermischung kultureller und ästhetischer Stilformen, Multimedialität, Partizipation des Publiknms und das Versprechen neuer Erfahrungsqualitäten folgen einerseits der Logik globaler Vernetzung, gewähren dem Individuum andererseits aber auch die Chance der unverbindlichen Verbindung. In der Wahl des Events als einer Vermittlungsform religiöser Inhalte zeigt sich der Versuch der traditionellen Kirchen, die Anschlussfähigkeit von Religion an die Modeme zu gewährleisten. Angesprochen von
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Angeboten dieser Art fühlen sich insbesondere solche, die in der Religion auch ein Experimentierfeld für neue Erfahrungen sehen. Charles Taylor spricht angesichts dieses .neuen expressivistischen Glaubenssystem(s)", in dem keine Notwendigkeit mehr besteht, "unsere Verbindung mit dem Sakralen in irgendeinen besonderen, größeren Rahmen einzufügen" (Taylor 2004: 85) auch von einem "post-durkheimianischen Zeitalter" (2004 : 95t). Die Bereiche des Profanen und des Sakralen sind nicht mehr klar von einander abzugrenzen.
8. Fazit: Die Suspendierung des Tremendum Die zentrale Funktion der Religion besteht in einer pluralistischen Gesellschaft nach wie vor darin, Sinn anzubieten. Über die Bereitstellung von zeitgeist-kompatiblen Sinnangeboten leistet sie wie zu allen Zeiten unverzichtbare Integrationsleistungen für Gemeinschaften und Gesellschaften. Religion wirkt somit grundsätzlich intern stabilisierend. Sie festigt Individuen und Gemeinschaften im Inneren, markiert aber auch deren Grenzen nach außen. Sie einigt Menschen, die an das Gleiche glauben, separiert sie damit aber auch vor denen, die andere Götter verehren. Dies muss nicht zwangsläufig zu Konflikten führen. Erst da, wo konkurrierende religiös motivierte Sinnangebote auf einem globalen Markt in aggressiver missionarischer Weise proklamiert und Deutungsmonopole dessen, was als Heiliges gelten soll, reklamiert werden, ist globale Integration gefährdet. Aus den vorangestellten Betrachtungen zur Bedeutung und Überlegungen zur Veränderung von Religion in einer globalisierten Welt lässt sich versuchsweise eine zentrale These ableiten. Sie bezieht sich auf die dargelegten Beobachtungen der Veränderungen im Umgang mit dem Heiligen und fokussiert insbesondere dessen Präsentation und Vermarktung in der Modeme. Agenten der großen christlichen Kirchen in Europa und Nordamerika, aber auch eine Vielzahl von Denominationen und neue religiöse Bewegungen thematisieren das Heilige im "post-durkheimianischen Zeitalter" nicht mehr als ein Konglomerat von Tremendum und Fascinans. Zwar ist ihnen das Heilige nach wie vor ein Außeralltägliches. Attraktiv ist für den Menschen der modemen Gesellschaft jedoch nur die Erfahrung des Fascinans. Folglich wird ihm allein diese von den modemen Sinnagenturen versprochen. Die Erfahrung des Erschrecken oder Erschaudern (also das Tremendum) wird aber weitgehend ausgespart, denn die Aussicht, der eigenen Nichtigkeit im Kontakt mit dem Heiligen gewahr zu werden, stellt für jeden aufgeklärten Menschen eine Kränkung dar. Ein Gott, der erschaudem lässt, ist - insbesondere im Vergleich zu den irdischen Göttern einer Spaß-
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gesellschaft - schlichtweg unattraktiv. Religiöse Gemeinschaften, die von einem zürnenden Gott sprechen, stehen daher heute hoffnungslos aufverlorenem Posten. Ein Indiz für die Ausblendung der Seite des erschreckenden und strafenden Gottes ist im Katholizismus z. B. in der Veränderung des Beichtrituals zu erkennen (vgl. Hahn 1982). Neben der Jahrhunderte lang obligatorischen individuellen Ohrenbeichte, die eine lückenlose Offenlegung der begangenen Sünden gegenüber einem Priester verlangte, wurde Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auch die Form einer gemeinschaftlich praktizierte Beichtandacht geschaffen. Damit - und mehr noch in der Möglichkeit heute anonym im Internet zu beichten - wurde dem Gläubigen eine psychische Entlastung geschaffen. Das Erschreckende ist damit jedoch nicht gänzlich aus dem religiösen Denken verschwunden. Es wird lediglich aus der je eigenen Religion ausgelagert und zu einem gewissen Teil vermeintlich rückständigen, fundamentalistischen oder extremistischen religiösen Gruppierungen zugeordnet. Erschreckend ist aus dem ethnozentrisch ausgerichteten Blickwinkel des Christen gegenwärtig der Terror islamistischer Gotteskrieger und Hassprediger (vgl. Hamburger 2006: 88f). Ein anderes Indiz für eine solchermaßen "halbierte" Religion ist in der Inszenierung der Erfahrung des Heiligen in der Form des Events zu sehen. Auch dabei ist das Fascinans ohne das Tremendum zu haben. Die Begegnung mit dem Numinosen wird im religiösen Event nur noch als räumlich und zeitlich limitierter, wohltuender, befreiender oder erlösender Akt in Aussicht gestellt. Davon zeugen nicht nur Jugendbewegungen wie "Jesus-People" und .Jesus-Preaks", "Go-in-Gottesdienste" sondern in den letzten Jahren auch immer häufiger die Inszenierungen von religiösen Großveranstaltungen wie beispielsweise des Weltjugendtages in Köln 2005 . Die Agenten des Religiösen scheinen zunehmend darauf bedacht, ,,religiöse Deutungen zu veralltäglichen und so zu trivialisieren, dass sie ankommen" (Bukow 2001: 135). Dabei gilt es freilich darauf zu achten, die vielfältigen und zum Teil sehr speziellen Bedürfnisse der religiösen Sinnsucher zu befriedigen. In einer global vemetzten Welt mit hoher Ideenzirkulation unterliegen diese zudem einem raschen Wandel. Entsprechend sind permanent mannigfaltige religiöse Güter und Dienstleistungen in unterschiedlichen Darreichungsfonnen bereitzustellen. Dass individuell belastende Produkte in der Regel nicht gefragt sind und somit quasi auf der Strecke bleiben, wurde bereits gesagt. Die Mehrzahl der religionshaltigenAngebote besteht daher aus konkurrenzfähigen light-Produkten. Unattraktive Bürden wie Reinheit und Keuschheit sind in der Modeme schwer verkäuflich und werden daher gegenwärtig fast überall vom Markt genommen. Zur religiösen Vielfalt gehören gleichwohl immer noch auch "harte Religionen" (Graf2004: 29) . Sie verlangen ihren Konsumenten zwar ein hohes religiöses, so-
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ziales und - nicht selten auch - finanzielles Engagement ab, offerieren dafür aber familienähnliche Strukturen mit hohen Solidaritätsgarantien und tiefem Geborgenheitsgefühl. Damit werden sie für jene interessant, die gerade angesichts eines ausufernden religiösen Marktes die sichere Burg suchen . Die Prognosen des Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz, der angesichts solcher Beobachtungen von "Religionen ohne Dogma" und .Kultmarketing" (1995) spricht, wie auch die des Freizeitforscher Matthias Horx (1996), der die Nachfrage nach religiösen Inhalten in leicht konsumierbarer und bekömmlicher Form bereits vor einigen Jahren treffend als "Glaube light" bezeichnet hatte, haben sich bestätigt. Vieles deutet somit tatsächlich daraufhin, dass nach den Verwandlungen von Erziehung und Bildung (education) zu Edutainmaint sowie Politik zu Politainment Religion in den Multi-Optionsgesellschaften des 21. Jahrhunderts zu Relitainment wird.
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Heiliger Schrecken - schreckliche Heilige
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Berliner Diversitäten: Das immerwährende Werden einer wahrhaftigen Metropole Stephan Lanz
Berlin besitzt heute auf globaler Ebene das Image einer kosmopolitischen, durch eine dynamische, ethnische und kulturelle Diversität charakterisierten Metropole. Dieses Bild der Stadt korreliert zunehmend mit Alltagserfahrungen, wonach öffentliche Räume in innerstädtischen Quartieren wie Mitte, Kreuzberg oder Neukölln eine, wenn man so will, babylonische Vielfalt von Sprachen oder kulturellen Zeichen aufweisen, die man bisher lediglich von Weltstädten wie New York oder London zu kennen meinte. Noch vor kurzem herrschte in der deutschen Stadt eine Wahrnehmung vor, welche zwar auf Seiten der einheimischen Mehrheitsgesellschaft eine Diversität der Lebensstile erkannte, die mit Gastarbeitermilieus gleichgesetzten Einwanderer hingegen lediglich als Angehörige vermeintlich homogener ethno-nationaler Kulturgruppen im Blick hatte . Im folgenden Text analysiere ich am Beispiel Berlins die Frage, inwiefern, warum und aufweIche Weise sich diese Imagination einer Stadt, in der Einwanderer als Fremdkörper galten oder zumindest als vermeintlich ,Andere' auf Distanz gehalten wurden, in eine Imagination der Stadt als ethnisch und national diversitäre Metropole transformiert hat. Dafür möchte ich Dispositive rekonstruieren, die das Handlungsfeld Migration/Stadt politisch bearbeiten, und dabei auf städtischer wie nationaler Ebene deren Kernelemente identifizieren sowie historische Brüche markieren, welche die skizzierte Transformation ermöglicht haben . Foucault (1978 : 119t) versteht unter einem Dispositiv "ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, arch itekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst". Mit anderen Worten ist ein Dispositiv das Gesamt "der Mittel, Mechanismen und Maßnahmen, die zur Bearbeitung eines bestimmten Handlungsproblems eingerichtet werden" (Keller 2001: 134f.). Foucault geht davon aus, dass ein (neues) Dispositiv aus einer Notlage heraus entsteht, wenn das Prekärwerden eines (bestehenden) Dispositivs Handlungsbedarferzeugt. Disposi-
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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tive haben daher bezogen auf ihr Handlungsfeld die strategische Funktion, einen Notstand abzuwehren, gleichsam ein "Leck" (Gilles Deleuze) zu dichten. Für die Ausprägung eines MigrationJStadt-Dispositivs spielt, so meine These, neben der nationalen politischen Kultur und dem jeweils vorherrschenden Konzept von Nation das "urban meaning" (Castells 1981) einer Stadt die zentrale Rolle, also die stets umkämpfte Identität und Bedeutung, die einer Stadt entsprechend der Interessen und Werte der jeweils herrschenden sozialen Akteure zugewiesen wird.
1871ff.: Das Dispositiv der national-homogenen Großstadt Der gewaltige Boom, den Berlin durch den Wandel zur Industriestadt und die Ernennung zur Hauptstadt des Deutschen Reiches nach 1871 erlebte, ging mit einer starken Zuwanderung auch ausländischer Arbeiter einher. Das Dispositiv der national-homogenen Großstadt, dessen Vorherrschaft drei Regime überlebte und das erst Ende der 1970er Jahre ins Abseits gedrängt wurde, entfaltete sich im Spannungsfeld zwischen dem Konstrukt der Deutschen Nation als Abstammungsgerneinschaft, einer Abschottungspolitik gegenüber Osteuropa und einem extremen Wachstum Berlins, das in wenigen Jahrzehnten seine Größe verzehnfachte. Ein Großteil der Arbeitsmigration insbesondere aus Polen nach Berlin, war temporär: Aus dem nun geltenden ,ius sanguinis' "entwickelte sich seit dem Beginn der wirtschaftlich motivierten Wanderungsbewegungen [ ] osteuropäischer Arbeiter ins Deutsche Reich ein Prinzip der Abweisung von Ausländern, das auf die Exklusivität der blutliehen Abstammung aufbaute" (Herbert 200 I : 68). Die rassistische Aufnahmepraxis selektierte als ,artverwandt' und ,würdig' geltende Angehörige westlicher Nationen von Juden und Slawen, die als ,unerwünschte Elemente' abgewehrt werden sol1ten. Die durch Massenausweisungen ergänzte Abwehrpolitik verhielt sich komplementär mit einer selektiven Zuwanderung unter dem Vorbehalt der Nützlichkeit (vgl. Ha 2003): In Berlin erhielt die Industrie besonders für öffentliche Großbauten wie U- und S-Bahnstrecken oder das Reichstagsgebäude Sondergenehmigungen, um ausländische Arbeiter zu beschäftigen. So bildete sich trotz des Beschäftigungsverbots für Auslandspolen ein doppelter Arbeitsmarkt heraus, in dem Ausländer mit Niedrigstlöhnen als Konjunkturpuffer dienten. Bei schlechter Konjunkturlage erfolgten Massenausweisungen, legitimiert durch eine ,,nationalpolitische Demagogie" (Herbert 2001: 49). Legal beschäftigte Industriearbeiter wurden in Massenquartieren separiert, um nicht sesshaft zu werden. Im Ersten Weltkrieg schlug die repressive Reglementierung der Migration in offene Zwangsarbeit um, um den kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften zu kompen-
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sieren. Dies wäre ohne jahrzehntelange Überfremdungsdebatten und ein repressives Sonderrecht für Ausländer nicht denkbar gewesen. Auch in der Weimarer Republik blieb die Ausländerpolitik eine "ethnonational orientierte antipolnische Abwehrpolitik" (Oltmer 2003: 87). Als gleichwohl in den 20er Jahren mehrere Hunderttausend russische Emigranten nach Berlin und Paris zogen, galt dies in Berlin als Bedrohung, in Paris hingegen als Bestätigung seiner herausragenden Bedeutung (vgl. Kiecol 2001) : Im Gegensatz zu Paris, dessen kosmopolitischer Charakter sich als "Hauptstadt des 19. Jahrhunderts" (Walter Benjamin) verfestigt hatte, durchlebte Berlin ein rasendes Wachstum zur drittgrößten Stadt der Welt und wurde als anonyme und beängstigende Agglomeration wahrgenommen. Zugle ich verfolgten die herrschenden Akteure vom Kaiserreich bis später zu den Nationalsozialisten zwar stets das Ziel, Berlin zum imposanten Symbol für den deutschen Weltmachtstatus auszubauen, sie verdammten aber, Spree-Babel', also die Internationalität und Liberalität der modernen Metropole als gesel1schaftszerstörend. Selbst Linksliberale polemisierten üblicherweise gegen das internationale Flair. Dem Vorwurf der beängstigenden Haltlosigkeit Berlins, der sich mit der Erschütterung überkommener Orientierungen im Ersten Weltkrieg und in den Revolutionsereignissen zuspitzte, begegnete die progressive Stadtverwaltung in den 20er Jahren, indem sie die Stadt als Symbol des Jungen stilisierte: Berlin "strebte danach, mit dem Attribut der Jugendlichkeit Assoziationen wie Leistungsfähigkeit, Kraft, Optimismus, Dynamik zu wecken und sich mit der Nachkriegsjugend in eins zu setzen" (StremmeI1992: 155). Dieses fragile Gefüge brach aber bereits mit der Weltwirtschaftskrise nach 1929 zusammen, ein Großteil der Bevölkerung verelendete. In der Krise verschärfte sich erneut eine .Abwehrbaltung gegen al1es Fremde" (KiecoI2001: 73). Nicht nur konservative Strömungen sahen die Vision eines modernen Berlin als gescheitert an und suchten die urbane Vielfalt einzudämmen. Nach der Machtergreifung übernahmen die Nationalsozialisten bestimmte Berlinbilder aus der Weimarer Republik, um der Welt eine vorbildliche Hauptstadt vorzustellen. Auch sie propagierten Berlin als Weltstadt moderner Technik und griffen auf das Symbol der Jugendlichkeit zurück: Der offizielle Stadtfiihrer "Das neue Berlin" präsentierte eine ,junge, lebensfrohe, saubere, großzügige Stadt" (Stremmel 1992: 278) . Eine internationale oder liberale urbane Vielfalt suchten die Nationalsozialisten allerdings zu eliminieren. Dabei unterschied sich ihr institutioneller Rassismus gegenüber ,Fremdarbeitern' , so Ulrich Herbert (200 I: 187), weniger durch seine prinzipielle Ausrichtung als durch radikale Zuspitzung von der jahrzehntelangen rassistischen Diskriminierung insbesondere von Osteuropäern. Auch die Lebensbedingungen der ab 1940 importierten Zwangsarbeiter waren
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an die traditionelle rassistische Hierarchie gekoppelt, die Sowjetbürger mit Juden und ,Zigeunern' ganz unten einordnete. Sie mussten als unterernährte Gefangene in Lagern leben, während westeuropäische Zwangsarbeiter den gleichen Lohn wie Deutsche erhielten und sich frei in der Stadt bewegen konnten. Trotz einer Anweisung der ,Gestapo', alle Ausländer in Lager zu überführen, sollen 120.000 ,Fremdarbeiter' in Privatunterkünften inmitten Berlins gewohnt haben. Nach dem Krieg verlor Berlin seine Bedeutung als eine der wichtigsten Metropolen Europas. In Westberlin blieben Wirtschaftswachstum und Lohnniveau weit hinter der BRD zurück. Erst als infolge des Mauerbaus die ,Grenzgänger' nicht mehr im Westen arbeiten konnten, mangelte es der Industrie an Arbeitskräften. Als nun ausländische ,Gastarbeiter' meist in der Türkei angeworben wurden, da sich in den westeuropäischen Vertragsländern kaum mehr Ausreisewillige finden ließen, waren in der Bundesrepublik rechtliche und politische Rahmenbedingungen lange zementiert. Das vorgesehene Rotationssystem und die bereits drei Gesellschaftssysteme überdauernde ,Legitimationskarte' verdeutlichen eine frappierende Kontinuität der Ausländerpolitik und entlarven die Narration des Neuanfangs als "Fiktion" (ebd.: 201) : In den 50er Jahren wurden die ,Ausländerpolizeiverordnung (APVO)' und die,Verordnung über ausländische Arbeitnehmer' der Nationalsozialisten wieder eingesetzt. In Kontinuität zur APVO zielte auch das Ausländergesetz von 1965 darauf, Nichtdeutsche lückenlos zu erfassen und bei Bedarf ausweisen zu können. Eine Selektion nach Herkunft und Hautfarbe war offizielle Politik: So bekamen sog. ,Afroasiaten' - als "Gesamtkategorie des unvereinbar Fremden" (Schönwälder 2001: 259) - prinzipiell keine Aufenthaltserlaubnis. Auch politische und mediale Einschätzungen hatten sich seit der Kaiserzeit kaum geändert: Positiv bewertet wurde der Einsatz ausländischer Arbeitnehmer als mobile Konjunkturpuffer. Als in den ersten Rezessionen der ökonomische Nutzen fraglich wurde, verfestigte sich ein öffentlicher Diskurs vom ,Ausländerproblem', der 1973 im Anwerbestopp mündete. Die Redeweisen über ,Andersartigkeit' und fehlende Assimilation beruhten auf der Vorstellung einer von Fremden illegitim angeeigneten nationalen Wirtschaft und Kultur. "Offensichtlich war diese im deutschen Nationalismus seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts so einflussreiche Bedrohungssituation noch vertraut und nicht aufgrund der Geschichte desavouiert." (ebd.: 200) Das zentrale Element des Dispositivs der national-homogenen Großstadt ist die Vorstellung des Ausländers als Fremdkörper. In der Stadt materialisierte sich dies durch die beiden Raumtypen Lager und ,Ghetto'. Das Lager ermöglicht es aus Sicht der staatlichen Apparate, Zuwanderer vollkommen unter Kontrolle zu halten. Das als freiwillige räumliche ,Ballung' der Einwanderer gedeutete ,Ghet-
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to' hingegen verkörpert die Gefahr, eben diese Kontrolle zu verlieren. Die Behörden suchten daher möglichst viele ausländische Arbeitnehmer in Lagern unterzubringen, um sie von Einheimischen zu separieren. Noch 1971 existierten in Berlin 400 Wohnheime für Gastarbeiter. Dabei erinnerte die ,Menschenhaltung' in überbelegten, notdürftig ausgestatteten Baracken, die 'Überwachung des Verhaltens in der Privatsphäre sowie die räumliche Aufenthaltskontrolle an Herrschaftsmuster aus den früheren Kolonien. (FreiburghausIKudat 1974: 51). Allerdings hatten sich schon im Berlin der Kaiserzeit die meisten polnischen Einwanderer über die Arbeiterviertel verstreut. Selbst den Nationalsozialisten gelang es nicht, alle Ausländer in Lagern unterzubringen. In diesem Rahmen diente das innerstädtische Scheunenviertel als Projektionsfläche einer ,volkspolitisch gefährlichen Zusammenballung' armer und oft jüdischer Einwanderer aus Osteuropa. Von 1906 an begann die Stadtverwaltung eine später von den Nationalsozialisten fortgeführte Kahlschlagsanierung, um unerwünschte Einwanderer zu verdrängen und sie als ,lästige Ausländer' auszuweisen oder in periphere Barackenlagerumzusiedeln. Auch in Westberlin strukturierte der ,Ghetto'-Diskurs die Debatte über die Ausländerpolitik. Als sich in den frühen 70er Jahren Quartiere mit einer deutlichen Sichtbarkeit von Migranten bildeten, fürchtete man das Entstehen von ,Ghettos' und eine Desintegration der ,formierten Gesellschaft' . 1973 dramatisierten sich Warnungen vor explosiven Lagen in den Städten : Der wieder auflebende Begriff ,Fremdarbeiter', der auf plündernde Zwangsarbeiter am Ende des Krieges verwies, assoziierte Einwanderer als ,wandelnde Zeitbomben'. Das ,Ghetto' etablierte sich zur zentralen Metapher des Ausländers als Fremdkörper, der sich vorsätzlich von den Deutschen separieren wolle. Um ihre räumliche ,Ballung' zu verringern, erließ der Senat schließlich eine Zuzugssperre für Ausländer nach Kreuzberg und zwei weitere Bezirke. Kreuzberg, ein ärmlicher Arbeiterbezirk, in dem schon viele der aus dem Scheunenviertel verdrängten Einwanderer untergekommen waren, entwickelte sich zum bundesweiten Symbol der ideologischen Schlachten um den Immigrationskomplex und galt als "entsetzliches", von Ausländem und Aussteigern bewohntes, die Bürger bedrohendes Ghetto (FAZ 13.06.75).
1981ff. : Das Dispositiv der multikulturell-differenziellen Metropole Im Verlauf der 70er Jahre geriet der ideologische Konsens in der Ausländerpolitik in einen Widerspruch zu dauerhaften Einwanderungsprozessen und entsprechenden städtischen Alltagserfahrungen. Bis dahin wurden Migranten als temporäre Gastarbeiter definiert und als einheitliche Kategorie ,fremder Volksangehöriger' verstanden. Im städtischen Alltag wurden hingegen bestimmte ,Fremde' kaum
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mehr als solche wahrgenommen, andere aber umso mehr. Als zunehmend außereuropäische Asylsuchende nach Europa gelangten, zeichnete sich ein neues Klassifizierungssystem ab, das auf kulturellen und ethnischen Differenzen gründete. Die Frage der Integrationsfähigkeit von Ausländergruppen wurde im Verlauf der 80er Jahre an eine nationale und kulturelle Identität gekoppelt, die ähnlich der Abstammung als "geistig und seelisch angeboren" (Morgenstern 2002: 315) galt. In Berlin war in den späten 70er Jahren die sozialdemokratische Stadtentwicklungspolitik, die durch zentralistische Planung einen homogenen, in funktionale Zonen getrennten städtischen Raum sowie standardisierte Lebensverhältnisse angestrebt hatte, in die Krise geraten: Gesel1schaftliche Umbauprozesse sprengten "das System sozialdemokratischer Vergesel1schaftung" (Homuth 1987: 101). Das Leitbild der modemen Stadt scheiterte an nachlassenden staatlichen Steuerungsmöglichkeiten und finanziel1en Mitteln sowie einem breiten Widerstand in der Bevölkerung. Schließlich war es ein Bauskandal, der 1981 die jahrzehntelange sozialdemokratische Vorherrschaft in Berlin beendete und die Christdemokraten an die Macht brachte, die mit kurzer Unterbrechung die Berliner Politik bis 200 I dominierten. 1981 markiert so, wie ich im Folgenden zeigen möchte, das Entstehen des neuen MigrationiStadt-Dispositivs einer multikulturel1-differenziel1en Metropole, das auf den Notstand des in die Krise geratenen Dispositivs der national-homogenen Großstadt reagierte und sich mit diesem verschachtelte. Insbesondere in Kreuzberg war "das Kartel1 aus Wohnungsbauunternehmen und staatlicher Planung" am Widerstand der Bevölkerung gescheitert (Krätke/Schmol1 1987: 53). 1981 wurden dort zahlreiche besetzte Häuser zum Teil gewaltsam verteidigt. Um der Krise der fordistischen Stadt mit geeigneten Stadterneuerungsstrategien zu begegnen, setzte das Abgeordnetenhaus eine Internationale Bauausstel1ung ein. Sie umfasste sozialpädagogische, baulich-räumliche und Selbsthilfe fördernde Konzepte und beschäftigte einen türkischen Ausländerbeauftragten, um die Integration der Migranten voranzutreiben. Diese behutsame Stadterneuerung orientierte sich an Bedürfnissen der Bewohner und fungierte als präventive Sozialpolitik. Der Sozialsenat wiederum legte ein Förderprogramm für Selbsthilfegruppen auf, das bald 50 Gruppen mit ausländerpolitischer Zielsetzung unterstützte . Die Schlagworte dieses .Formwandels lokalstaatlicher Aktivitäten" (ebd: 61) - Flexibilisierung, Dezentralisierung, Selbsthilfe, Beteiligung und ,endogene Entwicklung' - waren für neokonservative CDU-Positionen, die den Sozialstaat zugunsten lokaler Gemeinschaften, individueller Verantwortlichkeiten und marktnaher Regulation zurückdrängen wollten, ebenso attraktiv wie für eine alternative Szene, die in neuen Beteiligungsverfahren ihre Interessen durchsetzen konnte.
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Die ausländerpolitische Programmatik des neuen Senats korrespondierte mit diesem stadt- und sozialpolitischen Wandel: Bis dahin als "Problem staatlicher Planung" verstanden, etablierte sich Ausländerpolitik nun als .Beauftragtenpolitik'' (Schwarz 2001) . Als erstes Bundesland führte Berlin 1981 das Amt eines ,Ausländerbeauftragten' ein, das ausländerpolitische Maßnahmen konzipieren und koordinieren sollte. Barbara John, die das Amt 22 Jahre lang innehaben sollte, verfolgte eine zwiespältige Politik. Deren restriktive Seite suchte im Gleichklang mit der ab 1982 konservativen Bundesregierung die Ausländerzahlen zu verringern. Zugleich setzte sie auf die Weltoffenheit der Berliner und warb um Akzeptanz ,anderer Kulturen'. Galten migrantische Selbstorganisationen bis dahin eher als ghettofördernde Instanzen, wurde nun eine temporäre ,Betonung der eigenen ethnischen Identität' nicht mehr per se als integrationshemmend interpretiert. Vielmehr unterstützte der Selbsthilfetopf des Sozialsenats eine an konservative Traditionen anknüpfende "Honoratiorenpolitik" (Thomas Schwarz), die Zuwanderer nicht als bedürftige Opfer sondern als selbstständige Subjekte wahrnahm. Zunehmend ging es um soziale Probleme wie die mangelhafte Ausbildungssituation der Jugendlichen oder die mit der städtischen Deindustrialisierung steigende Arbeitslosigkeit der Einwanderer. Diese Senatspolitik, die gesellschaftliche Aktivitäten der Migranten nicht zuletzt förderte, um deren Ausschluss aus dem politischen System zu kompensieren, veränderte die organisierten Communities. Ursprünglich politische Initiativen gründeten jetzt Nachbarschaftsheime oder Jugendprojekte, um die Förderkriterien zu erfüllen . Da die geschilderten Interventionstechniken ihre Inputs aus den soziokulturellen Bedürfnissen der Betroffenen zogen, geriet die städtische Kulturpolitik zum zentralen Instrument sozialer Steuerung. Obwohl die Auszehrung Westberlins durch einen Rückgang der Bevölkerung, steigende Arbeitslosigkeit und immer höhere Bundessubventionen 1985 deutlich sichtbar war, bezeichnete der Regierungschef Eberhard Diepgen Berlin als Kultunnetropole, die sich mit Paris, London und New York messen könne. Wie schon in den vorherigen Regimes galt: ,,Berlin ist vor allem eine junge Stadt, eine Stadt für die Jugend" (Presse- und Informationsamt 1985: 29). Das urbane Recycling, sich mehrende Massenfestivals sowie die Förderung soziokultureller Initiativen verschmolzen zu einer .Jdentitätspolitik" (Homuth 1987: 103). Das Versprechen kultureller Toleranz und Vielfalt sollte jene Milieus symbolisch integrieren, die im sozio-ökonomischen Umbauprozess auseinander drifteten. Der Integrationsbegriffdes Senats war Teil dieser soziokulturellen Identitätspolitik, insofern er aufWohlfiihlaspekte und Kultur, nicht aber auf soziale Rechte zielte : Integration bedeutete "ein möglichst spannungsfreies Zusammenleben, [ ]
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miteinander wohl- und zuhause fühlen". Erstmals galt, dass "das Nebeneinander verschiedener Bräuche und Kulturen [ ] als eine Bereicherung durch Vielfalt erlebt werden [kann]. Der Berliner Senat bevorzugt deshalb Integrationsprogramme, die der kulturellen Eigenständigkeit der Ausländer breiten Raum lassen" (Der Senator für Gesundheit 1982: 6f.). Diepgen betonte, dass eine "Metropole wie Berlin von der Vielfältigkeit [lebt], von der Verschiedenheit, von Zuwanderern" (Presse- und Informationsamt 1985: 30). Er rühmte einerseits den Rückgang türkischer Ausländer als Ergebnis der eDU-politik und verknüpfte andererseits die Anwesenheit von Einwanderern nicht mehr mit ihrem ökonomischen Beitrag, sondern mit jenem zur kulturellen Vielfalt der Metropole. Hier offenbart sich eine Transformation von der ,Großstadt', die für vereinheitlichte Kultur und soziale Egalität stand, zur ,Metropole', in der soziale Gegensätze in der Pluralisierung der Lebensstile naturalisiert werden. Dabei herrschte ein "assimilativer Multikulturalismus" (vgl. Lanz 2007) vor, der kulturelle Vielfalt zwar duldet, fördert und nutzt, darunter aber das hierarchische Verhältnis zwischen einer die Norm repräsentierenden Mehrheitsgesellschaft und eingewanderten Gemeinschaften versteht, die sich an vorgegebene Normen anzupassen haben. Während dem Sozialsenat und der Ausländerbeauftragten "der integrationspolitische Teil einer zwiespältigen Politik zugewiesen" (Schwarz 2001 : 132) wurde, waren bis zum Jahr 2001 die rechtskonservativen Innensenatoren für die repressiven, aus dem Dispositiv der national-homogenen Großstadt übernommenen Aspekte zuständig, die den Familiennachzug erschwerten, Ausweisungen forcierten, repressive Assimilationsansprüche erhoben und in den späten 90er Jahren den Ghettodiskurs wieder aufleben ließen. Das kurzzeitige Interregnum einer rot-grünen Koalition, der Fall der Mauer im November 1989, die Vereinigung der Stadt und die Hauptstadtentscheidung brachten keine wesentlichen Veränderungen der städtischen Ausländerpolitik mit sich. Zum einen führten die irrwitzigen Boom-Phantasien - Politik und Experten prophezeiten nach 1990 einen Bedeutungssprung Berlins zu einer Global City mit sechs Millionen Einwohnern - eine (traditionelle) Politik der Abschottung gegenüber einer als drohenden Springflut imaginierten osteuropäischen Zuwanderung mit sich . Dies wurde durch einen rassistischen antislawischen Diskurs legitimiert, der schon das Dispositiv der national-homogenen Großstadt beherrscht hatte. Zum anderen galten integrationspolitische Fragen angesichts der Aufgabe, Berlin wiederzuvereinigen und infrastrukturell auf den vermeintlichen Boom vorzubereiten, als nachrangig: Berlin, so konstatierte Eberhard Diepgen in seiner Regierungserklärung 1991, könne in der Situation des Umbruchs keine Einwanderungsstadt werden. Auch der in der Großen Koalition nun mitregierenden SPD
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ging es vorrangig darum, "Fremdheit zwischen Ost und West [-Berlin] abzubauen" (SPD-Berlin 1991). Während repressive Maßnahmen des Innensenats darauf zielten, Zuwanderung - nicht zuletzt mithilfe von Massenabschiebungen von Polen - zurückzudrängen, vertiefte die Ausländerbeauftragte einen Multikulturalismus, der Migranten die Repräsentation ihrer ,,kulturellen Identitäten" ebenso ermöglichte wie er sozialpolitisch auf ihre Selbsthilfe zielte. Um "ein konkretes Zeichen zu setzen für die wachsende kulturel1e Vielfalt" Berlins, gründete sie eine "Werkstatt der Kulturen" (John 2005: 9), die seit 1996 einen schnel1 zum touristischen Mega-Event anwachsenden "Karneval der Kulturen" veranstaltet. Im Rahmen des historischen deutschen Konzepts, das Kulturen als ethno-nationale Einheiten definiert, folgte dieses .Jdentitätsspektakel" (Levent Soysal) in der öffentlichen Wahrnehmung einer Logik der .Völkerschau" (Barbara John), in der sich ,fremde' Ethnokulturen der Mehrheitsgesel1schaft darstel1en. Während der Karneval der Kulturen zum al1seitsgeschätzten Symbol für einen gelebten Multikulturalismus heranwuchs, gewannen in Berlin sozio-ökonomische Krisenszenarien an Raum. Denn die urbanen Boomträume waren nach kurzer Zeit geplatzt und Zweidrittel der Industriearbeitsplätze verschwunden. Die Arbeitslosigkeit pendelte sich zwischen 15 und 20% ein, Berlin steuerte in eine dramatische Schuldenkrise hinein und die Große Koalition etablierte eine Austeritätspolitik, die kommunale Leistungen kürzte und privatisierte. Im öffentlichen Diskurs setzten sich ab 1997 düstere Krisenszenarien durch, die Berlin sozio-ökonomisch niedergehen sahen. Insofern gerade innerstädtische Einwandererviertel eine hohe Arbeitslosigkeit und Verarmungsrate aufwiesen, lebte ein Ghetto-Diskurs wieder auf, der identische Diskursfiguren wie seine historischen Vorläufer enthielt und sich mit Kreuzberg und später Neuköl1n auf dieselben Stadträume richtete. Wieder ging es um die vorgeblich freiwi11ige Abschottung der Einwanderer von ,den Deutschen', ihre fehlende Bereitschaft, sich zu integrieren, und um eine bedrohliche Verslumung. Gleichwohl setzte sich schließlich das politische Konzept der ,Sozialen Stadt' durch, das mithilfe jener präventiven, auf Selbsthilfe und Partizipation zielenden Sozialpolitik in benachteiligte Quartiere intervenierte, die in den frühen 80er Jahren entwickelt worden war.
2001ff.: Das Dispositiv der kosmopolitisch-diversitären Metropole Im Jahr 2001 platzte die große Koalition, wieder an einem Skandal, und nach Neuwahlen bildeten SPD und PDS (heute Die Linke) die sogenannte rot-rote Koalition. Wiederum war diesem politischen Bruch ein tiefgreifender Wandel vorange-
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gangen, der sich sowohl auf das ,urban meaning' Berlins als auch aufdie nationale Einwanderungs- und Integrationspolitik bezog. Die daraus resultierende Krise des herrschenden Migration/Stadt-Dispositivs, hier der multikulturell-differenziellen Metropole, erzeugte einen ,Notstand', in dem sich ein neues Dispositiv, jenes der kosmopolitisch-diversitären Metropole, etablierte. Auf der nationalen Ebene hatte die Reform des Staatsbürgerrechts der seit 1998 regierenden rot-grünen Koalition erstmals seit Gründung des Nationalstaats mit dem ,ius sanguinis' gebrochen und Deutschland zum Einwanderungsland erklärt. Bundeskanzler Sehröder hatte zudem eine "Greencard"-Initiative gestartet, die erstmals seit dem Anwerbestopp von 1973 ausländische Arbeitskräfte rekrutieren sollte. Obwohl sie nur eine modernisierte, auf ,Hochqualifizierte' zugeschnittene ,Gastarbeiter'-Anwerbung zustande brachte, verankerte sie eine neue Idee im nationalen politischen Diskurs, die Einwanderung an die globale Wettbewerbsfähigkeit des Landes koppelte. Im Kontext der politischen Philosophie der rot-grünen Bundesregierung und ihrem Umzug von Bonn nach Berlin hatte sich auch das mediale Bild Berlins, das 1998 noch von Szenarien eines urbanen Verfalls dominiert war, fundamental gewandelt. Bereits 1999 jubelte die ,Spiegel'-Nummer ,New Berlin - Aufbruch zur Weltstadt' (H. 36/99) die Stadt in der Nachfolge New Yorks zur paradigmatischen Weltmetropole des neuen Jahrhunderts hoch. Mit der rot-grünen Bundesregierung zog die Figur des .Culturepreneur', eines neuartigem kulturellen Unternehmertypus, in das Raumbild von Berlin als nationaler Hauptstadt und in die Imagepolitik der Regierung ein. Bei seinem Ansinnen, die nationale Identität nach der Kohl-Ära zu reformieren, stilisierte Bundeskanzler Sehröder eine urbane ,Neue Mitte' zum Hauptadressaten seiner Politik. Insofern sich die subkulturelle Vielfalt aus dem Nachwende-Berlin zunehmend kommerzialisiert und allerlei Kulturindustrien wie MTV oder Universal Music - in die Stadt gelockt hatten, erschien Berlin als cooles Territorium mit optimalen Entwicklungsmöglichkeiten für innovative Culturepreneurs (Lange 2005): Berlin geriet in der medialen Wahrnehmung zur ,,Menschenwerkstatt" und zum "Versuchslabor für überfällige Veränderungen" (Spiegel, H. 36/99). Dieser neue Berlindiskurs deutete nicht zuletzt neue Einwanderer, die als besonders dynamisch galten, als Pioniere eines neoliberalen, auf individuelle Selbstverantwortung setzenden gesellschaftlichen Umbaus. Auch international wurde Berlin verstärkt als "spannende" Metropole mit dynamischen Kulturszenen, gesellschaftlicher Liberalität und der Verfügbarkeit kommerziell nicht verwerteter Räume wahrgenommen. Neben dem Tourismus begannen temporäre Zuwanderungsformen junger Erwachsener zu boomen, die als Studierende, Künstler oder Langzeit-Reisende einreisten und erstmal blieben.
