Ulrike Eberhardt (Hrsg.) Neue Impulse in der Hochschuldidaktik
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Neue Impulse in der Hochschu...
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Ulrike Eberhardt (Hrsg.) Neue Impulse in der Hochschuldidaktik
Ulrike Eberhardt (Hrsg.)
Neue Impulse in der Hochschuldidaktik Sprach- und Literaturwissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Dorothee Koch / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-15558-6
Inhaltsverzeichnis
I. Hochschuldidaktik nach der Strukturreform Johannes Wildt, Ulrike Eberhardt Einleitung: Neue Impulse? Hochschuldidaktik nach der Strukturreform ............................................. 11 Barbara Moschner Möglichkeiten und Grenzen in modularisierten Studiengänge ............... 25 Otto Kruse Kritisches Denken im Zeichen Bolognas: Rhetorik und Realität ........... 45
II. Deutsche Literaturwissenschaft Thomas Althaus, Romana Weiershausen Veränderte Bezüge – kooperative Lehre im modularisierten Studium, am Beispiel der Bremer Neugermanistik ................................... 83 Ulrich Welbers Wenn ein Reisender in einer Wissenschaft. Vermittlung als Konstruktionsbedingung der (Literatur-)wissenschaft ............................103
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Inhaltsverzeichnis
III. Forschendes Lernen Wolfgang Fichten Forschendes Lernen in der Lehrerbildung ...............................................127 Stefan Papenberg, Bianca Roters Bridging the gap – Kooperation von Fachdidaktik und Erziehungswissenschaften an der Universität Dortmund .....................183
IV. E-Learning und Blended – Learning Matthis Kepser eLearning an der Hochschule - eine kritische Einführung ..................... 199 Andreas Grünewald Entwicklung berufsbezogener mediendidaktischer Kompetenzen in der Lehrerausbildung ............................................................................... 229 Uwe Spörl E-Learning und Blended - Learning in den Sprach- und Literaturwissenschaften Ein Erfahrungsbericht als Plädoyer für das gemischte Lernen ............. 241
V. Ansätze für die Hochschuldidaktische Weiterbildung Sylvia Heudecker „Kompetent lehren“ Ein zielgruppenspezifisches Pilotprojekt ................................................ 255 Ulrike Eberhardt Ringvorlesungen als Diskussionsforen und Instrumente hochschuldidaktischer Weiterbildung ...................................................... 273
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Inhaltsverzeichnis
VI. Gender Mainstreaming Roya Moghaddam Deutsch als Fremd- und Zweitsprache mit gendergerechter Didaktik? ......................................................................... 281
VII. Kunst, Kultur und Wissenschaft Jörg Holkenbrink Lügen, Stehlen, Ausbilden - Zur Arbeitsweise des Theaters der Versammlung zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst ................. 299 Ulrike Eberhardt Die kulturelle Praxis ‚Ins Theater gehen’ als Form kultureller Bildung Ein hochschuldidaktischer Ansatz für die Lehrerausbildung .............. 309
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren ......................................... 343
I. Hochschuldidaktik nach der Strukturreform
Einleitung: Neue Impulse? Hochschuldidaktik nach der Strukturreform Johannes Wildt und Ulrike Eberhardt
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Studienreform unter den Vorzeichen des Bolognaprozesses
Seit einem Jahrzehnt steht die Studienreform unter den Vorzeichen des Bologna-Prozesses. Die Bolognaerklärung wurde am 19.06.1999 auf Grundlage einer Erklärung der 4 Signatarstaaten Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland zum 800jährigen Bestehen der Sorbonne von 29 europäischen Staaten verabschiedet. Ihr sind mittlerweile über 40 europäische Staaten beigetreten. Ziel des damals in Gang gesetzten Reformprozesses ist die Schaffung eines europäischen Hochschulraumes, in dem die Studienangebote nach vereinheitlichenden Gesichtspunkten gestaltet werden sollen. Mit der erweiterten Kohärenz des europäischen Hochschulraums sollte nicht nur die Mobilität unter den Studierenden, sondern gleichzeitig die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Hochschulen gesteigert werden. Vor 10 Jahren hätte kaum jemand für möglich gehalten, in welchem Umfang seitdem die Reform des Studiengangsystems an deutschen Hochschulen umgesetzt worden ist. Ende 2008 waren ca. ¾ aller Studiengänge in einen zweiphasigen Zyklus mit einem Bachelor- und einem Masterstudium aufgeteilt, mit workloads vermessen, mit studienbegleitenden Prüfungen versehen, mit Kreditpunkten ausgestattet, in Module zerlegt und mit diploma supplements beschrieben. Der größte Teil von ihnen ist bereits durch die Mühlen einer Akkreditierung gegangen oder befindet sich im Akkreditierungsprozess. Es zeichnet sich ab, dass die Reformen der Bolognadeklaration, die in den Folgekonferenzen in Prag, Berlin, Bergen, London und Leeuven immer weiter ausdifferenziert wurden, Ende 2010 in Deutschland bis auf die Medizin- und die Jurastudiengänge flächendeckend umgesetzt sein werden.
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Johannes Wildt und Ulrike Eberhardt
Mit dem Fortschreiten der Reformen wird immer deutlicher, dass die Reform im Wesentlichen die strukturelle und organisatorische Seite der Studiengänge erfasst und dies mit Folgewirkungen, die einer Qualitätsentwicklung von Lehre und Studium aus hochschuldidaktischer Sicht zuwiderläuft. Der hier vorgelegte Sammelband, der – wenn auch nicht ausschließlich – die Studienreform in den Sprach- und Literaturwissenschaften reflektiert, thematisiert die Kernfragen einer inhaltlich begründeten und didaktisch elaborierten Hochschulbildung. Vor dem Hintergrund der derzeitigen Entwicklung besitzt er deshalb eine besondere Aktualität. 2
Fachbezogene und fachübergreifende Hochschuldidaktik
Der vorliegende Band stellt Ansätze, Perspektiven, Erfahrungen und Forschungsergebnisse zusammen, die in der Hauptsache die Sprach- und Literaturwissenschaften und darüber hinaus allgemeine Fragen der Lehrerbildung betreffen. Im Unterschied zu der im deutschen Sprachraum überwiegend in fachübergreifend geführten hochschuldidaktischen Diskursen wird damit die Argumentation fachbezogen kontextuiert. Für Lehrende wie Studierende, deren Lehre bzw. Studium immer durch die besonderen Umstände der jeweiligen Fächer bestimmt ist, erfolgt durch diese Fachnähe eine Konkretisierung, die in einer allgemeinen Hochschuldidaktik oft nicht erreicht wird. Wie etwa von Heudecker in diesem Band ausgeführt wird, kommt das didaktische Denken aus der Sicht der Fächer den Wünschen vieler Hochschullehrenden entgegen. In diesem Sinne besteht eine Zukunftsaufgabe darin, die fachübergreifenden und fachbezogenen Aspekte der Hochschuldidaktik in die Gestaltung der Studiengänge zu integrieren. Dazu bedarf es jedoch nicht der Etablierung einer Hochschulfachdidaktik in Parallelität zur an den Hochschulen institutionalisierten Fachdidaktik als Spezialdisziplin. Da die Inhalte universitärer Lehre sich aus der Forschung generieren, bedürfen sie einer didaktischen Transformation durch die lehrenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst. Diese Aufgabe kann nicht an spezialisiertes hochschulfachdidaktisches Personal delegiert werden. Professionalisierung der Lehre bedeutet vielmehr, den fachlichen Inhalt zum Gegenstand von Bildungsprozessen der Studierenden werden zu lassen. Dafür ist die Kompetenz zur didaktischen Reflexion und Gestaltung der eigenen Lehre unerlässlich. Ihre Entwicklung sollte im kollegialen Austausch und im
Einleitung: Neue Impulse?
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Zusammenwirken mit einer allgemeinen Hochschuldidaktik Unterstützung finden. 3
Neue Impulse?
Die Idee für diesen Sammelband entstand vor Einführung der neuen Studiengänge. Bei seinem programmatischen Titel Neue Impulse für die Hochschuldidaktik handelt es sich um den ursprünglichen Arbeitstitel des gesamten Projekts, welches auch eine Ringvorlesung an der Universität Bremen im Sommersemester 2007 umfasste. Er spiegelt die vor Einführung der neuen Studiengänge noch vorherrschende Aufbruchstimmung angesichts der allseits proklamierten Aufwertung von Hochschuldidaktik wider. Das Fragezeichen in der Überschrift neue Impulse steht u.a. für die ersten ernüchternden Erfahrungen mit den neuen Bedingungen von Lehre in Zeiten von Bachelor und Master. Die Grundhaltung vieler Lehrender ist eher pessimistisch. Sie nehmen die neuen Strukturen als Verlust der klassischen universitären Lehre, als einschränkendes Korsett bei der Gestaltung ihrer Lehrveranstaltungen und als Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen und ihrer Betreuungsmöglichkeiten von Studierenden wahr. Von der Vorgabe: „Hochschulen sollten zunehmend Aufmerksamkeit darauf verwenden, Innovationsstrategien zu fördern, die sich auf die Organisation von Lerninhalten, Unterrichtsmaterialien und Lehrmethoden beziehen“ (Cre/Unesco-Cepes 1997, 11) ist bisher wenig zu merken. Die Bemühungen in Sachen Lehre beschränken sich bisher größtenteils auf reine Strukturveränderungen. Zurzeit scheinen sich vor allem Befürchtungen zu bestätigen, mit der Strukturreform eine universitäre „Sekundarstufe III“ zu erschaffen, mit einer weitgehenden „Verschulung“ der Lehre. Die in dieser Hinsicht determinierenden Auswirkungen der neuen Strukturen lassen sich am besten an dem von einem Semester zum nächsten auffallend veränderten Verhalten der Studierenden ablesen, für die die Universität nun anscheinend die nächste Stufe ihrer Schulbildung darstellt. Durch ihr Agieren und ihre Erwartungen machen sie den derzeitigen Geist der Reform explizit. Der Wissenschaftsrat hat 2008 nachdrücklich auf Strukturprobleme, mangelhafte Rahmenbedingungen und finanzielle Defizite an den Hochschulen hingewiesen sowie eine Reihe von Empfehlungen zur Gewährleitung der Qualität von Lehre und Studium und zur Verbesserung der For-
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Johannes Wildt und Ulrike Eberhardt
schungsfähigkeit bei gleichzeitigem Ausbau der Studienkapazitäten ausgesprochen. Nachdrücklich wird die Etablierung einer „die Leistungen in der Lehre anerkennenden und auszeichnenden „Lehrkultur“ [...], in der Lehrleistungen in gleichem Maße wie Forschungsleistungen zur Reputation beitragen können,“ (Wissenschaftsrat 2008, 8) gefordert. Es bedürfe ferner einer „bedarfsgerechten und international konkurrenzfähigen Personal- und Sachausstattung.“ (ebd., 9) Die Vielzahl an Strukturverwerfungen in Folge des Bolognaprozesses können hier nicht im Einzelnen wiedergegeben werden. Zu ihnen gehören u.a. Formen von entgrenzter Arbeit, wie sie Lektorenstellen mit einem Lehrdeputat von 16 und mehr Semesterwochenstunden darstellen, die zunehmend unbefriedigende Situation des akademischen Nachwuchses, welcher bereits als “wissenschaftliches Prekariat“ bezeichnet wird, aber auch die kaum reflektierte Teilliquidierung europäischer wie nationaler Universitätstraditionen und Wissenschaftskulturen, wie die von Humboldt postulierte Einheit von Forschung und Lehre, um nur ein nicht gerade unbedeutendes Beispiel anzuführen. Man mag vielleicht nicht dem umfassenden Verdikt Konrad Paul Liessmanns in seiner Theorie der Unbildung beipflichten, welches lautet: „Die Misere der europäischen Hochschulen hat einen Namen: Bologna,“ (Liessmann 2006, 104) oder seinem Urteil zustimmen, der eingeschlagene Weg gehöre zu den „Irrtümern der Wissensgesellschaft“ (ebd.). Angesichts der derzeitigen Situation sind einige seiner Einlassungen bezüglich des „Zeitgeistes“ jedoch durchaus bedenkenswert: „Es ist schon erstaunlich, daß Wissenschaftler, die noch vor ein paar Jahren glaubten, gesellschaftliche Entwicklungen kritisch auf den Begriff bringen zu können, angesichts dummdreister Sprechblasen aus dem Jargon des New Management nahezu widerstandslos kapitulieren. Daß es niemand mehr auffällig findet, wenn Universitätslehrer zur Nachbesserung ihrer hochschuldidaktischen Fähigkeiten zu einer Unternehmensberaterin mit abgebrochenem Psychologiestudium geschickt werden, daß es niemand anstößig findet, wenn Kandidaten für eine Professur oder Assistentenstelle sich im Assessment Center produzieren müssen, daß niemand aufschreit, wenn die letzten Ladenhüter der Unternehmensideologien den Universitäten als der neueste Schrei verkauft werden >...@ sagt eigentlich alles über die Widerstandkraft der institutionalisierten Wissenschaft gegenüber dem Zeitgeist. Sie ist so gut wie nicht vorhanden.“ (ebd., 122-123)
Einleitung: Neue Impulse?
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Eine derart polemische Beurteilung wird bei vielen Lehrenden auf spontane Zustimmung treffen. Vielleicht erfolgt eine kritische Aburteilung des Bolognaprozesses aber auch zu früh und zu harsch. Die Universitäten sind aktuell verstärkt mit Forderungen und Problemen konfrontiert, die mit Lehren und Lernen aus hochschuldidaktischer Sicht nur mittelbar zu tun haben. So ist u.a. die Frage nach der Administrierbarkeit der neuen Studiengänge nach wie vor sehr dominant: Wie kann die neue Studienstruktur von Bachelor und Master überhaupt organisiert werden? Da die Administration in den neuen Strukturen noch nicht sehr eingespielt ist, herrscht zum Teil noch erhebliches Chaos. Studien- und Prüfungsordnungen müssen gerichtsfest gestaltet sein; hochschuldidaktische Überlegungen müssen sich im Zweifelsfall dem juristischen Gestaltungsspielraum unterordnen, um Rechtssicherheit für die Studierenden, aber auch für die Lehrenden zu gewährleisten. Wie ist mit den bestehenden Budgets überhaupt ein ordnungsgemäßes, juristisch vertretbares Studium zu gewährleisten? Wie können Studienabschlüsse eigentlich verwertet werden? Alle diese Fragen bewegen sich im Rahmen der Probleme einer Umsetzung der strukturellen und organisatorischen Aspekte der Studiengangsreformen im Zeichen des Bologna-Prozesses. Angesichts ihrer Dominanz im Alltag des Lehrens und Studierens drohen die hochschuldidaktischen Gesichtspunkte der Qualitätsentwicklung vollends ins Hintertreffen zu geraten. Im vorliegenden Sammelband steht die hochschuldidaktische Reflexion und Gestaltung der Hochschulbildung im Mittelpunkt des Interesses. Eine hochschuldidaktische Sicht, wie sie hier vertreten wird, hat ihren Ausgangspunkt in einem Shift from Teaching to Learning, in einem Wandel von einer lehrendenzentrierten zu einer studierendenzentrierten Auffassung von Lehre und Studium. 4
Zum Shift from Teaching to Learning
Nachdem Robert B. Barr und John Tagg (1995) in ihrem Aufsatz in Change Management (Nov./Dec. 1995) mit dem Shift From Teaching to Learning – A New Paradigm for Undergraduate Education den Auftakt zur Etablierung einer neuen hochschuldidaktischen Sichtweise gegeben hatten, hat sich diese Perspektive immer mehr in der internationalen Diskussion durchgesetzt und ist auch in der Hochschuldidaktik im deutschen Sprachraum zum Leitmotiv
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Johannes Wildt und Ulrike Eberhardt
einer neuen Qualität von Studium und Lehre geworden (vgl. dazu Wildt 2004; Elbers/Gaus 2005). Im Kern geht es bei diesem Perspektivwechsel darum, die Lehre aus der Sicht der Studierenden neu zu durchdenken. Der Ansatz beinhaltet zudem die Maßgabe, dass die Studierenden mehr Verantwortung für ihren Lernprozess übernehmen sollen. Eine an dieser Sichtweise orientierte Studienreform ist anschlussfähig an die Zielsetzung des Bologna-Prozesses, Kompetenzen der Studierenden als Learning Outcomes ins Zentrum der Studienreform zu rücken. Die Orientierung an Kompetenzen als Learning Outcomes schließt zudem konzeptionell an den Diskurs zum lebenslangen Lernen in der Wissensgesellschaft an. Ein an Kompetenzen orientiertes Studium zielt darauf ab, die Hochschule neu ins Verhältnis zur Arbeitswelt und zur Gesellschaft zu setzen. Wie in dem Tuning-Projekt der Europäischen University Association (Tuning 2003), in dem diese Perspektive der Studienreform am Beispiel von Studiengängen aus sieben Fächern ausgearbeitet wird, gilt es, dieses neue Verhältnis im Hinblick auf Employability (im Sinne von Beschäftigungsfähigkeit) und Citizenship (im Sinne einer Teilhabe als Bürger des Gemeinwesens) in einem kompetenzorientierten Studium umzusetzen. Employability ist dabei nicht als pure Anpassung an die Erfordernisse der Arbeitswelt zu verstehen. Die Absolventen eines Studiengangs sollen vielmehr in der Lage sein, Beschäftigung zu finden, zu gestalten und ggf. die Arbeitsbedingungen so zu verändern, dass sie ihre eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten entfalten können. Um die hierfür notwendigen Voraussetzungen zu gewährleisten, müssen Bildungsinstitutionen gewillt sein, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern die Studierenden auch auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Es gilt, fachbezogene mit fachübergreifenden Kompetenzen zu verbinden, d.h. im Studium nicht nur Fachwissen zu vermitteln, sondern auch die Fähigkeit, mit dem Fachwissen produktiv in Bezug auf Arbeitsprozesse umzugehen. Diese transformativen Kompetenzen könnten u.a. durch Verantwortungsverlagerung auf die Studierenden während des Studiums erworben werden. Kompetenzen können definiert werden als „Fähigkeit [...] in einem gegebenen Kontext verantwortlich und angemessen zu handeln und dabei komplexes Wissen, Fertigkeiten und Einstellungen zu integrieren.“ (Van der Blij et al. 2002) Von besonderer Bedeutung sind die fächerübergreifenden Schlüsselkompetenzen, sie können als „Leitmotiv der Studienreform“ (Wildt 1997) verstanden werden. Es handelt sich hierbei in erster Linie um eine umfassende Handlungskompetenz, die sich aus sozialen, fachlichen, methodischen
Einleitung: Neue Impulse?
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Kompetenzen und Selbstkompetenz zusammensetzt, ergänzt um Organisationskompetenz (Handeln in Organisationsstrukturen) und Systemkompetenz (Handeln in gesellschaftlichen Subsystemen). Diese sollen letztendlich ermöglichen, Fachkompetenz im Arbeitsprozess zu kontextualisieren und in Handlungskompetenz zu integrieren. 5
Vom Lehren zum Lernen
Ausgangpunkt hochschuldidaktischer Überlegungen zu neuen universitären Lehr- und Lernstrukturen ist die Frage, wie Studierende mehr Verantwortung für den eigenen Lernprozess übernehmen können. Lehrangebote werden als Interaktionssysteme verstanden, in denen Thema, Situation, Lernumgebung, Lehrende, Studierende und das Curriculum in Beziehung zueinander stehen. Der Rollenbeziehung zwischen Lehrenden und Lernenden kommt bei der Gestaltung von Lernangeboten eine besondere Bedeutung zu. Lernprozesse können als Dreiecksverhältnis zwischen Lehrenden, Studierenden und dem Thema verstanden werden, wie es in der didaktischen Theorietradition durch das didaktische Dreieck dargestellt wird. Dieses Dreiecksverhältnis kann unterschiedlich gestaltet werden. Universitäre Lehre wird oftmals immer noch vor allem durch die klassische, historisch gewachsene Rollenkonstellation geprägt: Die Professorinnen und Professoren sind diejenigen, die Wissen erzeugen und der Öffentlichkeit zugänglich machen (Professor als Berufsbezeichnung kommt vom lateinischen profetari und heißt übersetzt: Wissen öffentlich verkünden oder zugänglich machen). Die Rolle der Studierenden ist – wie sich aus dem lateinischen Wortsinn studere ableiteten lässt – sich aktiv um eine Sache zu bemühen. Die Lehrenden machen somit das Wissen öffentlich und die Studierenden eignen sich dieses Wissen aktiv an (vgl. dazu Wildt 2005). Neben der klassischen Aufgabe der Präsentation und Instruktion, also fachliches Wissen öffentlich zu machen und darzustellen, die die Fachvertreter nach wie vor zu leisten haben, gilt es nun durch das Arrangement von Lernsituationen geeignete Lernumgebungen zu konstruieren, in denen kompetenzorientiert gelernt werden kann. Hierzu bedarf es eines veränderten Selbstverständnisses der Lehrenden und erweiterter Lehrkompetenzen u.a. hinsichtlich der Fragen, wie das Lernen der Studierenden gefördert und
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Johannes Wildt und Ulrike Eberhardt
lernförderliches Lehren arrangiert werden können, wie ein Lehrender als Coach agiert und wie Studierende etwa beim fallbasierten, problemorientierten oder projektorientierten Lernen optimal unterstützt werden können. Sogenanntes situatives Lernen zeichnet sich durch komplexe Problemstellung, Authentizität, multiple Perspektiven, Reflexion und sozialen Austausch aus. Gelingende Veranstaltungen sind somit abhängig vom Zusammenwirken der Kompetenzen von Lehrenden und Studierenden. Entsprechend den Ansprüchen eines Shifts from teaching to learning bietet sich aufgrund seines lerntheoretischen Fundaments besonders die Arbeit mit projektorientiertem und Forschendem Lernen an. Forschendes Lernen kann als didaktische Formatierung des Lernens durch Forschung aufgefasst werden, die vor allem durch die Bereitstellung geeigneter Lernarragements gewährleistet wird (siehe hierzu auch Fichten im vorliegenden Band). Roland Richter spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „Revitalisierung der alten Humboldt’schen Vorstellungen – [...] als das gemeinsame Lernen von forschenden Studierenden und lehrenden Mentoren an einem immer >noch nicht ganz aufgelösten Problem< der Wissenschaft. Ein Ansatz, [...] der [...] im Rahmen des Bologna-Prozesses für die Studiengangsreform an den europäischen Hochschulen bewahrt werden muss.“ (Richter 2005, 267) Kurz zusammengefasst beinhaltet der Shift from teaching to learning vor allem: weniger Orientierung an Fachsystematiken, mehr Orientierung an einem wissensbasierten Aufbau von berufsrelevanten Kompetenzen und einen Wandel der Rolle der Lehrenden zu Lernbegleitern. 6
Hindernisse und Umsetzungsprobleme
Wenn man aus Perspektive des Shift from teaching to learning vorgeht, müsste bei der Gestaltung der Studiengänge und Veranstaltungen von den Lernaufgaben ausgegangen werden. Welche Rahmenbedingungen benötigen die Lehrenden für die Vermittlung? Wie viel z.B. an Zeit? Was und wie viel an Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden ist notwendig, um Lernaufgaben gut in Angriff nehmen zu können? Aus einer hochschuldidaktischen Betrachtungsweise sollten Rahmenbedingungen die Konsequenz solcher Überlegungen sein. Sie werden jedoch größtenteils von der Verwaltung und damit aus einer juristischen und ökonomischen Perspektive vorge-
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geben, was den Handlungsspielraum für die Hochschuldidaktik stark eingrenzt. So kann z.B. der Zusammenhang eines komplexen Studieninhalts, der in einzelne Teilmodule aufgesplittert wurde, beim Lernen nicht mehr berücksichtigt werden. Bezüglich der benötigten Maßnahmen für eine Neuausrichtung der Konstruktion von Lehre fassen Christmann, Golle und Hellermann zusammen: „Hochschuldidaktik und Studienreform, die dem Anspruch eines >Shift from Teaching to Learning< gerecht wird, agiert durchgängig auf den [...] Ebenen der individuellen Qualifizierung und Beratung der Lehrenden, der kollegial und veranstaltungsbezogenen Beratung sowie einer auf inhaltliche und strukturelle Veränderungen abzielenden Beratung und Prozessbegleitung von Instituten oder Fakultäten. [...] ein gelungener Reformprozess wird [...] alle Ebenen der Qualifizierung durchlaufen haben.“ (Christmann/Golle/Hellermann 2005, 86)
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Zum Sammelband
Der vorliegende Sammelband gliedert sich in sechs Teilbereiche hochschuldidaktischer Fragestellungen. I. Hochschuldidaktik nach der Strukturreform Eröffnet wird der Band mit zwei Bestandsaufnahmen zur Hochschuldidaktik nach der Studienreform. Babara Moschner lotet in ihrem Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen in modularisierten Studiengängen aus. Sie setzt sich einerseits mit den Problemen auseinander, die bei der Restrukturierung der Studiengänge aufgetaucht sind, merkt jedoch andererseits auch kritisch an, dass die Potentiale und Chancen, die in solchen Reformprozessen liegen, bisher nur suboptimal ausgeschöpft wurden. Der europäische Bildungsrahmen propagiert neuerdings verstärkt kritisches Denken als übergeordnetes Ziel höherer Bildung. Otto Kruse setzt sich mit der daraus – vor allem für die deutschen Hochschulen – resultierenden paradoxen Situation zwischen öffentlicher „Rhetorik“ und einer (Studien-) „Realität“ auseinander, in der traditionelle Formen der Ausbildung von kritischem Denken aufgrund der neuen Rahmenbedingungen nicht mehr greifen.
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Johannes Wildt und Ulrike Eberhardt
II. Deutsche Literaturwissenschaft Thomas Althaus und Romana Weiershausen reflektieren am Beispiel der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Bremen erste Erfahrungen mit den neuen Studiengängen. Die Neustrukturierung über Module gibt Anlass, sich nicht nur über die zu vermittelnden Inhalte und die Vermittlung selbst, über Organisationsfragen der Lehre und deren Wirkung auf die Organisation von Forschung zu verständigen, sondern auch über die bereits seit Jahrzehnten kursierende Frage nach der Zukunft des Faches neu nachzudenken. Der Frage nach der Strukturierung von Lehre und der Konstitution von (Literatur-) Wissenschaft geht auch Ulrich Welbers in seinem Beitrag zur „Vermittlung als Konstruktionsbedingung der (Literatur-)wissenschaft“ nach. Wissenschaft verändert sich grundlegend, wenn sie unter dem Kontext ihrer Vermittlung gesehen wird. Welbers beschäftigt sich mit der Konstruktion eines veränderten Wissenschaftsbegriffs unter dem Paradigma der Vermittlung und daraus resultierenden Anforderungen an die hochschuldidaktische Professionalisierung. III. Forschendes Lernen Das aktuell hoch gehandelte Forschende Lernen steht bereits seit den 1970er Jahren auf der Agenda der Bildungspolitik und ist somit kaum als neuer – wenn auch nach wie vor vielversprechender – Impuls zu werten. Der Wissenschaftsrat empfiehlt Forschendes Lernen als geeignete Methode zur Entwicklung des geforderten Kompetenzprofils, zu dem die Fähigkeiten gezählt werden, „Wissen und Informationen zu verdichten und zu strukturieren sowie eigenverantwortlich weiter zu lernen.“ (Wissenschaftsrat 2000, 21f.) Wolfgang Fichten, der seit vielen Jahren im Rahmen der Oldenburger Teamforschung Forschendes Lernen in der Lehrerbildung praktiziert, nimmt diese Entwicklung zum Anlass, sich umfassend mit dem Konzept sowie der alten und neueren Diskussion auseinander zu setzen. Er befasst sich u.a. mit bildungstheoretischen Aspekten wie der Frage nach der Einheit von Forschung und Lehre sowie unterschiedlichen Realisierungsformen Forschenden Lernens. Stefan Papenberg und Bianca Roters stellen mit dem Projekt Bridging the gap – einer Kooperation zwischen Fachdidaktik Englisch und Erziehungswissen-
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schaften an der TU Dortmund – ein Beispiel für die hochschuldidaktische Umsetzung des Forschenden Lernens vor. IV. E-Learning und Blended Learning Auch E-Learning und Blended Learning stehen bereits seit geraumer Zeit in der Diskussion. Matthis Kepser gibt in seiner „kritischen Einführung“ einen Überblick über den aktuellen Stand und stutzt die allzu hohen Erwartungen der letzten Jahre an diese Lehrformen zu realistischen Einschätzungen zurück. Um die „Entwicklung berufsbezogener mediendidaktischer Kompetenzen in der Lehrerausbildung“ geht es Andreas Grünewald in seinem Beitrag zu einem virtuellen Seminar für den Fremdsprachenunterricht, das in Kooperation mit Lehrer-Online und Schulen ans Netz e.V. konzipiert wurde. Ziel dieses Seminars ist es, Kenntnisse, Fähigkeiten und Einstellungen möglichst berufsbezogen und praxisnah zu vermitteln. Mit dem Beispiel der beiden Lernumgebungen Basislexikon Literaturwissenschaftliche Terminologie und LiGo (Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe online) möchte Uwe Spörl ein „Plädoyer für das `gemischte Lernen´“ abgeben. V. Hochschuldidaktische Aus- und Weiterbildung Sylvia Heudecker stellt das zielgruppenspezifische Pilotprojekt „Kompetent lernen“ vor, dass aus einer Initiative von Kollegen aus den Geisteswissenschaften der Universität Göttingen mit dem Ziel entstanden ist, die fachspezifische Lehrsituation näher zu fokussieren. Es ging den Teilnehmern und Teilnehmerinnen vor allem um „praktisches“ und „alltagstaugliches Handwerkszeug“ wie z. B. um die Konzeption von Lehrveranstaltungen und die Strukturierung von Einzelsitzungen, aber auch um eine Reflexion der eigenen Wirkung. Ulrike Eberhardt empfiehlt in ihrem Beitrag Ringvorlesungen als probates Diskussionsforum und Instrument hochschuldidaktischer Weiterbildung. VI. Gender Mainstreaming Sowohl in der Lehre als auch in der Forschung zum Fach Deutsch als Fremdsprache (DaF) wird der Bereich Geschlecht bisher weitgehend ausgeblendet. Anhand ausgewählter Beispiele aus DaF-Lehrwerken gibt Roya
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Johannes Wildt und Ulrike Eberhardt
Moghaddam Anregungen und konkrete Vorschläge für eine „gendergerechte Didaktik“. VII. Kunst, Kultur und Wissenschaft Wie können theatrale Inszenierungen „eingespielte Kategorisierungen herausfordern und Automatismen in der Herangehensweise an Bildungs- und Lerninhalte Erkenntnis fördernd unterbrechen [?]“. Jörg Holkenbring skizziert die Arbeitsweise des Theaters der Versammlung (Universität Bremen) „an der Schnittstelle zwischen Bildung, Wissenschaft und Kunst“. Ulrike Eberhardt regt in ihrem Beitrag an, die kulturelle Praxis `Ins Theater gehen´ als Form kultureller Bildung an den Schulen zu etablieren. Sie entwickelt hierzu einen fachdidaktischen Begründungszusammenhang für den Deutschunterricht und die universitäre Lehrerausbildung und berichtet von einem Kooperationsseminar mit dem Referat Theater und Schule des Bremer Theaters, das auf Grundlage dieser Überlegungen konzipiert wurde. Literatur Barr, Robert B./TGG; John (1995): Shift from Teaching to Learning – A new Paradigm for Undergraduate Education. Change Management Nov./Dec. 1995. 13-15 Berendt, Brigitte/Voss, Hans-Peter/Wildt, Johannes (Hrsg.) (2002): Neues Handbuch Hochschullehre. Berlin: Raabe CRE/UNESCO-CEPES (Eds.) (1997): A Europaen Agenda for Change for Higher Education in the XXIst Centuray. Result of the Europaen regional Forum. Palermo Christmann, Bernhard/Golle, Karen/Hellermann, Klaus (2005): Kompetenzorientierung: Lehren und Lernen im Wandel. Hochschuldidaktik und Studienreform am Weiterbildungszentrum der Ruhr-Universität Bochum. In: Welbers/Gaus (20055): 81-86 Ehlert, Holger/Welbers, Ulrich (Hrsg.) (2004): Qualitätssicherung und Studienreform. Düsseldorf: Grupello Liessmann; Konrad Paul (2006): Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Zsolnay Richter, Roland (2005): Der `Shift from teaching to Learning´ aus amerikanischer Perspektive – oder wie Humboldt in das amerikanische College Einzug hält. In: Welbers/Gaus (2005): 262-268 Tuning Educational Structures in Europe: http://www.tuning.unideutso.org
Einleitung: Neue Impulse?
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van der Blij, M./ Boon, J./van Lieshout, H./Schafer, H./Schrijen, H. (2002): Competentie profielen: over schillen en knoppen >e-competence profiles@. Digitale Universität. Utrecht Welbers, Ulrich (Hrsg.) (1997): Das Integrierte Handlungskonzept Studienreform. Aktionsformen für die Verbesserung von Lehre an Hochschulen. Neuwied/Kriftel/Berlin: Luchterhand Welbers, Ulrich/Gaus, Olaf (Hrsg.) (2005): The Shift from Teaching to Learning – Konstruktionsbedingungen eines Ideals, Bielefeld: C.W. Bertelsmann Wildt, Johannes (1997): Fachübergreifende Schlüsselqualifikationen – Leitmotiv der Studienreform? In: Welbers (1997): 198-213 Wildt, Johannes (2002): Ein hochschuldidaktischer Blick auf Lehren und Lernen. In: Berendt/Voss/Wildt (2002): Griffmarke A 1.1 Wildt, Johannes (2004): „The Shift from Teaching to Learning“. Thesen zum Wandel der Lernkultur in modularisierten Studienstrukturen. In: Ehlert/Welbers: 168 – 178 Wissenschaftsrat (2000): Empfehlungen zur Einführung neuer Studienstrukturen und –abschlüsse (Baccalaureus/Bachelor – Magister/Master) in Deutschland. Berlin Wissenschaftsrat (2008): Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Studium und Lehre. http://www.wissenschaftsrat.de/texte/8639-08.pdf
Möglichkeiten und Grenzen in modularisierten Studiengängen Barbara Moschner
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Ausgangspunkt
Die Modularisierung von Studiengängen ist ein zentrales Element der Studienstrukturreform in Anlehnung an die Bologna-Erklärung (Europäische Bildungsminister, 1999). Zur Einordnung der Frage, in welchem Kontext die Modularisierung von Studiengängen als ein zentrales Element angesehen wird, soll zunächst die universitäre Ausgangslage beschrieben werden, um dann gezielt Möglichkeiten und Grenzen bei der Umsetzung der BolognaErklärung und der Einführung modularisierter Studiengänge aufzuzeigen. 1.1 Die Bologna-Erklärung Am 19. Juni 1999 veröffentlichten Europäische Bildungsministerinnen und Bildungsminister als Ergebnis eines Treffens im italienischen Bologna eine gemeinsame Erklärung unter dem Titel Der Europäische Hochschulraum.1 Die Deklaration beinhaltet eine freiwillige Selbstverpflichtung mit dem Ziel, einen Europäischen Hochschulraum bis zum Jahr 2010 zu schaffen. Darin wird den Hochschulen eine Schlüsselrolle bei der Entwicklung europäischer kultureller Dimensionen zugeschrieben. Mit der Schaffung des europäischen Hochschulraum soll die Förderung der Mobilität und die Förderung der arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung der europäischen Bürgerinnen und 1Dieses
Dokument wurde ursprünglich von 29 europäischen Bildungsministerinnen und Bildungsministern folgender Staaten unterzeichnet: Belgien, Bulgarien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Island, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Rumänien, Slowenien, Slowakei, Schweden, Spanien, Schweiz, Tschechien, Ungarn. Inzwischen haben sich 46 Staaten der Erklärung angeschlossen.
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Barbara Moschner
Bürger sowie die Stärkung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Hochschulsystems erreicht werden. Um die angestrebten Ziele zu verwirklichen, werden in der Erklärung verschiedene Maßnahmen genannt, die in den einzelnen Ländern umgesetzt werden sollen. Dazu zählt die Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse, die Einführung eines zweistufigen Systems von Studienabschlüssen (undergraduate/graduate), die Einführung eines Leistungspunktesystems (ähnlich dem ECTS-Modell), die Förderung der Mobilität von Studierenden und von Lehrenden, die Förderung der europäischen Zusammenarbeit bei der Qualitätssicherung und die Förderung der europäischen Dimension in der Hochschulausbildung. Im Abstand von jeweils zwei Jahren nach dem Treffen in Bologna fanden Folgekonferenzen der Ministerinnen und Minister statt, um den Prozess der Umsetzung zu begleiten (2001 in Prag, 2003 in Berlin, 2005 in Bergen, 2007 in London und 2009 in Leuwen). Bereits im September 2003 wurde die Promotionsphase – ergänzend zu Bachelor und Master – zum so genannten dritten Zyklus des Bologna-Prozesses erklärt. Die Bildungsministerinnen und -minister sind für die Umsetzung der Reformen in ihren jeweiligen Ländern verantwortlich. In Deutschland werden sie dabei unterstützt von Vertretern des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD), der Hochschulrektorenkonferenz (HRK), der Kultusministerkonferenz (KMK), des freien Zusammenschlusses von Studentinnenschaften (fzs), der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), des Akkreditierungsrates und des deutschen Studentenwerks (DSW). 1.2 Zehn Thesen der Kultusministerkonferenz Zentrales Element der Bologna-Reform in Deutschland ist die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen, die die bisherigen Diplom- und Magisterstudiengänge ablösen. Auch die bisherigen Lehramtsstudiengänge werden in die Reform einbezogen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) erklärte die Einführung einer gestuften Studienstruktur mit Bachelor- und Masterstudiengängen zu einem Kernanliegen deutscher Hochschulpolitik und veröffentlichte am 12.06.2003 einen Beschluss, der zehn Thesen zur
Möglichkeiten und Grenzen in modularisierten Studiengängen
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Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge beinhaltet. In diesem Beschluss wird die Eigenständigkeit der Bachelor- und Masterstudiengänge betont. Bachelor- und Masterabschlüsse werden als eigenständige, berufsqualifizierende Hochschulabschlüsse definiert (These 1). Im Rahmen einer gestuften Studienstruktur soll der Bachelorabschluss der Regelabschluss des Hochschulstudiums sein. Die Aufnahme eines Masterstudiengangs setzt zwingend einen ersten berufsqualifizierenden Hochschulabschluss oder einen äquivalenten Abschluss voraus (These 2). Bachelorstudiengänge sind berufsqualifizierend und sollen wissenschaftliche Grundlagen und Methoden vermitteln, die für die Berufsqualifizierung notwendig sind (These 3). Masterstudiengänge sind als “stärker anwendungsorientiert” oder “stärker forschungsorientiert” profiliert (These 4). Konsekutive und nichtkonsekutive Studiengänge werden unterschieden. Konsekutive Masterstudiengänge schließen sich an vorausgegangene Bachelorstudiengänge an und führen sie fort, erweitern oder vertiefen sie. Weiterbildende Masterstudiengänge setzen Berufspraxis und ein Lehrangebot voraus, in dem die beruflichen Erfahrungen berücksichtigt werden (These 5). Bachelorstudiengänge sollen eine Regelstudienzeit von drei bis vier Jahren umfassen (mindestens 180 ETCS-Punkte), Masterstudiengänge sollen eine Regelstudienzeit von ein bis zwei Jahren umfassen (These 6). Die Studienabschlüsse werden mit den Titeln Bachelor-/Master of Arts, Bachelor-/Master of Science, Bachelor/Master of Engineering und Bachelor-/Master of Law bezeichnet. Zwingend vorgeschrieben ist ein sogenanntes Diploma Supplement, das Informationen zu dem jeweiligen Studiengang und den erworbenen Qualifikationen beinhaltet (These 7). Die Bachelorabschlüsse werden den Diplomabschlüssen der Fachhochschulen gleichgestellt, konsekutive Masterabschlüsse den Diplom- und Magisterabschlüsse der Universitäten (These 8). Bachelor- und Masterstudiengänge müssen akkreditiert werden (These 9) und sollen bis zum Jahr 2010 eingeführt sein (These 10). Bei der Umsetzung dieser Ziele sind eine Reihe von Problemen aufgetaucht, die im Folgenden beschrieben werden sollen. Weitaus weniger als die Probleme werden in der Öffentlichkeit die Chancen, die sich aus der Restrukturierung der Studiengänge ergeben, diskutiert. Die Potentiale, die in solchen Reformprozessen liegen, werden nur suboptimal ausgeschöpft.
