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Deutscher Studienpreis (Hrsg.) Mythos Markt?
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Deutscher Studienpreis (Hrsg.) 3
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Mythos Markt? Die ö...
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Deutscher Studienpreis (Hrsg.) Mythos Markt?
Inhalt
Deutscher Studienpreis (Hrsg.) 3
Inhalt
Mythos Markt? Die ökonomische, rechtliche und soziale Gestaltung der Arbeitswelt
4 Inhalt Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Redaktion: Claudia Gerhardt Heike Gleibs Matthias Mayer Christiane Mück
. 1. Auflage April 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: Anke Vogel Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN-10 3-531-14991-1 ISBN-13 978-3-531-14991-2
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Editorial................................................................................................................7 Vorwort ................................................................................................................9 Regeln für den Arbeitsmarkt Pieter De Vos und Heiner Schumacher Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht..........................................................................15 Heike Opitz Hauptsache Teilzeitarbeit. Gestaltung und Behandlung der Teilzeitund Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht .................................................................................................35 Karen Ullmann Gesetzgebung um jeden Preis? Ein Plädoyer für eine Versachlichung der Diskussion um das Arbeitsrecht...................................................................51 Tim Lohse Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“ – Chancen auf mehr Beschäftigung? ...............................................71 Übergang von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt Elke Schröder Dagobert Duck im Klassenzimmer – Ein Trainingsprogramm zur Förderung unternehmerischer Potenziale im Jugendalter ..................................91 Christiane Mück und Karen Mühlenbein Keine Nachfrage nach zusätzlichen Akademikern: Eine Untersuchung der Einkommensentwicklung von Akademikern ...................................................109
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Inhalt
Jana Lucas und Anne-Kathrin Winkler Vorbei sind die schönen Tage von Aranjuez? – Über einen notwendigen Wandel der universitären Kunstgeschichte ..............123 Arbeitsmarkt im Wandel Doris Ruth Eikhof Transorganisationale Arbeit am Theater: Eine empirische Untersuchung marktvermittelter Arbeitsformen....................139 Till Westermayer Ich-AG im Walde: Ländliche Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft......157 Claudia Gerhardt Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren .............................175 Susanne Strauß Durch das Ehrenamt zurück in den Arbeitsmarkt?...........................................195 Grenzen des Arbeitsmarkts Anne Giebel und Christian Apfelbacher Who cares? Pflegearbeit, Individuum und Gesellschaft. Eine interdisziplinäre Spurensuche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft......................................................................................................213 Christin-Melanie Fuchs Brasilianische Spielregeln – Kulturelle Unterschiede als „Störvariable“.........231 Susanne Ludwig Insolvenz – Alles muss raus .............................................................................253 Die Autorinnen und Autoren............................................................................277
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Inhalt
Editorial
Junge Forschung hat es in Deutschland schwerer als andernorts, so lautet eine gern und oft gestellte Diagnose in pessimistisch gestimmten wissenschaftspolitischen Debatten. Als private und gemeinnützige Stiftung wäre man sicherlich hoffnungslos überfordert, wollte man ernsthaft die Rahmenbedingungen ändern, die solch eine Diagnose zumindest in Teilaspekten plausibel erscheinen lassen. Nicht gleich alles ändern zu können sollte aber keine Ausrede dafür sein, nicht wenigstens einen kleinen Beitrag zur Verwirklichung der besten aller möglichen Nachwuchsforscherwelten zu leisten. Ein Beitrag der Körber-Stiftung ist, so hoffen wir zumindest, seit 1996 der Deutsche Studienpreis. Dieser Wettbewerb für junge Forschung hat in seinen bisher fünf Ausschreibungen mehr als zweieinhalbtausend Teilnehmer dazu motiviert, eigene Forschungsprojekte zu aktuellen und gesellschaftlich relevanten Themen zu verfolgen. Oft genug auch jenseits der üblichen Fächergrenzen, in interdisziplinär zusammengesetzten Teams und immer das Bewertungskriterium der Verständlichkeit im Blick. „Mythos Markt?“ fragten wir mit der Ausschreibung des Deutschen Studienpreises 2005 und luden junge Forschende ein, sich mit der ökonomischen, rechtlichen und sozialen Gestaltung der Arbeitswelt zu beschäftigen. Fünfzehn Beiträge wurden schließlich im Rahmen einer öffentlichen Tagung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit Spitzenpreisen ausgezeichnet. Sie alle dokumentiert der vorliegende Band. Von Hartz IV bis zum Kündigungsschutz, von Trainingsprogrammen für Jungunternehmer oder Kunsthistoriker, bis zu der Frage nach Formen der Arbeitsorganisation im Theater wie im Wald, die Beiträge sind engagiert, kritisch, hellsichtig und scharf. Sie benennen Denkblockaden und Forschungsversäumnisse und kommen dort, wo es möglich und sinnvoll erscheint, zu politischen Bewertungen und pragmatischen Handlungsvorschlägen. Dieser Band zeigt zudem, dass der Studienpreis mehr ist als ein Wettbewerb, der den Gewinnerinnen und Gewinnern ein schönes Preisgeld beschert. Er ist Plattform und Kontaktbörse für wissenschaftliche Zusammenarbeit junger Forscher quer durch alle Disziplinen. Hier versammeln sich Beiträge von Sozialwissenschaftlerinnen und Volkswirten, Pflegewissenschaftlern und Kunsthistorikerinnen, Künstlerinnen und Juristen. Gemeinsam haben sie das Konzept für
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Editorial
diesen Band entwickelt, der nicht nur die Wettbewerbsbeiträge in überarbeiteter Form präsentiert, sondern auch Ergebnis gemeinsamer Diskussionen und fruchtbarer Debatten ist. Und so sehr wir hoffen, den Preisträgerinnen und Preisträgern mit diesem Band eine Plattform im Sinne einer Bühne zu bieten, so sehr wünschen wir uns nun auch, dieser möge für Sie, die Leserinnen und Leser, eine Aussichtsplattform sein, deren Panorama den Aufstieg lohnt.
Matthias Mayer Körber-Stiftung Projektleiter Deutscher Studienpreis
Vorwort
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Vorwort
Anfang Februar 2005 flatterte bei 19 Menschen zwischen 20 und 30 Jahren ein Brief ins Haus. Zu lesen war: „Ihre Mühe hat sich gelohnt! Die Jury des Deutschen Studienpreises zählt Ihren Wettbewerbsbeitrag zu den 15 besten. Dazu gratuliert Ihnen das Studienpreis-Team ganz herzlich.“ Die Autorinnen und Autoren der 15 erfolgreichen Beiträge zum Thema „Mythos Markt? Die ökonomische, rechtliche und soziale Gestaltung der Arbeitswelt“ erhielten mit diesem Brief ihr Ticket nach Berlin, wo sie am 1. Mai im Rahmen einer wissenschaftlichen Tagung in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mit ihren Präsentationen zum Endspurt um den ersten Preis antraten. Schon im Oktober 2004 hatten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Ausschreibung des Deutschen Studienpreises der Körber-Stiftung einen Beitrag eingereicht, bei dem sie sich – aus der jeweiligen Perspektive ihrer „Heimatdisziplinen“ – mit der Gestaltung der Arbeitswelt von morgen, also auch ihrer eigenen, auseinander setzten. Die eingereichten Beiträge sind die Basis dieses Buches. Die Preisträger sind wir. Dass es überhaupt zu einem solchen Sammelband mit den Beiträgen der Preisträger gekommen ist, ist eine Neuheit beim Deutschen Studienpreis. Wir freuen uns, dass wir so auch nach der Preisverleihung weiter gemeinsam an unserem Oberthema „Arbeit“ arbeiten konnten. Eine gewichtige Rolle hat dafür mit Sicherheit das Engagement der Stiftung gespielt, uns gut auf diese Herausforderung vorzubereiten. Dazu zählten zwei Trainingsveranstaltungen, zu denen alle 19 ersten und zweiten Preisträger eingeladen wurden. Ein großer Teil der Gewinner hat an diesen Coachings teilgenommen. Das erste Coaching hatte das Motto „Manege frei! – ein Präsentationsworkshop“ und fand im März 2005 in Hamburg statt. Den eigenen Auftritt bei einer Präsentation inhaltlich, visuell und sprachlich zu gestalten und auf das Publikum abzustimmen, war Thema dieses Wochenendes. Neben der guten Vorbereitung auf die Tagung in Berlin eröffnete dieses Seminar viel Raum zum persönlichen Kennenlernen. Dabei war die Atmosphäre von Anfang an äußerst kooperativ und freundschaftlich. Anfang April konnten wir zudem in einem Schreibworkshop des Schreiblabors der Universität Bielefeld in Dresden unsere Kompetenzen zum Verfassen eines wissenschaftlichen Beitrags erweitern. Wir hoffen, dass uns dies nun auch bei diesem Buch zugute kommt. In jedem Fall haben diese Workshops nicht nur zu einem
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Vorwort
Ausbau unserer Fähigkeiten beigetragen, sondern auch zu einer sehr guten Basis für eine weitere Zusammenarbeit – Sympathie füreinander und Begeisterung für gemeinsame Themen über die Fachgrenzen hinweg. Was erwartet die Leserin und den Leser in diesem Sammelband? Vier Themencluster führen durch das breite und komplexe Feld der ökonomischen, rechtlichen und sozialen Gestaltung der Arbeitswelt. Unser Ziel ist es keineswegs, ein abgestimmtes Gesamtkonzept zur Neustrukturierung des Arbeitsmarkts vorzulegen, den „Stein der Weisen“ haben auch wir nicht gefunden. Aber unsere Beiträge beweisen, dass es sich auch bei alten Problemen immer wieder lohnt, neue Fragen zu stellen oder den Blickwinkel zu verschieben. Wir kommen aus unterschiedlichen Disziplinen und wollten – bei allem Bemühen um Verständlichkeit – Raum für einen fachspezifischen und persönlichen Stil lassen. Die Volkswirtschaft, die Rechtswissenschaften, die Psychologie und Soziologie, die Kunstgeschichte, Geschichte und Kunst, sie alle nähern sich auf jeweils spezifische Art der Frage nach dem „Mythos Markt?“ an. Die 14 Beiträge bieten teils neue und überraschende, immer jedoch wissenschaftlich fundierte Blickweisen auf Einzelaspekte des deutschen Arbeitsmarkts wie beispielsweise Arbeitszeitverkürzung, Hartz IV und Arbeitslosigkeit. Das Zusammenspiel von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf dem Arbeitsmarkt wird von der Arbeits- und Sozialgesetzgebung und den Verbänden strukturiert. Die Kritiker/innen dieser Arbeitsmarktregulierung stützen ihre Kritik meist mehr oder weniger direkt auf ökonomische Theorien. Die Entfesselung der Marktkräfte, zurzeit gehemmt durch die vielfältigen, häufig interessengeleiteten Regeln, sei das Allheilmittel für die aktuellen Arbeitsmarktprobleme. Im Teil Regeln für den Arbeitsmarkt werden einige dieser Rahmenbedingungen kritisch untersucht. Hierbei wird deutlich, dass die Wissenschaft neben dem ökonomischen noch weitere Blickwinkel einer Analyse der aktuellen Arbeitsmarktsituation anbietet. Zwei Beiträge von Pieter de Vos und Heiner Schumacher sowie Heike Opitz befassen sich mit den Chancen flexibler Arbeitszeiten aus ökonomischer und juristischer Perspektive und erklären, wie Flexibilität, Arbeitsplatzsicherheit und Wettbewerbsfähigkeit zusammenhängen. Im anschließenden „Plädoyer“ ruft die Juristin Karen Ullmann den Gesetzgeber dazu auf, empirische Ergebnisse der Arbeitsmarktforschung zur Kenntnis zu nehmen und so die Chance zu erhöhen, dass die durch ein Gesetz antizipierten Wirkungen auch wirklich eintreten. Vor einer erheblichen Änderung des sozialen Schutzes von abhängig Beschäftigten sollte eine fundierte Analyse der aktuellen Situation selbstverständlich sein. Das bestimmende arbeitsmarktpolitische Thema seit 2003 wird im vierten Beitrag dieses Abschnitts von Tim Lohse aus ökonomischer Sicht analysiert: Eröffnen die Reformen von Hartz IV tatsächlich die
Vorwort
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Chance für mehr Arbeitsplätze, und an welche Bedingungen ist dieser Erfolg geknüpft? Wie lässt sich der Eintritt in die Arbeitwelt gestalten? Eine kritische Phase für Jugendliche ist der Übergang von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt, denn Ausbildungsinhalte und Berufsanforderungen passen häufig nicht zusammen. Dass dies nicht so sein muss, zeigen die Beiträge in Teil 2. Wie können beispielsweise bereits Jugendliche für unterschiedliche Berufsperspektiven sensibilisiert werden? Der Beitrag der Psychologin Elke Schröder stellt ein Trainingsprogramm vor, mit dem frühzeitig und spielerisch das Interesse am Unternehmertum geweckt werden soll. Allgemein wird angenommen, dass ein Studium Vorteile auf dem Arbeitsmarkt bringt – doch gilt dies auch bei der Rekordzahl von zwei Millionen Studierenden? Die Autorinnen Christiane Mück und Karen Mühlenbein zeigen, dass Akademiker immer weniger verdienen und für viele Berufe mittlerweile überqualifiziert sind. Wenigstens für die Kunsthistoriker/innen könnte die Lösung in einer praxisnahen Ausbildung liegen, wie sie als Konzept an der Universität Leipzig erprobt wurde. „Das Beweinen des Kunsthistorikers“ ist nach Meinung der Autorinnen Anne-Kathrin Winkler und Jana Lucas zumindest dann nicht nötig, wenn dieser mit Soft Skills und Wirtschaftskenntnissen ausgerüstet ist. Langzeitarbeitslose, Ich-AGs und zunehmende Projektarbeit zeigen an, dass sich der Arbeitsmarkt im Wandel befindet. Der dritte Teil des Buches enthält Analysen einzelner Bereiche der Erwerbsarbeit, die einen Blick in die Arbeitswelt der Zukunft erlauben können. Die Studie der Organisationstheoretikerin Doris Ruth Eikhof untersucht das Theater als Arbeitswelt, in der das befristete Projekt als bestimmende Arbeitsform die dort um der Kunst willen Arbeitenden zur ständigen Sicherung ihrer „employability“ und damit zur „Verbetrieblichung“ ihrer Lebensführung zwingt. Aber auch im Wald, in der Forstwirtschaft, können Einzelunternehmer nur bei höchstem persönlichen Einsatz überleben, wie der Beitrag von Till Westermayer zeigt. Nach dem Wegfall der engen Beziehungen zu Auftraggebern und Kunden sieht sich der einzelne Waldarbeiter heute mit einem globalen Wettbewerb konfrontiert, gegen den er kaum eine Chance hat. Zwei weitere Beiträge fragen nach Möglichkeiten, den (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt zu erleichtern und bestehende Arbeit umzuverteilen. Die Studie der Psychologin Claudia Gerhardt erforscht die Motive von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, auf Teile der eigenen Arbeitszeit und des Einkommens zu verzichten, wenn dadurch Arbeitsplätze geschaffen werden. Es zeigt sich, dass viele Menschen von einem Verzicht absehen, weil sie kein ausreichendes Vertrauen in die Solidarität anderer Akteure haben. Die Sozialpsychologin Susanne Strauß untersucht, ob ehrenamtliches Engagement beim Wiedereintritt von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt helfen kann. Sie plädiert
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Vorwort
für eine differenzierte Betrachtung des freiwilligen Engagements nach der Art der Freiwilligenorganisation, den häufig geschlechtsspezifischen Formen ehrenamtlichen Engagements, den bereits vorhandenen Ressourcen der Ehrenamtlichen sowie nationalen Arbeitsmarktpolitiken. Was passiert, wenn sich Markt und Gesellschaft vermischen, die Bedeutung nationaler Grenzen für Unternehmen abnimmt und die Insolvenz als Abschluss einer Unternehmensgeschichte abzuwickeln ist? Diese Grenzen des Arbeitsmarkts werden im letzten Abschnitt behandelt. In einer älter werdenden Gesellschaft werden Pflegeberufe immer wichtiger, doch viele Arbeitnehmer bewältigen die physischen und psychischen Belastungen in diesen Berufen nicht. Der erste Beitrag von Christian Apfelbacher und Anne Giebel blickt zurück in die Geschichte und wagt eine Prognose für einen Pflegebereich im Spannungsfeld von Professionalisierung und privatem Engagement. Arbeiten im interkulturellen Kontext steht im Zentrum des zweiten Beitrags von Melanie Fuchs. Für das Beispiel Brasiliens wird beschrieben, auf welche Veränderungen sich deutsche Arbeitnehmer/innen einstellen müssen und wie sie darauf vorbereitet werden können. Und was passiert mit der früheren Arbeitswelt, wenn Unternehmen am (Arbeits-)Markt versagen und Insolvenz anmelden müssen? Die Diplomfotografin Susanne Ludwig beschäftigt sich mit den Prozessen im Raum, die sich während der Insolvenz in ihm vollziehen. Fotografisch beschreibt sie verschiedene Phasen vom Abverkauf bis zum Verfall der ehemaligen Produktionsstätten und Geschäftsräume… Dieses Buchprojekt hätte ohne das Engagement und die finanzielle Unterstützung der Körber-Stiftung und des Teams „Deutscher Studienpreis“ nicht realisiert werden können. Insbesondere möchten wir Matthias Mayer für seine aufmunternde Betreuung und Unterstützung bei allen nur denkbaren Fragen danken. Ganz besonderer Dank gilt Heike Gleibs, die sich herzlich um uns bemüht und den Arbeitsprozess immer wieder angestoßen und tatkräftig unterstützt hat. Nicht zuletzt danken wir Lothar Dittmer. Summa summarum: Herzlichen Dank, liebe Körbers! Somit bleibt uns nur noch zu hoffen, dass Ihnen dieses Buch ein wenig (mentale) Arbeit macht, aber vor allem auch für Sie spannende und anregende Themen birgt. Und – frei nach Kant – die Ruhe danach ist umso süßer! Eine angenehme Lektüre wünschen die Preisträger des Deutschen Studienpreises 2005.