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Wieder rückte nun das Label der Jugendlichkeit Berlins in den Vordergrund des offiziellen Stadtmarketings. Die Botschaft hieß "das junge Berlin: Berlin bekommt ein neues Gesicht: frisch, dynamisch, jung" (Berlin-Brief99/01). Berlin wurde als Stadt der Zukunft, als kulturelle Hauptstadt des 21. Jahrhunderts (vgl. Hurtado 2005) mit den Attributen kosmopolitisch, urban und vielfältig konzipiert. Wie in den I920er und 80er Jahren wurde das ,urban meaning' der Stadt um ihre kulturelle Kraft und Vielfalt sowie ihre vermeintliche Jugendlichkeit herum konstruiert, um der Stadt einen Ausweg aus einer tiefen sozioökonomischen Krise zu weisen. Nicht zuletzt im Kontext urbaner Erfahrungen, in denen neue Formen internationaler Mobilität und kultureller Hybridisierung zum Alltag zu gehören begannen, zerbröselte die Autorität des Dispositivs einer multikulturellen Metropole, das Kulturen in historischer Kontinuität als abgrenzbare, nebeneinander her existierende Einheiten verstand. Auch ein von urbanen Verfallserzählungen geprägtes Berlin-Bild, das sich in Ghetto-Diskursen manifestierte, die alltäglich erlebbaren kulturellen Dynamiken, die gerade in Kreuzberg diametral widersprachen, konnten keine ausreichende Überzeugungskraft mehr entfalten. Im Gegensatz zu den 1920er Jahren, in denen ,Ausländer' als unerwünschte oder zumindest suspekte Fremdkörper galten, und zu den 1980er Jahren, als sie als ethnisch-kulturell ,Andere' auf Abstand zum ,Eigenen' gehalten wurden, erstarkte in diesem Rahmen erstmals ein Diskurs, der kein natio-ethno-kulturelles Eigenes mehr von einem ,Anderen' abspaltet, sondern nationale, kulturelle, ethnische ebenso wie soziale Diversität als charakteristisches Merkmal einer Metropole deutet und für förderungswürdig erklärt. Gerade aus einem ökonomischen Blickwinkel wurde nun auf die Dynamik kultureller Hybridisierungsprozesse gesetzt: "Der positive Umgang mit Vielfalt, so heißt es im Integrationskonzept, das der rot-rote Senat 2005 verabschiedete, "fördert die interkulturelle Kompetenz, die Lebendigkeit und Handlungsfähigkeit der Stadt und führt zu Vorteilen im internationalen Wettbewerb um Attraktivität" (Abgeordnetenhaus 2005 : 71) . Erstmals wird in diesem offiziellen politischen Dokument in Berlin der essentialistische deutsche Kulturbegriff durch ein Konzept ersetzt, das Kulturen als dynamische Sets alltäglicher Praktiken und Diskurse versteht, die sich stets vermischen und gegenseitig beeinflussen. Zudem, und auch dies markiert eine Verschiebung gegenüber dem traditionellen Multikulturalismus, geht es nun primär um ökonomische Potentiale von Einwanderern für die global konkurrierende Metropole. Dieser "diversitäre Multikulturalismus" (Lanz 2007) schlägt sich auch in veränderten Raumbildern nieder. In seinem Fokus stehen nicht mehr Stadträume, die in einem defizitären Sinne von der vermeintlichen Normalität abweichen (,Ghet-
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tos'), sondern als kosmopolitisch imaginierte Stadtteile, deren selbstverständliche, hochgradig fluide Internationalität weder im Sinne einer Arbeitermigration noch im Sinne einer dauerhaften Einwanderung an das klassische deutsche Bild von ,Migration' gekoppelt ist. Die Stadt gilt hier nur als .zukunftsfähig', wenn sie sich als kosmopolitisch genug erweist, um für globale mobile Milieus attraktiv und offen zu sein. Gerade das jüngst noch als,Ghetto' geschmähte Kreuzberg gilt hier als modellhaftes Labor einer erfolgreichen Einwanderungsstadt. So bezeichnete die rot-rote Sozialsenatorin mit Verweis auf das Jahresgutachten des nationalen ,Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration' von 2004 die Kreuzberger Vielfalt als wertschöpfenden Standortfaktor, der den Zuzug von Kreativen und Medienunternehmen bewirke (Lanz 2007: 226). In Kreuzberg selbst versuchte die Bürgermeisterin im Jahr 2004 ein ,interkulturel1es Gesamtkonzept' zu realisieren, das unter dem Begriff des ,Managing Diversity' Institutionen interkulturel1 öffnen, Potentiale ethnischer Minderheiten fördern sowie Diskriminierungen abbauen sol1te und sich ausdrücklich vom herrschenden Integrationsbegriff löste. Diese Abkehr von einem Paradigma der Integration, das einseitig Migranten auffordere, sich in die Mehrheitsgesel1schaft einzufügen, stel1te sich al1erdings selbst im einwanderungspolitisch progressiven Kreuzberg als nicht durchsetzbar heraus. Gleichwohl hat sich der regierungsamtliche Integrationsbegriff deutlich verschoben. In den ,12 Essentials der Berliner Integrationspolitik', welche die Grundlage für das Integrationskonzept des Senats bilden, ist Integration nicht mehr eine Form von "Restriktion" (vgl. Schulte 2000), sondern enthält eine Aufforderung an die Aufuahmegesel1schaft, "Institutionen und Verfahren interkulturel1 zu öffnen" (Abgeordnetenhaus, Dr. 15/4208: 9). Integrationspolitik ist hier als dauerhafter, al1eBevölkerungsgmppen einbeziehender Prozess konzipiert und sol1 die soziale, ökonomische, rechtliche und kulturel1e Dimension von Integration umfassen. Das politische Ziel der Diversität, das hier an eine Gleichstel1ung unterschiedlichster sozialer Milieus und Lebensweisen in der Stadt gekoppelt ist, hat jedoch noch eine andere Seite, die an das von der rot-grünen Bundesregierung durchgesetzte Modell des aktivierenden Sozialstaats andockt: Während kommunale Integrationspolitik seit den 70er Jahren "in weiten Teilen [...] identisch mit Sozialpolitik" (Sackmann 2001 : 17) war- das Multikulturkonzept der 80er Jahre ergänzte dies durch soziokulturelle Identitätsangebote - ging dieser soziale Charakter mit dem ,neoliberal turn' zunehmend verloren: Gerade im Feld der Integrationspolitik offenbart sich eine "Ökonomisierung des Sozialen" (Lemke 1997: 248). Insofern in Berlin die Arbeitslosenquote der statistischen Ausländer im letzten Jahrzehnt um die 40 Prozent hemm pendelte, geht an Einwanderer ein fordernder Appell, ihr
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ökonomisches Potential auszuschöpfen. Integration bedeutet hier ihr gelingendes ,Anrufen' als ohne Sozialleistungen auskommende Subjekte, die eigeninitiativ an der städtischen Gesellschaft partizipieren. Da der Staat das Subjekt als unternehmerisches Selbst anruft, ,,müssen jene, die integriert sind, ihr Handeln nach Maßgabe einer ,Investition' in die eigene Person und ihre Familie kalkulieren" (Rose 2000 : 95). In das Zentrum von Integrationspolitik rücken Bildung und ,Aktivierung' der Individuen, während soziale Bedingungen wie ein institutioneller Rassismus, der auch qualifizierte Einwanderer am Arbeitsmarkt benachteiligt, tendenziel1 ausgeblendet werden (vgl. Lanz 2009) . Dem Dispositiv der kosmopolitischen Metropole liegt so eine Vorstel1ung von Diversität zugrunde, die eine kulturel1e, soziale und ethnische Vielfalt individuel1er Stadtbewohner als gesel1schaftlich bereichernd und ökonomisch nützlich versteht, daraus resultierende soziale Ungleichheiten aber in Kauf nimmt und die Individuen als unternehmerische, für ihre materiel1e Existenz selbst verantwortliche Subjekte adressiert. Wie schon in den I980er Jahren bedeutet die Etablierung eines neuen Migration/Stadt-Dispositivs, in dessen Zentrum die Vorstel1ungeiner gesel1schaftlich diversitären Stadt steht, nun keineswegs, dass die Elemente der beiden anderen Dispositive vö11ig verschwunden wären. Auch in Berlin erstarkten in Folge der New Yorker Anschläge vom 11. September 2001 politische Positionen, die basierend auf dem historischen Archiv des deutschen Einwanderungsdiskurses einen Clash 0/ Cultures herbeireden und insbesondere Muslime zu Anderen rassifizieren. Wieder erstarkte dabei ein mit stigmatisierenden politischen Interventionsvorschlägen einhergehender Ghetto-Diskurs, der sich diesmal aufNeuköl1n richtet : Dieses symbolisiert darin nicht nur die Probleme der Einwanderungsstadt, sondern den gesel1schaftlichen Unort par excel1ence, an dem sich al1e vermeintlichen Bedrohungen - Desintegration, Armut, Ausgrenzung, verrohende Jugend, Religionskonflikt, Gewalt - räumlich zu einem gewaltigen sozialen und kulturellen Sprengstoff verdichten.Gleichwohl entfalten derartige Vorstellungen im Berlin der 2000er Jahre keine ausreichende Überzeugungskraft, um das Konzept der kosmopolitischen Metropole zu überlagern.
Fazit Der historische Rückblick aufdie Verschränkung von Einwanderung und Stadtentwicklung in Berlin offenbart die Existenz dreier Migration/Stadt-Dispositive, die sich im Kontext bestimmter historischer Ereignisse etablierten, um ein jeweiliges ,Leck' zu dichten, das eine Krise des vorherrschenden Dispositivs gerissen hatte .
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Das erste Ereignis stellt wenig überraschend die Gründung des deutschen Nationalstaats dar: Dabei entwickelte sich das Dispositiv der national-homogenen Großstadt - bezogen auf den Staat - aus dem Konzept der deutschen Nation als Abstammungs- und Kulturgemeinschaft und - bezogen auf die Stadt - aus einem ,urban meaning', das Berlin als stets krisenhafte ,Stadt ohne Identität' deutete. Im Zusammenwirken zwischen dem Nationalen und dem Städtischen enthält dieses Dispositiv bis heute wirksame Kemelemente: Die Vorstellung von Ausländem als Fremdkörper, die sich stadträumlich im Ghetto-Diskurs manifestiert, einen essentialistischen und ethno-nationalen Kulturbegriff, der Exklusionspostulate gegenüber vermeintlich al1zu fremden ethnischen Gruppen produziert, sowie - auf städtischer Ebene - eine Imagination von Berlin zum einen als proletarische Stadt ohne Identität, Stabilität und Bürgertum, zum anderen aber auch als jugendliche, modeme Kulturmetropole. Weder die Übergänge zur Weimarer Republik und zum Nationalsozialismus noch zur Bundesrepublik vermochten dieses Dispositiv zu zerrütten sondern erst die Globalisierung der Migrationsbewegungen sowie der Niedergang des fordistischen Sozialstaatsmodel1s und des Konzepts der modemen Stadt. Mit dem 1981 vol1zogenen Regierungswechsel von den Sozialdemokraten zu den Konservativen etablierte sich das neue Migration/Stadt-Dispositiv der multikulturel1-differenziel1en Metropole, das sich mit dem ,alten' verschachtelte. Im neuen Dispositiv blieben der essentialistische Kulturbegriff sowie die Vorstel1ung von Berlin als jugendlicher Kulturmetropole erhalten, aber Migranten galten nun nicht mehr per se als Fremdkörper. Aufder Basis einer Selektion zwischen ,guten' (verwandten, nützlichen) und ,schlechten' (vermeintlich al1zu fremden) Kulturen zählten sie als potentiel1e Bereicherung der postfordistischen Metropole, deren Grundprinzip nicht mehr Homogenität sondern (soziale, nationale, kulturel1e und räumliehe) Differenz darstel1te. Diese steht al1erdings unter dem Schirm einer mehrheitsgesel1schaftlichen Leitkultur, deren imaginierte Träger al1zuweite (kulturel1e, soziale) Abweichungen mithilfe restriktiver politischer Interventionen ausgrenzen oder ,zurückholen' . Insbesondere in Krisensituationen wie der Erschütterung der Grenzen gegenüber Osteuropa nach dem Fall der Mauer oder der Herausbildung städtischer Armutsräume in den späten 90er Jahren drängen vermeintlich überkommene Elemente des ,alten' Dispositivs - wie ein antislawischer Rassismus oder ein Ghetto-Diskurs, der bestimmte ethnische Gruppen als Fremdkörper deutet - wieder an die Oberfläche. Das Dispositiv der multikulturell-differenziellen Metropole erschöpft sich innerhalb von zwei Jahrzehnten. Wiederum verschränken sich dabei das Nationaleder Bruch mit dem Konzept der deutschen Nation als Abstammungsgemeinschaft
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- und das Städtische: Zum einen sind in Berlin kulturelle Hybridisierungsprozesse und eine dynamische Internationalisierung der urbanen Gesellschaft alltäglich erlebbar geworden, zum anderen gelten sie nun als zu fördernde ökonomische Standortfaktoren, die einen Ausweg aus der Krise der Deindustrialisierung weisen. Wieder ist es, im Jahr 2001, der Zusammenbruch des Senats und wenig später ein Regierungswechsel zu einer sozialdemokratisch-sozialistischen Koalition, in dessen Folge sich ein neues Migration/Stadt-Dispositiv etablieren kann : Das Dispositiv der kosmopolitisch-diversitären Metropole bricht nun mit dem essentialistischen Kulturbegriffund mit der Differenzierung zwischen einem natio-ethno-kulturel1en Eigenen und Fremden, radikalisiert - und ökonomisiert - die Imagination von Berlin als global bedeutenderjugendlicher Kulturmetropole und etabliert die Vorstel1ung einer durch soziale, kulturelle, ethnische und nationale Diversität charakterisierten städtischen Gesel1schaft. Auch hier löst das neue Dispositiv die existierenden nicht komplett ab sondern verschränkt sich mit ihnen. Zahlreiche, im vergangenen Jahrzehnt geführte Debatten und aus ihnen abgeleitete politische Strategien über vermeintliche Ghettos und Paral1elgesel1schaften, die insbesondere muslimische ,Andere' rassifizieren, offenbaren, dass zentrale Elemente aus beiden früher etablierten Dispositiven weiter fortleben und in krisenhaften Situationen immer wieder hochkochen. Viel1eicht spricht gerade die ökonomische Dimension von ,Diversität' dafür, dass sich das Dispositiv der kosmopolitisch-diversitären Metropole - also das auf einem spezifischen Konzept von Diversität gründende Ensemble von Mittel, Mechanismen und Maßnahmen, die das Handlungsfeld Migration/Stadt in Berlin bearbeiten - stabil etablieren könnte. In Bezug auf den Immigrationskomplex würde dies bedeuten, dass in Berlin erstmals seit Gründung des deutschen Nationalstaats ethnische, kulturel1e oder nationale Vielfalt sowie anhaltende internationale Migrationsprozesse offiziel1als städtische Normalität gälten und sich die traditionel1e Dichotomie in ,Deutsche' versus Ausländer oder Einwanderer auflösten.
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Vielfalt im staatlichen Kontext
Zur sozialen Grammatik der Vielfalt in der globalisierten Stadtgesellschaft Erol Yildiz
Einführung
.Die erste Frage, die ich mir als Architekt stelle", sagt der vorwiegend in Brasilien tätige Argentinier Jorge Mario Jäuregui, "ist eigentlich immer die gleiche: Auf welche Weise nähere ich mich einer gegebenen Situation? Was alles steckt in meiner Strategie, um die Strukturen eines Ortes zu entziffern. [. .. ] Alles hängt von der Art und Weise ab, wie man eine Situation anschaut oder Fragen an sie stellt, Zu einem gewissen Grad hängen alle meine späteren Möglichkeiten davon ab, wie ich meine Fragen stelle." (Blum/Neitzke 2006: 75) Dieses Zitat macht aufbesondere Weise anschaulich, dass es unterschiedliche Perspektiven auf die Welt gibt und unsere Wirklichkeitskonstruktionen beobachterabhängig sind. Auch bezüglich der hier behandelten Thematik existieren unterschiedliche Deutungen. Welche sich durchsetzt, ist nicht zuletzt eine Frage hegemonialer Verhältnisse . Gerade beim Thema Migration und deren gesellschaftlicher Folgen verdrängt ein ethnisch-nationaler Blick alle anderen Perspektiven, wie mediale Inszenierungen immer wieder zeigen. In meinem Beitrag geht es vor al1emdarum, eine durch nationale Erzählungen marginalisierte Diversität sichtbar zu machen, die in der zunehmend globalisierten Welt aufeine neue soziale Grammatik verweist. Vor allem Migrationsbewegungen haben wesentlich dazu beigetragen. Gerade Städte sind Orte, wo Globalisierungsund Diversifizierungsprozesse aufeinander treffen, immer wieder neu kombiniert werden und sich zu lokalen Strukturen, Kulturen und Lebensentwürfen verdichten. Nachdem ich im ersten Abschnitt darstellen werde, inwiefern weltweite Öffnungsprozesse die heutigen Gesellschaften prägen und eine Rekonfiguration des Alltagslebens bewirken, gehe ich im zweiten Abschnitt konkret auf urbane Entwicklungen ein, die im Zeichen weltweiter Öffuungsprozesse eine Art mobiler Vielfalt hervorbringen. Im Anschluss wird gezeigt, wie sich Städte durch Migrationsbewegungen verändern und welche Inkorporationsformen und Verortungsstrategien Migranten unter lokalen Bedingungen entwickeln. Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Öffnung der Orte zur Welt
Zur Charakterisierung gegenwärtiger Gesellschaften benutze ich die Metapher "Die Öffnung der Orte zur Welt" und meine damit, dass wir ständig mit unterschiedlichen und widersprüchlichen Elementen im Alltag konfrontiert werden, die in einem weltweiten Kommunikationszusammenhang stehen. Die Begriffe .methodologischer Kosmopolitismus" (Ulrich Beck), "Transnationale Räume" (Ludger Pries), "Transkulturalität als Praxis" (Robert Pütz) oder "banaler Kosmopolitismus" (Ulrich Beck) bringen diesen Wandel zum Ausdruck. Weltweite Bezüge gehören in jeder Hinsicht zur Alltagsnormalität. Globalität ist daher eine täglich gelebte Erfahrung und kann als eine Transformation der Kontexte verstanden werden, in denen sich unser Leben abspielt. Unsere Erfahrungs- und Vorstellungsräume sind inzwischen - vor allem durch technologische und elektronische Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten - von weltweiter Reichweite. Eine Art mobiler Sesshaftigkeit oder sesshafter Mobilität scheint das Charakteristikum heutiger Gesellschaften zu sein, setzt Denkbewegungen in Gang und beeinflusst zunehmend unsere Lebensentwürfe und Wirklichkeitsdeutungen. Das Phänomen Migration, das den Mythos der Sesshaftigkeit in Frage stellt, ist ein Beleg dafür, wie neue Verortungspraxen und Lebenskonstruktionen entwickelt werden. Durch Migrationsbewegungen entstehen neue Bindungen und Vemetzungen, die automatisch verschiedene Orte miteinander verknüpfen und somit transformieren. In diesem Kontext spricht Regina Römhild (2009 : 234) von einem "neuen Kosmopolitismus von unten", womit eine Art transversaler Bewegung gemeint ist, die Regionen, Kulturen, Lebensstile und Lebensformen, die oft geographisch wie zeitlich weit voneinander entfernt sind, auf lokaler Ebene zusammenbringt. Dabei entstehen, wie MartinAlbrow (1998) sagt, diverse .Soziosphären", die unterschiedlich gelagerte, weltweit gespannte gesellschaftliche wie lebensweltliche Verknüpfungen im Alltag präsentieren. Diese neue Dynamik erfordert das Überdenken unserer Vorstellung von Raum und Zeit (vgl. Rifkin 2006 : 285). Die Gleichzeitigkeit von weltweiten Öffnungsprozessen und lokaler Diversifizierung lässt nationale Metaerzählungen fragwürdig werden und geht mit der Auflösung tradierter Lebensformen einher. Lebensläufe, Differenzen und Zugehörigkeiten sind in Bewegung geraten, haben ihre Eindeutigkeit und räumliche Fixierung verloren, sind offener und damit auch riskanter geworden. Der Lebenslaufzerfällt immer mehr in einzelne Phasen und Abschnitte (vgl. Beck-Gemsheim 1997: 65ft), reicht über herkömmliche Bezugspunkte wie Geburtsort oder erlernter Beruf hinaus . Die durch radikale Öffnungsprozesse und radikale Individualisierung in Gang gesetzte reflexive Wende, die den Einzelnen immer weiter zum
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Nachdenken über die eigene Biographie nötigt, hat den gesamten Lebenslauf zu einem Lemfeld werden lassen . Gerade weltweite Migration, die Städte im Zuge der Industrialisierung von Anbeginn prägte, hat wesentlich zur Kosmopolitisierung und Diversifizierung unseresAlltags beigetragen. Im Grunde ist Stadtentwicklung und Urbanität ohne Migration nicht denkbar (vgl. Yi1dizlMattausch 2008). Der Blick auf die wichtigsten Eckpunkte der europäischen Migrationsgeschichte legt nahe, dass Sesshaftigkeit über mehrere Generationen ein Mythos ist. Mobilitätserfahrungen und die damit verbundene Diversität/Heterogenität haben das urbane Zusammenleben immer geprägt. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts haben die Hälfte der damals in Europa lebenden 400 Millionen Menschen mindestens einmal im Leben den Wohnort gewechselt, sei es transnational oder interkontinental. Und diese Tendenz verstärkte sich in den Wirren der beiden Weltkriege. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird Bewegung zum Lebensentwurf. Zur Visualisierung dieser Mobilität hat O'Hara, eine Künstlerin, die in Japan geboren ist, eine Methode entwickelt, die ich bemerkenswert finde und hier kurz vorstellen will. Sie nennt die von ihr entworfenen Zeichnungen Bewegungsprotokolle. Verzeichnet werden diejenigen Wege, die die Personen während ihres bisherigen Lebens zurückgelegt haben. Zur Erstellung dieser Porträts legt O'Hara dasselbe Blatt Papier nacheinander auf Welt-, Land- und Städtekarte und zeichnet die jeweiligen zurückgelegten Strecken nach . Das so entstandene Geflecht aus Linien lässt individuelle Weltkarten entstehen, inklusive der eigenen Grenzen. Sichtbar werden dabei Bewegungsspuren, die alle gleichwertig sind - unabhängig davon, ob es sich um Weltreise, Wohnortwechsel, Pendelwege, Flucht oder Auswanderung handelt. O'Haras ,Porträts' sollen verdeutlichen, inwieweit im 20. und 21. Jahrhundert Mobilität die Lebensentwürfe prägt bzw. in Bewegung setzt. Dabei versteht sie Bewegung als Lebenszeichen (vgl. Projekt Migration 2005 : 38ft). Neben den Möglichkeiten, die solche weltweiten Verbindungen für die Einzelnen im Alltag bieten, gibt es allerdings die Grenzen der Nationalstaaten und die damit einhergehende Kontrolle von Mobilität, aber auch Diskriminierungen ökonomischer und politischer Art, die Migration unterbinden und skandalisieren. Weltweite Öffuungsprozesse werden durch Renationalisierungsprozesse konterkariert. Denn im selben Maße, wie nationale Grenzen im europäischen Kontext schrittweise an Bedeutung verlieren, werden sie für bestimmte Migranten, Flüchtlinge und illegalisierte Menschen zu immer größeren Barrieren. In nationalen Integrationskonzepten der meisten europäischen Länder werden beispielsweise kaum Räume für entnationalisierte und enträumlichte Verortungen vorgesehen.
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Zwar verlieren im Zuge globaler Entwicklungen die Nationalstaaten als integrative Kraft an Bedeutung und es formieren sich neue lokale und regionale Orientierungshorizonte, unter denen das Zusammenleben neu inszeniert, zusammengefügt und interpretiert wird (vgl. Yildiz 2004 : 21ft) . Parallel dazu entstehen jedoch Nationalismen, Rassismen und Fundamentalismen, die neue Wahrnehmungsmauern zementieren. Zwar sind weltweite Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte in das scheinbar geschlossene System von Nationalstaaten eingedrungen und haben unsere Weltkonstruktionen wesentlich mitgeprägt, doch wird die soziale Praxis vieler Menschen noch immer durch die Regeln nationalstaatlich definierter Institutionen bestimmt - etwa durch Passkontrollen, lokale Arbeitsmärkte oder eine restriktive Einwanderungspolitik. Wir beobachten also sowohl Entnationalisierungsprozesse als auch die gegenläufige Neu-Inszenierung nationaler und ethnischer Selbstbilder in Europa, wodurch die weltweite Öffnung durch eine neue Thematisierbarkeit des Nationalen als "kulturelles Integrationskonzept" konterkariert wird (Kaschuba 2001 : 20). Auch wenn Nationalstaaten ihre politische Kraft zunehmend verlieren, scheinen neue Nationalismen an Gewicht zu gewinnen (vgl. Leggewie 2003: 55).
Städte als Orte der Diversität Historisch gesehen waren Großstädte immer auch Weltstädte, repräsentierten die Öffuung der Orte zur Welt und waren somit kontinuierlich mit Differenzen konfrontiert, die erst durch die Entstehung von Nationalstaaten unterdrückt, marginalisiert oder unsichtbar gemacht wurden (vgl. Sassen 2006). Die Segmentierung der Welt in Nationalstaaten leitete ein ethnisch zentriertes Zeitbewusstsein ein und etablierte neue Weltdeutungen, Geschichtsschreibungen und kulturelle Nonnvorstellungen. Neue Mythen wurden erfunden, neue Grenzen gezogen und neue Ordnungen errichtet. Neue Einheiten wurden simuliert, einige Sprachen privilegiert, andere marginalisiert und diskriminiert. Insofern bedeutete die Etablierung von Nationalstaaten ein ,,kontrafaktisches Postulat" (Hahn 2003: 41). Historisch gesehen sind urbane Räume also durch Migrationsbewegungen, Heterogenität und Diversität geprägt . Um die historischen Sedimentbildungen einer Stadt freilegen zu können, brauchen wir einen anderen Blick aufurbane Wirklichkeiten, eine Perspektivenverschiebung, durch die wir mehr über Urbanisierungsprozesse und über Lebenswirklichkeiten von Menschen in Köln, Berlin oder Wien erfahren und andere Verortungspraxen ans Licht bringen können, die auf vielfältigen, sich überlagernden und differenten Wirklichkeitskonstruktionen basieren.
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Auch heute gehören Globalität, Migration und Diversität zur Alltagsnormalität und prägen die urbanen Lebenswirklichkeiten, auch wenn dies in manchen Städten erst auf den zweiten Blick ersichtlich ist. Durch die neuen Öffnungsprozesse werden die angestammten Selbstverständlichkeiten und Kontinuitäten fraglich. Marginalisierte Gruppen, Diskurse und Perspektiven geraten ins Blickfeld. Es zeigt sich, dass soziale Phänomene, die bisher als einheitlich und eindeutig wahrgenommen wurden, schon immer hybrid und widersprüchlich waren (vgl. Tschernokoshewa 2005). Diese ehemals marginalen Perspektiven verweisen auf die Kontingenz unserer Wirklichkeitskonstruktionen und Weltdeutungen. Dazu schreibt Makropoulos: "Der kontextuellen Vervielfältigung der Wirklichkeit entsprach die Standpunktabhängigkeit des Sehens und die damit verbundene Einsicht, das jede Totalität in einzelne, gegeneinander nicht privilegierbare Perspektiven zerfiel." (1997: 76). Die Sehnsuchtsmetapher ,europäische Stadt', die das Idealbild einer homogenen, territorial definierten und kulturell integrierten Stadtgesellschaft verkörpert, hat durch die neuen weltweiten Öffnungsprozesse wesentlich an Überzeugungskraft verloren und deutet auf eine wichtige Entwicklungsdynamik hin, nämlich auf den Zusammenhang zwischen Globalisierung, Urbanisierung und Diversifizierung (vgl, Berking 2002: 12). Gerade die ,Heterotopie' als ein Zwischenraum im Sinne von Foucault (1991) scheint charakteristisch für urbane Orte zu sein, ermöglicht, wie Bachtin in einem anderen Zusammenhang formuliert hat, "Unterschiedliches zu kombinieren und Entferntes anzunähern, verhilft zur Loslösung vom herrschenden Weltbild, von Konventionen und Binsenwahrheiten, überhaupt von allem Alltäglichen, Gewohnten, als wahr Unterstelltem. Sie erlaubt einen anderen Blick auf die Welt, die Erkenntnis der Relativität alles Seienden und der Möglichkeit einer grundsätzlich anderen Ordnung." (1987: 85) Die Heterotopie ist die Möglichkeit der Repräsentation, der Auflösung von all dem, was uns den Blick auf das außerhalb unserer Vorstellungswelt Befindliche verstellt und ermöglicht die Öffnung des Blicks für multiple Lebensentwürfe, Lebensformen und simultane Zugehörigkeiten. In der Heterotopie werden Diskurse, Weltdeutungen und Wirklichkeiten als Konstrukte erkennbar. Dabei geht es um eine Beobachtungsperspektive, die von binären Konstruktionen absieht und Relationalität verwobener Lebenswirklichkeiten in den Mittelpunkt stellt. So können die Wirkungen diverser Alltagspraxen von Handelnden, die an komplexen Prozessen der Übertragung, Aneignung und Verwandlung beteiligt sind, sowie das in der Lebenspraxis hervortretende ,Neue' ins Blickfeld der Betrachtung rücken. Die durch die Öffnung der Orte zur Welt entstandene Vielfalt fügt sich nicht mehr einem einheitlichen Ganzen. Dazu schreibt Welsch (1991: 176f) zutreffend:
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,,zugrunde liegt der Blick aufunterschiedliche Lebensformen, Sprachspiele, Kulturen, Wissensund Handlungsmodelle in ihrer Vielheit und Heterogenität, und ausschlaggebend ist dann die Auffassung, dass eine nicht verzerrende Gesamtkomposition dieser unterschiedlichen Gebilde eben infolge ihrer Heterogenität nicht möglich ist. [.. .] Im Ganzen herrscht Divergenz, Widerstreit, Unfaßlichkeit - Polyregularität (fiir die einzelnen Formationen) ohne Überregel (fiirs Ganze) ."
Die Öffnung des Lokalen zur Welt lässt traditionelle kulturelle Zugehörigkeiten fraglich erscheinen, ermöglicht potentiell hybride Kombinationen in allen Teilen der Welt und lässt neue Differenzen und marginalisierte Wissensarten zu Tage treten. Neue Traditionen werden erfunden (vgl. Beck-Gernsheim 2001 : 170ft). In den einzelnen Lebensentwürfen werden verschiedene Verkettungen kultureller Erzählungen sichtbar, die in dieser Form ohne die weltweiten Öffnungsprozesse nicht denkbar wären. Biographien werden zunehmend auf weltgesellschaftlicher Basis entworfen. Kulturelle Elemente und Lebenswirklichkeiten gleichen unter globalen Bedingungen den "Konstellationen eines Kaleidoskops: Mit jeder Drehung ergibt sich eine Neuordnung der Teile, und wir sind erstaunt über die Andersartigkeit und Lebendigkeit jeder neuen Zusammenstellung." (Benhabib 1999: 68) Die weltweite Öffnung bedeutet also nicht eine Homogenisierung der Welt, die eine einheitliche ,globale Kultur' entstehen ließe, sondern vielmehr eine neue Perspektive, eine Perspektivenverschiebung, eine Neuinterpretation, Sichtbarmachung und Neuerfindung von Lokalitäten. Claus Leggewie spricht zu Recht von einer "Fusion", die etwas "Neues" und ,,Drittes" erzeugt (1999 : 6). Aufdiese Weise entsteht ein anderes Welt- und Alltagsverständnis. Ähnlich argumentieren 01rich Beck, Wolfgang Bonß und Christoph Lau (2001 : 16): ,,Dass der Globus inzwischen zum Bezugs- wie Operationsfeld von Akteuren aller Art geworden ist, heißt nicht: Es ist so etwas wie eine simplizistische Uniformität - gleichsam eine,Weltkultur' - entstanden. Die Debatte um einen neuen Kosmopolitismus verweist vielmehr auf komplexe Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte, in denen die verschiedenen Ordnungen und Ordnungsvorstellungen des menschlichen Zusammenlebens widerspruchsvoll aufeinander treffen und zur Artikulation gedrängt werden . Es ist also die Differenz und nicht die Einheit, welche den neuen ,tran snationalen ' Erfahrungsraum kennzeichnet."
Das Globale liefert den Kontext, innerhalb dessen urbane Lebenswirklichkeiten vor Ort entfaltet werden (vgl. Bukow 2009). Bei der Gestaltung urbaner Lokalitäten aufweltgesellschaftlicher Basis werden die bisherigen Selbstverständlichkeiten und die routinisierten Praktiken transformiert, Gerade Migranten und deren Nachkommen demonstrieren dies in urbanen Räumen. Unterschiedliche grenzüberschreitende Perspektiven und Differenzen werden von ihnen unter lokalen Bedingungen miteinander in Beziehung gesetzt und biographisch bearbeitet. In dieser Hinsicht stellen migrantische Lebensentwürfe transnationale Räume dar, weil erst
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in den biographischen Erzählungen unterschiedliche Orte und Erfahrungen miteinander verbunden werden (vgl. Apitzsch 2003). So gewinnen Lokalitäten durch jeweilige Strategien ihre spezifischen Ausprägungen. Mit den Begriffen "Verflüssigung" oder .Enträumlichung'' (Appadurai 1998) klingt bereits die Vorstellung an, die für die kulturellen Formationen in der globalisierten Welt eine enorme Lockerung und situative Flexibilität gegenüber harten Faktoren diagnostiziert: Kultur wird zu einer "kontextspezifischen Größe" (Bukow u.a. 200 I: 152ft). Globalität wird in urbanen Kontexten zur alltäglichen Erfahrung. Auf diese Weise verstärkt sich die Vielfalt kultureller Impulse in verschiedenen Bereichen, sei es in der bildenden Kunst, im Film, in der Musik, Literatur und in der Alltagskultur. Neue Stilmischungen werden hervorgebracht. Interessant erscheint in dieser Entwicklung, dass die globalisierten Gesellschaften in der Lage sind, die unterschiedlichsten und zum Teil widersprüchlichsten kulturellen Impulse zu absorbieren, "ohne dass die betroffenen Gesellschaften in Identitätskrisen verfallen" (Senghaas 2002: 7). Durch weltweite Öffuungsprozesse, die potentiell neue Möglichkeiten für Lebensentwürfe eröffuen, wird das Alltagsleben immer reflexiver und die reflexiv gestalteten Lebenswelten werden zu einem zentralen Moment der Strukturierung von Biographien (vgl. Giddens 1991). Die globale Zirkulation von kulturellen Impulsen hat zur Folge, dass ortsgebundene Wissensbestände, Lebensstile, Lebensformen und Milieus immer wieder de- und re-lokalisiert und damit de- und rekontextualisiert werden. So erzeugen die weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten immer neue Rahmungen auf weltgesellschaftlicher Basis: "Selektive, durch die je spezifischen lokalen Wissensbestände gefilterte Einbettungen der globalenArtefakte böten danndie ,Rahmungen' für die ,globalen' Kontextualisierungen lokaler Kulturen, die freilich in den lokalen selber erzeugt werden ." (Berking 1998: 388)
Öffuungsprozesse verstärken einerseits die Enttraditionalisierungstendenzen im Alltag und tragen andererseits zur Erfindung neuer Traditionen bei, wobei unterschiedliche Elemente aus allen Teilen der Welt in den lokalen urbanen Erfindungsprozess einfließen . Gerade am Beispiel von Migrationsprozessen, einer wichtigen Triebkraft weltweiter Öffnung, lässt sich zeigen, wie Migranten und deren Nachkommen unter lokalen Bedingungen neue Traditionen von Literatur, Musik, Film oder Sprachen prägen und neue Inkorporationsstrategien entwickeln - ob im medialen Bereich, der HipHop-Kultur (vgl. Androutsopoulos 2003) oder anderer Trends, die zum Teil von Migranten der zweiten und dritten Generation begründet werden.
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Migration, Urbanität und neue Verortungsstrategien "Der Österreicher war immer kosmopolitisch: von Spanien , Holland , Italien, von Frankreich, Belgien, Böhmen und Polen, vom Balkan und aus der Türkei gar sind viele unserer Vorfahren eingewandert und in der östlichen Hauptstadt des Westens zu Wienern geworden. Fast jeder Österreicher hat Verwandte im Ausland..."