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Barbara Moschner Große Ziele und kleine Erfolge: Schwierigkeiten und Probleme bei der Umsetzung der Bologna-Reform in Deutschland
Inzwischen sind an deutschen Universitäten fast flächendeckend die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge eingeführt. Nachdem anfangs große Widerstände aus den Reihen der Hochschullehrenden und der akademischen Fachverbände zu beobachten waren, die angestrebte Reform ernst zu nehmen und auch aktiv mit zu gestalten, haben inzwischen die meisten Fächer ihre Studiengänge umstrukturiert, nur einzelne Fächer (Rechtswissenschaft, Humanmedizin) sind derzeit (noch?) von den Reformen ausgenommen. Bei der Umsetzung der Reformen ist eine Reihe von größeren und kleineren Problemen sichtbar geworden, die den angestrebten Zielen der Reform deutlich entgegenstehen. Die Probleme sind gravierend, jedoch nicht so unlösbar, dass der Reformprozess als Ganzes gefährdet werden könnte. Die meisten dieser Probleme betreffen nicht die prinzipielle Möglichkeit der Umsetzung der angestrebten Ziele der Reform, sondern sind durch eine wenig engagierte und reflektierte Form der Umsetzung der komplexen und anspruchsvollen Ziele entstanden. Solche Probleme werden im Folgenden aufgezeigt. 2.1 Mangelnde Vergleichbarkeit der Studiengänge und der Abschlüsse Ein wichtiges Ziel der Bologna-Reform besteht in der Schaffung vergleichbarer Studienabschlüsse in Europa. Oberflächlich ist eine Anpassung der Abschlüsse durch die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge auch in Deutschland durchaus erreicht, eine detaillierte Betrachtung der nun eingeführten und häufig auch schon akkreditierten Studiengänge zeigt jedoch ernste Schwierigkeiten auf. Aufgrund mangelnder Abstimmungsprozesse auf wissenschaftlicher Ebene sind zwar formal ähnliche Studienstrukturen geschaffen worden (die Studiengänge sind modularisiert, die zu erbringenden Kreditpunkte sind vergleichbar), inhaltlich stehen aber wichtige Einigungen und Anpassungen noch aus. Durch eine lange Verweigerungshaltung seitens der Hochschullehrenden, die sich auch in der Folge häufig nur wenig engagiert bei der Umsetzung der Studienreform eingebracht haben, sind viele einzigartige Studienverlaufspläne entstanden, die
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selbst innerhalb von Deutschland einen Studienortwechsel im laufenden Studiengang fast unmöglich machen. Zu spezifisch sind die Anforderungen in den einzelnen Studiengängen, zu stark waren lokale Stärken und Vorlieben leitend bei der Entwicklung der Module. Wissenschaftliche Fachverbände haben in dieser Situation nur wenig Unterstützung oder Hilfestellung (z. B. durch Rahmenprüfungsordnungen) geleistet. 2.2 Internationalisierung Fehlanzeige Das Ziel, die Internationalisierung der Studiengänge durch die Förderung der Mobilität von Studierenden und Lehrenden zu erreichen, ist weitgehend gescheitert. Durch die kleinteilige Modularisierung der Studiengänge ist eine Verschulung des Studiums eingetreten, die nur wenig Raum für eigene Wahlveranstaltungen oder gar für Auslandsaufenthalte lässt. Studierende, die dennoch ins Ausland gehen, nehmen gravierende Studienzeitverlängerungen in Kauf, da Lehrangebote für Pflichtveranstaltungen häufig nur im jährlichen Turnus wiederholt werden. Die Anerkennung von Leistungen, die im Ausland erbracht wurden, gestaltet sich bei stark reglementierten Studiengängen (Bachelor und Master) deutlich schwieriger als bei den etwas weniger reglementierten Diplom- und Magisterstudiengängen. Auch eine Zunahme des internationalen Austauschs seitens der Lehrenden ist keinesfalls zu beobachten. 2.3 Fehlende Kompetenzmodelle Ähnlich wie im schulischen Bereich sollen sich modularisierte Studiengänge nicht mehr an einem Wissens- oder Bildungskanon orientieren, sondern an Kompetenzen, die für die Lernenden im späteren Berufsalltag notwendig sind. Während für den schulischen Bereich im Anschluss an große internationale Schulleistungsvergleichsstudien (TIMSS, PISA) zumindest für einige Schulfächer Kompetenzmodelle entwickelt wurden, fehlen diese im universitären Bereich fast vollständig oder beschränken sich auf die sogenannten „Schlüsselkompetenzen“ und soft skills. Fachspezifische Kompetenzmodelle wären jedoch ein notweniger Orientierungsrahmen, welcher der Modularisierung zugrunde gelegt werden müsste. Da diese Kompetenzmodelle noch
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nicht vorhanden sind, wurden in der Umstellungsphase oft die vermittelten Wissensinhalte aus den bisherigen Diplom- oder Magisterstudiengängen kaum modifiziert in die neuen Studienstrukturen gepresst. Deshalb taucht die Kritik am „alten Wein in neuen Schläuchen“ zunehmend häufiger auf. Nicht die Frage nach dem zu vermittelnden Können, sondern die Orientierung an bisherigen „Wissensinhalten“ stand im Vordergrund der Modularisierung. Durch leichte sprachliche Modifikationen der bisher verlangten Wissensinhalte wurde die Forderung nach der Formulierung von Kompetenzen vordergründig Genüge getan. 2.4 Mangelnde Abstimmungsprozesse bei der Modularisierung Die Modularisierung der Studieninhalte und die Einführung studienbegleitender Prüfungen ist ein zentrales Strukturmerkmal der Bachelor- und Masterstudiengänge. Mehrere Lehrveranstaltungen, die sich mit inhaltlich zusammengehörenden Themen beschäftigen, werden zu Modulen zusammengefasst. Die Inhalte der einzelnen Module werden in Modulbeschreibungen definiert, jedes Modul wird nach Abschluss der zum Modul gehörenden Lehrveranstaltungen geprüft. Durch die Modularisierung wird eine effizientere und flexiblere Strukturierung des Studiums angestrebt. Individuelle Studienverläufe (Teilzeitstudium, lebenslanges Lernen) sollen ermöglicht und die Studienmobilität gefördert werden. Das Konzept der Modularisierung setzt eine stärkere inhaltliche und organisatorische Abstimmung der Hochschullehrenden voraus, als dies in den bisherigen Studiengängen üblich und notwendig war. In der praktischen Umsetzung zeigt sich die mangelnde Erfahrung und Übung der Lehrenden mit solchen Abstimmungsprozessen, sodass es verstärkt zu Reibungsverlusten kommt. Inhalte zusammengehörender Lehrveranstaltungen sind weniger aufeinander bezogen als dies wünschenswert wäre, selbst hinsichtlich der Prüfungsleistungen gibt es nur wenig Abstimmung. Lehrende können sich teilweise nur schwer darauf einigen, was inhaltlich zentral und wichtig ist und was geprüft werden muss. Unter Berufung auf die Freiheit von Forschung und Lehre wird der individuellen Entscheidungsfreiheit viel Raum eingeräumt, sodass Module je nach individuellen oder regionalen Besonderheiten und Vorlieben eingerichtet, benannt und ausgestaltet werden. Dies behindert die Mobilität der Studierenden stärker als in den bisherigen Stu-
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diengängen, da durch die Modulbeschreibungen die regionalen Besonderheiten differenziert und gut dokumentiert sind. So werden nicht kompatible Studienanforderungen besonders verdeutlicht. Darüber hinaus verhindern starre Vorgaben (z. B. zur Größe der Module) teilweise inhaltlich sinnvolle Verbindungen. 2.5 Prüfungen ohne Ende Modularisierte Studiengänge zeichnen sich durch studienbegleitende Modulprüfungen aus. Es ist zu beobachten, dass das Ausmaß dieser Prüfungen bei weitem die Anforderungen in den bisherigen Studiengängen übersteigt. Jedes Modul soll durch eine Modulprüfung beendet werden. Mangelnde Einigungs- und Abstimmungsprozesse (s.o.) führen jedoch dazu, dass häufig jede Lehrveranstaltung mit einer „Modulteilprüfung“ beendet wird. Studierende müssen teilweise bis zu sieben oder acht Prüfungen am Ende jedes Semesters absolvieren. So verwundert es auch nicht, dass das so genannte „bulimische Lernen“ gehäuft zu beobachten ist. Dabei geht es nicht mehr um tiefergehende Verarbeitungsprozesse oder um den Erwerb von Kompetenzen (die eigentlich gefördert werden sollen), sondern um die oberflächliche Reproduktion von Faktenwissen, das schnellstmöglich wieder vergessen wird. Die Studierenden verhalten sich in dieser Situation rational, denn aufgrund der stark erhöhten Prüfungsbelastung (insbesondere in den Massenfächern) wird genau dieses Faktenwissen bei den Modulprüfungen abgefragt, da es leicht in (Multiple-Choice-)Klausuren zu erheben und zu bewerten ist. Besonders Lehrende in großen Studiengängen (z. B. im Lehramt) „prüfen sich die Finger wund“. Aber das Problem ist hausgemacht und lässt sich ändern! Durch eine bessere Koordination und Abstimmung bei den Prüfungen könnte der Angst der Lehrenden begegnet werden, nicht ernst genommen zu werden, wenn sie nicht besonders hohe Prüfungsanforderungen stellen. Zudem könnte dem Teilnehmerschwund in den Veranstaltungen entgegengewirkt werden, in denen keine Modulteilprüfungen verlangt werden.
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2.6 Kreditpunkte und „Workload“- Die Normierung der Durchschnittsstudierenden Um bisher Unvergleichbares vergleichbarer zu machen, wurden im Rahmen der Studienreform Kreditpunkte eingeführt. Ein Kreditpunkt soll für etwa 30 Arbeitsstunden (=Zeitstunden) der Studierenden vergeben werden. Es ist zu beobachten, dass Lehrende extreme Schwierigkeiten haben, diese so genannte Workload der Studierenden einzuschätzen. Dies ist nicht sehr verwunderlich, da Lernende in einem ganz unterschiedlichen Tempo arbeiten. Manche lernen schneller, manche lernen langsamer. Manche beschäftigen sich gründlicher mit dem Thema, manche beschäftigen sich nicht so gründlich damit. Manche lernen nur das Nötigste, manche versuchen einen Inhalt ganz und gar zu durchdringen. Manche fühlen sich unterfordert und wären gerne mehr gefordert und gefördert, andere fühlen sich überfordert. Manche Studierende sind mit ihrem Bachelorstudium schon nach zwei Jahren fertig, in anderen Studiengängen ist es fast ausgeschlossen, das Bachelorstudium in drei Jahren abzuschließen. Die Orientierung am hypothetischen Durchschnittsstudierenden wird den heterogenen Interessen und Voraussetzungen der Lernenden nicht gerecht. Neben den unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen der Studierenden spielen bei solchen Unterschieden sicherlich auch Fehleinschätzungen der Lehrenden bei der Berechnung der „Workload“ eine enorme Rolle. Als zusätzliches Problem ergibt sich ein unterschiedlicher Umgang mit den Kreditpunkten an den verschiedenen Hochschulen. Während an manchen Hochschulen (wie z.B. in Oldenburg) als grobe Regel gilt, dass für zwei Semesterwochenstunden Lehre drei Kreditpunkte vergeben werden, setzen andere Hochschulen (mit einer dünnen Personaldecke) verstärkt auf das Selbststudium der Studierenden und vergeben bei einem deutlich reduzierten Lehrangebot die gleiche Menge an Kreditpunkten. Beispielsweise bauen Module anderer Hochschulen auf einem Kreditpunktesystem auf, in dem Lehrveranstaltungen mit fünf Kreditpunkten üblich sind. Durch solche Unterschiede ist ein Wechsel der Studierenden von einer deutschen Hochschule zu einer anderen enorm erschwert.
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2.7 Vorgaben und Überregulierungen - Das Beispiel der Anwesenheitspflicht Eine Anwesenheitspflicht in den Lehrveranstaltungen ist an vielen Universitäten für die neuen Studiengängen in den neuen Studien- und Prüfungsordnungen festgeschrieben. Genau diese Anwesenheitspflicht führt jedoch zu Problemen, die bisher nicht antizipiert wurden. Bei der vielfältigen Möglichkeit von Fächerkombinationen im sogenannten Zwei-Fach-Bachelor ist es fast nicht möglich, Überschneidungen von Pflichtveranstaltungen zu vermeiden. Zudem führen starre Studienverlaufspläne dazu, dass Module nur in einer bestimmten Reihenfolge studiert werden können, was die Flexibilität der Studierenden zusätzlich einschränkt. Während einerseits auf Studierende durch Anwesenheitslisten und Zusatzaufgaben bei Fehlzeiten Druck ausgeübt wird, sind die Universitäten aufgrund fehlender personeller und räumlicher Kapazitäten häufig gar nicht in der Lage das notwendige Pflichtangebot für alle Fächerkombinationen überschneidungsfrei anzubieten. Besonders hart von der Anwesenheitspflicht und den starren Studienverlaufsplänen sind (teilweise) berufstätige Studierende betroffen, die ihre Arbeitszeiten nicht immer nach den Modulzusammenhängen ausrichten können. Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass in den bisherigen Studiengängen diese Probleme nicht aufgetaucht sind, weil – zumindest in manchen Fächern – die Anwesenheit in Lehrveranstaltungen nicht notwendig war, um sich zu Prüfungen anzumelden. Es gab keine Raumprobleme bei den Lehrveranstaltungen, weil viele Studierende es vorzogen, den Stoff im Selbststudium zu erarbeiten. 2.8 Mangel an Ressourcen Hochschulen haben bisher davon profitiert, dass nur ein Teil der Eingeschriebenen tatsächlich studiert hat. Dies hat sich mit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen und der fast zeitgleichen Einführung von Studienbeiträgen und erhöhten Langzeitstudiengebühren in vielen Bundesländern geändert. Finanziell ist es für viele junge Menschen angesichts von Studienbeiträgen nicht länger attraktiv, „pro forma“ eingeschrieben zu sein. Gleichzeitig wird durch die studienbegleitenden Modulprüfungen schon früh deutlich, ob ein Studium erfolgreich abgeschlossen werden kann
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oder nicht. Dadurch kommt es zu früheren Studienabbrüchen und weniger Langzeitstudierenden. Trotz dieser Entwicklungen sind durch die erwartete Anwesenheitspflicht in den gestuften Studiengängen Probleme bei der Raumbelegung deutlich. So gehen z. B. in Oldenburg gesunkene Studierendenzahlen mit erhöhter Anwesenheit der Studierenden in den Lehrveranstaltungen einher, sodass vorhandene Seminarräume weder in ihrer Anzahl noch in ihrer Größe geeignet sind, die notwenigen Kapazitäten für das Pflichtlehrangebot bereit zu stellen. Deshalb wurde die Veranstaltungszeit auf den Zeitraum von 8.00 Uhr bis 22.00 Uhr ausgeweitet. Neben dem Mangel an Räumen wird ein Mangel an Personal deutlich. Die Ausweitung der Prüfungsleistungen führt zu Prüfungsbelastungen, die von dem vorhandenen Personal in den Massenfächern nicht mehr zu bewältigen sind. Während einerseits weiter die bestehenden Curricularnormwerte2 gelten, die die Relation von Studierenden zu Lehrenden bestimmen, werden andererseits Prüfungen in ähnlichem Umfang über alle Fächer und Fachkulturen gleichermaßen gefordert. In den Massenfächern übersteigt derzeit die Zahl der Prüfungen bei weitem die zeitlichen Ressourcen der Lehrenden. 2.9 Fehlende Berücksichtigung der Lebenssituation der Studierenden Die neuen Studienstrukturen lassen sich oft nur schwer mit der Lebenssituation von Studierenden vereinbaren, da in den Studienverlaufsplänen von einem Vollzeitstudium ausgegangen wird. Dies lässt sich für viele Studierende nur schwer mit ihrer Lebenssituation in Einklang bringen. Ca. zwei Drittel aller Studierenden sind zumindest teilweise berufstätig um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Ebenso wie Studierende mit Kind(ern) haben sie erhebliche Probleme mit der Anwesenheitspflicht in den Lehrveranstaltungen und sind zeitlich kaum in der Lage in einem erheblichen Umfang für die 2 Der Curricularnormwert legt fest, wie viele Deputatsstunden für die Ausbildung von Studierenden in einem bestimmten Studiengang erforderlich sind. Je höher der Curricularnormwert ist, desto mehr Personal ist im Studiengang pro Studierenden vorzusehen. Die von der HRK geforderte Flexibilisierung der Curricularnormwerte im Rahmen des Bologna-Prozesses ist vielfach noch nicht umgesetzt.
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studienbegleitenden Prüfungen zu lernen. Lösungen für Studierende, die ein Teilzeitstudium anstreben, stecken noch in den Kinderschuhen. Häufig werden eher individuelle als strukturelle Lösungen gesucht, die psychosozialen Beratungsstellen der Universitäten berichten von erheblichen Belastungen dieser Studierenden. 2.10 „Generation Versuchskaninchen“ mit unklaren Berufsperspektiven Viele Studierende fühlen sich verunsichert. Bachelorstudiengänge beginnen, bevor die Zulassungsvoraussetzungen zum Masterstudium geklärt sind. Lehrende und selbst Prüfungsämter sind nicht gut über die neuen Studienstrukturen informiert. Ratschläge widersprechen sich oder die Studierenden bekommen keine Antworten auf drängende Fragen. Eine dieser Fragen betrifft die Befürchtungen, ein Bachelorabschluss führe zu ungünstigen Beschäftigungsverhältnissen oder zu Schwierigkeiten beim Berufseinstieg. Dies kann derzeit weder bestätigt noch entkräftet werden, zu spärlich sind die vorliegenden Erfahrungen mit der Berufseinmündung nach dem Bachelorabschluss. Nach einer Befragung des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln sind die Befürchtungen aber nicht notwendig: Vor allem die großen Unternehmen betonen, dass die Türen für Bachelorabsolventen weit offen stehen. Die Unternehmen attestieren den Bachelors eine ausreichende berufliche Qualifikation, und viele räumen ihnen die gleichen Karrierechancen wie anderen Hochschulabsolventen ein (Lang, 2007). 3
Chancen und Potentiale der Bologna-Reform Der Prozess der Umsetzung geht weiter
Trotz zweifellos vorliegender Probleme ist die Situation nicht aussichtslos. Bisher gut gelungen sind die Darstellung und die Analyse der Fehler, die im Prozess der Umstellung auf die gestuften Studiengänge gemacht worden sind. Fehleranalysen beinhalten immer auch ein Lernpotential und dieses Potential gilt es zu nutzen. Dabei müssen verschiedene Akteure stärker und kooperativer zusammenarbeiten als das derzeit noch der Fall ist.
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3.1 Die Verantwortung der akademischen Fachverbände und der Berufsverbände Berufsverbände und akademische Vereinigungen haben sich bisher kaum bei der Umsetzung des Bologna-Prozesses engagiert und teilweise eher eine Verweigerungshaltung zum Ausdruck gebracht. Die größten Bedenken werden hinsichtlich rechtswissenschaftlicher und medizinischer Studiengänge geäußert. Nur eine aktive Verantwortungsübernahme im laufenden Prozess kann jedoch eine Koordination und Vertretung eigener Interessen befördern. Falls das nicht geschieht, werden die deutschen Studierenden erhebliche Nachteile im internationalen Vergleich haben. So ist es im Sinne der Reform unumgänglich, dass Berufsverbände und akademische Fachverbände sich über die Kompetenzen verständigen, die von Hochschulabsolventen bei der Einmündung in die Berufstätigkeit erwartet werden. Nur so können Kompetenzmodelle entwickelt werden, die die Voraussetzung zur Planung und Beschreibung von Modulen sind. Und nur so kann verhindert werden, dass hochgradig profilierte, aber wenig anschlussfähige Studiengänge an einzelnen Hochschulen konzipiert werden. 3.2 Internationalisierung als Bestandteil des Curriculums Wesentliche Ziele des Bologna-Prozesses, die Vergleichbarkeit der Studiengänge und die Verbesserung der Mobilität von Studierenden und Lehrenden, wurden bisher nicht erreicht. Diese Beobachtung überrascht zunächst, war dies doch eines der erklärten und wesentlichen Ziele der Bildungsministerinnen und Bildungsminister. Für Deutschland kann als eine zentrale Ursache des Misserfolgs wohl die bürokratische und technokratische Umsetzung der Reform ausgemacht werden. So sind stark reglementierte, strukturierte und verschulte Studiengänge entstanden, die nur wenige Wahlmöglichkeiten lassen. Flexibilität ist jedoch notwendig, um individuell geplante Auslandsaufenthalte innerhalb der Strukturen zu ermöglichen. Auch die alternative Möglichkeit, Auslandsaufenthalte gezielt in den Studienverlaufsplan einzubinden und allen Studierenden anzuraten, wurde bisher nur vereinzelt umgesetzt. Solche Studienverlaufspläne erfordern eine stärkere und verlässlichere inhaltliche Vernetzung auf internationaler Ebene, die die meisten deutschen Hochschulen nicht vorweisen können. Eine sol-
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che Vernetzung könnte beispielsweise durch ein flankierendes Programm eines projektbezogenen Austausches in der Lehre oder bei der Studiengangsplanung erreicht werden. Wichtig wäre zudem ein stärkerer inhaltlicher Austausch über zentrale Inhalte des jeweiligen Studienfachs. Da diese Einigungen in manchen Fächern auf nationaler Ebene noch nicht erreicht sind, könnte ein Blick über den nationalen Tellerrand solche Einigungsprozesse möglicherweise sogar beschleunigen. 3.3 Entwicklung von Kompetenzmodellen Die Vermittlung und der Erwerb von Kompetenzen ist ein zentrales Ziel der modularisierten Studiengänge. Kompetenzen können bereichsspezifisch oder bereichsunspezifisch sein. Während bereichsübergreifende Kompetenzen häufig auch als soft skills oder als Schlüsselqualifikationen bezeichnet werden, beziehen sich bereichsspezifische Kompetenzen funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen. Es wird davon ausgegangen, dass Kompetenzen durch Lernen erworben werden können. Modularisierte Studiengänge setzten Kompetenzmodelle voraus, das heißt, es muss Einigung darüber bestehen, welche Kompetenzen grundlegend sind oder welche Kompetenzen Voraussetzungen für andere weiterführende oder speziellere Kompetenzen sind. Solche Kompetenzmodelle sind derzeit jedoch höchstens ansatzweise vorhanden. Um den notwendigen Orientierungsrahmen für die modulierten Studiengänge zu ermöglichen, müssen solche Kompetenzmodelle umgehend entwickelt werden. Notwendig zur Entwicklung solcher Modelle ist eine Zusammenarbeit von Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Wirtschaft. Dabei wird die schwierige Aufgabe zu lösen sein, Kompetenzmodelle hinreichend differenziert, aber auch hinreichend generell zu formulieren, sodass sie weder zu praxologisch noch zu theorielastig formuliert sind. Zudem müssen mittelfristige Anforderungen des jeweiligen Berufs- und Handlungsfeldes antizipiert und berücksichtig werden.
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3.4 Kooperation statt Konkurrenz Wissenschaftliche Karriereverläufe sind durch ein erhebliches Ausmaß an Konkurrenz gekennzeichnet. Während in der Promotionsphase die meisten Stellen als Halbtagsstellen vergeben werden, bleiben nach jeder gemeisterten Qualifikationshürde (Promotion, Habilitation oder vergleichbare Leistungen) immer weniger Stellenoptionen offen und ein Teil der qualifizierten Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler muss sich nach einer langen Qualifikationsphase außerhalb des angestrebten Berufsfeldes eine Erwerbsmöglichkeit suchen. Die im System Universität verbliebenen Personen sind erfolgreich aus dem Konkurrenzkampf hervorgegangen und müssen ihn auf anderen Ebenen (um Drittmittel, um Räume und Mitarbeiterstellen, um Leistungszulagen) weiterführen. Gleichzeitig wird von genau diesen Personen in der Lehre ein konträres Verhaltensmuster verlangt. Bei Modulbeschreibungen und bei Abstimmungsprozessen innerhalb der Module ist es notwendig zu kooperieren, zudem wird noch eine Kooperation mit internationalen Universitäten und mit Berufsverbänden gefordert. Diese Kooperation muss erst gelernt werden, da sie im bisherigen Studienangebot kaum eine Rolle spielte. Das Motto war eher „leben und leben lassen“, sodass viele private Spezialinteressen im Lehrangebot erkennbar waren. Werden die neuen Anforderungen an ein stärker strukturiertes und stärker aufeinander bezogenes Lehrangebot ernst genommen, kann sich dabei auch ein stärkeres Interesse am Wissen und am Schwerpunkt der Kolleginnen und Kollegen entwickeln. Es wäre zu wünschen, dass sich diese notwenige Kooperation auf der Lehrebene entwickelt und zu hoffen, dass sich so auch verstärkt Kooperationsbeziehungen auf der Forschungsebene entwickeln. Darüber hinaus wird immer deutlicher, dass die Reform Kooperationsbeziehungen nicht nur unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, sondern auf anderen Ebenen erfordert. Damit werden einerseits Kooperationen zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Behörden notwendig, andererseits aber auch zwischen Wissenschaft und Praxis oder zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Universitäten und verschiedener Nationen. Es ist zu hoffen, dass dies in absehbarer Zukunft gelingt, um das Studium in den neuen Studiengängen so attraktiv zu machen, wie es einmal ursprünglich geplant war.
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3.5 Studienbegleitende Prüfungen – Eine Chance für Lernende und Lehrende Studienbegleitende Prüfungen haben eine wichtige Rückmeldefunktion. Zum einen verdeutlichen sie den Studierenden schon früh im Studienverlauf, ob sie das gelernt und verstanden haben, was erwartet wird, um das Studium erfolgreich zu durchlaufen. Sind die Studierenden mit ihren Ergebnissen unzufrieden, können sie früh im Studienverlauf ihr Lernverhalten korrigieren und optimieren oder (notfalls) über Alternativen zum Studium nachdenken. Auf der anderen Seite sollte aber auch die Rückmeldefunktion der Prüfungsleistungen für die Lehrenden nicht außer Acht gelassen werden. Lehrenden bietet sich die Chance zeitnah zu erfahren, was von dem Stoff und den Kompetenzen, die sie vermitteln wollten, bei den Studierenden angekommen ist. Stellt sich heraus, dass in einem Modul ein großer Teil der Studierenden nicht die Kompetenzen erworben hat, die im Modul beschrieben wurden, dann könnte das auch daran liegen, dass die Vermittlung dieser Kompetenzen noch verbessert werden muss. Anders als bei den bisherigen Abschlussprüfungen könnten Lehrende so zeitnah (auch) etwas über die Effektivität ihrer Vermittlungstätigkeit lernen und – bei Misserfolg – ihre Lehre korrigierend und regulierend verändern. Für solche notwendigen Veränderungsprozesse wären eine hochschuldidaktische Beratung und Supervision ideal. Ebenso sinnvoll und weiterführend könnte eine kollegiale Beratung und Supervision sein. 3.6 Differenzierender Umgang mit individuellen Voraussetzungen und Interessen Ein großes Potential der modularisierten Bachelor- und Masterstudiengänge wird bisher noch nicht genutzt. Durch abgeschlossene Modulprüfungen müsste es theoretisch möglich sein, auch „häppchenweise“ zu studieren. Damit kann gemeint sein, dass z.B. Studierende mit Kindern je nach zeitlicher Möglichkeit einzelne Module schon während ihrer Erziehungszeiten studieren und abschließen. Das Gleiche ist für berufstätige Personen vorstellbar, die sich nebenberuflich weiter qualifizieren möchten. Genau so gut ist es aber auch vorstellbar, dass sich Studierende eine höhere Workload aufladen möchten, als in ihrem Studienverlaufsplan vorge-
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sehen ist. Sie erschließen sich so zusätzliche Kompetenzen oder erwerben die vorgesehenen Kompetenzen in einem kürzeren Zeitraum. Um diese Möglichkeiten zu nutzen, sind verschiedene Voraussetzungen zu schaffen. So ist es in Bundesländern mit Studienbeiträgen notwendig, diese Beiträge nicht als Gesamtsumme, sondern auch gestaffelt je nach Besuch von Lehrveranstaltungen zu bezahlen. Vorstellbar wäre z. B., dass Beiträge modulbezogen bezahlt werden. Ebenso gut könnten für bezahlte Beiträge Studiengutscheine ausgegeben werden, die flexibel eingelöst werden könnten. Besonders herausragende Studierende könnten – quasi als Belohnung – weitere Gutscheine bekommen. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass durch die modularisierten Studiengänge auch Fächerkombinationen studierbar geworden sind, die in den bisherigen Studiengängen in dieser Form nicht kombiniert werden konnten. Auf diese Weise können sehr spezifische Interessenlagen von Studierenden bedient werden. 3.7 Flexibilisierung statt Überregulierung Eine große Chance gestufter und modularisierter Studiengänge liegt in einer größeren Flexibilisierung des Studiums für die Studierenden. Sie sollen stärker als bisher entscheiden können, mit welchen Inhalten sie sich zu welchem Zeitpunkt in welcher Menge oder Konzentration an welchem Studienort beschäftigen möchten. Diese erwünschte Flexibilisierung trifft in Deutschland mit einer starken Überregulierung bei der Reformierung der Studiengänge zusammen. Da die Reform von wissenschaftlicher Seite wenig geliebt wurde, gingen erste Impulse häufig von Hochschulverwaltungen aus, was zu einer starken Bürokratisierung und Regulierung geführt hat. Diese bürokratischen, aber auch inhaltlichen Vorschriften, Regelungen, Gebote und Verbote in den Studienordnungen und Studienverlaufsplänen der Studiengänge müssen in einem nächsten Schritt liberalisiert werden, um Studierenden und Lehrenden eine realistische Chance zu geben, die erwarteten Anforderungen auch zu bewältigen. Die Forderung, Lehrinhalte kompetenzorientiert zu vermitteln, muss durch flexible Formen der Vermittlung (z. B. Projektstudium, forschendes Lernen) ermöglicht werden, die bisher nur wenig Berücksichtigung finden oder durch hochdifferenzierte Vorgaben kaum realisiert werden können.
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Solange die Reform der Reform noch nicht eingeläutet oder gar abgeschlossen ist, gilt es dafür zu sorgen, dass von Studierenden und Lehrenden nichts Unmögliches gefordert wird, sondern dass großzügige und flexible Formen der Anerkennung auswärtiger Studienleistungen zum Tragen kommen. Dabei werden Ämter und Institutionen lernen müssen, über ihren eigenen bürokratischen Schatten zu springen. 3.8 Neue Potentiale für Ressourcen Durch den Bologna-Prozess ist die Notwendigkeit der Verzahnung von universitärer Ausbildung und beruflicher Praxis deutlich in den Vordergrund gerückt worden. Obwohl die Annäherung von Wissenschaft und Praxis noch nicht optimal umgesetzt ist, bieten sich auf diese Weise Handlungsmöglichkeiten, die bisher ungenutzt waren. So ist z. B. zu erwarten, dass längerfristig Bachelor-Absolventen, die nach ihrem ersten Studienabschluss ins Berufsfeld gegangen sind, nach einigen Jahren an die Universität zurückkehren, um sich gezielt weiter zu bilden. Sie könnten durch ihre Erfahrungen viel genauer diejenigen Inhalte nachfragen, die sie für ihre berufliche Praxis brauchen. Ebenso ist aber auch denkbar, dass Anforderungen aus der Wirtschaft, aus der Industrie oder aus dem Dienstleistungssektor dazu führen, dass in Studiengängen Kompetenzen vermittelt werden, die bisher aufgrund tradierter Studienordnungen noch keinen Platz in universitären Studiengängen hatten. Vorstellbar ist auch, dass ein Teil der Hochschullehrenden zeitweise in außeruniversitären Arbeitsbereichen tätig ist, um so die dort benötigten Kompetenzen besser zu erkennen und in der Lehrpraxis zu vermitteln. Darüber hinaus könnten selbst Führungskräfte aus der Wissenschaft und aus außeruniversitären Einrichtungen von Hospitationen im jeweils anderen Handlungsfeld deutlich profitieren. 3.9 Ermöglichung des Teilzeitstudiums Lebenslanges Lernen ist in modernen Informationsgesellschaften eine wichtige Forderung. Wie dieses Lernen initiiert, angeleitet, unterstützt und aufrecht erhalten wird, ist jedoch sehr unterschiedlich. Neben selbst regulierten
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Formen des Lernens stehen die Angebote der Volkshochschulen, die betriebliche Weiterbildung und die Weiterbildungsstudiengänge. Modularisierte Studiengänge sind idealerweise dazu geeignet, eine weitere Form der Unterstützung des lebenslangen Lernens zu sein. Allerdings sollte es für diese Aufgabe ermöglicht werden, auch einzelne Module isoliert zu studieren (und nur für diese Studienbeiträge zu entrichten). So ist es z. B. vorstellbar, dass ein Lehrer sich weiteres pädagogisches Fachwissen aneignen oder eine Informatikerin sich mit einer neuen Programmiersprache gezielt auseinander setzen möchte. Nicht zuletzt sind Teilzeitstudiengänge wichtig für junge Eltern oder für Studierende, die sich ihr Studium durch eine eigene (mehr oder weniger zeitraubende) Erwerbstätigkeit selbst finanzieren müssen oder möchten. Teilzeitstudiengänge sind notwendig, um angesichts der momentan vorherrschenden beruflichen und privaten Patchworkbiographien einen Raum für individuelle, geistige und berufliche Weiterentwicklungen zu bieten. Modularisierte Studiengänge schaffen ideale Voraussetzungen für solche Teilzeitstudiengänge. 3.10 Prozessbegleitende Evaluation und Akkreditierung Als wichtiges Kennzeichen der modularisierten Studiengänge ist die vorgeschriebene Evaluation und Akkreditierung anzusehen. Diese wird häufig als lästige Pflicht im Prozess und als Kontrolle der Umstellung angesehen. Gerade in der Anfangsphase der Umstellung waren die Standards der Akkreditierung nicht immer ganz durchsichtig. Kolleginnen und Kollegen evaluieren sich gegenseitig und lassen dabei manchmal das rechte Augenmaß vermissen. Dennoch ist der fremde Blick auf Vertrautes und selbst Entwickeltes notwendig und hilfreich. Wird scheinbar Vernünftiges und Angemessenes in Frage gestellt, dann kann erprobt werden, wie weit die eigene Argumentation trägt und überzeugt. Die Akkreditierung und Reakkreditierung muss als Chance verstanden werden, im Prozess der Umstellung Fehler und Probleme zu erkennen und zu beheben. Dies setzt eine Offenheit aller Beteiligten voraus.