Vorwort
Regeln für den Arbeitsmarkt
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Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
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Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht Pieter De Vos und Heiner Schumacher
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Einleitung
Jahrzehntelang ist die reguläre Arbeitszeit für viele Beschäftigte in Deutschland gesunken. Das Jahr 2004 markierte jedoch eine Trendwende. Immer mehr Unternehmen sind in der Lage, höhere Wochenarbeitszeiten auch gegen den massiven Widerstand der Gewerkschaften durchzusetzen. Arbeitgeber und Befürworter von Arbeitszeitverlängerungen erachten diesen Schritt als notwendig, um die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stärken. Gegner befürchten, dass das bestehende Arbeitsvolumen auf weniger Beschäftigte verteilt wird und damit die Arbeitslosigkeit in Deutschland weiter ansteigt. In dieser Arbeit versuchen wir herauszufinden, welche der Parteien Recht behalten könnte. Wir berücksichtigen dabei insbesondere die veränderte Wettbewerbsposition vieler Unternehmen. Diese konkurrieren auf ihrem jeweiligen Gütermarkt immer öfter auch mit ausländischen Anbietern, die den technologischen Produktivitätsnachteil in den letzten Jahren teilweise wettmachen konnten und darüber hinaus Zugriff auf vergleichsweise billige Arbeitskräfte haben. Bei unserer Analyse wollen wir wie folgt vorgehen: Zunächst beschäftigen wir uns kurz mit der bereits vorhandenen theoretischen und empirischen Literatur, die sich mit den Auswirkungen einer Arbeitszeitverkürzung auf die Arbeitsnachfrage insbesondere in Deutschland beschäftigt. Im nächsten Schritt entwerfen wir ein einfaches Wettbewerbsmodell im Sinne Hotellings (1929), in dem die Nachfrage nach Arbeitern endogen durch Produktdifferenzierung, Transport- und Produktionskosten bestimmt wird. Letztgenannte Variable wird dabei durch die Arbeitszeit bei fixen realen Monatslöhnen bestimmt – wir gehen insgesamt von unflexiblen Löhnen aus.1 Mit Transport- und Kommunikationskosten führen wir eine Variable für das Phänomen der Globalisierung ein, deren Parameterwerte für verschiedene Wettbewerbskonstellationen variiert werden. 1
Für die Gründe und Ursachen unflexibler Löhne existiert eine Vielzahl an Publikationen. Es sei an dieser Stelle auf Grossman und Hart (1981), Akerlof und Yellen (1986) und Bewley (1999) verwiesen.
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Pieter De Vos und Heiner Schumacher
Wir erhalten so drei Aussagen darüber, unter welchen Umständen eine Arbeitszeitverlängerung zur Stabilisierung oder Ausweitung der Beschäftigung in einem Unternehmen beitragen kann.
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Theoretische Studien zur Arbeitszeitverkürzung
Aufgrund des bisherigen Trends zu immer kürzeren Arbeitszeiten beschäftigte sich die theoretische Literatur nicht so sehr mit Arbeitszeitverlängerungen, sondern vielmehr mit Arbeitszeitverkürzungen und deren Folgen für die Arbeitsnachfrage. Sie konzentriert sich zumeist auf die Veränderung der marginalen Kosten, die eine solche Maßnahme mit sich bringt. Oft geht man von einer Produktionsfunktion der Form f(T N,K) aus. Dabei bezeichnet K das eingesetzte Kapital. Das Produkt T N besteht aus der Arbeitszeit T und der Beschäftigtenzahl N und unterstellt eine perfekte Substituierbarkeit zwischen T und N.2 Zehn Prozent mehr Arbeiter oder eine um zehn Prozent verlängerte Arbeitszeit erhöhen die Produktion gleichermaßen. Realistischerweise wird weiter angenommen, dass jeder Arbeiter Fixkosten verursacht (Ausbildung, Training, Sozialversicherungsabgaben, Verbrauch am Arbeitsplatz). Insbesondere ist bei dieser Vorgehensweise die Unterscheidung zwischen regulären Stunden und besser bezahlten Überstunden wichtig: Firmen, deren Beschäftigte bereits Überstunden leisten, werden bei einer Verkürzung der regulären Arbeitszeit eher Beschäftigung abbauen und zusätzliche Überstunden von den verbleibenden Arbeitskräften leisten lassen. Reichte die bisherige reguläre Stundenzahl aus, so hängt der Beschäftigungseffekt davon ab, ob nach der Verkürzung Überstunden geleistet werden müssen oder nicht. Werden weder Überstunden noch die Anzahl der Beschäftigten bei einer Arbeitszeitverkürzung gesteigert, verbleibt nur noch die Option, je nach Substitutionsmöglichkeiten mehr Kapital einzusetzen, wobei sich durch reduzierte Maschinenlaufzeiten die Kapitalnutzungskosten erhöhen könnten, soweit keine flexiblen Arbeitszeiten genutzt werden (vgl. Franz 2003, S. 179f.). In jedem Fall bleiben die marginalen Kosten konstant oder steigen (vgl. Calmfors/Hoel 1988). Positive Effekte auf die Beschäftigung könnte eine Arbeitszeitverkürzung haben, wenn diese eine Erhöhung der Produktivität der Arbeiter zur Folge hätte.3
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Für die Befürworter einer Arbeitszeitverkürzung als Mittel zur Reduktion von Arbeitslosigkeit ist dies eine geeignete Produktionsfunktion. In der Realität ist die Substitution zwischen Arbeitern und Stunden viel problematischer (vgl. Hamermesh 1993). Der Sachverständigenrat geht von einem Produktivitätsfortschritt von 1,0 – 1,8% bei einer Verkürzung der Arbeitszeit von 2,5% aus (vgl. Sachverständigenrat 1983, S. 213).
Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
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Es besteht allerdings bei entsprechender Verhandlungsmacht seitens der Arbeitnehmer die Möglichkeit eines Lohnausgleichs, der die Arbeiter für verringerte Einkünfte bei verkürzter Arbeitszeit durch eine Stundenlohnerhöhung wenigstens zum Teil entschädigt. Tritt dieser Fall ein, so erhöhen sich die Produktionskosten unabhängig von den Substitutionsmöglichkeiten. Insgesamt wird bei dieser Diskussion weitgehend von den Auswirkungen auf die Wettbewerbsposition des jeweiligen Unternehmens abstrahiert, die eine Verringerung der Arbeitszeit zur Folge haben könnte. Es wird nicht näher erläutert, in welchem Ausmaß ein betroffenes Unternehmen die Beschäftigung reduziert, wenn sich die Produktionskosten verändern. Ist dieses erhöhtem Preiswettbewerb ausgesetzt, und sind die Gewinnmargen ohnehin niedrig, so könnte selbst eine geringe Kostenerhöhung zu massivem Stellenabbau bzw. zur Einstellung des Geschäftsbetriebes führen. Auf der anderen Seite wird ein Monopolist, der seine Gewinne maximiert, die Produktion bei einer marginalen Kostenerhöhung nur geringfügig senken.
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Empirische Ergebnisse
Besonders in Deutschland haben die Diskussion und die Durchführung von Arbeitszeitverkürzungen eine lange Tradition (vgl. Franz 2003, S. 177ff.). Eine Zusammenfassung der institutionellen Hintergründe findet sich in Steiner und Peters (2000): So wurde die reguläre Arbeitszeit stufenweise reduziert, während flexiblere Arbeitszeitmodelle eingeführt wurden, die jedoch von kleinen Firmen oft nicht genutzt wurden. Entsprechend fiel die absolute Stundenzahl von ungelernten Arbeitern von 41,3 (1974) auf 37,9 Stunden (1998) und bei gelernten Fachkräften von 42,9 auf 38,1 Stunden (vgl. Steiner/Peters 2000, S. 4–9). Insgesamt belief sich im Jahr 2002 die durchschnittlich gearbeitete jährliche Stundenzahl in Deutschland auf 1661,8 Stunden. Der europäische Durchschnitt liegt bei 1710,6. Lediglich in Frankreich, Holland und Dänemark wurde weniger gearbeitet als hierzulande (vgl. CESifo DICE Report 3/2003, S. 67f.). Für die ungelernten Arbeitnehmer war der Beschäftigungsabbau in der Industrie besonders hoch: Für gering qualifizierte Arbeitskräfte stieg die Arbeitslosenquote für den besagten Zeitraum von 6% auf etwa 20% (vgl. IAB-Werkstattbericht Nr. 4/2002). Bei einer Analyse des Sozioökonomischen Panels des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigte sich, dass sich die Reduzierung der regulären Arbeitszeit annähernd eins zu eins auf absolut gearbeitete Stunden auswirkte: Eine Substitution zwischen Arbeitern und Überstunden fand also nicht statt. Allerdings wurde die Entwicklung von einem fast vollständigen Lohnausgleich
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Pieter De Vos und Heiner Schumacher
in vielen Branchen begleitet (vgl. Hunt 1998). Durch die Reduktion der Arbeitszeit bei relativ unflexiblen Löhnen wurden so die Kosten für den Faktor Arbeit massiv in die Höhe getrieben. Bedenkt man allerdings, dass der Anteil der fixen Kosten pro Arbeiter an den gesamten Kosten zwischen 30% und 50% liegt, lässt sich folgern, dass auch dann die Arbeitskosten signifikant steigen würden, wenn der Stundenlohn konstant bliebe (vgl. Freeman 1998, S. 200f.). Arbeitszeitverkürzungen trugen dort zu mehr Beschäftigung bei, wo diese direkt zwischen den Arbeitnehmern und Arbeitgebern eines Betriebes vereinbart wurden. So belegen etliche Studien für andere Länder einen negativen Zusammenhang zwischen regulärer Arbeitszeit und Beschäftigung4 mit Elastizitäten zwischen –0,1 und –1,7, d.h., Arbeitszeitverkürzungen erhöhen tendenziell die Beschäftigtenzahl. Dieser Befund ist jedoch nicht auf Deutschland übertragbar, da hier Arbeitszeit und Lohn für die meisten Unternehmen durch den Flächentarifvertrag geregelt werden.
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Das Modell
Unsere Analyse baut auf dem Hotelling-Modell auf, einem mikroökonomischen Wettbewerbsmodell, das bei einer ganzen Reihe von industrieökonomischen Fragestellungen verwendet wurde. Die Wettbewerbssituation ist in unserem Modell exogen gegeben. Die Löhne sind fix und ebenfalls exogen vorgegeben. Der Stundenlohn hängt also nur von der variablen Arbeitszeit ab. Die für die Firma optimale Beschäftigtenzahl N wird endogen erklärt.
Straße, Anbieter und Konsumenten Die Konsumenten und Produzenten eines Gutes befinden sich entlang einer „Straße“, deren Länge auf 1 normiert sein soll. Es bezeichne die Variable x, wo sich ein Anbieter bzw. Konsument befindet. Am Anfang der Straße ist x = 0, am Ende x = 1. Die Straße kann als internationaler Markt interpretiert werden, wobei der Anfang der Straße den Ort einer Produktionsstätte im Inland und das Ende den einer Fabrik im Ausland darstellt. Zwei Anbieter, A und B, stellen ein vergleichbares Gut her und stehen im Preiswettbewerb zueinander. Anbieter A produziert am Anfang der Straße und setzt den einheitlichen Preis PA, während B am Ende der Straße produziert und PB verlangt. Eine Preisdifferenzierung zwischen verschiedenen Konsumenten ist 4
Eine Zusammenfassung dieser Studien findet sich in Houpis (1993).
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Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
annahmegemäß nicht möglich.5 Die Firma A produziert im Inland, B im Ausland, wobei Unternehmen B auch eine inländische Firma sein könnte, die im Ausland produziert. Die Konsumenten sind auf der Straße mit der Dichte 1 gleich verteilt. Somit ist die Anzahl der Konsumenten auf 1 normiert. Jeder Konsument möchte genau eine Einheit des Gutes kaufen und hat annahmegemäß eine so große maximale Zahlungsbereitschaft Z, dass er sich auch eine Einheit leisten kann. Wenn ein Konsument am Ort X das Gut des inländischen Anbieters A in X = 0 kauft, entstehen ihm die proportional zur Wegstrecke steigenden Transportkosten6 t x, auf die wir später noch genauer eingehen, so dass sein Nettonutzen aus dem Gut in Geldeinheiten z – PA – t x beträgt. Er erhält also seine Wertschätzung für das Gut abzüglich des Preises und der Transportkosten. Durch die räumliche Trennung der Firmen wird der Preiswettbewerb abgeschwächt. Erhöht ein Anbieter seinen Preis, so wird er einige Kunden verlieren, aber diejenigen, die in seiner Nähe sind, werden aufgrund der geringeren Transportkosten dennoch bei ihm kaufen. Der marginale Konsument x ist zwischen den beiden Firmen indifferent7, d.h., sein Nettonutzen ist bei beiden Anbietern gleich:
z − PA − t ⋅ x = z − PB − t ⋅ (1 − x)
(1)
Alle Konsumenten auf der linken Seite des marginalen Konsumenten kaufen bei Anbieter A, da bei gleichem Preis die Transportkosten sinken.
Transportkosten Im Gegensatz zum ursprünglichen Modell setzten sich die Transportkosten in unserem Fall sowohl aus tatsächlichen Kosten des Vertriebs in andere Regionen/Länder, tTransport, als auch aus branchenspezifischen Differenzierungskosten tDifferenzierung zusammen. Spezifizieren wir diese beiden Bestandteile ein wenig genauer:
5 (i) (ii) (iv) 6 7
Mögliche Gründe: Den Firmen ist es technisch nicht möglich zu unterscheiden, woher ein Konsument kommt. Die Unterscheidung ist rechtlich nicht möglich. Die Konsumenten können nach einer Unterscheidung zum Zwischenhändler werden und somit die Differenzierung an sich aushebeln. Im jeweiligen Heimatmarkt stehen die Firmen im Preiswettbewerb mit anderen Firmen. Die Transportkosten können auch einem Transportunternehmen entstehen. Entscheidend ist, dass der Konsument sie letztlich trägt. x kann aufgrund der Normierung also auch als Marktanteil der Firma A gesehen werden.