OskarKokoschka, Österreichischer Maler und Schriftsteller
Das Zitat verweist auf die Normalität und Relevanz der Migration für Städte und legt die Vermutung nahe, dass im Grunde alle Menschen einen Migrationshintergrund haben. Dass heutige Städte ohne Migrationsbewegungen nicht vorstellbar sind und dass Migranten wesentlich zur Stadtentwicklung und Urbanisierung beigetragen haben, scheint im öffentlichen Diskurs jedoch kaum vorzukommen. Im Zuge der Industrialisierung waren in Europa zahlreiche neue Städte entstanden. 1800 gab es 23 Großstädte, in denen insgesamt 5,5 Millionen Menschen lebten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es schon 135 Städte mit insgesamt 46 Millionen Einwohnern. Unter den europäischen Metropolen wuchsen im Verlauf des 19. Jahrhunderts London um 340 Prozent, Paris um 345, Wien um 490, Köln um 500 und Berlin sogar um 872 Prozent (vgl. Bade 2002: 73). Der Großteil der Einwohner waren Menschen, die in die Industriezentren zugewandert waren und dort unter zum Teil schweren Bedingungen lebten und arbeiteten. In den meisten europäischen Städten sind Migranten und deren Nachkommen heute ein integraler Bestandteil urbaner Realität, wenn auch immer wieder von ,Parallelgesellschaften' die Rede ist und die durch Migration entstandenen Stadtviertel territorial stigmatisiert werden. Dieser "normalistische Blick" auf den urbanen Alltag, wie Stephan Lanz (2007) diese Lesart nennt, ist keine historische, sondern allenfalls eine hysterische Deutung; sie basiert auf einer Entweder-Oder-Logik, ignoriert die differenzierten Alltagsrealitäten migrantischer Gruppen und reduziert die städtische Realitäten auf "Wir" und die "Anderen" (vgl. Beck-Gernsheim 2004). Diese binäre Logik sagt wenig darüber aus, wie Menschen im alltäglichen Leben zurechtkommen, wie sie mit den Bedingungen, die sie vorfinden, umgehen, ihnen einen Sinn geben. Sie verstellt den Blick auf Lebensläufe, Biographien, Ängste, Hoffnungen, Leidenschaften und deren Ausdrucksformen. Schon Musil bemerkte vor 90 Jahren kritisch: ,,[.,,] es liegt injedem Entweder-Oder eine gewisse Naivität, wie sie wohl dem wertenden Menschen ansteht, aber nicht dem denkenden, dem sich die Gegensätze in Reihen von Übergängen auflösen." (Musil 1922: 1087)
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Dass europäische Metropolen ohne Zuwanderung nicht denkbar und dass Stadtgeschichten immer auch Migrationsgeschichten sind, bringt der Kölner Kabarettist Jürgen Becker anband der turbulenten Geschichte der Stadt in seinem Programm ,,Biotop für Bekloppte" ironisch und treffend auf den Punkt: ,,[... ] Dann kamen ja 55 vor Christus die Römer an den Rhein. [...] Obwohl der Römer an sich der Feind des Germanen war, haben die Ubier sofort mit denen gemaggelt, kollaboriert, wie man so schön sagt [...] und haben dannihren restlichen Stammesgenossen zugerufen: .Kommt alle rüber, ist gut hier'. [...] Die Römer wiederum kamen ja auch nicht alle aus Rom, das können Sie sich ja ausrechnen, so viele , wie das waren , die können ja nicht alle in einer Stadt gewohnt haben. Das waren Italiener, Nordafrikaner, Spanier, vordere Asiaten, injedem von uns steckt auch ein Stück vorderer Asiate [...] Und dann noch die Ubier dazu, Sie sehen also, was für ein multiku1turelles Gebräu wir sind . Wenn einer meint, ,Ausländer raus', dann wäre Köln völlig leer, dannwohnte hier kein Mensch mehr." (Becker 1992: 20, 21)
Wenn man das "ethnologische Rezeptwissen" (Terkessidis 2010 : 134) dekonstruiert, sich von dernormalistischen Sichtweise aufurbane Wirklichkeiten verabschiedet und statt dessen die konkreten Alltagspraktiken von migrantischen Bevölkerungsgruppen ins Blickfeld rückt, dann erscheint vieles in einem neuen Licht. Der andere Blick ermöglicht neue Eindrücke in die Lebenswirklichkeiten von migrantischen Gruppen und wir sehen uns plötzlich mit einer gelebten Normalität konfrontiert, die in den offiziellen Migrationsdebatten kaum vorkommt. In globalisierten Städten gleichen die Lebenswirklichkeiten dem, was Edward Said (1990) "atonales Ensemble" nennt: Die alltägliche Realität ist gekennzeichnet durch radikale Vielfalt, Mehrdeutigkeit, Heterotopien und Widersprüche. Die urbanen Kontexte, in denen sich die Einzelnen bewegen, handeln und leben, eröffnen in ihren Kombinationsmöglichkeiten überhaupt erst so etwas wie die Einzigartigkeit des Individuums. So bildet sich ein "Beobachtungshorizont" (Beck 1997), der neue Inkorporations- und Verortungsstrategien ermöglicht, die über das Lokale, Regionale und Nationale hinausgehen und den Alltag vor Ort mit der Welt verbinden. Gerade migrantische Lebensentwürfe sind Beispiele dafür, wie solche transnationalen Netzwerke und Strategien entwickelt werden, wie Mehrfachzugehörigkeiten zustande kommen und welche Rolle sie für die Betroffenen im konkreten Alltag spielen. Das folgende Beispiel soll dies demonstrieren: Familie M. lebt seit fünf Jahren im Kölner Stadtteil Nippes und betreibt eine türkische Konditorei direkt am Marktplatz des "Veedels". Herr M . war mit 18 Jahren aus der Südtürkei zunächst in die Schweiz ausgewandert. Später lernte er seine jetzige Frau in Straßburg kennen und zog anschließend dahin. Sie ist Tochter einer Gastarbeiterfamilie aus der Türkei, in Straßburg geboren und aufgewachsen. Vor sechs Jahren kam die Familie dann mit ihren Kindern auf Empfehlung ihrer in Köln lebenden Verwandten nach Köln, weil zu dieser Zeit gerade das Ge-
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schäft am Markt leer stand und die Läden dort sehr begehrt sind. Weil Herr M. in der Türkei eine Konditoreiausbildung abgeschlossen hatte, beschloss die Familie, eine türkische Konditorei zu eröffnen; Nicht nur türkische, auch französische Rezepte wurden für Backwaren und Desserts "importiert". Alle Familienmitglieder sind französische Staatsbürger. Sie bekommen oft Besuch aus Straßburg von ehemaligen Nachbarn und Freunden, aber auch aus den Niederlanden, wo ein anderer Teil der Familie lebt. Im Laden werden daher unterschiedliche Sprachen gesprochen: Französisch, Deutsch, Türkisch, Niederländisch. Die Kinder wachsen dreisprachig auf, eine Tochter besucht mittlerweile das Gymnasium. Hier zeigen sich die kreativen Potentiale von Lebenskonstruktionen, die durch Migrationsbewegungen entstanden sind und im urbanen Alltag heute eine gelebte Normalität darstellen. Durch transnationale familiäre Netzwerke und deren Nutzung werden neue Kompetenzen entwickelt, soziales und kulturelles Kapital akkumuliert. Transnationale Räume werden zu Möglichkeitsräumen (vgl. Schiffauer 2006: 169ft) . So werden "bewegte Zugehörigkeiten" (Strasser 2009) und weltweit gespannte Mehrfachverbindungen zu einem komplexen, vielschichtigen und hybriden Phänomen und somit zu einer biographischen Ressource in einer globalisierten Welt. Lokalität erscheint hier als ein Ergebnis von unterschiedlichen (familiären) Beziehungen, die weit über den Ort hinausgehen und sogar die ganze Welt umspannen können (vgl. Massey 2006: 26). Aus diesen Netzwerken und Lebensentwürfen entstehen neue Formen und Erfindungen, die die Betroffenen aus unterschiedlichen Elementen auf lokaler Ebene reflexiv zusammenfügen. Solche Lebensentwürfe verweisen aufeine Lebenspraxis, die der Wirklichkeit der globalisierten Welt nicht hinterher hinkt, sondern sie vorantreibt (vgl. Apitzsch 1999: 482). Das Leben zwischen oder in unterschiedlichen Welten, das bisher vor allem im Migrationskontext als .Zerrissenheit" oder .Leidenprozess" dramatisiert wurde, erfährt jetzt eine biographische Relevanz für die Betroffenen und wird möglicherweise zu einer passenden Metapher für die kosmopolitischen Zeichen der Zeit. In diesem Sinne stellt Regina Römhild (2003: 14) zutreffend fest: "Es ist die Illusion der Sesshaften, dass man sich räumlich und kulturell auf ein Territorium festlegen muss, um eine Antwort auf die Frage der Identität zu finden ."
Schlussfolgerung Die weit verbreitete Rede von .Parallelgesellschaften'' oder der "Zerrissenheit zwischen den Kulturen" macht deutlich, wie die vielfältige und komplexe Alltagspraxis in der globalisierten Migrationsgesellschaft auf die binäre Vorstellungswelt "Wir" und die .Anderen" reduziert wird. Ein Blick in urbane Welten zeigt dage-
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gen, dass das Alltagsleben eher einer undramatischen sozialen Grammatik folgt, die stärker an konkreten Prozessen und Erfahrungskontexten orientiert ist, als es die allzu einfachen kulturellen Zuschreibungen suggerieren. Aus dieser Perspektive wird sichtbar, dass gerade die im öffentlichen Diskurs skandalisierten migrantischen "Grenzbiographien", die weder zum einen noch zum anderen "Kulturkreis" gehören, sondern sich dauerhaft in Zwischen-Räumen befinden, in Zukunft die Weltgesellschaft prägen werden. Unterschiedliche Inkorporationsstrategien und Verortungspraxen, die in urbanen Räumen entwickelt werden, sind als neue und kreative Leistungen zu betrachten. Diverse und zum Teil weltweit gespannte (kulturel1e) Elemente und Verbindungen werden als transnationales soziales Kapital genutzt und je nach Kontext zu hybriden Lebensentwürfen zusammengefügt. So werden urbane Räume zu Bühnen, Ausgangspunkten und Schnittstel1en für viele Verortungsstrategien, die über das Lokale hinausgehen. Damit wandeln sich lokale Orte zu Multizentren für unterschiedliche Traditionen, Kulturen, Erinnerungen, Ereignisse und Erfahrungen. Hier wird eine soziale Grammatik sichtbar, die neue Möglichkeitsräume erlaubt, in denen Differenzen neu gedacht, aktiviert und auf unterschiedliche Weise miteinander kombiniert werden. Diese Formen der Neugestaltung geschehen nicht in mythischen Integrationskonzepten, sondern vor al1em in den Niederungen des Al1täglichen: "Eine Politik zur Gestaltung der Vielheit", so Mark Terkessidis, "muss diese al1täglichen Erlebnisse ernst nehmen" (2010: 88).
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Political Recognition of Cultural Diversity in Turkey on the Way to the European Union AyhanKaya
'Diversity' has become one of the catchy words of the contemporary political philosophy. Diversity, in its recent forms, be it cultural, political, ethnic, or religious, is a byproduct of the processes of globalization, which make the movements of people/groups in the ethnoscape easier. It is apparent that the management of diversity has posed a great challenge for the nation-states as well as for the international and supranational organizations such as the United Nations and the European Union (EU). This paper shall touch upon the management of ethnie diversity in both national and supranational levels with particular reference to Turkey and the EU. The work wi11 make aseparation between 'diversity as a phenomenon' and 'diversity as a discourse/ideology' in the Turkish context, and will claim that the state and the various ethnic groups in Turkey have been inclined to employ the 'diversity as a discourse/ideology' in the aftermath ofthe EU Helsinki Summit in 1999 in compliance with the prevailing discourse of 'unity in diversity' within the EU circles.
1. Political Philosophy ofDiversity: "unity-in-diversity", "unity-overdiversity", and "together-in-difference". There have recently been several political philosophers who have tried to provide some conceptual and philosophical tools in order to layout a framework around the discussions on diversity. For instance, Wi11 Kymlicka (1995), a liberal-communitarian, attempts to combine ideas of liberal democratic principles as a basis for a cohesive societal structure (unity) with recognition of communitarian rights for cultural minorities (diversity) within the multinational states (Unity-in-diversity). Kymlicka claims that collective rights for minority groups do not contradict with the liberal notion of politics, they are rather pivotal for enabling individual freedom for the members ofthe minority group in question (Kymlicka 1995: 46).
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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On the other hand Brian Barry, a liberal, wams the reader about the c1eavages springing from a multiculturalist approach on the basis that 'respect for diversity' is expected to threaten the unity, which is necessary for promoting equal distribution among citizens. This is not wholly an economic issue, but also one of distributing equal rights. Barry points to the negative consequences ofKymlicka's emphasis on 'group rights' when it comes to sectarian religious groups. He argues (Barry 2001 : 165) that such groups could never be granted group specific rights, ifthe (liberal) state is to rernain true to its ideal of'impartiality and neutrality. His priorities lie at the rule ofthe majority with respect for individual rights over the principles of group-centred multiculturalism, in other words, a kind of Unity-over-diversity. However, Iris Marion Young (2000: 215), a communitarian, questions this 'unity' as a necessary ground for a modem pluralistic society. Instead she promotes a 'politics of difference', which aims at recognizing cultural and social differentiation among people in a region. The people, then, do not necessarily need to share the same basic ideals; rather they ought to focus on reaching agreements and coalitions for solving political problems (Young 2000: 216-217). In contrast to notions of segregation and even ideals of assimilative integration, Young (2000: 206) postulates a principle of 'togetherness-in-difference' : The positions stated above (Iiberal-cornmunitarian, liberal and communitarian) are the mostly debated political postures with regard to the management of cultural diversities in the context of'nation-states. However, there is not sufficient discussion concerning the management of cultural, ethnic, national, religious and civilizational diversity within the European Union. There are recently some attempts within the European Union Commission aiming at possible seenarios for the future . These seenarios have lately become visible with the circulation of such notions in public as 'unity-in-diversity', 'Europe of'regions', 'cultural diversity', 'diversity', and 'European citizenship' . It should also be stated here that the EU Commission seems to favor a Kymlickan "unity-in-diversity" position in order to manage all sorts of diversities.
2. Diversity as a phenomenon, and as a discourse in Thrkey: An Ethnically Diverse Land There are two alternative ways ofcomprehending the notion of diversity in the Turkish context as well as in other contexts: diversity as a phenomenon, and diversity as an ideology . The fonner refers to the coexistence of different groups in a historical process, which comes into play either as a primordial phenomenon as in migration flows through Asia Minor, or as a politically generated phenomenon as in
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the settlement of various ethnic groups in Central Anatolia by the Imperial (19th Century) and the Republican (20th Century) settlement laws. However, diversity as a phenomenon is not necessarily appreciated by the ruling powers, sometimes it is denied. Nation-building process in Turkey starting from the beginning ofthe 20th century has gone hand in hand with the attempts to homogenize the nation by denying the diverse character of the Anatolian geography. This process is characterized by heterophobia resulting from the fear of losing the remaining parts ofthe Ottoman Empire in the aftermath ofthe French Revolution. Contemporary Turkish history is the history ofhomogenization as in many other examples ofnation-building. Hence, diversity as a phenomenon has so far been denied in Turkey by the political elite. Nevertheless, there are recently strong signs ofrecognition of ethnic, religious and cultural differences by the Turkish state. Thus, diversity as a discourse/ideology is gaining a momentum in the last few years distinguished by the societal and official attempts to join the European Union. At first glance, it seems that the shift from the 'nationalist homogenisation discourse' to 'diversity discourse' results from the external factors such as the European Union itself. But, a comprehensive analysis of the issue may prompt us to reach another conclusion, i.e. the a11iance ofinternal and external factors. In what fol1ows, the discursive shift from homogenisation to diversity wi11 be briefly displayed with the interplay ofboth internal and external dynamics in the background.
3. Thrkey: A multi-ethnle country Turkey is a multi-ethnic and multi-cultural country, housing approximately 50 different Muslim and/or non-Muslim ethnic groups, some ofwhich are Sunni Turks, Alevi Turks, Sunni Kurds, Alevi Kurds, Circassians, Lazis, Armenians, Georgians, Jews, Greeks, Arabs, Assyrians etc. However, leaving aside the last decade of democratization attempts, the Turkish State has been far from recognising the ethnically and culturally diverse nature ofthe Turkish society since the foundation ofthe Republic in 1923. Ethnic groups in Turkey have been subject to homogenising state policies, some ofwhich originate from the nationalist Turkish history thesis of 1932, placing the Turks into the centre ofworld civilisation; Sun Language Theory (1936) addressing the Turkish 1anguage as the mother ofall1anguages in the wor1d; unitarian nationalist education po1icies (Tevhid-i Tedrisat Kanunu, 1924); banning the use ofmother tongue and of ethnic minority names; discriminatory settlement po1icies (iskfin Kanunu, 1934) vis-ä-vis exchange populations and new migrants; discriminatory citizenship 1aws granting citizenship exc1usi-
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vely to Muslim origin migrants; implementing Wealth Tax in 1942, particularly to non-Muslims; and intemally displaced people ofthe east and southeast of'Turkey,' Retrospectively speaking, ethnic groups in Turkey such as Kurds, Circassians, Alevis, Armenians, Lazis, and Arabs have developed various political participation strategies vis-a-vis the legal and political structure and limitations. While the Turkish Republic was being built up in the 1920s and especially in the 30s, the republican political elite were highly engaged in a strong ideology of majority nationalism, which promoted the formation of an ethnically and culturally homogenous nation. Most ofthe ethnic groups, then, preferred to incorporate themselves into this nation-state project along with the discourse of a homogenous Turkish nation defined by the republican elite; they abstained from dec1aring their ethnic identities in public, and thus considered themselves as one of the constitutive elements ofthe Turkish Republic. The defining distinctiveness ofthe early periods ofthe Republic was the Turkification policies,' which imposed the dominance of Turkishness and Sunni Islam as the defining elements in every walk of life from the language spoken in the public space to citizenship, national education, trade, personnel regime ofthe public enterprises, industriallife and even settlement laws. Having an Imperial legacy, many of such new regulations and laws referred to a set of attempts to homogenize the entire nation without any tolerance on diversity and difference. It is highly probable that the underestimation of ethnic diversity among the Muslim population ofthe Republic was because ofthe preceding Ottoman Millet system borrowed by the republican political elite. As known, the Millet system ofthe Ottoman Empire was blinded to ethnic differences among Muslims. All Muslims regardless of their other differences belonged to the one and same 'Muslim nation' .' These kinds of assimilationist and/or exc1usionist state policies have eventually shaped the ways in which ethnic groups have developed their identities and political participation strategies. In order to survive in Anatolia, former generations of ethnic groups preferred to assimilate to mainstream political culture in Turkey, which was dominated by homogeneity, Sunni Islam and Turkishness. The work ofMoiz Kohen Tekinalp (a Jewish-origin Turkish nationalist), Turkification, 1928 (Turkiestirmei, is illuminating in the sense that he pointed out the main incorporation strategies for non- Turkish ethnic minorities into the political system. He proposed 10 commandments to the Turkish-Jews for their incorporation with the Turkish nation in the nation-building process: "1. Turkify your names; 2. Speak
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For a detailed account ofthose regulations and laws see Aktar (2000), Yildiz (2001) and Bali (1999) . For further information on Turkification policies see Aktar (2000) . 'Muslim nation ' inc1uded only the Sunnis, but not the Alevi population in Turkey.
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Turkish; 3. Pray in Turkish in synagogues; 4. Turkify your schools; 5. Send your children to Turkish schools; 6. Get engaged in national issues; 7. Stick together with Turks; 8. Affiliate yourselfwith the community spirit; 9. Fulfil your duties in the national economy; 10. Be aware ofyour rights." (Cited in Landau, 1996) Although, Tekinalp's commandments may, at first glance, seem to be corresponding only to the non-Muslims in Turkey, there are also strong evidences that those commandments may also apply to some Muslim communities such as Kurds and Circassians (Y tldtz, 200 I). AIthough Tekinalp's commandments may sound quite extreme, there is no doubt that several ethnic groups have suffered from unrecognition, misrecognition, discrimination, uneven political representation and structural outsiderism. Dominant discourse ofhomogeneity has been challenged by a few major incidents having both internal and external sources: a) rising politics of identity originating from the USA in the I970s; b) Kurdish nationalism starting in the early 1980s; c) Alevi revivalism gaining velocity in the 1990s; and d) democratization process stimulated by the European Union Helsinki Summit in 1999, declaring Turkey as a candidate country to the EU. There mayaIso be several other reasons in this respect. But there is one reason worthwhile explaining: Turkey's enthusiastic hopes and efforts of integration into the European Union along with the Helsinki Summit. The post-Helsinki Period corresponds to Turkey's willingness to go through certain constitutional and legal changes in many respects. These changes also have an impact on the discourses developed by various ethnic, cultural, and religious groups in the country. Therefore, the discursive shift from homogenization to diversity owes a lot to the Helsinki Summit decisions, and to the democratization process which accelerated in the aftermath ofthe Summit. The following section will elaborate on the Post-Helsinki process, which resuIted in the intensification ofthe notion of"diversity as a discourse/ideology" .
4. The Post-Helsinki Period: moderate turn towards democratization Despite political, ethnic and religious predicaments in neighbouring countries, Turkey has experienced one ofthe steadiest periods in the history ofthe Republic. At the Helsinki Summit in December 1999, the European Heads ofState and Government for the first time offered Turkey the concrete prospect of full membership ofthe European Union, more than four decades after its application for association with the European Economic Community in July 1959. The decision taken in Helsinki was in almost direct opposition to that taken at the Luxembourg Summit of 1997, which was designed to crush Turkey's hopes for EU membership. In the
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aftennath ofthe Luxembourg Summit, the public response in Turkey was immediate and harsh. Popular nationalism, minority nationalisms, Kemalism, religiosity, Ooccidentalism and Euroscepticism all reached their peak shortly afterwards, but thanks to the Helsinki Surnmit, this destructive atmosphere in Turkey did not last long. The EU perspective delivered to Turkey in Helsinki owed much to the letter that had been sent by Prime Minister Bülent Ecevit to the German Chancellor, Gerhard Schröder, in May 1999. The letter was crucial because in it Turkey expressed its willingness to undertake structural reforms in the political, social and economic spheres in order to fulfil the Copenhagen political criteria. These commitments were optimistically interpreted by the political elite of the EU member states, and particularly by the German Greens and Social Democratic Party. The letter was sent in the immediate aftermath ofthe arrest ofthe PKK leader, Abdullah Öcalan, in January 1999. As one can imagine, the capture ofAbdullah Öcalan was regarded as the end of a traumatic reign of terror and violence, both for the political establishment and the nation in general. It is apparent that recently many ethnic minority groups in Western Europe have been trying to surpass the nation-states, to which they have been subjected, by bringing their issues to the European Union bodies. Basques, Corsicans and Catalans have, for instance, taken their demands on a transnational basis into the European Commission to be solved. Kurds, Alevis, Circassians and other ethnic minorities in Turkey are also engaged in similar political manoeuvres. In fact, they have rational reasons to do so. The EU has recently declined the use ofthe minority discourse due to the escalation ofminority problems in Europe, especially in the aftermath of the dissolution process of the former Yugoslavia. As could be clearIy seen in the Accession Partnership Document, which maps out the requirements ofTurkey in the integration process into the EU, the term 'minority' has been replaced with the term 'cultural diversity' in order to celebrate 'unity in diversity' . Corresponding to some threats and practical needs within the Western European context, the discursive shift from 'minority' to 'cultural diversity' also has its reasons peculiar to the Turkish context in which the use of the tenn 'minority' has the risk of provoking certain groups in one way or another. Parallel with the discursive shift from 'minority discourse' to 'cultural diversity', the rising currency ofthe understanding ofthe 'Europe ofRegions' has also made an impact on the management of political, economic and social disparities with regard to less-developed regions. Many Kurds, for instance, are attracted by the notion ofa 'Europe ofRegions' capable ofproviding the context for political accommodation between the Turkish Republic and the Kurds (yavuz, 2001; and Ekinci, 2001). Similarly, other ethnic andlor religious groups such as Alevis, Cir-
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cassians, Georgians and Lazis are also captivated by the democratic qualities of the Union, which denounces cultural homogeneity and celebrates cultural diversity. Consequently, ethnic group associations in Turkey have already abandoned minority politics in the face ofthe currently changing political discourse in the West. There is also strong evidence in Turkey that some political actors within the state apparatus have demonstrated their willingness towards the recognition ofethnie, cultural and religious diversity; and that minority claims are no longer predominantly considered to be a threat to national security, but a quest for justice by at least a part ofthe political and military establishment. This shift in the ways in which the state perceives minority claims has brought about essential repercussions in both public and bureaucracy. For instance, Minorities commission which was secretly formed in 1962 was banned in 2004, and replaced with Civil Committee on Minorities. The new Committee is composed of civil, central and 10cal govemment representatives, but not of any military personnel. This discursive shift is also visible in the discourses ofthe Prime Minister, Minister of Justice, Interior Minister and the ChiefNegotiator for the Accession Talks with the EU.
5. Virtuous Circle The European Union perspective offered in Helsinki has radically transformed the political establishment in Turkey, opening up new prospects for various ethnic, religious, social and political groups . Kurds, Alevis, Islamists, Circassians, Armenians and a number ofreligious and ethnic groups in Turkey have become true advocates ofthe European Union in a way that affirms the pillars ofthe political union as a project for peace and integration. The EU provides a great incentive and motivation for numerous groups in Turkey to reinforce their willingness to coexist in harmony. What lies beneath this willingness no Ionger seems to be the retrospective past, full of ideological and political disagreements among various groups, but rather the prospective future, in which ethnic, religious and cultural differences are embraced in a democratic way. The EU currently appears to be the major catalyst in accelerating the process of democratisation in Turkey. "If, in December 2004, the European Council, on the basis of areport and recommendation from the Commission, decides that Turkey has fulfilled the Copenhagen political criteria, the European Union will open accession negotiations with Turkey without delay" state the conclusions ofthe European Council, summoned in Copenhagen in December 2002 . However, both the political establishment and the general public in each of the European Union countries are aware of the fact that Turkey's membership of the Union will further stimulate discussions about
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"European identity" and "the limits ofEurope". There have recently been heated public debates on Turkey's EU membership in several countries, mostly disfavouring membership of a large state like Turkey with its overwhelmingly Muslim population and socio-economic conditions below the European average (Kubicek, 2005) . Some arguments put forward the socio-economic disparities between Turkey and the EU, some underline the Islamic character ofTurkey, and some emphasize Turkey's undemocratic and patrimonial political culture, whilst others even raise the c1ashof civilizations in order to reject Turkish membership. Nobody can deny the fact that it will be difficult for the Union to absorb Turkey in the short term. However, a more constructive discourse needs to be generated with regard to Turkey's full membership in order to revitalize one ofthe fundamental tenets of the European Union, that of"a peace project". There is no doubt that a peace project requires constructive rather than destructive criticisms. The discourse developed by the Independent Commission on Turkey is constructive, and thus deserving of admiration. The decision taken by the Union on 17 December 2004, and reconfirmed on 3 October 2005, to start accession talks with Turkey immediately, has also reinforced the Turkish public's faith in the EU. What is even more important in Turkey is that 'the peace project' discourse has become quite popular and political. One comes across articles in the newspapers and speeches on TV and radio that address the EU as a peace project that has been able to settle the deep-rooted animosity between Germany and France and, more recently, between Germany and Poland. It is believed that the EU is not only a peace-making political union , but also one that exports peace. The 1999 Helsinki Summit decision stimulated a great stream of reforms in Turkey. In fact, the country achieved more reforms in just over two years than during the whole of the previous decade. Severallaws were immediately passed in the National Parliament to fulfil the Copenhagen political criteria. These inc1uded the right to broadcast in one's mother tongue; freedom of association; the limitation of military impact on the judiciary; more civilian control over the military; bringing extra-budgetary funds to which the military had access within the general budget of the Defence Ministry; removing military members from the High Audio Visual Board (RTÜK) and the Board of Higher Education (YÖK); removing military judges from the State Security Courts (DGM) and eventually the abolition ofthose Courts; the extension of civil rights to officially recognized minorities (Armenians, Jews and Greeks); reformation ofthe Penal Code; the abolition of the death penalty; release of political prisoners; the abolition of torture by the security forces; and greater protection for the press. Furthermore, strict anti-inflationist economic policies have been successfully enforced along with the Inter-
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national Monetary Fund directives; institutional transparency and liberalism have been endorsed; both formal nationalism and minority nationalism have been precluded; and socio-economic disparities between regions have also been dealt with. However, much remains to be done and to be implemented. The EU perspective has also provided the Turkish public with an opportunity to come to terms with its own past, a Turkish "Vergangenheitsbew ältigung" (coming to terms with the past) . Two widely debated and polemical conferences on the "Ottoman Armenians during the Dem ise ofthe Empire" and the "Kurdish Question" were organized at the Istanbul Bilgi University, on September 25-262005 and March 11-12 2006 respectively, a point to which we shall return later. Although the judiciary acted favourably towards the lawsuits claimed by some ultra-nationalist lawyers, both conferences paved the way for public discussion oftwo subjects that had hitherto been taboo in contemporary Turkish history. Another international conference was hosted (26-27 May 2005) by the Istanbul Bilgi University's Centre for Migration Research, on the theme of the emigration ofAssyrians who were forced to leave Eastern Anatolia in the aftermath of the foundation of the Republic in 1920s. Assyrian-origin participants from various European countries including Sweden, Germany, France and Belgium openIy expressed their excitement at seeing the radical democratic transformation that Turkey had recently gone through. Another conference, on the theme "Meeting in Istanbul: past and present", was organized by the Greek-origin minority in Istanbul, to bring together intellectuals from the Anatolian-Greek diaspora and the Greeks ofIstanbul (June 30 - July 2, 2006). Apart from the fact that such conferences could be organized in contemporary Turkey without encountering any major public intervention, the latter conference was even hosted by the AKP-affiliated Istanbul Metropolitan Municipality, All ofthese legal and political changes bear witness to the transformation of Turkey regarding its position vis-ä-vis the notion of diversity. This transformation corresponds to a discursive shift, which officially recognizes Turkey as a multicultural country. That is to say that multiculturalism is no longerjust a phenomenon in Turkey : it is also an officially recognized legal and politicalfact.
6. Vicious Circle From 17 December 2004 to 3 October 2005, when EU state and national govemment leaders decided to start negotiations with Turkey, tensions began to rise between nationalist, patriotic, statist, pro-status-quo groups on the one hand and proEU groups on the other hand. This was the time when the virtuous cycle of the
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period between 1999 and 2005 was replaced with the vicious cycle starting from the late 2005 . A new nationalist wave embraced the country, especially among middle-c1ass and upper middle-class groups . The electoral cyc1e of presidential and general elections, witnessed militarist, nationalist and Eurosceptic aspirations coupled with rising violence and terror in the country. The fight between the Justice and Development Party (AKP) and the other statist political parties, backed by the army, crystallized during the presidential election in May 2007 . The AKP had nominated the then Minister ofForeign Affairs, Abdullah Gül, as presidential candidate, but Mr Gül did not fit the expectations ofTurkey's traditional political and military establishment and he failed to reach the required two-thirds majority in the assembly sitting. This failure resulted from the fact that the presidential post has a rather symbolic importance in Turkey since it was first occupied by Mustafa Kemal Atatürk, the founder of modem Turkey. However, the establishment argued that, as someone with pro-Islamist values and a wife who wears a headscarf, Mr Gül was inappropriate for the office of president. The conflict even led to military intervention in politics on 27th April 2007, an intervention notoriously labelled "e-intervention" because ofthe way it was announced on the web page of the Chief of Staff. However, the nationalist and militarist alliance against the AKP was unsuccessful in the general election and on 22 July 2007 the party won alandslide victory, with 47 % ofthe votes cast. Following the elections, Abdullah Gül was also elected for the Presidential office. It could simply be concluded that, instead of heeding the nationalist and militarist electoral campaigns, based on a parochial, local, anti-global and anti-European discourse that aimed for 'nationalist c1osure', the Turks opted for Europeanization, globalization, stability and progress. However, this time the EU was not in astate ofbeing a light house for Turkey again. This is why, the political divide present at the top ofthe Turkish State is now being turned into a social divide between moderate Islamists and secular fundamentalists, involving a wide variety ofpolitical and non-political actors such as the political parties, parliament, judiciary, army, academia, non-govemmental organizations, media and business circ1es. The social and political divide in Turkey has both internal and external sources. The divide actually seems to have economic reasons as the ruling party, Justice and Development Party (IDP) has so far represented the interests of newly emerging middle c1ass groups with rural origin-conservative background, who are competing against the established middle and upper middle c1asseswith urban background. The divide also springs from the fact that the legitimate political centre is now accessible to several social groups inc1uding not only laicists, republicans, Kemalists and liberal business circ1esbut also Muslims, Kurds, conservative
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business circles and several other groups. International sources of the divide are namely internal crisis of the European Union, enlargement fatigue of the Union, ongoing instability in the Middle East, changing American interests in the region, rise ofpolitical Islam as areaction to the ongoing Islamophobia in the world, and the global evocative ascendancy of civilizationist/culturalist/religious discourse.
7. Conc1usion In the post-Helsinki period the government has relatively given up the exc1usionist nationalist policies, and has become rather inclined towards inclusionary policies vis-ä-vis ethnic and religious groups . Helsinki Summit essential1yrefers to the acknowledgment ofthe notion of"diversity as an ideology". It was also argued that the Helsinki decision was very decisive in turning the Kurdish minority and other ethnic groups into being more incorporative with the Turkish political system, and in making ethnic groups raise their concerns to the EU delegation in search for democratization in many respects. These are the signs in Turkey that some political actors within the state apparatus have demonstrated their wi11ingness towards the recognition of ethnic, cultural and religious diversity; and that ethnic groups in general have gone through a discursive shift from 'minority discourse' to 'diversity discourse' . Some ofthe state actors and several ethnic groups have also implicitly and explicitly expressed their approval ofthe Kymlickan position 'unityin-diversity'. Thus, there seems to be a direct link between the discursive shifts ofthe European Union and those ofTurkey. Nevertheless, I should point out that, in this paper I have specifical1y discussed the Kymlickan position with respect to both Turkey and the EU . The two other positions by Brian Barry and Iris Marion Young are also worthwhile to discuss in a greater depth as they both correspond to some other fault-lines in the Turkish context as wel1 as in other cases such as the central and eastern European candidate countries.
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Multikulturalismus - das kanadische Modell des Umgangs mit Diversität Rainer Geißler
Kanada versteht sich seit 1971 mit Überzeugung und mit Stolz als multikulturelle Gesellschaft. Auf die Herausforderung seiner multiethnischen Bevölkerungsstruktur antwortet es seit vier Jahrzehnten mit der Philosophie und Politik des Multikulturalismus. Deutschland bemüht sich erst seit dem Ende der Ära Kohl um eine Antwort auf die Frage, wie es mit dem stark gewachsenen und weiterhin wachsenden multiethnischen Segment seiner Sozialstruktur, das bereits etwa ein Fünftel der Bevölkerung umfasst, umgehen soll. Dabei wird der Begriff der "multikulturellen Gesellschaft" eher gemieden, weil er im hitzigen Streit um das ,,(Nicht-)Einwanderungsland Deutschland" in den 1980er und 1990er Jahren zu einem wert- und emotionsgeladenen Reizwort hochstilisiert worden war,' In der derzeitigen Debatte um die notwendige Integration der Menschen aus Einwandererfamilien lohnt sich für die deutschen Politiker und Wissenschaftler ein Blick nach Kanada. Sie können dort eine Variante der multikulturellen Gesellschaft in nascendi et agendi beobachten, wo die ethno-kulturelle Diversität von Anbeginn an - anders als es in Deutschland geschah - als gesellschaftliche Chance begriffen und umfassend gepflegt wurde und wird. In diesem Beitrag soll danach gefragt werden, was die Deutschen aus dem kanadischen Modell des Multikulturalismus für ihre derzeitige Debatte um Migration und Integration lernen können.
1. Das "ethnische Mosaik" Kanadas
In der vielschichtigen, hoch differenzierten multiethnischen Struktur der kanadischen Bevölkerung lassen sich vier Hauptgruppen ausmachen : in der Abfolge ihrer Einwanderung nach Nordamerika sind dies die Ureinwohner, die sog. "Gründemationen" der Anglo- und Frankokanadier, die später eingewanderten europäischen Ein guter Abriss der Diskussion, siehe Alf Mintzel (1997)
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Rainer Geißler
Minderheiten und die sog. "sichtbaren Minderheiten" aus den Ländern der Dritten Welt, die in der Regel erst seit den 70er Jahren nach Kanada kommen (vgl. Tabelle). 1.