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Fazit und Ausblick
Die Umstellung auf die gestuften und modularisierten Bachelor- und Masterstudiengänge ist in Deutschland ein schwerfälliger Prozess. Zu groß sind die Widerstände gegen eine „von oben verordnete“ Reform, zu groß sind die Befürchtungen, Qualität und Anspruch der deutschen universitären Bildung blieben auf der Strecke. Dies führte dazu, dass die Reform im Wesentlichen von administrativer Seite initiiert und eingeleitet wurde und nicht immer mit den angemessenen und wünschenswerten Bedingungen in Lehre und Forschung in Übereinstimmung zu bringen ist. Schon mehren sich die Rufe nach einer Reform der Reform und nach einer Verlängerung des Prozesses über das Jahr 2010 hinaus. Dabei darf nicht verkannt werden, dass der Prozess nicht mehr umkehrbar ist, das Rad der Geschichte kann nicht mehr zurück gedreht werden. Umso mehr ist es nun notwendig, dass auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Berufsverbände ihre Verantwortung für das Gelingen der Reform übernehmen. Die Chancen der Reform müssen erkannt und ausgebaut werden. Überflüssiger Ballast muss abgeworfen werden. Ohne Zweifel sind im bisherigen Prozessverlauf viele Fehler gemacht worden. Fehler sind in solchen umfassenden Umstrukturierungsprozessen nicht zu vermeiden und völlig normal. Nun gilt es aber, das Lernpotential der Fehler zu erkennen und nicht beim Jammern und Klagen zu verharren. Die Reform der Studiengänge hat viel Energie und viel Zeit aller Beteiligten gekostet. Wenn sie gelingen soll, müssen noch etwas mehr Zeit und Energie investiert werden, um das Gelungene herauszustellen und das weniger Gelungene zu verbessern. Literatur Europäische Bildungsminister (1999): Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister vom 19. Juni 1999, Bologna Kultusministerkonferenz (2003): 10 Thesen zur Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12.06.2003 Lang, Thorsten (2007): Bachelor, Master und Auslandserfahrungen. Erwartungen und Erfahrungen deutscher Unternehmen . Bonn: Institut der deutschen Wirtschaft Köln
Kritisches Denken im Zeichen Bolognas: Rhetorik und Realität Otto Kruse
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Einführung
Während das Studium in Deutschland im Gefolge der Bologna-Reform unter wachsender Verschulung leidet, propagiert der Europäische Bildungsrahmen neuerdings ein Studium, das an der Entwicklung von kritischem Denken ausgerichtet ist. Der Bildungsrahmen fordert etwas ein, das - zumindest in Deutschland - im Zuge der Reformen gerade eliminiert zu werden droht. Der Beitrag geht von dieser widersprüchlichen Situation aus und untersucht, wie sich Rhetorik und Realität des kritischen Denkens in der gegenwärtigen Bildungspolitik zueinander verhalten. In internationalen Diskussionen wird kritisches Denken weitgehend unwidersprochen als übergeordnetes Ziel höherer Bildung akzeptiert (Siegel 1988, Kincheloe/Weil 2004), auch wenn der hohen Akzeptanz des Begriffs schnell Unklarheiten in seiner Definition und Didaktik entgegen gehalten werden (Boostrom 2005). Verständlich wird dieser Widerspruch, wenn man bedenkt, dass kritisches Denken in jeder Disziplin andere Ausprägungen annimmt, ähnlich wie vergleichsweise Kreativität in jeder künstlerischen Domäne anderes beschrieben werden muss. Zudem ist kritisches Denken ein Phänomen, das seine Form historisch ändert und in jeder Epoche anders definiert werden muss. Schließlich ist zu bedenken, dass kritisches Denken sowohl ein Ideal der Wissenschaften, als auch ein konkretes pädagogisches Ziel ist, was zu Überfrachtungen des Begriffs führt. In den bildungspolitischen Diskussionen des deutschsprachigen Raums spielt kritisches Denken derzeit kaum eine Rolle. Während in der Schulpädagogik der USA kritisches Denken als dominierendes Thema des 21. Jahrhunderts ausgerufen wurde, muss es in der deutschen Schulpädagogik eher als Feindbild herhalten (Kraak 2009). Astleitner, Brünken & Leutner (2009) gehen zwar nach wie vor davon aus, dass kritisches Denken ein zentrales
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Ziel der Schulpädagogik ist, sie bemängeln aber das Fehlen systematischer Unterrichtsprogramme (Astleitener/Brünken/Zander 2002). In der Hochschuldebatte dagegen, sowohl in den Diskursen der Bologna-Protagonisten als auch in den Diskursen der Bologna-Gegner (z.B. bei Liessmann 2006 oder Schultheis/Cousin/Roca i Escoda 2008), ist kritisches Denken kein Thema, so dass sein Auftauchen im Europäischen Qualifikationsrahmen überraschend ist. Um eine Basis für die Diskussion zu erhalten, wird kritisches Denken in diesem Beitrag zunächst zu seinen Ursprüngen zurückverfolgt, ehe dann einige der neueren, präzisierenden Konzepte referiert werden. Ausgangspunkt ist eine Rekonstruktion der Humboldtschen Unterrichtstradition, die erstmals in der Geschichte kritisches Denken nicht nur rhetorisch einforderte, sondern auch eine entsprechende Didaktik zur Verfügung stellte. Auf eine Ausbildung von kritischem Denken war nicht nur der Unterricht selbst ausgerichtet, sondern auch die Organisationsform der Hochschule. Anfangs (und heute wieder) wurde allerdings der Begriff „wissenschaftliches Denken“ dafür verwendet, nicht „kritisches Denken“. Letzterer ist von beiden der weitere Begriff, der, wie zu zeigen sein wird, den besseren Zugang zur Didaktik bietet. Wenn deutlich geworden ist, wie traditionellerweise die Ausbildung von kritischem Denken an den deutschsprachigen Universitäten erfolgt, lässt sich ermessen, welche Auswirkungen die Bologna-Reform darauf hat. Unter den heute viel beklagten Verschulungstendenzen sticht gerade der Verlust kritischen Denkens in der Ausbildung besonders hervor. Es wird rekapituliert, wodurch dieser Verschulungseffekt zustande kommt, ehe gezeigt wird, wie der europäische Bildungsrahmen kritisches Denken als Ziel der höheren Bildung wieder einführt. In einem weiteren Schritt wird dann ausgelotet, welche prinzipiellen Formen der Vermittlung von kritischem Denken es gibt und welche Möglichkeiten davon unter der Bologna-Reform bleiben. Der Beitrag schließt mit einigen Überlegungen zur Gestaltung von Curricula und Studiengängen. 2
Kritisches Denken in der Humboldtschen Tradition
Darstellungen der Reformen Humboldts werden oft auf dessen kurze Denkschrift „Über die innere und äußere Organisation der höheren wissen-
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schaftlichen Anstalten in Berlin“ reduziert, die er 1809 verfasst hat, und die erst ein knappes Jahrhundert später wieder aufgefunden und veröffentlicht wurde. Sie erlaubt einen Einblick in Humboldts Denken, verbirgt aber, dass Humboldts größtes Talent darin bestand, den besten Leuten seiner Zeit eine Bühne zu verschaffen. Er gab zwar den entscheidenden Anstoß zur Reform des Bildungswesens und verlieh dieser eine Richtung, die wichtigsten Entwicklungen aber entstanden aus einem dynamischen Prozess, der sich ohne sein Zutun entfaltete. Die Forderung nach Wissenschaftlichkeit war darin ebenso bedeutend wie die Gewährung von Freiheit in Forschung und Lehre, die die Differenzierung und Spezialisierung der wissenschaftlichen Disziplinen ermöglichte. Besonders viel verdankte Humboldt seinem Mitstreiter Friedrich Schleiermacher, auf dessen „Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn“ (1808/1956) er aufbaute (vgl. Rueegg 1997). In dieser Schrift beschrieb Schleiermacher, der länger als Humboldt die Entwicklung des preußischen Bildungswesens beeinflusste, die Grundidee der akademischen Lehre folgendermaßen: „Die Universität hat es also vorzüglich mit der Einleitung eines Prozesses, mit der Aufsicht über seine ersten Entwicklungen zu tun. Aber nichts Geringeres ist dies als ein ganz neuer geistiger Lebensprozess. Die Idee der Wissenschaft in den edleren, mit Kenntnissen mancher Art schon ausgerüsteten Jünglingen zu erwecken, ihr zur Herrschaft über sie zu verhelfen auf demjenigen Gebiet der Erkenntnis, dem jeder sich besonders widmen will, so dass es ihnen zur Natur werde, alles aus dem Gesichtspunkt der Wissenschaft zu betrachten, alles Einzelne nicht für sich, sondern in seinen nächsten wissenschaftlichen Verbindungen anzuschauen und in einen großen Zusammenhang einzutragen in beständiger Beziehung auf die Einheit und Allheit der Erkenntnis, dass sie lernen, in jedem Denken sich der Grundgesetze der Wissenschaft bewusst zu werden, und eben dadurch das Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen, allmählich in sich herausarbeiten, dies ist das Geschäft der Universität.“
Wissenschaftliches Denken machte für Schleiermacher das aus, was die Universität zu wecken verstehen muss und was die Ausgebildeten in die Lage versetzt, „zu forschen, zu erfinden und darzustellen.“ Vermittlung von Wissen schien Schleiermacher die Aufgabe der Schule zu sein und Wissen umfänglich in seinen inneren Bezügen darzustellen die Aufgabe der Akademien. Der Universität wies er die Aufgabe zu, dafür zu sorgen „dass […] die Idee des Erkennens, das höchste Bewusstsein der Vernunft als leitendes
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Prinzip in dem Menschen aufwacht (239).“ Unverkennbar, dass die Aufklärung bei diesem Gedanken Pate stand. Was Schleiermacher postulierte und Humboldt unmittelbar darauf bekräftigte, ist die Abkehr von einer Lehre, die auf der Tradierung von Wissen basiert und die Hinwendung zu einem Unterricht, der die Studenten lehrt, zu denken und zu erkennen. Akademische Freiheit hielt Schleiermacher für die Basis solcher Lern- und Entwicklungsprozesse. Er räumte ein, dass Studenten unter Zwang mehr lernen würden, „allein man vergisst, dass das Lernen an und für sich, wie es auch sei, nicht der Zweck der Universität ist, sondern das Erkennen; dass dort nicht das Gedächtnis angefüllt, auch nicht bloß der Verstand soll bereichert werden, sondern dass […]ein höherer, der wahrhaft wissenschaftliche Geist soll erreicht werden […] Dieses aber gelingt nun einmal nicht im Zwang, sondern der Versuch kann nur angestellt werden in der Temperatur der völligen Freiheit des Geistes (276).“ Schleiermacher sah, dass die Freiheit, die er für die Studierenden einfordert, auch eine äußere, politische Seite hat, jedoch wichtiger war ihm die pädagogische oder, wenn man den Begriff strapazieren will, die emanzipatorische Seite, dass nämlich “hier der Übergang zur Selbständigkeit (281)“ liegt, die Basis der Entwicklung von Persönlichkeiten, die sich aus „dem alten Abgedroschenen“ lösen können (281). Es war ihm wohl bewusst, dass diese Unterrichtsform nicht alle erreichen würde, jedoch plädierte er dafür, sich an den besseren Studenten zu orientieren, nicht an den schwächeren. Schleiermachers Vision von einer Lehre „in der Temperatur der völligen Freiheit des Geistes“ ließ sich in der von Humboldt reformierten Universität in einem beträchtlichen Ausmaß verwirklichen. Schlüssel zur Gestaltung einer entsprechenden Lehre wurde das Seminar, eine Unterrichtsform, die von einem weiteren Vertrauten aus Humboldts Umgebung, Friedrich August Wolf, zu einer Form entwickelt worden war, die tatsächlich wissenschaftlichen Geist zu wecken erlaubte. Schleiermacher wie Humboldt waren mit Wolf, wie auch mit seiner Unterrichtsform vertraut, als sie ihre Reformen begannen. Wolfs Seminar in Halle, in dem er Studenten in Altphilologie unterrichtete, war darauf ausgerichtet, wie er schon in dessen Konzeption 1787 formuliert hatte (Jackstel 1989), die Studierenden zu Selbsttätigkeit anzuleiten und sie ihr Wissen selbst erarbeiten zu lassen. Dazu stellte er ihnen wissenschaftliche Texte und Originalschriften zur Verfügung und ließ sie ihren Unterricht z.B. durch Vorträge selbst gestalten. Auch in wissenschaftliche Arbeiten bezog er sie ein. Wolf hatte damit das erste wissen-
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schaftliche Seminar geschaffen, das über das Wirken Schleiermachers und Humboldts zum Vorbild für die Universitätslehre der Zukunft werden sollte. Schleiermacher griff in seinen „Gelegentlichen Gedanken“ die Idee des Seminars auf und forderte, dass der Staat ihre Einrichtung unterstützen und finanzieren sollte. Ihm schienen Seminare einem Kreis ausgewählter Studierender vorbehalten und noch nicht, wie später, für die Mehrheit der Studierenden bestimmt zu sein. Schleiermacher gilt auch als Gründer des ersten Seminars an der neu gegründeten Berliner Universität, das 1812 an der theologischen Fakultät seine Arbeit aufnahm. Die Grundidee der Seminardidaktik (vgl. dazu Clark 1989, Kruse 2005a, b, 2006) lässt sich gut aus einem Antrag zur Gründung eines philologischen Seminars von Julius Zacher 1875 an der Universität Halle ersehen, das bei Lemmer (1956, 616) ausführlicher beschrieben ist. Zacher umreißt die Aufgabe des Seminars folgendermaßen: „Im gewöhnlichen Colleg ist der Hörer nur aufnehmend, also passiv. Das liegt in der Natur der Sache und lässt sich nicht ändern. Im Gegensatz dazu soll das Seminar ihn anleiten, activ zu werden, d.h. zunächst selbsttätig, und dann mit wachsender Einsicht, Kraft und Übung auch selbständig zu arbeiten. Erst dadurch wird die Wissenschaft ein wirklicher Besitz ...“
Diese Selbsttätigkeit im Seminar wird in Zachers Begründung vor allem durch „Übungen“ erreicht, von denen er besonders „Textkritik und Texterklärung, Referate, Kritiken, Erörterungen wissenschaftlicher und practischer Fragen, Vorträge und schriftliche Ausarbeitungen“ nennt (Lemmer 1956, 617). Besonders wichtig war Zacher „die Abfassung einer schriftlichen wissenschaftlichen Arbeit, denn sie erzieht vor allem zum lebendigen Erfassen der Wissenschaft und zu eigener selbständiger wissenschaftlicher Forschung.“ Zacher setzte aber gleich hinzu, dass „die Befähigung, einen Stoff ausreichend zu bewältigen und das Ergebnis dieser Bewältigung in mündlichem Vortrage klar und ansprechend darzulegen“ nicht weniger wichtig sei (Lemmer 1956, 617). Ausnahmslos alle Seminarreglements, wie von Koch (1840) zusammengestellt, enthalten die Verpflichtung der Seminaristen, eigene wissenschaftliche Arbeiten zu verfassen und sie im Seminar zur Diskussion zu stellen. Zwischen 1812 und 1900 sind schätzungsweise 80 Seminare an deutschen Universitäten gegründet worden, auch in den naturwissenschaftlichen Disziplinen, wie beispielsweise in Bonn, Halle und Königsberg (Olesko
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1991), in denen die Übungen in den Laboratorien abgehalten wurden und das Schreiben der Integration der Ergebnisse diente. Seminare wurden auf Antrag der Hochschulen durch Regierungsbeschluss gegründet, gaben sich jeweils ein eigenes Reglement und erhielten gesonderte finanzielle Zuwendungen. Sie waren dadurch nicht nur Unterrichtsstätten, sondern bildeten gleichzeitig die organisatorischen Kerne der sich ausdifferenzierenden Disziplinen. Im 20. Jahrhundert verloren die Seminare ihren elitären Charakter und wurden zur Regelveranstaltung für alle Studierenden. Studiengänge wurden so aufgebaut, dass eine Serie von Seminaren die Fähigkeit zu wissenschaftlichem Arbeiten sukzessive aufzubauen erlaubte. Neben den Seminaren, die exemplarisch eng abgesteckte, offene Themen aus aktuellen wissenschaftlichen Gebieten zum Thema hatten, gab es jedoch auch immer Vorlesungen, die systematisches Wissen vermittelten, das Grundlage für Prüfungen war. Der Kern der Lehre aber lag in der Vermittlung von Kompetenzen des wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens, deren Vorhandensein in Seminar- und Abschlussarbeiten geprüft wurden. Seminare waren es also, die die von Humboldt propagierte Verbindung von Forschung und Lehre leisten und die das von Schleiermacher avisierte „Vermögen selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen“ aufbauen sollten. Begeistert gefeiert wurde diese Unterrichtsform, als sie 1882 erstmals in den USA eingesetzt wurde, bezeichnenderweise in Harvard, wo der Historiker Ephraim, der das erste Seminar leitete, proklamierte, dass der Student nun nicht länger ein Empfänger des Wissens anderer, sondern ein Untersucher, Entdecker, Schöpfer sei (zit. nach Russell 2002, 83). Im Gefolge davon wurden in den USA nicht nur überall Seminare eingesetzt, sondern sogar ganze Universitäten nach deutschem Vorbild gestaltet. 3
Kritisches Denken als Grundhaltung der Wissenschaften
Nach dem Wissenschaftsenthusiasmus des 19. Jahrhunderts, in dem die Verwendung wissenschaftlicher Methoden schon allein als Garant für die Entstehung gültigen Wissens erschien und wissenschaftliche Erkenntnis vor allem gegen Eingriffe von außen verteidigt werden mussten, ist das 20. Jahrhundert zu einer sehr viel kritischeren Einstellung der Wissenschaften selbst gelangt. Die Vorstellung einer linearen, kontinuierlichen Wissensentwicklung wich einem Konzept, in der Innovation aus Diskontinuität resultiert,
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aus den kleineren und größeren Revolutionen, die eingefahrene Denkmuster, von Kuhn (1973) „Paradigmen“ genannt, von Zeit zu Zeit durch neue ersetzen. Auch Poppers (1994) kritischer Rationalismus enthält die Vorstellung, dass wissenschaftliche Erkenntnis als Produkt ständiger Falsifizierungen von theoretischen Postulaten zu verstehen ist. Er verlangt deshalb eine grundsätzlich kritische Einstellung gegenüber allem wissenschaftlichen Wissen. Einen anderen Ausgangspunkt und andere Lösungen als Kuhn und Popper wählte die kritische Theorie Horkheimers und Adornos, auch Frankfurter Schule genannt, die nicht zuletzt angesichts des Kniefalls vieler deutscher Wissenschaftler vor dem Nationalsozialismus der Wissenschaft eine selbst- und gesellschaftskritische Pflicht auferlegte (Behrens 2002, Bohman 2005). Auf Marx’ Gesellschaftsanalyse aufbauend, machte sie nicht nur die Kritik, sondern auch die Veränderung der bestehenden Verhältnisse zum Kernpunkt sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Statt Wertfreiheit und Neutralität forderte sie politisches Engagement und persönliche Emanzipation. Vernunft muss praktisch, parteilich und demokratisch sein, war ihr Credo, das das Verständnis von kritischem Denken im Deutschland der 60er und 70er Jahre wesentlich prägte, es damit aber auch auf gesellschaftskritisches Denken reduzierte. Wiederum in einem anderen Sinn machte Feyerabend (1974) das kritische Element in den Wissenschaften zum tragenden Prinzip, wenn er den Glauben an die Rationalität eines geregelten methodischen Vorgehens in den Wissenschaften zurückwies und die Abkehr bzw. das Durchbrechen von Regeln (und damit eine Abkehr von dem, was von einer Mehrheit zu einer gegebenen Zeit als vernünftiges Vorgehen angesehen wird) als wichtigste Grundlage von wissenschaftlicher Innovation bezeichnete. Mit diesen erkenntnistheoretischen Weichenstellungen setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass wissenschaftliches Denken keine einheitliche Größe ist, sondern eine disziplinspezifische, historisch geformte Art des Denkens. Diese Pluralisierung der Denkformen war natürlich auch ein Resultat der Differenzierung wissenschaftlicher Disziplinen selbst. Kritisches Denken wurde in dieser sich auflösenden Einheitlichkeit der Wissenschaft zum Sammelbegriff für alle Arten, die Qualität des Denkens zu kontrollieren und zu optimieren. Es wurde zu einem neuen Bindeglied der Wissenschaften, in dem sich folgende Elemente in jeweils unterschiedlicher Gewichtung auffinden lassen:
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Otto Kruse Logisches Denken: Logisches Schließen ist seit Aristoteles’ Formalisierung der Logik eines der grundlegenden Instrumente des kritischen Denkens und eine Basis des Argumentierens. Jede Art der Unterweisung in kritischem Denken muss darauf eingehen, was Argumente sind, wie sie begründet werden und wie aus Annahmen Schlüsse gezogen werden können. Auch fragliche und fehlerhafte Schlussweisen sind wichtiger Teil eines logischen Zugangs zum kritischen Denken. Lehrbücher zur Logik und zum wissenschaftlichen Argumentieren (z.B. Kamlah/Lorenzen 1974, Booth/Colomb/Williams 1995, Gil 2005, Vaughn 2008, Butterworth/Thwaites 2005, Brun/Hirsch-Hadorn 2009 informieren darüber. Skeptisches Denken: Schon in der Antike von Empiricus Sextus (2002) zum Kern einer philosophischen Lehre gemacht, bezeichnet Skepsis eine Form des Denkens, die den Zweifel zum wichtigsten Denkprinzip erhebt und keine letzten Wahrheiten akzeptiert (Sommer 2005). Skeptisches Denken kommt vor allem dort zum Tragen, wo es um die Prüfung der Wissenschaftlichkeit von Erkenntnissen und um die Abgrenzung zur Pseudowissenschaft geht. Im Prinzip verpflichten sich alle Wissenschaften zur Skepsis und verankern dies auch als Unterrichtsverpflichtung in der Lehre. Selbständiges Denken: Vor allem die Aufklärung war darum bemüht, das Denken aus religiöser Konformität und Autoritätshörigkeit zu befreien. „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ ist der Wahlspruch, den Kant der Aufklärung unterstellte und der bei Schleiermachers (1808/1956) Vorschlägen zur akademischen Lehre noch nachhallt. Später wurde selbständiges Denken vor allem unter den Begriffen „autonomes Denken“ und „nonkonformistisches Denken“ in der Sozialpsychologie untersucht. Dort ist es ein Denken, das unabhängig vom Urteil des sozialen Umfeldes ist. Selbständigkeit allein scheint noch keinen Schutz vor Vorurteilen und Voreingenommenheit zu bieten, ist aber eine Voraussetzung für jegliche Art von kritischem Denken. Naturwissenschaftliches Denken: Die größte Bedeutung für die Entstehung der Moderne hat sicherlich die Entstehung des naturwissenschaftlichen Denkens, das insofern kritisches und auch skeptisches Denken ist, als es jenseits von Religion, Mythos und Aberglaube die Frage nach den kausalen Zusammenhänge der materiellen Welt, aber auch die Frage nach der Kausalität selbst stellt. Für naturwissenschaftliches Denken typisch sind die Suche nach den Ursachen von Naturerscheinungen
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und die Entwicklung von empirischen Verfahren, mit denen sich Annahmen über Ursachen prüfen lassen. Der genaue Umgang mit Fakten als geprüften, anerkannten und zuverlässigen Wissenseinheiten ist typisch für naturwissenschaftliches Denken. Systematisches, methodisches Denken: Diese Art des kritischen Denkens beruht auf der Annahme, dass das Denken in feste Bahnen gelenkt werden müsse und die Methodik des Denkens expliziert werden muss, um zu Erkenntnis zu gelangen. Das gilt als Grundlage der empirischen Wissenschaften, besonders der Ingenieur- und Naturwissenschaften (vgl. z.B. VDI-Nachrichten 2006), aber ebenso der Philosophie (z.B. Lorenzen 1974). Natürlich kann man einwenden, dass diese Art des Denkens durchaus auch konformistisch und unreflektiert sein kann. Sie ist jedoch in vielen Wissenschaften Teil oder wenigstens Voraussetzung kritischen Denkens. Gesellschaftskritisches Denken: Das Hinterfragen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, um Machtverhältnisse, Abhängigkeiten und ideologische Hintergründe zu erkennen, hat seine elaborierteste Form in der Philosophie von Karl Marx gefunden, die paradigmatisch gezeigt hat, wie Ideologie entsteht und wie sie identifiziert werden kann (z.B. Leonardo 2004, Brookfield 2005). Die kritische Theorie griff diesen Ansatz auf und verband ihn mit zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher und philosophischer Theoriebildung (Bohman 2005). Vernetztes, komplexes oder systemisches Denken: Diese Art des Denkens geht davon aus, dass einfache Ursache-Wirkungs-Ketten komplexe Realitäten nicht abbilden können, sondern dass es darauf ankommt, die systemisch vernetzten Strukturen von komplexen (lebenden) Systemen mit ihrer Vielzahl von interagierenden Variablen zu erkennen (z.B. Vester 1999, Davis/Sumara 2006). Dieser Ansatz wurde in den Umweltwissenschaften, aber auch in der Volkswirtschaftslehre oder der Denkpsychologie (Dörner 1989) besonders beachtet. Selbstreflexives und metakognitives Denken: Damit sind Denkbewegungen gemeint, die auf die Reflexion des eigenen Denkens abzielen und die in der Fähigkeit bestehen, die eigenen kognitiven Prozesse zu erkennen und zu steuern (siehe Kurfiss 1988 für einen Überblick). Paul/Elder (2005a, 1) vermuten darin den Kern kritischen Denkens und definieren: „To be skilled in critical thinking is to be able to take one´s thinking apart systematically, to analyze each part, assess it for quality and then
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Otto Kruse improve it“. Auch innerhalb der Fachwissenschaften liegen die Fehlermöglichkeiten oft weniger im Gebrauch der Methoden als in der Person des Untersuchers oder der Untersucherin, wie Sternberg (2007, 290) darstellt: „The most difficult critical evaluation to make in psychology is often of oneself.“ Blindheit gegenüber eigenen Schwächen zu überwinden, hält er für eine der wichtigsten Aufgaben kritischer Wissenschaft.
Vermutlich würde man noch mehr Arten des kritischen Denkens identifizieren können, wenn man die Einzeldisziplinen durchforstet. Konstruktivistisches Denken, anthropologisches Denken, gendergerechtes Denken und nachhaltiges Denken wären sicherlich weitere Kandidaten auf der Liste. 4
Kritisches Denken in pädagogischen und hochschuldidaktischen Konzeptionen
Eine pädagogisch bzw. hochschuldidaktisch ausgerichtete Konzeptualisierung von kritischem Denken begann in den USA etwa zeitgleich mit der kognitiven Wende in den Sozialwissenschaften. Schon früher, seit den 40er Jahren, waren periodisch Verbesserungen des akademischen Unterrichts angemahnt worden, in denen kritisches Denken als Schlüssel für eine optimale Bildung erwähnt wurde. Dewey (1933, 1938) betonte die Bedeutung reflexiven Denkens und propagierte eine wissenschaftliche Ausbildung, in der reflexives Lernen eingesetzt wird, um Gelerntes mit persönlicher Erfahrung zu integrieren. Dewey griff Grundelemente des Humboldtschen Bildungsmodells auf, begann aber darüber hinaus genauer aufzuschlüsseln, wie das Denken der Studierenden beschaffen ist und durch die Lehre beeinflusst wird. In der Folge entstanden neue Konzepte, Messverfahren und Unterrichtsvorhaben, die das kritische Denken nicht allein aus der Logik der Wissenschaft, sondern auch aus der Warte der Lernenden betrachten. Die Versuche, kritisches Denken konzeptionell zu fassen und zu definieren, sind instruktiv, da sie dessen verschiedene Seiten hervorheben. Einige der Definitionen sollen im Folgenden dargestellt werden. Kurfiss (1988, 2) bezeichnet in einer weit rezipierten Überblicksarbeit kritisches Denken als
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“a rational response to questions that cannot be answered definitively and for which all the relevant information may not be available.”
Kritisches Denken ist hier identisch mit einem rationalen, begründeten Umgang mit offenen Fragen. Konsequenterweise definiert Kurfiss (1988, 3) kritisches Denken als eine Vorgehensweise, die darauf abzielt, diese Unsicherheit durch sorgfältige Prüfung aller vorhandenen Informationen zu reduzieren, wenn sie kritisches Denken bezeichnet als “an investigation whose purpose is to explore a situation, phenomenon, question, or problem to arrive at a hypothesis or conclusion about it that integrates all available information and that can therefore be convincingly justified.”
Hier ist kritisches Denken eine rationale, umsichtige und gründliche Art des Umgangs mit Informationen mit dem Ziel, zu Aussagen zu gelangen, die den vorhandenen Informationen überzeugend gerecht werden. Kritisches Denken wird abermals als wissenschaftliches Handeln („investigation“), nicht einfach als Form eines kognitiven Prozesses dargestellt. Für dieses Handeln ist charakteristisch, so Kurfiss weiter, dass alle Annahmen in Frage gestellt, verschiedene Gesichtspunkte „aggressiv“ gesucht und berücksichtigt werden, damit die Untersuchung nicht in eine einseitige Richtung gedrängt wird. Kritisches Denken ist in Kurfiss’ Definition mit wissenschaftlichem Denken und Handeln weitgehend identisch. Dies entspricht einer gängigen, wissenschaftsüblichen Verwendungsweise, ist aber nicht für alle Kontexte (auch Praktiker sollten kritisch denken, auch Schulen sollten kritisches Denken vermitteln) so verwendbar. In der Wikipedia wird (2006) kritisches Denken folgendermaßen definiert: “Critical thinking consists of a mental process of analyzing or evaluating information, particularly statements or propositions that people have offered as true. It forms a process of reflecting upon the meaning of statements, examining the offered evidence and reasoning, and forming judgements about the facts.”
In dieser Definition wird zunächst die Tatsache hervorgehoben, dass kritisches Denken ein mentaler Prozess der Reflexion von Aussagen ist, und
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nicht eine Form des Handelns. Hier geht es primär um den Umgang mit Wahrheitsbehauptungen, um die Prüfung von Belegen und die Beurteilung von Fakten. An gleicher Stelle der Wikipedia heißt es weiter: “Critical thinkers can gather such information from observation, experience, reasoning, and/or communication. Critical thinking has its basis in intellectual values that go beyond subject-matter divisions and which include: clarity, accuracy, precision, evidence, thoroughness and fairness”.
Kritisches Denken wird hier nicht nur in den typisch wissenschaftlichen Formen der Informationsgewinnung wie Beobachtung, Erfahrung, Argumentieren und Kommunizieren verankert, sondern auch in intellektuellen Werten wie Klarheit, Genauigkeit, Präzision, Begründetheit, Sorgfalt und Fairness. Es geht also auch um Qualitätsmaßstäbe des Denkens. Wieder anders akzentuiert ist die Definition von Paul/ Elder (2003, 1): „Kritisches Denken ist jene Art des Denkens (gültig für alle Gegenstände, Inhalte oder Probleme), bei der eine Person die Qualität ihres Denkens steigert, indem sie es sich zur Pflicht macht, die inhärenten Strukturen des Denkens sachkundig zu befolgen und sie an intellektuellen Normen zu messen“.
Hier werden die Aspekte der Eigensteuerung und der Selbstreflexivität des Denkens besonders hervorgehoben, in Verbindung mit dem Befolgen intellektueller Normen. Kritisches Denken ist bewusstes Denken, lautet etwas pointiert ihr Credo, wenn sie an gleicher Stelle sagen: „Kritisches Denken heisst in Kürze: selbstgesteuertes, selbstdiszipliniertes, selbstüberwachtes und selbstkorrigierendes Denken. Es setzt die Bejahung und Beherrschung strenger Qualitätskriterien voraus. Es führt zu wirkungsvollen Kommunikations- und Problemlösungsfähigkeiten und zur Dauerverpflichtung, den angeborenen Egoismus bzw. Gruppenegoismus zu überwinden.“
Auch Paul/ Elder betonen also die Bedeutung von Qualitätsmaßstäben. Sie ergänzen die Begriffsbestimmung dadurch, dass sie soziale Aspekte wie „Kommunikations- und Problemlösefähigkeit“ hinzufügen sowie das Vermögen, eigene Interessenspositionen durchschauen und ihre Wirkung auf das Denken ermessen zu können. Anders als in den vorher referierten Positionen sehen sie kritisches Denken als weitgehend unabhängig von der Do-
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mäne oder Disziplin, in der es auftritt. Dieser Meinung wird heute oft widersprochen (z.B. von Willingham 2007). Ein Ideal des kritischen Denkens formuliert die American Philosophical Association in ihrer Delphi-Studie (Facione 1990), in der sie den Blick vom kritischen Denken als Prozess zum kritischen Denker oder der kritischen Denkerin als Person lenkt: “The ideal critical thinker is habitually inquisitive, well-informed, trustful of reason, open-minded, flexible, fair-minded in evaluation, honest in facing personal biases, prudent in making judgments, willing to reconsider, clear about issues, orderly in complex matters, diligent in seeking relevant information, reasonable in the selection of criteria, focused in inquiry, and persistent in seeking results that are as precise as the subject and the circumstances of inquiry permit.”
In dieser Studie stehen zwei Kernelemente des kritischen Denkens im Vordergrund: kognitive Kompetenzen und affektive Dispositionen, wovon die eine der prozessoralen und die andere der dispositionellen Seite des kritischen Denkens zugeordnet wird. Darüber, ob die beiden immer Hand in Hand gehen, waren sich die Experten nicht einig. Ein Drittel von ihnen wollte das, was kritisches Denken als Prozedur betrifft, strikt trennen von dem, was die kritischen Denker als Personen angeht. Dass die prozessorale Seite die entscheidende ist, darüber waren sie sich allerdings einig. Will man kritisches Denken unterrichten, so schlussfolgern die Teilnehmer dieser Studie dann wieder unisono, muss man beide Aspekte berücksichtigen: „Thus, educating good critical thinkers means working towards this ideal. It combines developing critical thinking skills with nurturing those dispositions which consistently yield useful insights and which are the basis of a rational and democratic society (Facione 1990, 2).“
Kritisches Denken lässt sich dieser Studie zufolge also nicht allein anhand des Vorgehens (Denken, Argumentieren, Informationsgewinnung) beschreiben, sondern erfordert darüber hinaus auch, Kompetenzen, Einstellungen und Haltungen der denkenden Person zu berücksichtigen. Es ist Teil einer umfassenderen Bildung in einer demokratischen, auf Rationalität beruhenden Gesellschaft.
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Die Liste von Definitionen zeigt, dass kritisches Denken kein einfacher und kein eindimensionaler Begriff ist. Es ist ein Sammelbegriff für alle Versuche, das Denken zu präzisieren, kontrollieren und gegen Irrtümer abzusichern, die von einer bewusst handelnden und denkenden Person ausgehen. Kritisches Denken ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein gesellschaftliches Erfordernis. Es hat logische, kognitive, methodische, ethische, soziale und emotionale Bezüge. Es kann nicht losgelöst von den Persönlichkeiten entwickelt werden, die es praktizieren sollen. „Kritisches Denken“ ist deutlich weiter gefasst als der Begriff „wissenschaftliches Denken“, auch wenn beide Begriffe in den Wissenschaften selbst oft synonym verwendet werden. Kritisches Denken ist darüber hinaus auch ein wesentliches Bildungsziel der Schule und wird dort durch viele verschiedene Formen der bewussten Einflussnahme auf die Qualität des Denkens, Selbständigkeit des Urteilens und Rationalität des Handelns ausgebildet. Der Ausgangspunkt für die Vermittlung kritischen Denkens sollte bereits in der Grundschule liegen (Kuhn 2005). 5
Folgen des Bologna-Prozesses
Die deutschsprachigen Hochschulen sind, wie dargestellt, seit knapp zweihundert Jahren darauf angelegt, ihre Studierenden zu selbständigem, wissenschaftlichem und letztlich kritischem Denken anzuhalten. Ein Studiensystem, in dem die Vermittlung von systematischem Wissen (Vorlesungen) mit der Vermittlung von Kompetenzen des Denkens und wissenschaftlichen Arbeitens anhand exemplarischer Themen (Seminare) verbunden ist, bildet den Kern der Hochschullehre. Zwar ist das das System durch die lange Überlast an Studierenden seit den 60er Jahren, durch bürokratische Gängelung der Hochschulen, aber auch durch selbstgefällige Idealisierung der Humboldtschen Traditionen an den Hochschulen selbst, gehörig erodiert, aber der Kern des Ausbildungssystems ist erhalten geblieben. Bis heute ist die Identität einer überwiegenden Mehrheit der Lehrenden einem Humboldtschen Bildungsideal samt entsprechenden Unterrichtsverfahren verpflichtet. Mit der Bologna-Erklärung 1999 und den nachfolgenden Ergänzungen durch Ministerbeschlüsse auf europäischer Ebene wurden Entwicklungen in Gang gesetzt, die zu einem Bruch mit diesen Traditionen führten. Zwar
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lassen sich auch in der Zeit vor Bologna schon Anzeichen einer zunehmenden Regulierung der Studiengänge feststellen, jedoch blieben die Prämissen der Humboldtschen Bildungskonzeption noch weitgehend unangetastet. In der kurzen Zeitspanne seit 1999 aber hat sich das Studieren in den deutschsprachigen Ländern in seinem Wesen verändert und ist Eingriffen ausgesetzt, die erfolgreich mit den Humboldtschen Traditionen brechen. Nur an wenigen Punkten, z.B. der Forderung nach explizitem Bezug der universitären Ausbildung zum Beschäftigungssystem, scheint Bologna direkt gegen die Intentionen Humboldts gerichtet (der die universitäre Lehre von solchen äusseren Bezügen frei halten wollte). Es ist eher der Formalismus in der Umsetzung der Bologna-Erklärung (europäische Vergleichbarkeit, Spezifizierung von Leistungen, höhere Strukturierung der Studiengänge) verbunden mit der Komprimierung von Studieninhalten auf kürzere Studienzeiten, die die alten Studien- und Unterrichtskulturen zerstören. Im Folgenden sind die wichtigsten Ziele des Bologna-Prozesses aufgeführt:
Ein zweistufiges, europaweites System von Studienabschlüssen (Bachelor/ Master) zu schaffen Ein Leistungspunktesystem einzuführen, das Studienleistungen international vergleichbar macht Das Studium enger auf die Beschäftigungssysteme zu beziehen Studentische Mobilität durch Beseitigung von Mobilitätshemmnissen zu fördern Ein europaweites System der Qualitätssicherung aufzubauen Einen integrierten europäischen Hochschulraum zu schaffen Akkreditierungsorganisationen ins Leben zu rufen, die die Qualität aller Studiengänge überwachen Das Studium in ein Konzept des lebenslangen Lernens einzubetten Die Doktorandenausbildung als Studiengang zu konzipieren, so dass ein dreistufiges Ausbildungssystem entsteht.
Die Umsetzung dieser Punkte führt zu nachhaltigen Änderungen in der Studienorganisation, in den Curricula und dem Studienverhalten:
Verkürzung der Studiengänge und Verdichtung des Lehrstoffs Kanonisierung und Festschreibung von Unterrichtsstoff und zu vermittelnden Kompetenzen
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Otto Kruse Verringerung von Wahlmöglichkeiten für Lehrveranstaltungen Erhöhung der Kontrolle von Leistungen Verringerung der Bearbeitungszeiten für wissenschaftliche Arbeiten Wegfallen der Zwischen- und Abschlussprüfungen, damit auch Verlust von längeren prüfungsfreien Phasen Verpflichtende Prüfungen als Teil jeder Lehrveranstaltung Spezifizierung der auszubildenden Kompetenzen Verringerung der Mobilität aufgrund der überstrukturierten Studienpläne.
An der Oberfläche (und auf den Webseiten der Ministerien) scheinen diese Veränderungen das Studieren in geordnetere Bahnen zu lenken. Studiengänge müssen überdacht und verschlankt, die zu vermittelnden Kompetenzen spezifiziert werden. Zusammengehöriges wird in Module gepackt und die kontinuierlichen Prüfungen erlauben ein laufendes Überwachen des Studienfortschritts. Der internationale Qualitätsrahmen lenkt die Lernziele in vergleichbare Bahnen. Akkreditierungsorganisationen überprüfen die Einhaltung der Qualitätskriterien. Veranstaltungen zu Schlüsselkompetenzen ergänzen den Studienplan mit Themen, die früher unbeachtet blieben. Woher kommt bei so viel Positivem der Widerstand gegen die BolognaReform, dem sich mittlerweile schon die anfänglich treuesten Unterstützer angeschlossen haben, wie z. B. der deutsche Hochschulverband? Ist es denn nicht richtig, die Studiengänge besser zu strukturieren, klare Ziele zu definieren, Zusammengehöriges zu Modulen zu vereinen, zu erwerbende Kompetenzen zu isolieren, definieren und laufend zu prüfen? Ist das nicht das, was jede vernünftige Pädagogik tun muss? Betrachtet man die Folgen für die Studierenden, so kommt man zu einer gegenteiligen Ansicht und einer eher deprimierenden Bilanz der Reform. Für die Studierenden heute erscheint ein Studium vor allem als eine Aneinanderreihung von Lern- und Prüfungsanforderungen. Fachwissen und fachliche Kompetenzen werden zwar in überschaubare Portionen eingeteilt und Lernen wird, oft mit medial attraktiv gestalteten Instruktionen, zum Kinderspiel gemacht. Studentische Intelligenz wird vor allem darin ausgebildet herauszufinden, wie die nächste Prüfung mit geringstem Aufwand zu bestehen ist. Wahlmöglichkeiten werden eingeschränkt, so dass es unnötig ist, sich über die eigene Kompetenzentwicklung Gedanken zu machen. Ergebnisoffene Lehrveranstaltungen wie Projekte, Seminare und Praxisanteile
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sind Kann-Grössen geworden, die den knappen Studienzeiten und festgezurrten Modulen immer häufiger zum Opfer fallen. Es gibt immer weniger Gründe für die Studierenden, die Wahrheit professoralen Wissens anzuzweifeln und selbst nachzudenken. Studieren wird zwar leichter in der Bologna-Universität, aber die Mühen des selbständigen Denkens und Entscheidens werden den Studierenden immer häufiger abgenommen. Eigene Meinungen werden selten verlangt, und eher als Stolperstein auf dem Weg zur nächsten Klausur wahrgenommen. Der Credit Point zählt mehr als die Lernerfahrung, die hinter ihm steht. Nicht selten vergeht ein ganzes Studium, ohne dass Zeit war, auch nur ein einziges Fachbuch aus eigenem Interesse zu lesen. Um noch einmal den Unterschied zu pointieren: Die Humboldtsche Universität mit ihrer Betonung der studentischen Entscheidungsfreiheit und des forschenden Lernens hatte das Ziel, die Studierenden durch eine Begegnung mit der Wissenschaft in einen dynamischen, persönlich wie fachlich bedeutsamen Entwicklungsprozess zu involvieren. Die Bologna-Hochschule dagegen, mit ihrer genauen Aufschlüsselung von Lernleistungen, Kompetenzen und Prüfungsinhalten, zielt darauf ab, Leistungen vergleichbarer und das Studieren effizienter zu machen. Der Ausrichtung auf einen individuellen Bildungsprozess steht jetzt die Ausrichtung auf ein normiertes, eng geführtes, risikoarmes Lernerlebnis gegenüber (was in Humboldts Verständnis gar keine Bildung mehr wäre). 6
Kritisches Denken im europäischen Qualifikationsrahmen
Zu den neuen Direktiven, die die Bologna-Reform hervorgebracht hat gehört auch die rhetorische Figur vom „Perspektivwechsel [...] vom Lehrenden zum Lernenden und zu den im Studium zu erwerbenden Kompetenzen“ (Zervakis/Wahlers 2007, 2). Dieser Perspektivwechsel meint eine Lehre, die von den Lernenden her gedacht wird und die deren Perspektive auf Lernen und Lernaufwand etc. genauer in den Blick nimmt. Statt des Lerninputs soll der Output spezifiziert werden. Der Begriff „Kompetenz“ zielt darauf, nicht nur Wissen, sondern auch komplexe Fähigkeiten zu entschlüsseln und – sofern geeignete Trainingsverfahren vorhanden sind – auch gezielt zu unterrichten.
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Gegen eine solche Sichtweise ist zunächst nur einzuwenden, dass sie etwas in Kraft zu setzen versucht, das längst existiert. In der Humboldtschen Tradition ist, wie dargestellt, von Anfang an eine an Kompetenzen orientierte Lehre praktiziert worden, die, weit mehr als es heute unter dem Zeichen Bolognas geschieht, das Studieren als Trainingsfeld für die Ausbildung von intellektuellen und methodischen Fähigkeiten gesehen hat. Nur der Begriff „Kompetenz“ ist neu und setzt eine intensivere Didaktisierung akademischen Lernens in Gang. Dafür verschwindet, was unter Humboldt den Kern ausmachte: Die Studierenden als Partner in einem kollaborativen Lern-/Forschungsprozess zu sehen. Die Studierenden werden zum Objekt der Didaktik und verschwinden als Akteure und Persönlichkeiten aus den Lernarrangements. Hinter der Einführung einer kompetenzorientierten Sichtweise, am augenfälligsten im Schulbereich wahrnehmbar, steht der Wille zur Normierung von Unterricht durch Bildungsstandards (Klieme et al. 2007). Der Übergang von einer wissens- zu einer kompetenzorientierten Lehre ist, wie dargestellt, bereits zweihundert Jahre zuvor geschehen, als man mit Seminaren und Laboren als neuen Unterrichtsgefäßen zu experimentieren begann, und als die Studierenden nicht mehr einfach Wissen aus zweiter Hand von ihren Professoren serviert bekamen, sondern selbst lernen konnten, wie man forscht, lernt und denkt. Was man sich heute von der neuen kompetenzorientierten Sichtweise erhofft, eine genauere Aufschlüsselung der auszubildenden Fähigkeiten, ist sicherlich eine Bereicherung der Didaktik, wird aber durch eine gleichzeitig immer mehr in den Vordergrund tretende Einengung und Entmündigung zunichte gemacht. Sie trainiert im Wesentlichen Kompetenzen des Überlebens angesichts hoher Prüfungsforderungen, kaum aber kritisches und eigenständiges Denken. Während die realen Entwicklungen im Hochschulbereich auf eine verstärkte Verschulung hinauslaufen, hat sich im Rahmenwerk der europäischen Bildungspolitik eine Verschiebung in die gegenläufige Richtung ergeben, in der kritisches Denken plötzlich wieder als zentrales Ausbildungsziel der höheren Bildung eingefordert wird. Mit der Formulierung von Deskriptorensystemen wurde ein Bildungsrahmen geschaffen, der Qualitätsanforderungen an die Hochschulausbildung europaweit einheitlichen definieren soll. Dieser Rahmen entstand in mehreren Schritten. So wurden 2004 zunächst die Dublin Descriptors, von der Joint Quality Initivative entwickelt (siehe www.jointquality.org), einer transnationalen Arbeitsgruppe, die sich die Ver-
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einheitlichung europäischer Ausbildung zur Aufgabe gemacht hat (Kohler 2004). Die Dublin Descriptors wurden von der EU-Ministerkonferenz in Bergen 2005 als Ausgangspunkt für die Entwicklung eines europäischen Hochschulraums angenommen (Bologna Working Group on Qualifications 2005) und sollen bis 2010 durch nationale Qualifikationsrahmen ergänzt werden. Ein Qualifikationsrahmen für deutsche Hochschulabschlüsse wurde bereits 2005 beschlossen (Kultusministerkonferenz 2005a). Im Jahr 2008 schliesslich wurden vom Europäischen Parlament und Rat Empfehlungen „zur Einrichtung des Europäischen Qualifikationsrahmens für lebenslanges Lernen“ verabschiedet, der abermals die Dublin Descriptors aufgreift, sie dieses Mal aber in einem achtstufigen Niveausystem arrangiert, in dem die Qualifikationszyklen des Studiums die drei obersten Plätze sechs bis acht einnehmen (Europäischer Rat 2008). Die entsprechenden nationalen Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sind noch in der Diskussion (Stand: Ende 2008). Diese drei Deskriptorensysteme – Dublin Descriptors, deutscher Qualifikationsrahmen für Hochschulabschlüsse und Europäischer Qualifikationsrahmen – sollen im Folgenden danach betrachtet werden, was sie über kritisches Denken aussagen. In den Dublin Descriptors wird – im Gegensatz zu den späteren Deskriptorensystemen – das Adjektiv „kritisch“ überhaupt nur einmal verwendet. Das, was Absolventen der Bachelor-Ausbildung gemäß den Dublin Descriptors können sollen, ist weitgehend durch die Fähigkeit zur Wissensreproduktion und zu einfachen Wissensanwendungen charakterisiert. Die Fähigkeiten, Argumente zu formulieren, Problemlösungen zu finden und Informationen zu sammeln, werden als niveautypische Kompetenzen der BachelorStufe beschrieben. Offensichtlich stand hier das Bild flexibler Fachleute Pate, die mit dem im Studium vermittelten Fachwissen gekonnt umgehen können. Nach deutschem Verständnis ist das Fachschul-, nicht Hochschulniveau. Als Beschreibung der Kompetenzen auf der Master-Stufe, immer noch nach den Dublin Descripors, taucht kritisches Denken implizit auf, wenn von „Originalität bei der Entwicklung oder Anwendung von Ideen“ oder von der Fähigkeit, „Urteile auf der Basis unvollständiger oder begrenzter Informationen zu fällen, gesprochen wird.“ Hier werden zumindest einige Aspekte kritischen Denkens verlangt, auch wenn dies verbrämt und indirekt ausgedrückt wird und noch unterhalb der Schwelle von wissenschaftlichem
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Denken angesiedelt ist, das immer am aktuellen Wissensstand als Referenzgröße anknüpft. Im dritten Zyklus, der postgradualen Ausbildung, werden in den Dublin Descriptors erstmals wissenschaftliche Kompetenzen verlangt. Neben der „Beherrschung der Fertigkeiten und Methoden zur Forschung auf dem jeweiligen Gebiet“, wird auch die Fähigkeit verlangt, Forschung auf internationalem Niveau zu konzipieren und umzusetzen. Mit der „Fähigkeit zur kritischen Analyse, Bewertung und Synthese neuer und komplexer Ideen“ taucht auch der Begriff „kritisch“ erstmals auf. Der Sprung von der zweiten zur dritten Stufe ist relativ groß. Das Doktorat verlangt eine sehr hohe Stufe intellektueller Könnerschaft. Die deutsche Variante des Qualifikationsrahmens (Kultusministerkonferenz 2005a) hat gegenüber den Dublin Descriptors in Sachen kritisches Denken nachgelegt. Hier wird schon im ersten Zyklus ein „kritisches Verständnis“ verlangt. Das Wissen und Verstehen soll nicht mehr auf dem Niveau von „Lehrbüchern für Fortgeschrittene“ beruhen, wie in den Dublin Descriptors verlangt, sondern auf dem von „Fachliteratur“. Es sollen zudem nicht mehr nur „einige Aspekte“ ihres Wissens sondern einige „vertiefte Wissensbestände“ auf dem aktuellen Stand der Forschung aufbauen. Aus dem „Formulieren von Argumenten“ wurden jetzt „wissenschaftlich fundierte Urteile“. Auf der Master-Ebene sollen die Absolventen entsprechend dem deutschen Qualifikationsrahmen „über ein breites, detailliertes und kritisches Verständnis auf dem neusten Stand des Wissens in einem oder mehreren Spezialbereichen“ verfügen. Hier werden eigenständiges Denken und kritisches Verständnis ausdrücklich gefordert. Die Anbindung an den Stand der Forschung wird verlangt. Auf der Postgraduierten-Stufe wird den Absolventen schliesslich – zusätzlich zu den in den Dublin Descriptors formulierten Qualifikationen – auferlegt, „den gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und/oder kulturellen Fortschritt einer Wissensgesellschaft in einem akademischen oder nichtakademischen Umfeld voranzutreiben.“ Das ist zwar etwas kryptisch formuliert, dürfte aber nichts anderes ausdrücken als dass Doktorandinnen und Doktoranden etwas Neues erforschen sollen, wie es schon immer von Doktoranden gefordert wurde. Der als letztes entstandene „Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen“ (Europäischer Rat 2008) enthält sehr viel kürzere Beschreibungen der
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Deskriptoren, die dafür aber in acht Niveaustufen eingeteilt sind, von denen die Stufen 6 - 8 den Studienzyklen 1 - 3 der Hochschulausbildung entsprechen. Beschrieben werden Lernergebnisse hier unter den Rubriken „Kenntnisse“, „Kompetenzen“ und „berufliche Qualifikationen“. In Tabelle 1 findet sich eine Zusammenstellung der ersten beiden Kategorien.