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Pieter De Vos und Heiner Schumacher
Der erste Teil besteht aus den unmittelbaren Kosten des internationalen Handels: reale Transport- und Kommunikationskosten, Währungs- und politische Risiken, Handelsbarrieren wie Zölle oder Importbeschränkungen. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass diese stetig mit der Entfernung zum Anbieter steigen (was im Falle von Währungsrisiken natürlich wenig Sinn ergibt). Der zweite Bestandteil der Transportkosten – die so genannten Differenzierungskosten8 – entstehen dem Kunden dadurch, dass er ein nicht ganz seinen Präferenzen entsprechendes Gut erwirbt, was bei allen Konsumenten x ∉ {0,1} der Fall ist. Hier bezeichnen sie also den Differenzierungsgrad des Produkts hinsichtlich Bauart oder Qualität: Je weiter entfernt sich der Konsument von einem Anbieter befindet, desto geringer ist seine Präferenz für dessen Gut und desto höher ist sie für das Produkt der Konkurrenz. Je höher dieser Teil der Transportkosten ist, desto weniger Wettbewerb herrscht zwischen den beiden Anbietern. Diese beiden Kostengattungen synthetisieren wir zu einer einzigen abstrakten Größe:
t = tTransport + t Differenzierung
(2)
Was auf den ersten Blick wenig sinnvoll erscheint, lässt sich durch folgendes Beispiel etwas besser verdeutlichen: Eine Firma in den USA benötigt für die Produktion ihrer Güter eine bestimmte Maschine, welche nur von einem japanischen und einem deutschen Hersteller geliefert werden kann. Die realen Transportkosten tTransport würden für das japanische Modell (aus nicht näher spezifizierten Gründen) geringer sein als für das deutsche, allerdings lässt sich das Letztgenannte kostengünstiger in den bereits vorhandenen Produktionsprozess integrieren. Die Entscheidung ist also von der Summe der beiden Kostenarten abhängig. Der Grund für unserer Synthese ist der folgende: Unabhängig von Differenzierungsgrad der beiden Güter bzw. Wettbewerbsintensität der Unternehmen ist es nun möglich, die realen Transport- und Kommunikationskosten bei gleich bleibender Produktdifferenzierung zu variieren und dadurch ein sehr wichtiges Merkmal der Globalisierung zu formalisieren. Im weiteren Verlauf der Analyse werden wir noch ausführlich darauf zurückkommen.
8
Diese werden üblicherweise in der Literatur als Transportkosten bezeichnet.
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Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
Produktions- und Kostenfunktion Weiter unterstellen wir beiden Anbietern die sehr einfache Produktionsfunktion
y = N ⋅T ,
(3)
die – wie bereits erwähnt – perfekte Substituierbarkeit zwischen Arbeitsstunden T und Arbeitern N voraussetzt. Zudem ignorieren wir die Abhängigkeit der Produktion von eingesetztem Kapital und nehmen konstante Skalenerträge an, i.e. bei einer Verdoppelung der Arbeitszeit bzw. der Anzahl der Arbeiter verdoppelt sich auch die Produktion. Insbesondere unterscheiden wir nicht zwischen regulärer Arbeitszeit und Überstunden. Wird Erstere erhöht, steigt auch die absolute Stundenzahl um dieselbe Zeitspanne, was für Deutschland nicht unrealistisch ist, wie wir bei den empirischen Studien feststellen konnten. Gleichzeitig wird jedem Arbeiter ein fixer Lohn gezahlt, d.h., bei Arbeitszeitverkürzungen steigt der Stundenlohn (d.h. vollständiger Lohnausgleich), bei einer Verlängerung der Arbeitszeit sinkt dieser. Zusammen mit weiteren Lohnnebenkosten (Sozialabgaben, Ausbildung) bildet er die Kosten pro eingesetztem Arbeiter l. Grenz- und Durchschnittskosten sind also gleich, es ist
cA =
l . T
Entscheidend für uns ist lediglich, dass eine Arbeitszeitverlängerung die Grenzkosten senkt – was in Übereinstimmung mit der bisherigen theoretischen Literatur zu Arbeitszeitverkürzungen steht. Um uns die Diskussion an einigen Stellen zu erleichtern, führen wir für den ausländischen Anbieter noch einen Technologieparameter θ ein, der die Produktivität im Vergleich zur inländischen Firma beschreibt. Ist dieser kleiner als 1, so produziert der ausländische Anbieter mit unterlegener Produktionstechnologie. Damit ist
cB =
lB 1 ⋅ . TB θ
Im Allgemeinen gilt für die folgende Analyse: Hebt man die Annahme der perfekten Substituierbarkeit auf, und berücksichtigt man auch das Kapital in der Produktionsfunktion, so verändern sich die errechneten Effekte in ihrem Betrag.
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Pieter De Vos und Heiner Schumacher
Ihre Richtung – und auf die kommt es uns an – bleibt jedoch in den meisten Fällen erhalten.
Strategische Interaktion Die folgenden Überlegungen werden hauptsächlich aus der Sicht der inländischen Firma angestellt. Aus Symmetriegründen erfolgen die Berechnungen für den ausländischen Konkurrenten analog. Die Menge, die Anbieter A verkaufen kann, beträgt wegen (1) genau x:
x=
1 PB − PA + 2 2⋅t
(4)
Durch seine Preissetzung kann er seine Menge beeinflussen. Haben beide Unternehmen den gleichen Preis, so gilt x = ½, und der Markt wird gleichmäßig aufgeteilt. Die Profite der beiden Firmen betragen:
ª1 ¬2
π A = ( PA − c A ) x = ( PA − c A ) ⋅ « +
PB − PA º 2 ⋅ t »¼
ª1 ¬2
π B = ( PB − c B ) ⋅ (1 − x) = ( PB − c B ) ⋅ « +
PA − PB º 2 ⋅ t »¼
(5)
(6)
Die strategische Entscheidungsvariable ist der jeweils eigene Preis. Die Bedingungen erster Ordnung des Gewinnmaximierungskalküls ergeben die Reaktionskorrespondenzen:
1 ⋅ [t + PB + c A ] 2 1 PB = ⋅ [t + PA + c B ] 2 PA =
Daraus lässt sich das eindeutige Nash-Gleichgewicht berechnen:
(7) (8)
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Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
2 1 ⋅ c A + ⋅ cB 3 3 2 1 PB* = t + ⋅ c B + ⋅ c A 3 3 PA* = t +
(9) (10)
Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die inländische Firma. Die Menge des Gutes, die sie im Gleichgewicht absetzt, beträgt
x* =
1 cB − c A + . 2 6⋅t
(11)
Der Marktanteil x* muss zwischen 0 und 1 liegen, so dass die abgesetzten Mengen positiv sind. Aus der Gleichung (11) ergibt sich, dass die Bedingung
3 ⋅ t > c A − cB
(12)
erfüllt sein muss. Diese besagt, dass bei gegebenen Transportkosten die jeweiligen Grenzkosten nicht zu unterschiedlich sein dürfen, da sonst der Anbieter mit den höheren Produktionskosten aus dem Markt gedrängt wird. Die maximale Differenz der Grenzkosten für den Verbleib beider Anbieter im Markt sinkt mit fallenden Transportkosten. Je härter also der Wettbewerb ist, desto ähnlicher müssen sich die Anbieter in ihrer Kostenstruktur sein. Für den extremen Fall des Bertrand-Wettbewerbs (t = 0) dürfen sie sich nicht mehr unterscheiden.
Preiselastizität Aus den Transportkosten lässt sich die Preiselastizität der Nachfrage η berechnen, die angibt, um wie viel Prozent die Nachfrage nach dem Gut sinkt, wenn der Preis um 1% angehoben wird. Steigen die Transportkosten, so sinkt die Preiselastizität und umgekehrt. Im Prinzip sind beide Variablen ein Maß für die Wettbewerbsintensität, die Preiselastizität lässt sich ökonomisch jedoch besser interpretieren. Wegen (2), (5) und (9) gilt im Gleichgewicht:
η* = −
PA ∂x ⋅ x* ∂PA
x = x*
=
3t + 2c A + cB >1 3t − c A + cB
(13)
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Dass η * > 1 gilt, steht mit dem bekannten Ergebnis in Einklang, dass eine Firma mit Marktmacht immer im elastischen Bereich der Nachfrage produziert, also genau dort, wo η größer 1 ist. Im Folgenden werden wir zeigen, dass η bestimmt, ob eine Arbeitszeitverlängerung positive Effekte auf die Beschäftigung hat.
Auswirkung einer Arbeitszeitverlängerung auf die Beschäftigung Nun haben wir alle Bestandteile des Modells beisammen und können uns auf unser eigentliches Problem konzentrieren. Wie verändert sich das optimale Beschäftigungsniveau N* der inländischen Firma A, wenn man ceteris paribus die Arbeitszeit geringfügig erhöht? Eine Erhöhung von T senkt die Grenzkosten, was eine Mengenausweitung zur Folge hat. Die Firma fragt mehr Arbeit nach. Ob auch mehr Leute eingestellt werden, ist jedoch fraglich, da eine gewisse Mengenausweitung bereits stattgefunden hat – die bereits vorhandenen Arbeitskräfte arbeiten schließlich länger. Innerhalb unseres Modellrahmens gelangen wir zu Ergebnis 1. Durch eine marginale Ausweitung der Arbeitszeit T erhöht sich die Nachfrage nach Arbeitnehmern genau dann, wenn η > 4 . Für η < 4 sinkt sie. Der absolute Effekt auf die Beschäftigung steigt mit sinkenden Grenzkosten c B des ausländischen Anbieters und mit steigender Preiselastizität der Nachfrage.
4.1 Beweis Die optimale Beschäftigtenzahl N* hängt von der Nachfrage y* ab, wobei y* = x* gilt. Die Firma stellt nur so viel her, wie sie auch absetzt. x* hängt von den Grenzkosten CA ab. Mit den Grenzkosten
cA =
l ergibt sich: T
x * 3t + c B 1 l 1 = ⋅ − ⋅ 2 N = T 6t T 6t T *
Der marginale Effekt auf die Beschäftigtenzahl ist
(14)
25
Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
3t + c B 1 l 1 ∂N * =− ⋅ 2 + ⋅ 3 ∂T 6t 3t T T
(15)
l 1 > ⋅ [3t + c B ] . Wegen (13) gilt: T 2 ∂N * η+2 3t = ⋅ c A − c B , woraus folgt: > 0 ⇔ η > 4 ∨ η < 1. ∂T η −1
und genau dann positiv, wenn
Da Elastizitätswerte unter 1 keinen ökonomischen Sinn ergeben, muss für einen positiven Effekt auf das Beschäftigungsniveau η > 4 sein. Formt man Gleichung (15) um, so erhält man folgenden Ausdruck für den marginalen Effekt:
∂N * 1 § 2 ⋅ c A − cB 1 · = 2 ⋅¨ − ¸ ∂T 6t 2¹ T ©
(16)
Aus dieser Gleichung erkennt man leicht:
§ ∂N ∗ · ¸¸ ∂¨¨ © ∂T ¹ < 0 und ∂c B
§ ∂N ∗ · ¸¸ ∂¨¨ © ∂T ¹ < 0 ∂t
q.e.d.
Das ist ein sehr intuitives Ergebnis: Nur auf Märkten mit ausreichend hoher Wettbewerbsintensität ist der Beschäftigungseffekt positiv. Ein Monopolist, dessen Produkte gut differenziert – also schlecht zu substituieren – sind, wird bei einer Arbeitszeiterhöhung keinen Anreiz haben, den Preis weiter zu senken: Er würde zwar einige Konsumenten gewinnen, der Gewinn bei den bisherigen Kunden wäre aber geringer und der Gesamteffekt somit negativ. Um die bisherige Produktion konstant zu halten, würde er sogar Beschäftigung abbauen – die Arbeitszeitverlängerung würde allein seinen Gewinn erhöhen. Anders sieht es da auf Märkten mit relativ homogenen Gütern aus, auf denen der Preis eine große Rolle spielt. Über die Mehrproduktion hinaus können sie durch die geringeren Grenzkosten ihren Marktanteil gewinnbringend steigern. Interessant ist auch die negative Abhängigkeit des Gesamteffektes von den Grenzkosten der ausländischen Konkurrenz. Ist deren Produktivität bei niedrigen Lohnkosten auf vergleichsweise hohem Niveau, so ist eine Arbeitszeitver-
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Pieter De Vos und Heiner Schumacher
längerung ein probates Mittel, um die Beschäftigung zu erhöhen – vorausgesetzt, die Preiselastizität der Nachfrage ist groß genug.
Auswirkungen der Globalisierung auf die Beschäftigung Kommen wir noch einmal zurück auf die Transportkosten t . Wir hatten diese als eine synthetische Variable aus wirklichen Transport- bzw. Kommunikationskosten und der branchenspezifischen Wettbewerbsintensität definiert. Über den zweiten Bestandteil können wir keine Aussage machen – dieser ist abhängig von der Art der produzierten Güter. Den ersten hingegen fassen wir als eine Variable auf, die ein Merkmal der Globalisierung beschreibt. Diese definieren wir als Zunahme des transnationalen Handels in immer mehr Investitions- und Konsumgütermärkten (Fieten/Friedrich/Lageman 1997). Auslöser dieser Entwicklung war und ist vor allem die stetige Senkung von Transport- und Kommunikationskosten, die den internationalen Warenaustausch für immer mehr Firmen rentabel werden lässt. Wo ehemals der Wettbewerb zwischen zwei weit entfernten Produzenten eines homogenen Gutes gering bzw. nicht vorhanden und daher der Preisfestsetzungsspielraum für beide Anbieter groß war, so hat sich das heutzutage in etlichen Branchen geändert: Der Wettbewerbsvorteil des lokalen Anbieters durch geringere Lieferkosten fällt mit eben diesen und lässt langfristige Gewinne nur aufgrund geringerer Produktionskosten oder ausreichender Produktdifferenzierung zu. Innerhalb unseres Modells bedeutet dies, dass sich die Transportkostenvariable t an tDifferenzierung annähert und somit die Preiselastizität der Nachfrage für alle Branchen zunimmt. Damit ist der Beschäftigungseffekt einer Arbeitszeitverlängerung bei immer mehr Unternehmen positiv. Für Unternehmen mit im Vergleich zu ausländischen Anbietern höheren Produktionskosten führt dieser Trend allerdings dazu, dass diese aus dem Wettbewerb gedrängt werden – siehe Gleichung (12) – oder ihre Güter weiter differenzieren. Den reinen Beschäftigungseffekt der Globalisierung erhalten wir durch die Ableitung von Gleichung (14):
∂N ∗ c A − c B = ∂t 6t 2T
< 0 ® ¯> 0
falls c B > c A , falls c B < c A
(17)
den wir festhalten wollen unter: Ergebnis 2 Bei einer marginalen Senkung der Transportkosten wird der Hersteller mit den geringeren Grenzkosten unabhängig von der absoluten Preis-
Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
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elastizität der Nachfrage Beschäftigung aufbauen, während der Anbieter mit den höheren Grenzkosten Arbeiter entlassen wird. Auch dieses Ergebnis ist einleuchtend. Bei sinkenden Transportkosten sinkt der Absatzvorteil durch räumliche Nähe zum Kunden, der sich für das billigere Gut entscheidet. Der Anbieter mit hohen Grenzkosten wird dabei Marktanteile verlieren und muss seine Produktion verringern. Das impliziert, dass in Branchen, deren ausländische Konkurrenz geringe Arbeitskosten aufweist und die diesen Nachteil nicht durch eine erhöhte Produktivität kompensieren können, über die Zeit dieses Prozesses hinweg Arbeitskräfte entlassen werden. Formal heißt das, dass
cB =
lB 1 l ⋅ < = cA TB θ T
gilt.9 Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich sind also äußerst schädlich in einer Phase, in der lokale Wettbewerbsvorteile verschwinden. Insbesondere gilt dieses Ergebnis auch für Märkte, die sich durch einen relativ hohen Grad der Produktdifferenzierung auszeichnen: Zwar würde in diesen Branchen gemäß dem ersten Ergebnis eine Arbeitszeitverlängerung zu einem geringeren Beschäftigungsniveau führen. Wenn allerdings nach dieser Maßnahme die Grenzkosten geringer wären als die der Konkurrenz, so könnte die Nachfrage nach Arbeitern im Zeitablauf wieder steigen. Wenn man bedenkt, dass sich das Phänomen der Globalisierung in vielen Märkten noch im Anfangsstadium befindet, so kann man davon ausgehen, dass die Bedeutung der Maßnahme einer Arbeitszeitverlängerung zur Erhaltung von Arbeitsplätzen zunehmen wird. Dies gilt insbesondere für Branchen, in denen sich die Produktivität der ausländischen Anbieter dem inländischen Standard schnell anpasst.