Die Ersten Nationen - wie die Ureinwohner ("Indianer", "Eskimos" und "Metis"2) seit einigen Jahren offiziell genannt werden - hatten den amerikanischen Kontinent mit einer großen Vielfalt von Kulturen über viele Jahrtausende allein bewohnt. Heute sind sie in Kanada durch die Massen von neuzeitlichen Einwanderern zu kleinen, sehr multikulturellen (11 Sprachfamilien, über 600 "bands") Minderheiten zusammengedrückt und in eine extreme ökonomische, soziale, kulturelle und politische Randlage abgedrängt worden. Aus reinen Ureinwohnerfamilien stammen nach der letzten Erhebung im Jahr 2001 knapp 600.000 der 29,6 Millionen Bewohner Kanadas (1,9% der Bevölkerung); nimmt man diejenigen aus gemischten Familien - d. h. ein Elternteil oder Vorfahre ist Ureinwohner - dazu, dann sind es gut 1,3 Millionen oder 4,5% der Bev ölkerung.'
in Tsd. 3980
absolute Zahlen in Tausend Sichtbare Minderheiten
in Prozent 13,4
seit ca. 25 Jahren
Asiaten 2740 (davon Chinesen 1 030)
I
Schwarze 660
I Lateinamerik. I 220
Araber 190
Europäische Minderheiten
seit ca. 100-150 Jahren
3750 (8730)
13 (29)
Deutsche 710 (2740)
I Italiener I Ukrainer IHolländer I 730 330 310 (1 270)
(1 070)
(920)
Polen 260 (820)
INorweger I Sonstige I 50 1360 (360)
(1 550)
GrindemationenlKanadier
Ostkanada: seit ca: 400 Jahren Westkanada: seit 150-200 Jahren 10500 (26440) 35 (89)
Briten 2670 (9970)
I
Franzosen 1150 (4770)
I
Kanadier 6750 (11 700)
Erste Nationen
seit ca. 12 000 bzw. 4 000 (Inuit)Jahren 565 (1 320)
1,9 (4,5)
Nordamerikanische Indianer 456 (1 000)
I
Inuit (= "Eskimos") 37 (56)
I
M6tis 72 (308)
Das ethnische Mosaik Kanadas (Quelle : zusammengestellt nach www.statcan .ca; Datenbasis: Zensus 2001) . 2 3
Nachkommen aus früheren Verbindungen und Ehen von Europ äern und Ureinwohnern; mit einer besonderen Identität als Metis und einem spezifischen Rechtsstatus; überwiegend in den Prärie-Provinzen Westkanadas ansäss ig. Zur Geschichte der Ersten Nationen vgl. Arthur Ray (1996) sowie vgl. James S. Frideres (1998)
Multikulturalismus - das kanadische Modell des Umgangs mit Diversität
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Gesamtbevölkerung nach Zensus2001: 29,6 Mio. Die Zahlen enthaltenkleine Ungenauigkeiten, weil der Zensus 200I knapp 5 Prozent der Gesamtbevölkerung von 31,1 Millionenbei der Erhebungvon ethnischerHerkunftund Identität nicht erfasst. Angabenohne Klammem: nur aus ethnischhomogenenFamilien Angabenin Klammem: aus ethnischhomogenen+ gemischten Familien
2.
3.
4.
4
Die beiden zahlenmäßig, kulturell und politisch dominanten Gruppen des ethnischen Mosaiks sind die Anglo- und Frankokanadier. Da sie das Gebiet des heutigen Kanadas kolonisiert und den modemen kanadischen Staat gegründet haben, nennen sie sich die "Gründemationen ". Vor einem Jahrhundert stellten sie noch 90% der Bevölkerung, seitdem geht ihr Anteil kontinuierlich zurück. 2001 stammte noch ein gutes Drittel der Kanadier aus rein britischen, französischen oder ,,kanadischen" Familien, der größere Teil (54%) kommt inzwischen aus gemischten Familien." Die dritte große Gruppe - die europäischen Minderheiten - wurde in zwei großen Wellen ins Land geholt: die erste um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, um bei der Besiedlung des Westens zu helfen, und die zweite kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Einwanderer von der boomenden Nachkriegswirtschaft gebraucht wurden. Ein knappes Drittel der Kanadier - einschlischließ Herkunft aus gemischten Familien - gehören dazu; die größte Gruppe stellen die Deutschkanadier (2,7 Millionen), gefolgt von den Italienern, Ukrainern, Holländern, Polen und Norwegern. Die sog. " sichtbaren Minderheiten" (fast 3 Millionen Asiaten sowie ca. 1 Million Schwarze, Lateinamerikaner und Araber) haben sich erst in den letzten drei Jahrzehnten zu einem zahlenmäßig gewichtigen Segment entwickelt. 1967 trat in Kanada ein neues Einwanderungsgesetz in Kraft - das "farbenblinde" Punktesystem, das die Einwanderungserlaubnis insbesondere an die individuelle Qualifikation bindet und das auch in der derzeitigen deutschen Diskussion eine wichtige Rolle spielt. Es hatte zur Folge, dass vermehrt Migranten aus Asien, im letzten Jahrzehnt insbesondere aus China (davon wieder viele aus Hongkong) einwanderten . Mit einem Anteil von 13% der Bevölkerung liegt der Umfang der "sichtbaren Minderheiten" etwas über dem .Ausländeranteil" im früheren Bundesgebiet.
GenaueZahlen zur Bevölkerungsentwicklung, siehe Leo Driedger(1996: 62). Im Zensusvon 1996werdendiejenigenFamilienausgewiesen, in denenmindestens einElternteil oder Vorfahre zu den "GriindemationenlKanadiem" gehört; ihr Anteil betrug 72 Prozent.
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2. Die Philosophie des Multlkulturalismus" Wie geht Kanada mit dieser ethnischeu Vielfalt um? In den 60er Jahren wurde dazu das Konzept des Multikulturalismus entwickelt, das dann 1971 zur bis heute gültigen Staatsideologie erhoben wurde. Die Kanadier sind nicht nur die ideellen Erfinder der multikulturellen Gesellschaft, sondern sie haben dieses Konzept auch als erste in praktische Politik umgesetzt. Die "Philosophie des Multikulturalismus" lässt sich zu sieben Grundprinzipien bündeln.
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Prinzipielles Ja zur ethno-kulturellen Verschiedenheit(diversity): Die ethnokulturelle Verschiedenheit wird prinzipiell positiv eingeschätzt - nicht nur, weil sie ein Grundtatbestand der kanadischen Wirklichkeit ist, sondern auch weil sie als vorteilhaft und produktiv angesehen wird: Es wird angenommen, dass sie Kräfte enthält, die der kanadischen Gesellschaft als ganzer unter dem Strich mehr nützen als schaden . Ethno-kulturelle Diversität ist Kraftquelle und Bereicherung. Recht aufkulturelle Differenz: Alle Menschen und Gruppen haben das Recht aufErhaltung und Pflege ihrer kulturellen Besonderheiten - sofern dies ihren Wünschen entspricht. Es besteht also ein Recht, aber keine Pflicht oder gar Zwang zur ethnischen Identifikation. Prinzip der kulturellen Gleichwertigkeit und gegenseitigen Toleranz: Die verschiedenen ethno-kulturellen Gruppen sind gleichwertig und erkennen sich gegenseitig als gleichwertig an. Aus diesem Prinzip leitet sich das Gebot gegenseitiger Toleranz ab. Der Identifikation mit der Herkunftsgruppe soll jedoch die Identifikation mit der Gesamtgesellschaft vorausgehen. Erlaubt ist eine hierarchisch strukturierte Doppelidentität. Die Identifikation mit Kanada soll dabei primär, die Identifikation mit der Herkunftsgruppe sekundär sein. Der "Bindestrich-Kanadier" soll also in erster Linie Kanadier und erst in zweiter Linie Engländer, Schotte, Quebecois, Deutscher, Ukrainer oder Chinese sein. Sicherheit - Kontakt - Hypothese: Das Recht auf Differenz gründet u. a. auf der empirisch bestätigten sozialpsychologischen "Sicherheit - und - Kontakt-Hypothese": Die Verankerung in der Eigengruppe fördert das Selbstbewusstsein und die psychische Sicherheit der Individuen und schafft so Dieses Kapitel stützt sich im wesentlichen auf verschiedene Dokumente (Rede Trudeaus im House ofCommons am 8. Oktober 1971; MulticulturalismAct 1988; Ontario Policy On Multiculturalismn) siehe Augie Fleras/Jean L. Elliot(2002), Augie Fleras/Jean L. Kunz, Multicultural (2001) , Richard 1. F. Day (2000) sowie John W. Berry/JeanA. Laponce (Eds .) (1994)
Multikulturalismus - das kanadische Modell des Umgangs mit Diversität
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die Voraussetzungen für die Offenheit gegenüber anderen ethno-kulturellen Gruppen, die dann Toleranz und interethnische Kontakte erst ermöglichen." Einheit - in - Verschiedenheit(unity-within-diversity): Ein Kern von gemeinsamen Grundwerten und Grundregeln (Verfassung, Gesetze, gemeinsame Sprache) garantiert den Zusammenhalt des Ganzen und setzt der Verschiedenheit und dem Recht aufkulturelle Differenz und Gleichheit Grenzen. Der gemeinsame Rahmen hat einen klaren Vorrang vor den besonderen Teilkulturen. Einwanderer dürfen nur diejenigen Teile ihrer mitgebrachten Kultur erhalten und pflegen, die nicht im Widerspruch zum verbindlichen gemeinsamen Kern stehen ("selektive Bewahrung der Kultur"). Die Gleichheit der Frau sowie häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder sind typische Bereiche, wo manche Herkunftskulturen mit dem gemeinsamen Kern kollidieren. Da die Kernnonnen dem europäischen Kulturkreis entstammen, relativiert das Prinzip "Einheit-in-Verschiedenheit" die Rechte auf kulturelle Differenz und Gleichwertigkeit, de facto gibt es eine Hierarchie der ethno-kulturellen Gruppen: Je mehr eine Kultur dem gemeinsamen Kern widerspricht, umso mehr Unterordnung und Verzicht werden ihr abverlangt. - Ein wichtiges Problem bei der Anwendung dieses Prinzips ist die Grenzziehung zwischen Verschiedenheit und Einheit. Wo endet die gleichberechtigte Verschiedenheit? Wo müssen sich kulturelle Besonderheiten dem gemeinsamen Kern unterordnen? Die Festlegung dieser "multiculturalline" - wie die Kanadier diese Grenze nennen - ist in einigen Punkten umstritten, nie endgültig abgeschlossen und Thema des politischen Diskurses sowie gerichtlicher Entscheidungen. Recht aufgleiche Chancen: Mit dem liberalen Recht aufkulturelle Differenz ist das soziale Recht auf gleiche Chancen bei der Teilnahme am Leben der kanadischen Gesellschaft verbunden. Der kanadische Multikulturalismus ist also nicht auf die kulturelle Ebene beschränkt, wie es der Terminus Multi-cKulturalismus" suggerieren könnte, sondern er hat eine liberal-soziale Doppelnatur und enthält zwei fundamentale Rechte: neben dem Recht auf kulturelle Verschiedenheit auch das Recht auf soziale Chancengleichheit. Seine Herausforderung besteht darin, zwei Ziele gleichzeitig zu erreichen: kulturelle Verschiedenheit zu erhalten und ethnisch bedingte soziale Ungleichheit abzubauen. Management-Annahme: Multikulturalismus in dem skizzierten Sinne entwickelt sich nicht von selbst, sondern bedarf des politischen Managements - der politischen Ermutigung und Förderung. Vgl. John W. Berry u.a. (2006) sowie RudolfKalin/John W. Berry (1994)
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Wichtige Bestandteile der Multikulturalismus-Philosophie werden in der Metapher des" ethnischen Mosaiks" eingefangen. Damit will sich Kanada bewusst und nachdrücklich vom "Schmelztiegel"-Ideal der USA abgrenzen: Die Vielfalt der Kulturen soll nicht in einem .melting pot" eingeschmolzen werden, sondern jede ethno-kulturelle Gruppe soll- wie die Steinehen bzw. Teile eines Mosaiks ihre spezifische Farbe oder Form erhalten, und alle Gruppen zusammen formieren sich dann als Teile mit ihren Besonderheiten zu einem bunten und vielgestaltigen Gesamtbild.
3. Multikulturalismus-Politik 1971 proklamierte der liberale Premier Pierre Trudeau die " Politik des Multikulturalismus in einem zweisprachigen Rahmen " zur zentralen Leitlinie künftiger kanadischer Politik. Es wurde zügig eine Fülle von neuen Ämtern, Behörden und Beratergremien auf allen politischen Ebenen eingerichtet, um die Multikulturalismus-Prinzipien in konkrete politische Programme und Aktivitäten umzusetzen. Und unter der konservativen Regierung Brian Mulroneys wurde der Multikulturalismus 1985 als Grundrecht in der kanadischen Verfassung verankert und 1988 im " Multikulturalismusgesetz " rechtlich konkretisiert. Dieses verpflichtet die kanadische Regierung u. a. darauf, den Multikulturalismus als "unschätzbare Ressource" für Kanadas Zukunft anzuerkennen, ebenso die Freiheit aller, "ihr kulturelles Erbe zu bewahren, zu fördern und zu teilen". Das "Gesetz für gleiche Beschäftigungschancen" (Employment Equity Act, 1986) sieht die gezielte Förderung der "sichtbaren Minderheiten" und der Ersten Nationen vor. Die Schwerpunkte der politischen Aktivitäten passen sich den veränderten Problemlagen an: Ging es in den 70er Jahren vor allem um die Förderung der vielfältigen kulturellen Traditionen insbesondere der europäischen Minderheiten ("celebrating differences"), so stehen seit den 1980er Jahren die Probleme der neu eingewanderten "sichtbaren Minderheiten" - Anti-Rassismus und Chancengleichheit - im Zentrum. Ein mehr folkloristischer Multikulturalismus verwandelt sich in einen stärker bürgerrechtlichen Multikulturalismus.
4. Hintergründe für die Entstehung des Multikulturalismus Die kanadische Einwanderungsgesellschaft hat den Multikulturalismus nicht quasi automatisch hervorgebracht. Bis in die Mitte des 20. Jahrhundert hinein war Kanada keine multikulturelle Gesellschaft, sondern eine primär anglo-konformistische,
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und der Umgang der britischen Mehrheit mit einigen ihrer Minderheiten trägt ausgeprägt hegemoniale, rassistische und segregationistische Züge. So sahen sich z. B. die angeworbenen Arbeiter aus China am Ende des 19. Jahrhunderts rassistischen Übergriffen ausgesetzt, nachdem sie nicht mehr für den Eisenbahnbau gebraucht wurden. Die Agitation der .Asiatic Exc1usion League" - einer ihrer Slogans: "We don't want Chinamen in Canada. This is a white man's country..."- ("Wir wollen keine ,Chinamen' in Kanada. Dies ist ein Land des weißen Mannes ...") malte das Gespenst der "gelben Gefahr" an die Wand. Immer höhere Kopfsteuern für chinesische Einwanderer und schließlich ein Einwanderungsverbot in den Jahren 1923-1947 brachten den Zuzug aus China völlig zum Erliegen. Die Wunden, die durch die Kampagnen gegen die "Chinamen" geschlagen wurden, sind heute noch in Leserbriefen und öffentlichen Diskussionen spürbar. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg greift ein Umdenken Raum - nicht zuletzt deshalb, weil Ureinwohner und asiatische Minderheiten in der kanadischen Armee im Zweiten Weltkrieg ihren Blutzoll entrichtet hatten und weil Einwanderer im Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit wieder dringend gebraucht wurden. Die eigentlichen politischen und auch ideellen Anstöße für den Multikulturalismus gingen vom traditionellen kanadischen Kemkonflikt zwischen Anglo- und Frankokanadiern aus. Die separatistischen Bestrebungen in der frankokulturellen Provinz Quebec in den 1960er Jahren zwangen dazu, das Miteinander der beiden "Gründerkulturen" neu zu durchdenken. In diese Debatte um den kanadischen BiKulturalismus klinkten sich die europäsichen Minderheiten als "dritte Kraft" wirkungsvoll ein, und es war logisch nahezu zwingend, dass dabei der Bi-Kulturalismus zum Multi-Kulturalismus weitergedacht und weiterentwickelt wurde. Und der Multikulturalismus konnte dann politische Kraft entfalten, weil die europäischen Minderheiten inzwischen zu einem beachtlichen Wählerpotential herangewachsen waren, auf das keine Partei ohne Schaden verzichten konnte. Überspitzt kann man sagen: Der Multikulturalismus ist ein unbeabsichtigtes Nebenprodukt des Quebec-Separattsmus.
5. Kritik - aber keine Erschütterung Der Multikulturalismus blieb und bleibt in Kanada nicht unwidersprochen. Die Quebecois und die Ersten Nationen melden von Anfang an grundlegende Vorbehalte an, weil sie nicht zu einer ethnischen Gruppe unter vielen anderen herabgestuft werden möchten und um ihre Sonderrechte als "Gründernation" bzw. als Ureinwoh-
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ner (als "Citizens Plus'") fürchten. Aus dem linken Spektrum kommt der Vorwurf, der Multikulturalismus lenke durch "rhetorischen Schnörkel" und folkloristischkulinarische Festivals von den eigentlichen Problemen der ethnischen Minderheiten ab; er sei ein ausgeklügeltes Manöver, um die Wählerstimmen der ethnischen Minderheiten einzufangen und gleichzeitig von ihren realen Problemen abzulenken." Andere sehen im Multikulturalismus - mit seiner automatischen Klassifikation der Menschen nach Rasse und Herkunft - eine Form des verschleierten, politisch korrekten Rassismus," Und im rechten Spektrum befürchtet man insbesondere Zerfallserscheinungen durch Ethnisierung - die "Tribalisierung", .Balkanisierung" oder auch .Babylonisierung" der kanadischen Gesellschaft; den Aufbau sozialer Mauem durch eine zu starke Identifikation mit den ethnischen Eigengruppen; die Aushöhlung der westlich-europäisch geprägten Kultur durch Wertrelativismus.'? Die kurz skizzierte Diskussion um den Multikulturalismus ist gleichzeitig eine Warnung davor, die kanadische Situation zu idealisieren: Philosophie und Realität des Multikulturalismus decken sich nicht immer. In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, dass die multikulturelle Staatsideologie den Rassismus bei Teilen der kanadischen Bevölkerung nicht beseitigen konnte 11 und dass gerade in letzter Zeit die Warnungen vor zu vielen Einwanderern lauter geworden sind. 12 Die kritischen Einwände und die Hinweise aufProbleme haben allerdings das allgemeine Selbstverständnis Kanadas als multikulturelle Gesellschaft nicht ernsthaft erschüttern können. Unter den politischen Eliten außerhalb Quebecs und der Ersten Nationen werden die Prinzipien des Multikulturalismus parteiübergreifend anerkannt - nicht zuletzt um "ethnische Wähler" nicht zu verprellen. Wer in Kanada eine Kampagne "Kinder statt Inder" unterstützen oder Zuwanderer in solche "die uns nützen", und solche "die uns ausnützen", unterteilen würde, wäre umgehend von der politischen Bildfläche verschwunden. Die politischen Eliten spiegeln dabei durchaus die Grundstimmung in der Bevölkerung wider. In den Repräsentativumfragen wird der Multikulturalismus von einer stabilen Mehrheit von 60-70% unterstützt (FleraslKunz 1996: 22). So stimmten z. B. 199974% der Kanadier der Aussage zu, "unser multikulturelles und multirassisches Makeup" sei ein "wichtiger Teil dessen, was uns zu Kanadiern macht." Nur wenige Prozent lehnen den Multikulturalismus explizit ab (MACLEAN'S 1999: 49). 7 8 9 10 11 12
Vgl. J. S. Frideres (1998: 290) Vgl. Bolarial Peter (1998) sowie Flerasl Kunz (2001: 23) Z. B. Ayn Rand Institute (2000) Einflussreich waren die Bücher von Reginald W. Bibby (1990) sowie Neil Bissoondath (1994). Vgl. auch Pagnet/ Berry (1994), Mallet (1997) McRoberts (1997) Dazu Frances Henry u, a. (2000) Z. B. Janigan (2002) sowie Adam (2002: 343)
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6. Modell für Deutschland? Hat der kanadische Multikulturalismus Modellcharakter für Deutschland? Meine Antwort auf diese Frage besteht aus drei Teilen: • • •
im Prinzip ja, aber in der Realität nein dennoch ist ein Blick nach Kanada sinnvoll, denn wir können von Kanada lernen.
Im Prinzip ja, weil Philosophie und Politik des kanadischen Multikulturalismus sehr gut in einen abendländischen Wertehorizont passen, der von Leitwerten wie Humanität, Toleranz und Gleichheit mitbestimmt wird . Der Umgang mit ethnischen Minderheiten ist in Kanada toleranter und humaner als in Deutschland; der Assimilationsdruck der dominanten Kultur ist geringer; ethnische Minderheiten sind willkommen, sie werden als nützliche Teile der Gesellschaft angesehen und relativ schnell mit gleichen Rechten ausgestattet; die Herstellung gleicher Chancen wird staatlich unterstützt. Aber - und damit komme ich zum zweiten Teil meiner Antwort - dieses sympathische Modell ist nicht von heute auf morgen auf die deutsche Realität übertragbar, weil es in einem spezifischen historischen, sozialstrukturellen, kulturellen und politischen Kontext entstanden ist, der in Deutschland fehlt. Ein Versuch, den kanadischen Multikulturalismus gesamthaft aus diesen Zusammenhängen zu lösen und abrupt in völlig andere Kontexte zu verpflanzen, wäre ein utopisches Unterfangen ohne reale Erfolgsaussichten. Auf den ersten Blick gibt es durchaus gewisse A"hnlichkeiten zwischen Deutschland und Kanada: Beide Länder sind aus humanitären Gründen zur Aufnahme von Flüchtlingen verpflichtet; beide Länder haben auch einen ökonomisch-demographischen Bedarf an Einwanderern, und beide können diesen Bedarf ohne Probleme befriedigen, weil sie wegen der sehr guten Lebensbedingungen eine große Anziehungskraft aufWanderungswillige aus aller Welt ausüben. Aber die Unterschiede zwischen beiden Gesellschaften sind erheblich massiver. Ich möchte vier dieser Unterschiede kurz skizzieren; sie machen eine abrupte Verpflanzung des kanadischen Konzepts nach Deutschland zum Problem. 1.
Sieht man einmal von dem Spezialfall der Ureinwohner ab, dann war Kanada von Anfang an eine Gesellschaft von Einwanderern. Die Geschichte Kanadas ist die Geschichte einer kontinuierlichen Zuwanderung von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften. Deutschland dagegen ist von Anbeginn an eine Gesellschaft von Einheimischen, das Land der Deutschen; die Bezeichnung ,,Deutsch-land" bringt dies unmissverständlich
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zumAusdruck. Kontinuierliche multi-ethnische Einwanderung ist ein relativ neues Phänomen und hat auch nicht die kanadischen Dimensionen: Die ProKopf-Quote der Einwanderer war und ist in Kanada etwa viermal so hoch wie in Deutschland; und außerdem gab gibt es in Kanada wenig Rotation unter den Migranten; es gibt kaum "Gastarbeiter", sondern hauptsächlich echte Einwanderer. Diese Unterschiede in der Migrationsgeschichte haben Folgen für die Sozialstruktur, die Kultur und das Staatsverständnis der beiden Länder. Kanada war von Anfang an bi-ethnisch; dazu kommen die vielen verschiedenen Ethnien der Ersten Nationen. Seit über einem Jahrhundert hat sich Kanada dann zu einer dynamischen multi-ethnischen Gesellschaft entwickelt, deren Muster sich ständig verändert. Die ethno-kulturelle Heterogenität ließ keinen Nationalstaat im Sinne einer Kulturnation zu, sondern das kanadische Staatsverständnis orientierte sich an der angelsächsischen Idee der Staatsnation. Dieses Konzept ist inklusiv, es beruht nicht auf der Abstammung oder auf einer bestimmten Kultur, sondern auf dem individuellen Loyalitätsbekenntnis seiner Bürger; daher kann es verschiedene ethno-kulturelle Gruppen unter seinem Dach vereinen. Deutschland dagegen war seit seiner Gründung eine im Wesentlichen monoethnische Gesellschaft, die Zugehörigkeit zur deutschen Kultur war und ist das einigende Band. Sein Staatsverständnis ist durch das Konzept der Kulturnation geprägt, die Zugehörigkeit als Staatsbürger beruht auf dem exklusiven Prinzip der Abstammung." Das multi-ethnische Segment ist in Deutschland relativ neu und relativ klein; es sieht sich einer bodenständig gewachsenen, mächtigen Mehrheitskultur ausgesetzt, die einen starken Assimilationsdruck ausübt. Dieser Assimilationsdruck ist auch deshalb besonders ausgeprägt, weil das multi-ethnische Segment in Deutschland bisher strukturell schwach ist. Deutschland ist durch ethnische Minderheiten weitgehend "unterschichtet ", und diese sind - u. a. wegen einer restriktiven Einbürgerungspraxis und fehlender politischer Rechte - politisch weitgehend ohnmächtig . Eine wirkliche" Kraft" im sozialen und politischen Kräftefeld konnten sie bisher noch nicht werden. Langfristig wird das politische Gewicht der ethnischen Minderheiten durch die erfolgte Erleichterung der Einbürgerung zunehmen, weil dadurch die Zahl der "ethnischen Wähler" steigt.
Heribert Adam hat wiederholt auf diese unterschiedlichen Staatskonzeptionen hingewiesen, zuletzt Adam (2002: 341).
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In Kanada dagegen sind die ethnischen Minderheiten - sieht man einmal von den extrem marginalisierten Ersten Nationen ab - strukturell deutlich besser platziert. Die Aufstiegs- und Einkommenschancen der europäischen Minderheiten sind z. T. genauso gut, z. T. sogar besser als die der beiden Gründernationen (Driedger 1998: 198). Die Einwanderer aus China sind überdurchschnittlich qualifiziert, und die Bildungschancen ihrer Kinder sind besonders gut. Die UBC (University of British Columbia) in Vancouver wird manchmal schelmisch zur "University ofBetter China" deklariert, weil schätzungsweise die Hälfte der Studierenden asiatischer Herkunft ist, während der Anteil der Minderheiten aus Asien in ihrem Einzugsgebiet deutlich niedriger liegt. Und in Vancouver weisen sowohl die armen als auch die wohlhabenden Stadtviertel überdurchschnittliche Anteile von Chinokanadiern auf. Symbol chinokanadischen Reichtums sind die Prunkvillen der "Hongkong-Millionäre", die in den 1990er Jahren zahlreich in die kanadische Pazifikprovinz einwanderten und neben ihren guten Kontakten in die internationale Wirtschafts- und HandelsweIt auch viel Geld und Kapital ins Land brachten. Kanada ist also durch ethnische Minderheiten nicht nur "unterschichtet", sondern z. T. auch "überschichtet". Das Wahlrecht sowie die Vertreter der Minderheiten in Parlamenten und Regierungen - und auch in anderen wichtigen Institutionen, z. B. in den Massenmedien - verleihen den Minoritäten politisches Gewicht. Fasst man die bisherigen drei Punkte zusammen, dann kann man sagen: Kanada ist, wie die USA oder Australien, ein Einwanderungsland klassischen Typs - mit einer langen Einwanderungsgeschichte, einer langen multi-ethnischen Tradition, einem Selbstverständnis als inklusive Staatsnation und strukturell vergleichsweise gut platzierten ethnischen Minderheiten. Deutschland ist dagegen ein Einwanderungsland modernen Typs, dem diese vier Elemente fehlen . 4.
Dazu kommt noch ein vierter wichtiger Unterschied: Der kanadische Multikulturalismus ist aus einer spezifischen historischen Herausforderung an das bi-kulturelle Kanada entstanden, bei der die europäischen Minderheiten als "dritte Kraft" auftraten. In Deutschland gibt es keine entsprechende historische Herausforderung, und es fehlt bisher, wie erwähnt, den Einwanderern an politischem Gewicht. Zudem existiert im politischen System Deutschlands keine liberale Kraft , die der Liberalen Partei Kanadas vergleichbar ist. Nach dem 2. Weltkrieg wurde Kanada insgesamt vier Jahrzehnte lang von den Liberalen regiert. Und der Multikulturalismus ist in einem zentralen Punkt ein liberales Konzept.
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Kanadischer Multikulturalismus in Deutschland ist also eine utopische Vorstellung, dennoch können die Deutschen von Kanada lernen . Gemäß dem Motto " Man muss das Utopische denken, um das Mögliche zu erkennen" kann der kanadische Multikulturalismus eine weit entfernte Orientierungsmarke sein - ein Leuchtturm, der vage und grob die Richtung angibt, in die Überlegungen zu Migration und Integration gehen können. Ich möchte auch dazu kurz drei Gedanken skizzieren. 1.
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Migration und Integration können sich nicht selbst überlassen bleiben, sondern bedürfen des durchdachten politischen Managements - u.a. deshalb, weil eine ungesteuerte Zuwanderung Ängste und Befürchtungen auslösen kann. Auch in Kanada kam es ab und zu bei geringfügigen unvorhergesehenen Zwischenfällen, die von den Planungen der Einwanderungspolitik abwichen - z.B, bei der Ankunft von Tamilen und Sikh in Flüchtlingsbooten -, zu Angstreaktionen mit rassistischen Untertönen. Im öffentlichen Diskurs hat sich in Deutschland im letzten Jahrzehnt ein Paradigmenwechsel vollzogen: Der Diskurs über Ausländer hat sich in einen Diskurs über Migration und Integration verwandelt. Dieser bedarf einer weiteren Akzentverschiebung zu einem eindeutigen und klaren Ja zur Einwanderung. Ins Zentrum gehört die Einwanderung als Notwendigkeit und Chance, nicht Einwanderung als Bedrohung. Probleme sollen dabei nicht tabuisiert werden, aber sie dürfen nicht - wie es bisher häufig der Fall ist den Diskurs beherrschen." Behutsam geführte öffentliche Diskussionen - in Kanada werden Migrations- und Multikulturalismusprobleme aus der Wahlkampfpolemik und aus dem hitzigen Parteienstreit herausgehalten - über Quoten und Kriterien der Einwanderung sowie über Konzepte und Programme zur Integration können dem politischen Management von Migration und Integration die notwendige demokratische Legitimität verleihen. Aus der komplexen und komplizierten Problematik der Integration möchte ich nur einen zentralen Grundgedanken des kanadischen Multikulturalismus herausgreifen: das Konzept der "multikulturellen Integration" mit seinem dualistischen Prinzip .Einheit- in - Verschiedenheit". Es ist erheblich besser geeignet, die Beziehungen zwischen den ethnischen Gruppen in einer multiethnischen Gesellschaft angemessen zu erfassen als tendenziell monokulturelle Assimilationsvorstellungen, die in Deutschland weiterhin verbreitet sind. Dazu gehört z. B. die Idee der "deutschen Leitkultur" - insbesondere dann, wenn nicht gleichzeitig das Recht auf (selektive) kulturelle Differenz beachtet wird. Eingliederung in Form von Assimilation wird den BefindZu den Problemen der medialen Integration vgl. Geißler/ Pöttker (2005), Geißler/ Pöttker (2009) sowie Geißler/ Pöttker (2010).
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lichkeiten der meisten Migranten nicht gerecht, weil sie den Verzicht auf die Herkunftskultur verlangt. Einwanderer entwickeln in der Regel bi-kulturelle, hybride Identitäten. Nach einer repräsentativen Studie der BertelsmannStiftung möchten 74 Prozent der Menschen mit Migrationshintergrund die deutschen Traditionen und Werte und die ihrer Herkunftskultur miteinander verbinden (Bertelsmann-Stiftung 2009: 14). Das Assimilationskonzept ist daher kein geeignetes Instrument, um die interethnischen Beziehungen in einer multiethnischen Gesellschaft angemessen zu erfassen . Die zweipolige flexible Formel von der "Einheit - in - Verschiedenheit" trägt dagegen sowohl den Bedürfuissen der Minderheiten nach Differenz als auch den Ansprüchen der Mehrheit auf Achtung ihrer Grundwerte und Grundregeln Rechnung. Durch die Suche nach der "richtigen Balance zwischen Einheit und Verschiedenheit" sensibilisiert es sowohl für übermäßigen hegemonialen Assimilationsdruck als auch für die Gefahren ethnischer Abschottung und Segregation. Mit der Frage nach der Grenzlinie zwischen notwendiger Einheit und möglicher Verschiedenheit lassen sich viele Probleme multiethnischer Gesellschaften - z. B. im Bereich von Bildung und Sozialisation, bei der Relevanz der ethnic communities, im Bereich von Öffentlichkeit und Medien, zum Problem der doppelten Staatsbürgerschaft _ in einer Weise analysieren, die die Interessen von Minderheiten und Mehrheit gleichzeitig im Blick hat.
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Vom Schutz der Minderheit zum Minderheitenschutz - alte und neue Vielfalt in Südtirol Leonhard Voltmer
Kurzzusammenfassung: Nach der Annexion Südtirols im Jahre 1919 wurde über siebzig Jahre lang zäh um eine Lösung des entstandenen Minderheitenproblems gerungen . Heute gilt der Konflikt der Deutschsprachigen und der Ladiner' mit der italienischsprachigen Mehrheit großteils als durch das Recht gelöst. Das Land Südtirol steht mit seiner rechtlichen, politischen und finanziellen Lösung weltweit als Vorbild da. Die Aufteilung von (Sonder-)Rechten auf die beiden Minderheiten droht jedoch zunehmend andere auszuschließen: EU-Bürger und Immigranten kennt das Minderheitenschutzsystem nicht. Das Autonomiestatut wird an die geänderte Wirklichkeit angepasst werden müssen.
1. Umgang mit Vielfalt 1.1 Geschichte Südtirols Das deutsch- und ladinischsprachige Südtirol kam als Kriegsbeute des Ersten Weltkriegs zu Italien. 1.
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Eine erste, eher kurzfristige Schwierigkeit entstand durch die faktischen Folgen der Annexion, insbesondere das Ausbleiben des ,Kaiser- und Kurtourismus' sowie das Wegbrechen des klassischen Absatzmarktes im Norden für Wein und Südfrüchte.'
Das Ladinische ist eine rätoromanische Sprache. Die Dolomiten1adiner der Grafschaft Tirol wurden in drei italienische Provinzen aufgeteilt: Das Gr öden- und Gadertal wurde in die Provinz Bozen eingegliedert, das Fassa- und Fleimstal in die Provinz Trient und das Arnpezzotal mit Buchenstein in die Provinz BeIluno in der Region Venetien. Dafür fragte Italien mehr Holz und Vieh nach . Auch der Strom aus Wasserkraft war im neuen Land gefragt, wovon die ansässige Bevölkerung aber kaum profitierte, weil Kapital und Arbeiter von außerhalb Südtirols kamen.
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ein zweiter, voll im Mittelpunkt stehender Konflikt wurde ganz bewusst erzeugt: Von 1922 bis 1943 unterdrückten die italienischen Faschisten die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung in jeder erdenklichen Weise. Sie entließen deutsch- und ladinischsprachige Beamte, Lehrer und Bürgermeister und wiesen sie z.T. nach Österreich aus. Außerdem waren unter den Faschisten deutsche und ladinische Ortsnamen, Eigennamen und kulturelle Marker allgemein verboten und durch italienische Bezeichnungen ersetzt. Die Eigenschaft "italienisch" bedeutete in diesen 22 Jahren stets Totalitarismus und faschistische Ideologie. Ein dritter, eher langfristiger Konfliktaspekt zeigt sich im Aufeinanderprallen unterschiedlicher Lebenswelten, und zwar von radikaler Modemisierung, Verstädterung und Industrialisierung einerseits mit bäuerlicher Wirtschaftsund Lebensform andererseits. Die faschistische Einwanderungs-politik Italiens brachte zwischen den beiden Weltkriegen 56.000 italienischsprachige Italiener nach Südtirol (Zunahme von 8,7 % auf 24,7 % der Bevölkerung), und zwar vornehmlich in die Städte (in Bozen von 22 % auf 60 %).3 Damit entstand auch ein wirtschaftlich-sozialer Kontrast: Auf der einen Seite die deutschsprachigen Bauern und Landbesitzer, die in vormodernen Sozialstrukturen lebten: Ehepartner meist aus engem Radius; ältester Sohn erbt gesamten Hof und zahlt Geschwister aus; geringe Arbeitsteilung bei hohem Anteil manueller Arbeit; Infrastruktur und Kapitalinvestitionen von untergeordneter Bedeutung; Sprache stark lokal differenziert.' Auf der anderen Seite relativ stark entwurzelte Neuankömmlinge, die vorwiegend als Lohnabhängige oder im Kleingewerbe ihr Leben verdienen, insbesondere in der öffentlichen Verwaltung, Industrie, Armee, Bahn und Großbauprojekten (Wasserkraftwerke, Städtebau, Verteidigungsbauten).' Obwohl
Zahlen für 1921-1939 siehe Solderer 2000 : 112-113. Von sogar 100.000 Zuwanderern aus dem übrigen Italien "b innen wen iger Jahrzehnte" spricht H. Peterlini (2005 : 41-60) . "Modernität wurde lange als fremd, italienisch, städtisch, industriell identifiziert, während Tradition und Brauchtum als das Eigentl iche galten , als tirol isch-deutsch, dörflich, bäuerlich." (Solderer 2000 : 114).
5 im Jahre 1951: Landwirtschaft
Deutsche und Ladiner
Italiener
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3.400
24.500
34.800
Öff. Dienste 9.500 reproduziert nach De Santi , Tabelle 5, S. 23
40.400
Gewerbewirtschaft
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viele aus Venetienzuwandern, konnte sich kein Dialekt durchsetzen und das heutige Italienisch in Südtirol ist nahe an der Hochsprache. Diese sozioökonomische Schichtung spiegelt sich in weitgehend verschiedenen Lebenswelten wieder, angefangen von der politischen Weltsicht und noch nicht endend bei der geografischenVerteilung über das Territorium." Für die einheimische Bevölkerung fiel die Einwanderung aus dem Süden mit "dem radikalen Schritt von der Vormodemegeradewegs in die Postmoderne" (Lareher 2005:191) zusammen. Das Selbstbild der deutschsprachigen Südtirolerbleibt jedoch bis heute von vormoderner Idylle geprägt. 1.2 Autonomiestatut - Merkmale des Minderheitenschutzes
1.2.1 Autonomiestatus Südtirols Südtirol kam nicht mehr nach Österreich zurück, es erhielt aber eine Autonomie. Ein erstes Autonomiestatut aus dem Jahre 1948 galt für die Region Trentino Alto Adige, in der die Bevölkerung mehrheitlich italienischsprachig war, so dass die Sprachminderheiten nichts ohne die italienischsprachige Mehrheit unternehmen konnten. Österreich veranlasste die UNO-Vollversammlung zu zwei Resolutionen und Italien begann daraufhin (trotz Sprengstoffanschlägen auf faschistische Denkmäler und Hochspannungsleitungen)Verhandlungen, die in ein zweites Autonomiestatut mündeten. Das Zweite Autonomiestatut von 1972 gab auch der .Provinz'? Südtirol Gesetzgebungskompetenzen, mit denen die deutsch- und ladinischsprachige Minderheit ihre Angelegenheiten selbst regeln konnte und aktiv geschützt wurde." Im Jahre 2001 wurden die italienische Verfassung und das Autonomiestatut erneut grundlegend geändert."Auch inhaltlich ist die Autonomie von 1946 bis heute erweitert worden ." Ziel der Autonomie war es immer, die Folgen der faschistischen Politik für die Minderheiten abzumildern. Die Gesetzgebungskompetenzen Südtirols beziehen sich daher meist auf Maßnahmen der italienischen Faschisten und beginnen mit der Zuständigkeit für die Ortsnamengebung und den Schutz der "volklichen 6 7 8 9 10
Die räumliche Verteilung ist in Bozen städtebaulich noch gut zu erkennen. Eine immer noch aktuelle Einführung in die sozialen Aspekte des Konflikts bietet Thomas Kager (1998). Vom italienischen provincia; wird mittlerweile dem österreichischen und deutschen Sprachgebrauch folgend als "Land" bezeichnet. Die Beilegung des Streits vor der UNO erfolgte erst 1992, weil es so lange dauerte, bis alle Kompetenzen übertragen, mit ausreichenden Finanzmitteln ausgestattet und alle zur Umsetzung nötigen Institutionen funktionierten. Ausführlich zu Institutionen und der Gesellschaft Südtirols vergleiche Palermo 2005. Eine grafische Synopse findet sich in BonellJ Winklet 2002, 8.165-172.