Kenntnisse
Kompetenzen
6.
Fortgeschrittene Kenntnisse in einem Arbeits- oder Lernbereich unter Einsatz eines kritischen Verständnisses von Theorien und Grundsätzen
7.
Hoch spezialisiertes Wissen, das zum Teil an neueste Erkenntnisse in einem Arbeits- oder Lernbereich anknüpft, als Grundlage für innovative Denkansätze und/oder Forschung Kritisches Bewusstsein für Wissensfragen in einem Bereich und an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Bereichen Spitzenkenntnisse in einem Arbeits- oder Lernbereich und an der Schnittstelle zwischen verschiedenen Bereichen
Fortgeschrittene Fertigkeiten, die die Beherrschung des Faches sowie Innovationsfähigkeit erkennen lassen, und zur Lösung komplexer, nicht vorhersehbarer Probleme in einem spezialisierten Arbeits- oder Lernbereich nötig sind Spezialisierte Problemlösefähigkeiten im Bereich Forschung und/oder Innovation, um neue Kenntnisse zu gewinnen und neue Verfahren zu entwickeln sowie um Wissen aus verschiedenen Bereichen zu integrieren
8.
Weitest fortgeschrittene und spezialisierte Fertigkeiten und Methoden, einschliesslich Synthese und Evaluierung, zur Lösung zentraler Fragestellungen in den Bereichen Forschung und/oder Innovation und zur Erweiterung oder Neudefinition vorhandener Kenntnisse oder beruflicher Praxis
Tabelle 1: Europäischer Qualifikationsrahmen: Kenntnisse und
Kompetenzen in den Niveaustufen 6 - 8 (Bachelor-, Master- und Postgraduiertenstufe). Quelle: Europäischer Rat (2008)
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Das geforderte Niveau für die Abschlüsse in den drei Zyklen wurde, wie Tabelle 1 zeigt, im Europäischen Qualifikationsrahmen abermals angehoben. Die Beschreibung der Bachelor-Stufe im Qualifikationsrahmen entspricht in etwa der der Master-Stufe in den Dublin Descriptors, und die Beschreibung der Master-Stufe im Qualifikationsrahmen entspricht der in der postgradualen Ausbildung der Dublin Descriptors. Für die postgraduale Stufe im Europäischen Qualifikationsrahmen mussten deshalb neue Superlative geschaffen werden, wie „Spitzenkenntnisse in einem Arbeits- und Lernbereich“ und „weitest fortgeschrittene [...] Fertigkeiten und Methoden“. Die Progression von Kompetenzen, die in den drei Deskriptorensystemen jeweils geschildert wird, entbehrt nicht einer gewissen Logik: Wissen und Fähigkeiten vermehren sich. Die Unterschiede zwischen den drei Modellen zeigen aber auch, wie beliebig solche Normen sind und wie groß die Unsicherheit in der Einschätzung dessen ist, was erreichbar ist, was als „hoch“ oder als „Spitze“ zu bezeichnen ist. Neben den eher zurückhaltenden Dublin Descriptors scheint der europäische Qualifikationsrahmen ein Stück über die Grenze des Möglichen hinausgeschossen zu sein. Während man beim Lesen der Dublin Descriptors den Eindruck hat, dass das kritische Denken vergessen wurde, erhält man beim Qualifikationsrahmen den Eindruck einer energischen Nachbesserung. Die Hochschulen können mit Deskriptorensystemen wie diesen gut leben. Im Prinzip reanimiert der Qualifikationsrahmen alle Zielvorgaben, die den Humboldtschen Traditionen entsprechen. Problematisch ist, dass die Rahmenbedingungen des Studiums, die der Bologna-Prozess geschaffen hat, mit den Zielen des Qualifikationsrahmens nicht mehr in Einklang stehen. Sie würden sich aber als Zielgrößen einer Reform der Bologna Reform eignen. 7
Prinzipien der Vermittlung von kritischem Denken
Kritisches Denken ist, wie dargestellt, keine einheitliche Kompetenz wie vergleichsweise das Beherrschen der Grundrechenarten und kann entsprechend auch nicht in standardisierten Unterrichts- oder Trainingsverfahren gelehrt werden. Kritisches Denken heißt per definitionem aus eingefahrenen Bahnen des Denkens ausbrechen zu lernen und als gültig akzeptiertes Wissen hinterfragen zu können. Es geht zudem nicht, wie dargestellt, allein um
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den Aufbau von Kompetenzen, sondern auch um die Entwicklung von Persönlichkeiten, die sich kritischem Denken verpflichtet fühlen. Um dies zu erreichen, muss man eine lange Entwicklungsperspektive ins Auge fassen. Entsprechend ist die Didaktik des kritischen Denkens nicht allein eine Frage der Kursgestaltung, sondern auch immer eine Frage der Curriculumgestaltung, wenn nicht gar der Gestaltung mehrerer aufeinander folgender Curricula. Wenn ein Curriculum kritisches Denken nicht als explizites Ziel ins Auge fasst, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es zu einem inkohärenten Flickenteppich an Lehrinhalten und -veranstaltungen gerät, auch wenn die Verfasser des Curriculums glauben, es vermittle zusammenhängendes Wissen. Der europäische Qualifikationsrahmen bietet mittlerweile, wie dargestellt, die Legitimation dafür, Curricula dezidiert auf die Ausbildung von kritischem Denken auszurichten. Die wichtigsten Prinzipien der Didaktik des kritischen Denkens sind in folgenden Thesen enthalten, wobei ihre Bedeutung in etwa der Reihenfolge ihrer Nennung entspricht.
Kritisches Denken als Ausgangs-, nicht als Endpunkt der Hochschulausbildung: Der Schwerpunkt der Hochschulausbildung muss von Anfang an auf die Ausbildung von kritischem Denken gerichtet werden, nicht erst in den höheren Stufen. Die Logik dafür liegt darin, dass kritisches Denken selbständig macht und zu einer eigengesteuerten Entwicklung mit ihren besonderen Lernformen führt. Sind Studierende erst einmal an eine verschulte Lernkultur gewöhnt, reagieren sie mit Widerstand auf Forderungen nach Selbständigkeit. Sie erwarten enge Vorgaben und trainieren sich selbst darin, diese zu erfüllen. Stattdessen sollte die Denkschulung am Anfang stehen und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Studierenden ihre Wissensentwicklung selbst in die Hand nehmen können. Diese Maxime betrifft alle Hochschularten. Die Universitäten sind dabei gehalten, kritisches Denken in engerem Bezug zu wissenschaftlichem Denken auszubilden, während die Fachhochschulen die Beziehung zum praktischen Handeln betonen sollten. Integration in den Fachunterricht: So wenig wie kreative oder sportliche Kompetenzen kann man auch kritisches Denken abstrakt erwerben oder vermitteln. Kritisches Denken lässt sich nur in der Auseinandersetzung mit den zentralen Themen eines Fachs entwickeln (Willingham 2007), da sich sonst dessen Tiefendimensionen nicht erschliessen. Die
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Otto Kruse Ausbildung von kritischem Denken verlangt Auseinandersetzung mit den disziplinären Theorien, Systematiken, Erkenntnismethoden und Praxiszusammenhängen. Dem entsprechend ist kritisches Denken nicht als Soft Skill oder Schlüsselkompetenz losgelöst vom disziplinären Kontext lehrbar. Die Humboldtschen Traditionen einer disziplinären Sozialisation sind hier nach vie vor gültig. Verbindung von Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung: Kritisches Denken ist eine Kompetenz, die sich nur als Teil einer umfassenderen akademischen Sozialisation verstehen lässt. Diese Grundannahme, die von Schleiermacher und Humboldt genauso betont wird wie von der Delphi-Studie (Facione 1990), drückt aus, dass es nicht nur um die Entwicklung des Denkens, sondern auch um die der denkenden Personen geht. Es ist sinnvoll, die Richtung der Persönlichkeitsentwicklung bewusst zu bestimmen. Welcher Habitus soll die Hochschulabsolventen prägen? Sollen es effiziente Lernerinnen und Lerner, effektive Managerinnen und Manager oder eben kritische Denkerinnen und Denker sein? Es empfiehlt sich also, nicht nur die Kompetenzen im Blick zu behalten, sondern auch die Personen, die die Kompetenzen erwerben sollen. Fachliche Probleme als Ausgangspunkt für kritisches Denken: Das beste Mittel, um kritisches Denken anzuregen ist die Konfrontation mit fachlichen Problemen (Bean 1996). Sie motivieren dazu, unterschiedliche theoretische Ansätze zu durchdenken, unterschiedliche Annahmen auszuprobieren und alternative Lösungen zu suchen. Eine Lehre, die nur am akzeptierten Wissen orientiert ist, kann kritisches Denken nicht entfachen. Nötig ist die Konfrontation mit dem Nichtwissen der Disziplin, mit offenen, ungelösten Fragen. Studentische Arbeiten sollten dementsprechend nicht einfach Wissen zusammenfassen, sondern sollten von einem Problem bzw. einer Fragestellung ausgehen und das in der Disziplin vorhandene Wissen zur Analyse des Problems oder zur Klärung der Frage nutzen. Auch Vorlesungen sollten eher am Problem als am fertigen Wissen ansetzen. Probleme und offene Fragen haben sowohl auf die Motivation zum Denken als auch auf den Ablauf von Denkprozessen einen organisierenden Einfluss. Kritisches Denken erfordert, Position zu beziehen: Kritisches Denken lässt sich nicht allein als neutrales Abwägen von vorhandenen Positionen oder nüchterne Analyse von Wissenssystemen entwickeln, sondern erfordert
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intellektuelle Parteinahme. Auseinandersetzung mit Problemen, Engagement für eine Sache, Formulieren eigener Stellungnahmen etc. energetisiert das Denken und hilft, den vorhandenen Wissensdarstellungen eigene Gedanken entgegen zu setzen. Verstehen, das ist ein altes Prinzip der Dialektik, entwickelt sich aus Gegenpositionen, die zugespitzt und zueinander in Beziehung gesetzt, zu neuen Lösungen führen. Entsprechend sind Meinungsstreit, Argumentieren und Aushandeln von Positionen wichtige Teile der Entwicklung von kritischem Denken. Das Seminar als Königsweg: Seminare bilden das Urbild eines Unterrichts zur Ausbildung von kritischem Denken, wiewohl es heute Alternativen wie Problem Based Learning (PBL) oder projektorientierten Unterricht gibt. Entdeckendes, forschendes, auf jeden Fall ergebnisoffenes Lernen ist wiederum der didaktische Kern dieser Unterrichtsarten. Kernelemente von Seminaren sind (a) Einführung in ein Themengebiet, das noch nicht völlig erschlossen ist (b) selbständige Bearbeitung von Teilgebieten durch die Teilnehmenden (c) Unterrichtsgestaltung durch Präsentationen der Teilnehmenden (d) offene Diskussion über alle Fragen zu Thema und Methodik (e) eine schriftliche Ausarbeitung eines Teilgebietes durch jeden Teilnehmenden. Je nach Stellung des Seminars im Curriculum kann (f) die Vermittlung von Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens (Proseminar) oder (g) die Durchführung eigener Forschung (Oberseminar) dazu kommen. Seminare verbinden also Lesen, Denken, Kommunizieren und Schreiben zu einem integrierten Lernprozess und erlauben, die entsprechenden Kompetenzen dabei auch gleichzeitig zu trainieren. Diese Vielfalt macht das Seminar zu einer idealen, aber auch anspruchsvollen Unterrichtsform. Schreiben als Zugang zum Denken: Schreiben hat mehrere Eigenschaften, die es zum geeigneten Instrument für die Ausbildung von selbständigem und kritischem Denken machen (Bean 1996). Es konfrontiert mit fachlichen, sprachlichen und logischen Problemen und erfordert aktiven, wenn nicht kreativen Umgang mit Wissen. Es lässt sich als verlangsamtes Denken in Interaktion mit dem Papier verstehen. Durch Schreiben wird Denken revidierbar, wiederholbar, korrigierbar, steuerbar. Das Schreiben erlaubt, Gedanken langsam zu verfertigen und dabei Gedanken und Sprache sukzessive in Einklang zu bringen. Damit kann man das Schreiben auch als Fenster in den Denkprozess der Studierenden nutzen, um Denkabläufe zu diagnostizieren, diskutieren, optimie-
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Otto Kruse ren. Dies gelingt besser, wenn man nicht nur die End-, sondern auch die Zwischentexte betrachtet, in denen sich gedankliche und sprachliche Probleme noch deutlicher zeigen als in den bereinigten Endversionen. Prozessorientierte Schreibdidaktik stellt Tools zur Verfügung wie Feedbackverfahren, Schreibübungen, Portfolios etc., um diese Art des Lernens zu fördern (Kruse et al. 2006). Reflektierendes Denken, wie von Dewey (1938) empfohlen, ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung kritischen Denkens und wird von der neueren Schreibdidaktik mit entsprechenden Tools unterstützt (Bräuer 2000). Anleitung von Abschlussarbeiten: Wissenschaftliche Abschlussarbeiten sind traditionellerweise Prüfungsleistungen, mit denen selbständiges Arbeiten und kritisches Denken unter Beweis gestellt werden sollen. Sie dienen aber ebenfalls dazu, beides zu entwickeln. Abschlussarbeiten sind vor allem durch das Ausmaß an Selbständigkeit, das sie verlangen (und auch gewähren) eine wichtige Grundlage für die Entwicklung kritischen Denkens. Eine gute Vorbereitung im Studium selbst und eine Anleitung nach Bedarf sind Voraussetzungen dafür, dass dies gelingt. Forschungskompetenz als Teil kritischen Denkens: Zu verstehen, wie in einem Fach Wissen entwickelt wird, ist notwendigerweise Bestandteil des kritischen Denkens an Hochschulen. Denken muss zwangsläufig naiv bleiben, wenn es wissenschaftliche Erkenntnisse nicht auf ihren Entstehungsprozess zurückverfolgen kann. Allerdings ist kritisches Denken nicht mit Forschungskompetenz gleichzusetzen, wie es in der aktuellen Diskussion um die Ausrichtung der Universitäten mitunter den Anschein hat. Kritisches Denken kann sich genau so auf den Umgang mit Theorien (konzeptuelles Denken), auf Probleme in Anwendungsfeldern (z.B. Wirksamkeit, Umsetzung, ethische Aspekte, Technikfolgen), auf mündliche Präsentationen und Diskussionen (Rhetorik, Argumentation) oder auf Fragen der Konstruktion/ Entwicklung von Produkten (Design, Funktionalität) beziehen. Während kritisches Denken also von Studienbeginn an aufgebaut werden muss, kann eine vertiefte Einführung in Forschungsmethoden auf spätere Studienphasen verschoben werden. Trennen allerdings lassen sie sich nicht, denn die Behandlung fachlicher Probleme zieht immer die Frage nach den methodischen Wegen ihrer Lösung nach sich. Hier sind fachspezifische Forschungsmethoden gefragt.
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Kein kritisches Denken ohne Lesen: Texte sind die Schnittstelle zu den Wissensvorräten jeder Disziplin. Lesen ermöglicht selbständigen Zugriff auf Fachwissen und macht die Studierenden potenziell unabhängig von ihren Lehrern. Wichtiger noch als die Inhalte, die die Studierenden über gelesene Texte aufnehmen ist, dass das Lesen sie an die Diskurse ihres Fachgebietes anschliesst und sie so in kommunikative Kontexte einbindet. Der Informationsfluss an der Schnittstelle „Text“ ist jedoch nicht immer einfach. Trotz elementarem schulischen Lesetraining haben viele Studierende unflexible Lesestrategien und verstehen den rhetorischen Kontext der gelesenen Texte anfangs nur unzureichend. Die Lesesozialisation ist sehr viel komplexer als gemeinhin angenommen wird und umfasst mehr Lebensbezüge als nur wissenschaftliche (vgl. Rupp/Heyer/Bonholt 2004, Groeben/Hurrelmann 2004). Ein Kurs zum „kritischen Lesen“ kann daher ein wichtiger Zugang zu kritischem Denken sein (Bean 1996, 133 ff.). Weiter ist zu bedenken, dass Lesen nicht nur eine kognitive, sondern auch eine motivationale Seite hat. Ein Curriculum, dem es gelingt, die Studierenden zu selbständigem Lesen anzuhalten, wirkt nachhaltig auf deren fachliche und persönliche Entwicklung. Kritisches Denken braucht Peer Kommunikation: Kritisches Denken ist schliesslich auch eine soziale Kompetenz. Kritisches Denken als Abwägen von Argumenten, Meinungen, Annahmen etc. lässt sich in einem Kontext von Peers sehr viel besser entwickeln als in der Auseinandersetzung mit den Lehrenden allein. In eine Lern- oder Wissensgemeinschaft eingebunden zu sein, ermöglicht einen effektiven Austausch von Argumenten und ist ein Trainingsfeld für das Testen von Meinungen (siehe dazu etwa Bruffee 1999). Von niemandem lernen Studierende schneller und einfacher als von ihresgleichen, und mit niemandem können sie so einfach Positionen entwickeln und in der Diskussion schärfen wie mit ihnen. Abstrakte Unterweisung in kritischem Denken als Ergänzung: Lehrbücher allein können kritisches Denken nicht ausbilden, wohl aber können sie dessen Entwicklung wirksam unterstützen wie z.B. die Lehrbücher von Porter (2002), Butterworth/Twaites (2005) oder Vaughn (2008), die sich mit Formen des Argumentierens, Begründens von Meinungen und Schlussfolgerns beschäftigen. Im deutschsprachigen Raum gibt es wohl Werke, die das Argumentieren ansprechen wie beispielsweise Kam-
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Otto Kruse lah/Lorenzen (1967), Gil (2005) oder Brun/Hirsch Hadorn (2008), aber keines von ihnen nutzt kritisches Denken als Rahmen oder Ziel der Darstellung.
Die Liste zeigt, dass es viele Hebel gibt, um kritisches Denken zu entwickeln und dass auch unter den Bedingungen von Bologna immer einige davon übrig bleiben. Es gibt allerdings keinen Automatismus dafür, dass die jeweils genannten didaktischen Mittel kritisches Denken auch tatsächlich hervorrufen, da ihre Wirkung immer von der curricularen Einbettung abhängig ist, ebenso wie von den Voraussetzungen bzw. Motiven, die die Studierenden mitbringen. Ein Kurs in kritischem Denken mitten in einem verschulten Studiengang wirkt wie ein Samenkorn auf dem Gletscher. Er wird nicht aufgehen. Zu bedenken ist weiterhin, dass Forschungskompetenz allein auch dogmatisch vermittelt werden kann, so dass der Unterricht eher einschüchtert als das Denken zu beflügeln (Siegel 1988, 96). Auch wissenschaftliches Schreiben, so hilfreich es sonst für die Entwicklung von selbständigem Denken ist, kann ohne genügend Anleitung oder Motivation frustrierend oder beängstigend wirken, wenn es sich den Schreibenden nicht als lösbare Aufgabe erschliesst. Peer Interaktion kann in nutzlose Rituale ausarten, wenn sie nicht in Bahnen gelenkt wird, in denen eine kreative und faire Kommunikation in Gang kommt. Seminare schließlich können zum Wiederkäuen von Wissen missbraucht werden, statt kritisches Denken auszubilden. Es ist also immer nötig, einen gezielten Blick auf das Denken der Teilnehmenden zu werfen und eine Atmosphäre zu schaffen, in der risikofrei mit Denkformen und Meinungen experimentiert werden kann. Brookfield (1987, 71 ff.) geht auf Probleme ein, die sich ergeben, wenn Gruppen sich in kritischem Denken üben. Wichtig sei in solchen Gruppen, zugrunde liegende Annahmen von Aussagen zu prüfen und alternative Denkmöglichkeiten zu erkunden, Diversität und abweichende Meinungen zuzulassen, Spontaneität und Eingehen von Risiken zu ermutigen, Modelle für Offenheit im Denken und für kritische Analysen anzubieten, einen grundlegenden Skeptizismus an den Tag zu legen und Perfektionismus zu vermeiden. Folgende Strategien hält er für die Ausbildung von kritischem Denken für nötig bzw. besonders wirksam:
Den Selbstwert von kritischen Denkerinnen und Denkern zu stützen und Hilfe bei den ersten Schritten zu leisten
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Niemand abzuwerten oder lächerlich zu machen Aufmerksam zuzuhören um Denken zu ermutigen Anstrengungen im kritischen Denken aktiv zu unterstützen Die Ideen und Aktionen von kritisch Denkenden zu reflektieren und zu spiegeln, so dass sie ihre eigenen Einstellungen, Rationalisierungen und Denkgewohnheiten, aber auch neue Denkansätze erkennen können Die Teilnehmenden zu motivieren, über negative Erfahrungen mit offenem Meinungsausdruck zu sprechen Fortschritte im kritischen Denken regelmäßige zu reflektieren und zu evaluieren Netzwerke und Kommunikationsmöglichkeiten auch außerhalb des Klassenraums zu schaffen (Selbst-) kritisch als Lehrerin oder Lehrer zu sein Das Lernen des kritischen Denkens selbst zum Thema zu machen Selbst als Modell oder Vorbild für kritisches Denken zu fungieren.
Mehr als die vorhergehenden Punkte weist Brookfields Liste darauf hin, dass eine auf kritisches Denken angelegte Lehre auch hohe kommunikative Qualitäten von den Lehrenden verlangt und stark von der Beziehungsgestaltung zwischen Lehrenden und Lernenden abhängt. Das eigene Denken dem pädagogischen Zugriff zu öffnen ist für Studierende eine riskante Entscheidung, die sie nur treffen, wenn sie sich dabei unterstützt fühlen. 8
Schlussgedanken
Die Bologna-Reform stellt die Hochschulen vor eine paradoxe Situation. Sie definiert neuerdings in vollem Einklang mit den Unterrichtstraditionen der deutschsprachigen Hochschulen kritisches Denken als wichtigste Zielgrösse der Lehre, verändert aber die Rahmenbedingungen so, dass viele traditionelle Formen der Ausbildung von kritischem Denken nicht mehr greifen. Die Reaktion der Hochschulen darauf sollte darin bestehen, das nachzuholen, was lange versäumt wurde: Kritisches Denken nicht nur zu unterrichten, sondern auch damit zu beginnen, Natur, Entwicklung und Didaktik des kritischen Denkens zum Gegenstand eingehender Untersuchungen zu machen.
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Die Rahmenbedingungen, die Bologna setzt, werden sich in absehbarer Zeit kaum ändern, wohl aber gibt es Spielräume in den nationalen Anpassungen und universitären Umsetzungen. Hier bieten die Deskriptoren des Europäischen Qualifikationsrahmens die Legitimation dazu, positive Modelle für zeitgemäßen, an der Entwicklung von kritischem Denken orientierten Hochschulunterricht zu entwickeln und umzusetzen. Besonders wichtig sind dabei Weichenstellungen für die BachelorAusbildung. Sie betrifft erstens alle Studierenden, und sie hat zweitens weit mehr unter der hohen Komprimierung der Wissensvermittlung zu leiden, als die höheren Stufen. Training von kritischem Denken muss am Anfang der Hochschulausbildung stehen. Alles Wissen nützt nichts, wenn die Studierenden nicht erfahren, woher es kommt und was man tun muss, um sich von seiner Richtigkeit zu überzeugen. Die Erziehung zum kritischen und wissenschaftlichen Denken ist primär. Sie beginnt in der Schule und darf im Studium nicht unterbrochen werden, wenn man die Entwicklung der Studierenden nicht in eine falsche Bahn bringen will. Für viele Studierende ist kritisches Denken eine Herausforderung, der sie sich gerne entziehen, wenn sie ihre Studienleistungen auch mit Auswendiglernen und Nacherzählen erfüllen können. Kritisches Denken ist aufwändig und anspruchsvoll, erfordert Offenheit für Neues und Bereitschaft das eigene Denken zu reflektieren (Halpern 2007), alles Anforderungen, die nicht nur ermöglicht, sondern auch gefordert werden müssen. Kritisches Denken auszubilden, ist nicht zuletzt auch eine Frage der Lern- und Kommunikationskultur von Institutionen. Kritisches Denken geschieht nicht nur im Unterricht, sondern geschieht unter den Studierenden selbst, sofern eine entsprechende Diskussionskultur vorhanden ist. Ist sie erst einmal verloren gegangen, braucht es einigen Aufwand, sie wieder aufzubauen. Nicht alles Wissen, das im Studium vermittelt wird, muss von den Studierenden selbst erarbeitet und kritisch geprüft werden. Veranstaltungsformen, die eher der Wissensvermittlung dienen, sind sinnvoller Bestandteil jedes Curriculums, so lange die Balance zwischen reproduktivem Lernen und solchem, das eine aktive und kritische Mitarbeit fordert, gewahrt ist. Zwei Kurse pro Semester, die auf die Ausbildung von kritischem Denken ausgerichtet sind (Proseminare, Seminare, Praktika, Übungen, Trainings) scheinen mir das Minimum dessen zu sein, was die Balance halten kann (wiewohl es hier große disziplinspezifische Unterschiede gibt). Sind die reproduktiven Bestandteile zu stark, werden die Veranstaltungen, in denen
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aktive Beteiligung verlangt wird, nur noch mit Unwillen besucht, weil sie als Hindernisse auf dem Wege zu den erforderlichen Leistungsnachweisen wahrgenommen werden. Was mir am Bologna-Rahmenwerk besonders korrekturbedürftig erscheint, ist dessen Fokus auf Kompetenzvermittlung bei Preisgabe einer Perspektive, die die ganze Sozialisation der Studierenden in den Blick nimmt. Kritische Denkerinnen und Denker zu entwickeln heisst, Persönlichkeiten zu entwickeln. Sie müssen Partner im Unterricht sein und zu Partnern in den fachlichen Auseinandersetzungen werden. Kritisches Denken verlangt immer ein Commitment gegenüber einem Fach, einem Thema und einer Gruppe, das nie ohne Risiko zu haben ist. Kritisches Denken ist Teil einer Lebenshaltung, nicht einfach ein Set an intellektuellen Kompetenzen. Kritisches Denken zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es aus festen Bahnen ausbricht, dass es Vorgegebenes hinterfragt und sich selbst eine Richtung gibt. Wer kritisch denkende Studierende ausbildet, muss gewärtig sein, dass sie sich emanzipieren, ihre eigenen Wege einschlagen und ihr kritisches Denken zuerst an ihren Lehrern ausprobieren. Kritisches Denken ist das Element, das am ehesten den Leitsatz der Nachhaltigkeit in der Bildung verwirklichen kann. Es ist eine Meta-Kompetenz, die den spezifischeren Kompetenzen ihre Richtung und ihren Sinn verleiht. Literatur Astleitner, Hermann/Brünken, Roland/Leutner, Detlev (2009): Krit.net. Die virtuelle Denkschule. http://www.sbg.ac.at/erz/kritnet2/bericht.pdf (zuletzt abgerufen am 28.1.2009) Astleitner, Hermann/Brünken, Roland/Zander, Steffi (2002): Können Schüler und Lehrer kritisch denken? Lösungserfolge und –strategien bei typischen Aufgaben. In: Salzburger Beiträge zur Erziehungswissenschaft 6. 51-61 Bean, John C. (1996): Engaging ideas. The professor’s guide to integrating writing, critical thinking, and active learning in the classroom. San Francisco: JosseyBass Becker-Mrotzek, Michael (Hrsg.) (2007): Texte schreiben. Duisburg: Gilles & Francke (Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik, Reihe A) Behrens, Roger (2002): Kritische Theorie. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt Bohman, James (2005): Critical theory. Stanford Encyclopedia of Philosophy. http://plato.stanford.edu/entries/critical-theory (zuletzt abgerufen 12.1.2009)
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Veränderte Bezüge – kooperative Lehre im modularisierten Studium, am Beispiel der Bremer Neugermanistik Thomas Althaus und Romana Weiershausen
Die Modularisierung der Studiengänge im Zuge des ‚Bologna-Prozesses‘ ist in vollem Gange. Im Wintersemester 2006/07 waren in den Sprach- und Kulturwissenschaften knapp 30% aller Studiengänge auf Bachelor- und Masterabschlüsse umgestellt.1 Nach den grundsätzlichen Debatten der Anfangsphase können jetzt erste konkrete Erfahrungen mit den neuen Studienstrukturen diskutiert werden. Die Bedenken nehmen darüber aber nicht ab: Viele Lehrende erfahren den erhöhten Organisationsaufwand als beengende und gleichzeitig unüberschaubare Bürokratisierung, und wo „berufsfeldbezogene Qualifikationen“2 zu vermitteln sind, als ganz neue Anforderung an die universitäre Lehre, wird Fremdbestimmung befürchtet. Im Folgenden soll es um einen Aspekt der Studienreform gehen, der für die Lehrplanung besonders folgenreich ist und misstrauischer Beobachtung unterliegt: die Neustrukturierung der Lehrveranstaltungen über Module. Die alten Systeme ließen für die einzelnen Studienphasen (Grund-/ Hauptstudium) eine eher mosaikartige Fügung frei stehender Seminare und Vorlesungen zu. Mit der Modularisierung gerät das Studium in eine Art Koordinatensystem, mit der vertikal gezogenen Linie einer genauen Abfolge und mit der horizontal gezogenen Linie einer genauen Zuordnung von Studieneinheiten. Aus kritischer Distanz bekundet sich darin der politische 1
28,4% gibt der HRK-Hochschulkompass vom 1.9.2006 an, zitiert nach den „Statistiken zur Hochschulpolitik 2/2006“ (einsehbar auf der Internetseite www.bildungsserver.de). Insgesamt hat wohl in Europa „kein anderes Land außer Deutschland die Vorgaben von Bologna mit solchem Übererfüllungseifer in die Tat umgesetzt“ (Schmoll 2006). 2 Ländergemeinsame Strukturvorgaben gemäß § 9 Abs. 2 HRG für die Akkreditierung von Bachelor- und Masterstudiengängen, S. 6. Das Dokument ist auf der Homepage der Kultusministerkonferenz der Länder verfügbar (www.kmk.org/doc/beschl/BS_050922_LaendergemeinsameStrukturvorgaben.pdf).
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Wille zur Ökonomisierung und organisatorischen Disziplinierung der Geisteswissenschaften. Hieraus folge „eine prekäre Abhängigkeit von quantifizierbaren Diagnoseinstrumenten, die zu einer substanzzehrenden, ruinösen ‚Therapie‘ verleiten.“ (Bollenbeck/Saadhoff 2007, 15) Fürs Erste geht die starke Regulierung allerdings nicht unerheblich auf Versuche zurück, transparente und vergleichbare Standards zu schaffen bei gleichzeitigem Bemühen, in der neuen Struktur doch wieder die alte abzubilden und deren Kriterien zu wahren. Damit aber drohen die Modelle ineinander zu erstarren und die Potentiale beider Systeme verloren zu gehen: Durch die Überlagerung ist die größere Organisationsfreiheit des früheren Systems eben doch nicht zu erhalten, wohl aber kann dadurch das neue System in seiner eigenen Flexibilität und seinen Entfaltungsmöglichkeiten reduziert werden. Im vorliegenden Beitrag wollen wir am Beispiel der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Bremen ersten Folgen der Modularisierung im Bachelor nachgehen und mit dem jetzt einzurichtenden Master-Programm als Perspektive die Möglichkeiten zu intentionaler Stärkung des neuen Modells diskutieren. Das geschieht mit Blick auf Kooperationsmöglichkeiten in der Lehre als Option auch für Forschung. Damit geht es direkt auch um den Einfluss hochschuldidaktischer Maßnahmen auf fachwissenschaftliche Konstellationen. 1
Vertraute Krisen: die Literaturwissenschaft wieder einmal an einem Ende und an einem Anfang
„Den Geisteswissenschaften, und da besonders den großen literaturwissenschaftlichen Massenfächern geht es schlecht. […] Sie müssen sich die Frage gefallen lassen: Wozu eigentlich noch Literaturwissenschaft?“ (Zimmer 1970) Die Frage könnte sich aus der Forderung nach deutlicherer Berufsqualifizierung im neuen Bachelor-Studiensystem herleiten, wie sie aus der Perspektive der Studierenden, als Sorge um deren Zukunft, formuliert worden ist, nun zumeist aber nach Kategorien wirtschaftlicher Relevanz als marktgerechte Produktion von Wissen begriffen wird (von Wissel 2007, 127-134). Die Frage stammt jedoch bereits aus einem Zeitungsartikel von 1970 und ist seit langem eine Art Standardfrage kritischer Argumentation für oder wider die Geisteswissenschaften und vor allem das Fach Germanistik. Von „Katzenjammer“ (Zimmer 1970) aufgrund mangelnder gesellschaft-
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licher Beachtung war und ist unter veränderten Vorzeichen immer wieder die Rede, oder von „Methodenrausch im Vakuum“ (Dyck 1987), und Anfang der 90er Jahre wurde getitelt: „Fiat nox! Dunkelheit breitet sich aus in geisteswissenschaftlichen Büchern“ (Laermann 1991). Im September 2004 war in der Süddeutschen Zeitung ein „Krisenbericht vor dem Münchner Germanistentag“ zu lesen: „Die Literaturwissenschaftler haben die Ideologie abgeschüttelt, aber auch die Literatur aus den Augen verloren.“ (Schmidt 2004) „Nichts ist für die Geisteswissenschaften so beständig wie die Krise“, resümierte Martin Spiewak folgerichtig in der ZEIT (Spiewak 2004). Das sind (auch) generelle Fragen, die aber die Germanistik immer speziell auf sich bezieht. Mehr als andere Fächer steht sie, und hier vor allem die Literaturwissenschaft, unter Rechtfertigungsdruck. Das wiederum verwundert kaum, geht es in ihr doch erklärtermaßen um Deutung – Auslegungsarbeit, die sich auch gern selbst zum Objekt wird und die abhängig von Rahmenbedingungen ist. Der Krisendiskurs um die Germanistik liest sich wie ein Leitfaden durch die Fachgeschichte. Er geht einher mit dem Wandel der jeweils leitenden Paradigmen vom Positivismus zur Politisierung in den späten 60er und 70er Jahren, zum programmatischen Methodenpluralismus und zur Medialisierung in den 80ern und 90ern und schließlich zur kulturwissenschaftlichen Öffnung und zur so genannten Rephilologisierung als aktuellen Tendenzen einerseits der fachlichen Ausweitung und andererseits einer Rückkehr zu einem wieder häufiger beschworenen ‚Proprium‘ des Faches. Die Geschichte der Germanistik in Deutschland ist immer auch ein Stück Gesellschaftsgeschichte gewesen, am deutlichsten wohl in der mit dem Germanistentag von 1966 einsetzenden kritischen Auseinandersetzung mit der Rolle des Fachs im Nationalsozialismus. Die Erfahrung, dass sich ein Fach, dem es erklärtermaßen ‚nur‘ um ästhetische Werte, um die Kunst selbst ging, ohne größere Schwierigkeiten (und oft auch mit eigenem Impetus) vom NS-Regime hatte in Dienst nehmen lassen, forderte die ideologiekritische Revision heraus. Bei inzwischen sehr veränderten Anliegen hat sich für die jüngere Germanistik aus dieser Entwicklung eine Diskussionskultur erhalten, die das Fach zugleich stärkt und schwächt. Es betreibt Selbstinfragestellung in Permanenz. Das ist zwar dem öffentlichen Ansehen abträglich, sorgt andererseits aber für produktive Unruhe, Einstellungsveränderungen und erhöhte theoretische Aufmerksamkeit. Aufgrund solcher Impulse hat sich die Methodologie des Faches inzwischen allerdings fast zu einem Selbstläufer ent-
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wickelt, und dies zumeist mit einiger Skepsis gegenüber den Möglichkeiten von Literatur und Sprache. Die breit und kontrovers geführte Debatte im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft über die zunehmende Diversität methodischer Ansätze ist bekannt: Wilfried Barner hatte sie 1990 mit der Frage angestoßen, ob der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden komme (Barner 1990). – Als Reaktion auf eine drohende Orientierungslosigkeit waren zum Zeitpunkt des Beschlusses von Bologna, das Studium grundsätzlich neu zu organisieren, zwei entgegengesetzte Tendenzen auszumachen, oder „Therapien“, wie Hartmut Böhme polemisch zuspitzt (Böhme 1997, 32): die Engführung der Literaturwissenschaft in Richtung einer Editionsphilologie, und dazu gehört auch die Computerphilologie, die damit den Positivismus im Fach aktualisiert, und auf der anderen Seite die schon erwähnte Erweiterung der Literaturwissenschaft zu einer Kulturwissenschaft.3 Angesichts dieser Situation bietet der Modularisierungsprozess eine Chance, sich neu über die zu vermittelnden Inhalte, über die Vermittlung selbst, über Organisationsformen der Lehre und über deren Wirkung auch auf die Organisation von Forschung zu verständigen. Es gehört zur problematischen Identität der Germanistik, dass dies natürlich wieder selbstkritische Fragen anstößt und außerdem unter institutionellen Vorgaben zu geschehen hat, die zwar noch eine Entwicklung von Perspektiven erlauben, jedoch nur wenig noch einen Einfluss auf die Dispositionen. Die Vorgaben genereller Bachelor- und Master-Strukturen, die Organisationsnotwendigkeiten des modularisierten Studiums und schlicht der Handlungsdruck mitten im Prozessgeschehen forcieren die Diskussion über Zwänge und Möglichkeiten und verlangen gleichzeitig nach schnellerer Praxis. Wohin führt die Literaturwissenschaft? Die Frage hat angesichts der reformierten Studiengänge wieder einmal hohe Aktualität. Dirk Kemper hat auf dem Germanistentag 2004 in München prognostiziert, die wahre Krise stehe dem Fach mit dem Bologna-Prozess erst noch bevor. Was Wilhelm Voßkamp zu Beginn der 90er Jahre formulierte, gilt angesichts dieser Tendenzen und aktuellen Studienreformen verschärft: „Aufgegeben ist […] gegenwärtig erneut die Verpflichtung zur Selbstreflexion.“ (Voßkamp 1990, 247) Oder, in den Worten Christa Bürgers: „Auf eine solche Situation gibt es verschiedene Reaktionen: Panik, Lähmung, Verstockung, Selbstreflexion. Selbstreflexion also. –“ (Bürger 1989, 16). 3
Den Einfluss der Modularisierung auf diese Richtungsentscheidung untersucht (für die germanistische Mediävistik) Hans Rudolf Velten (Velten 2005).