Auswirkung der Globalisierung auf Unternehmensgewinne In einem letzten Schritt wollen wir die Entwicklung der Unternehmensgewinne näher analysieren. Diese sind in einer marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft von enormer Bedeutung: Sie stellen für die meisten Gesellschaften 9
Interessanteweise wurde dieser Aspekt von Paul A. Samuelson in einem Interview mit dem Handelsblatt (20.09.2004) angesprochen: So verschiebe die Verbreitung von Wissen und Bildung in Ländern mit deutlich niedrigeren Löhnen das Gleichgewicht auf dem inländischen Arbeitsmarkt, was „vergleichbar [ist] mit einer massenhaften Einwanderung billiger Arbeitskräfte nach Amerika.“
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nicht nur eine Entschädigung des Geschäftsführers für dessen persönlichen Einsatz dar, sondern bieten den Anteilseignern, Fremdkapitalgebern und potenziellen Investoren auch einen Anreiz, das investierte Kapital im Unternehmen zu belassen bzw. weiter zu investieren. Wo in absehbarer Zeit keine Überschüsse über die anfallenden Kosten und Risikoprämien erwirtschaftet werden, wird Kapital abgezogen, um andere Unternehmungen zu finanzieren, die einen höheren Profit erwarten lassen. In der ökonomischen Theorie ist es ein allgemein bekanntes Resultat, dass bei zunehmendem Wettbewerb die Profite der Produzenten sinken. Dies bestätigt sich auch in unserem Modell: Setzt man (9) und (10) in Gleichung (5) ein, erhält man 2
1§ 1 1 · π A = ¨ t − c A + cB ¸ ≥ 0 . 2t © 3 3 ¹
(18)
Leitet man dies nach der Transportkostenvariablen ab, so resultiert daraus ein eindeutig positiver Effekt auf den Gewinn (bzw. ein negativer, wenn man die Elastizität betrachtet):
∂π A 1 § 1 1 · 1 = ¨ t − c A + cB ¸ − 2 ∂t t© 3 3 ¹ 2t
2
1 · § 1 ¨ t − c A + cB ¸ > 0 3 ¹ © 3
(19)
So weit ergibt sich noch nichts Neues. Betrachten wir nun das Verhältnis r der Unternehmensgewinne des in- und ausländischen Anbieters. Dieses ist
r=
πA πB
1 · § 1 ¨ t − c A + cB ¸ 3 3 ¸ =¨ 1 ¸ ¨ 1 ¨ t − cB + c A ¸ 3 3 ¹ ©
2
(20)
und abgeleitet nach den Transportkosten
4(c A − c B ) ∂r = r⋅ 2 ∂t 1 · § 1 3¨ t − c B + c A ¸ 3 ¹ © 3
< 0 ® ¯> 0
falls c B > c A falls c B < c A
,
(21)
Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
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was der Gleichung (17) sehr ähnlich ist. Fassen wir dies zusammen unter Ergebnis 3 Durch eine Verschärfung des Wettbewerbes verringert sich der Gewinn des Anbieters mit den höheren Grenzkosten überproportional zu den Erträgen seines Konkurrenten. Wiederum gilt dieses Ergebnis unabhängig von der absoluten Preiselastizität, allerdings sind die Auswirkungen fallender Transportkosten auf das Gewinnverhältnis umso größer, je geringer diese ohnehin schon sind. Das bedeutet, dass Branchen mit wenig Produktdifferenzierung stärker davon betroffen sind. Besonders groß wird der Effekt, wenn der Kostenunterschied groß im Vergleich zu den Transportkosten ist, wobei Bedingung (12) immer noch erfüllt sein muss. Der Ausdruck in der Klammer des Nenners von (21) ist dann nämlich relativ zum Zähler sehr klein. Warum ist das Verhältnis der Gewinne so wichtig? Um dies zu beantworten, müssen wir auf die Investitionsseite des Unternehmens blicken, die wir bisher vernachlässigt haben. Zwar spielte das Kapital keine Rolle in unserem Modell, trotzdem können wir davon ausgehen, dass dieses investiert werden muss, um das Geschäft betreiben zu können. Sind nun die Gewinne im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz gering, werden die Investoren bald ihr Kapital aus dem Unternehmen abziehen oder die Produktion ins Ausland verlagern – ein Trend, der sich in den letzten Jahren immer weiter verstärkt hat. Wie im vorigen Abschnitt würde eine Arbeitszeitverlängerung in bestimmten Fällen dazu beitragen, den Bestand an Arbeitsplätzen zu erhalten, wenn dadurch die Grenzkosten in ausreichendem Maße gesenkt werden.
5
Zusammenfassung der Modellergebnisse: Wie kam der Beschäftigungsabbau in Deutschland zustande?
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass es für den Verlust von Arbeitsplätzen bei einer Verkürzung der regulären Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich drei unterschiedliche Gründe geben kann, die unmittelbar aus dem Wettbewerb auf dem Gütermarkt resultieren: In sehr wettbewerbsintensiven Branchen mit geringer Produktdifferenzierung und niedrigen realen Transportkosten verliert der inländische Anbieter einen so großen Marktanteil, dass selbst die Minderarbeit den erforderlichen Produktionsrückgang nicht vollständig abdeckt und deshalb das Unternehmen Beschäftigung abbauen muss.
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Pieter De Vos und Heiner Schumacher
Weiter schwindet bei zunehmender Senkung der realen Transportkosten der Wettbewerbsvorteil durch räumliche Nähe zum Kunden. Die Absatzchancen des Anbieters mit den höheren Kosten sinken, was einen negativen Beschäftigungseffekt auslöst. Insbesondere in Branchen, in denen die ausländische Konkurrenz den technologischen Produktivitätsrückstand auf den inländischen Anbieter ausreichend verringern konnte, kommt dieser Effekt zustande. Doch selbst wenn das Unternehmen noch wirtschaftlich arbeitet und Gewinne erzielt, jedoch die ausländische Konkurrenz deutlich höhere Profite erwirtschaftet, werden die Investoren den Betrieb schließen oder die Produktion in das Ausland verlagern. Dieser Trend verstärkt sich, wenn die realen Transportkosten sinken. In allen Fällen würde eine Arbeitszeitverlängerung dazu beitragen, den Effekt abzuschwächen bzw. sogar umzukehren. Vor allem das letzte Argument würde eine Begründung liefern, diese Maßnahme in bestimmten Fällen auch dann anzuwenden, wenn kurzfristig Arbeitsplätze verloren gehen würden. Wenn absehbar ist, dass sich der Wettbewerb innerhalb einer Branche verschärfen wird, wäre dies ein möglicher Weg, zu dauerhaft konstanter Beschäftigung beizutragen. Hinsichtlich der Diskussion um eine Arbeitszeitverlängerung können wir Folgendes festhalten: Das Argument der Kritiker, durch eine solche Maßnahme würde das bestehende Arbeitsvolumen auf weniger Schultern verteilt und die Arbeitslosigkeit erhöht werden, ist oftmals nicht angemessen – insbesondere, wenn man in die Kalkulation einbezieht, dass der Wettbewerb auf immer mehr Märkten eher härter wird und somit das Arbeitsvolumen immer elastischer hinsichtlich der Kostenstruktur der Unternehmen reagieren wird. Der Argumentation der Befürworter, eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit inländischer Unternehmen würde durch eine Arbeitszeitverlängerung zu mehr Beschäftigung führen, können wir unter Vorbehalt zustimmen. Einschränkend muss man aber anmerken, dass zunächst einmal die Gewinne der bereits bestehenden Unternehmen steigen und neue Arbeitsplätze – analog zu Ergebnis 1 – nur in ausreichend wettbewerbsintensiven Branchen entstehen würden. Aufgrund der aufgezeigten Tendenzen, dass erstens besagte Intensität zunimmt und zweitens die Produktivität der ausländischen Konkurrenz sich der inländischen eher anpasst, wird ein solcher Schritt in Zukunft für viele Betriebe immer notwendiger, um Beschäftigung zumindest zu sichern.
Zu den Folgen einer Arbeitszeitverlängerung aus wettbewerbstheoretischer Sicht
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Politikimplikationen
Aus der vorangegangenen Analyse wurde deutlich, dass sich der Effekt einer Arbeitszeitverlängerung bzw. -verkürzung auf die Anzahl der Beschäftigten zwischen einzelnen Unternehmen und Branchen stark unterscheiden kann. Innerhalb unseres Modellrahmens war dieser abhängig von realen Transport- und Kommunikationskosten, Produktdifferenzierung und den Grenzkosten des ausländischen Anbieters bzw. dessen Produktivität im Vergleich zum inländischen Unternehmen. Wir halten daher folgende Folgerungen für sinnvoll:
Dezentrale Verhandlungen über Lohn und Arbeitszeit In wettbewerbsintensiven Branchen, die auf dem Weltmarkt agieren und mit ausländischen Firmen konkurrieren, kann eine Arbeitszeitverlängerung zu mehr Beschäftigung führen. Die betroffenen Firmen sollten daher eigene Tarifverhandlungen führen dürfen und nicht in das Korsett eines Flächentarifvertrags gezwungen werden. Aus unserem Modell abzuleiten, dass Tarifverhandlungen auf Betriebsebene grundsätzlich zu befürworten sind, wäre jedoch voreilig. Einerseits müssen den Arbeitnehmern bei der Aushandlung des Firmentarifvertrages viele, z.T. empfindliche Informationen über wirtschaftliche Kennzahlen des Unternehmens vorliegen (vgl. Franz 2003, S. 249), wobei sich die Frage stellt, ob diese durch die zuständigen Entscheidungsträger überhaupt wahrheitsgemäß zur Verfügung gestellt werden. Andererseits wurde durchaus schon festgestellt, dass Tarifverhandlungen auf betrieblicher Ebene einen eher negativen Effekt auf die Beschäftigung in dem entsprechenden Sektor haben können (vgl. Bell/Freeman 1987) – möglicherweise, weil bei positiver Geschäftsentwicklung Lohnerhöhungen schneller durchgesetzt werden, als dies bei einem Flächentarifvertrag der Fall wäre. Zu befürworten wären deshalb vergleichsweise kleine, regional organisierte Gewerkschaften, welche die Belegschaft mehrerer homogener Firmen eines Sektors mit ähnlicher Kosten- und Vertriebsstruktur vertreten. Da für diese der Wettbewerb gleich ist, könnten besagte Gewerkschaften direkt auf dessen Erfordernisse eingehen. Wäre der Verlust von Arbeitsplätzen die antizipierte Folge einer Arbeitszeitverlängerung bei hohen Gewinnen des Unternehmers relativ zur Konkurrenz, so dürfte die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmervertretung in diesem Fall entsprechend hoch liegen, um diese Maßnahme zu verhindern.
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Arbeitszeitverlängerung als primäre Maßnahme zur Senkung der Produktionskosten Prinzipiell könnte man die Produktionskosten auch durch Lohnsenkungen verringern, in unserem Modell würde das zu denselben Ergebnissen führen. In der Einleitung hatten wir auf die relevante Literatur verwiesen, welche die Unflexibilität von Löhnen behandelt und mögliche Erklärungen bietet, warum diese Maßnahme nicht in die Praxis umgesetzt wird. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, warum man eher auf eine Arbeitszeitverlängerung zurückgreifen sollte, um Beschäftigung zu sichern: Man kann nämlich davon ausgehen, dass die meisten Beschäftigten eine Arbeitszeitverlängerung einer Lohnkürzung vorziehen würden. Mehrere empirische Studien zu den Wohlfahrtseffekten einer Arbeitszeitverkürzung kommen zu folgendem Ergebnis: Wenn die Wahl bestünde zwischen einem höheren Gehalt bei gleicher Stundenzahl und einer geringeren Arbeitszeit bei gleich bleibender Bezahlung, so würde die Mehrheit erstere Option bevorzugen. Im Falle Deutschlands stimmten 1985 56% für diese Option (vgl. Hinrichs/Roche/Sirianni 1991). Die Vermutung liegt Nahe, dass es bei den aktuellen Arbeitszeiten zu impliziter Unterbeschäftigung kommt, d.h. zu einer Differenz zwischen der Zeit, die ein Arbeitnehmer im sozialen Optimum zu arbeiten bereit wäre, und seiner tatsächlichen Arbeitszeit. Insofern wären Arbeitszeitverlängerungen in den meisten Fällen viel einfacher durchsetzbar, als es Lohnminderungen sein könnten.
Literatur Akerlof, George A./Yellen, Janet L. (Hrsg.) (1986): Efficiency Wage Models of the Labor Market. Cambridge. Cambridge University Press. Bell, L.A./Freeman, R. B. (1987): Flexible Wage Structures and Employment. Gunderson, M./Meltz, N./Ostry, S. (Hrsg.): Unemployment. International Perspectives. Toronto. University of Toronto Press. S. 119–128. Bewley, Truman F. (1999): Why Wages Don’t Fall During a Recession. Cambridge. Harvard University Press. Calmfors, L./Hoel, M. (1988): Worksharing and overtime. Scandinavian Journal of Economics 90, S. 45–62. Calmfors, L./Hoel, M. (1989): Work Sharing, Employment and Shiftwork. Oxford Economic Papers 41 (4), Seiten 758–773. Fallon, Peter/Verry, Donald (1988): The Economics of Labour Markets. Oxford. Alden Press. Fieten, R./Friedrich, W./Lageman, B. (1997): Globalisierung der Märkte. Stuttgart. Verlag Schäffer-Poeschel.
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Franz, Wolfgang (2003): Arbeitsmarktökonomik. 5. Auflage. Berlin/Heidelberg. Springer-Verlag. Freeman, Richard B. (1998): Work-Sharing to Full Employment: Serious Option or Populist Fallacy? Freeman, Richard B./Gottschalk, Peter (Hrsg.): Generating Jobs: How to Increase Demand for Less-Skilled Workers. New York. Russell Sage Foundation. Grossman, S./Hart, O. (1981): Implicit contracts, moral hazard, and unemployment. American Economic Review 71, S. 301–308. Hamermesh, D. (1993): Labor Demand. New Jersey. Princeton University Press. Handelsblatt Nr. 182/20.09.2004: Wir sollten das Tempo der Globalisierung drosseln, S. 4. Hinrichs, K./Roche, W./Sirianni, C. (1991): Working Time in Transition. Philadelphia. Temple University Press. Hotelling, H. (1929): Stability in Competition. Economic Journal 39, S. 41–57. Houpis, George (1993): The Effects of Lower Hours of Work on Wages and Employment. Discussion Paper 131 (März). London School of Economics Centre for Economic Performance. London. Hunt, J./Katz, L. F. (1998): Hours Reductions as Work Sharing. Brookings Papers on Economic Activity,Vol. 1, S. 339–381. Ifo Institut für Wirtschaftsforschung (2003): Working Time Differences. CESifo DICE Report Vol. 1 (3), S. 67–68. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (2002): Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten – reale Entwicklung oder statistisches Artefakt? IAB Werkstattbericht 4/2002. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (1983): Jahresgutachten 1983/84: Ein Schritt voran. Stuttgart. Kohlhammer. Steiner, V./Peters, R.-H. (2000): Employment Effects of Work Sharing – An econometric analysis for West Germany. ZEW Discussion Paper 00-20.