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Werte", also dem Bereich, mit dem die Faschisten die Minderheiten zwangsassimilieren wollten. 11 Einige besonders interessante Merkmale des Südtiroler Minderheitenschutzes werden nun herausgegriffen und an Hand eines Beispiels erläutert: a,
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Zweisprachigkeit von Verwaltung und Justiz; Nachweis der Zweisprachigkeit bei jedem einzelnen öffentlich Bediensteten (sog. patentino); Verteilung aller öffentlichen Ämter nach Sprachgruppen ("Proporz"); individueller Nachweis der Sprachgruppe als Voraussetzung für eine Arbeitsstelle in der öffentlichen Verwaltung (Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung); drei parallele Schulsysteme (das ladinische nur bis zum Beginn der Oberstufe); Wahlrecht bei Kommunal-, Landtags und Regionalratswahlen erst nach vier Jahren Aufenthalt in der Region.
1.2.2 Beispiele a.
Die Verwaltung muss deutschsprachige Bürger auf Deutsch und italienischsprachige auf Italienisch anschreiben. Da der Bürger das Recht hat, einen Bescheid in der "falschen" Sprache zurückzuweisen, werden fristgebundene Bescheide zweisprachig versandt und nach der Antwort des Bürgers auf dessen Sprache übergegangen. Dazu folgender Fall": Bei Herrn Franz, einem deutschen Tourist in Südtirol, fand der Zoll ein verbotenes Messer. Er bekam eine zweisprachige gerichtliche Vorladung. Bei der Verhandlung erging jedoch ein Beschluss nur auf Italienisch. Herr Franz erklärte, dass er der italienischen Sprache nicht kundig sei und beantragte, das Verfahren in seiner Muttersprache durchzuführen, so wie es deutschsprachige Südtiroler verlangen können .13 Da dieses Recht dem Wortlaut nach nur italienischen Staatsbürgern zusteht, legte das Gericht dem EuGH die Frage vor, ob es trotzdem auf Deutsch verhandeln müsse . Der EuGH entschied, dass alle EU-Bürger, die "dieselbe Sprache
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Art. 8, Ziffern 2 und 3 Autonomiestatut. Horst Otto Bickel, Ulrich Franz, EuGH Rs. C-274/96. Art. 99, 100 PräsidialdekretNT. 670 vom 31.8.1972 zum Sonderstatutfür die Region TrentinoSüdtirol.
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sprechen" (also nicht nur Muttersprachler), ebenso ihre Sprache wählen kön-
nen." b.
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Wenn das Krankenhaus Bozen einen Lungenarzt sucht, dann muss die Ausschreibung" Folgendes enthalten: ,,1. Allgemeine Voraussetzungen . (...) Bescheinigung über die Kenntnis der italienischen und deutschen Sprache für die höhere Laufbahn (Gruppe A)". Die Bescheinigung kann bei einem Amt der Provinz erworben werden. Hierzu folgender Fall": Herr Angonese bewarb sich für eine Stelle in einer privaten Bankgesellschaft in Bozen. Diese verlangte nach dem Tarifvertrag den Nachweis der Zweisprachigkeit. Herr Angonese gab für die deutsche Sprache an, dass er erfolgreich in Österreich sein Studium abgeschlossen habe, und für die italienische Sprache, dass er bereits als Übersetzer ins Italienische gearbeitet habe. Die Bank bestand auf dem offiziellen Zertifikat und wies Herrn Angonese deswegen ab. Dieser klagte und das italienische Gericht legte den Fall dem EuGH vor. Der EuGH befand, dass es gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer verstoße, wenn ein Arbeitgeber den Nachweis von Sprachkenntnissen ausschließlich durch ein einziges, in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaates ausgestelltes Diplom zulässt. Die eben erwähnte Stellenausschreibung enthält auch den Passus : "der deutschen Sprachgruppe vorbehalten." In Südtirol werden öffentliche Stellen so vergeben, dass im öffentlichen Dienst dasselbe Verhältnis von Muttersprachlern besteht wie in der Wohnbevölkerung. Dazu wird die Verteilung der Muttersprache bei der Volkszählung abgefragt und in eine Stellenverteilung umgerechnet." Jede offene Stelle wird dann nur für eine der drei Sprachgruppen ("Italiener", "Deutsche", "Ladiner") ausgeschrieben. Nach diesem so genannten Proporzsystem richten sich auch die Zusammensetzung von politischen Organen und die Verwendung bestimmter Titel des Landeshaushalts. Hierzu auch Gabriel von Toggenburg, "Der Europä ische Gerichtshof- unverhoffter Anwalt der Minderheiten Europas?" in: Academia Nr. 18 (1999) , http ://www.eurac.eduIPress/Academia/l8/ Art_2 .asp : 10.06.2005. Öffentlicher Wettbewerb vom 9.12.2003 zur Besetzung von 1 Stelle als Leitende/r Ärztin/Arzt des überbetrieblichen pneumologischen Dienstes, http ://www.sbbz.it/portaVde/Concorsi.xml: 10.06.2005. Auch als Raumpfieger für eine Gemeinde braucht man einen Nachweis: "Voraussetzung : Grundschule, Erfiillung der Schulpflicht; Zweisprachigkeit", http ://www.provinz.bz.it/ arbeitll903/view_D.asp?cap= Igemeind.htm : 10.06.2005. Roman Angonese gegen Cassa di Risparmio di Bolzano SpA, EuGH Rs. C-281/98. Umrechnungstabelle siehe http ://www.provinz.bz.it/astatidownloads/vz_2001.pdf.Seite 13. Das Formular ist im Internet unter http ://www.provinz .bz.it/astat/downloads/Gruppi%20linguistici. pdf: 20.6.2006 einsehbar. Art. 19 Abs . 1 Satz 1 Autonomiestatut.
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Ein Bewerber muss auch nachweisen, dass er der in der Ausschreibung geforderten Sprachgruppe zugehört. Dazu müssen alle in Südtirol Lebenden persönlich erklären, welcher der drei Sprachgruppen sie zugehören oder sich zuordnen möchten (Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 752/76). Diese so genannte Sprachgmppenzugehörigkeitserklärung wird bei Gericht aufbewahrt und bevor der Bewerber die Stelle antreten kann, wird sie kontrolliert, ähnlich wie in Deutschland das amtliche Führungszeugnis kontrolliert wird. "In der Provinz Bozen wird der Unterricht in den Kindergärten, Grund- und Sekundarschulen in der Muttersprache der Schüler, das heißt in italienischer oder deutscher Sprache, von Lehrkräften erteilt, für welche die betreffende Sprache ebenfalls Muttersprache ist. "18 In der Praxis sind die "deutschen" und "italienischen" Schüler nicht nur institutionell-organisatorisch, sondern auch räumlich-zeitlich getrennt, d.h. es gibt nicht nur zwei Schulämter und zwei verschiedene Haushaltstöpfe, sondern auch zwei verschiedene Schulgebäude oder zumindest Eingänge und zwei verschiedene Zeiten für die Pause. Die Vielfalt wird in der Schule ausgeblendet, um die Entwicklung einer separaten Identität zu fördern. Wer seine Kinder mehrsprachig erziehen möchte, kann aber zu Hause die eine Sprache sprechen und die Kinder in die Schule der anderen Sprache einschreiben. Ein Deutscher wohnt und arbeitet seit Juli 2001 in Meran. Die erste Kommunalwahl, an der er teilnehmen darf, wird im Jahre 2010 stattfinden. Grundsätzlich gilt für EU-Bürger: "Jeder Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, hat in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen, wobei für ihn dieselben Bedingungen gelten wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. "19 In Südtirol ist man aber nicht nach einer Stichtagregelung wahlberechtigt, sondern erst, wenn man seit vier Jahren seinen Wohnsitz in der Region hat." Diese Maßnahme soll die Minderheiten davor schützen, dass ihre Selbstverwaltung durch kurzfristige Wohnsitzmeldungen ausgehöhlt wird. Bei der Gemeinderatswahl Meran im Juni 2005 war der Deutsche erst seit drei Jahren und elfMonaten gemeldet und durfte daher nicht teilnehmen. Ebenso wenig hätte ein Italiener aus Rom teilnehmen können, wenn er im
Art. 19 Abs . 1 Satz 1 Autonomiestatut. Art . 19 abs . 1 Satz 1 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Art. 25 Abs. 4 Satz 1 Autonomiestatut: "Voraussetzung für die Ausübung des aktiven Wahlrechtes in der Provinz Bozen ist eine vierjährige ununterbrochene Ansässigkeit im Gebiet der Region."
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Juli 2001 nach Bozen gezogen wäre. Der Gemeinderat wird alle fünf Jahre gewählt, das nächste Mal also im Jahre 2010. Der Wertungswiderspruch zum europäischen Recht wird auch daraus ersichtlich, dass ein EU-Bürger nach vier Jahren Aufenthalt in verschiedenen Regionen Italiens sogar die italienische Staatsbürgerschaft erwerben kann."
2. Auswirkungen der Verrechtlichung von Vielfalt 2.1 Situation verschiedener Betroffener Die wichtigsten Betroffenen sind natürlich die constituentpeople mit italienischer Staatsbürgerschaft. Die Deutschsprachigen und die Ladinischsprachigen genießen als klassische Minderheiten vorbildlichen Schutz (s.o.), der als ,Ausgleich für vergangenes Unrecht' (Begründung für positive Diskriminierung) gerechtfertigt werden kann." Die italienischsprachigen Südtiroler sind Teil dieses komplexen Systems mit ergebnisorientierter positiver Diskriminierung (Quoten im öffentlichen Dienst), paritätischer Repräsentation und z.T, getrennten Lebenswelten (Schule, soziale Schichtung). Ihre Situation ist kaum mit der Situation außerhalb der Region zu vergleichen und kann sowohl positiv wie negativ weit davon abweichen. Tendenziell kommen negative Erfahrungen zuerst (Wahlrecht eingeschränkt, Zweisprachigkeitsnachweis nötig) und positive bei längerem Aufenthalt (weniger Konkurrenz bei öffentlichen Stellen, hervorragende Finanzlage der Autonomie). Die meisten Bürger in Südtirol können sowohl deutsch wie italienisch kommunizieren, oft bleibt eine der beiden Sprachen aber auf eine rein "funktionale" Rolle beschränkt. In die zweite Sprache wird in bestimmten mehr oder weniger offiziellen, arbeitsgebundenen Situationen übersetzt, selten aber als Eintrittskarte zu einer Begegnung und einem Kulturkreis wahrgenommen. Dementsprechend sind die Einstellung zur Sprache und die Motivation, sie besonders gut und idiomatisch zu beherrschen, nur bei einem Teil der Südtiroler vorhanden. Dieser Teil sind dann die "wirklich" zweisprachigen, die zumeist ein mehrfaches Zugehörigkeitsgefühl entwickelt haben.
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Art. 9 Abs. 1 Ziffer d) Staatsgesetz Nr. 91vom 5.2.1992. Zum Staatsbürgerschaftsrecht siehe auch Voltmer/Avolio 2004: 29-48. Problematisch und derzeit in Südtirol aktuell ist die Frage, ob positive Diskrim inierung nicht zeitliche Grenzen haben muss und wann diese Grenzen in Südtirol erreicht sind.
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2.2 Demografie lässt " neue" Betroffene entstehen
Im offiziellenDiskurs entgeht niemand der Einteilungin eine der drei Gruppendes Autonomiestatuts. Nur diese Gruppen haben ihre jeweiligen Mythen" und bilden eine imagined community (Anderson 2005. Dabei haben sich die Realitäten seit dem zweiten Autonomiestatut von 1972 und erst Recht seit der grundsätzlichen Anerkennung einer zu lösenden ,Südtirolfrage' 1946 geändert. Das Autonomiestatut ging und geht von drei Gruppen aus, und zwar von "Italienern", .Südtirolem" und in gewissem Maße .Ladinern"." Weder für Zweisprachige noch für "andere" sindAusnahmen von der Verteilungdes Landes nach dem Autonomiestatut vorgesehen. Sie werden vielmehr einer der ersten Gruppen "zugeordnet". Ein Vereinfür albanische oder rumänische Kultur muss versuchen, aus einem der drei Haushaltstöpfe für "italienische", "deutsche" oder für "ladinische" Kultur gefördert zu werden, denn in Südtirol gibt es keine Kulturförderung ohne ethnischeAnknüpfung. Die Südtirolautonomie hatte u.a. zum Ziel, die staatlich geförderte Binnenmigration und damit die Schwächungder Sprachminderheitenzu stoppen." Nach einer Erhebung der Geburtsregionen der Wohnbevölkerung wurde dieses Ziel erreicht: Waren 1951noch 27,4 % außerhalb der Provinz geboren, so waren es 1999 nur noch 16,8 %26. In Südtirolherrscht seit JahrzehntenpraktischVollbeschäftigung. Obwohldie Wohnungspreise in Bozen höher sind als in München oder Mailand zieht die Arbeitsmarktlage zunehmend Menschen an, die sich weder mit den deutschsprachigen Italienern, noch mit den italienischsprachigen Südtirolern identifizierenkönnen. Die Saldozuwanderungen aus dem Ausland haben sich in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt. Die Zunahme der SüdtirolerBevölkerung ist fast ausschließlich auf Zuwanderung zurückzuführen." Da Migranten im Schnitt jünger sind (jeder Fünfte ist minderjährig), sind sie in Schulen überproportional stark präsent. Dementsprechend hat sich insbesondere der kleine Ausländeranteil in Südtiroler Schulen von 1,6 % im Schuljahr 1999/2000auf3,3 % im Schuljahr 2003/2004 verdoppelt. Da Ausländer genau so 23 24 25 26 27
Über die Mythen der "Taitschen" und der "Walschen" siehe Larcher 2005. Die Bezeichnungen sind nicht ganz politisch korrekt, werden aber häufig so benutzt. Auch nach 1945 karnen durch Wohnbauprogranune der Regierung weiterhin italienischsprachige nach Südtirol, was zumindest z.T. auch daran lag, dass neue Mietwohnungen in den Städten kaum dem sozioökonomischen Profil der deutsch- und ladinischsprachigen entsprach. Diese und die folgenden Angaben entstammen den Veröffentlichungen des Landesamtes für Statistik in Bozen. Daten des Landesinstituts für Statistik ASTAT, http://www.provinz.bz.itllpa/news/news_d. asp?art=104238: 16.6.2005.
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häufig weiterführende Schulen nach Beendigung der Schulpflicht besuchen wie Südtiroler, ist die Erhöhung allein aufden Bevölkerungszuwachs zurückzuführen. Migranten konzentrieren sich außerdem in der Stadt Bozen, wo sie in einigen Vierteln 10 % der gemeldeten Wohnbevölkerung ausmachen." In Bozen sind zurzeit 9 % aller Minderjährigen Ausländer. Über ein Drittel aller ausländischen Schüler geht in Bozen zur Schule. Die meisten Migranten bevorzugen die Staatssprache Italienisch vor der Regionalsprache Deutsch, und viele ziehen aus anderen Regionen Italiens zu, so dass sie bereits Italienisch sprechen. Daher konzentrieren sich Migrantenkinder in den Schulen italienischer Unterrichtssprache, 29 wo sich typische Migrationsfragen abzeichnen, obwohl die Einwanderung landesweit gemessen gemäßigt erscheinen mag. Die städtebauliche Aufteilung in deutsche und italienische Viertel wird ebenfalls beeinflusst. Die traditionell deutschsprachige Altstadt "gerät (.. .) nicht von deutscher Hand in italienische, sondern von heimischer Hand in globale Hand". (Peterlini 2005 : 41-60/47-48). Für Migranten sind die traditionell italienischen Viertel mit erschwinglichen (Sozial-)Wohnungen erster Anlaufpunkt.
3. Schlussfolgerungen 3.1 Unterscheidung zwischen alten und neuen Minderheitenfließend Die italienische Nation ist, wie die deutsche, spät zu nationaler Einheit gelangt. Die deutschsprachigen Italiener sind eine spät entstandene Minderheit (erst 1919). Andererseits sind sie eine der ersten Minderheiten, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Minderheit anerkannt wurden. Im Verhältnis zu den neuen Minderheiten besteht die deutsche Minderheit darauf, dass "klassische" oder "historische" Minderheiten die einzig "wahren" Minderheiten mit "echtem" Anspruch aufMinderheitenschutz seien. Tatsächlich sind klassische Minderheiten durch schicksalhafte geschichtliche Ereignisse, meist Grenzverschiebungen, entstanden, so dass diese Minderheiten zumindest moralisch beanspruchen können, dass ihnen dieses Opfer erleichtert werde. Auf welch dünnem Eis die Unterscheidung alte/neue Minderheit zwischen historischen und zugewanderten Minderheiten beruht, kann man gerade in Südtirol eindrucksvoll aufzeigen: Die ca. 100000 italienischsprachigen Südtiroler, die 28 29
Bevölkerungsentwicklung und -struktur der Stadt Bozen und ihrer Stadtviertel, GemeindeBozen, http ://www.gemeinde .bozen.itlUploadDocs/1192_Andam-!.op_2004dt.pdf. S. 34. Der Ausländeranteil für ganz Bozen liegt bei 7 %. Im Vergleich zu den Schulen deutscher Sprache fünf Mal mehr; im Vergleich zu den Schulen ladinischer Sprache sieben Mal so viele.
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ja auch in das Minderheitenschutzregime eingebettet sind, kamen meistens in den 50 Jahren von 1920 bis 1970 ins Land. Ursache war eine gezielte staatliche Einwanderungspolitik, die in den ersten 20 Jahren mit faschistischen Mitteln (Enteignungen, Entlassungen, Binnenimperialismus) betrieben wurde. Weder die erste, noch die jetzt lebende zweite und dritte Generation Italiener haben also durch die Wanderung freiwillig politische Rechte aufgegeben oder sich in eine Situation numerischer Unterzahl begeben, wie das bei ,,neuen Minderheiten" der Fall ist. Mit anderen Worten: Würde Südtirol heute zu Österreich kommen, wären Italienischsprachige sicher eine klassische Minderheit. Nun wurde Südtirol zwar nicht österreichisch, aber der Nationalstaat hat sich doch weitgehend zugunsten einer regionalen Autonomie zurückgezogen. Der politische Bezugsrahmen für die meisten Fragen von sozialem Wohnbau bis zur Ausgabenhoheit ist nun das Land Südtirol durch seinen Landtag, in dem seit dem Zweiten Weltkrieg die ethnisch deutsche (und ladinische) Partei SVP30 die Mehrheit hat. Insoweit sind die italienischsprachigen Südtiroler mit einem Bein in die Situation einer klassischen Minderheit geraten. Die zugewanderten Italienischsprachigen vereinen also Elemente al1erKategorien: Neue Minderheiten aufgrund der Zuwanderung in einen anderen Kulturbereich, Mehrheiten soweit der Nationalstaat Bezugsgröße ist, und klassische Minderheiten soweit die Autonomie von den Deutsch- und Ladinischsprachigen geführt wird." Die theoretische Unterscheidung zwischen alten und neuen Minderheiten passt immer weniger auf eine von Migration geprägte Wirklichkeit. Die Ausgangssituation ist zu komplex, um al1ein nach den Kategorien alte/neue Minderheit behandelt zu werden. Scheint für die Qualifizierung einer Minderheit als alte oder neue zunächst das objektive Kriterium ihrer Entstehung entscheidend zu sein, wird hier deutlich, dass es eher aufdie ,subjektive' Einstel1ung des Staates, auf seine Gründungsideologie, ankommt: Je einheitlicher der Staat konzipiert ist, umso stärker wird die Vielfalt zum Problem. In Finnland, wo Finnisch und Schwedisch gleichberechtigt staatstragende Sprachen sind, wird die Vielfalt vom Staat erst gar nicht als Minderheit gefasst, auch wenn die eine Sprache weniger Sprecher hat als die andere.
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Die Südtiroler Volksparteiversteht sich als Samme1partei der deutschen und ladinischen Südtiroler, Ein Deutschsprachiger in Bozen ist in seiner Geme inde in der Minderheit, in Südtirol in der Mehrheit und in Italien wiederum in der Minderheit.
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3.2 Flexibler Umgang mit Vielfalt notwendig Wie ist der Umgang mit Vielfalt in Südtirol zu beurteilen? Die bekannte Vielfalt wird vorbildlich akzeptiert und aktiv erhalten. Die sich neu herausbildende Vielfalt passt aber nicht ins System. Soziologisch ausgedrückt sind die Gruppenmythen "Instrument der Exklusion. Sie verdecken die Realität und schließen wichtige Teile der Bevölkerung aus" (Lachner 2005 : 169). Soweit die Vielfalt aus der EU kommt, steht sie weitgehend außerhalb des Systems und seiner Verteilungsmechanismen: Weder die Quotenregelung noch die Existenz eines besonderen Zweisprachigkeitsnachweises darf EU-Bürger bei der Arbeitsaufnahme in Südtirol zu einem Nachteil führen. In Ausnahmesituationen kann dies zu einer (ungerechtfertigten) Besserstellung gegenüber den italienischen Staatsbürgern selbst führen, z.B. müssen Italiener bei der Volkszählung oder nach ihrem Zuzug nach Südtirol ihre Sprachgruppe erklären, während EU-Bürger im Hinblick auf eine konkrete Bewerbung eine opportunistische Erklärung abgeben können. In dieser rechtlichen Gemengelage herrscht Rechtsunsicherheit." Der EU-Bürger erwirbt allemal schneller den "offiziellen" Zweisprachigkeitsnachweis als ein Gerichtsurteil, zumal er im ersten Fall den Arbeitsplatz, im zweiten aber nur eine Entschädigung bekommt. Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten passen noch weniger ins System, und die Nachteile für sie sind tendenziell noch größer. Die Lösungen, die auf eine nationalstaatlich dominierte Situation zugeschnitten waren, müssen in dem Maße angepasst werden, wie sich die Situation geändert hat. Zum einen haben neben dem Nationalstaat der Bezugsrahmen EU und substaatliche Einheiten an Einfluss gewonnen. Zum anderen verändert Migration die Gesellschaft. Die Richtung der Weiterentwicklung wird gerade erprobt: 1.
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Neben einer Zugehörigkeitserklärung gibt es jetzt eine Zuordnungserklärung. An der rechtlichen Situation ändert das zwar nichts, denn die .Zuordnung' verweist die nicht ins System passenden ja nur wieder zurück ins System. Immerhin werden die ,sonstigen' und ihr zahlenmäßiger Zuwachs dadurch aber wahrnehmbar. Neben den einsprachigen Schulen werden Versuche mit mehreren Unterrichtssprachen gemacht. Hier sind die Schulen in den ladinischen Gemeinden ein Vorbild und einige Privatschulen vor allem in den Städten Vorreiter. Italien war vor einer Generation noch Auswanderungsland und macht nun erstmals selbst Erfahrungen als Einwanderungsland. Mit Ausländerbeiräten So ist z.B, auch nach dem Angonese-Urteil von 1998 weiterhin unklar, welche Sprachdiplome als hinreichend für die Zweisprachigkeit gelten können .
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und Lehrgängen zur Ausbildung interkultureller Mediatoren wird versucht, die Kommunikation zwischen dem aufnehmenden System und den Migranten zu fördern, In diesem Artikel wurde aufgezeigt, wie der in Südtirol erzeugte Migrationskonflikt durch einen stabilen rechtlich-institutionellen Rahmen entschärft wurde. Dieser rechtlich festgelegte Umgang mit Vielfalt ist auf drei bestimmte, homogene Gruppen in einem italienischen Nationalstaat zugeschnitten. Südtirol entfernt sich immer weiter von dieser Situation, wodurch immer häufiger ungerechtfertigte Abweichungen vom Gleichheitsgebot entstehen. Hier wird für die Neueinbettung der .vielfältigeren Vielfalt' in einen angepassten Minderheitenschutz plädiert.
Literatur Anderson,Benedic (1991): Imagined Communities. LondonINewYork:Verso. BoneIl,Lukas; Ivo Winkler(2002): SüdtirolsAutonomie.AutonomeProvinz Bozen http://www.provinz.bz.it/lpa/publ: 10.6.2005. Kager, Thomas(1998): SouthTyrol:Mitigatedbut not Resolved. OnlineJournal ofPeace and Confiict Resolution 1.3,http://www.trinstitute.org/ojpcr/l_3kag.htm. Landesinsititutfiir StatistikBozen (2010): SüdtirolsBevölkerung- gestern, heute, morgen- von 1936 bis 2010. Bozen Landesinstitut für StatistikBozen (2010): AusländischeSchülerund Schülerinnenin SüdtiroI.Bozen. LarcherDietmar(2005): Heimat- Eine Schietheilung/Südtirolsgroße Erzählungen- Ein Versuchder Dekonstruktion",in: Larcher, Dietmar et al. (Hrsg.): Fremdgehen- Fallgeschichtenzum Heimatbegriff.Klagenfurt:Drava, S. 165-193 Marko et al (2005): Die Verfassung der SüdtirolerAutonomie.Baden-Baden: Nomos, S. 415-434. Peterlini, Hans Karl (2005): Eine Heimatbegehung. in: D. Larcher et al. (Hrsg.): Fremdgehen- Fallgeschichtenzum Heimatbegriff. Klagenfurt:Drava S. 41-60. Palermo. Francesco (2005): Südtirolund die italienischeFöderalismusreform. Baden Baden: Nomos, S.415-434 De Santi et. al.(2005): Geschichte des SozialdienstesGeschichten der Sozialassistentenin Südtirol von 1949 bis 1999. http ://www.provinz.bz.itlsozialwesen/publ/publ~etreso .asp?PRES_10=9041. Solderer,Gottfried(2000): Das 20. Jahrhundertin Südtirol- 1920-1939. Bozen: Edition Raetia. von Toggenburg. Gabriel (1999): Der EuropäischeGerichtshof- unverhoffierAnwalt der Minderheiten Europas?AcademiaNr. 18. http://www.eurac.edu/Press/Academia/I8/Art_2.asp Voltmer, Leonhard; Avolio, Giuseppe (2004): Erwerb der Staatsbürgerschaft in Italien und Deutschland, Einbeziehungvon Ausländernin die Lokalpolitikinsbesonderein SüdtiroI.In: Informator 1, Zeitschrift fiir Trentino-Südtirol über Recht und Verwaltung, S. 29-48.
IV Ausblick - Zukunftsperspektiven
Integration ist von gestern, "Diversity" für morgen - Ein Vorschlag für eine gemeinsame Zukunft Mark Terkessidis
In seinem Buch Smart Capitalism hat sich der deutsche "Zukunftsforscher" Matthias Horx zu Beginn des neuen Jahrtausends gefragt, ob es denn in der gegenwärtigen Gesellschaft noch einen "Mega-Mega-Trend" gäbe, "der alle anderen sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Trends in ein Meta-Prinzip zusammenfasst". Er bejahrte damals die Frage und glaubte, diesen übergeordneten Trend in .Diversity" gefunden zu haben. Früher habe die Wirtschaft den älteren weißen Männern gehört, so Horx, nun aber sei die "Vielfalt, die Multikulturalität der Firmenkulturen" im globalen Konkurrenzkampf "gefechtsentscheidend" geworden (Horx 2001: 68). "Am produktivsten", schrieb er, seien .Diversity-Ansätze gerade dann, wenn sie die Unterschiedlichkeit der Teilnehmer am Diskurses wahren, ja sogar anspornen. Das geht bis hin zu einer allgemeinen Akzeptanz von Klischees. Der Kollege aus dem Femen Osten muss seine ,typisch asiatische Sichtweise' äußern können. Frauen sollen einen ,typisch weiblichen Zugang' zu dem Problem erarbeiten - gerade bei technischen Entwicklungen. Kombinatorisches Wissen wächst dort, wo es ein Bewusstsein gibt, eine Pflege der Differenz - generationsbezogen, geschlechtlich, kulturel1." (ebd.: 69) In einem anderen Buch namens Empire, das gewissermaßen Trendforschung im Dienste des Antikapitalismus betrieben hat, stehen die Autoren Michael Hardt und Antonio Negri dem Thema .Diversity" deutlich kritischer gegenüber. Ähnlich wie Horx beschrieben die beiden Autoren .Diversity" als ein Prinzip, das in den Unternehmen zwei verschiedene Stoßrichtungen aufweist. Zum einen solle .Diversity" die Verbindung zu den Kunden stärken. "Immer hybridere und ausdifferenzierter Bevölkerungen", meinen Hardt und Negri, "bieten eine zunehmende Zahl von .Zielmärkten" die jeweils mit ganz spezifischen Marketingstrategien bedient werden - eine für schwule Latinos zwischen 18 bis 22, eine für weibliche Teenager chinesisch-amerikanischer Abstammung usw," (Hardt & Negri 2002: 165) Zum anderen solle .Diversity" aber auch die Atmosphäre innerhalb des Unternehmens verbessern: "Die Unternehmen versuchen Differenz innerhalb ihres Bereichs einzubeziehen, mit dem Ziel, die Kreativität, das freie Spiel und die VielWolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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falt am Arbeitsplatz zu maximieren." (ebd.: 166) Hardt und Negri begreifen "Diversity" als Teil einer "postmodernen" Umformung der Unternehmen, wobei die ,,Postmoderne" für die Autoren von Empire schlicht "eine neue Phase kapitalistischer Akkumulation und Warenproduktion darstellt, welche die heute stattfindende Verwirklichung des Weltmarktes begleitet" (ebd.)
1. Warum Diversity? Im Gegensatz zu Horx, der .Diversity" lediglich als quasi-natürlich Begleiterscheinung des Kapitalismus sieht, bescheinigen Hardt und Negri dem Prinzip durchaus ein gewisses emanzipatorisches Potential - freilich sei dieses Potential nur relevant "für die Situation einer bestimmten, nämlich "elitären Bevölkerungsschicht", die "bestimmte Rechte, einen gewissen Wohlstand und eine gewisse Stellung innerhalb der globalen Hierarchie genießt" (ebd..: 168). Insofern plädieren sie auch dafür, Diskurse wie jenen über .Diversity" nicht vollkommen abzulehnen - es gehe da nicht um ein Entweder-Oder. Tatsächlich kann kein Zweifel darüber bestehen, dass .Diversity" ein Prinzip ist, dass vor allem von Unternehmen keineswegs als Befreiungsprogramm angelegt ist, sondern gewisse soziale und politische Vorgaben in unternehmerisches Handeln umsetzt. Ihren Siegeszug angetreten haben die .Diversityv-Programme von den USA aus, aber sie haben auch in vielen europäischen Ländern Verbreitung gefunden - in Großbritannien, den Niederlanden und Skandinavien. Die Basis für das Interesse an .Diversity" liegt auf der Hand. Die gesamte westliche Welt ist von einem beachtlichen demographischen Wandel betroffen, der dazu geführt hat, dass die Norm des männlichen, einheimischen, heterosexuellen Arbeitnehmers und Familienernährers im "mittleren" Alter ausgehöhlt wurde. Vor allem nach dem zweiten Weltkrieg sind neue Gruppen auf die Märkte vorgedrungen - sowohl aufjene der Arbeit als auch jene des Konsums: Frauen, Jugendliche, Migranten, Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen, Alte . Diese Gruppen sollen zum einen an das Unternehmen gebunden, zum anderen als Käufergruppen "getargetet" werden - Letzteres, in dem die jeweiligen Angehörigen dieser Gruppen innerhalb der Firmen ihr spezifisches Hintergrundwissen einbringen können. Auch bewegen sich die Unternehmen im Rahmen der sogenannten Globalisierung mehr und mehr auf einem internationalen Parkett, was notwendig dazu geführt, dass innerhalb dieses globalen Unternehmens sehr verschiedene Menschen in teilweise recht engen Kontakt miteinander treten. Ein gewisses Verständnis von Vielfalt ist für ein international agierendes Unternehmen aber auch notwendig, um auf unterschiedlichen Märkten adäquat zu reagieren. Werbung etwa funktioniert
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keineswegs universell, sondern muss auf die jeweiligen nationalen Kontexte abgestimmt werden. Diesem Wandel versuchen die Unternehmen späterstens seit den 1990er Jahren mit Hilfe von Konzepten gerecht zu werden, die Vielfalt bejahen, regeln und nutzen. Was aber darüber hinaus die Etablierung von .Diversity" befördert hat, ist eine starke Anti-Diskriminierungsgesetzgebung (vgl. Becker 2006: 16f.). In den Vereinigten Staaten etwa hat die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre dazu geführt, dass auf der einen Seite Diskriminierung streng geahndet wird und auf der anderen Seite Minderheiten durch eine Politik der "affirmative action" aktive Unterstützung erfahren. Tatsächlich hat der Staat in dieser Hinsicht im Gegensatz zu landläufigen Auffassungen eine beachtliche Gestaltungsmacht - das betrifft etwa die Einstel1ungspraxis im öffentlichen Dienst, aber auch die Überprüfung der Anti-Diskriminierungsvorschriften und der Beteiligung von Minderheiten bei Unternehmen, die Aufträge vom Staat erhalten. Solche Vorgaben haben insbesondere in den USA dazu geführt, dass die Unternehmen ab einem gewissen Zeitpunkt umdachten. Sie wol1ten die Gesetzgebung nicht mehr nur passiv erleiden, sondern mit den Vorgaben kreativ umgehen. Vielfalt sol1te nicht mehr als etwas betrachtet werden, was man gewissermaßen notwendig in Kauf nahm, sondern ein positives Element in der Unternehmenskultur - eine Gestaltungsaufgabe. In diesem Sinne ist .Diversity" ein hegemonialer Entwurf: Es geht in erster Linie um "managing diversity". Gleichzeitig jedoch handelt sich um ein Konzept, in das die Kämpfe und Forderungen der Minderheiten eingegangen sind. Durch die Einführung von .Diversityv-Programmen konnte den Ansprüchen der Minderheiten aufAnti-Diskriminierung und Partizipation die Spitze genommen werden - "seht her", lautete das Signal, "wir erkennen euch an in al1 eurer Unterschiedlichkeit, mehr noch, wir sehen die Differenz als Ressource für den Fortbestand und Fortschritt unserer Einrichtung". Zugleich sol1te .Diversity" die Ausschöpfung des Potentials der Mitarbeiter als .Humanressource" des Unternehmens verbessern. Personen, die sich innerhalb des Unternehmens diskriminiert fühlen, sind selbstverständlich nicht im gleichen Maße motiviert wie Personen, die sich respektiert fühlen. .Diversity", das haben viele Unternehmen erkannt, kann dazu beitragen, den "psychological contract" eines Arbeitnehmers mit seinem Unternehmen zu stärken und so eine Verbesserung der Arbeitsleistung erreichen (vgl cipd 2004, S7). Durchaus in diesem Sinne existiert unterdessen eine Art Mythos in vielen Firmen, und dieser Mythos besagt, dass heterogene Gruppen, die aus Personen mit unterschiedlichen Hintergründen bestehen, kreativer arbeiten können. Diese Be-
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hauptung lässt sich aber kaum belegen. Zudem liegt in dieser Unterstellung der Kreativität durch Differenz auch eine Gefahr - eine Gefahr, die sich in den eingangs zitierten Bemerkungen von Matthias Horx bereits andeutete. Im schlimmsten Fall wird .Diversity" nämlich verstanden als schlichte Aufforderung an Personen, ihre vorgebliche Differenz einzubringen - etwa als weibliche Einfühlsamkeit, schwules Stilverständnis, schwarzes Subkulturfeeling, türkisches Folkloreverständnis etc. Das wäre dann nichts anderes als eine positive Diskriminierung, eine Festlegung der Personen auf ihre durchaus klischeehaft begriffene Unterschiedlichkeit. Zweifellos, und da haben Hardt und Negri Recht, erfasst .Diversity" in erster Linie eine bestimmte Schicht von Personen - und zwar Personen, die einen Job besitzen und dadurch gleichzeitig auch Kaufkraft. In diesem Sinne wäre .Diversity" kaum wirksam für Personen, die etwa arbeitslos sind und von staatlichen Transferleistungen abhängig, Personen, die also gewissermaßen aus den Institutionen der Arbeit "herausfallen". Zudem gibt es nur wenige Ansätze von .D iversity", die auch den sozioökonomischen Hintergrund berücksichtigen. Es ist umstritten, ob dieser Aspekt überhaupt zur Definition gehört (vg1. Becker 2006 : 7f.). Tatsächlich würde eine so verstandene .Diversity" fundamentale Fragen von Machtverteilung aufwerfen. .Reversing exploitative workplace practises (e.g., low wages, dangerous conditions), providing real opportunities for advancemant (e.g., training, post-secondary education, continuing education classes), and appreciating the contributions made by all workers", schreibt die Psychologin Heather Bullock, "are changes that not only threaten the foundation of class stratification, but also interrupt the self-congratulation of the privileged who wish themselves a fair minded people participating in a true meritocracy." (Bullock 2004 : 241f.) Nun wäre es sicher unrealistisch, zu glauben, dass .Diversity" etwas ändern könnte an den grundsätzlichen Hierarchien in einer Organisation, der Aufteilung zwischen Kopf- und Handarbeit oder ungleichen Arbeitsteilung im internationalen Maßstab. .Diversityv-Programme können in erster Linie dafür sorgen, dass die Vorrausetzungen für einen gerechteren Zugang zu gesellschaftlichen Positionen gewährleistet wird . Insofern ist .Diversity" in vielen Staaten auch ein Thema für den Bildungsbereich, für Schulen und Universitäten. Zudem kann .Diversity" eine immense Rolle spielen im Gesundheitsbereich und im Sozialwesen - überhaupt im gesamten Bereich staatlicher oder quasi-staatlicher Dienstleistungen. In der Bundesrepublik würde das auch den Sektor der hoch subventionierten staatlichen Kulturpolitik betreffen. Unterdessen gibt es auch hierzulande Bemühungen, so etwas wie eine "interkulturelle Öffnung" in der Verwaltung zu etablieren bzw. in Bezug auf Entscheidungen etwa von kommunalen Behörden - auch das wäre ein Feld, auf dem keineswegs nur eine bestimmte Schicht von Personen betroffen
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wäre, sondern zumindest im Prinzip alle Bürger. In dieser grundsätzlichen Qualität liegen die Chancen des Prinzips .Diversity".