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Kooperation in der Lehre: Einführungsphase
Bei der Frage, welche Folgen die Modularisierung für die Gestaltung des Lehrangebots hat, sind aufgrund der jeweils verschiedenen Anforderungen drei Studienphasen getrennt zu betrachten: die Studieneingangsphase, das fortgeschrittene Bachelor-Studium und schließlich das Master-Programm. Zunächst soll es um die Grundlagen des Fachs gehen, denen in Bremen die ersten beiden Semester gewidmet sind. Anne Bentfeld kam in ihrer Bestandsaufnahme zum germanistischen Grundstudium der traditionellen Studiengänge Ende der 90er Jahre zu dem Schluss, dass für die deutschen Universitäten ein Vergleich der formalen Studienordnungen wie auch der inhaltlichen Strukturierung schlichtweg unmöglich sei (Bentfeld 1997, 225). Hier stellt(e) sich der Reformierung des Studiums durch die modularisierten Studiengänge die erste Aufgabe: eine Vereinheitlichung der zu vermittelnden Grundkenntnisse und Fähigkeiten gehört eigentlich zur Logik des Systems (vgl. Velten 2005, 512); sie bildet nicht nur die Basis für international vergleichbare Studienabschlüsse, sondern ist gerade auch für Spezialisierungen im Sinne der Profilbildung unentbehrlich, die ohne den gemeinsamen Fond auf die Dauer ihre fachliche Identität verlieren müssen. Die Interferenz und Kompatibilität der einzelnen BA-Programme nehmen freilich vorerst kaum zu. Vielleicht ist der Universitätswechsel jetzt sogar mit mehr Umstellungsproblemen verbunden, als dies vor der Reform der Fall gewesen sein mochte. Denn die strukturelle Angleichung, die mit dem ‚Bologna-Prozess‘ intendiert ist und wohl auch erreicht wird, impliziert stärkere Konkurrenz; diese Konkurrenz wiederum verlangt nach Programmbesonderheiten, die StudienbewerberInnen veranlassen können, Germanistik und Literaturwissenschaft an der Universität X statt an der Universität Y zu studieren. So folgt aus Kongruenz Differenz. Um die sich daraus ergebenden Probleme im Studienalltag wissen die Quereinsteiger und ihre jeweiligen Fachberater und Fachberaterinnen bei der Anerkennung von Studienleistungen aus einem BA-Programm für ein anderes. Davon zu unterscheiden sind jedoch interne Abstimmungsprozesse. Besonders für die Studieneingangsphase wirkt sich der Zwang zum Zusammenschluss von Seminaren zu Modulen positiv aus: Er befördert kooperative Absprachen bei einander direkt ergänzenden Seminaren und einen allgemeinen Kriterienabgleich, indem Modulkonstellationen von Studierenden wie Lehrenden als Handlungszusammenhänge begriffen werden. Hier zei-
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gen erste Erfahrungen mit dem Bachelor-Programm, dass für die literaturwissenschaftliche Eingangsphase unter den Lehrenden doch ein relativ großes Einverständnis hinsichtlich der Aufgaben und des Aufbaus fachlicher Grundbildung zu erzielen ist. Die Konkretisierung innerhalb der Bremer Germanistik sieht für die neuere deutsche Literaturwissenschaft die Einübung in die Textanalyse nach den Gattungsspezifika, eine Einführung in die allgemeine Literaturtheorie und in verschiedene Methoden sowie fachbezogene Propädeutik vor: ein Curriculum, das sich ganz ähnlich auch an anderen Universitäten findet, z.B. in Göttingen oder Münster oder an der FU Berlin.4 Eine Abstimmung der Programme und der jeweiligen Programmkomponenten gelingt hier trotz der Diversifizierung und Divergenz von Ansätzen und Methoden als fast ja schon einer Spaltungssituation des Faches. Auch die nicht unkomplizierte Ausdifferenzierung des Bachelor-Programms in unterschiedliche Studiengänge mit unterschiedlichen Anforderungsprofi4
Ein Blick in die gängigen Einführungshandbücher zur Literaturwissenschaft gibt Aufschluss über die derzeit vorherrschenden Ansichten: Zum Standardrepertoire gehören neben literaturtheoretischen Begriffsklärungen, neben Fach- und/oder Literaturgeschichtlichem vor allem zwei große Bereiche: Techniken gattungsspezifischer Textanalyse zum einen und zum anderen die Darstellung verschiedener methodischer Zugänge und Modelle. Das Spektrum gerade im methodologischen Bereich hat sich selbstverständlich stark erweitert und wird inzwischen als neutral gehaltener vergleichender Überblick angelegt. Dies sind die Kernbereiche, daneben werden häufiger auch literaturwissenschaftliche Aufgabenfelder und Berufsperspektiven berücksichtigt. Bemerkenswert ist eine weitere Entwicklung: In neueren Handbüchern – etwa Luserke-Jaqui (2007), Neuhaus (2005) und Jeßing/Köhnen (2007) – wird häufiger auch propädeutischen Fragen nachgegangen wie: Auf welchen Wegen findet man Forschungsliteratur, wie zitiert man richtig, wie schreibt man eine Hausarbeit und wie hält man ein Referat? Diese ganz handwerkliche Seite hat neben den traditionellen Themen (Textanalyse, Methodologie, auch Literaturgeschichte) also inzwischen Eingang in die allgemeinen Übersichtsdarstellungen zum Teilfach gefunden. Allerdings sind auch hier ganz unterschiedliche Entwicklungen zu verzeichnen. Zum Beispiel setzen Grübel/Grüttemeier/Lethen (2005) in ihrem Einführungsbuch, dezidiert auf das „BA-Studium Literaturwissenschaft“ bezogen, folgende „drei literaturwissenschaftliche Kernkompetenzen“ mit entsprechenden organisatorischen Schwerpunktbildungen an: „Kontextualisierung von Literatur“, „Analyse literarischer Texte“, „Analyse literarischer Institutionen“ (Grübel/Grüttemeier/Lethen 2005, 10f.). So ist denn einerseits festzustellen, dass die neuen Studiengänge eine stärker anwendungs- und berufsbezogene Perspektive haben und dies auch auf das Selbstverständnis des Faches durchschlägt. Andererseits lassen sich zu dieser Pragmatisierung (oder kritisch: Instrumentalisierung) auch Alternativen bilden, die andere Praxis-Bezüge anstreben, etwa BA-Programme mit einer Intention auf mediale, kulturelle, institutionelle Kontexte von Literatur.
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len5 lässt sich im Einklang mit den Strukturen realisieren. Das gilt ebenfalls so für die Teildisziplinen der Alt- und der Neugermanistik, die sich trotz anders akzentuierter Notwendigkeiten im Bremer Bachelor grundsätzlich nicht zu eigenständigen Modulen voneinander absondern. Die hier erreichbare Homogenität dürfte nicht wenig mit der Ausformulierung der Lernund Qualifikationsziele als allgemeine und auf verschiedene Inhalte zu beziehende Kompetenzbeschreibungen zusammenhängen, die die Probleme spezifischer Professionalisierung eher verbergen, damit aber auch generellen Ansprüchen des Faches Vorrang geben. Das Basismodul „Grundlagen der Literaturwissenschaft“ im Bremer Bachelor Germanistik/Deutsch setzt einen Katalog von Fähigkeiten an, der die elementare Textbeschreibung, die theorie- und wissenschaftsgeleitete Analyse und die Bildung literaturhistorischen Bewusstseins betrifft. Kontrovers zu verhandeln sind hier wohl erst Fragen der Gewichtung, die bei der Realisierung des Programms entstehen. – Im Anschluss an das Basismodul konzentriert sich ein erstes literaturgeschichtliches Modul „Literaturgeschichte I: Autoren und Epochen (ältere und neuere Literatur)“ im 2. Semester auf die „Vertiefung“ einführend erarbeiteter Kenntnisse (mit der Implikation von Lektüreerfahrungen, Belesenheit, literaturgeschichtlichem Wissen als fachlicher Kompetenz) und im Weiteren auf die Vermittlung von Fähigkeiten der Kontexterschließung, der historischen Differenzierung sowie der Anwendung und Problematisierung hierfür verfügbarer Begriffe. Derartige Kompetenzbeschreibungen sind als Zielbestimmungen an der Bedürfnislage der Studierenden orientiert,6 aber natürlich auch Allerweltsformeln, gegen die wenig zu sagen ist und an denen sich deshalb fachliche Kontroversen kaum entzünden können. Die so inszenierte Affinität 5
In Bremen: Bachelor-Hauptfach und -Nebenfach mit dem Qualifikationsziel Lehramt an Gymnasien/ Fachanteil Deutsch im Bachelor Fachbezogene Bildungswissenschaften mit dem Qualifikationsziel Lehramt an Grundschulen und Sekundarschulen/ Bachelor-Hauptfach und Nebenfach mit einer allgemeinen Berufsorientierung. Studienverlaufspläne, Studienordnungen und Modulbeschreibungen der Bremer Bachelor-Studiengänge insgesamt unter: www.fb10.uni-bremen.de/germanistik. 6 Das führt in der Bremer Neukonzeption der Studiengänge beim grundschulbezogenen Lehramts-Bachelor („Fachanteil Deutsch“) zu einer Einschränkung von Literaturgeschichte auf die Geschichte der „Kinder- und Jugendliteratur“ („seit dem frühen 19. Jhdt., mit Schwergewicht auf der literarischen Moderne“). Dem künftigen Berufsfeld ist das sicherlich angemessen. Es schließt aber einen Horizontverlust und einen Verlust an historischer Dimension ein, der die Arbeit an/mit Texten überhaupt und damit auch mit den hier bevorzugten Texten substantiell beeinträchtigt.
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ließe sich deshalb wohl auch als eine Art von Etikettenschwindel kritisieren. Sie erhält und schafft aber Raum genug für unterschiedliche wissenschaftliche Einstellungen und Verfahren, ohne nach der anderen Seite in die Atomisierung und Monadenbildung zurückzuführen, die in den alten Studienstrukturen viel innere Absetzung ergab und die Studierenden mitunter von Seminar zu Seminar in unterschiedliche, gegeneinander abgeschottete Bezugssysteme führte. Umso größer werden jetzt allerdings die Probleme struktureller Passung zwischen den Bachelor-Programmen der unterschiedlichen Universitäten, und dies auch schon im Bereich der Basismodule, obwohl sich die oben angezeigte Dialektik von Kongruenz und Differenz (und damit einhergehend: Konkurrenz) hier noch gar nicht recht entfalten kann. Das hat vor allem mit der strikten Folge genau definierter Einheiten, mit der Kartierung des modularisierten Studiums zu tun. Sie dient der Objektivierung von Anforderungen, der Vergleichbarkeit von Leistungen sowie dem studienbegleitenden Prüfungswesen und war in all diesen Hinsichten als mobilitätsfördernde Strukturierung gedacht, die nun aber kontraproduktiv Grenzen schafft: Die Ablaufschemata der BA-Studiengänge sind strenge Regelungen nach jeweils anderen Mustern. Durch Unterschiede in der organisatorischen Ausgestaltung, zeitlichen Umsetzung und Gewichtung von Programmanteilen fehlt es merklich an Symmetrie. Das führt zu unüberbrückbaren Schwierigkeiten bei der Anerkennung von Studienleistungen. Dafür genügt oft schon eine Differenz in der Laufzeit von Basismodulen (1. Semester oder 1. Studienjahr?)7 mit entsprechend anderer Berechnung von Arbeitslast und Kreditpunkten. Ein strukturelles Defizit dieser Art ist bei länder-, ja universitätsspezifischer Programmentwicklung fast unvermeidlich. Es rührt aber nicht wenig auch von einer unterschiedlichen Analyse der Ausgangsbedingungen her, auf die bei der Studienplanung in adäquater Weise zu reagieren ist.8 7
Auf internationaler Ebene verstärkt sich dieses Problem noch erheblich. Es wird hier allerdings kaum noch registriert oder thematisiert, weil da längst eine Ebene abstrakter Verrechnung von Studienleistungen erreicht ist. „Das akademische Jahr besteht [...] in Großbritannien weiterhin aus Terms, in Österreich aus Semestern und in Finnland aus Blockkursen.“ (Banscherus 2007, 85) Die Frage nach näherer Deckung muss geflissentlich übergangen werden, erzwingt sie doch das Einbekenntnis völliger Differenz. 8 So verursachte Kompatibilitätsprobleme ergeben sich für den Bremer Bachelor Germanistik/Deutsch vor allem jenseits seiner literaturwissenschaftlichen Anteile, aber natürlich mit Auswirkungen auf das Gesamtmodell: Aufgrund häufig mangelnder schriftsprachlicher Vo-
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Beschränkt jedoch auf den eigenen Standort, so bleibt festzuhalten, fördert die Modularisierung produktive Absprachen unter den Lehrenden der Anfangsseminare, mit einer Tendenz auf Lehre im Team. Aus der Grundlagenphase des Studiums in Modulen folgt als organisatorische Aufgabe, sich auf bestimmte Lerninhalte zu verständigen und diese in stimmiger Konstellation auf einzelne Lehrveranstaltungen zu verteilen. Für die weiteren Studienphasen ist ein solcher Effekt aber nur begrenzt zu erzielen und auch nur begrenzt sinnvoll. 3
Kooperative Lehre im fortgeschrittenen BA-Studium
Bei den Modulen der Studieneingangsphase beruht die systementsprechend stimmige Durchführung auf einer Verständigung über die Grundnotwendigkeiten des Faches. Für das weiterführende Studium geben demgegenüber bereits die Modul-Konzepte die planerische Absicht zu erkennen, individuelle Gestaltungsspielräume zu schaffen und Richtungsentscheidungen zuzulassen. In der Praxis allerdings stellen sich die Module doch eher als ein Bündel von Veranstaltungen dar, das pragmatisch aus dem vorhandenen Lehrangebot geschnürt wird. Die konkrete Ausführung der Konzepte ist nach den Kriterien der Programmgestaltung von Lehre kontingent; nach den anderen Kriterien wissenschaftlicher Selbstorganisation der Lehrenden als Forscherinnen und Forscher ist sie dies aber ganz und gar nicht. Vielmehr lässt sich beobachten, dass bei zunehmender Professionalisierung der Studierenden die Lehrenden in ihre Arbeitsfelder einschwenken und forschungsnah zu unterrichten suchen. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs ist es angesichts des Qualifikationsdrucks unerlässlich und eine Bedingung des Erfolgs, ihre Veranstaltungen den Themen nach in die Perspektive ihrer Forschungsprojekte zu legen. Das mag noch gut zur Sortierung der Module passen, falls diese sich breit genug auffächern. Aber nur in Ausnahmefällen werden sich die Veranstaltungen von Lehrenden mit unterschiedlichen fachraussetzungen der StudienanfängerInnen werden hier zwei der drei ganzjährig durchgeführten Basismodule in die Erarbeitung sprachwissenschaftlichen Grundwissens investiert. Da andernorts in der Regel nur ein Einführungsmodul pro Teildisziplin studiert wird, entsteht bei Quereinsteigern Nachholbedarf; und es kann dann nur schwer Abhilfe geschaffen werden: Die in der Horizontale der einzelnen Jahrgänge wirksame und bindende Zeitfensterregelung lässt stundenplantechnisch ein Studium von Modulen des Vorjahres kaum zu.
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lichen Interessen auch in einer argumentativ belastbaren Weise kontextualisieren. Für die literaturhistorischen Bereiche des Bremer Bachelor Germanistik/Deutsch ist eine solche Passung aus systematischen Überlegungen auch gar nicht sonderlich geboten. In zwei einschlägigen Modulen (des 2. und des 4. Semesters) werden gleichsträngig mediävistische und neugermanistische Lehrveranstaltungen besucht (für die Bremer Mediävistik vgl. Lienert 2005, 117-120). Deren Aufgabe besteht insbesondere darin, modular erzeugtes Wissen ein Stück weit in gewachsenes Wissen zu verwandeln. Dieser Prozess vollzieht sich aber wesentlich über teildisziplinäre Orientierungen und ist dadurch seinerseits auch wieder einer Monadenbildung, nun innerhalb der Module, förderlich. Alles andere käme – in der Mittelphase des schließlich ja nur dreijährigen Studiums – einem Verzicht auf konzentrierte fachliche Arbeit gleich. Für die Studierenden bedeutet dies, dass sie in den literaturhistorischen Modulen zwei Lehrveranstaltungen besuchen, die kaum aufeinander beziehbar sind, und für die Lehrenden stellen sich diese Module eher als organisationstechnische Einheiten dar, ohne dass dabei ein synergetisches Moment anzuvisieren ist. Auf die Möglichkeit, die beiden Veranstaltungen des Moduls in einem direkten Bezug aufeinander anzulegen, wird verzichtet, um die Breite der Literaturgeschichte präsent zu halten. Hier wird bewusst das exemplarische Wissen akzentuiert, das Horizonte öffnen soll, ohne Synthesen zu forcieren. Das erfordert allerdings von den Studierenden trotz der formal stark regulierten Organisation des Studiums in nicht geringem Maße eigenverantwortliches Entscheiden. Die gelegentlich geäußerte Erwartung, das Bachelor-System werde einer ‚Verschulung‘ des Studiums Vorschub leisten, kann bezüglich der literaturgeschichtlichen Studieninhalte im Bremer Bachelor so jedenfalls nicht bestätigt werden. Eine ‚Zerstreuung‘ des Lehrinhaltes droht nicht nur mit der gern geforderten Überwindung von Grenzen zwischen den Teildisziplinen, sondern auch mit der ebenfalls propagierten Blickerweiterung des Faches Germanistik insgesamt im Sinne des Europäisierungsideals der Bologna-Konferenzen. Der Bremer Bachelor sieht im 5. Semester für die Literaturwissenschaft ein Pflichtmodul „Deutsche Literatur im europäischen Kontext (ältere und neuere Literatur)“ und für die Sprachwissenschaft ein Wahlpflichtmodul „Deutsche Sprache im europäischen Kontext“ vor. Im Wintersemester 2007/08 werden diese Module zum ersten Mal realisiert. Es bleibt abzuwarten, ob aus dem hier zu erzielenden Breitengewinn nicht auch ein Tiefenver-
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lust wird und die Expansion theoretisch-methodische Vereinfachungen begünstigt, wie dies in der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik so nicht zum ersten Mal der Fall wäre.9 Selbstverständlich ist es sinnvoll und auch für die Beschäftigung mit der ‚deutschen‘ Literaturgeschichte notwendig, über den eigenen Gartenzaun zu schauen. Die Voraussetzung dafür bleibt aber eine vorher hinreichende Erkundung des eigenen Reviers, sonst ergänzt lediglich ein Halbwissen das andere und lenkt im Letzten auch der Blick heimwärts nur auf unbekanntes Gebiet. Die (literaturwissenschaftlichen und sprachwissenschaftlichen) Module mit transnationalem Akzent sind deshalb an spätester Stelle, im Semester vor dem Programmabschluss mit der Bachelorarbeit, zu absolvieren. Direkt dem Zweck einer produktiven Wirkung von Modularisierung auf Kooperation dient im Bremer Bachelor ein als literaturwissenschaftliches Projekt ausgelegtes (Wahlpflicht-)Modul des 4. Semesters, das die hiesige Tradition des Projektstudiums aufgreift. Dieses Modul ist prinzipiell offen für eine schwerpunktbezogene Zusammenarbeit der Lehrenden, ob in der Vertikale historischer Bezüge (zwischen Alt- und Neugermanistik) oder in der Horizontale bestimmter Problemkonstellationen und Diskurse. Eine Anbindung an Forschungszusammenhänge ist gewollt, und möglicherweise wirkt die gemeinsame Arbeit unter einem Leitthema in diesem Sinne auch stimulierend. Den Studierenden wird die Gelegenheit gegeben, innerhalb eines Bezugsfeldes an wissenschaftlicher Diskussion und am Aufbau forschungsrelevanter Perspektiven teilzuhaben. Indem für die Studierenden Raum geschaffen wird, um eigene Fragen zu entwickeln und zu verfolgen, wird ‚forschendes Lernen‘ möglich, wie dies die Hochschuldidaktik vermehrt einfordert. Auswertbare Erfahrungen (z.B. darüber, ob und inwieweit das Projektmodul die Themenfindung für die Bachelorarbeit vorantreibt) liegen auch in diesem Fall bis jetzt noch nicht vor. Allerdings zeigt sich schon, dass hier nicht an eine Schnittstelle zwischen Lehre und Forschung, gar an eine Organisationseinheit für die wissenschaftliche Kommunikation zu denken ist, auch wenn zu wünschen bleibt, dass viel von der Planungseuphorie in der Programmgestaltung des Bachelor auf die Studienrealität übergeht. Besuchen die Studierenden im 4. Fachsemester wahlweise das Projektmodul (andere Optionen: ein Modul zur „Geschichte der deutschen 9
Beispiele dafür, aber auch Strategien des Umgangs damit liefert die traditionelle Komparatistik/Vergleichende Literaturwissenschaft mit ihrer Tendenz zu thematologischen Aspekten, Stoffgeschichte und Motivforschung.
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Sprache“, ein weiteres zu „Deutsch als Zweitsprache [Theorien und Methoden]“), haben sie – gemessen an den alten Studienmodellen – einen Kenntnisstand auf dem Niveau der Zwischenprüfung. Das prädestiniert so wenig wie der Bachelor insgesamt zu einer Teilnahme an Forschungskolloquien, auch wenn die Modulstruktur an sich solche Kooperationschancen hergibt. Die Modularisierung sorgt für bausteinartig zu fügende Studienelemente und erweckt (zumal durch das studienbegleitende Prüfungswesen) den Eindruck, als erführen die in den Modulen angesprochenen Themengebiete eine im Rahmen des Denkbaren resultative Behandlung. Jede und jeder Kundige weiß, dass dies anders ist, während vom Modell weiterhin die imaginäre Vorstellung ausstrahlt, es ginge in abschließbaren Einheiten stufenförmig voran.10 De facto handelt es sich bei den Modulen aber um zwei, manchmal drei Lehrveranstaltungen, eventuell noch mit sinnvoll begleitenden Maßnahmen (Erarbeitung von Lektürelisten etc.), die den Studierenden innerhalb von Großzusammenhängen des Faches einige Wissensinseln bewohnbar machen. Die Versuchung ist groß, zumindest für das jeweilige Modul als Veranstaltungsgefüge das ‚kombinatorische Spiel‘ weiter zu treiben in Richtung auf fachliche und wissenschaftliche Kooperation. Nur ist für den Bachelor in den einander zuzuordnenden Bereichen nicht auf das entwickelte Wissen zu rechnen, das die Struktur suggeriert und das für die Studierenden eine Vernetzung der Teildisziplinen als Blickerweiterung erst sinnvoll machte. Für den Bachelor scheint sich deshalb weiterhin der Aufbau fachlicher Säulen vertikal zu den Modulebenen zu empfehlen – was natürlich nicht gegen die Markierung von Anschlussstellen spricht. Das ermöglicht den Teildisziplinen eine Form von genetischer Entfaltung in der Lehre. 4
Ein Beispiel: Lehrkooperation im Berufsfeld Theater
Kooperationen innerhalb des Teilfachs bieten sich aufgrund der Modulerfordernisse nicht an. Dafür machen aber interdisziplinär angelegte Seminare (so etwa Kombinationen mediävistischer und geschichtswissenschaftlicher Veranstaltungen zu Themen der Frühe-Neuzeit-Forschung, Veranstaltungen 10
Das ist die weniger beachtete innere Seite der mittlerweile häufig monierten „Prozessgläubigkeit“ (Grigat 2007, 278), die bei den im Detail wie im Ganzen schwierigen Bedingungen für die Bachelor-Master-Reform auf Qualität im Vollzug vertraut.
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zur Allgemeinen Semiotik, filmwissenschaftlich oder pressegeschichtlich orientierte Seminare etc.) einen merklichen Anteil des Lehrangebotes im Bremer Bachelor aus. Das ist allerdings kein Novum: Die Tendenz zur kulturwissenschaftlichen Erweiterung durch Lehrkooperationen hatte sich in Bremen bereits vor der Einführung der Bachelor-Studiengänge abgezeichnet. Sie wird jedoch durch den Bachelor noch einmal entschieden gefördert, indem die unterschiedlichen Disziplinen und Teilfächer je für sich Studienbereiche definieren, die der Bildung von Analogien günstig sind. Dadurch wird eine (richtungsoffene) Kooperation zumindest ansatzweise strukturell verankert. Das bringt allerdings bei zumeist asymmetrischem Studienaufbau auch wieder Probleme spezifischer Art mit sich. Als Beispiel sei ein eigenes Seminar (R.W., gemeinsam mit Ulrike Eberhardt, Fachdidaktik Deutsch) herausgegriffen, das hier in seinen leitenden Ideen und mit seinen organisationstechnischen Schwierigkeiten kurz vorgestellt werden soll: Beides ergab sich in gewissem Maße aus den Strukturvorgaben für den Bachelor. Es handelte sich um ein Doppel-Seminar zum Theater aus literaturwissenschaftlicher und fachdidaktischer Perspektive,11 das praxisbezogene Anteile am Bremer Theater enthielt12 und im Sommersemester 2007 stattfand. Ausgehend von ausgewählten aktuellen Inszenierungen am Bremer Theater sollte das Seminar fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte füreinander produktiv machen und gleichzeitig berufsfeldbezogene Einblicke vermitteln. In der Konzeption hatten wir uns an drei Leitlinien des Bachelor-Systems und der Bremer Bachelor-Programme im Besonderen orientiert: an der Polyvalenz (hinsichtlich der beruflichen Einsetzbarkeit des BA-Abschlusses), am Praxisbezug und an der kultur- und medienwissenschaftlichen Ausweitung. Der Praxisbezug, der im Sinne einer stärkeren Vernetzung zwischen wissenschaftlichem Studium und Berufsmarkt eine zentrale Säule der Bachelor-Studiengänge bildet, erforderte Kooperationspartner auch im außeruniversitären Bereich. Über das Referat „Theater und Schule“ des Bremer Theaters wurden Einführungen zu den Inszenierungen und Nachgespräche mit Verantwortlichen der Regie und der Dramaturgie sowie mit Darstellern und Darstellerinnen organisiert, und es 11 Der Obertitel „Theater erleben – Theater erschließen – Theater vermitteln“ verband einen literatur- und einen fachdidaktischen Teil (vgl. dazu den Beitrag von Ulrike Eberhardt in diesem Band), die beide jeweils 2 Semesterwochenstunden Lehre umfassten. 12 In Zusammenarbeit mit Sabine Beyer und Anna-Barbara Fastenau vom Referat „Theater und Schule“.
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konnten die verschiedenen Produktionsprozesse (Erstellung der Spielgrundlage, Bühnenbildnerei, Proben, Programmheftgestaltung etc.) beobachtet und mitgedacht werden. Für das Seminar ergab sich so die Möglichkeit, nicht nur Text und Aufführung im Sinne einer Performanztheorie aufeinander zu beziehen, sondern zudem medienästhetische und kulturwissenschaftliche Perspektivierungen vorzunehmen: an Wagners Musikdrama Tristan und Isolde etwa war das Verhältnis von Musik und Text, an der AmerikaInszenierung von Johann Kresnik waren verschiedene Stufen der LiteraturBearbeitung und Bedingungen des Medienwechsels zu verhandeln (Grundlage der Inszenierung war die Max Brod’sche Fassung von Kafkas Romanfragment Der Verschollene, durch Christoph Klimke frei dramatisiert). War diese Kooperation inhaltlich bewusst an den Bedürfnissen des BAProgramms orientiert, ergaben sich bei der Umsetzung einige strukturbedingte Probleme. Als größte Hürde erwies sich hier die Zuordnung zu Modulen. Für die Literaturwissenschaft boten sich dafür thematisch drei Module des 2. bis 4. Semesters an, von denen das am Besten geeignete („Interkulturalität, Medienästhetik und Kommunikation“) allerdings in den Sommersemestern gerade nicht durchgeführt wird. Dieses Problem trat auch bei der Integration in das Programm der Fachdidaktik auf und wurde noch dadurch verstärkt, dass das hier maßgebliche Modul („Fachdidaktisches Praktikum“) überhaupt erst für das Wintersemester des dritten Studienjahres, das 5. Fachsemester vorgesehen ist. Eine gemeinsame Zielgruppe und ein gemeinsames Arbeiten wurden schließlich nur dadurch möglich, dass angesichts mancher Unwägbarkeit bei der Durchführung von Praktika für den Studienverlauf in der Fachdidaktik von einer streng konsekutiven Folge der Module abgesehen werden kann. Außerdem machte die Kooperation mit dem Theater Terminplanungen notwendig, die sich nur bedingt mit den Zeitfenster-Regelungen des Bachelor (zur Sicherung der Überschneidungsfreiheit bei Pflichtveranstaltungen) abstimmen ließen. Diese Inkompatibilität war nur zu tolerieren, weil den Studierenden im relativ großen germanistischen Lehrangebot ein ausreichendes Alternativprogramm zur Verfügung stand. So bedienen denn die Bachelor-Programme der erklärten Absicht nach ein Wissenschaftsverständnis, in dem disziplinäres Denken zu Inter- und Transdisziplinarität aufschließt. In der Konkretion werden aber entsprechende Vorhaben durch die – im Vergleich zu den alten Studiengängen – stärkere konzeptuelle Durchdringung des ganzen Studienablaufs eher er-
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schwert. Andererseits kann eine hier noch notwendige Flexibilisierung der Strukturen nicht schon ihrer Festigung vorgreifen. Es bleiben die Prozesse abzuwarten, in denen sich das Funktionieren der Programme langfristig auch an ihrem Vernetzungspotential ermisst. Als Voraussetzung hierfür ist allerdings eine solide fachliche Grundlegung unverzichtbar, was zu der spannungsvollen Situation führt, dass im Bachelor interdiziplinäre Veranstaltungen und teildisziplinäre Grenzziehungen gleichermaßen Sinn machen. 5
Der Master Germanistik als Perspektive
Wenn zum Wintersemester 2008/09 der erste Jahrgang Studierender das Bachelorstudium absolviert hat, wird die Bremer Germanistik zugleich mit dem Master of Education ein fachwissenschaftliches Masterprogramm (Master of Arts) beginnen. Dieses Programm geht von der pluralen Qualität der Germanistik aus. Es versteht die Ausdifferenzierung in Teildisziplinen mit je eigener Denkkultur und Tradition und mit gegeneinander abzugrenzenden Forschungsanliegen als historisch gewachsene Identität des Faches. Das verlangt nach starker Präsenz der Zentralbereiche altgermanistische und neugermanistische Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft. Damit soll nicht zuletzt für den Fachmaster auch der allgemeinen Tendenz entgegengewirkt werden, im engen Zeitrahmen der Bachelor- und Masterprogramme dem Postulat berufsbezogener Bildung durch Verringerung des Spektrums zu genügen. Der vorgeschaltete Bachelor kann in seinen fachwissenschaftlichen Studienanteilen nur noch begrenzt als eine gleichmäßig auf alle drei Teilfächer Sprachwissenschaft, ältere und neuere Literaturwisenschaft bezogene Grundausbildung in jenem Sinne aufgefasst werden. Deshalb dient das erste Semester des Bremer Fachmaster als „Konsolidierungsphase“ einer Aufarbeitung von Wissen in den Bereichen (jenseits des Fachgebietes der Bachelor-Arbeit), die vorher weniger konzentriert studiert worden sind. Das alles impliziert in jedem Fall aber einen Studienhergang, der die fachinternen Trennungen nachvollzogen und nachgezeichnet hat und der gerade nicht als grenzüberschreitender Zusammenschluss konzipiert war. Das zweite Semester des Fachmaster schärft als „Spezialisierungsphase“ zusätzlich diese Konturen, kommt andererseits aber in seinen drei unterschiedlichen Wahlpflichtbereichen (1) Mediävistik im europäischen Kontext, (2) Neuere deutsche Lite-
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ratur und Ästhetik, (3) Sprache – Denken – Medien einer Schwerpunktbildung mit entschieden innerer Weitung gleich. Die mediävistische Ausrichtung hat eine europäische Dimension (und integriert sich dem European-MasterProgramm „Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext“),13 die Neugermanistik ist im literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt mit der Modulgruppe „Texte und Kontexte“, „Prozesse und Transformationen“, „Ästhetik und Literarizität“ systematisch auf eine Verzahnung diachroner und synchroner, textanalytischer und theoretischer Perspektiven angelegt, und der sprachwissenschaftliche Schwerpunkt ist eine Knotenbildung aus sprachphilosophischen, kognitionslinguistischen, medienwissenschaftlichen und semiotischen Themenführungen. Dieses Konzept rechnet auf eine produktive Wirkung genau gegliederter Lehre in Modulen, die den regulativen Aspekt solcher Gliederung zurückdrängt. Stattdessen soll es um eine Ordnung für die Entfaltung von Potentialen gehen, mit welcher Ordnung sich komplexe Zusammenhänge voneinander absetzen und aufeinander beziehen lassen. Das soll seinen vollen Austrag in der dritten Studienphase erhalten, die als „Vernetzungsphase“ (3. Semester) die drei Schwerpunkte des Master Germanistik mit übergeordneten theoretischen oder problemorientierten Fragestellungen aufeinander bezieht, Spannungsverhältnisse und Kongruenzen zwischen den Teildisziplinen erzeugt und deren unterschiedliche Anliegen, Methoden, Wissenszugänge und Wissensbestände in einen allgemeinen fachlichen Diskurs ‚einspeist‘. Hier werden Germanistik und Kulturgeschichte, Ästhetik und Semiotik, Medienkulturwissenschaft und Literaturwissenschaft modular verknüpft. Das ist freilich alles noch Programm (im Stadium der Akkreditierung). Eine solche Aufgliederung und Zuordnung kommt unter Einbeziehung der bekannten sachfremden, aber planungsrelevanten Faktoren (personelle Ressourcen, Lehrdeputate etc.) einer Wunschvorstellung gleich, die indes sehr wohl bereits das Selbstverständnis prägt und als eine Strukturvorgabe auch Konstellationen für die Forschungsarbeit schafft. Allerdings sind hierbei zwei systembedingte Probleme zu akzeptieren:
13 Zur näheren Information vgl. die Website dieses internationalen Master-Programms der Mediävistik: http://web.letras.up.pt/europeanmasters/deutsch/deutsch.html
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Es handelt sich um ein Modell sektoral begonnener Komplexion. Mit der Spezifizierung und auch mit der Erzeugung von Korrespondenzen wird zugleich das Nebeneinander der Teildisziplinen des Faches gesichert. Damit bestätigt das Modell interne Trennungen, bevor es sie durchquert, und vertraut risikoreich auf eine Dialektik, die sich möglicherweise aber gar nicht mehr einstellt. Das hängt letztlich davon ab, in welchem Maße Kooperation die spezifischen Belange tangiert. Das Modell begünstigt nicht die eigentlich ja nahe liegende Kooperation innerhalb der einzelnen fachlichen Bezirke. (Dieses Problem erbt das Master- vom Bachelor-Programm.) Strukturell unterstützt wird nur die Kooperation von Fachvertretern und Fachvertreterinnen unterschiedlicher Provenienz. Genauere fachliche Parallelen führen innerhalb des Modells gerade nicht zu einem für die Studierenden mitvollziehbaren Lehrzusammenhang (als Ansatz zu gemeinsamer Forschung), sondern zu einem alternativen Angebot. Der Versuch etwa, gemeinsam in einem Modulkontext zum Drama und Theater der Aufklärung zu arbeiten, hier mit einem stärker hermeneutischen, dort mit einem stärker diskursanalytischen Akzent, zwingt die Studierenden zur Entscheidung entweder für das eine oder für das andere – und schließt folglich einen Reflex solcher Projektarbeit in den Strukturen weitestgehend aus.
Dafür lassen sich mit dem Schweifen über Trennlinien hinweg, als Perspektive des modularisierten Studiums im Master, Problemkomplexe in methodischer und historischer Ausweitung erforschen. Das eröffnet Wege, die alte Mittelstellung der Germanistik für die Geistes- und Kulturwissenschaften im deutschsprachigen Raum neu zu akzentuieren: Die Germanistik bildet ein Zentrum für die Erschließung von kollektiven Sinnsystemen, Semantisierungsprozessen, Identitätsentwürfen und deren historischen Wandel (vgl. Wende 2007, 117), und sie ist – am Leitfaden der Alterität ihrer Gegenstände, ihrer theoretisch-methodischen Prämissen und Analyseverfahren – ein Forum für die Diskussion über unterschiedliche Interpretationen von Welt und über die Perspektivität von Erkenntnis. Hier ist das Bremer Bachelor- und Master-Konzept für die Germanistik nicht mehr auf eine längst imaginäre Einheit des Faches aus. Es unterstellt vielmehr deren Verlust. Es baut aber unter dieser Voraussetzung auf beziehungsfähige Differenz, auf die Schubkraft fachinterner Vernetzung, die impulsgebend in die neue Studienstruktur hineinwirken soll, und es versteht
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die Modularisierung diesbezüglich als Postulat. Das ist eine emphatische Rede, der sicher eine bescheidener ausfallende Praxis und noch manche Desillusionierung folgen wird. Was aber aus den neuen Bachelor- und Master-Studiengängen werden wird, das hängt wesentlich vom Willen zu solcher Entfaltung ab. Literatur Bandscherus, Ulf (2007): Die deutsche Studienreformdiskussion und der BolognaProzess. Über die These einer Konvergenz der Studiensysteme in Europa und ihre Auswirkungen auf die Bildungspolitik in Deutschland. In: Bollenbeck/ Wende (2007): 71-88 Barner, Wilfried (1990): Pluralismus! Welcher? Vorüberlegungen zu einer Diskussion. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 34. 1990. 1-7 Bentfeld, Anne (1997): Die Wirklichkeit. Das germanistische Grundstudium an den bundesdeutschen Hochschulen. In: Bentfeld/Delabar (1997): 225-236 Bentfeld, Anne/Delabar, Walter (Hrsg.) (1997): Perspektiven der Germanistik. Neueste Ansichten zu einem alten Problem. Opladen: Westdeutscher Verlag Böhme, Hartmut (1997): Die Literaturwissenschaft zwischen Editionsphilologie und Kulturwissenschaften. In: Bentfeld/Delabar (1997): 32-46 Bollenbeck, Georg/Saadhoff, Jens (2007): Humboldts Tod. Über die Effekte der Hochschulreform. In: Bollenbeck/Wende (2007): 11-30 Bollenbeck, Georg/Wende, Waltraud ‚Wara‘ (Hrsg.) (2007): Der Bologna-Prozess und die Veränderung der Hochschullandschaft. Heidelberg: Synchron, Wiss.Verl. der Autoren Bürger, Christa (1989): Literatur und Literaturwissenschaft. Ausgrenzungsgeschichten. In: Förster et al. (1989): 16-21 Dainat, Holger (2007): Die Germanisten in Europa: ratlos. Über disziplinäres Driften in Zeiten der Studien- und Hochschulreform. In: Bollenbeck/Wende (2007): 89-103 Dyck, Joachim (1987): Methodenrausch im Vakuum. In: DIE ZEIT, 16.10.1987 Förster, Jürgen/Neuland, Eva/Rupp, Gerhard (Hrsg.) (1989): Wozu noch Germanistik? Stuttgart: Metzler Grigat, Felix (2007): Masterplan ohne Mastermind. Zum aktuellen Stand des BolognaProzesses an deutschen Hochschulen. In: Forschung & Lehre 5. 2007. 276-278. Grübel, Rainer/Grüttemeier, Ralf/Lethen, Helmut (2005): BA-Studium Literaturwissenschaft. Ein Lehrbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph (2007): Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft. 2., aktual. u. erw. Aufl. Stuttgart [u.a.]: Metzler
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Laermann, Klaus (1991): Fiat nox! Dunkelheit breitet sich aus in geisteswissenschaftlichen Büchern. In: DIE ZEIT, 2.8.1991 Lienert, Elisabeth (2005): Ganze Germanistik und integrierte Mediävistik. Bremer Überlegungen zum Ort der Altgermanistik in den neuen gestuften Studiengängen. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52. 2005. H.1: Germanistische Mediävistik und ‚Bologna-Prozess‘. 114-120 Luserke-Jaqui, Matthias (2007): Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft. 2., überarb. u. erg. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Neuhaus, Stefan (2005): Grundriss der Literaturwissenschaft. 2., überarb. Aufl. Tübingen [u.a.]: Francke Prinz, Wolfgang (Hrsg.) (1990): Die sog. Geisteswissenschaften. Bd. 1: Innenansichten. Frankfurt am Main: Suhrkamp Schmidt, Thomas E. (2004): Die erschöpften Germanisten. In: Süddeutsche Zeitung, 9.9.2004 Schmoll, Heike (2006): Musterknabe Europas. Der deutsche Perfektionismus bei der Neuordnung der Hochschulen im Zeichen von Bologna. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.5.2006 Spiewak, Martin (2004): Rettet euch selbst, sonst tut es keiner. In: DIE ZEIT, 22.4.2004 Velten, Hans Rudolf (2005): Zwischen kulturwissenschaftlicher Öffnung und Bologna-Prozess: Chancen und Risiken für die germanistische Mediävistik. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 15. 2005. 507-522 Voßkamp, Wilhelm (1990): Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft: Thesen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg. In: Prinz (1990): 240-247 Wende, Waltraud ‚Wara‘ (2007): Wozu Germanistik? Der Bologna-Prozess als Chance für längst überfällige Modernisierungsprozesse. In: Bollenbeck/Wende (2007): 105-121 Wissel, Carsten von (2007): Hochschule als Organisationsproblem. Neue Modi universitärer Selbstbeschreibung in Deutschland. Bielefeld: transcript Zimmer, Dieter E. (1970): Katzenjammer bei Germanisten: Eine frustrierte Disziplin. In: DIE ZEIT, 20.2.1970
II. Deutsche Literaturwissenschaft
Wenn ein Reisender in einer Wissenschaft. Vermittlung als Konstruktionsbedingung der (Literatur-)wissenschaft Ulrich Welbers
Fragt man nach dem Zusammenhang von Hochschuldidaktik und germanistischer Literaturwissenschaft, steht häufig das Bild einer zunächst nicht zur Diskussion gestellten Wissenschaft der Inhalte (Literaturwissenschaft) neben dem einer möglichen Praxis der besseren, meist nur methodisch zu qualifizierenden Vermittlung dieser fraglos gesetzten Inhalte (Hochschuldidaktik). Auf der Seite der Fachwissenschaft soll, ja muss alles bleiben wie es war, in der Vermittlung dagegen soll alles schnell anders und vor allem besser werden. So einsichtig solche Rollenteilung auf den ersten Blick auch erscheinen mag, sie entspricht heute kaum noch dem Forschungsstand weder der Literaturwissenschaft noch der Hochschuldidaktik. Vielmehr verändert sich auch Wissenschaft grundlegend, wird sie unter dem Kontext ihrer Vermittlung neu gesehen. Der folgende Beitrag geht dieser Konstruktion eines veränderten Wissenschaftsbegriffs unter dem Paradigma der Vermittlung zunächst wissenschaftshistorisch nach, nennt dann Bezüge zu germanistischen Disziplinen und formuliert schließlich Anforderungen einer diesbezüglichen hochschuldidaktischen Professionalisierung. Leitbild dieser Überlegungen ist das einer Wissenschaft über Deutsche Sprache und Literatur, das sich prinzipiell immer schon als Vermittlungswissenschaft versteht.1
1 Der vorliegende Beitrag wurde zuerst in dem von Susanne Hochreiter und Ursula Klingenböck 2006 in Wien herausgegebenen Band Literatur Lehren Lernen. Hochschuldidaktik und germanistische Literaturwissenschaft veröffentlicht und für diesen Zweck überarbeitet.