Teilzeit- und Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht
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Hauptsache Teilzeitarbeit Gestaltung und Behandlung der Teilzeit- und Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht Teilzeit- und Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht
Heike Opitz
1
Einleitung
Nach fast vierjähriger Geltung des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (im Folgenden: TzBfG) ist in Deutschland immer noch ein Kampf um die Regelungen zur Teilzeitarbeit zu beobachten. So kam es im September 2004 auf dem 65. Deutschen Juristentag zu einem Eklat während der arbeitsrechtlichen Beratungen. Die Arbeitnehmervertreter warfen den Arbeitgebervertretern vor, gezielt eine Mehrheit für ihre Anträge organisiert zu haben. In der Folge verließen die Gewerkschaftsvertreter die Versammlung, und die noch anwesenden Juristen beschlossen u.a., die Rechtsansprüche auf Teilzeitarbeit im TzBfG und während der Elternzeit abzuschaffen. Pikant ist daran, dass ein Thema der Tagung die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf war (FAZ vom 24.9.2004, S. 6). Grund des Streits ist das vor knapp vier Jahren beschlossene Gesetz. Nach dem Vorbild der Niederlande, die das Wet aanpassing arbeidsduur (Gesetz zur Anpassung der Arbeitszeit, im Folgenden: Waa) im Juli 2000 einführten, wurden auch in Deutschland im Januar 2001 für Arbeitnehmer allgemeine Ansprüche auf Anpassung der Arbeitszeit geschaffen. Dies geschah in beiden Ländern im Rahmen der Umsetzung der EG-Richtlinie RL 97/81/EG. Geregelt sind die Ansprüche in Art. 2 Waa und §§ 8, 9 TzBfG. Damit kann ein Arbeitnehmer sowohl seine vertraglich vereinbarte Arbeitszeit verringern als auch verlängern. Der Arbeitgeber hat unter bestimmten Umständen die Möglichkeit, den Antrag eines Arbeitnehmers abzulehnen. Ziel in den Niederlanden war insbesondere, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern. In Deutschland war neben denselben Zielen die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ein wichtiges Ziel des Gesetzes.
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Heike Opitz
Aber in den Niederlanden lässt sich kein vergleichbarer Streit wie in Deutschland feststellen. Warum ist gerade in Deutschland das TzBfG so umstritten?
2
Gesellschaftliche und rechtliche Rahmenbedingungen
In den Niederlanden und in Deutschland entwickelte sich die Diskussion über die Anpassung der Arbeitszeit zunächst unter dem Aspekt der Teilzeitarbeit. So wurden in beiden Ländern für Teilzeitarbeitnehmer auf Grundlage von europäischen Richtlinien zunächst Antidiskriminierungsmaßnahmen geschaffen. In den Niederlanden wurde Teilzeitarbeit seit Beginn der 80er Jahre gefördert, zunächst nur mit dem Ziel, die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Sie führte auch zu einer wachsenden Partizipation von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und wird heute vor allem unter dem Aspekt der Vereinbarkeit von Beruf und Familie diskutiert. Ein wichtiger Punkt war hierbei, dass in der Stichting van de Arbeid (Bündnis für Arbeit) Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertreter über diese Fragen diskutierten (Burri 2000, S. 67f.). In Deutschland wurde erst seit den 90er Jahren die systematische Förderung von Teilzeitarbeit in der Privatwirtschaft diskutiert (Fagan/O’Reilly/Rubery 1999, S. 58). Die Übertragung des konsensorientierten niederländischen Bündnisses für Arbeit ist in Deutschland an der fehlenden Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten gescheitert (Schmid 1997, S. 303, 325). Die Niederlande haben europaweit die höchste Teilzeitquote von 42% aller Beschäftigten. Bei Arbeitnehmerinnen kann sie als Standardarbeitszeitmodell bezeichnet werden, 71% der Frauen arbeiten Teilzeit. Aber auch der Anteil der männlichen Arbeitnehmer liegt mit 20% deutlich über dem Anteil der anderen europäischen Länder (Europäische Kommission 2002, S. 183). In Deutschland arbeiten nur 20% der Beschäftigten Teilzeit. Der Anteil ist auch hier bei den Frauen mit 39% deutlich höher als der Anteil von 5% bei den Männern (Europäische Kommission 2002, S. 176). Teilzeitarbeit ist also in beiden Ländern ein Frauenphänomen. Die Arbeitslosenquote in Deutschland liegt bei 9,4%, in den Niederlanden beträgt die Arbeitslosenrate 4,2% (Eurostat 2003, S. 3). Die geschlechtsspezifische Entwicklung von Teilzeitarbeit ist in beiden Ländern ähnlich verlaufen. Insbesondere Frauen arbeiten in den Niederlanden und in Westdeutschland Teilzeit. Dies hängt mit der geschlechtsspezifischen Aufgabenverteilung in beiden Ländern zusammen. So sind Frauen vorrangig für die Erziehung und Betreuung von Kindern zuständig, und vielfach wird die Betreuung der Kinder durch die Familie für das beste Konzept gehalten (PfauEffinger 1998, S. 177, 184f.). Ausreichende Betreuungsmöglichkeiten außerhalb
Teilzeit- und Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht
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der Familie fehlen in beiden Ländern. In Deutschland erschwert des Weiteren die fehlende Ganztagsschule die Partizipation von Frauen am Arbeitsmarkt (Burri/Opitz/Veldman 2003, S. 321, 324). Beide Länder haben Möglichkeiten für eine Freistellung von der Erwerbstätigkeit nach der Geburt und in den ersten Lebensjahren eines Kindes geschaffen. Die rechtlichen Regelungen sind der Elternurlaub in den Niederlanden und die Elternzeit in Deutschland. In den Niederlanden, wo die Möglichkeit eines Elternurlaubs erst später als in Deutschland eingeführt wurde, ist die zeitliche Dauer deutlich kürzer als in Deutschland. Sie beträgt 13 Wochen, kann allerdings als Teilzeit-Elternurlaub genommen und entsprechend ausgeweitet werden (Art. 6:1-6:9 Wet arbeid en zorg). Die Teilzeitwünsche kann der Arbeitgeber dabei nicht ablehnen. In Deutschland besteht hingegen ein Freistellungsanspruch bis zu drei Jahren. Daneben hat der Arbeitnehmer einen Anspruch, in der Elternzeit Teilzeit bei seinem Arbeitgeber zu arbeiten. Allerdings kann der Arbeitgeber die Teilzeit in der Elternzeit aus dringenden betrieblichen Gründen ablehnen.
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Historische Entwicklung der Rechtsansprüche
In den Niederlanden wird seit über zehn Jahren in der rechtswissenschaftlichen Literatur und im Parlament diskutiert, ob ein Recht auf Teilzeitarbeit eingeführt werden soll (Burri 2000, S. 589ff.). Auch vor der Schaffung des Waa wurde in den Niederlanden insbesondere von Arbeitnehmern versucht, durch gerichtliche Klagen eine Verringerung der vertraglich festgelegten Arbeitszeit zu erreichen. Dies wurde auf dem Weg einer Teilkündigung oder nach dem Grundsatz der guten Arbeitgeberschaft beansprucht (Opitz 2004, S. 59). Ein Recht auf Teilzeitarbeit wurde wegen einer fehlenden ausdrücklichen rechtlichen Regelung von den meisten Gerichten abgelehnt (Van Beek/van Doorne-Huiskes/Veldman 2002, S. 43ff.). Das Waa setzte somit eine Forderung aus einer langjährigen Diskussion um. Die Situation in Deutschland unterscheidet sich hiervon. Das TzBfG beruht auf keiner langjährigen Diskussion in der Rechtswissenschaft und Politik, sondern wurde innerhalb eines halben Jahres im Rahmen der Umsetzung der EG-Richtlinien RL 97/81/EG und RL 99/70/EG eingeführt. Dabei nahm sich der deutsche Gesetzgeber das Waa als Vorbild. Der Widerstand gegen das Gesetz war insbesondere bei den Arbeitgebervertretern sehr groß. So wurde der Teilzeitanspruch wegen der Einschränkung der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber teilweise als verfassungswidrig angesehen. Die Wirkungen des TzBfG wurden als Beschäftigungshindernis und als Gefährdung für den Standort Deutschland betrachtet (Stellungnahme der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeber-
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Heike Opitz
verbände (BDA), BT-Ds. 14/4625, S. 17). Die Gewerkschaften begrüßten hingegen das Gesetz (Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), BT-Ds. 14/4625, S. 17). Eine vergleichbare Diskussion um den in § 9 TzBfG normierten Rechtsanspruch auf Verlängerung der Arbeitszeit und die Verteilung der Arbeitsstunden fand nicht statt.
4
Der Inhalt der Rechtsansprüche
Die Voraussetzungen des Rechtsanspruchs auf Anpassung der Arbeitszeit ist in den Niederlanden in Art. 2 Waa und in Deutschland in § 8 TzBfG normiert. In beiden Ländern müssen sowohl Arbeitnehmer wie Arbeitgeber ein klares Verfahren bei der Beantragung der Teilzeitarbeit einhalten. Es gilt eine Wartefrist, bis zu der ein Arbeitnehmer das erste Mal einen Antrag stellen kann. Der Arbeitgeber muss in einer gewissen Frist reagieren, ansonsten findet eine automatische Anpassung der Arbeitszeit statt. Zudem finden die Regelungen erst bei einer bestimmten Unternehmensgröße Anwendung. Das Waa schreibt vor, dass der Arbeitgeber einem Antrag des Arbeitnehmers zustimmen muss, es sei denn, dass schwerwiegende betriebliche Belange gegen den Antrag sprechen (Art. 2 Abs. 5 Waa). Eine Beschreibung dieser Ablehnungsgründe findet in Art. 2 Abs. 8 und 9 Waa statt. Danach liegt bei der Verringerung der Arbeitszeit in jedem Fall dann ein schwerwiegender betrieblicher Belang vor, wenn ernsthafte Probleme für die Betriebsführung bei der Wiederbesetzung der frei werdenden Stunden, auf dem Gebiet der Sicherheit oder bei der Erstellung von Zeit- und Schichtplänen auftreten (Art. 2 Abs. 8 Waa). Bei der Verlängerung der Arbeitszeit liegt ein schwerwiegender betrieblicher Belang insbesondere vor, wenn ernsthafte Probleme auftreten, bei Belangen finanzieller und organisatorischer Art, dem Fehlen von ausreichenden Arbeitsmöglichkeiten oder unzureichendem festgelegtem Raum im Stellenplan oder Personalbudget (Art. 2 Abs. 9 Waa). Diese Regelbeispiele stellen keine abschließende Aufzählung dar. Die Verteilung der Arbeitsstunden soll der Arbeitgeber grundsätzlich übereinstimmend mit den Wünschen des Arbeitnehmers festlegen. Allerdings kann er hiervon abweichen, wenn das betriebliche Interesse das Interesse des Arbeitnehmers an einer bestimmten Verteilung überwiegt (Art. 2 Abs. 6 Waa). Damit findet hinsichtlich der Verteilung der Arbeitsstunden nur eine Interessenabwägung statt. In Deutschland muss der Arbeitgeber der Verringerung der Arbeitszeit zustimmen und die Verteilung der Arbeitszeit entsprechend den Wünschen des Arbeitnehmers festlegen, es sei denn, dass betriebliche Gründe dem entgegenstehen (§ 8 Abs. 4 S. 1 TzBfG). Die betrieblichen Gründe sind in den Regelbei-
Teilzeit- und Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht
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spielen des § 8 Abs. 4 S. 2 TzBfG weiter erläutert. Danach liegt ein betrieblicher Grund insbesondere vor, wenn die Verringerung der Arbeitszeit die Organisation, den Arbeitsablauf oder die Sicherheit des Betriebes wesentlich beeinträchtigt oder unverhältnismäßige Kosten verursacht. Im Gegensatz zu den Niederlanden wird die Verteilung der Arbeitszeit damit identisch mit der Verringerung der Arbeitszeit behandelt. Der Rechtsanspruch auf Verlängerung der Arbeitszeit in § 9 TzBfG weist wenig Ähnlichkeit mit der niederländischen Regelung in Art. 2 Waa auf. Zunächst gibt es weder eine Einschränkung des Anwendungsbereichs, noch wird eine bestimmte Dauer der Betriebszugehörigkeit vorausgesetzt. Voraussetzung ist, dass der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seinen Verlängerungswunsch seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit anzeigt. Bei einem entsprechenden freien Arbeitsplatz ist der Arbeitnehmer bevorzugt zu berücksichtigen. Der Arbeitgeber kann den Verlängerungswunsch ablehnen, wenn dringende betriebliche Gründe oder die Arbeitszeitwünsche anderer Arbeitnehmer dem entgegenstehen. Eine Regelung zur Verteilung der Arbeitszeit fehlt, sodass das normale Direktionsrecht des Arbeitgebers gilt. In beiden Ländern wurde mit dem Recht auf Anpassung der Arbeitszeit und der Verteilung der Arbeitsstunden kein isoliertes Recht auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitsstunden und auch kein Recht auf befristete Anpassung der Arbeitszeit geschaffen. Mit der Reduzierung der Arbeitszeit reduziert sich entsprechend auch der Lohn des Arbeitnehmers.
4.1 Generelle Kritik an den Ansprüchen 4.1.1
Bedenken in den Niederlanden
Das Waa hat in der niederländischen rechtswissenschaftlichen Literatur generelle Kritik ausgelöst. Auf der einen Seite wurde das Gesetz als zu weitgehend aufgefasst und insbesondere die damit verbundene Einschränkung der Vertragsfreiheit der Arbeitgeber kritisiert (Kneppers-Heynert 2000, S. 127f.; Van der Heijden 2001, S. 15). Diese Kritiker bewerteten das Waa als wenig einflussreich und meinten, dass es kaum Auswirkungen auf die Vertragsbeziehungen haben werde (Vas Nunes 2000, S. 6, 13). Auf der anderen Seite wurde das Waa positiv als erster Schritt zu einer neuen Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen Männern und Frauen betrachtet und aus dem Grunde für notwendig erachtet (Burri 2001, S. 70, 75). Die Auslegung der einzelnen Regelungen des Waa erfolgte jedoch sowohl in der rechtswissenschaftlichen Literatur als auch in den gerichtlichen Verfahren
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Heike Opitz
relativ einheitlich, und es lassen sich nur wenige Streitstände feststellen (Opitz 2004, S. 317).
4.1.2
Frage der Verfassungsmäßigkeit in Deutschland
In Deutschland wurde die Regelung zur Verringerung der Arbeitszeit vielfach als kontraproduktiv und verfehlt erachtet. Vereinzelt wurde bezweifelt, ob ein Teilzeitanspruch verfassungsgemäß sei, und aus den Bedenken heraus eine Auslegung der betrieblichen Gründe gefordert, die dem Arbeitgeber möglichst großen Freiraum bei der Ablehnung lässt (Richardi/Annuß 2000, S. 2201ff.). In Betracht käme ein Verstoß gegen die Berufsfreiheit des Arbeitgebers in Art. 12 Abs. 1 GG und gegen die Vertragsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG. Allerdings können beide Grundrechte durch vernünftige Überlegungen des Gemeinwohls eingeschränkt werden, deren Bestimmung grundsätzlich dem Gesetzgeber obliegt (BVerfG, Beschl. v. 5.3.1974 – 1 BvL 27/72, BVerfGE 37, S. 1, 20). Diese liegen hier in dem Ziel des Gesetzgebers, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu verbessern. Daher liegt kein Verstoß gegen Verfassungsrecht vor (BAG, Urt. v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, NZA 2003, 1392, 1395). Die teilweise geforderte einschränkende Auslegung lässt sich somit nicht aus dem Grundgesetz herleiten. Aus dieser Kontroverse folgten in Deutschland insbesondere im Rahmen des Teilzeitanspruchs viele Auslegungsprobleme.