2. "Diversity" mit großem D Aber was bedeutet eigentlich .Diversity"? Zunächst bedeutet das Wort nicht mehr als Vielfalt und damit beschreibt es den derzeitigen Ist-Zustand in vielen Einrichtungen und Unternehmen. Nun wird das Wort .Diversity" aber in der US-amerikanischen Literatur gewöhnlich entgegen der üblichen Kleinschreibung mit einem großen D am Anfang geschrieben (vgl. Finke 2006 : 9). Als Programm meint .Diversity" einen anzustrebenden Zustand, eben eine spezifische Weise, die vorhandene Vielfalt zu gestalten. Damit weist der Begriff eine ähnliche Doppelbedeutung aufwie in Deutschland etwa die Bezeichnung ,,multikulturelle Gesellschaft", die ja auch gleichzeitig die schiere Benennung eines Phänomens darstellte sowie eine Zielvorgabe fiir den Umgang mit diesem Phänomen. Was also wäre "Diversity" mit großem D? Einer der eloquentesten Vertreter des .Diversityv-Ansatzes ist der USA-amerikanische Organisationsberater Roosevelt Thomas. In seinem auch auf Deutsch erschienen Buch "Management of Diversity" erzählt er zu Beginn die unterdessen in vielen Publikationen reproduzierte Geschichte von der Giraffe und dem Elefanten (vgl. Thomas 2001: 25ff.). Sehr verkürzt handelt sie von der Einladung eines Elefanten in das Haus einer Giraffe. Dieses Haus ist den Bedürfnissen der Giraffe vollends angepasst, was bereits bei der Ankunft des Elefanten zu Problemen führt : Er, das gedrungene, schwere, breite Tier kann nicht durch die hohe und schmale Tür eintreten. Die Giraffe nutzt die Möglichkeit, die Tür zu verbreitern. Doch die Malheurs des Elefanten nehmen kein Ende: Die Treppenstufen brechen ein, er sorgt fiir Risse in der Wand. Schließlich empfiehlt die Giraffe dem Gast ein Schlankheitsprogramm - Fitness-Studio und Ballettunterricht. Der Elefant jedoch definiert das Problem anders: ,,Ehrlich gesagt , bin ich mir nicht sicher, ob ein für eine Giraffe entworfenes Haus je für einen Elefanten passen wird, außer es würden einige tiefgreifende Umbaumaßnahmen vorgenommen." (ebd.: 26f.)
Die Idee der Umbaumaßnahmen ist nach Thomas entscheidend. Ein neuer Ansatz überschreitet die herkömmliche Vorstellung, "dass es injeder Situation,jedem Unternehmen, jeder Gesellschaft, die ,Einen', die ,Normalen' gibt, und dann noch die ,Anderen', - die sich in irgendeiner Weise (üblicherweise durch ihr Geschlecht und
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ihre Rassel) unterscheiden. In dieser traditionellen Sichtweise werden nur die ,Anderen' als Diversity gesehen" (ebd .: 27). In der von Thomas vorgeschlagenen Perspektive wird .Diversity" dagegen als "kollektive Zusammensetzung" gefasst, als ,,komplexe Mischung von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Talenten" (ebd.) . Oder um es mit den Worten von Philomena Essed auszudrücken: "In short, when the new worker arrived the primary focus was not 'how do we fit her in?' but 'how do we create a new balance by changing along as well?" (Essed 1996: 85) Merve Finke beschreibt .Diversity" folgendermaßen: ,,Hiermit ist die bewusste Beachtung und Wertschätzung aller unterschiedlichen Attribute der einzelnen Individuen und deren Einfluss auf die zwischenmenschlichen Beziehungen imAlltag, vor allem am Arbeitsplatz, gemeint." (pinke 2006 : 6)
Die Betonung der Individualität ist ein Aspekt, der bei allen .Diversityv-Definitionen die entscheidende Rolle spielt. Damit erweist sich .Diversity" eben als Ansatz, der gewissermaßen "beyond race and gender" sein soll (Thomas 1991). Im Mittelpunkt steht nicht die Beteiligung bestimmter Gruppen, sondern die Chancen des einzelnen, sein Potential tatsächlich auszuschöpfen. Die Gruppe kommt in dem Maße ins Spiel, in dem der einzelne sich mit ihr identifiziert oder ihr zugerechnet wird. Die Realisierung des Individuums ist, wenn sie als Gestaltungsaufgabe ernst genommen wird, eine immense Herausforderung für die jeweilige Institution. Die Einführung eines .Diversityv-Programms, das den Namen auch verdient, fordert von der Institution, buchstäblich "ans Eingemachte" zu gehen . Die gesamte Struktur des Unternehmens oder der Einrichtung muss daraufhin befragt werden, ob sie der Vielfalt der Gesellschaft gerecht wird. Das betrifft den "organisational core", die "Kultur" der Einrichtung, die Rekrutierungsverfahren, die intra-organisationellen Positionsverteilungen und Aufstiegsmöglichkeiten, den Kampf gegen diskriminierende Wissensbestände und Verhaltensweisen sowie die Außendarstellung und Ansprache eines Publikums.
3. "Diversity" - aber wie? ,,Diversity"-Programme zu initiieren, zu implementieren und auf Dauer zu stellen ist keine leichte Aufgabe für Unternehmen und Einrichtungen. Nun gibt es für den Einbau solcher Programme eine ganze Reihe von Modellen und ganz erhebDer Begriff"Rasse" ist hier die Übersetzung des US-amerikanischen "race". Der Begrifffungiert in erster Linie als soziologische Beschreibungskategorie. Auch das ist angesichts der Geschichte des .Rassenbegriffs'' keineswegs unprob lematisch, aber in der englischsprachigen Welt üblich . Jedenfalls transportiert die Bezeichnung keine biologische Kategorisierung.
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liehe Unterschiede in der Praxis. In den meisten Fällen beginnt dieser Prozess mit der Verabschiedung eines sogenannten Corporate Codes bzw. einer Betriebsvereinbarung. Darin wird festgehalten, welche Regeln die Institution für unabdingbar hält, um eine Atmosphäre herbeizuführen, in der .Diversity" gelebt werden kann . In den Vereinigten Staaten haben fast alle Unternehmen einen solchen Code, in Deutschland unterdessen mehr als die Hälfte. Die Betriebsvereinbarungen werden gewöhnlich auf den Homepages der Unternehmen veröffentlicht - in der Literatur sind im Anhang von Haselier & Thiel die Betriebsvereinbarungen von Deutsche Bank, Bombardier Transportation, Ford und T-Com abgedruckt (2005: 80ff.). Leider sagt die Veröffentlichung recht wenig aus über die tatsächliche Qualität der Programme. ,,Allerdings reicht es nicht", betonen Lars-Eric Petersen & Jörg Dietz ganz zurecht, "Corporate Codes auf der Homepage des Unternehmens zu präsentieren. Vielmehr müssen die Inhalte der Corporate Codes auch den Mitarbeitern bekannt sein und in der Organisationskultur verankert sein." (2006: 118) Um die Situation in Deutschland wird es unten noch gehen, aber im Sinne der soeben zitierten Feststellung lässt sich bezweifeln, ob etwa die "Charta der Vielfalt", welche die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2007 auf den Weg brachte, auch tatsächlich Wirkung zeigen wird. In einer Presserklärung am 14.12. vermeldete die Beauftrage nämlich, dass 234 Unternehmen jene Charta unterzeichnet hätten: Damit würden nun zwei Millionen Beschäftigte erreicht. Ein Blick aufdie Charta zeigt jedoch, dass darin überhaupt keine nachprüfbaren Marken formuliert werden. "Die Umsetzung der ,Charta der Vielfalt' in unserem Unternehmen hat zum Ziel, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, das frei von Vorurteilen ist." (Die Beauftragte 2007) Was jedoch als "Vorurteil" betrachtet wird, das bleibt dahingestellt. Wenn im Unternehmen die Entscheidungen von einer weitgehend homogenen Schicht von traditionell ober- bis mittelständischen, einheimischen, heterosexuellen Männern getroffen werden und die Unternehmenskultur entsprechend gefärbt ist - wie sollen dann "Vorurteile" als solche erkannt werden? Ebenso uneindeutig sind andere Formulierungen in der "Charta". So erklären die unterzeichnenden Einrichtungen, "eine Unternehmenskultur (zu) pflegen, die von gegenseitigem Respekt und Wertschätzung jedes Einzelnen geprägt ist. Wir schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Vorgesetzte wie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diese Werte erkennen, teilen und leben. Dabei kommt den Führungskräften bzw. Vorgesetzten eine besondere Verpflichtung zu." (ebd.) Nichts ist hier darüber gesagt, was für "Voraussetzungen" das sind und wie die Unternehmen diese Voraussetzungen realisieren wollen.
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"What gets measured gets done", lautet eine alte unternehmerische Devise in den Vereinigten Staaten und das trifft für .Diversity'-Programme zu. Es geschieht nur dann etwas, wenn eine klare und nachprüfbare Vorstellung davon besteht, was die Institution erreichen will und wie sie vorzugehen gedenkt. Am Anfang steht immer ein Prozess der "issue identification" (Agars/Kottke 2004 : 67). In der Organisation muss ein Bewusstsein aufkommen, dass es wichtig ist, .Diversity" zu einer Priorität zu machen. Dieses Bewusstsein kann von bestimmten Gruppen in die Einrichtung hinein getragen werden oder es kann "von oben", von den Entscheidungsträgern verordnet werden. Möglicherweise sitzen diese Entscheidungsträger auch in einem anderen Land. Die globale Verflechtung der Wirtschaft hat dazu geführt, dass .Diversity'' in deutschen Unternehmen oft durch die Verquickung mit US-amerikanischen Firmen eingeführt wurde. Das hat hierzulande dazu geführt, dass .Diversity" von den Mitarbeitern kritisch beäugt wurde, weil es als "amerikaniseh" galt (vgl. .Daimlerf'hrysler AG" 2003: 281). In jedem Fall ist die intendierte Veränderung des "organisational core" auch ein Angriff auf die Privilegien der "Mehrheit" in der Einrichtung. Tatsächlich besitzt jede Institution, manchmal explizit, manchmal unausgesprochen, eine Reihe von "gelebten" Annahmen über Werte und Verhaltensweisen, sowie einen bestimmten "Typus", der diese Werte und Verhaltensweisen in besonderer Weise verkörpert. Dieser "Typus" kann von Institution zu Institution durchaus unterschiedlich sein. Je höher man zumal in Deutschland in der Hierarchieebene kommt, desto homogener wird das Spektrum - hier regieren noch relativ unangefochten jene Personen, die während der Debatten um "political correctness" in den Vereinigten Staaten der 1990er Jahre ironisch als PPPP bezeichnet wurden, als "pale patriarchal penis people". Dass Frauen in diesem Segment nicht einbezogen werden, bedeutet nicht, dass sie nicht in anderen, schlechter bezahlten Bereichen des Arbeitsmarktes selbst den "Typus" verkörpern - beispielsweise beim Pflegepersonal im Krankenhaus. Auch dort gelten dann bestimmte Annahmen über "Normalität", die für Frauen nichtdeutseher Herkunft ausgrenzend wirken können. Gleichzeitig ist aber die überdurchschnittliche Beteiligung von Frauen in Pflegeberufen wiederum mitbedingt durch Vorstellungen von der Frau als ",mütterliches" Wesen, welches quasi natürlich mit den richtigen Eigenschaften für Pflegeberufe ausgestattet ist. Auch solche, immer noch weit verbreiteten Ideen müssten durch .Diversity"Programme adressiert werden. Bereits die "issue identification" ist ein durchaus schwieriger Prozess und es ist wichtig, dass in diesem Fall das richtige Maß zwischen dem begleitenden "Mitnehmen" des"Typus" und der Konfrontation von nicht mehr tolerierbaren Verhaltensweisen gefunden wird. Sicherlich hat es keinen Sinn, die Erhöhung der Motiva-
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tion bei den einen auf Kosten einer wachsenden Unzufriedenheit bei den anderen durchzusetzen; auf der anderen Seite muss der Widerstand durch Hartnäckigkeit und auch durch Sanktionen - Abmahnungen gegen diskriminierendes Sprechen oder Verhalten etwa - überwunden werden. Die erste Maßnahme für jede Einrichtung in Bezug auf .Diversity" lässt sich aber vermutlich noch ohne Auseinandersetzungen vermitteln. Dabei geht es um die Einführung von rein baulicher Barrierefreiheit. Wenn Personen mit Handicaps nicht einmal die Möglichkeit haben, ohne fremde Hilfe die Einrichtung zu betreten, was sehr häufig der Fall ist in Deutschland, dann ist schon die elementarste Bedingungen für .Diversity" nicht erfüllt. Bei der Barrierefreiheit wie bei vielen anderen Unterpunkten von .Diversity" ist es notwendig, die Institution überhaupt erst für ihre Barrieren zu sensibilisieren. Offene Diskriminierung zu sanktionieren ist gewöhnlich weniger schwierig - diese wird ja zumindest rhetorisch mit großer Mehrheit in der Bevölkerung abgelehnt. Sicherlich gibt es gerade in Deutschland noch keinen Konsens darüber, was Diskriminierung ist, und so werden teilweise selbst krasse Formen von Diskriminierung nicht als solche erkannt - in diesem Sinne muss die Institution auf einen neuen Konsens hinwirken. Die .Diversityv-Programme adressieren aber eben nicht nur explizite Diskriminierung, sondern die Ignoranz gegenüber unausgesprochenen und unsichtbaren, strukturellen Zugangshürden. Das betrifft etwa die Strategien der Rekrutierung für die Einrichtung. Am Anfang steht dabei stets eine Erhebung - die Einrichtung muss feststellen, wie sich die Verteilung von Personen mit unterschiedlicher Gruppenzugehörigkeit in der gesamten Institution und in den verschiedenen Segmenten der Einrichtung darstellt. Für Universitäten etwa könnte eine solche Analyse zeigen, dass der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund insgesamt deutlich zu niedrig ist. In einem Unternehmen wiederum könnte beispielsweise das Problem auftauchen, dass im Bereich der niedrig entlohnten Tätigkeiten sehr viele Frauen arbeiten, auf den höheren Ebene aber fast nur Männer. Nun ist in den USA eine pro-aktive Personalpolitik üblich - vor allem die Unternehmen versuchen schon im Vorfeld, etwa in den Bildungsinstitutionen, potentiell geeignete Mitarbeiter zu einer Bewerbung aufzufordern. Hier lässt sich eine Politik der .Diversity" gut realisieren. Tatsächlich versuchen US-amerikanische Universitäten und Unternehmen die Zahl der Bewerber aus Minderheiten zu erhöhen, in dem sie etwa mit den jeweiligen Selbstorganisationen dieser Minderheiten zusammenarbeiten. Tatsächlich sind es ja oft genug informelle Netzwerke aller Art, über die Kontakte hergestellt werden oder Posten vergeben werden. Da Minderheiten sehr oft nicht Teil dieser Netzwerke sind, muss die Institution sich bemühen, den Vorgang des Netzwerkens aktiv zu besetzen. Dabei werden in den Vereinigten Staaten oft die Bereiche der Institution "belohnt", denen die Erhöhung
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des Anteils von Minderheiten gelingt. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) etwa hat ein Programm mit dem Titel .Minority Faculty Hiring" eingeführt: Wenn Angehörige von Minderheiten für Stellen nominiert werden, dann übemimmet die Institution die Finanzierung der Stelle (vgl. Caines 2003 : 259). Solche pro-aktive Personalrekrutierung ist in Deutschland - abgesehen von einigen technischen Berufen - noch weitgehend unüblich. Die meisten Institutionen glauben, dass es reicht, auf Bewerber zu warten, von denen es gewöhnlich ja auch genug gibt. Erst langsam macht sich ein Wandel in der Mentalität bemerkbar. Auch passive Formen der Personalrekrutierung können "Diversity" berücksichtigen, was ja im Fall der Bevorzugung von Bewerberinnen bei gleicher Qualifikation bereits getan wird. Im Falle von Personen mit Migrationshintergrund ist ein solches Vorgehen noch weitgehend unüblich - nur manche Fachhochschulen im pädagogischen Bereich versehen ihre Ausschreibungen mit der entsprechenden Klausel. Tatsächlich gibt es in Deutschland im Prozess der Bewerbung nicht einmal rudimentäre Maßnahmen im Sinne der Antidiskriminierung- wie etwa die Anonymisierung der Unterlagen im Auswahlverfahren. Bewerbungen, die mit Namen und Foto ins Auswahlverfahren kommen, öffnen freilich der Bevorzugung des oben beschriebenen "Typus" Tür und Tor. In Bezug auf Personen mit Migrationshintergrund sind die Rekrutierungsmechanismen in Unternehmen häufig geprägt von Zuschreibungen - im Sinne von: "diese Personengruppe hat keine ausreichenden Qualifikationen oder ist nur an solchen Jobs interessiert, die keinen höheren Qualifizierungsgrad erfordert". Zugleich existiert eine erhebliche Ignoranz gegenüber strukturellen Hürden - die Verantwortlichen zeigen sich fest von der "Chancengleichheit" bei Bewerbungen überzeugt (vgl. Leenen et al. 2006). Eine weitere Frage, welche sich Institutionen im Prozess der .Diversity" steilen müssen, betrifft ihre Kunden, ihr Klientel, ihr Publikum. Bei den Unternehmen ist diese Ebene relativ einfach zu vermitteln. Der potentielle Kundenkreis ist heute vielfältig zusammengesetzt und die jeweiligen Zielgruppen müssen jeweils auf spezifische Weise angesprochen werden. Die Ford-Werke haben "Ressource Groups" gegründet - etwa für Frauen, Personen mit türkischer Herkunft, für schwule, lesbische oder bisexuelle Angestellte etc. Diese Gruppen sollen auf der einen Seite im Sinne der Rekrutierung von Minderheiten wirken, aber auf der anderen Seite auch helfen, Kundenkreise mit einem bestimmten Hintergrund anzusprechen. Die Teilnahme an den Ressource Groups ist freiwillig, aber eine solche Arbeitsweise kann durchaus einen problematischen Charakter bekommen. "Persönliches wird nun zur Dienstpflicht. (...) Mitglieder sollen ihr Wissen als Mütter einbringen, wie es am Beispiel der Mum Car deutlich wurde. Mitglieder sollen als Türken, als Briten, als Amerikaner und als Deutsche nationalkulturelles Wissen für die Entwick-
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lung der Autos und den kundenspezifischen Absatz einbringen. Mitglieder sollen in Ressource Groups als Homosexuelle Wissen über die ästhetischen und politischen Bedürfuisse dieser Gruppe vermitteln." (Frohnen 2005 : 123) Deutlich schwerer zu vermitteln sind .Diversityv-Maßnahmen in Bezug auf das Publikum im Bereich staatlich subventionierter Dienstleistungen. Das deutsche Stadttheater etwa bevorzugt ganz eindeutig ein Publikum, dass einen einheimischen und bildungsbürgerlichen Background besitzt. Tatsächlich hat diese Klientel überhaupt kein Bewusstsein darüber, dass die Orientierung des Theaters an seinen Bedürfnissen ein Privileg darstellt - und würde Maßnahmen zur Öffnung der Institution ohne Zweifel als Bevorzugung von Minderheiten betrachten. In Anbetracht der Vielfalt der Bevölkerung kommen diese Einrichtungen aber gar nicht an der Frage vorbei, warum etwa Personen mit Migrationshintergrund das Angebot so wenig nutzen. Viele Migranten kennen die kulturelle Infrastruktur überhaupt nicht: Ein Besuch im Stadttheater würde manchen geradezu Angst machen. Aber das Theater sollte auch für Leute da sein, deren Bildungsvoraussetzungen nicht "passen" - und das keineswegs nur im Rahmen pädagogischer Interventionen für die "anderen". Dafür müsste der Raum zunächst geöffnet und zugänglich werden - möglicherweise durch ein Konzert mit einem bekannten Musiker. Erst wenn der Raum in der "cognitive map" überhaupt auftaucht, dann beginnt man, die dort gemachten Angebote wahrzunehmen. Und schließlich wäre die inhaltlichen Ausrichtung zu überprüfen: Wird die Vielfalt thematisch einbezogen? Um wessen Vorlieben, Perspektiven und Probleme geht es im Theater? Die Einbeziehung unterschiedlicher Problem- und Interessensagenden und Darstellungsformen könnte das Theater dabei außerordentlich bereichern.
4. "Diversity" - die deutsche Wirklichkeit Wie bereits mehrfach betont: .Diversity" ist kein Programm, das lediglich rhetorisch darauf abzielt, eine bessere Stimmung zu erzeugen oder dem Unternehmen oder anderen Einrichtungen eine modeme, global anmutende Außendarstellung zu verpassen, sondern eine Initiative zur personellen, kulturellen, inhaltlichen Öffnung einer Einrichtung in Bezug auf die Vielfalt der Bevölkerung - eine Öffnung, die erarbeitet, durchgesetzt, behauptet und weiterentwickelt sowie vor allem anband konkreter Zielvorgaben überprüft werden muss. In Deutschland ist ein solches Verständnis von .Diversity" selbst bei den Unternehmen, die entsprechende Programme eingeführt haben, nicht verbreitet. Das hat nicht zuletzt mit der im Vergleich mit anderen Einwanderungsländern recht bescheidenen Antidiskriminierungsgesetzgebung zu tun. Zwar verbietet das Grundgesetz in Artikel 3
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die Benachteiligung wegen Geschlecht, Abstammung, "Rasse", Sprache, Heimat und Herkunft, Glauben sowie religiösen und politischen Anschauungen, aber die Rechtswirksamkeit dieses Passus im Alltag war relativ gering. Seit 2007 nun gelten die ins deutsche Recht überführten Richtlinien des Rates der Europäischen Union (2000/43/EG, 2000/78/EG, 2002/73/EG) unter der Bezeichnung ,,Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) . Allerdings war dieses Gesetz sehr unbeliebt (die Umsetzung hat sieben Jahre in Anspruch genommen) und sehr umstritten. Bei der aktuellen Fassung handelt es sich um eine Version, die maßgeblich aufDruck unterschiedlicher Verbände und der Kirchen zustande kam . Gerade bei den Arbeitgebern stieß das Gesetz auf Ablehnung. Die verabschiedete Version missachtet nun eine Reihe von europarechtlichen Vorgaben, so dass die EU-Kommission im November 2007 ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat. Ein Blick auf die problematischen Bestimmungen zeigt, dass die Missachtungen so offensichtlich sind, dass man davon ausgehen muss, dass das Verfahren und damit der Konflikt mit der EU billigend in Kauf genommen wurden. So erweist sich erneut, dass der Gesetzgeber in Sachen Antidiskriminierung nur höchst widerwillig agiert. Auch die Umsetzung lässt zu wünschen übrig - die im Gesetz festgeschriebene Antidiskriminierungsstelle des Bundes bekam erst ein Jahr nach Verabschiedung überhaupt nur einen Auftritt im Web. Auf der Webseite der Stelle wird betont, dass der "Pakt mit der Wirtschaft (...) das zentrale und übergreifende Anliegen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS)" sei. Es scheint jedoch fraglich, wie der Staat diesen Pakt verwirklichen will, wenn er in Sachen Antidiskriminierung und .Diversity" nicht einmal in den eigenen Behörden und Unternehmen ein Zeichen setzt - Leenen et al. konnten in einer Untersuchung in Kölner Betrieben zeigen, dass gerade im Bereich der öffentlichen Verwaltung der Anteil von Migranten sehr gering war (2006: 129). Die Bemühungen zur interkulturellen Öffnung sind dort eher selten und die Ziele konkret kaum überprüfbar, Zudem steht das herrschende Verständnis von "Integration" in der Bundesrepublik der Idee von .Diversity" entgegen. Denn immer noch geht dieses Konzept - das zeigen auch die jüngsten Maßnahmen im Bildungsbereich - von einer "deutschen" Norm aus. Vorausgesetzt wird das Niveau der einheimischen, mittelständischen Individuen, erworben aufgrund eines funktionierenden familiären Backgrounds. Migranten gelten ebenso wie Angehörige der Unterschicht oder Behinderte als defizitäre "Sorgenkinder". "Integration" bedeutet in diesem Sinne, die "Sorgenkinder" durch Sondermaßnahmen zu einem bestimmten Zeitpunkt, etwa dem Schuleintritt, aufden gleichen Stand zu bringen. Wie die erwähnte Geschich-
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te von Giraffen und Elefanten zeigt, widersprechen solche Vorstellungen den Prinzipien von .Diversity" - tatsächlich geht es nicht darum, nur die "anderen" zu reformieren, sondern die Organisationsform der Institution. Angesichts dieser Situation ist es auch kein Wunder, dass die Impulse zur Einführung von Diversity in deutschen Firmen hauptsächlich durch die Teilnahme am internationalen Wettbewerb motiviert sind. In der Zusammenarbeit finden es vor allem die Entscheidungsträger bei US-amerikanischen Unternehmen heutzutage völlig abwegig, dass sich deutsche Unternehmen nicht mit .Diversity" befassen . So ist die Zahl der Unternehmen, die .Diversityv-Programme fahren, seit Ende der I990er Jahre rasant gestiegen. Viele Firmen hierzulande haben Betriebsvereinbarungen verabschiedet, .Diversity Councils" eingerichtet, hauptamtliche Stel1en für .Diversityv-Beauftragte geschaffen, Broschüren veröffentlicht, Awareness-Trainings angeboten, Beratungsstel1en und diversity-orientierte Einrichtungen (z.B. Kinderkrippen) geschaffen, Mentoring-Programme und "Ressource Groups" angeregt etc. Eine Befragung von allen im Deutschen Aktienindex notierten Unternehmen sowie den deutschen Niederlassungen der US-Top-50 mit einem Rücklauf von 70% hat 2005 jedoch gezeigt, dass immer noch nur 38,5% der befragten Unternehmen entsprechende Programme implementiert hatten. Bei weiteren 18,5% war das Konzept zumindest geläufig, aber immerhin 43% meldeten, dass ihnen die Bedeutung von .Diversityv-Management gänzlich unbekannt sei (vgl. SüßIKleiner 2005: 5). Nun existiert mittlerweile eine beachtliche Menge an theoretischen Werken zum Thema in deutscher Sprache, aber es gibt einen ebenso beachtlichen Mangel an empirischer Einsicht in die Praxis von Einrichtungen (eine der wenigen Ausnahmen ist Frohnen 2005). Insofern ist man auf der Suche nach Informationen auf die Außendarstel1ungen und Berichte der Unternehmen angewiesen oder auf das Gespräch mit den jeweilig hauptamtlich Zuständigen zum Thema .Diversity", Dabei zeigt sich aber relativ schnel1, dass sich die Maßnahmen hierzulande in ihrer Qualität und "Tiefe" von jenen in den USA erheblich unterscheiden. Das zeigte sich auch in einer Reihe von Gesprächen mit .Diversityv-Beauftragten unterschiedlicher Unternehmen in einem Sammelband mit Beispielen von "Best Practices" (vgl. Belinszki et al. 2003). .Diversity" wird von den Gesprächspartnern als ein Prozess verstanden, der in erster Linie auf das Bewusstsein zielt. Aletta von Hardenberg und Elisabeth Girg von der Deutschen Bank betonen, es handele sich bei ,,Diversity" um einen generellen "Prozess des Umdenkens" ("Deutsche Bank AG" ; 299) ; Wilma Borghoffvon Ford erwartet von potentiellen Mitarbeitern "eine positive Grundeinstellung, eine Offenheit der Vielfalt gegenüber" und will diese auch als Arbeitgeber
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anbieten ("Ford Werke Deutschland": 317); und Monika Rühl von der Lufthansa betrachtet den ,,Bewusstseinswandel" als das "eigentliche Ziel" ("Deutsche Lufthansa AG": 332) . Aus dieser grundsätzlichen Orientierung ergibt sich fast zwangsläufig, dass die Vorgabe konkreter Ziele selten ist, und dass die "Messbarkeit" von Erfolg als schwierig bis unmöglich gilt (vgl. "Deutsche Bank AG": 310; .DaimlerChrysler AG": 286). "Es gab auch Impulse aus den USA", berichtet Olaf Peters von Procter & Gamble, "wobei die kulturel1en Unterschiede in manchen Kontexten doch deutlich wurden. Diversity Zielvorgaben in Prozentsätzen zu formulieren, z.B. ,40% Frauen auf der Hierarchieebene X', das erzeugt, vor al1em am Anfang, eher Irritationen. Hier ist es wichtiger, Überzeugungsarbeit zu leisten." ("Procter & Gamble Deutschland": 341) Nun liegen die Vorbehalte gegen solche Vorgaben in einem letztlich immer noch sehr konservativen Land wie Deutschland aufder Hand, aber die lassen sich nur schwerlich als "kulturel1e Unterschiede" zu den USA abtun. Denn in anderen europäischen Ländern werden solche Zielvorstel1ungen durchaus formuliert. Zu Beginn des Jahres 2008 haben etwa 50 norwegische Aktiengesel1schaften eine schriftliche Verwarnung erhalten, weil sie in ihren Aufsichtsräten noch nicht die festgeschriebene Frauenquote von 40 Prozent erfiil1t haben - man ist bei 38 Prozent stehen geblieben .' In Deutschland dagegen werden selbst in den Behörden die ohnehin recht niedrig angesetzten Zielvorgeben selten erfiil1t. In einem Bericht der Bundesregierung über die Erfahrungen mit dem Bundesgleichstellungsgesetz wird festgestel1t, dass der Anteil der Referatsleiterinnen in den obersten Bundesbehörden von 13,5 auf gerade mal 20 Prozent angestiegen sei. Finster sieht es bei den Staatssekretären in den Ministerien aus : Hier sind nur 3,6 Prozent Frauen." Tatsächlich fehlt hierzulande für die Durchsetzung von anspruchsvollen Quotierungen in der Politik und auch in den Unternehmen schlicht der Wille . Ein Blick auf den "Personal- und Nachhaltigkeitsbericht" der Deutschen Telecom von 2006 etwa zeigt, dass .Diversity" hier kaum mehr als eine blumige Vokabel darstellt. Zwar wird eine "klare Diversity-Strategie" behauptet und darauf hingewiesen, dass die Telekom auf einem Kongress mit 150 Managern über das Thema gesprochen habe (vgl. Deutsche Telecom 2006, S3lf.). Es gebe eine "breite Palette von Entwicklungsinstrumenten und Maßnahmen", heißt es weiter - erwähnt wird vor allem der Bereich .Personalentwicklung''. In den jeweiligen Abschnitten zu .Personalumbau" und .Personalentwicklung" wird jedoch überhaupt nicht deutlich, wo .Diversity" hier eigentlich verankert sein soll . Ein Konzept ist nicht zu erkennen und ausdrücklich erwähnt werden nur .Familienfonds", Kitas 2 3
"Norwegen boxt Frauenquote durch", in: die tageszeitung, 15.01.2008. "Chefinnen-Ranking fiir Ministerien", in: die tageszeitung, 17.01.2008.
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und ,,Age Management" (ebd., S. l6ff.). Überhaupt konzentrieren sich die Aktivitäten in fast allen Unternehmen aufbehinderte, weibliche und ältere Beschäftigte. Der Bereich der Personen mit Migrationshintergrund wird dagegen nur sehr selten adressiert. Exemplarisch heißt es auf der Homepage von Microsoft Deutschland: ,,Diese Diversity Taskforce widmet sich zunächst vor allem der Repräsentanz von Frauen und Behinderten in der Microsoft-Belegschaft.'" Zum Thema Migrationshintergrund gibt es mit wenigen Ausnahmen wie etwa den Ford Werken gewöhnlich nur Trainingsmaßnahmen - diese aber oftmals nicht bezogen auf die Einwanderungsgesellschaft, sondern auf die Arbeit im internationalen Bereich ("DaimlerChrysler AG" 2003: 287; "Deutsche Bank AG" 2003: 305). Bei der Telecom werden .zielgruppenorientierte Schulungen" erwähnt sowie die Einrichtung eines "türkischsprachigen Call-Centers" (Deutsche Telecom 2005 : 23f.); bei Lufthansa wiederum "interkulturelle Trainings" sowie .Drittlandentsendungen" (Rühl 2004). Nun lässt sich aus der Auswertung von Gesprächen und Homepages zweifellos kein vollständiges Bild der .Diversity"- Maßnahmen ableiten, aber da es sich dabei um AußendarsteIlungen des Unternehmens handelt, hat dieses Material doch eine gewisse Aussagekraft: Wenn es mehr gäbe, dann würden sich die Unternehmensbeauftragten wohl kaum zurückhalten, ihre Leistungen auch zu erwähnen. Dennoch: Hier wäre aber dringend mehr Empirie geboten .
5. Scblussbemerkung
.Diversity" ist ein Konzept, das seinen Weg in Deutschland erst begonnen hat. Obwohl die konkrete Ausformung in den Unternehmen noch zu wünschen übrig lässt, ist es erfreulich, dass solche Programme eingeführt werden . Denn .Diversity" ist in vieler Hinsicht eine Chance für die Bundesrepublik. In letzter Zeit ist mit aller Macht das Konzept "Integration" aus den 1970er Jahren wieder aufgetaucht. Dieses Konzept erscheint aber wie ein Relikt aus einer vergangenen Epoche und ist überhaupt nicht in der Lage, die drängenden Probleme der Einwanderungsgesellschaft zu lösen. .Diversity" dagegen bietet eine andere Sichtweise an: Nicht die Minderheiten haben Defizite und sind reformbedürftig, sondern angesichts der vielfältigen Zusammensetzung der Bevölkerung muss das "Haus", in dem diese Menschen leben, umgebaut werden. Es geht darum, den geteilten Raum kreativ neu zu erfinden . Insofern darf .Diversity" auch nicht als notwendiges Übel betrachtet werden, sondern als eine begrüßenswerte Gestaltungsaufgabe. Tatsächlich könnte .Diversity" eine ganz neue Definition des Gemeinwesens 4
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mit sich bringen. Denn im Gegensatz um traditionellen Modell des Nationalstaates, der sich auf die geteilte Geschichte beruft, verweist .Diversity" auf das Zusammenleben in einer geteilten Zukunft.
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Vielfalt in der postmodernen Stadtgesellschaft - Eine Ortsbestimmung Wolf-Dietrich Bukow
Städte sind Orte der Vielfalt, seit es sie gibt. Aber zur Zeit wird dieses Phänomen besonders deutl ich wahrgenommen. Der Grund dafür ist, dass sich diese Vielfalt offenbar zur Zeit sehr stark qualitativ wie quantitativ verändert und damit einen ungewöhnlich starken gesellschaftlichen Wandel ausgelöst hat, was sich wiederum besonders in der Zusammensetzung der urbanen Gemengelage niederschlägt. Diese Veränderungen scheinen die Bevölkerung zu irritieren und zu verunsichern, da sie offenbar das gewohnte Maß eines "normalen" Wandels überschreiten. Der Wandel wird nicht mehr als zu urbanem Leben dazugehörend hingenommen, sondern als etwas wahrgenommen, was Druck ausübt. Es geht hier offenbar nicht mehr um die üblichen Probleme, Herausforderungen und Konflikte des urbanen Zusammenlebens, sondern darum, dass man sich genötigt sieht, sich neu einzustellen, sich anders als bisher zu arrangieren. Und jeder scheint hier involviert zu sein . Festgemacht wird das Gefühl, dass ein ungewohnter und beunruhigender Wandel stattfindet, vor allem daran, dass sich das Bild, das die urbane Bevölkerung tagtäglich bietet, offenbar über Gebühr verändert. Neue Sprachen, neue Moden, neue Lebensstile geraten ins Blickfeld und werden als Anzeichen dafür genommen. Es ist vor allem die daraus resultierende zunehmende Vielfalt. Dass ausgerechnet diese Elemente als Zeichen für einen massiven gesellschaftlichen Wandel genommen werden und nicht etwa eigentlich genauso naheliegende Aspekte des städtebaulichen Wandels - immerhin sind in den letzten zwei Generationen weit mehr als die Hälfte aller Gebäude abgerissen und durch Neubauten ersetzt worden - oder Aspekte eines sozialen Wandels - immerhin hat die Entindustrialisierung in den letzten drei Jahrzehnte zu massiven Verschiebungen in der Erwerbstätigkeit geführt - muss Gründe haben. Es hat wohl damit zu tun, dass man zumindest bei uns bis heute die Stadt vor allem aus einer national-mitteleuropäisch eingestimmten Perspektive betrachtet. Aus dieser Perspektive ist klar, dass wir es vor allem mit einer Veränderung in der Zusammensetzung der Bevölkerung zu tun haben. Aus dieser Perspektive ist nur diese eine Veränderung wirklich offenkundig.