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Ulrich Welbers Reduktionsvarianten des Wissenschaftsbegriffs
Der Begriff der Vermittlung von Wissenschaft und der der Vermittlungswissenschaft als ein mögliches wissenschaftstheoretisches Paradigma gründet sich auf Begriff und Selbstverständnis der Wissenschaft und der Wissenschaften selbst. Geht man derart grundlegend an die Problematik heran und verkürzt diese damit nicht auf eine reine Anwendungsproblematik, stellt sich die Frage, wie die gegenseitige Inanspruchnahme dessen, was wir modellhaft Theorie einerseits und Praxis andererseits zu nennen gewohnt sind, systematisch organisiert ist und welche Gestaltungsmöglichkeiten sich zudem aus dem damit unterstellten Spannungsverhältnis konkret entwickeln lassen. Akzeptiert man zunächst eine solche – im Grunde eher pragmatische, tendenziell also wiederum ‚untheoretische‘ – grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem, was Menschen denken bzw. wissen und dem was sie tun sollen, scheint sich bei näherem Hinsehen die Last der Legitimation jedoch schnell umzudrehen: Wissenschaft ohne Verortung in ihren jeweiligen Vermittlungsbezügen ist systematisch gesehen – auch wenn dies auf den ersten Blick nicht gleich erkennbar ist – gerade ein höchst unvollständiges, im aristotelischen Sinne ‚künstlich‘ generiertes Konstrukt, gleichsam technokratische Isolierung dessen, was man zunächst glaubt, mit operationaler Funktionalität methodisch beherrschbar machen und halten zu können. Wir leben in Zeiten eines zur selbstreflexiven Zirkulation neigenden und damit substantiell immer weiter sich selbst reduzierenden Wissenschaftsbegriffes, einer Wissenschaft, für die man historisierend auch formulieren könnte, dass sie das typische Kind einer automatisierten, am mentalen Bild des Fließbandes orientierten Industriegesellschaft geblieben sei, die in dieser Form eigentlich nicht mehr existiert. Wissenschaftshistorisch sind wir letztlich einer Konstruktion aufgesessen, deren pragmatische Generierung sich einer ebenso obsoleten wie unübersichtlichen Mischung aus Restbeständen eines zur Alltagsideologie erstarrten Positivismus und einer personalen Attribution und institutionellen Transformation des Genieästhetik-Gedankens des 18. und 19. Jahrhunderts verdankt: Die Wissenschaft, das sind – Humboldts Traum in sein abträgliches Gegenteil verkehrend (Welbers 2003b) – heute vor allem die Wissenschaftler allein und das im doppelten Sinne von Einsamkeit und Beobachtung, man könnte überspitzt formulieren: institutionell separierte ‚Faust‘-Maschinen stehen am Ende eines sich ins Unsichtbare zerteilenden und entgrenzenden Wissenschaftsbetriebes.
Wenn ein Reisender in einer Wissenschaft
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Vor allem das wissenschaftspraktische Überleben im Alltag sichert solche Separation, die häufig nicht mehr die Wissenschaft aus den Gegenständen zu begreifen und zu bilden sucht, sondern umgekehrt diese Gegenstände und ihre wissenschaftliche Bearbeitung aus Struktur und Projektion spätmoderner Wissenschaftsorganisation generiert. Diese Umkehrung ist vielleicht die folgenschwerste Fehlentwicklung der Wissenschaften vor allem im 20. Jahrhundert, eine Entwicklung, deren Kritik nicht auf die durchaus produktive Dialektik induktiver und deduktiver Theoriebildung zielt, sondern auf die Frage, ob man die Dignität des Gegenstandes nicht gerade dadurch verletzt, dass man sie den Prosperitäten und den bürokratischen Zufälligkeiten der eigentlich mit ihrer Tradierung, Aufbereitung und vor allem Aufklärung beauftragten Institutionen überantwortet. ‚Vermittlung‘ zwischen sich und anderen, zwischen Denkkulturen und Gesellschaftskulturen, zwischen Reflexion und Konsequenz, zwischen Erkenntnis und Ethik, schließlich zwischen Einsicht und Kritik wirkt in einem solchen Umfeld allenfalls als Behinderung des reibungslosen Ablaufs des Methodischen. Außen vor bleibt der unangenehme Appell auch gesellschaftlicher Wahrheit und des gesellschaftlichen Wandels, dessen Realität, Verständnis und Bearbeitung man gerne an andere delegiert. Und dies Alles geschieht paradoxerweise auch noch fast unbemerkt vor unseren Augen – von der Wissenschaft und ihrem medientheoretischen Paradigma mittlerweile irgendwie dauerangestarrt und trotzdem unverstanden – in einer aktuellen Wirklichkeit ständiger Vermittlung, bspw. eben in der allgegenwärtigen Mediengesellschaft, also einer Gesellschaftlichkeit der mehrfach selbstreflexiven ‚Mediation‘, einer Gesellschaft zudem, von der man zu Recht erhofft, sie dürfe irgendwann einmal nicht nur politisch nützlich, sondern auch mit dem Recht des Faktischen ‚Wissensgesellschaft‘ genannt werden. In ein literarisches Bild gefasst fühlt man sich irgendwie ein bisschen wie Calvinos Reisender in einer Winternacht unterwegs in abgebrochenen Geschichten: „In dieser Nacht hast Du einen Traum. Du sitzt in einem Zug, einem langen Zug, der durch Irkanien fährt. Alle Reisenden lesen dicke gebundene Bücher. […] Dir kommt der Gedanke, dass einer der Reisenden oder gar alle einen jener Romane lesen, die du hast abbrechen müssen, ja dass womöglich alle jene Romane hier im Abteil sind, übersetzt in eine dir unbekannte Sprache. Du bemühst dich zu entziffern, was auf den Buchrücken steht, obwohl du weißt, dass es zwecklos ist, weil du die Schrift nicht lesen kannst.“ (Calvino 2004, 257)
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Gegenseitige Beobachtung erzeugt also nicht unbedingt substantielles Verstehen oder auch Dialog, aber irgendwie scheint man auch hier Alles irgendwie künstlich spannend zu halten – fragmentarisierte Wissenschaft zu Beginn des 21. Jahrhundert.2 Drei Thesen können an dieser Stelle formuliert werden, die das integrierte Verhältnis von Wissenschaft und Vermittlung bezeichnen und die noch näher begründet werden müssen: Erstens ist jede Wissenschaft bestenfalls eine Vermittlungswissenschaft. Bringt sie (die Wissenschaft) diesen Charakter (der Vermittlung) nicht immer schon mit, bleibt jeder Begriff von ihr konstitutiv leer oder zumindest unvollständig, vor allem aber orientierungslos. Zweitens ist demgegenüber der zur Zeit aktuelle Begriff der ‚Vermittlungswissenschaften‘ als erweiterte Konstruktion dessen, was gemeinhin als Didaktik bezeichnet wird, kein absoluter, sondern ein regulativer Begriff, dessen theoretische Reichweite und praktische Anwendungsmöglichkeiten auf bestimmte Verwendungszusammenhänge hin jeweils zu prüfen sind. Drittens gilt: Der Begriff der ‚Vermittlung‘ definiert nicht die Wissenschaft, aber er hilft, sie besser zu verstehen.
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Als Gegenentwurf zu solcher Separation und methodologischer Engführung firmiert seit einigen Jahren in den Geisteswissenschaften der Begriff der ‚Kulturwissenschaft‘. (vgl. dazu Wengeler 2006, 1-23). Wengeler weist für ein solches Programm auf die „philologischen Kernkompetenzen Textgenerierung, Textinterpretation und Historisierung“ (Wengeler 2006, 3) hin. Eine „kulturwissenschaftlich verstehende Linguistik“ (Wengeler 2006, 5) müsse diese Kompetenzen explizit „als linguistische Kompetenzen vertreten (...), wenn sie sich neben den eher naturwissenschaftlich ausgerichteten Zweigen der Linguistik behaupten“ (ebd.) wolle. In Anlehnung an Wilhelm von Humboldt, Ernst Cassirer und Clifford Geertz hält er zudem die Verwendung eines zweiten Kultur-Begriffs für zwingend, der in erkenntnistheoretischer Hinsicht als konstruktivistisch und symbolzentriert zu verstehen sei (vgl. Wengeler 2006, 8). – Hartmut Böhme, Peter Matussek und Lothar Müller verstehen ‚Kulturwissenschaft‘ als Orientierungsbegriff, der sowohl programmatischer Orientierung bedürfe als diese auch geben könne, zugleich als wissenschaftliche Heuristik fungiere wie als methodologisches Programm i.e.S. (vgl. Böhme/Matussek/Müller 2002, 7-10/203-209). – In seiner umfassenden Erkundung des „Sinns als Fundamentalkategorie der menschlichen Kultur“ (Rüsen 2006, 2) bestimmt Jörn Rüsen schließlich kulturwissenschaftliche Studien selbst als Teil kultureller Tätigkeit und gerade darin als lebensdienlich. Sinnstiftung als Aufgabe aufklärerisch verfahrender Kulturwissenschaft sei angewiesen auf eine „Idee des Ganzen“ (ebd.), auf das Denken von Wahrheit, auf eine „Kultur der Anerkennung“ (Rüsen 2006, 237), die ihrerseits der Sinnstiftung durch die Kultur bedürften.
Wenn ein Reisender in einer Wissenschaft 2
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Historische Überlegungen zum Vermittlungsbegriff
Im Kern der hier zur Debatte stehenden Problematik ist von der Überwindung des Schismas von Wissenschaft und Gesellschaft zu sprechen, und zwar nicht als Brückenschlag getrennter Welten, sondern als Verstehenskonstruktion dahingehend, dass Wissenschaft nicht außerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit existiert und Gesellschaft objektiver Verständnisse ihrer selbst bedarf, um sich nachhaltig entwickeln zu können. Das ist nicht ohne Tradition. Der Begriff der Vermittlung, der Korrespondenz in vielen Sprachen der abendländischen Kulturentwicklung findet (bspw. griech. mesitei, a, lat. mediatio, engl. mediation, frz. médiation), meint im Mittelhochdeutschen sowohl eine Trennung der beiden Vermittelten (Teile) als auch deren Verbindung.3 Philosophisch-theoretisch gesehen kann ‚Vermittlung‘ auf der Grundlage dieses Schemas einerseits als Gegenbegriff zur Unmittelbarkeit fungieren (die dann eben nicht durch Zwischenglieder vermittelt wäre), andererseits ist auch die Überwindung eben der Entgegensetzung des Unmittelbaren gemeint. Erst im Neuhochdeutschen setzt sich dann die zweite Bedeutung auch in der Alltagssprache durch, nach der ‚Vermittlung‘ auf das Zusammenführen bzw. Vereinigen zweier bislang als getrennt verstandener Dinge zielt. Es zeigt die große Problemtradition des Begriffs, dass dieser zunächst in einem theologischen (Leib-Seele-, Gott-Mensch-Problematik) und dann im staatstheoretischen, völkerrechtlichen Kontext auftaucht. Das philosophisch-wissenschaftstheoretische Profil gewinnt der Begriff erst am Übergang vom 18. in das 19. Jahrhundert, und hier bietet die Logik ebenso Anknüpfungspunkt wie Thematisierungsraum dafür, den Begriff auf die Probleme des Denkens selbst zu beziehen und damit gleichwohl im Ansatz bereits Wissenschaftstheorie zu betreiben (vgl. Krug/Traugott 1970). Die einzelnen Stationen der Begriffsentwicklung sind hier nicht nur von illustrativem Belang, denn es ist u.a. festzustellen, dass der Vermittlungsbegriff von seiner Tradition her immer auch im Dialogischen begründet war. An dieser Stelle sei beispielsweise auf Jean P. Ancillons Zur Vermittlung der Extreme in 3
Zur Geschichte und Bedeutung des Begriffs ‚Vermittlung‘ im wissenschaftstheoretischen bzw. philosophischen Kontext vgl. Arndt 1971, 722-726. – Eintrag „Vermittlung“. In: Regenbogen/Meyer 1998, 703-704. – Eintrag „Vermittlung“. In: Mittelstraß 1996, 517-518. – Eintrag „Vermittlung“. In: Prechtl/Burkard 1999, 631-632. – Eintrag „Vermittlung“. In: Wissenschaftlicher Rat der Duden-Redaktion (Hg.): Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Mannheim u.a. (3., völlig neu bearb. und erw. Aufl.) 1999, Bd. 9, 4251–4252.
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den Meinungen von 1828 hingewiesen (Ancillon 1828), in dem u.a. die kommunikativen Möglichkeiten des Ausgleichs zwischen den Extremen gefordert und aufgesucht werden. Ist für Fichte Vermittlung nur eine zeitbegrenzte „Schlichtung eines Widerstreits durch das fortwährende Einschieben von Zwischengliedern“ (Arndt 2000, 723) – und wird damit in der Mitte der Vermittlung ebenso alles verbunden bzw. vereint wie es an den äußeren Enden trotzdem unverbunden bleibt –, stellt auch die Schellingsche Konzeption fest, dass Philosophie darauf zielen muss, die Dinge ursprünglich, das heißt eben ohne alle Vermittlung, zu erkennen. Nun folgt das, was man wirklich einmal einen Paradigmenwechsel in der Geistesgeschichte nennen kann: Hegel, der große Denker der Vermittlung mit Bedeutung und Wirkung weit über das 19. Jahrhundert hinaus, knüpft hier zwar ebenfalls am Vermittelten und Unvermittelten an, sieht das Entgegensetzte auch als zu Überwindendes, fasst es dann aber als (produktiven) Widerspruch und sieht im Akt der Vermittlung schließlich das eigentliche Denken, die Reflexion. Die Dinge werden im Denken, das als philosophische Reflexion immer schon solche Vermittlung ist, insofern sie selbst, als sie so – und nur so – als Absolutes erkannt werden können. Man könnte also mit Hegel sagen, dass Vermittlung als Reflexion und damit als Überwindung der Widersprüche die eigentliche philosophische Operation darstellt, ja die eigentliche Erkenntniskraft des dialektisch operativen und damit zugleich erkenntnispraktisch operierenden Menschen ist. Jede negative Konnotation des Vermittlungsbegriffes, sein Charakter als notwendig in Kauf zu nehmende Hilfskonstruktion zwischen dem und den Unmittelbaren ist damit passé. Umgekehrt ist gerade, wie Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes betont, „Vermittlung [...] nichts anders als die sich bewegende Sichselbstgleichheit, oder sie ist die Reflexion in sich selbst, das Moment des fürsichseyenden Ich. [...] Das Ich, oder das Werden überhaupt, dieses Vermitteln ist um seiner Einfachheit willen eben die werdende Unmittelbarkeit und das Unmittelbare selbst“ (Hegel 1999, 19). Unmittelbarkeit und Vermittlung sind so immer schon in den Dingen selbst als Erkannte, der Gegensatz hebt sich auf. Die kritische Weiterführung durch Feuerbach und die prinzipielle Skepsis theologischer Provenienz Kierkegaards gegenüber dem Hegelschen Entwurf bleiben hier unberücksichtigt, wissenschaftsgeschichtlich entscheidend ist, dass Hegel hier nicht nur unmissverständlich deutlich und einsichtig machen kann, dass Vermittlung inhärentes Prinzip aller Wissenschaft, sondern dass es sogar grundlegendes Prinzip unserer gesamten Wis-
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senskonstruktion ist. Dies ist für den hiesigen Zusammenhang von erheblicher und gar nicht zu überschätzender Bedeutung, weil nach dem Durchgang durch die Hegelsche Philosophie jeder Versuch, Vermittlung als nachgeordnetes, den zuvor als ‚unmittelbar‘ geadelten Wissenschaften gar untergeordnetes Prinzip aus dem Begriff der Wissenschaften künstlich hinauszudrängen wissenschaftstheoretisch geradezu absurd erscheinen muss. Vielmehr ist es Hegel, der erkennt, dass – man könnte in Anlehnung an Kant formulieren – all unser Denken als Reflexion erst mit der Vermittlung anhebt. Und nur auf den ersten Blick ist hier ein anderer Vermittlungsbegriff gemeint als der, den wir explizieren, wenn wir Gegenstände bewusst auf gesellschaftliche Prozesse beziehen und diese verhandelbar machen wollen. Wenn schon unser Wissen im wesentlichen Sinne dieses Wortes erkenntnistheoretisch und alltäglich nicht anders kann, als sich im Vermittlungsprozess des Denkens zu konstituieren, wenn schon die Wissenschaft erst entsteht, wenn sie Widersprüche in mehrfachem Sinne aufzuheben und sich in dieser Operation auf das Absolute dialektisch selbst vermittelnd zu errichten sucht (und dies in den Bereichen Kunst, Religion, Sittlichkeit, Staat, Geschichte usw. dann auch praktisch macht), um wie viel mehr ist dann auch die grundlegende Rekonstruktionsarbeit all’ unserer Gewinnung und Anwendung gesellschaftlichen Wissens immer schon konstitutiv durch das Paradigma der Vermittlung gekennzeichnet. Wenn das Wissen schon in seinem Wesen Vermittlung ist, dann kann Wissenschaft wohl kaum sich gründen, ohne selbst immer schon Vermittlung zu sein. Die fatale und in vielerlei Hinsicht paradoxe Kürzung des Wissenschaftsbegriffes um seinen Vermittlungscharakter nach innen und nach außen und damit die offensichtliche Halbierung des begrifflichen Potentials und des Selbstverständnisses der Wissenschaften selbst auf der einen Seite und die Verdrängung des zutiefst erkenntnistheoretisch-anthropologisch begründeten Zusammenhangs des Vermittlungscharakters allen Wissens ins Anwendungslastige auf der anderen Seite haben diese beiden Seiten der gleichen Medaille so getrennt bzw. ihre konstitutive Verschränkung aufgehoben, dass heute das gesellschaftliche Potential der Wissenschaftsentwicklung insgesamt in Frage gestellt ist und zu Recht auch wird. Eine Neuentdeckung des Vermittlungsparadigmas könnte diese Zersplitterung mit aufheben helfen.
110 3
Ulrich Welbers Eckpunkte einer Systematik von Vermittlungswissenschaft
Vermittlungsprozesse dürfen im umfassend kulturellen Kontext der Gesellschaft gerade nicht bedingungslos dem Zufall überlassen bleiben, und ihre Gestaltung darf auch nicht abseits professionellen, demnach auch wissenschaftlichen Handelns vonstatten gehen. Die moderne Gesellschaft verträgt ja gerade keinen Vermittlungsdilettantismus mehr, und zwar um ihrer selbst willen, und eine diesbezügliche Professionalisierung schwächt nicht die Autonomie der einzelnen Subjekte, sie stärkt sie als aktiv Teilnehmende am kulturellen Prozess und am kulturellen Gedächtnis dieser Gesellschaft. Gerade deswegen ist auch die Aufrechterhaltung autonomer Wissenschaften für die Gesellschaft so wichtig, nämlich vor allem um der Selbstbestimmung des Menschen willen in seinen historischen und sozialen Bezügen, die für ihn Vermittlung zur anthropologischen Grundaufgabe werden lassen: Individualitätskonstituierung, Wissenskonstruktion, Wissenschaftsinhärenz, Gesellschaftsrelevanz, Gegenstandsadäquanz, Professionalisierung und schließlich eine produktive Ambivalenz des wissenschaftlichen Zusammenhangs als Analyse- und Gestaltungsverfahren sind zentrale Kategorien für die Fundierung einer tragfähigen Heuristik von ‚Vermittlung‘ im Horizont wissenschaftlicher Theoriebildung. Es können nun die folgenden Perspektiven, die auch das daraus erwachsende Konzept der Umsetzung deklarieren, zusammengefasst werden: a.
b.
c.
Das Paradigma der Vermittlung in den Wissenschaften und die Vermittlungswissenschaft als paradigmatisches Konzept von Wissenschaft überhaupt sind geeignet, die Reduktionen des spätmodernen Wissenschaftsbegriffes zurückzunehmen bzw. zu ergänzen. Vermittlungswissenschaft als wissenschaftstheoretische Konstruktion versteht Wissenschaft als die integrierte Verknüpfung von wissenschaftlich legitimierten Theorie-, Analyse-, Anwendungs-, Produktions- und Reproduktionsverfahren gesellschaftlichen Wissens und sieht damit gesellschaftliche Realität als unbedingten Teil der eigenen Konstruktion und der spezifischen Verfahrensabläufe. Vermittlungswissenschaften sind konkret, und sie lehren und lernen heißt, gezielt und parallel auf verschiedenen Ebenen wissenschaftlichen Handelns durchgängig reflektiert tätig zu sein bzw. zu werden. Forschendes Lernen, Praxiserkundung, Praxisvollzüge und Praxisreflexion sind damit
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d.
e.
f.
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allesamt prinzipiell konstitutiver Bestandteil von Hochschulstudiengängen gleich welcher Art und welchen Abschlusses, welchen Hochschultypus’, welchen Ortes und welchen Faches auch immer. Vermittlungswissenschaften bieten gezielt aktiv gestaltete Schnittstellen zum Beschäftigungssystem an, ohne sich in dieser Perspektivierung theoretisch oder operational zu erschöpfen bzw. hier ihren zentralen Legitimations- und Handlungsfocus zu erkennen. Vermittlungswissenschaftlich Lehren und Lernen heißt, die Vermittlungsprozesse eben dieses wissenschaftlichen Lehrens und Lernens in die Reflexion von Vermittlung mit hineinzunehmen und zu nutzen. Hierzu bedarf es eines spezifischen Qualifikationsprofils bei den Lehrenden, das erst professionell entwickelt werden muss. Diese hochschuldidaktische Professionalisierung ist auch für alle anderen Aspekte des vermittlungswissenschaftlichen Lehrens und Lernens und eine dauerhafte Entwicklung dieses anspruchsvollen Konzepts von Wissenschaft Voraussetzung. Vermittlungswissenschaften helfen, trotz oder gerade wegen ihres fachdisziplinbezogenen Grundverständnisses, die drohende Befangenheit des einzelwissenschaftlichen Denkens, die zunehmende institutionelle Selbstbezogenheit der Urteile und die argumentative Einseitigkeit einer formalisierten Standardrationalität, die sich historisch und systematisch aus dem Separatismus von Forschung und Lehre, von Fachwissenschaft und Fachdidaktik, von Erziehungswissenschaften und Schulpraxis, von Wissenschaftsinstitutionen und gesellschaftlicher Reproduktion ergeben hat, aufzuheben zu Gunsten eines integrierten Verständnisses für die jeweiligen Disziplinen. Hierin liegt das eigentliche Potential für die Entwicklung auch der Wissenschaften selbst.
Diese Charakteristik der sechs Perspektiven ist wie deren Anzahl vorläufig, veränderungsoffen und ausbaufähig, der Begriff der einzelnen Vermittlungswissenschaften im Gegensatz zu dem der Vermittlungswissenschaft bleibt aber stets regulativ, nur jener ist systematisch universell. Das Konzept der Vermittlungswissenschaften bietet in der hier begründeten und ausgebildeten Form eine zweckmäßige Grundlage für konkretisierende Überlegungen.
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Ulrich Welbers Vermitteln als kulturelle Grundoperation
Bevor nun von diesen Umsetzungsmöglichkeiten am Beispiel der Germanistik einige vorgestellt werden, wäre jedoch noch eine Klärung des Vermittlungsbegriffes im Hinblick auf seine Operationalisierbarkeit zu leisten, also auf die Fragestellung, was Menschen eigentlich tun, wenn sie vermittlungswissenschaftlich handeln, oder einfacher: wenn sie vermitteln. Johannes Wildt sieht den Vermittlungsbegriff in seinen Verständniskontexten Bildung und Wissen im ersten Fall individuell auf die Persönlichkeit, im zweiten Fall sozial auf die Wissensgesellschaft bezogen (Wildt 2003, 155). Konkret vermitteln ist in Wildts vermittlungswissenschaftlichem Metaplan in den vier Operationen a. b. c. d.
Präsentieren – in der Rahmung, im Hinblick auf und durch Medien, Verständigen – im Kontext von Kommunikation, Lehren/Lernen – im Hinblick auf und durch didaktisches Handeln und schließlich Aushandeln – als Operation innerhalb von Mediationsprozessen
differenziert. Man erhält damit zunächst eine brauchbare Systematik für die Klärung der Tatsache, dass Vermittlung nach Bedeutungs-, Legitimationsund Handlungsräumen jeweils spezifisch differiert und ausgestaltet werden muss. Darüber hinaus wird mit dieser Differenzierung Vermittlung aber auch von der analytischen Ebene der Wissenschaften auf die Handlungsebene des Prozesses bzw. der Situation systematisch heruntergebrochen. Bedeutung konstituiert sich (erst) in Gebrauchssituationen (und dann jeweils spezifisch, nach ‚medialer‘ Rahmung kontextabhängig und unterschiedlich), eine Einsicht auch der auf Semantik und Semiotik ausgerichteten Debatte im Rahmen kulturwissenschaftlicher Theoriebildung (Jäger 2002, 197-217), wie sie plastischer im Kontext der Vermittlungsproblematik kaum illustriert werden könnte und wie sie hier einmal lernpsychologisch zum Tragen kommt. Die Differenzierung der Vermittlungsoperationen nach Wildt’s Analytik bedeutet jedoch gerade nicht deren Isolierung in weitgehend separierten und standardisierten Vermittlungsprozessen: häufig müssen parallel und aufeinander bezogen mehrere der Operationen zielführend zur Anwendung gebracht werden. Vermittlung findet damit also nicht nur im Vermittlungsprozess als
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Handlungsperspektive im Hinblick auf thematische Gegenstände und deren Bewältigung in sozialen Situationen statt, sondern auch zwischen den spezifischen Operationsformen von Vermittlung selbst muss vermittelt, d.h. ausgewählt, zurückgenommen, intensiviert, gebündelt, eingesetzt und vor allem immer neu auch gewichtet werden. Komplexes und flexibel einsetzbares fachliches, soziales und methodisches Urteilsvermögen gehört somit zentral zum Qualifikationsprofil für die Gestaltung von Vermittlungsprozessen und demnach auch zu einer diesbezüglichen Professionalisierung bzw. Qualifizierung derjenigen, die vermitteln, hinzu. Im Folgenden werden nun exemplarisch Gestaltungsmöglichkeiten des vermittlungswissenschaftlichen Paradigmas im Kontext germanistischer Hochschullehre vorgeführt. 5
Schreiben als Expertentätigkeit
Der erste Gestaltungsraum ist der, der üblicherweise mit dem Begriff der ‚Fachwissenschaft’ selbst assoziiert und charakterisiert wird. Auch und vor allem hier kann und muss verstärkt Wissenschaft unter der Vermittlungsperspektive verstanden und betrieben werden. Vermittlungswissenschaft ist nichts, was sich wissenschaftstheoretisch oder studienpraktisch dauerhaft bequem in einen gesonderten Bereich hineindelegieren und damit absondern ließe: sie trifft vielmehr in den Kern der Fachwissenschaften selbst. Ein vielversprechendes Beispiel, das inzwischen viele Korrespondenten und Nachahmer gefunden hat, ist der Bereich der literaturwissenschaftlichen Germanistik, der sich mit dem Komplex Schreiben bzw. Schriftlichkeit beschäftigt. Ich wähle an dieser Stelle das Beispiel der Düsseldorfer Germanistik, weil an diesem Standort eine Professur zum Bereich Schriftkultur, zu Theorie und Praxis der Schrift eingerichtet werden konnte und damit das fachwissenschaftliche Profil des Studienbereiches Schriftlichkeit ein besonderes Gewicht bekommt. Im Studienreformprogramm Germanistik, Anfang der 90er Jahre entstanden, können Studierende in Düsseldorf seit langem sog. Germanistisch-fundierte Schlüsselqualifikationen erwerben, und zwar nicht als gesonderter Praxisbereich, sondern als originärer und verpflichtender Teil des Fachstudiums selbst. Die Bereiche ‚Schriftlichkeit‘, ‚Mündlichkeit‘ und ‚Literarisch-kulturelle Kompetenz‘ stehen den Studierenden dabei zur Auswahl in der Kombination von theoretischen Seminaren bzw. Vorle-
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sungen einerseits und einer Vielzahl an praktischen Übungen andererseits, letztere meist von Lehrbeauftragten aus der Berufspraxis entwickelt und durchgeführt.4 Im Bereich Schriftlichkeit wären dies etwa ‚Journalistisches Schreiben‘ oder ‚Schreiben für die elektronischen Medien‘, ‚Literarisches Schreiben‘ oder ‚Kritiken schreiben‘, ‚Wissenschaftliches Schreiben‘ bis hin zum Verfassen von ‚Geschäftsberichten von Unternehmen‘ oder ‚Korrespondenztraining für Banken‘. Nun ist die offensichtliche Berufsqualifizierung durch diese Veranstaltungen nur eine der – man möchte sagen drei – Seiten der Medaille. Bernd Witte hat ebenso eindringlich wie differenziert begründet, warum Schreiben zentrale Operation des Menschen in der Moderne ist, warum Schriftlichkeit somit als zentrales Element der abendländischen Kultur figuriert, warum die Zäsur von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, von Literalität und Oralität zentral ist für die Forschungsentwicklung der Literaturwissenschaft wie für die zivilisatorische Entwicklung moderner Gesellschaften überhaupt und warum dies schließlich Konsequenzen haben muss auch für alle, die sich wissenschaftlich mit deutscher Sprache und Literatur befassen (vgl. Witte 1997, 59-74). Cornelia Epping-Jäger hat verdeutlicht, was dies für die Spannung zwischen „Expertenkultur und [...] Textverständlichkeit“ (Epping-Jäger 2000, 117) theoretisch und im konkreten heißt und in Anlehnung an Walter Ong überzeugend dargelegt, warum, wie Ong dies formuliert, „Schreiben [...] kein bloßes Anhängsel des Sprechens“ (Ong 1997, 117) ist: „Weil es (das Schreiben, U.W.) dies (das Sprechen, U.W.) aus seinem oral-auralen Zusammenhang befreit und zur neuen Welt des Schauens emporhebt, transformiert es Sprechen und Denken gleichermaßen“ (ebd.). Solche fachwissenschaftliche Forschung ist nutzbar für den Hochschulunterricht, denn sieht man diese Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Berufsqualifizierung der Studierenden und den Reformbestrebungen der Hochschullehre im Hinblick auf eine verstärkte Handlungs- und Produktionsorientierung, ergibt sich ein Bedingungs- bzw. Bezugsdreieck, das eben diese drei Aspekte (1) Fachwissenschaftliche Forschung – theoretische Fundierung, (2) Fachübergreifende Schlüsselqualifikation – produktionsorientierte Einübung in der Lehre und (3) Gesellschaftliche Praxis – Berufsfeldfähigkeit und Kompetenz in einen Zusammenhang bringen kann.
4
Zum Bereich Mündlichkeit vgl. Pabst-Weinschenk, 114–142.
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Hieraus lassen sich nun im Rahmen gestufter Studiengänge Module bilden, bspw. von 6 SWS, die eine theoretische Veranstaltung mit zwei Praxisveranstaltungen in jeweils einem der drei Bereiche verbinden. Auch eine Kombination aller Bereiche in einem Modul ist denkbar. Wohl bemerkt, wir befinden uns mitten im fachwissenschaftlichen Zusammenhang der germanistischen Literaturwissenschaft und hier wird ein weiteres Flexibilisierungsmerkmal ebenso offenbar, wie es die Entwicklung der Wissenschaften in der Spätmoderne illustriert: Ist ein Modul Schriftlichkeit für die Germanistik zentral aus ihrem originären Fachverständnis heraus, kann dies für ein anderes Fach ein eher fächerübergreifendes, ein Schlüsselqualifikationsangebot im klassischen Sinne sein (bspw. für Chemiker, die später einmal bei Henkel in der PR-Abteilung arbeiten oder Forschungsberichte abfassen oder ihre Forschungsergebnisse veröffentlichen usw.). Es kommt also immer auf die Perspektive an: Was für einen fachlichen Zusammenhang Kern der Wissenschaft sein wird, kann für den anderen als Schlüssel- und/oder Zusatzqualifikation figurieren. Möglich wird solche Flexibilität auch über den Begriff der ‚Schlüsselqualifikationen‘ (vgl. Wildt 1997, 198-213 und Roth, 214-219), denn was für eine Perspektive fachlich-nahe bzw. fachlich-fundierte Schlüsselqualifikation (wie an diesem Beispiel der Germanistik illustriert) ist, kann für andere fachferne bzw. ‚reine‘ Schlüsselqualifikation sein oder umgekehrt. Ein ganz anderes, quasi entgegengesetztes Beispiel: ‚Betriebswirtschaftliche Grundbegriffe‘ oder ‚Grundlagen der Volkswirtschaft‘ sind für Betriebswirtschaftler zentrale wissenschaftliche Fragestellungen, für Germanistik-Studierende heute notwendige Zusatzqualifikationen. Je nach Perspektive kann also auch die Verortung eines Moduls in verschiedenen Studiengängen bzw. Studiengangvarianten durchaus variabel sein, beispielsweise ‚Schriftlichkeit‘ in der Germanistik Modul des Fachstudiums, in Geschichte oder Chemie Teil eines vermittlungswissenschaftlichen Wahlpflichtbereichs, in Jura Zusatzqualifikation zusätzlich zum Studium als Angebot hinzutretend usw. Für den hiesigen Begründungszusammenhang bleibt festzuhalten, dass nirgendwo die Fachwissenschaft so sehr als Vermittlungswissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes betrieben werden kann wie in den hier gezeigten oder in ähnlich angelegten Angeboten. Jedes Wissenschaftsfach wird dafür seine eigenen fachlich-fundierten Schlüsselqualifikationen aus der Wissenschaft heraus entwickeln und als Studienangebot aufstellen können. Das Beispiel zeigt: Nichts ging der Fachwissenschaft an Wissenschaftlich-
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keit, an Begriff, Legitimation und Qualität verloren, an Geltung in der Hochschullehre und an gesellschaftlicher Wertschätzung hat sie allerdings deutlich hinzugewonnen. 6
Fachdidaktik als Kulturvermittlungswissenschaft
Hat man Fachwissenschaft so begriffen und verstanden, wird man zwei beliebte und eigentlich von der Wissenschaftsgeschichte bereits lange überholte Fehlstellungen kaum noch ernsthaft behaupten können: nämlich Fachdidaktik – den zweiten hier aufgeführten Gestaltungsraum der vermittlungswissenschaftlichen Perspektive – einerseits abzudrängen ausschließlich in den Bereich der engeren Methodenschulung, der exklusiven Fixierung auf das Vermittlungsfeld Schule, der – provokativ formuliert – kleingehackten Curriculumreflexionen und der Mikroanalyse ‚stäubchengroßer‘ Unterrichtssequenzen. Nichts von alledem, oder nur spezifisch dann, wenn es wirklich konkret gebraucht wird und doch einmal in bestimmten Kontexten sinnvoll und stimmig ist, ist heute noch Fachdidaktik im eigentlichen Sinn. Andererseits ist die (im Grunde systematisch und historisch stets problematisch gebliebene) Dichotomie von Fachwissenschaft und Fachdidaktik immer noch dienlich vor allem denen, die sich selber gerne zur ersten Gruppe zählen. Der Zynismus allerdings, mit dem gerade manche Fachwissenschaftler die lange geforderte Abschaffung der Fachdidaktik erneut – diesmal mit der umgekehrten Begründung – einfordern, sie könnten das alles selber durchaus doch mindestens genauso gut, soll hier unberücksichtigt bleiben. Kurzum: Didaktik ist ein extrem ertragreicher und einfallsreicher Streitfall der Wissenschaftsgeschichte seit ihren Anfängen (vgl. Fingerhut 1998, 50-72 und Hebel 1998, 91-98/1999, 91-95). Das alles mag man irgendwie auch im Sinn haben und auch sollen, wenn man heute zu Recht eine Definition der Fachdidaktik als Vermittlungswissenschaft fordert und damit die Ausweitung engerer Sichtweisen, ja die prinzipielle Öffnung dieses Zusammenhangs auch für außerschulische Berufsfelder und für die doppelte Sicht der Vermittlung: Analytik und gesellschaftliches Handeln, fordert. Insofern ist Fachdidaktik zweifelsohne, und dies ist vielleicht ihre produktivste Bestimmung, die Vermittlungswissenschaft par excellence. Nun ist das alles und auch die erneute Aufforderung richtig und wichtig, keinesfalls aber neu, was am Beispiel der Geschichtswissenschaft einfach
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zu zeigen ist. Der Kulturwissenschaftler, Historiker und Geschichtsdidaktiker Jörn Rüsen, der zu Recht jede „unzulässig verengte Vorstellung davon, was Fachdidaktik ist“ (Rüsen 2003, 145) schon lange kritisiert und ablehnt, argumentiert: „Die moderne Fachdidaktik spricht nicht nur die Wissensvermittlung an, sondern reflektiert die Grundlagen der fachlichen Erkenntnis, untersucht die Lernprozesse, in denen fachliches Wissen erworben wird und analysiert seine Rolle in der Lebenspraxis“ (Rüsen 2003, 145-146). Mit dieser Sichtweise ist verbunden, dass „der Praxisbezug [...] Teil der fachlichen Kompetenz selber werden und nicht als etwas ihr Äußerliches angesehen werden“ (Rüsen 2003, 146) kann. „Und er soll auch nicht“ (ebd.), so Rüsen markant, „auf bloße Unterrichtstechnologie reduziert werden, sondern dazu dienen, die Studierenden wahrnehmungs- und reflexionskompetent im Umgang mit Praxis zu machen“ (ebd). Und dies ist eben für alle Studierenden wichtig, egal welcher Berufsausrichtung. Nun ist selbst diese Erweiterung noch nicht ausreichend, will man den wissenschaftlichen Horizont der Fachdidaktik im Kern erfassen: „Geschichtsdidaktik ist [...] Wissenschaft von der Geschichtskultur der menschlichen Gesellschaft. Es geht ihr um alle Vorgänge individueller, sozialer und politischer Art, in denen sich Geschichtsbewusstsein bildet und als Faktor der menschlichen Lebensführung wirkt. Übrigens nicht nur im Bereich des Wissens, sondern auch der Emotionen, der ästhetischen Wahrnehmung, der werthaft-normativen Einstellungen und der politischen Kultur.“ (ebd.)
Spätestens hier mag unmittelbar einleuchten, dass die grundlegende Trennung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik längst obsolet ist. Das heißt aber eben nicht, dass die Fachdidaktik aufgeht in dem, was man bislang Fachwissenschaft nannte (sie muss, so Rüsen, „eigenständige, durch Forschungsleistungen ausgewiesene Wissenschaft“ (Rüsen 2003, 148) sein und bleiben), und es heißt auch nicht, dass Fachdidaktik fortan nichts mehr mit Unterricht zu tun hat. Es heißt, dass die Fachdidaktik dort, wo sie sich selbst noch auf ‚Unterrichtstechnologie‘ verkürzt, heraus muss aus dieser Enge, und es heißt, dass die, die sich heute als ‚Fachwissenschaft‘ verstehen möchten und die sich wissenschaftsgeschichtlich selbst um ihre Vermittlungsund Anwendungsbezüge gebracht haben und nun häufig dastehen wie ein hilfloser, rationalistischer Torso ohne gesellschaftliche Bindung und Verständnis, sich selbst endlich wieder komplettieren müssen: ein neuer Wissenschaftsbegriff steht an, für den die Fachdidaktik dann federführend sein
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kann, wenn sie sich im umfassenden Sinne wirklich auch als Vermittlungswissenschaft begreift. Diese Argumentation müsste die jeweilige Fachdidaktik in ihren wissenschaftlichen Disziplinkontexten kennen und verknüpfen können, sie müsste weiterhin Vermittlungsperspektiven jedweder Art professionell verstehen und gestalten können, sie müsste schließlich bereit sein zur Integration der Ansprüche, dann wäre sie im Kern des Begriffs: Vermittlungswissenschaft. Wie eminent praktisch und wirksam dies im Hochschulunterricht werden kann, zeigen z.B. Projektseminare zur Sprach- und Literaturvermittlung, die seit vielen Jahren sehr erfolgreich in der Düsseldorfer Germanistik veranstaltet werden. Hier werden einerseits Sprachtheoretiker (z.B. Humboldt, Grimm, Foucault, etc.) oder Literaten (Heine, Brecht, Fontane etc.) und ihre Werke unter sprach- bzw. literaturwissenschaftlichem und sprach- bzw. literaturdidaktischem Aspekt vermittelt, gleichzeitig werden im Projektunterricht allgemeine Schlüsselqualifikationen bzw. soft-skills im Konkreten eingeübt und ausprobiert: Teamfähigkeit, Urteils- und Kritikfähigkeit, Selbstständigkeit und Kooperationsfähigkeit, Problemerkennung und Problembearbeitung, konzeptionelles und handlungsbezogenes Denken, unter Zeitvorgaben abgesteckte Ziele erreichen können usw. werden hier ganz praktisch und zudem um spezifische Trainings- und Instruktionseinheiten zu Projektmanagement, zu Qualitäts- und Zeitmanagement angereichert (vgl. Roth/Welbers 2000, 314-319). Aber schon das auf die Einführungsveranstaltung folgende didaktische Grundlagenseminar der allerersten Studienphase ist im vermittlungswissenschaftlichen Sinne ausgeweitet mit den Profilbildungen (1) Schreiben und Sprechen in Schule, Medien und Weiterbildung, (2) Schule, Theater, Museum und (3) Literatur und Medien in Schule und Öffentlichkeit. Im Grunde wird an diesem Standort in jedem Seminar der Sprach- und Literaturvermittlung diese erweiterte, vermittlungswissenschaftliche Perspektive als Folie zur Gestaltung unterlegt. Mit solch einem Konzept ist gleichsam auch ein brauchbarer Rahmen dafür abgesteckt, innerhalb dessen die vermittlungswissenschaftliche Perspektive in der aktuellen Reform der Lehrerbildung für die Fachdidaktik umgesetzt werden könnte (Roth 2003, 104-113).