4.2
Ablehnungsmöglichkeiten für den Arbeitgeber im Rahmen der Ansprüche
Am wichtigsten ist dabei die Frage, aus welchen Gründen Arbeitgeber einen Antrag auf Teilzeitarbeit ablehnen können.
4.2.1
Bewertung in der niederländischen Literatur und Rechtsprechung
Viele Stimmen in der niederländischen Literatur sahen die kodifizierten Ablehnungsmöglichkeiten bei der Anpassung der Arbeitszeit als wenig aussagekräftig an. Die Beispiele, die im Gesetzgebungsprozess genannt wurden, wurden als nicht hilfreich erachtet, da sie sich auf die Rechtsprechung vor Geltung des Waa bezogen. So werde es letztendlich den Gerichten überlassen, einheitliche Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln (Vas Nunes 2000, S. 6, 9).
Teilzeit- und Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht
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Der größte Unterschied gegenüber der Rechtslage vor Geltung des Waa sei, dass die Beschwerden des Arbeitgebers nun zu ernsthaften Problemen führen müssen. Dies führt im Vergleich zur Rechtsprechung vor Geltung des Waa zu einer Erschwerung der Beweislast des Arbeitgebers. Die Erfolgsaussichten der Klagen der Arbeitnehmer sind damit gestiegen. Des Weiteren findet durch die Nennung der ernsthaften Probleme in den Regelbeispielen eine Qualifizierung der Ablehnungsgründe statt, die alle Ablehnungsgründe erfüllen müssen (van Beek/van Doorne-Huiskes/Veldman 2002, S. 60). Die niederländischen Gerichte wenden einen einheitlichen Maßstab zur Überprüfung der schwerwiegenden betrieblichen Belange an. Die Gründe des Arbeitgebers sind nach der Rechtsprechung vollständig überprüfbar (so genannte integrale toetsing). Des Weiteren forderten die Gerichte, dass die vorgetragenen schwerwiegenden betrieblichen Belange auch zu ernsthaften Problemen führen müssen. Vielfach wird auf die Erfahrungen mit Teilzeitarbeit während des Elternurlaubs Bezug genommen (Gerechtshof Arnhem, 10.12.2002, www.rechtspraak.nl, LJN-Nr.: Af 2275, Zaaknr.: 02/565). Schwerwiegende betriebliche Belange wurden daher nur selten von den Gerichten anerkannt, sodass in den meisten Fällen die gewünschte Reduzierung der Arbeitszeit erreicht wurde (Arkel/Smits 2001, S. 295, 299).
4.2.2
Bewertung in der deutschen Literatur und Rechtsprechung
Während die schwerwiegenden betrieblichen Belange in den Niederlanden relativ einheitlich eingeschätzt wurden, ist in der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur und Rechtsprechung strittig, welche Anforderungen an die betrieblichen Gründe, die den Arbeitgeber zur Ablehnung berechtigen, zu stellen sind. Einheitlich wurde festgestellt, dass den Arbeitgeber die Beweislast für das Vorliegen der betrieblichen Gründe trifft. Eine reine Behauptung ist nicht ausreichend, vielmehr muss der Arbeitgeber rationale und nachvollziehbare Gründe vortragen. An betriebliche Gründe sind weniger hohe Anforderungen als an dringende betriebliche Gründe zu stellen.
4.2.2.1
Voraussetzung der wesentlichen Beeinträchtigung
Fraglich ist, welche Bedeutung der in den Regelbeispielen geforderten wesentlichen Beeinträchtigung des Betriebes zukommt. Während dies teilweise als Redaktionsversehen gewertet wurde und eine einschränkende Auslegung (Beckschulze 2001, S.2598) bis hin zur vollständigen Nichtbeachtung gefordert wurde
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Heike Opitz
(Hromadka 2001, S. 400, 402), betrachteten andere Stimmen dies als notwendige Qualifikation der betrieblichen Gründe (Däubler 2001, S. 217, 219). Trotz einiger systematischer Argumente ist dies überzeugend, da ansonsten das Ziel des TzBfG nicht erreicht werden könnte. Das Bundesarbeitsgericht (im Folgenden: BAG) hat mittlerweile entschieden, dass betriebliche Gründe nur vorliegen, wenn sie auch zu einer wesentlichen Beeinträchtigung des Betriebs führen (BAG, Urt. v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, NZA 2003, S. 1392, 1395).
4.2.2.2
Die unternehmerische Entscheidung als betrieblicher Grund
Ein weiteres Problem stellte sich bei der Frage, ob eine unternehmerische Entscheidung ein betrieblicher Grund sein könne und inwieweit dieser durch die Gerichte überprüfbar ist. Anders als in den Niederlanden wird in Deutschland eine unternehmerische Entscheidung nur eingeschränkt von den Gerichten überprüft. Allerdings kann daraus nicht abgeleitet werden, dass schon die Behauptung einer unternehmerischen Entscheidung zur Ablehnung des Teilzeitanspruches ausreicht. Dies würde zur Bedeutungslosigkeit des Gesetzes führen. Auch aus der grundgesetzlich geschützten Berufsfreiheit folgt nichts anderes, da auch diese aus vernünftigen Gründen des Gemeinwohls, die hier vorliegen, eingeschränkt werden kann. Die unternehmerische Entscheidung an sich, also ohne weitere Spezifizierung, kann keinen betrieblichen Grund darstellen (Buschmann 2001, § 8 TzBfG, Rn 32; Schmidt 2002, S. 245, 248; a.A. Preis/Gotthardt 2000, S. 2065, 2068). Durch die Entscheidungen des BAG ist mittlerweile geklärt, dass höhere Anforderungen zu stellen sind. Die unternehmerische Entscheidungsfreiheit führt nicht dazu, dass ein Organisationskonzept nicht überprüfbar sei. Der Arbeitgeber muss dessen tatsächliches Vorliegen und seine konsequente Durchführung beweisen (BAG, Urt. v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, NZA 2003, S. 1392, 1395ff.).
4.2.2.3
Erfolgsaussichten der Klagen
Dass viele Klagen von Arbeitnehmern in Deutschland erfolgreich waren, erklärt sich auch damit, dass Arbeitgeber es oft unterließen, ihre vorgetragenen betrieblichen Gründe auch zu beweisen. Vielfach wurden nur Schlagworte gegen die gewünschte Teilzeitarbeit angeführt (z.B. bei ArbG Stuttgart, Urt. v. 5.7.2001 – 21 Ca 2762/01, NZA 2001, S. 968, 970), was mehr auf Vorbehalte als auf reale Probleme mit der Teilzeitarbeit hinweist.
Teilzeit- und Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht
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4.3 Verteilung der Arbeitsstunden 4.3.1
Interessenabwägung in den Niederlanden
In den Niederlanden wurde der Maßstab der Interessenabwägung bei der Verteilung der Arbeitszeit in der Literatur kritisiert, da das eigentliche Ziel des Waa, nämlich eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie, damit gefährdet würde. Gerade bei familiären Verpflichtungen seien Arbeitnehmer auch auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitszeit angewiesen (Burri 2001, S. 70, 76). Bei der Interessenabwägung gaben die Richter meistens dem Wunsch des Arbeitgebers hinsichtlich der Verteilung der Arbeitsstunden statt. Für Arbeitnehmer ist so eine Anpassung der Arbeitszeit gut durchsetzbar, deutlich schwieriger ist es aber, auch die gewünschte Verteilung zu erlangen. Die Gerichte scheinen dies als Ausgleich für den Arbeitgeber zu begreifen, der schon eine Anpassung der Arbeitszeit akzeptieren musste (van Beek/van Doorne-Huiskes/ Veldman 2002, S. 54).
4.3.2
Identische Behandlung von Verringerung und Verteilung der Arbeitszeit in Deutschland
Die Verteilung der Arbeitsstunden fand in Deutschland nur wenig Beachtung und wurde prinzipiell identisch wie die Verringerung der Arbeitszeit betrachtet. Ihre besondere Bedeutung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer wurde nicht thematisiert. Strittig war, inwieweit bei der Ablehnung einer gewünschten Verteilung der Arbeitsstunden auch eine wesentliche Beeinträchtigung erforderlich ist. Das BAG hat nun entschieden, dass ein einheitlicher Maßstab anzuwenden ist und eine wesentliche Beeinträchtigung zur Ablehnung einer gewünschten Verteilung der Arbeitsstunden notwendig ist (BAG, Urt. v. 18.2.2003 – 9 AZR 164/02, NZA 2003, S. 1392, 1394f.).
4.4 Ablehnungsmöglichkeiten bei der Verlängerung der Arbeitszeit Kritik wurde in den Niederlanden insbesondere an den Ablehnungsmöglichkeiten bei einem Antrag auf Verlängerung der Arbeitszeit geübt. Nach allgemeiner Auffassung, unter Verweis auf das Gesetzgebungsverfahren, gilt bei Anwendung des Waa ein Prioritätsprinzip der Anträge verschiedener Arbeitnehmer. Der erste Antrag muss somit auch als erster entschieden werden. Gerade bezüglich der Verlängerung der Arbeitszeit wird dies als problematisch erachtet. Dem
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Heike Opitz
Arbeitgeber würde so die Möglichkeit genommen, zwischen zwei unterschiedlich gut geeigneten Arbeitnehmern, die eine Verlängerung beantragt hätten, zu entscheiden. Erst wenn die Leistungen des einen Arbeitnehmers einen schwerwiegenden betrieblichen Grund darstellten, könnte der Arbeitgeber den ersten Antrag ablehnen (van Beek/van Doorne-Huiskes/Veldman 2002, S. 37). In Deutschland wurde der Rechtsanspruch auf Verlängerung der Arbeitszeit völlig anders als der Rechtsanspruch auf Verringerung der Arbeitszeit gestaltet. Eine vergleichbar breite und strittige Auseinandersetzung wie beim Teilzeitanspruch fand nicht statt. Dies ist umso erstaunlicher, da gerade die Verlängerung der Arbeitszeit deutlich stärkere finanzielle Folgen für den Arbeitgeber haben kann und ihm die Möglichkeit beschnitten wird, frei über die Besetzung der Arbeitsplätze zu entscheiden. Zur Rechtsprechung zum Rechtsanspruch auf Verlängerung der Arbeitszeit lässt sich in beiden Ländern nur auf zwei Entscheidungen zurückgreifen (siehe hierzu: Opitz 2004, S. 332ff.).
4.5 Prozessuale Geltendmachung der Ansprüche Unterschiede sind in den Niederlanden und in Deutschland auch bei der prozessualen Geltendmachung der Ansprüche auf Anpassung der Arbeitszeit zu beobachten. In den Niederlanden wurden die meisten Klagen im Eilverfahren entschieden. Nur in Ausnahmefällen wurde die Möglichkeit einer Anpassung des Arbeitsvertrags nach dem Waa im Wege des Eilverfahrens generell abgelehnt. Die meisten Gerichte wendeten das Eilverfahren ohne Bedenken an. Eine besondere Prüfung der Voraussetzung des Eilverfahrens fand meistens nicht statt (Burri/Opitz/Veldman 2003, S. 321, 331f.). In Deutschland wurde hingegen nur in Ausnahmefällen im einstweiligen Rechtsschutz entschieden. Die Klage beim Teilzeitanspruch ist zunächst auf die Abgabe einer Willenserklärung des Arbeitgebers zur Zustimmung zur Verringerung gerichtet. Diese wird erst mit Rechtskraft der Entscheidung vollstreckt (§ 894 Abs. 1 ZPO). Daher wurde teilweise angenommen, dass eine einstweilige Verfügung immer eine Vorwegnahme der Hauptsache darstelle und folglich nie möglich sei (Schiefer 2002, S. 393f.). Die herrschende Meinung sieht allerdings im verfassungsrechtlichen Gebot auf effektiven Rechtsschutz die Anwendbarkeit der einstweiligen Verfügung begründet (Buschmann 2001, § 8 TzBfG, Rn 41; Schmidt 2002, S. 245, 250). Des Weiteren reiche ein Antrag auf vorläufige Beschäftigung zu den angepassten Arbeitszeiten. Die deutschen Arbeitsgerichte hielten unter dieser Voraussetzung die einstweilige Verfügung für möglich,
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stellten allerdings hohe Anforderungen an den Verfügungsanspruch und den Verfügungsgrund (Burri/Opitz/Veldman 2003, S. 321, 338ff.). Gegen die Entscheidungen zum Waa wurden nur in Ausnahmefällen Rechtsmittel eingelegt. Die meisten Prozessparteien scheinen die Entscheidungen zu akzeptieren. Dies ist hinsichtlich des Bestands des Arbeitsverhältnisses wichtig, da so lange Rechtsstreitigkeiten vermieden werden. In Deutschland wurden hingegen vielfach Rechtsmittel eingelegt. Die wenigsten Entscheidungen wurden akzeptiert, viele Revisionen sind vor dem BAG anhängig, sodass sich in vielen Fällen die Verfahren über Jahre hinziehen (Opitz 2004, S. 335ff.).
5
Rechtsvergleich
Durch den Rechtsvergleich lässt sich feststellen, dass ähnliche gesellschaftliche Probleme zu einem ähnlichen Regelinstrument im Arbeitsrecht geführt haben. In Deutschland stand dabei die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit im Vordergrund. In beiden Ländern wurden durchsetzbare Ansprüche auf die Verringerung und die Verlängerung der Arbeitszeit geschaffen. Sowohl Art. 2 Waa wie auch § 8 TzBfG kennen eine Einschränkung des Anwendungsgebiets. Die inhaltliche Schwerpunktsetzung unterscheidet sich allerdings in beiden Gesetzen stark. In den Niederlanden sollte auf der einen Seite der Arbeitnehmer die Möglichkeit erhalten, seine Arbeitszeit flexibel gestalten zu können. Daher wurde ein relativ starkes Recht auf Anpassung der Arbeitszeit geschaffen. Auf der anderen Seite wurde zum Schutz des Arbeitgebers eine relativ schwache Regelung zur Verteilung der Arbeitsstunden gewählt. Hier wurde das Interesse des Arbeitgebers berücksichtigt, den Arbeitnehmer nach seinen Bedürfnissen einzusetzen. Dies kann allerdings kontraproduktive Wirkungen gerade hinsichtlich des Ziels, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu erreichen, wenn der Arbeitnehmer aufgrund familiärer Pflichten bei einer Anpassung der Arbeitszeit an eine bestimmte Arbeitszeitverteilung gebunden ist (Burri/Opitz/ Veldman 2003, S. 321, 344f.). In Deutschland liegt der Schwerpunkt hingegen auf dem Teilzeitanspruch. Hier ging es zunächst um das Ziel, den Anteil von Teilzeitbeschäftigten generell zu steigern. Die Möglichkeiten des Arbeitgebers, den Teilzeitantrag abzulehnen, wurden gegenüber dem niederländischen Gesetz erweitert. Die Verteilung der Arbeitsstunden wurde identisch mit der Verringerung geregelt, sodass mit dem deutschen Gesetz hier ein etwas stärkerer Anspruch als durch das niederländische Gesetz geschaffen wurde. Die Verlängerung der Arbeitszeit wurde hingegen deutlich anders geregelt. Sie fand – trotz der mit ihr verbundenen Einschränkungen für Arbeitgeber – nur wenig Beachtung. Viele Anforderungen, die
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Heike Opitz
in dem Anspruch auf Verlängerung der Arbeitszeit in § 8 TzBfG enthalten sind, sind hier nicht vorgesehen worden. Die Ablehnungsmöglichkeiten des § 9 TzBfG sind anders strukturiert. Es fehlt eine Regelung zur Verteilung der Arbeitszeit, sodass das allgemeine Direktionsrecht des Arbeitgebers gilt. Auch in der Rechtsprechung hat die Verlängerung der Arbeitszeit noch keine Bedeutung erlangt. Dies wird sich vermutlich noch ändern, wenn der Wechsel zwischen verschiedenen Arbeitszeiten im Laufe einer Erwerbsbiographie üblicher und akzeptierter wird. Die schwerwiegenden betrieblichen Belange wirken in den Niederlanden etwas stärker als die betrieblichen Gründe in Deutschland. In beiden Ländern müssen die Ablehnungsgründe noch eine qualifizierende Voraussetzung erfüllen. In den Niederlanden müssen sie zu ernsthaften Problemen und in Deutschland zu einer wesentlichen Beeinträchtigung des Betriebes führen. Die Behauptung einer unternehmerischen Entscheidung ohne weitere Begründung kann auch in Deutschland keinen betrieblichen Grund, der zur Ablehnung des Teilzeitanspruchs berechtigt, darstellen. Die unternehmerische Freiheit beinhaltet kein Recht, im eigenen Betrieb bestehende Gesetze nicht anzuerkennen. Bei einer längeren Geltung werden auch die Erfahrungen mit der Elternteilzeit, die bisher aufgrund der Geltungsdauer des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) noch keine Rolle spielten, Bedeutung für die Frage, ob betriebliche Gründe vorliegen, erlangen (Burri/Opitz/Veldman 2003, S. 321, 342ff.). In beiden Ländern haben die meisten Kläger familiäre Verpflichtungen und sind so prinzipiell auf eine schnelle Entscheidung angewiesen. In den Niederlanden hat sich daher das Eilverfahren als Standard durchgesetzt. Dass in Deutschland relativ wenig Gebrauch von der einstweiligen Verfügung gemacht wird, lässt sich auf der einen Seite auf die unklare rechtliche Situation, aber auch auf den längeren Gewährungszeitraum der Elternzeit zurückzuführen (Burri/Opitz/Veldman 2003, S. 321, 345).