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4_14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wir haben es in der postmodernen Stadtgesellschaft schon durch die gegenwärtige massive Globalisierung und der neuen Kommunikations- und Mobilitätsformen mit einer qualitativ wie quantitativ neuen Vielfalt zu tun. Allerdings ist diese neue Vielfalt aufgrund eines weitgehend national-mitteleuropäischen Blicks lange sehr einseitig wahrgenommen worden und man fühlt sich dementsprechend auch sehr eigentümlich verunsichert, nämlich im Blick auf seine nationale Identität, Sprache, Kultur und Religion oder was auch immer man dafiir hält. Statt einen Diskurs über den gesellschaftlichen Wandel insgesamt, über die in letzter Zeit qualitativ wie quantitativ massiv zunehmende Vielfalt zu führen, hat man einen Diskurs über den ,,Ausländer" begonnen und ihn faktisch bis in die jüngste Zeit fortgeführt. Bei dieser Konstellation, nämlich der Verschiebung des Diskurses auf nationale Themen war es nicht verwunderlich, dass die Reaktionen auf diese Veränderungen dann auch erst einmal deutlich negativ geprägt waren . Man hat gewissermaßen den Boten fiir die Botschaft verantwortlich gemacht und, da man post faktum weder den Boten noch die Botschaft rückgängig machen kann, wenigstens den Boten wie die Botschaft einzudämmen versucht. So hat sich der Diskurs jetzt vom .Ausländer"-Thema auf "Integration" verschoben. So wurde die Forderung nach Integration zu einem Gebot der Stunde. Aber auch mit dem Integrationsdiskurs sind wir noch nicht beim eigentlichen Thema angekommen. Vielmehr variiert er nur die alte, negativ eingefärbte Grundmelodie vom ,,Ausländer". Erst in jüngster Zeit belegt das die Debatte über die kulturrassistischen Verlautbarungen des Bundesbankdirektors Thilo Sarrazin. In diesem Kontext erklärt Klaus-Peter Schöppner von EMID, dass mit dessen Thesen "endlich ausgesprochen wird, was viele denken". Erst allmählich besinnt man sich darauf, dass es eigentlich um eine neue Vielfalt geht und dass es dabei nicht nur um ein eher triviales, sondern auch um ein relatives Phänomen geht, das die Stadtgesellschaft seit je begleitet, ja seit je fundiert. Aus gesellschaftswissenschaftlicher Sicht stellt sich deshalb die Frage, was an der aktuellen Vielfaltserscheinung wirklich neu ist und wie eine Gesellschaft darauf reagiert- eine Erscheinung, die ihr im Prinzip seit je vertraut ist, die sich aber aktuell sehr ausgeprägt darstellt. Besonders interessant wird es dadurch, dass es sich um eine Erscheinung handelt, die man nicht nur selbst mit angestoßen hat, sondern deren Nutznießer man ja auch in vielerlei Hinsicht ist. Hinzu kommt, dass es sich um ein Phänomen handelt, das längst eine unumkehrbare Wirkung gezeitigt hat. Schon deshalb wäre es töricht, der zunehmenden Vielfalt und dem von ihr ausgelösten Wandel naiv entgegen zu treten. Es liegt vielmehr nahe, sie als Teil einer unumkehrbaren Entwicklung zu betrachten und ihr spezifisches Potential auszuloten.
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Alles zusammen genommen bedeutet das, die Debatte zurecht zu rücken und sich auf die Kernproblernatik zu konzentrieren, auf die neue Vielfalt und auf die Frage, was sie für die Stadtgesellschaft bedeutet. Dazu ist es sinnvoll, eine Ortsbestimmung der Vielfalt in der postmodernen Stadtgesellschaft vorzunehmen. Damit das gelingt, wäre es eigentlich erforderlich, sich auch des entsprechenden Kontextes, also der Eigenschaften der europäischen Stadt, der Merkmale des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels und der Prozesse, die diesen Wandel in die Städte tragen und Vielfalt implementieren, zu vergewissern. Dies kann an dieser Stelle allerdings nicht geleistet werden. Dazu muss auf entsprechende Arbeiten (Bukow 2010a, Hess 2009, Vercovec 2010) verwiesen werden.
1. Wie Vielfalt in der urbanen Debatte zum Thema wird Erst neuerdings gerät die Vielfalt im Kontext der Stadtentwicklung positiv in den Blick. Lange Zeit hat man sie, sieht man einmal von den stadtsoziologischen Arbeiten von Georg Simmel und wenigen anderen Sozialwissenschaftlern im Übergang zum 20. Jahrhundert ab, weitgehend ignoriert. Die Ursachen liegen aber nicht darin, dass man die Stadtentwicklung generell ignoriert hat. Die Stadtentwicklung ist zum al in Europa seit langem ein zentrales Thema. Aber man hat die Stadt zumeist skeptisch bis ablehnend betrachtet und wenn man sich überhaupt auf sie eingelassen hat, dann an dörflichen Gemeinschaften orientierte Wohnformen (z.B. Gartenstädte) gefordert. Ein gutes Beispiel dafür ist die Debatte, wie sie sich seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hat. Hier ist exemplarisch an die Arbeiten von Alexander Mitscherlieh (2008) über die Unwirtlichkeit der Städte zu erinnern . Die Kritik hat sich zu dieser Zeit zunächst ganz allgemein an den Zweckbauten des Nachkriegsdeutschland festgemacht. Man hat aber auch die Versuche, Städte anders zu konzipieren (Sennestadt, Boxberg-Siedlung bei Heidelberg) kritisiert, weil sie als Trabantenstädte enttäuschten. Die Kritik an der Stadtentwicklung hat sich seitdem kontinuierlich verstärkt, nur wird sie - was erst in der Rückschau erkennbar wird - immer mal wieder anders begründet. In den Debatten hat man sich nach intensiven Klagen über urbane Entfremdungserscheinungen, über mangelhafte Identifikations- und Orientierungsmöglichkeiten, über Vermassung und Außenlenkung schrittweise von grundsätzlichen Fragen der Stadtentwicklung entfernt und - nachdem man sich selbst arrangiert hatte - speziellen sozialen Lagen, sogenannten "sozialen Brennpunkten" zugewendet. Hier traf man dann eher beiläufig auch auf die Einwanderung, weil die ersten Gastarbeiter ausdrücklich zur Unterschichtung dienten und sie sich folglich entsprechend in billigen (Unterschicht-) Quartieren nieder ließen. Zunächst
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entwickelte sich die Debatte noch im vorgezeichneten Rahmen; es kam zur Diskussion über die AAA-Quartiere von .Armen, Alten und Ausländern". Seit Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts gewinnt die Einwandererthematik dann eine eigenständige Dynamik. Kulturelle Aspekte werden in den Vordergrund gerückt. Aus sozialen Brennpunkten werden kulturelle Brennpunkte. In der wissenschaftlichen Debatte ist man diesem Trend zügig gefolgt und hat die Überleitung von der sozialen in die kulturelle Thematik teilweise sogar noch forciert, Kulturdifferenzen in den Mittelpunkt gestel1t und die Aufinerksamkeit ganz gezielt aufdie Frage der Segregation, hier der kulturel1en Segregation gelenkt. Besonders typisch war die vor al1em seitens einer durchaus engagierten Pädagogik vorangetriebene Begriffsbildung, für die man sich recht unkritisch in der Ethnologie, der Volkskunde und rechten wie linken nationalen Erzählungen bediente. Eine ganz besondere Rol1e spielt hier die von Wilhelm Heitmeyer geprägte Formulierung .Parallelgesellscbaft" (Bukow et al 2007), mit der Einwanderung, Segregation und Desintegration fest miteinander verschmolzen wird. Bis heute pflegt man den Eindruck, als ob eine erfolgreiche Stadtentwicklung vor al1em an den Menschen mit Migrationshintergrund scheitert (Schiffauer 2008 :7fl). Anders als in der Öffentlichkeit und in der Politik hat man sich in den Kommunen eher zurück gehalten. Den kommunalen Entscheidungsträgern war meist klar, dass eine einseitige und negative Fokussierung auf eine längst unumkehrbare Einwanderung nicht unbedingt zeitgemäß ist und zum anderen sahen sie ihre primäre Aufgabe eher darin, die Stadtentwicklung technisch zu organisieren und die von der Mehrheitsbevölkerung erwartete Infrastruktur auszubauen. Und nachdem mit der Wiedervereinigung und den Transferzahlungen die Kassen knapp werden, hat man sich auch noch aus diesem Bereich kommunaler Praxis zurückgezogen, und das urbane Feld einerseits den Bundesländern mit ihren Städteförderungsprogrammen und anderseits den großen Investoren überlassen. Die im Rahmen dieser Politik, vor al1em infolge des Rückzugs aus sozialen Aufgaben und der Privatisierung der Stadtentwicklung entstandenen Probleme werden nun entsprechend der öffentlichen wie der wissenschaftlichen Debatte ebenfalls zunehmend der Einwanderung zugerechnet. Man kann hier eine Ethnisierung sozialer Problemlagen erkennen. Und nachdem soziale Verwerfungen und die Prekarisierung ganzer Bevölkerungsgmppen immer offener zu Tage treten, liegt es auch hier nahe, den Menschen mit Migrationshintergrund die Probleme ursächlich zuzuweisen. Vor diesem Hintergrund ist es nur schwer vorstellbar, eine Vielfalt, die vor allem an der eingewanderten Bevölkerung wahrgenommen wird, zu würdigen. Im Gegenteil ist es auf diese Weise auf breiter Front zur Ausbildung des Defizitansatzes gekommen: Einwanderung begünstigt die Entstehung von sozial wie kulturell
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nachhaltig defizitären Bevölkerungsgruppen. Und wenn man die Probleme der Stadtentwicklung in den Griffbekommen will, dannmuss man sich an die Menschen mit Migrationshintergrund halten. Es ist nur konsequent, die im Rahmen des Defizitansatzes platzierten Probleme kulturalistisch zu reduzieren. So kommt es zur Integrationsdebatte (Hess 2009), wobei natürlich die Integration der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte in die Mehrheitsgesellschaft gemeint ist. So werden seit nunmehr zehn Jahren in fast allen Städten spezifische Integrationsprogramme aufgelegt, die die Menschen mit Migrationsgeschichte dazubringen sollen, sich besser in die Stadtgesellschaft einzufügen. So unterschiedlich die Diskurse verlaufen sind, so folgen sie doch einer gemeinsamen Grundmelodie: Die Stadt muss endlich wieder so werden, wie sie einst gewesen "ist" - eine national zentrierte und homogene Stadtgesellschaft. Die kulturalistische Fehldiagnose fällt zunächst nicht besonders auf, fügt sie sich doch in den global modischen Kulturfundamentalismus gut ein. Nur verführt er speziell in Deutschland nicht nur zu einem rückwärts gewandten Interventionskonzept im Sinn von mehr deutsche Sprache, deutsche Kultur, deutsche Normen - kurz: die Menschen mit Migrationsgeschichte sollen endlich in Deutschland "ankommen", ihr potentielles Anders-Sein aufgeben und sich dem lokalen Erbe einfügen - , sondern macht auch für die zunehmende Vielfalt der Stadtgesellschaft blind. Und das ist folgenreich. Tatsächlich gab es immer auch eine andere Sicht der Dinge, die es jedoch schwer hatte, sich bei uns Gehör zu verschaffen. Oben wurde schon an die frühen Stadtforscher wie Georg Simmel erinnert, der für eine Stadt jenseits nationaler Gemeinschaftstümeleien plädierte. Kosmopolitisch denkenden Menschen, zumal in anderen Ländern, sind kaum der schon von Simmel kritisierten nationalen "Grundmelodie" gefolgt. Hier hat man Städte erst einmal positiv gewürdigt und auch die soziale Problematik nicht einseitig der Migration zugerechnet und sie auch nicht wie selbstverständlich kulturell reduziert. Zum einen lag das daran, dass man in diesen Kreisen die mit der Einwanderung importierten Gewohnheiten, Sprachen und Sichtweisen keineswegs zwangsläufig für ein Problem hielt, sondern sie oft genug als eine conditio sine qua non betrachtete, der man sich ja häufig auch selbst verdankte. Es stellte sich allenfalls die Frage, wie mit der jeweils neuesten Einwanderung umzugehen sei und ob sie noch eine Bereicherung sei. So dachte man beispielsweise in der Chicago-Schule (John Dewey, Robert E. Park, Ernest W. Burgess). Entsprechend wurden vor allem die englischsprachigen Sozialwissenschaften geprägt. So kam es zu einer sozialkritisch reflektierten, aber eindeutig positiven Sicht der Einwanderung und ihrer Folgen, letztlich zur Rede von der multikulturellen Stadtgesellschaft. Zum anderen war man sich stets
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der Tatsache bewusst, dass Einwanderung etwas ganz Normales ist und modeme Städte ohne Einwanderung gar nicht möglich, ja nicht einmal vorstellbar wären. Diese Sichtweise galt und gilt nicht nur für die USA, sondern global. tTberall dort, wo die Städte zu einem dominierenden Typ des Zusammenlebens, ja zu der einzigen denkbaren und zugleich unglaublich expandierenden gesellschaftlichen Wirklichkeit avanciert sind, wird kaum über Einwanderung bzw. Mobilität an sich debattiert, sondern über die Qualifizierung der zu Mega-Citys wachsenden Städte, und es wird überlegt, wie man solche mobil geprägten Stadtgesellschaften zusammenhalten kann - selbst wenn sie wie in den USA mitunter auch vom Zerfall bedroht sind. Im global orientierten Kontext fragt man eher, wie informelles Wachstum zu bändigen ist und wie man Einwanderung als Ressource besser nutzen und wie den Teufelskreis zwischen Armut und Bildungsdefiziten aufbrechen kann . Man fragt sich, wie man die Diversifizierung der Stadtgesellschaften irgendwie kanalisieren kann und welche Möglichkeiten es gibt, die Bevölkerung am Wachstum der Städte aktiver zu beteiligen. Die Unwirtlichkeit wird in der Regel nicht naiv beklagt und auch nicht kulturell reduziert und zudem nicht den Einwanderern angelastet, sondern zum Ausgangspunkt genommen, um zu fragen, einerseits, wie man mit ihr am besten umgehen kann und anderseits, welche Forderungen an die Gesellschaftsentwicklung zu stellen sind. So diskutiert Richard Sennett (Sennett 2007:4511) ganz unbefangen mit italienischen Einwanderern, um die Probleme der Stadtentwicklung und damit des gesellschaftlichen Wandels zu demonstrieren. Und er denkt überhaupt nicht daran, das irgendwie ethnisch zu verrechnen (Sennett 2009). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, wenn der endgültige Anstoß zu einer positiven Sicht der Migration und ihrer Folgen im deutschen Sprachraum lange gebraucht hat, sich durchzusetzen, vor allem aber Vielfalt konstruktiv in die Debatte um die Stadtentwicklung einzubringen. Zunächst einmal hat man zwar die internationale Diskussion wahrgenommen, sie aber nur reduziert realisiert . Man hat beispielsweise das Stichwort "Multikulturelle Gesellschaft" aufgegriffen, hat aber dessen breite gesellschaftliche Fundierung ignoriert, also nicht realisiert, dass Gesellschaften und zumal Stadtgesellschaften grundsätzlich auf formal geordneten Strukturen basieren, für die Mobilität und nicht Kultur konstitutiv ist. Einer positiven Sicht steht nämlich bei genauerer Analyse nicht nur der Defizitansatz, sondern auch die Orientierung an einer kulturalistisch reduzierten Konzeption von multikultureller Gesellschaft entgegen. Solange dies nicht korrigiert ist, bleiben wesentliche Engfiihrungen der nationalen "Grundmelodie" erhalten. Beiden Positionen ist nämlich trotz aller internen Differenzen eines gemeinsam : die Verengung der Debatte auf die jüngste Migration und die Reduktion von
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Migration auf Kultur. Diese Kulturalisierungstendenz geht erst in den allerletzten Jahren unter dem Eindruck der Diversity-Debatte zurück. Noch immer ist der Blick für die Vielfalt in der Stadtentwicklung nicht frei. Zum einen ist man immer noch nicht bereit, die Basis jeder Stadtentwicklung, nämlich die Fundierung der Stadtgesellschaft auf formal regulierter Mobilität zu akzeptieren, weil man sich dann endgültig von der Vorstellung der Stadt im Sinn eines nationalem Mikrokosmos verabschieden müsste. Und zum anderen orientiert man sich erneut an ganz bestimmten Bedingungen, hier an einem der aktuellen ökonomisch reduzierten Betrachtung von Globalsteuerung geschuldeten Diversity-Konzept. Eine statt auf Multikulturalismus jetzt auf Diversity zentrierte Rezeption hilft nur partiell weiter. Sie bringt neue Probleme mit sich . Sie macht zwar mit dem Defizitansatz und generell mit der Kulturalisierung Schluss; aber die von hier aus geprägte Diversity-Perspektive "schüttet das Kind mit dem Bade aus". Man ordnet jetzt Migration umstandslos der Diversität zu und wertet das, was bislang problematisch erschien, fraglos positiv. Dabei bleibt aber unklar, inwieweit Vielfalt überhaupt etwas Neuartiges und damit Ungewöhnliches und Inklusionsbedürftiges darstellt, was dann Diversity an relevanten Elementen umfasst, in wiefern dies damit Erfasste positiv zu werten ist und inwieweit damit die Migration und ihre Folgen involviert sind . Dies alles ist weiterhin klärungsbedürftig.
2. Zur Komplexität von Vielfalt Die Gleichsetzung von Migration mit Diversität ist alltagspolitisch betrachtet verständlich, stellt jedoch eine folgenreiche Verkürzung dar. Sie ist nicht sozialadäquat und führt zu Fehleinschätzungen. Es ist wichtig, Vielfalt in der Stadtentwicklung in ihrer ganzen Breite zu lokalisieren, auch wenn zum Schluss nur wenige Aspekte relevant werden. •
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Denn erstens ist die urbane Vielfalt keineswegs allein der Migration geschuldet und auch gar kein gezielter Effekt von Migration, sondern eine Nebenfolge von Mobilität, die wiederum eine Auswirkung von Globalisierung darstellt. Zudem sind dafür zunehmend auch die neuen Medien verantwortlich, die ihrerseits weniger der Globalisierung als vielmehr der technologischen Entwicklung geschuldet sind; die neuen Medien vermitteln und implementieren Vielfalt eben auch ohne individuelle Ortsveränderung, d.h. Mobilität wird virtuell. Und zweitens ist urbane Vielfalt so etwas wie ein Verbrauchsgut mit einer Halbwertszeit. Um es pointiert zu formulieren, urbane Vielfalt geht irgend-
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wann in Gewohnheit über, Vielfalt ist etwas Relatives, die neue Mobilität und neue Medien bewirken eine Zunahme an alltäglicher Vielfalt, beschleunigen aber auch die Einbeziehung, Indienstnahme und Veralltäglichung, befördern auf diese Weise den gesellschaftlichen Wandel. Drittens ist es eher unwahrscheinlich, dass die Zunahme an alltäglicher Vielfalt tatsächlich (1.) alle (2.) an allen Orten, (3.) zu allen Zeiten und (4.) in ähnlicher Weise, betriffi also "konstitutiv" relevant ist. Es ist eher umgekehrt davon auszugehen, dass beispielsweise eine Zunahme an religiöser Vielfalt in einer säkular verfassten Stadtgesellschaft nur wenige und nur im privaten Kontext und ggf. auch nur im religiösen Rahmen betriffi. Und eine soziale Vielfalt würde nur dann relevant, wenn sie Situationen betriffi, die von anderen Formaten bereits nachhaltig belegt sind. Es ist eher davon auszugehen, dass für eine auf den Umgang mit Vielfalt eingestellte und dieser Tatsache bewusste Gesellschaft wie die Stadtgesellschaft Vielfalt ,,konstitutiv" belanglos ist (Bukow, Llaryora 1998). Und viertens ist keineswegs ausgemacht, ob dies alles nun zwangsläufig immer vorteilhaft ist. Eine zunächst positiv wirkende Vielfalt kann durchaus Effekte auslösen oder doch verstärken, die problematische Sekundäreffekte auslösen. So setzt die aktuelle Globalisierung nicht nur vermehrt Vielfalt frei, sondern setzt damit sekundär den gesellschaftlich Wandel unter Stress . Genau diesen Effekt beklagt Zygmunt Bauman in seiner Arbeit über die Ausgegrenzten der Moderne (Bauman 2006 :l55f). Die Globalisierung erzeugt im urbanen Raum eben auch massive Probleme, was die einen dazu verführt, auf die zunehmende Vielfalt mit nationalen Erzählungen (Feindbildern, Rassismus, Christentumzentrierung usw.) zu reagieren, und die anderen dazubringt, dem durch die Globalisierung im urbanen Raum erzeugten Ausgrenzungseffekten etwas Gutes abzugewinnen.
Der Blick auf die Vielfalt lenkt also die Aufmerksamkeit auf ein komplexes Phänomen, das man innerhalb der Entwicklung zur glokalisierten Stadt, genauer zu einer "glokalen" Stadtgesellschaft betrachten muss, wobei man nicht vergessen darf, dass sich gerade im Augenblick ein massiver Umbauprozess im Rahmen der glokalen Gesellschaftsentwicklung abzeichnet, der mancherlei gewohnte Einschätzungen in Frage stellt.
a) Vielfalt wird vor allem in gesellschaftlichen Übergängen virulent Der eingangs erwähnte Stress legt eine Übergangsphase frei, den Übergang in ein postmodernes Zeitalter, in dem zwar noch viele alte Orientierungsmuster gelten,
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aber sich auch schon neue etabliert haben. Dieses "sowohl - als auch" hat lange irritiert. Irritiert hat auch die Unauffälligkeit, mit der sich der Wandel angekündigt hat. Jetzt kann man erkennen, dass es sich hier vor allem um zwei Phänomene handelt, die diesen Wandel ausgelöst haben, nämlich eine neue Mobilität und neue Medien. Man kann dies auch etwas komplexer formulieren: der technologische Wandel hat durch die Entwicklung und Bereitstellung neuer Kommunikations- und Interaktionsformen eine Globalisierung auf sozialem, kulturellem, religiösem und nicht zuletzt ökonomischem Feld ausgelöst, die sich eben vor al1em auch im urbanen Zusammenleben, in den Städten niederschlägt, die Städte zu den zentralen Zonen gesel1schaftlicher Wirklichkeit gemacht hat, hinter der die Nationalstaaten mit ihren Selbstansprüchen und darüber hinaus auch al1e anderen größeren gesel1schaftlichen Ordnungsmuster zurückstecken müssen. So besehen sind die Städte zu den eigentlichen Räumen von Gesel1schaft avanciert und die Stadtgesel1schaften der Ort, an dem Globalisierung real wird. Dabei ist eben weder die Mobilität noch sind die Medien im Prinzip neu. Neu ist deren ungewohnte Intensität, die dazu führt, dass man sich nicht mehr bodenständig verankert, sondern eben global, nicht mehr an der Herkunftsklasse, sondern an global präsenten Milieus. Damit wird der urbane Zusammenhalt aber auch nicht mehr traditional erworben, sondern nur noch gewohnheitsmäßig eingespielt. Brauchtum ist heute, wenn in einer Stadt wie Köln das zweite Mal im August 2010 das "Oktoberfest" begangen wird. Vor al1em kritische Debatten darüber, wie das urbane Zusammenleben effektiv geordnet werden kann, ob es dabei um die Rettung überkommener Strukturen und Ansprüche oder um die Anpassung an die sich verändernde Bevölkerung und ihre Vorstel1ungen geht, verweisen auf den entscheidenden Punkt, nämlich darauf, dass die Städte sich nicht mehr so gemächlich wie in der Modeme verändern, sondern ein sehr deutlicher und massiver Wandel zu beobachten ist, der tatsächlich einen Epochenwechsel ankündigt. Die Erfahrungen, die in diesem Kontext gemacht werden, sind vergleichsweise neu und entsprechend grundsätzlich sind die darauf abgestimmten Reaktionen. Während die einen auf eine neue "Vielfalt der Vielen" verweisen, wie das Paolo Vimo (Vimo 2005: 13) so plastisch formulierte, beschwören die anderen die Integration und die Anpassung an das, was gestern noch wie selbstverständlich "gefordert und gefordert" wurde, oder, wie man das zur Zeit immer wieder lesen kann, dass die Menschen mit Migrationsgeschichte endlich "ankommen" sollen. Der Stress des Übergangs legt diese Übergangssituation nachhaltig frei. Es wird deutlich, dass wir uns jetzt im Übergang zur Postmoderne oder etwas technischer definiert im Übergang zu einem globalen digitalen Zeitalter (Sassen 2008 :517fi)
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befinden. Sassen arbeitet auch die Errungenschaften der Stadtgesellschaft heraus, nämlich die Formulierung einer Figuration, die auf Mobilität und Kommunikation aufbaut und sich in unterschiedlichen Versionen von Vielfalt darstellt. Die Errungenschaften werden freilich immer wieder verschüttet, weil sie, wie die Auseinandersetzungen in Deutschland belegen, sich nicht umstandslos in nationale Melodien einpassen lassen (Bukow 20 I Oa: 101ff), und wie die globalen Debatten zeigen, auch sonst nicht einfach zu handhaben sind, zumal wenn man sich ihrer nicht voll bewusst ist (Bergmann, Römhild 2003). Nur wer sich den gewachsenen urbanen Quartieren zuwendet, der beobachtet die tagtägliche Vielfalt der und damit auch des Vielen. Der Übergang zur Postmoderne lenkt die Aufinerksamkeit noch einmal ganz besonders darauf (Bukow 20 IOb).
b) Urbane Vielfalt ist etwas Relatives Sicherlich kann man davon ausgehen, dass es sich bei der Vielfalt um ein über alle sozialen Schichten verteiltes Phänomen sozialer, kultureller, sprachlicher und religiöser Prägung handelt, das längst zu einer grundlegenden Ressource weltstädtischer, kosmopolitischer Entwicklung avanciert ist. Und das wird neuerdings von den Kommunen, die dies "hautnah" erleben, auch so registriert. "Neue Analysen und daraus erstellte Graphiken" heißt es in einer Bestandsaufnahmen der Stadt Frankfurt (Stadt Frankfurt 2009: 221) belegen ... "die räumliche Verteilung dieser komplexen Diversität über die gesamte Stadt - und nicht nur in den klassischen .Einwanderervierteln"; diese Befunde widersprechen der verbreiteten Befürchtung von .Parallelgesellschaftea". Die Stadt sei hochmobi1... " mit einer ausgesprochen hohen Zahl von täglichen Pendlern, jährlichen Zu und Wegzügen sowie mit einer hohen Mobilität der Wohnbevölkerung innerhalb der Stadt. ... Zusätzlich zu den globalen ökonomischen Netzwerken, die Frankfurt mit anderen Teilen der Welt verbinden, unterhalten viele Frankfurterinnen und Frankfurter in ihrem Alltag stabile soziale , ökonomische und kulturelle Beziehungen zu Orten außerhalb Deutschlands. Wic zahlreiche Forschungen zeigen , stehen solche transnationalen Vcrbindungen keineswegs einer gleichzeitigen lokalen Bindung an die Stadt entgegen - sie sind vielmehr Ausdruck der mehrortigen, multiplen Identit äten von immer mehr Menschen, gerade in den Städten . Die Zunahme transnationaler Orientierungen aller Menschen ist eine wesentliche Ressource für einen zeitgemäßen, dem Zusammenleben in der ökonomischen Global City und der kulturellen Weltstadt angemessenen Kosmopolitismus ." !
Die Frage ist allerdings, ob der hier zu Recht konstatierte gesellschaftliche Wandel tatsächlich durch den BegriffDiversity bzw. der Vielfalt in seiner Komplexität adäquat erfasst und eingeschätzt wird. Wird hier nicht eher eine Übergangserscheinung verabsolutiert? Sicherlich ist das in einer solchen Phase unproblematisch, Ich zitiere aus dem neuen Integrationskonzept, das die Stadt Frankfurt vorgelegt hat und mit dem sie "einen Perspektivenwechsel in der Integrationspolitik einleiten" will.
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solange es darum geht, den Wandel herauszuarbeiten. Aber längerfristig erscheint dies unterkomplex, weil Vielfalt etwas Flüchtiges ist. Und gerade diese Eigenschaft von Vielfalt ist sozialwissenschaftlich betrachtet das Spannendste und Folgenreichste an der Thematik. Diese Eigenschaft hat beispielsweise für die Einstellung gegenüber Vielfalt erhebliche Bedeutung. •
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Vielfalt ist als solche nicht neu. Wir haben es aber mit einer zunehmend komplexeren " Vielfalt" von" Vielfalt" zu tun; d.h. immer mehr und immer unterschiedlichere Aspekte werden einbezogen, Vielfalt avanciert zu einer zunehmend multiplen und ubiquitären Kategorie. Die wachsende Vielfalt basiert dabei weniger auf einer inneren Ausdifferenzierung von dem, was schon immer war. Vielfalt basiert auf der durch einen gesellschaftlichen Wandel eröffneten Möglichkeit, vertrautes Altes durch bislang außerhalb des Blickfeld liegendes Anderes zu etwas Neuem zu arrondieren. Dieses Verschmelzen zu etwas Neuem ist kein theoretischer, sondern ein praktischer Akt. Er gelingt dann am nachhaltigsten, wenn das Andere anerkannt und gleichgestellt wird.
Alles sieht danach aus, als ob diese Hinwendung zur Vielfalt mit einem durch 010balisierung in Verbindung mit neuer Mobilität und neuen Medien ausgelösten Epochenwechsel zu tun hat. Zusammen gefasst kann man davon ausgehen, dass "Vielfalt" ein flüchtige Produkt einer mehrstufigen alltagspraktischen Operation ist.
c) Zu verschiedenen Versionen von Vielfalt Unter diesem Blickwinkel lassen sich bei idealtypischer Betrachtungsweise drei unterschiedliche Verfahren ("Operationen") der Hervorbringung, Identifizierung bzw. Definition einer konkreten Vielfalt erkennen, wobei sich bei den ersten beiden noch einmal signifikant konträre Versionen ausmachen lassen. Ich beziehe mich hier auf eine bereits an anderer Stelle entwickelte Struktur, nach der drei Versionen von Vielfalt unterschieden werden.' (1) Es mag sein, dass mit dem Begriff die Aufmerksamkeit einfach auf etwas gelenkt wird, was in der Alltagspraxis tatsächlich oder auch nur fiktiv lange eher notgedrungen oder beiläufig hingenommen wurde. •
Wenn es um Phänomene geht, die zwar historisch belegt, ansonsten aber zumeist verdrängt wurden und damit dem traditionellen normativen Blick letztlich verborgen blieben, entsteht Vielfalt dadurch, dass etwas heute eben
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Vgl. dazu die Überlegungenzur Vielfaltder Vielfalt(Bukow 20IOe)
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anders gesehen wird. Hier ist nicht nur an die vielen rituellen Anteile unseres Alltagshandelns zu denken, sondern auch an das breite Spektrum sozialen und sexuellen Handelns, das häufig tabuisiert oder ignoriert wurde, auch wenn es schon immer praktiziert wurde, und das jetzt liberaler gehandhabt wird: So wird heute zunehmend Kontingenzspielraum des Alltagshandelns frei gegeben. Und so wird ein Varianzspielraum, den es schon immer gab, jetzt "legalisiert", die diversen Möglichkeiten werden kontingent gesetzt. Umgekehrt lassen sich in diesem Rahmen aber auch Operationen beobachten, die darauf abzielen, etwas zu postulieren, was weder historisch noch alltagsweltlich gedeckt ist, sondern allenfalls aus gesellschafts-, sozial-, religions- oder kulturpolitischen Gründen irgendwann definiert , verkündet und zu einem Thema gemacht wurde, um damit Ankerpunkte fiir bestimmte gesellschaftliche Projekte zu schaffen. So wurden und werden immer wieder nur partiell, in ganz bestimmten Situationen bedeutsame Phänomene, beispielsweise eine situationsspezifische sprachliche, soziale oder religiöse Eigenschaft aufgenommen, in einen größeren, umfassenderen oder völlig anderen Kontext gebracht, um damit dann ganze Bevölkerungsgruppen zu gesellschaftlich handelnden sozialen Gruppen stilisieren zu können. Anschließend werden die so aufgeladenen Gruppierungen aufgrund der zugeschriebenen Eigenschaften pädagogisiert, nationalisiert, kulturalisiert, ethnisiert, sexualisiert oder diskriminiert bzw. kriminalisiert. So lassen sich die damit markierten Gruppierungen einem bestimmten Regime unterwerfen. Das bedeutet, dass Vielfalt in diesem Fall überhaupt nur definiert wird , um den Kontingenzspielraum einzuschränken, Varianten zu definieren, zu sortieren und dann entsprechend zu behandeln, ob dabei nun ein dreigliedriges Schulsystem oder eine nach Arm und Reich, nach ,,Deutschen" und "Ausländern" gesplittete Gesellschaft legitimiert wird . Vielfalt wird postuliert, um eine Legitimation für gouvernementale Interventionen zu gewinnen.
(2) Häufig wird der Begriff aber auch genutzt, um die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken, was neu erscheint. Die Frage ist dann, wie es überhaupt dazu kommt, dass etwas Neues an die Seite des Althergebrachten tritt und wie lange sich die Aura des Neuen hält. •
Vielfalt wird durch Reisen genauso wie durch die Medien im Alltag implementiert. Freilich handelt es sich dabei nur um etwas, was genauer besehen bislang jenseits des Horizontes verborgen war - also fiir jemanden, der in einer spezifischen Alltagssituation verwurzelt ist, eine Horizonterweiterung darstellt. Eine solche Verfahrensvariante schließt natürlich nicht aus, dass das, was dem einen noch neu ist, dem anderen schon längst vertraut ist. Hier
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ist vor allem an "fremde" kulturelle, religiöse oder sprachliche Erscheinungen zu denken, mit denen man seit der Globalisierung des Alltags zunehmend konfrontiert wird. Der Varianzspielraum, das, was bislang vor Ort gegolten hat, wird hier additiv durch etwas, was bislang nur an anderen Orten gegolten hat, erweitert und die neuen Möglichkeiten werden kontingent gesetzt. Umgekehrt kann es aber auch sein, dass sich Neuigkeiten, neue Vielfalt als alte Bekannte herausstellen oder dass sie im Verlauf der Zeit zu alten Bekannten mutieren. Mit der Zeit büßen sie so oder so die Aura des Neuen ein. Vielfalt veralltäglicht und nivelliert sich. Schließlich geht es nur noch um ganz gewöhnliche Variationen des Alltagslebens. Vielfalt reduziert sich auf ein "label", das vielleicht überhaupt nur noch beschworen wird, um bestimmten kommerziellen, sozialen oder kulturellen Interessen zu genügen oder längst überholte Politiken weiter daran festmachen zu können. So kann man heute nicht mehr davon ausgehen, dass der Englischunterricht in der Schule oder die Pizzeria nebenan etwas Neues bieten. Der Kontingenzspielraum wird hier veralltäglicht, reduziert, ohne dass sich am Varianzspielraum noch etwas ändert.
(3) Sehr viel häufiger beobachten wir aber noch eine Verfahrensvariante, bei der durch die Verbindung oder Vermischung, die Ausweitung oder Variation von etwas Vertrautem mit etwas Fremdem eine bislang unbekannte neue Vielfalt an Vorstel1ungen oder Verhaltensweisen geschaffen wird. Dieser Vorgang - Stefan Lanz beschreibt ihn als ,,Aufinischen" (Lanz 2007:363ft) -lässt sich besonders in der Kultur-, Kunst- und Architekturszene und in der Literatur, aber auch in der Wirtschaft beobachten und ist dank der neuen Medien oder Mobilitätsformen längst überal1gegenwärtig. Bislang nicht vorgestel1teVarianten eines Phänomens werden machbar. Neuartige soziale Formate, neuartige Lebensstile, neuartige Sprachen, neuartige Religionen, neuartige Produkte werden erzeugt, indem passendes Material transzendiert wird, das bisherige Repertoire an praktischen Möglichkeiten und diskursiv vorgehaltenen Deutungsbilder neu modelliert wird . So entsteht ein neuartiges Repertoire an Möglichkeiten und Vielfalt wird nachhaltig. Dabei werden "naturgemäß" mobile und informationell gut vernetzte Menschen zu Wegbereitern, zu Modernisierungspionieren (Yildiz, Mattausch 2009) . Der Kontingenzspielraum wird ausgeweitet, neu .aufgemischt", der Varianzspielraum ausgeweitet und kontingent gesetzt. Vielfalt tritt also auf dreierlei Weise ins Blickfeld, wird durch drei unterschiedlich gelagerte Operationen erzeugt. Schaut man sich die aktuelle Debatte an, so sieht man, dass alle drei Versionen des Umgangs mit Varianzen, alle drei
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Verfahrensvarianten (" Verfahren der Öffnung bzw. Einschränkung ". " Verfahren der Ergänzung bzw. Veralltäglichung ". " Verfahren der Transzendierung" bzw. des "Aufmischens ") nebeneinander zu beobachten sind und alle eine wichtige Rolle spielen. Allerdings werden sie jeweils in sehr unterschiedlicher, in sehr spezifischer Form relevant. Man kann sie nicht alle gleich behandeln, weil sie jeweils einer deutlich unterscheidbaren Logik folgen. Das bedeutet, man darf sie auch nicht in einen Topfwerfen; sie sind unterschiedlich einzuschätzen.3 Und wenn man sich auf die Stadgesellschaft konzentriert, wird schnell deutlich, dass die erste Version im urbanen Kontext kaum eine Rolle spielt, die zweite Version in beiden Varianten eher gewohnheitsmäßig praktiziert wird, während die dritte Version mitunter zu einem Politikum gerät. Zugleich gilt, dass die Vielfalt in jedem Fall eine relativ kurze Halbwertszeit aufweist und dass sie vor allem in Zeiten des Umbruchs, hier im Übergang zur Postmoderne virulent wird.