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Vermittlungsprofession ausbilden im Rahmen hochschuldidaktischer Professionalisierung
Aus dem Vorangegangenen wird einsichtig, dass die Vermittlungsprofession im Rahmen der Hochschullehre, auch wenn sie aus der Fachwissenschaft kommt und in ihr fundiert ist, heute nicht mehr ohne hochschuldidaktische Professionalisierung auskommt. Diesem Anspruch müssen sich auch die Lehrenden an Hochschulen offensiv stellen. Personalentwicklung ist heute einer der Schlüsselbereiche nicht nur in Qualitäts- und Produktivitätssteigerungskonzepten von Wirtschaftsunternehmen, auch an Hochschulen und damit im Bereich öffentlich verantworteter Dienstleistung wird hier zunehmend eine der zentralen Entwicklungsaufgaben gesehen (vgl. Pellert 2001, 348-352). Im Bereich der Verbesserung der Qualität des Lehrens und Lernens liegen mit der Hochschuldidaktischen Aus- und Weiterbildung seit langem profunde, praxisnahe und gleichermaßen theoriegestützte Erfahrungen vor, die zur Zeit einen spürbaren Aufschwung erleben (Welbers 2003a, 11-51): War hochschuldidaktische Weiterbildung lange Anliegen vereinzelter Initiativen, ist neuerdings eine deutliche Verbreiterung, Intensivierung und auch Institutionalisierung in diesem Bereich festzustellen (vgl. Brendel/ Kaiser/Macke 2005). Neue Angebotsformen ergänzen das anerkannte Repertoire und zeigen eine auch in der Weiterbildung selbst erkennbare Modernisierung (Wildt/Encke/Blümcke 2003). Die nun zur Verfügung stehende breite Angebotspalette trifft auf stetig größer werdende Einsicht in den Hochschulen: Professionalisierung wird von diesen als einer der zentralen Faktoren erkannt, den stark zunehmenden Qualitätsanforderungen an Personen und Institutionen dauerhaft gerecht werden und auch im internationalen Wettbewerb der Hochschulen mithalten zu können (vgl. Welbers 2004, 5979) . Der aktuelle Begriff der Hochschuldidaktik umgreift dabei nicht nur die methodischen Einzelfragen des Hochschulunterrichts im Sinne eines reduzierten Begriffs von dem, was mit ‚Didaktik‘ umgangssprachlich häufig umschrieben wird – sie ist vielmehr selbst Vermittlungswissenschaft, die Hochschulentwicklung unter dem Paradigma der Vermittlung als Ganzes in den Blick nimmt. Gerade die Strukturelemente des Lehrens und Lernens, die Planung von Studiengängen von deren Zielbestimmungen bis hin zum curricularen und organisatorischen Aufbau sind prinzipiell notwendiger Bestandteil jedweder hochschuldidaktischen Überlegung. Lehr- und Lernziele
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können nur in für sie geeigneten Rahmenbedingungen erfolgreich umgesetzt werden. Daher ist auch die Organisation der Lehre im doppelten Verständnis der operationalen und institutionenbezogenen Bedeutung von ‚Organisation‘ heute selbstverständlicher Bestandteil hochschuldidaktischer Forschung und Praxis. Hinzu treten Aspekte und damit gleichwohl Instrumentarien der Qualitätssicherung wie Evaluation und Akkreditierung. Dieser umfassende Begriff von Hochschuldidaktik darf aber eines nicht aus dem Blick verlieren – und das macht die Hochschuldidaktik nicht nur systematisch aus, es unterscheidet sie auch von vielen anderen Ansätzen zur Hochschulentwicklung: Am Beginn und am Ende jeder Argumentation und Bemühung steht stets das anspruchsvolle Lehren und damit das bessere Lernen der Studierenden in konkreten Lernsituationen (vgl. Welbers/Gaus 2005). Hier hat die Hochschuldidaktik ihren systematischen Mittelpunkt und ist damit Wissenschaft von dem, worauf es aus ihrer Sicht wirklich ankommt, wenn man über Qualitätsentwicklung und -kultur spricht, nämlich Lehr- und Lernprozesse und damit Vermittlungsprozesse an Hochschulen in Verantwortung von Wissenschaft und Gesellschaft anspruchsvoll zu gestalten und zu optimieren. Damit wäre schließlich auch der Orientierungslosigkeit von Calvinos Reisendem zumindest ansatzweise begegnet: In die Lage versetzt, aus seinen zerstückelten Geschichten, in denen er gelebt wird, seine eigene Geschichte zu konstruieren und diese damit selbst zu leben, wäre er zunehmend fähig, Wissenschaft als Lebensform auch als Einladung für andere zu verstehen. Dazu müsste Wissenschaft allerdings neu gedacht, und auch neu gelesen werden: „Du schickst dich an, den neuen Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht von Italo Calvino zu lesen. Entspanne Dich. Sammle dich. Schieb jeden anderen Gedanken beiseite. Laß deine Umwelt im ungewissen verschwimmen. [...]“ (Calvino 2004, 7) Literatur Ancillon, Jean P. (1828): Zur Vermittlung der Extreme in den Meinungen. Berlin Arndt, A. (1971 ff.): Vermittlung. In: Ritter/Gründer (2000): 722–726 Belgrad, Jürgen/Melenk, Hartmut (Hrsg.) (1998): Literarisches Verstehen – Literarisches Schreiben. Positionen und Modelle zur Literaturdidaktik. Baltmannsweiler Böhme, Hartmut/Matussek, Peter/Müller, Lothar (2002): Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg
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das Verhältnis zwischen Schule und kultureller Praxis näher beleuchten: Wie hält es die Schule mit kulturellen Praktiken? Gibt es Formen kultureller Praxis in der Schule und wie sehen diese aus? Unter `kultureller Praxis´ wird in schulischen Kontexten meist ein spezifisch handlungsorientierter Umgang mit ästhetischen Gegenständen verstanden. Dementsprechend wird oftmals auch der Begriff der kulturellen Handlung verwendet. Kaspar H. Spinner definiert z.B. ästhetische Bildung als „umfassende Wahrnehmungsbildung“ (Spinner 1998, 47), die mit dem Einsatz von handlungs- und produktionsorientierten Unterrichtsformen realisiert wird. Die `alltägliche´ kulturelle Praxis der Theaternutzung zählt nicht zur ästhetischen Bildung, jedenfalls nicht zur schulischen. Dabei bedarf es hierfür ebenso einer Heranführung, wie es zur Herausbildung eines sogenannten habituellen Lesers geeigneter Lesevorbilder und eines selbstverständlichen und alltäglichen Umgangs mit Printerzeugnissen bedarf. Es geht um „Sinnzuschreibungen“ und um ein „Erleben“, welches durch „Beziehungen zwischen Personen“ fundiert wird (Hurrelmann 2004, 169): „Nach allem, was wir über kulturelle Erwerbsprozesse bisher wissen, sind dies Bedingungen, die in der Ontogenese zu einer besonders nachhaltigen Internalisierung symbolischer Praxen, kultureller Orientierungen und Bewertungsmuster durch einen hohen Anteil von beiläufigem Lernen führen.“ (ebd.) Eine solche Form von Internalisierung wird vor allem durch familiäre und informelle Sozialisationsprozesse ermöglicht, da die „Einflüsse“, die hierbei wirken, „alltäglich“ und „permanent“ erfolgen (ebd.). Damit ist zwar bisher unklar, ob einem institutionellen Lernarrangement, bei dem kulturelle Praxis eine „beiläufige“ und „alltägliche“ Selbstverständlichkeit ist, ein ähnlicher Erfolg beschieden sein kann. Die Autorin dieses Beitrags geht jedoch von einer solchen Möglichkeit aus. In der Biografieforschung zur Lesesozialisation gibt es immer wieder Hinweise auf Lehrerinnen und Lehrer, die aufgrund ihrer eigenen Begeisterung und Anteilnahme einen positiven Einfluss auf das Leseinteresse ihrer Schülerinnen und Schüler nehmen. Auch bei meinen Seminarteilnehmerinnen und -teilnehmern gab es ein Beispiel für einen solchen positiven Zusammenhang. Es gilt, Theater als „subjektives und kollektives Erlebnis“ (Podewills 1989, 453) besonderer Art kennen zu lernen: „Ein Schauspiel entsteht aus der Wechselwirkung zwischen Schauspieler und Zuschauer.“ (echov 1990, 26) „[B]eide [werden] von ein und derselben Atmosphäre ergriffen“ (ebd.). Es geht um die Atmosphäre des Aufführungsortes sowie der Aufführung,
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um Musik, die man nicht nur hört, sondern deren Klang man ebenso fühlt, wie auch die Spannung des Orchesters, des Dirigenten, der Sänger oder Tänzer und des Publikums, und es geht um den festlichen und rituellen Charakter von Theater. „Der Vorgang der Sinneswahrnehmung ist ein zentrales Charakteristikum von Theater-Erfahrung“ (Podewills 1989, 450). In Anlehnung an den von Beuys geprägten Begriff der „sozialen Plastik“ versteht Podewils den Theaterzuschauer als aktiven und schöpferischen Teilnehmer an einem „sozialen Organismus“ und an einem jeweils einmaligen kulturellen Ereignis, eines sowohl subjektiven als auch kollektiven Erlebnisses, an einer anderen Form von „Wirklichkeit“, die von Dagobert Frey auch als „ästhetische Realität“ bezeichnet wird (vgl. ebd. 449ff.). Susanne Knoche und Gerhard Rupp bestimmen im Lexikon der Deutschdidaktik Ästhetische Erziehung als adäquate Aufnahme, Verarbeitung und Beurteilung von Werken der Bildenden Kunst, der Literatur und der Musik sowie als Ausbildung der sinnlichen Wahrnehmung und des Kunstverstandes des Menschen: „Ästhetische Erziehung ist [...] soziale Praxis in Alltag und Unterricht.“ (Knoche/Rupp 2006, 19) Nach dieser Begriffsbestimmung müsste neben ästhetischer Bildung in Form handlungs- und produktionsorientierter Methoden, dem Darstellenden Spiel und der Theaterwerkstatt zu einer „adäquaten Aufnahme“ auch der Besuch von Theateraufführungen gehören. Neben den oben angeführten Aspekten sprechen weitere schulische Bildungsziele für die Praxis `Ins Theater gehen´. Zum Inventar schulischer Vermittlungsziele, die sich in allen Rahmenrichtlinien wiederfinden, gehörten als neuerer Begriff das „kulturelle Gedächtnis“ und als klassischer Bildungsbegriff die „kulturelle Bildung“. 1.3 Theater als Medium und Ort des kulturellen Gedächtnisses Unter kulturellem Gedächtnis werden alle Formen subsumiert, in denen sich eine Gesellschaft, Gruppe oder das Individuum auf die gemeinsame Vergangenheit beziehen. Das tiefgreifende Gefühl der kulturellen Zusammengehörigkeit und der eigenen Identität begründet sich im Kollektiven Gedächtnis. Es stellt die elementare Verbundenheit des Individuums mit der Gedächtniskultur seiner kulturellen Wurzeln dar (siehe hierzu Rüsen 2006, 73). Dimensionen kultureller Wahrnehmungen, Erfahrungen, Selbstdeutun-
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gen, Handlungsnormen und Erinnerungen wurden lange Zeit vernachlässigt. Seit einiger Zeit vollzieht sich hierzu jedoch eine Wende (siehe hierzu ebd., 66), denn durch kulturelle Erinnerung und Geschichtsbewusstsein erfolgen notwendige Sinnbildungsprozesse. Die Erinnerung und „Rekonstruktion“ einer Vergangenheit stehen, so Jan Assmann, „immer im engsten Zusammenhang mit dem Selbstbild oder der Identität des erinnernden Subjekts, das die Vergangenheit als eine Quelle von Sinngebung und Wertorientierung braucht.“ (J. Assman 2001, 60) Die Entwicklung von Identität als Bestandteil der Individuation, der kulturellen Identität, der Transkulturalität und der Interkulturalität gilt aus diesem Grunde als eine wichtige Fragestellung für schulische Kontexte, insbesondere für den Deutschunterricht, der u.a. mit Literatur ein wichtiges Medium des kulturellen Gedächtnisses zum Gegenstand hat. Das Theater ist als ein besonderer Ort für das kulturelle Gedächtnis zu verstehen. Unsere „einmalige Ausstattung“ (Terhart) an Kulturinstitutionen ist in ihrer spezifischen Ausprägung ein kulturelles Erbe der Aufklärung, des Neuhumanismus und der Entwicklung des deutschen Bildungsbürgertums. Das Theater ist jedoch nicht nur ein Repräsentant des kulturellen Gedächtnisses, sondern selbst Gegenstand desselben und es generiert darüber hinaus ständig neuen kulturellen Sinn. Hinsichtlich unseres aktuellen Umgangs mit Theater sollte deshalb J. Assmans Warnung bedacht werden: „Keine Vergangenheit erhält sich als solche, sondern nur insoweit sie erinnert wird. Erinnern und Vergessen aber finden immer [...] in der Gegenwart statt.“ (J. Assman 2001, 60) Ob und in welcher Form Medien in einer Gesellschaft genutzt werden, hängt von den Zugangsmöglichkeiten ab: „Gesamtgesellschaftliche Rahmenbedingungen beeinflussen die Mediennutzung [...] grundlegend [...], weil sie mit den Strukturen der Institutionalisierung des Mediensystems Voraussetzungen für den Zugang und die Nutzung von Medien schaffen.“ (Bucher 2003, 46) Gerade die Schule kann und sollte eine wichtige Vermittlungsposition zum Medium Theater einnehmen und einen Nutzungsrahmen anbieten. Sie tut sich jedoch grundsätzlich schwer mit alltäglichen Formen kultureller Praxen, die zudem nicht Bestandteil ihres Konzeptes kultureller Bildung sind.
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1.4 Kulturelle Praxis versus kulturelle Bildung Der Begriff „kulturelle Bildung“ und die Inhalte kultureller Bildung sind nicht eindeutig zu bestimmen, denn zu vielfältig sind die Formen, die unter diesem Begriff subsumiert werden. Das allgemeinbildende Schulsystem besitzt den Auftrag, allen Kindern und Jugendlichen kulturelle Bildung zu vermitteln. Für die Fächer Kunst, Musik, Darstellendes Spiel, die Fremdsprachen, Deutsch und teilweise auch Geschichte werden die Inhalte jeweils curricular festgelegt. Die spezifische Form kultureller Bildung des Deutschunterrichts ist die literarische Bildung. Dabei handelt es sich in erster Linie um ein literatur- und kulturgeschichtliches Orientierungswissen. Die kulturelle Praxis `Ins Theater gehen´ gehört nicht zur schulischen Vorstellungswelt von kultureller Bildung. Es stellt sich die Frage warum. Als Begründung können zwei strukturale Merkmale von Schule angeführt werden: Erstens. Auf Grund eines gesellschaftlich-funktionalen Verständnisses beschränkt sich Schule in erster Linie auf die Vermittlung von Kulturtechniken, und dies obwohl eine solche Einschränkung die Gefahr birgt, „Bildung auf einen Schulzweck zu reduzieren und unter instrumentelle Kategorien (Verwertbarkeit, Machbarkeit, Zweckrationalität usw.) zu stellen“ (Duncker 1994, 10), womit dem grundsätzlich pädagogisch-anthropologischen Selbstverständnis von Schule widersprochen wird (vgl. ebd., 9). Zweitens. In der Regel gilt Schule als der Ort, an dem Bildung erfolgt. Sogenannte außerschulische Lernorte erfreuen sich zwar in der didaktischen Literatur einiger Fächer gewisser Beliebtheit, werden jedoch in der Realität nur dann und wann genutzt. Der Besuch eines solchen außerschulischen Lernortes erfolgt dann eher aus didaktischen Erwägungen: Er passt entweder in die Unterrichtseinheit oder erweist sich als geeigneter Schulausflug. Die kulturelle Praxis des Besuchs und der Teilhabe an sich besitzt jedoch im Rahmen didaktischen Denkens keinen eigenen Bildungswert. Warum Schule so ist, wie sie ist, und warum sie nach wie vor fast ausschließlich instrumentelle Funktionen wahrnimmt, lässt sich zum Teil historisch erklären. Dass sich Schule in den letzten Jahrzehnten nicht gewandelt hat, muss jedoch als pädagogisches, bildungspolitisches und gesellschaftliches Versäumnis angesehen werden.
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1.5 Kultur als „Medium der Bildung“ Im 18. und 19. Jahrhundert kam der Leitgedanke der allgemeinen Bildung auf und der Gebildete wurde zum vollkommenen Ideal. Dieser Gedanke fußte auf der idealistisch-neuhumanistischen Bildungsidee, die vom Bürgertum getragen wurde (vgl. Fuhrmann 2004, 35). Er prägte die gesamte weitere Entwicklung des Bildungssystems und führte zur Einführung des (humanistischen) Gymnasiums als wesentlichem Baustein. Eine wichtige Stellung im Rahmen dieses bürgerlichen Bildungsideals nahm die Kultur als eine Säule der Bildungsvermittlung ein. Laut Schiller (Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795) wird der Mensch erst durch ästhetische Erziehung zum vernünftigen und gesellschaftlichen Menschen (vgl. Knoche/Rupp 2006, 19). Kultur wurde als „Medium der Bildung“ angesehen und hierzu gehörte vor allem der Besuch von Ausstellungensowie des Theaters und das Absolvieren von Bildungsreisen (vgl. Bollenbeck 1994, 96). Das Gymnasium und das Elternhaus arbeiteten bei der Vermittlung von Allgemeinbildung Hand in Hand und erfüllten unterschiedliche Funktionen. Dem Gymnasium oblag die Stofferschließung und die Vermittlung von Sachkompetenz, dem Elternhaus die Einübung der damit verbundenen Fertigkeiten und die Heranführung an Schauspiel, Oper, Konzert und Museen (vgl. Fuhrmann 2004, 43). Was das Theater angeht, ging es hierbei in der Realität übrigens – und anders als das universitäre und schulische Hochkulturschema vermuten lässt - in erster Linie nicht, wie z.B. bei Schiller, um die Vorstellung von Theater als „moralischer Anstalt“: „Unterhaltung war der vornehmliche Zweck der Theater. Das Publikum, sowohl der Hof- wie der Wander- und Stadttheater (die Geschäftstheater waren), wollte sich entspannen und amüsieren, es wollte unterhalten sein und bekam Unterhaltung geboten.“ (Wagner 2005, 15f.) Der Schauspieler und Theaterdirektor Friedrich Wilhelm Schmidt (1771-1841) schreibt in seinen Erinnerungen: „[A]ußer dem Dichternamen >Schiller< bewirkte bei uns nur noch derjenige von >Goethe< und >Lessing< unfehlbar ein leeres Haus.“ (zit. nach Wagner 2005, 16) Der Gedanke vom Theater als „moralischer Anstalt“ war zwar Bestandteil des bürgerlichen Bildungskonzepts und wurde deshalb auch in der Schule propagiert, im Lebensalltag jedoch durch die `zweckfreie Teilnahme´ und ein genussorientiertes Besuchsverhalten ergänzt eine Haltung, die in der Regel auch heute noch den Theaterinteressierten in eine Aufführung lockt.
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Die Arbeitsteilung zwischen Schule und Elternhaus fand mit der sogenannten Bildungsreform in den 1960er und 1970 Jahren und der Zurückdrängung des humanistischen Gymnasiums ein teilweises Ende, jedenfalls was den schulischen Anteil angeht. Manfred Fuhrmann konstatiert in seinem viel diskutierten Buch Bildung – Europas kulturelle Identität (2004), dass die Abkehr der Bildung von ihrer humanistischen Bildungstradition zu einem kulturellen Gedächtnis- und damit verbundenen Identitätsverlust führe. Nun ließe sich kritisch einwenden, dass Kultur nicht nur der Allgemeinbildung und dem Genuss diente, sondern vor allem auch der Selbstdarstellung der bürgerlichen Kreise (vgl. ebd., 42f.) und somit wesentliche Distinktionsfunktionen erfüllte. Nicht umsonst war man vor allem in den 1960er und 1970er Jahren darum bemüht, sich von der autoritären Bevormundung einer bildungsbürgerlichen Kulturhoheit zu befreien. Bei einer solchen Argumentation wird jedoch gerne übersehen, dass ein großer Teil der kulturellen Einrichtungen Europas erst mit dem Heraufkommen der bürgerlichen Epoche allgemein zugänglich wurden, und dem `gewöhnlichen Sterblichen´ vor 1800 der Besuch eines Schauspiels, einer Oper, eines Konzertes oder eines Museums nicht möglich war (vgl. Fuhrmann 2004, 44) und dass dem geflügelten Wort vom „Bürgerrecht Kultur“ eine zutiefst demokratische Idee zu Grunde liegt. Die Bildungsreform führte zwar zum Ende einer inhaltlichen, jedoch nicht zum Ende der alten strukturellen Arbeitsteilung. Einerseits verharrte das reformierte Bildungssystem mit dem Gymnasium als Flagschiff, trotz Relativierung des humanistischen Bildungsgedankens, in der Struktur einer jahrhundertealten Bildungstradition, andererseits erfolgte eine Öffnung der höheren Schulbildung für breitere Schichten ohne schulische Kompensation des fehlenden Elements Elternhaus. Die wesentlichen Pfeiler der klassischen humanistischen Bildung wurden ignoriert oder schlicht übersehen – und dies mit (eigentlich) absehbaren Folgen. Schüler mit bildungsbürgerlichem Hintergrund werden weiterhin vom Elternhaus enkulturalisiert (wenn auch mit weniger Sachkenntnis als früher), die Schüler aus bildungsfernen Elternhäusern haben das Nachsehen. Die nach wie vor bestehende Arbeitsteilung zwischen Schule und Elternhaus wird eindrucksvoll durch die Erkenntnisse der Lesesozialisationsforschung belegt, die zu dem Schluss gelangt, dass eine erfolgreiche Lesesozialisation und Literarische Sozialisation in Deutschland vor allem durch die Familie erfolgt. In der PISA-Studie wurden außerdem erstmals im Rahmen der Erhebung des sozialen Hintergrunds von Schülern
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auch Merkmale des kulturellen und sozialen Kapitals der Familien erfragt: mit dem Ergebnis, dass der Grad an Lesekompetenz in engem Zusammenhang mit der kulturellen und kommunikativen Praxis in der Familie steht (vgl. Baumert/Maaz 2006, 11-12). Die Forderung nach mehr kultureller Bildung und kultureller Praxis in der Schule zielt somit nicht darauf ab, ein bildungsbürgerliches Klischee wieder- bzw. weiterzubeleben. Bei aller Kritik am bürgerlichen Kunstkanon und der notwendigen kritischen Reflexion seiner traditionellen Inhalte darf nicht übersehen werden, dass in unserem Schulsystem nach wie vor ein wesentlicher Teil von Bildung vernachlässigt wird: Die Teilhabe am kulturellen Erbe und am Genuss, den vor allem auch klassische Kulturgüter bieten. Man mag eine bestimmte Art von Kunst als elitäre Kultur einer bestimmten Schicht abtun, als bildungsbürgerliches Mittel der Distinktion, sollte aber nicht übersehen, dass Kunst damit ihren Distinktionsanspruch behält und einem Großteil der Menschen diese Art von kultureller Bildung nach wie vor vorenthalten wird. Ästhetische Bildung umfasst jedenfalls mehr als handlungs- und produktionsorientierte Unterrichtsmethoden oder das Anbieten einer Theater-AG. 2
Plädoyer für kulturelle Praxis als Bestandteil kultureller Bildung
Nicht nur wird nach wie vor ästhetische Erziehung in den Schulen vernachlässigt, die Schule wird auch im Bereich der kulturellen Praxis als Bestandteil kultureller Bildung ihrer notwendigen Kompensationsrolle nicht gerecht. Für den Deutschunterricht bestünde die Möglichkeit, ein neues Konzept literarischer Bildung zu etablieren, welches sich mehr an der kulturellen Praxis als am alten Leitbild der literarischen Bildung orientiert. Begründungen für eine solche Neuausrichtung liefern auch Untersuchungen und Überlegungen zur Bedeutung des Lesens sowie der Lektüre fiktionaler Literatur. Ein weiteres Element eines solchen Konzeptes könnte die kulturelle Praxis `Ins Theater gehen´ darstellen. Über den Nutzen kultureller Praxis an Universitäten Die universitäre Ausbildung von angehenden Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern ist i.d.R. philologisch orientiert und wird in der Hauptsache analytisch betrieben. Diese Haltung wird oftmals so gut wie unverändert auf
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den späteren Unterricht übertragen. Thomas Eicher stellte bereits 1996 die Frage, ob ein Germanistikstudium nicht zuletzt auch der Leseförderung dienen sollte. In der gängigen Lesepraxis an den Universitäten sieht er eine mögliche Ursache für Entfremdungserlebnisse, Lese- und Schreibblockaden sowie Studienabbruch (vgl. Eicher 1999). Dieser Standpunkt kann durch die Frage erweitert werden, ob ein Germanistikstudium nicht generell auch der Förderung kultureller Praxis dienen sollte. Sozialisation ist ein Prozess, der nicht mit dem Erreichen der Volljährigkeit oder mit dem Schulabschluss beendet ist. Lehramtsstudierende durchlaufen an den Universitäten spezifische Sozialisations- und Enkulturationsprozesse, die nicht nur ihre persönliche Haltung gegenüber dem Lesen, der Literatur und dem Theater prägen, sondern ebenfalls ihre spätere Grundhaltung als Lehrende und Multiplikatoren. Auch Prinzipien der Vermittlung von `Vermittlungs-Kompetenzen´ wirken sich auf diese Haltung aus. Es wäre deshalb zu überlegen, ob das Germanistikstudium nicht auch die Aufgabe hat, die zweckfreie Teilhabe als spezifische Form des sinnlichen Verstehens zu fördern, und ob insbesondere das Lehramtsstudium nicht noch mehr zur Persönlichkeitsbildung durch persönlich bedeutsames Lernen beitragen sollte. Horst Rumpf hat Schulen und Universitäten einmal als “künstliche Schul- und Bildungsinstitutionen“ bezeichnet: „Sie fördern ein wirklichkeitsloses Bewusstsein, das unfähig zur Gegenwart ist. Die Gegenstände, um die es da geht, werden nur flüchtig berührt; das Lernen und Lehren spielt sich an den Menschen ab, sie sind nicht wirklich dabei. Die Befassung hat scheinhafte, unwirkliche Züge.“ (Rumpf 1986, 51)
Für die universitäre wie auch die schulische Ausbildung gilt gleichermaßen, was Bernd Wagner für die Kulturpolitik allgemein formuliert: „Wenn beim Theater als Herzstück der öffentlichen Kulturpolitik >...@ nur die Wunschbilder einer sittlich-moralischen Anstalt und nicht ihre reale lebendige Gestalt die kulturpolitischen Vorstellungen bestimmen, dann wird auch erklärlich, dass „Publikum“ und Publikumsinteressen >...@ lange Zeit zu vernachlässigende Größen waren.“ (Wagner 2005, 16)
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Ulrike Eberhardt Das Seminar Theater erleben – Theater verstehen – Theater vermitteln
Wie könnte ein hochschuldidaktisches Seminarkonzept aussehen, das sich zur Aufgabe stellt, nicht nur die Lehramtsstudierenden selbst an die kulturelle Praxis `Ins Theater gehen´ heranzuführen, sondern sie zudem als Multiplikatoren einer anderen Sichtweise auf kulturelle Bildung im Deutschunterricht zu gewinnen? Bei dem Seminar Theater erleben – Theater erschließen – Theater vermitteln, das im Folgenden vorgestellt werden soll, handelte es sich um ein Kooperationsseminar mit dem Referat Theater und Schule des Bremer Theaters2 im Sommersemester 2007. Das Seminar umfasste einen fachwissenschaftlichen und einen fachdidaktischen Teil.3 Eine Reihe von Veranstaltungsterminen fand direkt am Bremer Theater statt. Deren Gestaltung lag in den Händen der Theaterpädagoginnen des Referats Theater und Schule4. Das Seminar beinhaltete zudem den obligatorischen Besuch dreier Aufführungen des Bremer Theaters. Mit dem Seminar wurden mehrere hochschuldidaktische Ziele verfolgt; u.a. ging es um eine stärkere themenzentrierte Verknüpfung von Fachwissenschaft und Fachdidaktik in einer Form von Doppelseminar. Gegenstand der folgenden Darstellung sind vor allem die fachdidaktischen Anteile der Veranstaltung, die auch Ausgangspunkt der gesamten Planung waren. Explizit ging es um die Frage, wie die Kunstform Theater und insbesondere die kulturelle Praxis `Ins Theater gehen´ in den Deutschunterricht integriert werden können. Implizit ging es auch darum, die Studierenden selbst ans Theater heranzuführen. Da die Dramatik viele Spielarten umfasst, zu denen auch das Musikdrama und das Ballet zählen (vgl. Denk 2006, u. Denk/Möbius 2008, 14-15), handelte es sich bei den Aufführungen um Inszenierungen aus allen drei Theatersparten: Musiktheater, Schauspiel und Tanztheater. 5 2
Unter der Intendanz von Klaus Piervoß. Der fachwissenschaftliche Anteil wurde von der Literaturwissenschaftlerin Romana Weiershausen, der fachdidaktische von der Autorin abgedeckt. 4 Sabine Beyer und Anna-Barbara Fastenau 5 Bewusst verzichteten wir auf Jugendtheater, da solcher Inszenierungen Studierenden noch am ehesten aus ihrer eigenen Schulzeit vertraut sind. Es ging uns um die Erschließung unvertrauter Theatersegmente. 3
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3.1 Das Angebot des Referats Theater und Schule und die Aufführungen Das Referat Theater und Schule des Bremer Theaters bietet eine sogenannte „Aufführungsbegleitung“ an, die je nach Art des Stücks und der Sparte aus mehreren spezifischen Elementen bestehen kann. In unserem Fall wurde diese Begleitung auf die drei Inszenierungen und auf drei Termine am Theater aufgeteilt. Bei den Inszenierugen handelte es sich um zwei Uraufführungen: Johann Kresniks Schauspiel Amerika nach dem Roman von Franz Kafka und Urs Dietrichs Tanztheater Infini zur Petite Messe Solonelle von Giacchino Rossini sowie um Tristan und Isolde von Richard Wagner in einer Inszenierung von Reinhild Hofmann. Erster Termin: Schauspiel „Amerika“ Johann Kresniks Amerika nach dem gleichnamigen Roman von Frank Kafka wurde an einem externen Spielort - dem stillgelegten Bremer Güterbahnhof – aufgeführt. Es gab keine feste Bühne und für die Zuschauer keine Sitzplätze. Das Publikum begleitete die Darsteller in einem Rundgang von einer Station (einem Bild) zur nächsten Station (nächstem Bild). Im Rahmen der Aufführungsbegleitung wurden dem Seminar von einem Bühnenbildner ausführlich der Aufführungsort und die einzelnen Stationen erläutert. Daran schloss sich ein Gespräch mit einem der beiden Dramaturgen6 an. Zum Abschluss hatten die Theaterpädagoginnen Beispiele für Szenisches Spielen vor Ort (in diesem Fall zwischen den Stationen des Stückes in der Atmosphäre des Aufführungsortes) ausgewählt. Nach der Aufführung gab es ein weiteres Gespräch, diesmal mit der zweiten Dramaturgin.7 Zweiter Termin: Tanztheater „Infini“ Der zweite Termin fand am Bremer Theater statt und umfasste eine Führung durch das Haus; u.a. erhielten wir einen Einblick in die Werkstätten. Daran schloss sich ein Gespräch mit der für die Sparte Tanztheater zuständigen Dramaturgin8 an, die eine Einführung in die unterschiedliche Formensprache von klassischem Ballett und Tanztheater gab. Abschließend konnte das Seminar an einer Bühnenprobe des Stücks mit den Tänzern und dem Opernchor teilnehmen. 6
Heiko Eilts Christine Richter-Nilsson 8 Patricia Stöckemann 7
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Ein weiteres und abrundendes Gespräch mit dem Choreographen und künstlerischen Leiter9 sowie einigen Tänzern gab es nach der Aufführung. Dritter Termin: Oper „Tristan und Isolde“ Bei diesem Termin gab es zunächst ein ausführliches Gespräch mit dem Chefdramaturgen und leitenden Dramaturgen des Musiktheaters.10 Anschließend wurde in das Werk eingeführt. Der musikalische Leiter und die Sänger der Partien des König Marke und der Isolde11 trugen Teile der Oper vor und beantworteten Fragen. Zum Abschluss fand noch ein Gespräch mit den Bühnenbildnern von Tristan und Isolde statt. An einem weiteren Termin kam eine Dramaturgin12 zu einem Veranstaltungstermin in die Universität, um über Berufsbilder am Theater, insbesondere den Beruf der Dramaturgin und des Dramaturgen, zu informieren. Insgesamt war die Aufführungsbegleitung der Zielgruppe angepasst. In der Arbeit mit Jugendlichen überwiegen in der Regel spielerische Elemente, in diesem Fall wurde ein größerer Schwerpunkt auf Sachinformationen gelegt. 3.2 Der fachdidaktische Anteil Während es im fachwissenschaftlichen Anteil des Doppelseminars, der hier nur kurz angerissen werden soll, um das Romanfragment von Kafka, die Dramenbearbeitung und Inszenierung von Amerika sowie um das Musikdrama Wagners ging und u.a. die Erstellung eines Programmheftes und das Verfassen von Rezensionen beinhaltete, standen im Mittelpunkt des fachdidaktischen Veranstaltungsanteils Überlegungen zur Einbindung theaterpädagogischer Angebote des Bremer Theaters sowie der kulturellen Praxis `Ins Theater gehen´ in den Deutschunterricht und andere schulische Kontexte. Über die Auseinandersetzung mit aktuellen Ansätzen der Dramendidaktik sollten mögliche Anknüpfungspunkte für die Nutzung und Integration der Institution Theater im alltäglichen `Unterrichtsgeschäft´ ausgelotet werden. Ein allgemeiner Überblick über Einsatzbereiche theaterpädagogischer Me9
Urs Dietrich Ralf Waldschmidt 11 Stefan Klingele, Sabine Hogrefe (Isolde) und Karsten Küsters (König Marke) 12 Sonja Bachmann 10
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thoden in der Kinder- und Jugendarbeit sollte diese Überlegungen ergänzzen. Darüber hinaus sollten die Teilnehmer Anregungen erhalten, wie theatralische Elemente nicht nur im Dramenunterricht oder im Darstellenden Spiel integriert werden können, sondern auch wie sie als probates Methodenarsenal eines Didaktikers bei anderen Anlässen zum Einsatz kommen könnten, z.B. als Warm-Up für eine Gruppe. Ein methodischer Schwerpunkt in der Seminargestaltung lag auf Elementen biographischen Lernens, der mir für die Lernintentionen dieser Veranstaltung als besonders geeignet erschien. Im Bereich der Lehrerausbildung geht es beim biografischen Lernen um persönlich bedeutsames Lernen und um biografische Kompetenz. Nach Paul Le Bohec überträgt sich ohne Reflexion der eigenen Lernbiographie die eigene Lerngeschichte beim Lehren auf die Schüler und Schülerinnen. (Bohec/Guillou 1997) Da das universitäre Studium die zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer auch auf Qualitätsentwicklung und Reform von Schule vorbereiten soll (vgl. Carle 1996), bedarf es biografischer Reflexivität, damit eigene Lernerfahrungen sich nicht in späteren Lernansichten manifestieren. Ausgangspunkt der Veranstaltung war ein Austausch über die eigene Theatersozialisation durch das Berichten eigener Erlebnisse in der Seminargruppe. „Das erinnernde Erzählen ist eine elementare Form menschlicher Selbstvergewisserung, auf die alle anderen umfassenderen und abstrakteren Formen der Betrachtung von Lebenswegen aufbauen. Biografisches Lernen respektiert die Notwendigkeit sich zu erinnern und schafft deshalb Möglichkeiten und Räume, die eigenen Geschichten zu erzählen. Damit ist der Rahmen für unsere Erkenntnismöglichkeiten abgesteckt. Wie wir geworden sind, wer wir sind, lässt sich aus Geschichten erzählend rekonstruieren“ (Baacke/Schulze 1985, 26).
Bei diesem gegenseitigen Berichten ging es allerdings nicht nur um eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen (schulischen) Lerngeschichte, wie es Paul Le Bohec fordert, sondern um eine differenzierte Rekapitulation der gesamten persönlichen Theatersozialisation. Durch den Austausch ähnlicher Erfahrungen konnten die Teilnehmer nicht nur die wesentlichen und typischen Merkmale des Erfahrungssystems Schule in Bezug auf Dramenlektüre sowie den Umgang mit Theater erschließen und sich verdeutlichen, sondern gerade auch die untypischen Varianten außerschulischer Erfahrun-
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gen und die wichtigen und ausschlaggebenden Erfahrungsmomente wahrnehmen und beurteilen. Ein weiterer wesentlicher Schritt, um eine reine Reproduktion internalisierter Lernstrukturen zu verhindern. Eine Seminarteilnehmerin reflektierte im Anschluss an den Erfahrungsaustausch: „Nach dem heutigen Seminar beschäftigte mich noch eine ganze Weile die Thematik der Theatersozialisation. Ich dachte an mein erstes Theatererlebnis: Ich war in der Grundschule und wir gingen damals in das Weihnachtsmärchen Peterchens Mondfahrt. Diese Geschichte mochte ich sehr gerne und das Theater kam mir wahnsinnig groß und imposant vor. Außerdem war die Atmosphäre vor Weihnachten sehr aufregend und feierlich. Mein erstes Theatererlebnis blieb mir sehr positiv in Erinnerung. Wenn ich heute im Theater bin, denke ich häufig daran, wie riesig sich die hohe Decke mit ihren Stuckfiguren und Malereien über mir wölbte, so dass mir schwindelig wurde, wenn ich nach oben sah. Das Theater meines Geburtsortes kommt mir heute recht klein vor, allerdings ist das Gefühl der besonderen Atmosphäre geblieben.“ (Auszug Lerntagebuch)
In dieser Schilderung werden wesentliche Elemente eines biographischen Lernprozesses deutlich: Durch den Austausch mit anderen werden bestimmte Erfahrungen sowohl als persönliche als auch möglicherweise überpersonal wirkende Lernerlebnisse identifiziert. Es erfolgt eine nachhaltige Anregung, sich mit den eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen. In der Reflexion wird die Bedeutung des Erlebten für die weitere Wahrnehmung von Theater begriffen. Günstigenfalls resultiert aus einer solchen Reflexion eine Selbstvergewisserung der eigenen pädagogischen Haltung oder eine leitende Handlungsidee für die pädagogische Praxis. Die Geschichte der eigenen Theatersozialisation wirkte als biographischer Lernhintergrund, an den im weiteren Verlauf des Seminars das Verfassen von Veranstaltungs- und Aufführungsfeedbacks sowie von Lerntagebüchern, die allen Teilnehmern über das Intranet zugänglich waren, anknüpften. Diese sollten möglichst offen und meinungsfreudig sein und insbesondere die persönlichen Erfahrungen berücksichtigen. Mit diesen persönlichen Reflexionen wurde die biographische `Ausgangsnarration´ nicht nur fortgeführt, sie gab der Veranstaltung auch eine Kommunikationsdimension, die über die üblichen Kommunikationsmöglichkeiten von Seminaren hinausgeht.
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Ergebnisse und Erfahrungen
Wie oben angeführt, wurde die Veranstaltung sowohl begleitend in Form von Lerntagebüchern und Kurzfeedbacks als auch abschließend in einer Ergebnisdiskussion reflektiert. In einer für die Veranstaltung speziell konzipierten, vertiefenden Evaluation wurden zudem Merkmale des sozialen Hintergrunds der Eltern und der familiären- sowie schulischen Theatersozialisation erhoben sowie Erfahrungen mit Theaterspielen, Nutzungsgewohnheiten des Theaterangebots und eigene Haltungen erfragt. Hierzu muss man anmerken, dass es zwar mittlerweile umfangreiche empirische Forschungsergebnisse zur Lesesozialisation und Literarischen Sozialisation gibt, jedoch keine speziellen Untersuchungen zur Theatersozialisation sowie kaum Untersuchungen und Studien zur Kulturnutzung von Schülerinnen und Schülern oder gar zum Theaterbesuchsverhalten von Lehramtsstudentinnen und Studenten des Faches Deutsch. Zunächst möchte ich die wichtigsten Erfahrungen und Erkenntnisse mit und aus dieser Veranstaltungsform wiedergeben. Hierbei können aufgrund der Lerntagebücher und der Veranstaltungsfeedbacks, die in vielerlei Hinsicht für sich sprechen, die Studentinnen und Studenten zu Wort kommen. Sie geben nicht nur einen guten Eindruck von der in der Veranstaltung wirkenden Lerndynamik, sondern spiegeln auf eindrückliche Weise Prozesse biographischen Lernens wider, wie sie bereits im vorhergehenden Abschnitt skizziert wurden. Weil an dieser Stelle keine vertiefende Analyse erfolgen kann, habe ich mich aufgrund der Eindrücklichkeit des Materials dafür entschieden, auf inhaltliche Zusammenfassungen zu verzichten und nur rein exemplarisch zu zitieren. Anschließend werde ich auf die Ergebnisse der Erhebung zur Theatersozialisation der Teilnehmer eingehen, die es ermöglicht, den im Seminar ablaufenden Prozess in den Kontext bisheriger Theatererfahrungen der Studierenden zu stellen. 4.1 „Ich war sehr beeindruckt“ Nicht nur den Studierenden hat das Angebot des Referats Theater und Schule gut gefallen, auch die Veranstalterinnen waren begeistert. Es war nicht nur äußerst interessant, sondern hat auch Lust auf mehr Theater gemacht. Die
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Teilnehmer waren sich in der Evaluation so gut wie einig: Die Zusammenarbeit mit dem Theater beurteilten sie als besonders gelungen. Viele der Teilnehmer waren noch nie im Tanztheater oder in einer Oper, geschweige denn in einem Musikdrama Wagners gewesen und begegneten deswegen der Auswahl der Stücke mit gemischten Gefühlen. „Als ich hörte, dass wir uns auch ein Tanztheaterstück ansehen, war ich zunächst skeptisch, da ich noch nie in einem derartigen Stück war und mir nicht so recht etwas darunter vorstellen konnte. Nach der gestrigen Kostprobe werde ich mittlerweile allerdings mit einer positiven Erwartung in die Vorführung gehen.“ (Veranstaltungsfeedback)13 „Da diese als untypische Oper geschildert wurde, die zudem ein "vielschichtiges musikalisches Rätsel" darstellt, war ich erst beunruhigt, denn Tristan und Isolde wird die erste Oper sein, die ich besuche, und ich würde gern verstehen, was mir dargeboten wird. Der Empfehlung, auf die Lichtverhältnisse im Zusammenhang mit den Positionen und Posen der darstellenden Figuren zu achten, werde ich zu folgen versuchen. Nach dem Besuch der Gesangsprobe war ich erleichtert: Die Solisten waren gut zu verstehen. Die Gesangsdarbietung ging unter die Haut und noch tiefer. So viel Gefühl! Es war sehr schön. Die Musik und die Art der Darbietung trugen viel zum Verstehen und Fühlen bei. Ein Genuss, auf den ich mich nun freue. Sehr positiv wirkte auch der menschliche Eindruck, den die drei Theaterprofis auf mich machten. Weniger interessant, sondern eher ernüchternd fand ich den Besuch bei den Bühnenbildnern. So viel Ausbildung des Personals (Studium) für so wenig Mitspracherechte das machte mich schon beim Zuhören unzufrieden. Insgesamt lässt sich die Theaterbesichtigung für mich als Erweiterung meines Theater-Horizonts vermerken. Durch sie ist mein ehrfürchtiges Interesse an der Wagner-Oper und ihrer Inszenierung geweckt worden.“ (Veranstaltungsfeedback)
Wie in diesen Zitaten bereits deutlich wird, hatte der persönliche Kontakt zu den Mitarbeitern des Theaters und deren professionelle Authentizität eine große Wirkung. „Es war eine interessante Erfahrung, so nah bei den Hauptdarstellern zu sein, die Stimmen in dieser Akustik hören zu können und dann auch noch die Gelegenheit des Gesprächs zu haben, das mit kleinen Anekdoten aus der Theaterwelt sehr lebendig war.“ (Veranstaltungsfeedback) 13
Die Textausschnitte wurden in Hinblick auf Grammatik und Rechtschreibung korrigiert.