6
Auswirkungen der Ansprüche
Die Einführung der Ansprüche auf Anpassung der Arbeitszeit hat nicht zu der befürchteten „Prozesslawine“ geführt (Burri/Opitz/Veldman 2003, S. 321, 343). In Deutschland bestand zwar im Gegensatz zu den Niederlanden das Bedürfnis, die Fragen im Rahmen des Teilzeitanspruchs durch das Bundesarbeitsgericht klären zu lassen. Es ist aber nicht zu einer Flut von Klagen gekommen. Dies wird auch daran liegen, dass die meisten Arbeitnehmer eine einvernehmliche Lösung mit dem Arbeitgeber zu finden versuchen, um ihren Arbeitsplatz nicht zu gefährden (Däubler 2000, S. 1961, 1963).
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In Deutschland wurde bei einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB) festgestellt, dass der Teilzeitanspruch im Jahr 2001 von 85.000 Beschäftigten geltend gemacht wurde. 78% der Anträge wurden von Frauen gestellt. Anträge auf Verlängerung der Arbeitszeit gab es so gut wie keine. In den meisten Fällen wurde diesen Anträgen, insbesondere in großen Betrieben, entsprochen. Die Verkürzung der Arbeitszeit wurde jeweils zur Hälfte durch produktionswirksame Maßnahmen oder beschäftigungswirksame Maßnahmen umgesetzt. Während das IAB daraus schlussfolgerte, dass das TzBfG reibungsarm, einvernehmlich und partnerschaftlich umgesetzt wurde (Magvas/Spitznagel 2002, S. 3f.), zeichnete die Deutsche Industrie und Handelskammer (DIHK) im Jahr 2001 ein gänzlich anderes Bild auf Grundlage einer Befragung ihrer Mitglieder. Hierbei wurden die Wünsche und die Befürchtungen der Mitglieder erfragt. Danach sei das TzBfG kontraproduktiv. Schon bei der Einstellungspraxis übten die Unternehmen Zurückhaltung, wenn sie ein Teilzeitinteresse befürchteten. Der Rechtsanspruch müsse abgeschafft werden (DIHK 2001, S. 10). Auch gibt es im Gegensatz zu den Niederlanden weiterhin Bemühungen, das TzBfG zu verändern. So brachte die CDU/CSU-Fraktion im Juni 2003 einen neuen Gesetzesentwurf ein, um das TzBfG zu ändern. Teilzeitarbeit sollte nur aus familiären Gründen möglich sein (BT-Ds. 15/1182). Eine Evaluation der Wirkungen des TzBfG fehlt bisher. Zwar gab das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung eine solche bei dem Institut zur Erforschung sozialer Chancen (ISO) und dem ifo Institut für Wirtschaftsforschung für den Zeitraum September 2001 bis 2003 in Auftrag, eine Veröffentlichung der Ergebnisse fehlt aber bis jetzt. Dabei wäre zur Versachlichung der Debatte eine Evaluation hilfreich. In den Niederlanden ist bereits eine erste Evaluation erfolgt (Ergebnisse bei: van Beek/van Doorne-Huiskes/Veldman 2002).
7
Schlussfolgerungen für Deutschland
Das TzBfG wird in Deutschland zu mehr Verbreitung und Akzeptanz von Teilzeitarbeit führen. Ein uneingeschränkter Rechtsanspruch wurde mit dem TzBfG nicht geschaffen, jedoch müssen sich viele Arbeitgeber nun erstmals mit der Frage beschäftigen, ob Teilzeitarbeit in ihrem Betrieb möglich ist. Dass durch die Regelung ein Bumerangeffekt für Frauen geschaffen wurde, lässt sich bisher nicht feststellen. Ein gewisser Schutz hiervor ist, dass das Gesetz für alle Arbeitnehmer unabhängig von einem Grund gilt. Würde die teilweise geführte Diskussion dazu führen, diesen Anspruch nur aus familiären Gründen zu gewäh-
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Heike Opitz
ren, könnte dies die Folge eines negativen Beschäftigungseffekts für Frauen haben, da insbesondere Frauen Familienarbeit leisten. Durch die teilweise ideologisch geführte Diskussion wurde der Blick auf andere Probleme verstellt. Die Frage, welche Rolle die Einschränkung spielt, die Verteilung der Arbeitsstunden nach Bedürfnissen des Arbeitgebers festzulegen, und welche Einschränkungen mit dem Recht auf Verlängerung der Arbeitszeit verbunden sind, wurde nur am Rande thematisiert. Für den deutschen Arbeitnehmer hat dies zwar den Vorteil, dass das TzBfG ein stärkeres Recht auf eine bestimmte Verteilung der Arbeitsstunden als das Waa enthält. Allerdings verdeutlicht dies, dass keine sachliche Diskussion über die Frage der Anpassung der Arbeitszeit geführt wurde. Auch in der Rechtsprechung zeigt sich, dass im Vergleich zu den Niederlanden Teilzeitarbeit in Deutschland unüblich ist und noch viele Vorbehalte gegen Teilzeitarbeit bestehen. Nach einer längeren Geltung tritt vermutlich eine gewisse Gewöhnung an das TzBfG ein. Damit kann die Chance für Arbeitnehmer, lediglich durch eine Beratung mit dem Arbeitgeber eine Anpassung der Arbeitszeit zu erreichen, steigen, allerdings können die gerichtlichen Durchsetzungsmöglichkeiten sinken. Die Streitigkeiten werden sich vermutlich weg von der Frage der Verringerung der Arbeitszeit und hin zu der Frage der Verteilung der Stunden entwickeln. Eine reine Regulierung über den Markt, wie dies teilweise gewünscht und nun auch wieder vom Deutschen Juristentag gefordert wurde, hätte in Deutschland keine positiven Auswirkungen auf die Entwicklung von flexibleren Arbeitsformen. In der Diskussion um das TzBfG wurde und wird von einem traditionellen Verständnis der Erwerbsarbeit ausgegangen. Die Norm stellt dabei der männliche Vollzeitarbeitnehmer ohne familiäre Pflichten dar. Ohne gesetzliche Regelungen würde der Markt zu spät auf die sich verändernde Gesellschaft reagieren. Denn die deutsche Gesellschaft steht vor der großen Aufgabe, auf der einen Seite aktuell mehr Arbeitsplätze zu schaffen und längerfristig einem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften vorzubeugen. Erschwerend kommt ein Rückgang der Geburtenanzahl hinzu, der auch auf die fehlende Entwicklung von neuen Formen der Gestaltung von Erwerbs- und Familienarbeit zurückzuführen ist (Rürup 2003). In den Niederlanden wird schon seit längerem über die Frage eines einheitlichen Levensloopbaanbeleid diskutiert und erste Schritte zu einer einheitlichen Betrachtung der Lebenserwerbstätigkeit getan (Burri 2001, 70ff.). Versucht wird, den Wechsel zwischen verschiedenen Arbeitszeiten zu vereinfachen, um den in unterschiedlichen Lebensphasen notwendigen Wechsel von Zeiten der Teil- und Vollerwerbstätigkeit und so auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. Es ist zu hoffen, dass auch in Deutschland eine stärkere Diskussion um diese Fragen stattfinden wird. Es sollte geklärt werden, welche
Teilzeit- und Verlängerungsansprüche im niederländischen und deutschen Recht
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Anpassungen der Arbeitsbedingungen im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Lebenslaufs möglich und notwendig sind, um mit den Folgen einer alternden Gesellschaft umzugehen und gleiche Möglichkeiten für Männer und Frauen und bessere Bedingungen für Kinder zu schaffen. Die in das TzBfG gesetzten Erwartungen werden durch das Gesetz allein nicht erfüllt werden können. Die befürchteten negativen Folgen, wie etwa ein Nachteil für den Standort Deutschland oder eine Einstellungspraxis, die Frauen wegen des Gesetzes benachteiligt, lassen sich allerdings auch nicht nachweisen. So ist das Gesetz zumindest ein Schritt zu einer Neudefinition der Arbeitsbeziehungen. In Deutschland ist an dem TzBfG ein ideologischer Streit entbrannt, der weniger mit den konkreten Regelungen als mit der grundsätzlichen Be-wertung von Teilzeitarbeit zu tun hat. Eine nur ideologisch geführte Diskussion, die keine Lösungsvorschläge für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme macht, ist jedoch wenig hilfreich. Das TzBfG ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss. Zusätzliche positive Effekte könnten auch über andere Maßnahmen wie z.B. den umfassenden Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und qualifizierten Förderangeboten erreicht werden, die den Eltern die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit ermöglichen. Eine reine Beachtung der ökonomischen ohne die gesellschaftlichen Belange wird allerdings kontraproduktiv wirken und langfristig auch den ökonomischen Zielen schaden.
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Gesetzgebung um jeden Preis?
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Gesetzgebung um jeden Preis? Ein Plädoyer für eine Versachlichung der Diskussion um das Arbeitsrecht Gesetzgebung um jeden Preis?
Karen Ullmann
Bezogen auf die Fragestellung „Mythos Markt? Die ökonomische, rechtliche und soziale Gestaltung der Arbeitswelt“ widmet sich das vorliegende Papier den gängigen Annahmen in der öffentlichen Debatte über die Wirkung des Kündigungsschutzrechts auf die Arbeitslosigkeit und stellt diesen das vorhandene empirische Datenmaterial entgegen. Anschließend wird die Frage gestellt, inwieweit der Gesetzgeber die Ergebnisse der empirischen Arbeitsmarktforschung zur Kenntnis nimmt bzw. zur Kenntnis nehmen müsste. Hierfür werden die Grundzüge der Grenzen der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aufgezeigt. Schließlich werden die Auswirkungen des Außer-Acht-Lassens der entscheidungserheblichen Tatsachen und damit der einschlägigen empirischen Forschung auf die Qualität des demokratischen Prozesses diskutiert. Das Papier ist in großen Teilen das Ergebnis der Mitarbeit an dem Projekt REGAM (Regulierung des Arbeitsmarktes) des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung (HBS), ein interdisziplinär arbeitendes Forschungsprojekt, welches sich den Arbeitsmarktwirkungen arbeitsrechtlicher Regelungen widmet. Die Ergebnisse der Projektarbeit sind mittlerweile in Buchform erschienen (Pfarr/Ullmann/Bradtke/Schneider/Kimmich/Bothfeld: Der Kündigungsschutz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit – betriebliche Erfahrungen mit der Beendigung von Arbeitsverhältnissen, Rainer Hampp Verlag, 2005). Die Frage der Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit der Auswirkungen von Recht und die Pflichten des Gesetzgebers zur Wahrnehmung der Wirklichkeit wird in der Rechtswissenschaft erstaunlicherweise nicht bearbeitet.
1
Zusammenhang zwischen Arbeitsrecht und Arbeitsmarkt
In der öffentlich geführten Debatte um die Verringerung der Arbeitslosigkeit wird häufig ein Zusammenhang zwischen der Rigidität des Arbeitsrechts, vor allen Dingen des Kündigungsschutzrechts, und dem Arbeitsmarkt bzw. der
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Karen Ullmann
Arbeitslosigkeit unterstellt. Aus diesem Zusammenhang resultieren vielfache Forderungen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes mit dem Ziel, Arbeitsplätze zu schaffen. Diese häufig unbelegten Annahmen über die Wirkung des Kündigungsschutzes auf den Arbeitsmarkt haben schon zu diversen Rechtsänderungen geführt. Sie finden – im Gegensatz zu den Ergebnissen der empirischen Arbeitsmarktforschung – auch Eingang in die Gesetzesbegründungen. Die gängige Annahme, der Kündigungsschutz sei ein Einstellungshemmnis, konnte bisher jedoch durch keine empirische Studie nachgewiesen werden.
1.1
Einstellungshemmnis Kündigungsschutz? Die aktuelle Diskussion
Das Kündigungsschutzgesetz wird verbreitet als eine (Haupt-)Ursache für die hohe Arbeitslosigkeit angesehen. Es halte Betriebe davon ab, neue Beschäftigte einzustellen, obwohl dies, gemessen an der anfallenden Arbeit, möglich wäre (Jerger 2003; Bauer 2002; Hromadka 2002). Denn die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses sei außerordentlich schwierig, das Arbeitsrecht selbst für Fachleute nicht zu überblicken (Jerger 2003; Buchner 2002). Entschließt sich ein Betrieb dennoch zu einer Kündigung, erwarte ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit eine teure gerichtliche Auseinandersetzung, deren Ergebnis nicht prognostizierbar sei (Willemsen 2000; Hromadka 2003). Aus Angst vor einem arbeitsgerichtlichen Verfahren würden die Betriebe zu teuren außergerichtlichen Abfindungsvergleichen gezwungen. Dr. Reinard Göhner, Bundesvereinigung deutscher Arbeitgeberverbände (BDA), behauptete auf einer Podiumsdiskussion des Hans-Böckler-Forums für Arbeits- und Sozialrecht am 15.4.2005 in Berlin: „Die Arbeitgeber haben Angst vor dem Arbeitsgericht und nehmen lieber Geld in die Hand, egal wie viel.“ Gerade die betriebsbedingte Kündigung, und hier vor allem der Nachweis des betrieblichen Erfordernisses und die Sozialauswahl, seien in der Praxis schwierig (Berkowsky 1996). Die mit einer rechtlichen Auseinandersetzung verbundenen hohen Kosten würden von den Betrieben antizipiert. Zu ihrer Vermeidung würde – vor allen Dingen in Kleinst- und Kleinbetrieben – auf Einstellungen verzichtet, so Rechtsanwalt Moll auf dem 65. deutschen Juristentag am 22.9.2004 in Bonn. Diese Darstellung des Zusammenhangs zwischen Arbeitsrecht und Arbeitsmarkt ist in der öffentlichen Diskussion fast unwidersprochen. Deutschland brauche eine neue Arbeitsverfassung, arbeitsplatzvernichtende Verkrustungen und Überregulierungen im deutschen Arbeitsmarkt müssten aufgebrochen werden, behauptet die BDA auf ihrer homepage. Nicht nur das Handelsblatt1 und die Süddeutsche Zeitung2 berichte1
Serie: „Die Fesseln des Arbeitsmarktes: Wie das deutsche Arbeitsrecht neue Jobs verhindert“ in 18 Folgen, Handelsblatt vom 31.3. bis 25.4.2003.