3. Fußabdrücke von Vielfalt im urbanen Zusammenleben Der Blick auf die unterschiedlichen Versionen der Hervorbringung von Vielfalt macht klar, dass man nicht pauschal von Vielfalt sprechen kann und auch nicht davon ausgehen kann, dass das, was wir heute als Vielfalt erleben, morgen noch die selben Konnotationen hervorruft. Er macht aber auch klar, dass es sich hier nicht um einen "Automatismus" handelt. Was ggf. aus der Perspektive des Alltags wie selbstverständlich erscheint, mag in öffentlichen Debatten skandalisiert werden, weil die mit der Veralltäglichung implizierte Anerkennung und Gleichstellung des Anderen nicht gewünscht wird, wenn sie beispielsweise die vorhandene Machtarithmetik einer Stadtgesellschaft zu verändern droht. Das einfachste Beispiel dafür ist die Staatsangehörigkeitsdebatte, die darauf abzielt, Repräsentanten einer bestimmten Vielfalt die Mitgliedschaft in der Gesellschaft vorzuenthalten, um politische, soziale oder kulturelle Machtverschiebungen zu verhindern. Das belegt indirekt, dass es in der Stadtgesellschaft im Augeblick um eine Vielfalt geht, die Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge impliziert, soziale, kulturelle, religiöse, sprachliche Verschiebungen bewirkt. Wir haben es also zur Zeit mit durchaus gewichtigen, gesellschaftlich wirklich relevanten Fußabdrücken von Vielfalt tun. 3
Häufigwird das nicht berücksichtigt,sondernes wird nur sehr pauschalvon Vielfaltgesprochen, und sie wird dann je nacheigenerInteressenlage mal gewürdigt, mal diskreditiert. Die Ergebnisse solcherpauschalerAnalysensindbestenfallsnichtssagend, in der Regeljedoch einfachinadäquat und häufigauch sehr folgenreich. So attraktivbeispielsweisekulturelleVielfalt,die Einwanderer mitbringen, für die Gastronomieoder für den Handel sein mag, so problematisch ist es, wenn damit"wie zufällig"unterschiedliche RechtstitelganzerBevölkerungsgruppen verknüpftwerden.
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a) Wenn von Vielfalt ein Fußabdruck bleibt Ein Blick aufdurch Migration geprägte Stadtquartiere kann belegen, welche Fußabdrücke Vielfalt in der Stadtgesellschaft hinterlässt und dass sie sehr bald nur noch für den externen Beobachter zu erkennen sind.,weil die eingebrachte Vielfalt im Lebenszusammenhang der Beteiligten sehr schnell verblasst und nach wenigen Jahren veralltäglicht ist. Vielfalt ist eine relative Größe und ist dann "angekommen", wenn sie sich veralltäglicht hat, also Teil des alltäglichen Repertoires geworden ist. Gelingt die Ausweitung des Horizontes und die Einbeziehung von bislang Ungewohntem, gelingt es, das Neue gleichrangig neben das Überkommene zu platzieren, dann ist der Weg bis zur Veralltäglichung der Vielfalt nicht mehr weit. Dabei kommt es noch nicht darauf an, ob man sich bewusst mit der Vielfalt arrangiert, es kommt nur darauf an, dass sie zu einem unurnkehrbaren Bestandteil der Alltagswirklichkeit geworden ist. Man könnte eher so argumentieren, dass es darauf ankommt, dass die Vielfalt gerade nicht bewusst wahrgenommen, sondern lebenspraktisch, d.h unmittelbar relevant ist. Plastisch wird dieser Vorgang, wenn man sich beispielsweise das Sozialisationsmilieu von Kindern in einem der von hoher Fluktuation geprägten Stadtquartiere anschaut.
Das Bild aus Istanbul von 2010 zeigt, wie Kinder verschiedener Herkunft wie selbstverständlich miteinander spielen, nämlich kulturindifferent, aber genderdifferent. Die Kinder nehmen diese Situationen als eine in sich kontingente, alltägliche Situation wahr, in der Unterschiedlichkeiten eine triviale Angelegenheit sind. Sie registrieren die Unterschiede nicht als Vielfalt, sondern nur als ,,natürliche" A1ltagsvariationen eines lokalen Kontingenzspielraumes. Vielfalt ist hier längst veralltäglicht. Und das liegt eben nicht daran, dass es sich hier um wohlinformierte Kinder handelt, sondern daran, dass der
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zeitlich-räumliche Aktionsradius dieser Kinder immer schon so war wie er jetzt ist. Nur für den Beobachter sieht es anders aus, weil er einen längeren Zeitraum im Blick hat, in dem sich die ,,kulturelle" Situation, nicht jedoch die Gendersituation erkennbar geändert hat.
Vielfalt ist hier längst trivial, sie verliert ihre Bedeutung in dem Maß, in dem die bezeichneten Besonderheiten ihren besonderen Status verlieren, nicht weil sich die Relation zwischen dem bislang Gewohnten und dem Neuen auflöst, sondern weil die Relation angesichts der konkreten alltäglichen Herausforderungen, z.B. ein Spiel zu organisieren oder eine Arbeit zu leisten, an Bedeutung verliert. Das Fremde wird Teil des Alltags, wird zum Schluss Bestandteil des eigenen Repertoires. Im Grunde ist das Neue nicht verschwunden, sondern hat seinen Status geändert. Das Beispiel belegt aber auch, wie selektiv Vielfalt erzeugt, genutzt und veralltäglicht wird. Das Milieu bleibt nämlich hinsichtlich der Geschlechtsrollen vollständig traditionell ausgerichtet. Vielfalt kann neue Perspektiven eröffnen, aber selbst wenn sie es tut, dann nicht generell, sondern nur punktuell.
Diese Aufuahme von Berlin-Kreuzberg zeigt parallel zu der Aufuahme von Istanbul, wie sich Kinder in einer zunehmend diversen Gesellschaft lebenspraktisch arrangieren. Auch in diesem Fall dürften sich die Teilnehmer- und die Beobachterperspektive deutlich unterscheiden. Für einen vom deutschen Diskurs geprägten Beobachter ist klar, dass es sich um eine in diesem Fall deutlich ausgeprägte religiöse Diversität handelt, nur dass sie im Lebenshorizont der Kinder kein Thema ist, sie ist dort konstitutiv belanglos.
Betrachtet man diese Beispiele genauer, so sieht man, dass die oben beschriebene Öffnung zur Einbeziehung des Neuen ein trivialer Schritt ist. Der zweite Schritt
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ist dann genauso trivial, weil die in den Kontingenzspielraum einbezogenen neuen Möglichkeiten einfach assimiliert werden. Man bezieht sie in den eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsspielraum ein, betrachtet sie als tagtäglich "zuhanden" und stellt sich darauf ein, akkommodiert also die Vielfalt. Es handelt sich also um eine ganz alltägliche Prozedur, ein wenn man so will additives Verfahren . Etwas Neues wird hinzugefügt und ins entsprechend neu ausgerichtete Repertoire eingetragen - ein Prozess, der nur dann Fragen aufwirft, wenn gezielt Fragen gestellt werden, weil die Veralltäglichung nicht gewollt wird. So kann es sein, dass die Veralltäglichung abgelehnt, ja bekämpft wird, weil man sie für eine Entfremdung, einen Ausverkauf oder sogar für einen Verrat an Überkommenem hält. b) Wenn es unter dem Eindruck globalgesellschaftlichen Wandels zu einem neuartigen Fußabdruck kommt Solange man routiniert und praktisch orientiert am Alltagsleben beteiligt ist, wird man kaum bewusst registrieren, wie Neues dem Alten beigefügt wird. Solange die Dinge formal so angenommen werden, wie sie sich im lokalen Horizont bieten, sorgt die praktische Vernunft für eine gleitende Veralltäglichung. Aber in dem Augenblick, in dem man sich aktiv auf die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels einlässt oder aus welchen Gründen auch immer zu einer glokalen Perspektive genötigt wird, funktioniert die wie selbstverständliche Inklusion des Neuen, die Arrondierung des Alltags durch Neues nicht mehr. Hier sind andere Verfahren im Umgang mit dem anderen gefragt. Und das Ergebnis sieht auch anders aus. Logisch betrachtet geht es nicht mehr um eine Addition, sondern um eine Synthese auf neuem Niveau. Ethnologen haben solche Prozesse schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts im Rahmen einer früheren Globalisierungswelle beobachtet. Die Kultur- und Sprachwissenschaftler haben dann den analogen Prozess angesichts der aktuellen Globalisierungserfahrungen als einen Prozess der Hybridisierung bezeichnet. Es geht dabei weder um eine selektive Addition ("Bereicherung") noch um eine Einebnung von Vielfalt (Assimilation), sondern um eine transzendierende Vennischung, Hybridisierungen, bei denen es das, was entsteht, bislang so nicht gegeben hat. Es spielen sich neue, eben hybride Formen ein. Man könnte hier auch im Anschluss an Claude Levistrauss (LeviStrauss 2000) von einem Prozess der .Bricolage" sprechen. So vermischen sich das Englische und das Spanische in manchen amerikanischen Stadtteilen zu einer neuen Sprache, dem "Spanglish", das Kölsche und das Türkische in den Quartieren in Köln zu einem eigenartigen DeutschTürkisch, das Türkische und das Schwäbische in Stuttgart zu einem türkischen HautevoleeSchwäbisch. Genauso geht es bei vielen Produkten nicht nur in
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der Gastronomie, sondern auch in der Industrie.. Mit diesem Verfahren wird alles Dagewesene transzendiert und etwas Neues, etwas "NieDagewesenes" geschaffen. Die Hybridisierung kann entstehen, einfach weil sich Altes und Neues auf gleicher Augenhöhe begegnen und es "am einfachsten" ist, beides miteinander zu kombinieren und damit etwas Drittes, Neues zu etablieren. Sie kann aber auch entstehen, weil man Altes und Neues, um global en vogue zu bleiben, miteinander verknüpfen und neu mischen muss. Diese gezielte Einstellung aufVielfalt ist weniger eine der praktischen Vernunft geschuldete pragmatische Reaktion als vielmehr das Resultat eines unter dem Eindruck globalen Wandels provozierten Kalküls. Dies gilt für das vom lOK etablierte neue Verständnis von Fußball, wo sehr unterschiedliche lokale Traditionen miteinander auf globaler Ebene verschmolzen und in die lokale Situation erfolgreich zurückgespiegelt werden. Und dies gilt auch für den Erfolg einer Firma wie McDonald's. Hier besteht er darin, eine neue Eßgewohnheit zu kreieren, um einen speziellen Absatzmarkt aufzubauen ("fast food"), der sich dann mit einer entsprechenden Produktionsweise (justintime Produktion) lukrativ verknüpfen lässt. Und es ist nur noch ein kleiner Schritt, dieses komplexe Arrangement dann aber auch unter veränderten lokalen Bedingungen in einer anderen Region oder in einem anderen Erdteil so zu variieren, dass dort letztlich der gleiche Erfolg eintritt. McDonald's inszeniert einen neuen Lebenstil zunächst durch die Vermischung verschiedener lokaler Traditionen und öffnet sich als Institution dann global, indem erfolgsträchtige Strategien globalisiert und über variierte Dienstleistung schließlich lokal reimplementiert werden. Die Firma inkorporiert von allem so viel, wie für einen "global player" erfolgversprechend ist (Jablonsky 2008 :54f). Auf den ersten Blich geht es bei dieser hybriden Inkorporation von Vielfalt in jedem Fall um die Schaffung einer neuen Ressource: Vielfalt als Ressource. Aber bei genauerer Betrachtung haben wir es mit teils deutlich unterschiedlichen Prozessen zu tun. Der Motor für dieses Verfahren ist die Konfrontation mit etwas Neuem unter globalem Horizont. •
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Im einen Fall geht es um ein unmittelbares, primäres alltägliches Arrangement, um die Realisierung des gesellschaftlichen Wandels im eigenen Alltagsleben. Hier ist es in der Regel einfach "vernünftig", die Dinge neu zu mischen, so dass sich jeder irgendwie darin wieder finden kann, ohne dass man dabei jemandem zu nahe treten muss . Im anderen Fall geht es um ein sekundäres Arrangement. Hier werden Alltagsverfahren als Techniken aufgegriffen und ökonomisch profitabel eingesetzt. Dies ist dann freilich keine Frage eines praktischen Arrangements, sondern es geht um die Nutzung einer gesellschaftlichen Strategie oder Ope-
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ration für sekundäre Zwecke. Der Umgang mit Vielfalt führt hier zwar auch zu einer Bricolage, aber eben einer gezielten, gesteuerten und dritten Interessen geschuldeten Dienstbarmachung. Insofern ist der Umgang mit Diversity in der Industrie kein Vor-, sondern ein Abbild des Umgangs mit Vielfalt. In beiden Fällen gilt: Mit der Anerkennung des Neuen wird alles, was eingearbeitet wurde, retrospektiv als präsent, relevant und gleichrangig zwangsläufig indirekt mit anerkannt. Wer das Spanglish als neue Realität akzeptiert, akzeptiert die Tatsache, dass die Welt im Quartier und das Quartier in der neuen Sprache präsent ist, er akzeptiert mit dem Neuen die Bedingungen, unter denen das Neue sich konstituiert (Krase 2010) . Hinter diesem Verfahren verbirgt sich mehr als eine reine Situationspolitik. Dahinter verbirgt sich eine glokale Politik. Man muss sich glokal arrangieren. Und in jedem Fall wird die Vielfalt zu einer Ressource, allerdings nicht automatisch zu einer kreativen Ressource, sondern einfach zu einer Ressource im Prozess der Einstellung auf gesellschaftlichen Wandel. Urbane Vielfalt wird zu einem Fußabdruck globalgesellschaftlichen Wandels. Vielfalt wird zu einer Ressource, die dazu verhilft, sich den laufenden Veränderungen, dem globalgesellschaftlichen Wandel aktiv anzupassen. Wenn man hier genauer hinschaut, dann sieht man, dass es durchaus erstaunlich ist, wenn der sekundäre Umgang mit hybrider Vielfalt, wie er in der Wirtschaft praktiziert wird, wenn deren .Diversityfvlanagement" für etwas Beispielhaftes gehalten wird, während der primäre Umgang mit hybrider Vielfalt im Alltag häufig skandalisiert wird. c) Wie Vielfalt zur Herausforderungfür die StadtgesellschaJt insgesamt wird Längst hat die Vielfalt überall in der Stadtgesellschaft ihre Fußabdrücke hinterlassen . Es ist aber schon deutlich geworden, dass die Fußabdrücke, die die Vielfalt in der Stadtgesellschaft hinterlässt, sehr unterschiedlich gelagert sein können, was vor allem mit dem Kontext zu tun hat, in dem sie relevant werden. Es ist eben etwas anderes, ob ich im privaten Lebenszusammenhang unter dem Eindruck einer neuen Bezugsgruppe meinen Lebenstil neu gestalte, vielleicht eine hybride Mode aufgreife, oder ob eine kommunale Institution, wenn sie ihren Aufgaben treu bleiben will, sich der veränderten Bevölkerungszusammensetzung anpassen bzw. öffnen muss , oder ob ich in einer politischen Debatte aufneue Argumente treffe, die eventuell die Mehrheiten verschieben. Für eine Stadtverwaltung wird eine zunehmende Vielfalt vor allem technisch und damit, wie oben schon knapp skizziert "sekundär" relevant. Sie muss sich zur Zeit eben nicht nur aufwie üblich ständig ändernde Bedingungen einstellen, sondern mit dem aktuellen gesellschaftlichen Wandel, der beschleunigte Veränderungen impliziert, arrangieren. Dies betrifft die
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von der Kommune institutionalisierten Dienstleistungen genauso wie entsprechende private Einrichtungen von der Caritas bis zur Diakonie. Es betrifft ferner das Bildungssystem, das politische System und die die Öffentlichkeit prägenden Medien. Hier ist jeweils zu fragen, wie sie mit dem bisherigen Wandel umgegangenen sind, wie sie sich darauf eingestellt haben und welche Kompetenzen bereitzustellen sind, um den offenbar speziellen aktuellen Anforderungen gerecht zu werden. Diese Überlegung wirkt auf den ersten Blick weitgehend trivial, weil sich ja nur die Frage nach besonderen, zusätzlichen Herausforderungen durch den Übergang in die Postmoderne stellt. Empirisch betrachtet sieht es freilich anders aus. Hier lässt sich beobachten, dass die kommunalen Einrichtungen genauso wie die anderen angeführten Systeme schon bisher vor "allzuviel" Umstellung oder gar NeueinsteIlung ihres Systems zurückgeschreckt sind. Dies liegt vor allem an den diese Institutionen einbettenden Machtstrukturen, die an einer fortlaufenden Neueinstellung der Systeme nicht nur desinteressiert sind, sondern sie zu verhindern suchen. Das dafür klassische Beispiel ist das Bildungssystem, das mit seiner Mehrgliedrigkeit noch das Ständesystem des 19. Jahrhunderts spiegelt. Das jeweilige politische System zeigt eine erhebliche Trägheit. So kann man bei den die Stadtgesellschaft repräsentierenden Institutionen beobachten, wie sie die Rechte der Bevölkerung an die Staatsangehörigkeit knüpfen, kulturelle Aktivitäten an einen Christentumsvorbehalt, die sozialen Aktivitäten an ein Bekenntnis zum Deutschtum, die Bildungserfolge an einen monolingualen Habitus usw. All dies verhindert eine wirkliche Akkommodation auf sich verändernde Bedingungen und verlagert die NeueinsteIlung auf das einzelne Gesellschaftsmitglied. Erst die aktuelle Debatte etwa um die Öffnung der Institutionen und die Durchsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinie der EU bringen hier eine nachhaltige Veränderung. Sie zielen auf eine Wiederherstellung der Fähigkeit der Institutionen zur Assimilation und Akkommodation auf die sich derzeit verstärkt zeigenden globalgesellschaftlichen Veränderungen. Betrachtet man diese Situation, so zeigt sich auch, dass es nicht nur um eine Reaktion aufdurch Migration bedingte Veränderungen geht, sondern um die Neueinstellung auf durch neue Mobilitäts- und Kommuniaktionsstrukturen präsentierten Veränderungen globaler Art. Ein Beharren auf überkommenen Modalitäten würde deshalb nicht nur die eingewanderte Bevölkerung, sondern alle neuen Milieus, wie sie beispielsweise von SOCIO-Sinus belegt wurden, benachteiligen.
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4. Über den Umgang mit einer zunehmenden Vielfalt an Vielfalt Zum Schluss bleibt die Erkenntnis, dass wir es mit einer extrem komplexen Thematik zu tun haben. Die bisherigen Befunde sind vieldeutig. Die Debatte täuscht eine Konsistenz durch eine eingeschliffene Begriffiichkeit vor, fiir die es in der Praxis kein Pendant gibt. Oft genug wird in der Debatte die Komplexität der Thematik bis zur Unkenntlichkeit reduziert. Das gilt insbesondere bei der Rezeption der Thematik in der ökonomisch orientierten Diskussion. Der Begriff "Vielfalt" wird vor allem hier regelmäßig dazu genutzt, um Differenziertes blindlings zu würdigen, Differenzen einfach neu zu bewerten und die Gleichwertigkeit des Differenzierten mit weiteren Versionen vergleichbarer Vielfalt zu betonen. Oft geht es nur um die Anerkennung und die gleichrangige Behandlung von solchen Phänomenen, die neue wirtschaftliche Spielräume bzw. einfach zusätzliche Erträge garantieren. Schaut man genauer hin, so sieht man , dass es natürlich nicht um Vielfalt als solche, sondern um Marktinteressen geht, im Rahmen derer beiläufig auch mal etwas fiir die Sache selbst abfällt, wobei es aber an einer komplexitätsangemessenen Durchsetzung der Vorstellungen mangelt. "Vielfalt" ist ein operatives Produkt, das sich in unterschiedlichen Situationen sehr verschieden darstellt. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein altes Problem, dem sich die Stadtgesellschaften seit ihrer Entstehung zwangsläufig gestellt haben. Nicht immer war und ist das Resultat solcher Bemühungen freilich fiir alle Beteiligten ein Gewinn. Die skizzierten Verfahrensvarianten zeigen bereits dann, wenn sie idealtypisch genommen werden, dass deren Implikationen keineswegs eindeutig sind. Der Umgang mit einer zunehmenden Vielfalt an Vielfalt trägt je nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wie gezeigt, letzten Endes genauso dazu bei, Freiheitsspielräume zu schaffen wie rassistische Praktiken zu bedienen. Und weiter ist es oft nicht nur spannend, wer sich bestimmten sozialen Prozessen stellt, sondern auch, wer sich ihnen verweigert. Ich habe oben schon auf die kommunalen Einrichtungen verwiesen. Man geht hier zwar auf den ersten Blick ,,nur" weniger Risiken ein, auf den zweiten jedoch bewirkt man doch etwas , man verweigert sich nämlich der gesellschaftlichen Entwicklung und unterminiert damit seine gesellschaftliche Position. Es erstaunt eben doch, wie sich der Staatsapparat nicht nur jenen Praktiken häufig verweigert, sondern auch, wie er, wie am Bildungssystem zu belegen ist (s.o.), gesellschaftliche Wirklichkeit souverän ignoriert. Der Staatsapparat orientiert sich weder an global aufgestellten Firmen noch an der Bevölkerung und ihren durch praktische Vernunft geprägten Erfordernissen, sondern offenbar an intrinsischen Vorgaben, die beispielsweise eine strukturelle Koppelung zwischen den jeweiligen Institutionen und ihrer Umgebung und erst recht eine Neuabstimmung der eigenen Praxis (Bricolage) im Kontext der gesamt-
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gesellschaftlichen Entwicklung verhindern. Der Staatsapparat verlangt vielmehr in Umkehrung der Verhältnisse, dass sich das, was Vielfalt ausmacht, einfügt, anpasst und in wörtlichem Sinn unsichtbar wird. Vielfalt wird einer .Jntegrationspolitik" unterworfen, die sich als das logische Gegenteil dieses Verfahrens erweist. Diese Politik ist nicht mehr ein Verfahren des Umgangs mit Vielfalt, sondern ein Verfahren der Zerstörung von Vielfalt. Gesellschaftstheoretisch betrachtet wäre das der Versuch, das Rad der Geschichte zurück zu drehen. Erst neuerdings wird man zumindest in den deutschen Städten darauf aufmerksam, dass es so etwas wie eine zunehmende Vielfalt gibt und dass man das urbane Zusammenleben gefährdet, wenn man das nicht wahrnimmt. Offenbar haben die Kommunen große Bedenken, sich der durch die ,,vielen als Viele" (Virno 2005 :13) hervorgebrachten neuen Vielfalt zu stellen, und sind mehr als irritiert, dass man sich der DiversityThematik nicht mehr länger entziehen kann. Ein Blick auf die von den Kommunen entwickelten Integrationskonzepte zeigt zumindest, dass man jetzt erst angefangen hat, für diese Problematik sensibel zu werden. Aber der Weg ist offenbar noch weit, wenn man sich die Dokumentation von Penninx (Penn inx 2009) anschaut und seine Analyse über den Prozess, wie Migranten zu einem "akzeptierten Teil der Gesellschaft" werden (penninx 209 :614). Insgesamt, und das gilt nicht nur für Deutschland, befinden sich die Kommunen noch in der Situation, dass sie ad hoc irgendwie reagieren, aber noch nicht willig oder in der Lage sind, politisch auf die neue Vielfalt zu reagieren und sich auf sie konstruktiv einzustellen, sich ihr gegenüber zu akkommodieren . Vielfalt prägt die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht nur bis in die formalen Systeme hinein, sondern vor allem auch bis in die Tiefe der Lebenswelt. Die Vielen als Viele sind die Agenten in diesem Prozess auf allen Ebenen. Das betrifft sowohl das damit Gemeinte (Kultur?, Religion", Gender?, Disability?, Wissen? ...) als auch das dabei Empfundene (beunruhigend?, spannend?, mobilisierend?, befreiend? - diskriminierend ?, ausgrenzend? ...), sowohl die darauf bezogenen Einschätzungen (modem?, emanzipatorisch?, desorientierend? ...) als auch den Umgang damit (assimilieren?, sich umstellen bzw. akkommodieren?, ignorieren?, tabuisieren?, sanktionieren? ... ). Und das ist noch längst nicht alles . Denn sobald man sich unterschiedlichen Aspekten von Vielfalt zuwendet, wird sehr schnell deutlich, dass man sie nicht alle gleich behandeln kann (z.B. soziale Vielfalt hat andere Implikationen als religiöse Vielfalt) und dass sie sich gegenseitig beeinflussen (wie verhalten sich zB. religiöse und sexuelle Vielfalt zueinander?), was es noch einmal komplizierter macht. Idealtypisch kann man wie gezeigt drei sich operativ eindeutig unterscheidende Verfahren erkennen. Bei zwei Verfahren lassen sich jeweils noch einmal zwei konträr angelegte Verfahrenstypen erkennen.
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Nimmt man diese Aspekte zusammen, so wird deutlich, dass man sich über Vielfalt nur verständigen kann, •
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wenn man sich erstens auf einen bestimmten gesellschaftlichen Bereich konzentriert, etwa das gesellschaftliche Zusammenleben, um überhaupt eine gezielte Aussage machen zu können, wenn man zweitens bestimmte Vorstellungen darüber entwickelt hat, was ein derartiges Zusammenleben ausmacht, weil man nur dann die Relation, die "Vielfalt" zu "Vielfalt" erst macht, erkennen kann, wenn man drittens die unterschiedlichen Themen, die in den Debatten oft in einem Atemzug genannt werden, auf ihren spezifischen Kontext hin prüft, um nicht soziale , kulturelle, religiöse Diversität, um nur einige Beispiele zu nennen, in einen Topf zu werfen, wenn man viertens die verschiedenen Aspekte des Alltagslebens über einen längeren Zeitraum und im größeren Zusammenhang berücksichtigt, weil man dann auch beobachten kann, dass "Vielfalt" oft eine Halbwertzeit besitzt, nach der sie entweder veralltäglicht oder in etwas Neuem aufgegangen ist. und wenn man fünftens davon ausgeht, dass wir uns in einem gesellschaftlichen Transformationsprozess ("Übergang in die Postmoderne") befinden, in dem die traditionellen Gesellschaften, das Projekt der Modeme usw. mit seinen mehr oder weniger fixierten Institutionen, großen Theorien und geregelten Normalvorstellungen zur Disposition stehen und sich damit ein erheblicher Diskussionsbedarfergibt, der weniger mit der Vielfalt selbst als mit den sich durch die Anerkennung von Vielfalt ergebenden sozialen, politischen, kulturellen, religiösen und anderen Verschiebungen zu tun hat.
Es ist entscheidend, sich über diese sehr unterschiedlichen Aspekte und Effekte von Vielfalt Klarheit zu verschaffen und es nicht bei den grade modischen Vorstellungen von Vielfalt zu belassen. Aber es ist dannauch notwendig, sich auf ausgewählte Aspekte zu beschränken und exemplarisch vorzugehen. In diesem Sinn geht es hier nicht um Vielfalt insgesamt, sondern um die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Frage, wie man in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Segmenten, wo Vielfalt an Bedeutung gewinnt, mit der wachsenden Vielfalt an Vielfalt umgeht und wie man dabei die Vielen als Viele berücksichtigt.
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Autorinnen und Autoren
Wolf-Dietrich Bukow Kontakt:
[email protected] Wolf-Dietrich Bukow wurde 1944 geboren und studierte Evangelische Theologie, Soziologie, Psychologie und Ethnologie in Bochum und Heidelberg. Er promovierte 1974 in Soziologie an der Universität Heidelberg und habilitierte sich 1989 an der Universität zu Köln. Er ist Emeritus am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln, Gründer der Forschungsstelle für Interkulturelle Studien (FiSt) sowie des Center for diversity studies (cedis). 2008 erhielt er den Forschungspreis der Reuter-Stiftung im Stiftungsverband der Deutschen Wissenschaft. Aktuelle Publikationen: "Orte der Diversität: Formate, Arrangements und Inszenierungen" (Hrsg. mit CristinaAllemann-Ghionda), Wiesbaden: VS-Verlag 2010 sowie "Urbanes Zusammenleben. Zum Umgang mit Migration und Mobilität in europäischen Stadtgesellschaften", Wiesbaden: VS Verlag 2010
Rainer Geißler Kontakt:
[email protected] Rainer Geißler ist Professor für Soziologie an der Universität Siegen mit den Forschungsschwerpunkten Sozialstrukturanalyse und soziale Ungleichheit, Soziologie von Migration und Integration, Bildungssoziologie sowie Soziologie der Massenkommunikation. Aktuelle Publikationen: "Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung", (6. Auflage) Wiesbaden: VS-Verlag 2010 sowie "Was ist vom klassischen Einwanderungsland Kanada über mediale Integration von ethnischen Minderheiten zu lernen?", in: Rainer GeißlerlHorst Pöttker (Hrsg.) : Medien und Integration in Nordamerika. Erfahrungen aus den Einwanderungsländern Kanada und USA. Bielefeld: transcript 2010.
Wolf-Dietrich Bukow et al. (Hrsg.), Neue Vielfalt in der urbanen Stadtgesellschaft, DOI 10.1007/978-3-531-93082-4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Autorinnen und Autoren
GerdaHeek Kontakt:
[email protected] Gerda Heck (Dr.) ist seit September 2010 Postdoc-Stipendiatin im interdisziplinären Forschungsprojekt "Global Prayers. Remdemption and Liberation in the City." das von der Viadrina Universität Frankfurt/Oder zusammen mit dem Haus der Kulturen der Welt und metroZones e.v. - Center for Urban Auffaurs (Berlin) geleitet wird. Ebenso ist sie seit 1999 Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) an der Universität Köln. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Migration und Mobilität, Migrationspolitik, Selbstorganisation und Religion. Aktuelle Publikation: ",Illegale Einwanderung' . Eine umkämpfte Konstruktion in Deutschland und in den USA." Münster: unrast. 2008
Mare Hili Kontakt:
[email protected] Mare Hill studierte Pädagogik, Soziologie und Psychologie an der Universität zu Köln. Seit 10/2009 ist er als Projektmitarbeiter an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt/ Fakultät für Kulturwissenschaftenl Abteilung für Interkulturelle Bildung tätig. Zu seinen Schwerpunkten zählen Allgemeine Pädagogik, Interkulturelle Bildung, Qualitative Methoden und Stadtforschung. Derzeit untersucht er urbane Bildungs- und Migrationsprozesse in Klagenfurt sowie in Graz . Ab 0112011 ist er als Nachwuchswissenschaftler am Projekt .Diversität auf den zweiten Blick. Internationale Ressourcen in Kärnten" beteiligt. Das vorgenannte Projekt wird gefördert durch die Privatstifiung Kärntner Sparkasse und wird von der Alpen-Adria Universität Klagenfurt/ Fakultät für Kulturwissenschaftenl Abteilung für Interkulturelle Bildung unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Erol Yildiz durchgefiihrt.
Elizabeta Jonuz Kontakt:
[email protected] Elizabeta Jonuz (Dr.) ist seit 2006 Projektmitarbeiterin an der Forschungsstelle für interkulturelle Studien (FiSt) der Universität zu Köln und seit 2010 Lecturer an der Humanwissenschaftlichen Fakultät, der Universität Köln, Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ethnizität, Minderheiten, Rassismus. In diesem Kontext ist von ihr erschie-
Autorinnen und Autoren
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nen "Stigma Ethnizität. Wie zugewanderte Romafamilien der Ethnisierungsfalle begegnen", Opladen: Verlag Budrich UniPress 2009
AyhanKaya Kontakt:
[email protected] Ayhan Kaya ist Professor fiir Politikwissenschaft am Department fiir Internationale Beziehungen und Direktor des Europa-Instituts an der Istanbul Bilgi Universität. Seine Forschungsschwerpunkte sind Europäische Identitäten, .Euro-Turks'' in Deutschland, Frankreich, Belgien und Niederlande, Tscherkessische Diaspora in der Türkei und die Konstruktion und Artikulation moderner diasporischer Identitäten. Aktuelle Publikationen: "Islam, Migration and Integration: The Age of Securization", London: Palgrave 2009 sowie "Euro-Turks: A Bridge or a Breach between Turkey and the EU" , Brussels: CEPS Publications 2005 .
Stefan Lanz
[email protected] Stephan Lanz (Dr.) ist Stadtforscher an der kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) mit den Schwerpunkten Stadtentwicklung und -Politik, urbane Kulturen und Migration. Zur Zeit ist er wissenschaftlicher Projektleiter des internationalen Forschungs- und Kulturprojekts "Global Prayers - Redemption and Liberation in the City". Jüngere Publikation: .Berlin aufgemischt: abendländisch - multikulturell- kosmopolitisch? Die politische Konstruktion einer Einwanderungsstadt", Bielefeld: transcript 2007
Birgit Mattausch-Yildiz Kontakt:
[email protected] Birgit Mattausch-Yildiz (Dr.) ist Lehrbeauftragte an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Institut fiir Kultur-, Literatur und Musikwissenschaft und Institut fiir Medien und Kommunikation) sowie an der Universität zu Köln (Institut fiir Afrikanistik) sowie an der Universität zu Köln. Ihre Schwerpunkte und Arbeitsinteressen sind postkoloniale Kulturtheorien, Writing Culture, transkulturelle und symbolische Selbstentwürfe, Urbanität und Übersetzung. Aktuelle Publikation:
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Autorinnen und Autoren
"Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource" (Hrsg . mit Erol Yildiz.), Basel-Boston-Berlin: Birkhäuser 2009
Regina Römhild Kontakt:
[email protected] Regina Römhild ist Kulturanthropologin und seit 2009 Professorin am Institut fiir Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität, Berlin. Ihre Forschungs- und Lehrschwerpunkte sind transnationale Mobilitäten und nationale/europäische Grenzen; politische Anthropologie der Europäisierung; Urbanität. Jüngere Publikationen: "Aus der Perspektive der Migration: Die Kosmopolitisierung Europas", http:// www.1inksnet.de/de/artikel/25635; "Topographien des Glücks: An den Kreuzungen von Migration und Tourismus" in: C. Benthien u.a. (Hrsg.): Paradies. Topografien der Sehnsucht, KölnlWeimar: Böhlau 2009 sowie "Migranten als Avantgarde?", in: Blätter fiir deutsche und internationale Politik 5/2007.
Joachim Schroeder Kontakt:
[email protected] Joachim Schroeder ist Professor fiir Erziehungswissenschaften an der JohannWolfgang Goethe-Universität in Frankfurt Main mit den Forschungsschwerpunkten Schulentwicklung, Migrations- und Geschlechterforschung sowie berufliche Eingliederung benachteiligter Jugendlicher.
Erika Schulze Kontakt:
[email protected] Erika Schulze (Dr.) ist Studienrätin im Hochschuldienst an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln und Mitglied der Forschungsstelle fiir Interkulturelle Studien (FiSt) . Aktuelle Veröffentlichungen: ,,zur Gestaltung von Bildung in der Migrationsgesellschaft. Von der interkulturellen zu einer alltagsweltorientierten Bildung" (gemeinsam mit Erol Yildiz), in: Dirim, Incil Paul Mecheril (Hrsg.) : Migration und Bildung. Soziologische und erziehungswissenschaftliche Schlaglichter. Münster/ New York! München! Berlin: Waxmann 2009 sowie "Und ich fühl mich als Kölner, speziell als Nippeser. Lokale Verortung als widersprüchlicher Prozess", in: Geisen, Thomas/ Christine Riegel (Hrsg.): Ju-
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gend, Migration und Zugehörigkeit. Subjektpositionierungen im Kontext von Jugendkultur, Ethnizitäts- und Geschlechterkonstruktionen, (2. Auflage) Wiesbaden : VS-Verlag 2010.
Ulrich Steuten
Kontakt:
[email protected] Ulrich Steuten (Dr.) ist seit 1988 Fachbereichsleiter fiir Politische Bildung an der VHS Moers. Seit 1998 nimmt er Lehraufträge fiir Soziologie an den Universitäten Köln, Duisburg-Essen und Klagenfurt wahr. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Migrations- und Religionssoziologie sowie die Soziologie des Alltags.
Mark Terkessidis
Kontakt:
[email protected] Mark Terkessidis (Dr.) ist freier Autor. Er lebt in Berlin. Jüngere Publikationen: "Fliehkraft - Gesellschaft in Bewegung. Von Migranten und Touristen" (zusammen mit Tom Holert), Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2006 sowie "Interkultur", Berlin: edition suhrkamp 2010.
Leonhard Voltmer
Kontakt: Leonhard.
[email protected] Leonhard Voltmer (Dr., LL.M., Licencie en Droit) ist seit 2009 Rechtsberater bei der Caritas Diözese Bozen-Brixen und leitet die Dienste fiir Flüchtlinge und Migrant(inn)en.
ErolYildiz
Kontakt:
[email protected] Erol Yildiz ist Professor fiir Interkulturelle Bildung an der Fakultät fiir Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Schwerpunkte: Migrationsforschung, Interkulturelle Bildung, Urbanität, Migration und Globalisierung. Jüngere Veröffentlichung: "Urban Recycling. Migration als Großstadt-Ressource" (Hrsg. mit Birgit Mattausch), Basel-Boston-Berlin: Birkhäuser 2009.