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„Zu sehen, wie die Schauspieler/innen und Opernsänger/innen in ihrer Alltagskleidung aussehen, fand ich interessant.“ (Veranstaltungsfeedback) „Als Nicht-Lehramtskandidatin fand ich besonders interessant, dass [...] (sie) [die Dramaturgin, Anmerkung der Autorin] auch auf ihren persönlichen Werdegang und ihre Zukunftsaussichten eingegangen ist [...] Ihren Vortrag lockerte sie durch manche Details über die Zusammenarbeit mit Regisseuren auf, wodurch ich mir die anscheinend doch sehr stressige Arbeit einer Dramaturgin bildhaft vorstellen konnte.“ (Veranstaltungsfeedback) „Ich fand die Einführung [des Dramaturgen zu Tristan und Isolde, Anmerkung der Autorin], obwohl sie eine gewisse Zeit in Anspruch nahm, sehr kurzweilig [...] ich empfinde die Vermittlung des speziellen Wissens der Theaterfachleute als sehr bereichernd.“ (Veranstaltungsfeedback) „Das Nachgespräch bot wieder die Gelegenheit zu erfahren, was hinter solch einer Produktion steckt. Urs Dietrich und die beiden Tänzerinnen haben sehr lebhaft und enthusiastisch erzählt und man merkte, wie viel Spaß sie an der Sache gehabt haben. Sehr interessant fand ich Urs Dietrichs Aussagen über sein Stück, dass er nichts Eindeutiges, Intellektuelles schaffen, sondern durch Mehrdeutigkeit Assoziationen und somit die Phantasie des Zuschauers anregen wollte.“ (Aufführungsfeedback)
Die Gespräche mit Dramaturgen und Bühnenbildnern im Vorfeld eines Aufführungsbesuchs intensivierten den Blick für die Inszenierung. „Ich habe nach Theateraufführungen schon einige Male gehört, wie das Bühnenbild am Bremer Theater als „spartanisch“ bezeichnet wurde - wenn ich an unseren Besuch bei den Bremer Bühnenbildern denke, ist diese negative Bewertung des – in der Planung und Konstruktion sicher sehr aufwendigen Bühnenbildes – völlig ungerechtfertigt. Hintergrund einer solchen Äußerung ist wahrscheinlich die Erwartungshaltung, ein Bühnenbild wie die Kulisse im TV präsentiert zu bekommen.“ (Lerntagebuch) „Die Bühne [zu Tristan und Isolde, Anmerkung der Autorin] fand ich sehr beeindruckend. Sie war sehr minimalistisch aufgebaut, mit miteinander stark kommunizierenden Elementen. So war die Decke eine Negativspiegelung des Bodens. Die rechten Winkel der „Wände“ und des Beckens wurden von rechteckigen Ausleuchtungen am Boden unterstützt. Das Arbeiten mit insze-
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Ulrike Eberhardt nierten „gefakten“ Fluchtpunkten, wie wir sie eigentlich nur aus der Malerei kennen und die sich hier in ihrer Vielzahl gegenseitig widersprachen, aber trotzdem wirkten, wurden auf die Architektur der Bühne übertragen. So vermittelte die Decke eine Illusion von Tiefe, was die Bühne erheblich größer erscheinen ließ. [...] Im ersten Akt kam noch ein zusätzlicher Fluchtpunkt hinzu, der sich aus den beiden schräg zulaufenden Wänden in der Mitte bildete und in dessen Zentrum Tristan saß. Dieser Fluchtpunkt vermittelte neben der Tiefe der Decke auch noch eine stärker empfundene Entfernung auf der Horizontalen.“ (Aufführungsfeedback) „Meines Erachtens (und aufgrund des Denkanstoßes durch den Dramaturgen), würde ich sagen, dass Isolde sich am Ende vollkommen frei macht und ganz liebt. Der Tod hat am Ende des Stückes nichts mehr zu sagen. Denn Isolde geht vom [...] flüssigen, gleich in den gasförmigen Zustand über und erreicht über ein und denselben Eingang das unendliche Weltenall, nämlich durch die negative Spiegelung des Eingangs zum Eisloch an der Decke, welche meistens ein Loch ins Schwarze war, im Kontrast zu dem von innen erhellten Eis.“ (Aufführungsfeedback)
Auch der Blick hinter die Kulissen erwies sich als sehr nachhaltig. „Was wir im Schauspielhaus bereits gesehen hatten, war hier im Haupthaus alles noch viel größer und imposanter. Wir besichtigten die Theatertischlerei, den Malsaal, den Kostümfundus. Ich war sehr beeindruckt, die ganze Atmosphäre hatte für mich eine Wirkung, als sei ich in eine andere Welt abgetaucht.“ (Lerntagebuch)
Die Reaktionen auf die einzelnen Inszenierungen waren unterschiedlich. Johann Kresniks Stück Amerika war – auch aufgrund des Spielorts – zwar sehr eindrücklich, wurde jedoch kritisch beurteilt. „Die Atmosphäre in der großen, an diesem Tag auch ziemlich kalten Güterbahnhofshalle erschien mir sehr ungemütlich. Ebenso hatten die verschiedenen Kulissen etwas Abstoßendes und Unheimliches, z.B. eine Ansammlung von Särgen oder die Kulisse einer Schlachterei mit Schweinskadavern. Die Erläuterungen zum technischen Aufbau und den damit verbundenen organisatorischen Problemen erschienen mir wie ein angenehmer Ausgleich, um mich von den Kulissenbildern abzulenken. [...] Ich empfand die Bilder der Inszenierung eindringlich, die düstere Atmosphäre der Kulisse wurde [bei der Auffüh-
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rung] von der schauspielerischen Leistung der Darsteller noch übertroffen.“ (Lerntagebuch) „Mir erschien die Darstellung [...] wie eine Aneinanderreihung von negativen Amerikaklischees. [...] Ich empfand die Amerikakritik des Regisseurs als zu platt und hatte das Gefühl in der „Zuschauerhorde“ einer inszenierten Volksverhetzung hinterher zu trotten, [...] der Unterschied zwischen der subtilen Amerikakritik Kafkas und der plakativen und lauten Effekthascherei Kresniks [ist] gravierend.“ (Aufführungsfeedback)
Das Tanztheater erwies sich für die meisten als Entdeckung. „Für mich war das Tanztheater Infini von Urs Dietrich das erste Tanztheater überhaupt. [...] Ich muss sagen, dass es mich sehr beeindruckt hat und ich würde jedem empfehlen, sich diese Aufführung anzusehen.“ (Aufführungsfeedback) „Die Aufführung von Urs Dietrichs Tanztheaterstücks „Infini“ [...] hat mir sehr gut gefallen. Die Verbindung der Musik von Rossinis „Petite Messe Solonelle“ und der Choreografie war sehr beeindruckend. Ich meine, dass Urs Dietrich die „kritische Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Themen“ sehr subtil und eindrucksvoll umgesetzt hat.“ (Aufführungsfeedback) „Insgesamt war diese Art von Tanz und Inszenierung für mich eine neue Erfahrung, da ich ein Anhänger von eher traditionellem Ballett bin.“ (Aufführungsfeedback)
Die Aufführung von Tristan und Isolde wurde als anstrengend empfunden, was die Meinung über das Stück zum Teil stark beeinflusste. „Auch wenn man wahrscheinlich nach 5 Stunden jedes Ende toll findet, muss ich sagen, ich fand es sehr gut.“ (Aufführungsfeedback) „5 Stunden kann man schon mal aushalten. Vor allem habe ich bemerkt, dass jedes Theaterstück, welches wir in dem Kurs besucht haben, durch die Besprechung am Ende bereichert worden ist. Auch das heutige.“ (Aufführungsfeedback) In der Veranstaltung [...] haben wir zunächst über unsere Eindrücke von der Oper „Tristan und Isolde“ gesprochen. Die generelle Meinung war, dass die Inszenierung und die Leistung der Darsteller zwar beeindruckend, aber fünf
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Ulrike Eberhardt Stunden entschieden zu lang waren. Außerdem wurde festgestellt, dass sich Wagner nicht unbedingt als „Einstiegs-Oper“ anbietet, da es für viele der erste Opernbesuch war und sie nun ein wenig abgeschreckt wurden. In diesem Zusammenhang wurde diskutiert, inwiefern sich eine Oper in den Schulunterricht integrieren lässt. Wir stellten fest, dass sich solch eine Unterrichtseinheit höchstens erst ab der 8./9. Klasse anbieten würde, da die Schüler vorher nichts damit anfangen könnten und ein allgemeines Desinteresse vorherrschen würde.“ (Veranstaltungsfeedback)
4.2 Erstes Fazit der Veranstaltung Insgesamt wurde das persönliche Interesse der Teilnehmer am Theater gestärkt. „Die Fragestellung, die ich mir zu Beginn des Seminars stellte, was Theater in unserer Zeit bewirken will, hat sich im Verlauf der Seminararbeit für mich zufriedenstellend geklärt. Aufgrund der Auseinandersetzung mit dem Thema „Theater“ ist mein Interesse am Theatergeschehen deutlich gestiegen. So habe ich zum Beispiel vor einigen Tagen eine Diskussion über die Bayreuther Festspiele und die Inszenierung der „Meistersänger von Nürnberg“ von Katharina Wagner mit Aufmerksamkeit verfolgt.“ (Lerntagebuch)
Ein Großteil der Teilnehmer gab in der Evaluation an, Angebote des Theaters später in der Schule nutzen zu wollen. Drei setzten sich aufgrund der Veranstaltung sogar mit der Überlegung auseinander, einen Beruf am Theater, wie z.B. Dramaturg oder Dramaturgin, zu ergreifen. Zwei Teilnehmer allerdings, die laut eigener Auskunft der Kunstform Theater nicht ausgesprochen zugetan sind, empfanden die Auswahl an Stücken grundsätzlich als nicht besonders gelungen und deren Besuch eher als Zumutung. Neben der gelungenen Zusammenarbeit mit dem Bremer Theater gab es leider auch für die derzeitige Studiensituation typische, man könnte auch sagen symptomatische Probleme. Organisatorische, strukturelle und alltägliche Studienprobleme Bis zur Einführung der neuen Studienstrukturen besaß die Bremer Universität eine lange Tradition des Projektstudiums, in dem über mehrere Semester ein Themenschwerpunkt interdisziplinär behandelt wurde. Eine solche Form des Studiums ist inzwischen nicht mehr realisierbar. Im Beitrag von
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Thomas Althaus und Romana Weiershausen in diesem Band werden Abstimmungsprobleme beschrieben, die sich aus den neuen und stark reglementierten Studienstrukturen ergeben. Selbst eine relativ einfache Verbindung zwischen einer fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Veranstaltung, wie in diesem Doppelseminar, erwies sich als kaum mehr umsetzbar. Hier ließen sich u.a. die semesterbezogenen Inhalte der Module der Fachwissenschaft und Fachdidaktik nicht aufeinander abstimmen: was in der Literaturwissenschaft bereits zu einem früheren Zeitpunkt behandelt werden konnte, stand für die Fachdidaktik erst später zur Wahl. Ohne Probleme konnte das Seminar deshalb nur von Studierenden der alten auslaufenden Lehramtsstudiengänge belegt werden. Eine Koordination zwischen den Veranstaltungszeitfenstern und den Zeitstrukturen des Theaters erwies sich als äußerst schwierig und ließ sich wiederum nur aufgrund der Flexibilität der Studierenden der auslaufenden Studiengänge verwirklichen. Eine Wiederholung dieses Seminars ist unter den derzeitigen Voraussetzungen wohl nicht mehr möglich. Neben organisatorischen und strukturellen Unwägbarkeiten erschweren zudem fast schon alltäglich gewordene Studienprobleme die Umsetzung von Veranstaltungen, in denen ungewohnte und neue Fragestellungen bearbeitet und den Studierenden ein größeres Engagement abverlangt wird. Schlecht vorbereitete oder verbummelte Referatstermine, rein zeitökonomisch angegangene Referate und Ausarbeitungen, in denen nicht das Thema die Richtschnur für den Inhalt darstellt, sondern die gefundene Literatur, bei gleichzeitiger Beratungsresistenz, vernebeln oftmals den Blick für den Gegenstand oder vermögen sogar den `roten Faden´ einer Veranstaltung zu `kappen´. Immer mehr Lehrende gehen deshalb auch dazu über, auf Referatsbeiträge zu verzichten, um das Niveau der Veranstaltung nicht zu gefährden oder sich an `Schadensbegrenzungen´ abarbeiten zu müssen. Die Kollegin Romana Weiershausen, die den fachwissenschaftlichen Anteil der Veranstaltung abdeckte, löste dieses Problem durch eine abwechslungsreiche Mischung klassischer Seminararbeit, den Verzicht auf umfangreiche Referate und eine stringente Seminar- und Gesprächsleitung in ihrer Hand unter Einbeziehung kleinerer Beiträge von Studierenden, die sich auf bestimmte Fragestellungen im Vorfeld vorbereiten und ihre Erkenntnisse quasi als `Experten´ in Diskussionen oder in Form von kurzen Impulsbeiträgen einbringen konnten. Eine solche Seminargestaltung wirkt nicht nur inhaltlich überzeugend, sondern kommt auch den Interessen der Seminarleitung und
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der Studierenden entgegen, denn Ablauf und Ergebnis erweisen sich für beide Seiten als befriedigend. Studentische Referate werden aufgrund ihrer Qualität auch von Seiten der Studierenden immer mehr als verwirrend und eher störend wahrgenommen. In diesem Seminar wurden sogar rückblickend (in der Evaluation) Referate von Studierenden zur neueren Dramendidaktik mit Beispielen für die Praxis als theorielastig und praxisfern erinnert. Dennoch kann ein vollkommener Verzicht auf Referate sowie auf eine anspruchvolle und umfassende Beteiligung der Studierenden nicht das Ziel hochschuldidaktischer Bemühungen sein. Als umfassendes Problem erwies sich auch fehlende Allgemeinbildung. Komponisten wie Schubert, Schumann, Brahms und Liszt waren weder dem Namen nach bekannt, noch bestand irgendeine Vorstellung hinsichtlich des Charakters ihrer Werke. Darüber, was eine Messe ist und beinhaltet, bestand völlige Unklarheit, was dazu führte, dass die fehlende Handlung der Aufführung (Petite Messe Solonelle) beklagt wurde. Der Versuch, durch einführende Kurzreferate Abhilfe zu schaffen, scheiterte oftmals daran, dass es den Studierenden nicht gelang, die Gegenstände sinnvoll zu erschließen. Der Besuch von Richard Wagners Oper Tristan und Isolde sowie eine vorherige Auseinandersetzung mit den Leitmotiven und dem musikhistorischen Hintergrund des Werkes wurde von einigen Teilnehmern aufgrund disziplinärer Lernerwartungen sogar als Zumutung empfunden. 4.3 Zur Theatersozialisation der Teilnehmer Die Befragung zur familiären und schulischen Theatersozialisation der Seminarteilnehmer im Rahmen der Abschlussevaluation beansprucht aufgrund ihrer Anlage und ihres Umfanges (13 Teilnehmer) natürlich keine empirische Validität, zudem ist bei den Ergebnissen zu beachten, dass die meisten Teilnehmer die Veranstaltung aus Interesse gewählt hatten und dass viele über Erfahrungen mit Theater-AGs oder mit Darstellendem Spiel verfügten. Acht Teilnehmer hatten während ihrer Schulzeit Theater gespielt, drei spielten aktuell Theater und zwei besaßen bereits eine theaterpädagogische Ausbildung. Dennoch sind an den Ergebnissen Sozialisationsfaktoren und mögliche Korrelationstendenzen auszumachen, die den Ergebnissen der Lesesozialisationsforschung ähneln und Parallelen zu einer Befragung von 12- bis 18jährigen Schülern allgemeinbildender Schulen zum Kulturinteresse
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und zur Kulturnutzung aufweisen (Quendt/Blaser/Schubert 2003). Sowohl in ihrer Gesamtheit als auch bei einzelnen Teilnehmern zeichnet sich außerdem eine biographische Kohärenz zwischen spezifischen Sozialisationsfaktoren ab, teilweise sind sogar bestimmte Typologien erkennbar. So gibt es z.B. voneinander abgrenzbare Beispiele, die einerseits als „kulturell aktives Bildungsbürgertum“ und andererseits als „bildungsbürgerlich orientiertes Elternhaus“ bezeichnet werden können. Insgesamt gaben elf Teilnehmer an, die Kunstform Theater „gern“ bis „sehr gerne“ zu haben, jedoch lediglich „dann und wann“ (9) oder sogar selten (3) ins Theater zu gehen. Zehn waren, wenn auch eher selten, in Kindheit und Jugend mit ihren Eltern im Theater und dabei vorzugsweise in einem Schauspiel. Mit der Schule waren die meisten „dann und wann“ einmal im Theater. Im Deutschunterricht wurde lediglich bei zweien das Thema Theater behandelt, bei dreien wurde Brechts episches Theater thematisiert. Immerhin fünf Teilnehmer konnten dem schulischen Dramenunterricht etwas abgewinnen, der Rest empfand ihn als langweilig, trocken, textlastig und theoretisch. Als ausschlaggebend für ihre heutige Haltung zum Theater führen fünf Studierende eigene Erfahrungen mit Theaterspielen an, zwei die Familie, eine Teilnehmerin die Theaterbesuche mit der Schule und eine das Engagement ihrer Deutschlehrerin. Den dem Theater aufgeschlossenen Teilnehmerinnen und Teilnehmern schienen das Angebot des Bremer Theaters und die Aufführungen gut zu gefallen. Demgegenüber standen zwei Teilnehmer, die sich mit der Auswahl der Stücke nicht anfreunden konnten und die sich insgesamt dem Angebot gegenüber reserviert zeigten. Gerade diese beiden hatten auf die Frage, wie sie die Kunstform Theater finden, „geht so“ angegeben. Beide waren in Kindheit und Jugend mit ihren Eltern nicht im Theater, beide haben kein Theater gespielt, waren jedoch „dann und wann“ mit der Schule im Theater. Auch hier zeigten sich wieder Beispiele biographischer Kohärenz zwischen Theatersozialisation und der späteren Haltung gegenüber dem Theater, die leider durch die Veranstaltung auch nicht „positiv“ gewendet werden konnte. Schlussfolgerungen aus der Befragung Es gibt in dieser Befragung zur Theatersozialisation Hinweise darauf, dass Theaterbesuche im Rahmen des Deutschunterrichts sowie engagierte Lehrer Interesse für das Theater zu wecken vermögen. Andererseits gibt es ebenso
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Hinweise darauf, dass es nicht unbedingt ausreicht, mit der Klasse ins Theater zu gehen, um nachhaltig Interesse zu wecken. Positive Auswirkungen können Theaterbesuche als Bestandteil des kulturellen Habitus' einer Schule oder als feste Einrichtung haben. So antwortete eine Teilnehmerin auf die Frage, was für ihre heutige Haltung gegenüber der Kunstform Theater ausschlaggebend gewesen war: „Die Besuche von Stücken mit der ganzen Schule (!), die an unserer Schule Tradition waren.“ (Evaluation) Eindeutig zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Theaterspielen in Kindheit und Jugend und einer nachhaltigen Aufgeschlossenheit gegenüber dem Theater. Diese Zusammenhänge finden sich auch als Ergebnisse einer Befragung von 12- bis 18jährigen Schülern allgemeinbildender Schulen zur Nutzung „hochkultureller“ Angebote wie klassische Konzerte, Opern, Museen, Theateraufführungen und Ausstellungen aus dem Jahr 2003 (vgl. Quendt/ Blaser/Schubert 2003, 8). Die Befragung kommt zu dem Ergebnis, dass Kulturinteresse eine wichtige Voraussetzung für die tatsächliche Kulturnutzung von Jugendlichen ist und zwischen Kulturdisposition, der Kulturnutzung und dem Kulturbewusstsein ein Zusammenhang besteht (vgl. ebd., 31 u. 112). Kenntnisse über Kultur allein seien hingegen nicht „sehr wirkungsvoll.“ (ebd., 113) Gleiches gelte für schulische Veranstaltungsbesuche, die allein weder das Interesse noch die Kulturnutzung merkbar verbessert. Kulturbesuche mit Eltern und Familie wirken sich hingegen positiv aus (vgl. ebd., 114). Eine erfolgreiche Förderung des Interesses führt auch nicht automatisch zu einer erhöhten Kulturnutzung, da sich andere Faktoren auf die aktuellen Nutzungsgewohnheiten auswirkten (vgl. ebd., 31 u. 112). Die regelmäßige Nutzung von Theaterangeboten hängt vermutlich stark vom Lebensalter und damit verbundenen Freizeitvorlieben ab. Zwischen dem 14. und 16. Lebensjahr ist z.B. das Interesse der Schüler an Kulturveranstaltungen unterdurchschnittlich gering (vgl. ebd., 113). Deutlich positive Auswirkungen haben jedoch kreative Aktivitäten von Schülern, egal ob in schulischen Zusammenhängen, im Elternhaus oder im Rahmen weiterer Freizeitaktivitäten: „[E]gal wo sich die Schüler kreativ betätigen, ein solches Engagement erhöht das Kulturinteresse.“ (ebd., 114) Die Untersuchung kommt zu dem Fazit, dass bisher „von einer wirkungsvollen kulturellen Vorbereitung durch die Schule [...] nur im Zusammenhang mit dem kreativen Engagement gesprochen werden [kann]“ (ebd.). Und „vor dem Hintergrund des allgemein sehr tiefen Interesses an kulturellen Veranstaltungen
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scheint es [...] möglich und notwendig, bei den Schülern mehr Begeisterung und Freude an Kulturveranstaltungen zu wecken.“ (ebd., 113) 4.4 Veranstaltungsreflexion Es hat sich gezeigt, dass die Auswahl anspruchsvollerer Stücke bereits interessierter und `teil-theatersozialisierter´ Teilnehmer bedarf, um nicht abzuschrecken und vielleicht das Gegenteil des gewünschten positiven Effekts hervorzurufen. Die Zusammensetzung der Teilnehmergruppe und deren Theatersozialisation verweisen auf die nachhaltige Wirkung schulischer wie außerschulischer Theater(spiel)angebote für Kinder und Jugendliche. Dieser persönliche Bezug und das daraus resultierende Interesse könnten bereits in der Schulzeit mit der kulturellen Praxis `Ins Theater gehen´ verknüpft werden. Aus der Befragung der Teilnehmer wurde nicht deutlich, ob ein spiel- und handlungsorientierter Dramenunterricht, der keinen `zweckfreien´ ästhetischen Umgang mit dem Gegenstand zum Ziel hat, zu ähnlichen Erfolgen führt; zu wenig verbreitet ist bisher dessen Einsatz im Deutschunterricht. Die Nutzung theaterpädagogischer Angebote der örtlichen Theater erweist sich für die universitäre Lehrerausbildung als sehr sinnvoll und bietet sich auch für die Schule an. Grundsätzlich sollte der schulische Umgang mit der Institution Theater und generell mit kultureller Praxis überdacht werden. Durch Umgestaltung schulischer Lehrkulturen könnten kulturelle Erwerbsprozesse besser gefördert werden. Eine „deutliche Lücke im didaktischen Feld“ (Denk/Möbius 2008, 10), was die Beschäftigung mit Dramentexten und mit dem Theater sowohl an Schulen als auch Universitäten angeht, wurde mittlerweile auch von Rudolf Denk und Tobias Möbius ausgemacht (ebd., 9). Sie kritisieren, dass es so gut wie keine Grundlagenwerke für Studierende und Lehrpersonen gibt, die „präzise Informationen und plausible Anwendungsmöglichkeiten zu dramatischen Texten vermitteln“ (ebd., 10) und die versuchen, diese Lücke mit einer Einführung in die Dramen- und Theaterdidaktik zu füllen. Ihre Ausgangsüberlegungen beinhalten erfreulicherweise zwar auch eine „Praxis des Live-Mediums [...] Theater“ (ebd., 10), münden jedoch in einen dezidiert kognitiv-kritischen Zugang, der einerseits zum „Vergnügen an Theatralik“, aber auch zu einer „Meisterschaft“ des „Zuschauens“ führen soll:
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Ulrike Eberhardt „Eine „andere“ Dramendidaktik hat den kritischen Theaterrezipienten in einer „Stufenleiter“ des Vergnügens an Theatralik im Blick. Eine Art „Meisterschaft“ des Zuschauers kann dann gelingen, wenn schon die Schüler, wenn die Studierenden und die Lehrenden die wesentlichen Elemente des Dramatischen und Theatralischen in kognitiven Probesituationen so eingeübt haben, dass sie Zeit ihres Lebens „Meisterzuschauer/innen“ im Theater werden und bleiben.“ (ebd., 21)
Die Einführung selbst gibt u.a. einen Überblick über didaktische Konzepte der Dramenvermittlung, über Theatersemiotik, Dramaturgiemodelle sowie die Grundlagen einer Theaterwerkstatt. Sie stellt sich somit als sinnvolles Nachschlagewerk dar, bietet jedoch weder ein neues Praxiskonzept noch konkrete Handlungsvorschläge an. Wahrscheinlich würde ein solches Unterfangen den Rahmen einer Einführung sprengen, die Beschäftigung mit Dramendidaktiken in dieser Veranstaltung zeigte jedoch (erneut), wie sinnvoll eine Verbindung zwischen theoretischem Konzept und praktischer Handlungsumsetzung ist, um den `Sinn´ einer spezifischen Dramendidaktik an Hand des eigenen situativen Vorstellungsraumes (der in der Regel auf eigenen Schulerfahrungen und eigenem ästhetischen Erleben basiert) nachvollziehen und reflektieren zu können, und dass eine solche Auseinandersetzung Zeit und Raum benötigt. Es geht um die Implementierung von Möglichkeiten in den eigenen Handlungshorizont und damit letztlich um persönliche Erfahrungen. Im Hinblick auf eine „Stufenleiter des Vergnügens an Theatralik“ hat dieses Seminar gezeigt, dass eine gezielte Förderung und Reflexion der kulturellen Praxis `Ins Theater gehen´ in Verbindung mit einer fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung sowie der Zusammenarbeit mit der Theaterpädagogik eines örtlichen Theaters hierzu einen großen Beitrag zu leisten vermögen. „Das positive Fazit meiner Theaterseminar-Erfahrungen aus den letzten Wochen bestätigt sich hier >...@: Die Zeit, die ich für die Vorbereitung des Theaterbesuchs investiert habe, bringt mir ein nachhaltiges Erleben des Stücks. Ich kann viel mehr Einzelheiten wahrnehmen, als wenn ich unvorbereitet ins Theater gehe.“ (Lerntagebuch)
In Anknüpfung an das Zitat Horst Rumpfs im Kapitel 2 ist es diesem Seminar vielleicht gelungen, den „Gegenstand“ nicht nur „flüchtig“ zu „berüh-
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ren“, sondern auch „den Menschen“ „wirklich dabei“ zu haben. Welchen Einfluss ein solches Seminar letztlich auf die spätere Haltung als Lehrende hat, wird sich erst im schulpraktischen Alltag erweisen. Für zukünftige Seminare wäre es aus meiner Sicht wünschenswert, mehr Zeit für die Lust am eigenen Spielen zu haben und die persönliche Auseinandersetzung mit der schulischen Praxis weiter zu intensivieren, um handlungsorientiertes, theoretisches und erfahrungsorientiertes Wissen noch besser miteinander zu verbinden. 4.5 Ausblick Hinsichtlich der Erweiterung eines ästhetischen Erfahrungshorizontes scheint es leider in Schule und Universität auch zukünftig schlecht bestellt zu sein. Angesicht der Medienentwicklung der letzten Jahrzehnte wird an die Schule und insbesondere auch an den Deutschunterricht die Forderung nach einer verbesserten Medienerziehung unter Berücksichtigung bisher vernachlässigter Mediensegmente gestellt, wie z.B. Film und Fernsehen. Perspektivisch wird es hier vor allem um die Integration Digitaler Medien und ihren spezifischen Textformen gehen. Angesichts verringerter Stundenkontingente für den Deutschunterricht und einer Überfrachtung der Lehrpläne durch die Reduzierung auf zwölf Schuljahre beinhaltet eine solche Gegenstandserweiterung jedoch ein Zurückdrängen der literar-ästhetischen Komponente. Damit bleibt auch wenig Raum für neue Impulse wie z.B. die Entdeckung des `alten´ Mediums Theater. In Folge von PISA kommt es zudem zu einem Wechsel von der bisherigen Gegenstandsorientierung zu einer Kompetenzorientierung. Mit dem „reading literacy“-Konzept rücken die pragmatischen Fachkompetenzen in den Mittelpunkt (siehe hierzu auch Fingerhut 2003, 74ff.). Von „Teilhabe am literarischen Leben“ und vom „kulturellen Gedächtnis“ ist, so Hurrelmann, „weniger die Rede“ (Hurrelmann 2002, 12-14). Für die Universitäten besteht in Folge der neuen modularisierten Studiengänge die Gefahr, dass sie mehr als Ort der `Abarbeitung´ geforderter Leistungen erlebt werden und nicht als Ort geistiger und kultureller Auseinandersetzung. Die starke Kompetenzbetonung zielt auch hier auf den Erwerb von Fertigkeiten ab und betont die Funktionalität des zu Lernenden. Grundsätzliche Probleme in der Lehre sowie die mit der Einführung der
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neuen Studienstruktur verbundenen `Verwerfungen´ erschweren Seminarformen, in denen Interdisziplinarität erforderlich ist, um eine tiefere und adäquate Auseinandersetzung mit einem Gegenstand wie Theater zu ermöglichen. Literatur Baacke, Dieter/Schulze, Theodor (Hrsg.) (1985): Pädagogische Biographieforschung: Orientierung, Probleme, Beispiele. Weinheim: Beltz Barthes, Roland (1969): Literatur und Bedeutung [1963]. In: Barthes (1969): 102126 Barthes, Roland (1969): Literatur oder Geschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Baumert, Jürgen/Maaz, Kai (2006): Das theoretische und methodische Konzept von PISA zur Erfassung sozialer und kultureller Ressourcen der Herkunftsfamilie. Internationale Rahmenkonzeptionen. In: Baumert/Stanat/Watermann (2006): 11-29 Baumert, Jürgen/Stanat, Petra/Watermann, Rainer (Hrsg.) (2006): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen. Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Vertiefende Analysen im Rahmen von PISA 2000. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. Bohec, Paul Le/Guillou, Michele Le (1997): Patricks Zeichnungen. Erfahrungen mit der therapeutischen Wirkung des freien Ausdrucks. Bremen: Pädagogik Kooperative Bolland, Angela (2008): Forschendes und biographisches Lernen in der Lehrerausbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Bollenbeck, Georg (1994): Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt am Main u. Leipzig: Insel Brecht, Berthold (1991): Betrachtung der Kunst und Kunst der Betrachtung >1939@. In: Lazarowicz/Bahne (1991): 488-492 Bucher, Priska (2003): Leseförderung in der Schule. Chancen und Herausforderungen. In: Medienheft 19/03. 2003. 46-54 Carle, Ursula (1996): Wer die Schule verändern will, muß die angehenden Lehrerinnen und Lehrer gewinnen. Freinetpädagogik an der Hochschule. In: Hering/Hövel (1996): 157-178 echov, Michail A. (1990): Die Kunst des Schauspielers. Stuttgart: Urachhaus Denk, Rudolf (2006): Dramatik. In: Kliewer, Heinz-Jürgen/Pohl, Inge (Hrsg.) (2006): 87-91 Denk, Rudolf/Möbius, Thomas (2008): Dramen- und Theaterdidaktik. Eine Einführung. Berlin: Erich Schmidt
Die kulturelle Praxis `Ins Theater gehen´
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Duncker, Ludwig (1994): Lernen als Kulturaneignung. Schultheoretische Grundlagen des Elementarunterrichts. Weinheim u. Basel: Beltz Eicher, Thomas(1999): Lesesozialisation und Germanistikstudium. Paderborn: Mentis Ehlers, Swantje (Hrsg.) (2003): Das Lesebuch. Zur Theorie und Praxis des Lesebuchs im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren Fingerhut, Karlheinz (2003): Literarische Bildung unter den Bedingungen von Qualitätssicherung und Kompetenzerwerb in integrierten Lesebüchern für die Sekundarstufe I. In: Ehlers (2003): 74-100 Frommer, Harald (1995): Lesen und Inszenieren. Produktiver Umgang mit dem Drama auf der Sekundarstufe. Stuttgart: Klett Fuhrmann, Manfred (2004): Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart: Reclam Hering, Jochen/Hövel, Walter (Hrsg) (1996): Immer noch der Zeit voraus – Kindheit, Schule und Gesellschaft aus dem Blickwinkel der Freinetpädagogik. Bremen: Pädagogik Kooperative Hurrelmann, Bettina (2002): Leseleistung – Lesekompetenz. Folgerungen aus PISA mit einem Plädoyer für ein didaktisches Konzept des Lesens als kultureller Praxis. In: Praxis Deutsch, 29 (176). 6-19 Kliewer, Heinz-Jürgen/Pohl, Inge (Hrsg.) (2006): Lexikon Deutschdidaktik. Bd. 1. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren Knoche, Susanne/Rupp, Gerhard (2006): Ästhetische Erziehung. In: Kliewer, Heinz-Jürgen/Pohl, Inge (Hrsg.) (2006): 19-22 Kunz, Marcel (1989): Spielraum. Literaturunterricht und Theater. Zug: Klett und Balmer Lange, Günter/Neumann, Karl/Ziensenis, Werner (1998) (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. 6. Aufl. Bd. 2. Literaturdidaktik. Baltmannsweiler. Schneider Verl. Hohengehren Lazarowicz, Klaus/Bahne, Christopher (Hrsg.) (1991): Texte zur Theorie des Theaters. Stuttgart: Reclam Payrhuber, Franz-Josef (1998): Dramen im Unterricht. In: Lange/Neumann/Ziensenis (1998): 647-668 Podewils, Angela von (1989): Theater als Medium und Werkstatt. In: Taschenbuch des Deutschunterrichts (1989a): 449-466 Quendt, Christiane/Blaser, Dorais/ Schubert, Markus (2003): Kulturnutzung von Kindern und Jugendlichen. Eine Befragung von 12- bis 18jährigen Schülerinnen und Schülern allgemeinbildender Schulen zum Kulturinteresse und zur Kulturnutzung. o.O. Schriftenreihe Kontur 21, Bd. 1 Rumpf, Horst (1986): Die künstliche Schule und das wirklich Lernen. Über verschüttete Züge im Menschenlernen. Ehrenwirth: München
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Scheller, Ingo (2004): Szenische Interpretation. Theorie und Praxis eines handlungsund erfahrungsbezogenen Literaturunterrichts in Sekundarstufe I und II. Seelze-Velber: Kallmeyer Spinner, Kaspar H. (1998): Thesen zur ästhetischen Bildung im Literaturunterricht. In: Der Deutschunterricht 50. H 6. 1998. 46-54 Taschenbuch des Deutschunterrichts (1989a): Grundfragen und Praxis der Sprachund Literaturdidaktik. Band I. Grundlagen – Sprachdidaktik – Mediendidaktik. 6., vollst. überarb. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verl. Hohengehren Taschenbuch des Deutschunterrichts (1989b): Grundfragen und Praxis der Sprachund Literaturdidaktik. Band 2. 4. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verl. Hohengehren, Terhart, Ewald (2002): Nach PISA. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt Wagner, Bernd (2005): Kulturpolitik und Publikum. In: Wagner (2005): 9-17 Wagner, Bernd (Hrsg.) (2005): Thema: Kulturpublikum: Kulturstatistik, Chronik, Literatur, Adressen. Jahrbuch für Kulturpolitik 5. Essen: Klartext-Verl. Waldmann, Günter (2004): Produktiver Umgang mit dem Drama. Eine systematische Einführung in das produktive Verstehen traditioneller und moderner Dramenformen und das Schreiben in ihnen. Für Schule (Sekundarstufe I und II) und Hochschule. 4. Aufl. Baltmannsweiler: Schneider Verl. Hohengehren
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Autorinnen und Autoren Althaus, Thomas, Dr. phil., Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Literaturgeschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Kultur des 17.-19. Jahrhunderts (Kleine Prosa der frühen Neuzeit, Drama der Aufklärung, Roman des 19. Jahrhunderts); Strukturverluste in der Literatur seit dem späten 19. Jahrhundert; Literaturgeschichte und Bewusstseinsgeschichte; Literatur und (früher) Film. Eberhardt, Ulrike, M.A., Buchhändlerin, Promotionsstipendiatin und Lehrbeauftragte im Bereich „Didaktik des Deutschen/Neue Medien“ an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Lesekultur, Lesesozialisationsforschung; Hochschuldidaktik; Leseförderung in außerschulischen Kontexten. Fichten, Wolfgang, Dr. phil., außerplanmäßiger Professor am Institut für Pädagogik der Fakultät I – Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Pädagogische Psychologie; Schul- und Unterrichtsforschung; Wissenschaftstransfer und Evaluation. Grünewald, Andreas, Dr. phil., Juniorprofessor für die Didaktik der romanischen Sprachen mit dem Schwerpunkt Spanisch an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Multimediadidaktik; Effizienz von Multimedia im Fremdsprachenunterricht; Neurodidaktik; Motivationspsychologie. Heudecker, Sylvia, Dr. phil., Dozentin am Zentrum für Sprachen und Schlüsselqualifikationen der Universität Göttingen. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Literaturkritik; Rhetorische Kommunikation; Methodik und Didaktik der Sprecherziehung.
Autorinnen und Autoren
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Holkenbrink, Jörg, Regisseur u. Bildungsforscher, Künstlerischer Leiter des Zentrums für Performance Studies u. des Theaters der Versammlung an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Aus- und Weiterbildung in Performance Studies. Kepser, Matthis, Dr. phil., Professor für Didaktik des Deutschen an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Neue Medien; Literaturdidaktik und Didaktik des Spielfilms. Kruse, Otto, Dr. phil., Professor im Departement Angewandte Linguistik und Leiter des Zentrums für Professionelles Schreiben der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Vermittlung von Schreibkompetenz; Forschendes Lernen; Mehrsprachiges Schreiben; Genres des wissenschaftlichen Schreibens; Schreibkulturen. Moghaddam, Roya, Dr. phil., Soziolinguistin, Referentin für Bildungskooperation am Deutschen Sprachinstitut Teheran / Iran (DSIT). Arbeitsschwerpunkte: Angewandte interdisziplinäre Soziolinguistik; Deutsch als Fremdsprache (DaF/DaZ/DaM) mit didaktischer Ausrichtung; Geschlechterforschung; Interkulturelle Kommunikation; Erwachsenenbildung. Moschner, Barbara, Dr. rer. nat., Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung in Fakultät I – Erziehungs- und Bildungswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Papenberg, Stefan, Studienreferendar und Lehrbeauftragter am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Technischen Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Englische Fachdidaktik im Bereich quantitativ-qualitive Erforschung von Kompetenzentwicklung; Lernprozesse im interkulturellen Englischunterricht.
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Roters, Bianca, Stipendiatin im Promotionskolleg „Wissensmanagement und Selbstorganisation im Kontext hochschulischer Lehr- und Lernprozesse“ an der Technischen Universität Dortmund, Lehrbeauftragte Fachdidaktik Englisch und Schulpädagogik. Arbeitsschwerpunkte: Anglo-amerikanische Lehrerausbildungsforschung; Kooperation Fachdidaktik Englisch und Erziehungswissenschaften. Spörl, Uwe, Dr. phil., Lektor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur der Moderne; Antikerezeption in der deutschen Literatur der Neuzeit; Literaturtheorie. Weiershausen, Romana, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Kultur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Drama und Theater im 18. Jahrhundert; Geschlechter- und Wissenschaftsdiskurs in der Literatur der Jahrhundertwende; Literatur und Migration). Welbers, Ulrich, Dr. phil., Privatdozent (Abteilung für Germanistische Sprachwissenschaft) am Germanistischen Seminar der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Arbeitsschwerpunkte: Sprachphilosophie und –theorie der Antike und des 19. und 20. Jahrhunderts; Sprachvermittlung und –didaktik; Hochschuldidaktik mit Schwerpunkt Modularisierung und Studentenorientierung. Wildt, Johannes, Dr. phil., Professor für allgemeine Hochschuldidaktik mit Schwerpunkt auf fachübergreifende Fragen der Lehrerbildung am Hochschuldidaktischen Zentrum der Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: LehrerInnenbildung; Fächerübergreifendes Studieren; Projekt- und problemorientiertes Lernen; Hochschuldidaktische Fortbildung.