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ten im Frühjahr und Sommer 2003 regelmäßig über die Schicksale einzelner vom Arbeitsrecht, speziell vom Kündigungsschutz gegeißelter Unternehmer. Auch vor der Bundestagswahl im September 2005 war das Arbeitsrecht mit vielen einzelnen Geschichten über kleine Unternehmen häufig in Funk und Fernsehen zu finden.
1.2 Gesetzesänderungen und ihre Begründung Die soeben skizzierte Darstellung der angenommenen Wirkung des Kündigungsschutzes auf das Einstellungsverhalten der Arbeitgeber hat in der Vergangenheit schon mehrmals zu Gesetzesänderungen geführt. Im Rahmen des „Arbeitsrechtlichen Beschäftigungsförderungsgesetzes“ vom 25.9.19963 hatte der Gesetzgeber den Schwellenwert für die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes in § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG von fünf auf zehn Beschäftigte heraufgesetzt und das Recht der betriebsbedingten Kündigung neu gestaltet. Die Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG wurde auf die Kriterien Lebensalter, Betriebszugehörigkeit und Unterhaltspflichten beschränkt. Außerdem wurde im September 1996 mit dem neu eingefügten Absatz 4 des § 1 KSchG die gerichtliche Überprüfbarkeit betriebsbedingter Kündigungen bei Vorliegen einer sogenannten „Namensliste“ in einem zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber beschlossenen Interessenausgleich beschränkt und mit dem Absatz 5 die Beweislast für die Betriebsbedingtheit dieser Kündigungen umgedreht. Die durch die Bundestagswahl vom 27.9.1998 an die Regierungsmacht gelangte „rot-grüne“ Koalition machte diese Regelungen als eine ihrer ersten Amtshandlungen durch das „Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte“ vom 19.12.19984 teilweise wieder rückgängig. Nur §§ 1 Abs. 4 Satz 1 und § 23 Abs. 1 S. 3 KSchG (anteilig abgestufte Berücksichtigung von teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmern in Kleinbetrieben) blieben im Wesentlichen erhalten (der Berechnungsschlüssel wurde allerdings ab dem 1.1.1999 zugunsten stärkerer Berücksichtigung von Teilzeitkräften etwas modifiziert). Der Schwellenwert wurde wieder auf fünf Beschäftigte abgesenkt, die Beschränkung der Sozialauswahl und die so genannte Namensliste abgeschafft. Dieselbe Regierung stellte ab dem 1.1.2004 in nicht unwesentlichen Teilen den Rechtszu2 3 4
SZ vom 10.02.2003, S.20: „Quasi handlungsunfähig“ Unternehmen beklagen starres Arbeitsrecht/Betriebsräte verweisen auf innovative Lösungen BGBl. I S. 1476. BGBl. I S. 3843. Siehe den Entwurf der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in BT-Drs. 14/45 sowie die hierauf bezogenen Änderungsempfehlungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung in BT-Drs. 14/151, S. 22.
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stand des KSchG zwischen 1996 und 1998 wieder her: Die Kriterien der eingeschränkten Sozialauswahl wurden lediglich um das Kriterium der Behinderung ergänzt und der Schwellenwert nur für neu Eingestellte angehoben. Neu eingeführt wurde der in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers Schröder vom 15.3.2003 angekündigte „Abfindungsanspruch“ bei Verzicht auf eine Klage gegen die Kündigung. Der Paragraf ist irreführend, denn ein „Abfindungsanspruch“ im Wortsinne verbirgt sich hinter ihm nicht: lediglich derjenige gekündigte Beschäftigte hat einen Anspruch auf eine Abfindung, dem der Arbeitgeber diese Abfindung zuvor angeboten hat. Es war dem Arbeitgeber aber auch vor der Schaffung dieses Paragrafen möglich, eine Vereinbarung mit dem zu Kündigenden zu schließen, in der dieser auf sein Recht zur Klage verzichtet und der Arbeitgeber ihm dafür eine Abfindung zahlt. Die Gesetzesbegründungen geben hinsichtlich der Einschätzung der Wirkungen des Kündigungsschutzes auf den Arbeitsmarkt folgendes Bild: Die Kohl-Regierung ging davon aus, dass „die Änderung des Kündigungsrechts und die Erleichterungen beim Abschluss befristeter Arbeitsverträge ... zu zusätzlicher Beschäftigung führen“ werden, da sich das komplizierte Kündigungsschutzrecht gerade in kleinen Betrieben auf die Einstellungsbereitschaft der Arbeitgeber auswirke.5 Dieses Einstellungshemmnis sollte besonders in Handwerksbetrieben bestehen. Die Zahl der durch die Gesetzesänderung neu geschaffenen Stellen wird auf eine halbe Million geschätzt.6 Außerdem wird die lange Dauer arbeitsrechtlicher Verfahren moniert7 – obwohl die offizielle Statistik der Arbeitsgerichte leicht zugänglich ist und das Gegenteil beweist. Für die Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Erleichterung der befristeter Einstellungen wurden empirische Forschungsergebnisse angeführt. Hinsichtlich der Wirkung des Schwellenwertes auf das Einstellungsverhalten lagen zu diesem Zeitpunkt noch keine Forschungsergebnisse vor. Das Wiederherstellen des Zustandes von vor 1996 begründete die Schröder-Regierung mit dem Argument, die Änderungen hätten die erhofften Wirkungen nicht erbracht. Im Übrigen sei die soziale Stabilität „eine wesentliche Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum und für die Schaffung neuer Arbeitsplätze ... . Die 1996 vorgenommenen Einschnitte in Arbeitnehmerschutzrechte haben den sozialen Frieden und die soziale Partnerschaft als wichtige Rahmenbedingungen für Motivation und Leistung beeinträchtigt. Das Ziel, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, wurde nicht erreicht. Deshalb sollen die 5 6 7
BT-Drs.13/4612 (Entwurf eines arbeitsrechtlichen Gesetzes zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung) vom 10.5.1996, S.1, 8. ebenda, S.9f. BT-Drs.13/5107 (Entwurf eines arbeitsrechtlichen Gesetzes zur Förderung von Wachstum und Beschäftigung) vom 26.6.1996, S. 24.
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Einschränkungen des Kündigungsschutzes weitgehend zurückgenommen werden.“8 Zum Zeitpunkt der Gesetzesbegründung lag lediglich eine Untersuchung zu Schwellenwerten im Arbeitsrecht vor – mit dem Ergebnis, dass der Schwellenwert im Kündigungsschutz keine beschäftigungshemmende Wirkung habe (Friedrich/Hägele 1997). Die Erkenntnis, das Anheben des Schwellenwertes würde keine Arbeitsplätze schaffen, währte allerdings nicht lange: Die Wiederherstellung des Rechtszustandes zwischen 1996 und 1998 ab 2004 wurde damit begründet, Änderungen seien „dort notwendig, wo das geltende Kündigungsschutzrecht schwer handhabbar ist und sich starre Regelungen als Einstellungshemmnis erweisen“.9 Mittlerweile standen zwei weitere Untersuchungen des deutschen Arbeitsmarktes zur Verfügung, aus denen sich ergab, dass die Anhebung des Schwellenwertes vermutlich nicht zur Schaffung neuer Arbeitsplätze führen würde (Wagner/Schnabel/Kölling 2001; Pfarr et al. 2003). Auch stand eine vergleichende Untersuchung von sieben internationalen Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kündigungsschutz zur Verfügung: eine eindeutige negative Wirkung der Rigidität von Kündigungsschutzregeln auf das Beschäftigungsniveau im internationalen statistischen Vergleich konnte nirgends nachgewiesen werden (Truger/Hein 2003). Die große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD, seit Ende 2005 im Amt, plant zur Verbesserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt erneut Einschnitte in den gesetzlichen Kündigungsschutz: Bei Neueinstellungen sollen die Vertragsparteien vereinbaren können, dass der Kündigungsschutz erst ab einer Wartezeit von 24 Monaten (jetzt: sechs Monaten) gilt.10 Dies geschieht vor dem Hintergrund von zwei weiteren Untersuchungen des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), die belegen, dass die Veränderung des Schwellenwertes in der Vergangenheit nicht zur Schaffung von Arbeitsplätzen geführt hat (Bauer/Bender/Bonin 2004, Verick 2004).
1.3 Ergebnisse der Arbeitsmarktforschung Die Darstellung, die sich in Medien und Gesetzgebung wiederfindet, entspricht in fast keinem Punkt der Wirklichkeit: Erstens werden Kündigungen keinesfalls regelmäßig beklagt. Auch Abfindungen werden nur im Ausnahmefall gezahlt, sodass Kündigungen nur im Ausnahmefall teuer für die Unternehmen sind. 8 9 10
Bt-Drs.14/45 vom 17.11.1998 „Entwurf eines Gesetzes zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte“: Entwurf eines Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt vom 6.6.2003 Siehe Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom 11.11.2005, S.29f.
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Arbeitsgerichte sind die schnellsten Gerichte der Republik. Konsequenterweise ist auch kein Einfluss der Geltungsschwelle des Kündigungsschutzgesetzes auf das Einstellungsverhalten der Betriebe nachweisbar. Lag die Klagequote vor 25 Jahren – bei guter gesamtwirtschaftlicher Lage – bei ca. 8% (Falke/Höland/Rohde/Zimmermann 1981), wurde für die Zeit von Herbst 1999 bis Herbst 2000 durch Befragung der betroffenen Beschäftigten eine Klagequote von 11,1% ermittelt; für den Zeitraum 1998–2003 ergab sich durch eine Befragung der Personalverantwortlichen in den Betrieben eine Klagequote von 15,3%, wobei kleinere Betriebe seltener beklagt wurden (Pfarr et al. 2005). Die Abweichungen ergeben sich einerseits aus der normalen Fehlertoleranz einer quantitativen Befragung. Andererseits ist wahrscheinlich, dass letzterer Wert zu hoch ist. Denn die Personalverantwortlichen wurden in der Befragung nach den Klagen in den letzten fünf Jahren gefragt. Große Betriebe, die häufig mit Klagen konfrontiert sind, wurden gebeten, die Zahl zu schätzen, falls die genaue Zahl nicht zur Hand war. Da negative Ereignisse häufiger über- als unterschätzt werden, ist es wahrscheinlich, dass der Wert bei größeren Betrieben häufig über dem realen Wert lag. Einen weiteren Einfluss könnte der Umstand gehabt haben, dass die gesamtwirtschaftliche Lage zum Befragungszeitpunkt jeweils variierte. Bekannt ist, dass die Wirtschaftslage einen Einfluss darauf hat, ob Kündigungen beklagt werden oder nicht (Frick/Schneider, 1999). Das ist aus Sicht der Beschäftigten verständlich: Wer schnell eine neue Beschäftigung findet, wird die alte Kündigung seltener beklagen als jemand, der auf dem Arbeitsmarkt nur noch wenig Chancen hat. Ein weiterer Aspekt könnte die Abweichung erklären: Wird die Kündigung aufgrund einer Betriebsschließung/Betriebsverlagerung ausgesprochen, werden Betriebe nur halb so häufig beklagt (Quelle: WSI-Befragung zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen (2001), eigene Berechnungen). Da diese Fälle in der ersten Befragung erfasst waren, in der zweiten, in der nur bestehende Betriebe befragt wurden, jedoch nicht, kann auch hierdurch die Abweichung erklärt werden. Festzuhalten ist: Klagen sind die Ausnahme, nicht die Regel. Abfindungen werden nur in 15% aller Beendigungen durch Arbeitgeberkündigung gezahlt, wobei Kleinstbetriebe mit bis zu zehn Beschäftigten im Falle einer arbeitgeberseitigen Kündigung fast nie (nur in 4% der Fälle) Abfindungen zahlen. Auch bei kurzen Betriebszugehörigkeiten werden selten Abfindungen gezahlt. Erst ab einer Betriebszugehörigkeit von über 15 Jahren erhält jeder zweite Gekündigte eine Abfindung. Die durchschnittliche Abfindungshöhe liegt bis zu zehn Jahren Betriebszugehörigkeit etwas unter der von der Rechtsprechung benutzten so genannten „Faustformel“ von einem halben Monatsgehalt pro Beschäftigungsjahr, danach etwas darüber (Bothfeld/Ullmann 2004).
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Wenn gegen eine Kündigung geklagt wird, ist auch das Verzugslohnrisiko (das Risiko des Arbeitgebers, den Lohn für die Dauer des Prozesses nachzahlen zu müssen, wenn der Beschäftigte den Prozess gewinnt) nicht hoch: Zwei Drittel aller Beendigungsstreitigkeiten vor dem Arbeitsgericht sind nach spätestens drei Monaten beendet. Nur 2% dauern länger als ein Jahr. In Berufung gehen nur ca. 4% aller Verfahren.11 Die Ausgangsannahme – Kündigungen seien in der Regel mit hohen Kosten für die Unternehmen verbunden – ist demnach nicht zutreffend. Das Gegenteil ist der Fall: hohe Kosten bei einer arbeitgeberseitigen Beendigung von Arbeitsverhältnissen sind die Ausnahme, nicht die Regel. Deshalb verwundert es auch nicht, dass auch die abgeleitete Folge – das Kündigungsschutzgesetz verhindere durch seine hohen Kosten Einstellungen – nicht belegbar ist. Hierfür gibt es möglicherweise einen weiteren Grund – neben der Tatsache, dass arbeitgeberseitige Kündigungen in der Regel konfliktfrei und ohne Kosten durchzusetzen sind: Arbeitgeberseitige Kündigungen stellen nur etwa ein Drittel aller Beendigungen. Etwas häufiger kündigen die Beschäftigten selber. Durch Auslaufen einer Befristung endet ca. jedes fünfte Arbeitsverhältnis. Etwa jedes zehnte wird durch einvernehmliche Einigung aufgehoben (Pfarr et al. 2005). Wenn arbeitgeberseitige Kündigungen gar nicht den Hauptteil aller Beendigungen ausmachen, wird deutlich, dass ein Gesetz, welches diese Kündigungen an bestimmte Voraussetzungen knüpft, ebenfalls keinen entscheidenden Einfluss auf den Arbeitsmarkt haben wird. Ein weiteres Argument gegen den Einfluss des Kündigungsschutzgesetzes auf die Einstellungspraxis der Unternehmen ist, dass das Arbeitsrecht in vielen Unternehmen gar nicht handlungsprägend ist: Teilweise wird es gar nicht berücksichtigt, weil es entweder nicht bekannt ist oder aktiv dagegen verstoßen wird. Andere Unternehmen haben ihren eigenen Umgang mit dem Arbeitsrecht gefunden: Sie treffen ihre Entscheidungen flankiert vom Arbeitsrecht, aber nicht hervorgerufen durch das Arbeitsrecht. Das ist das Ergebnis eines Projekts zur Erforschung des Einflusses des Arbeitsrechts auf das Verhalten der Betriebe (Bradtke et al. 2004). Diese Ergebnisse sind in der Arbeitsmarktforschung nicht bestritten. Zwar gibt es immer wieder Befragungen, die meinen, das Gegenteil beweisen zu können. Zu der Erkenntnis, das Kündigungsschutzgesetz verhindere Einstellungen, kommt beispielsweise eine Studie des Forsa-Instituts vom März 2003, die das Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit in Auftrag gegeben hatte. Im Rahmen dieser Studie wurden 1001 Betriebe mit 1–5 Beschäftige befragt (iwd 2003). Danach sollen durch die Änderung des Kündigungsschutzes rund 11
Quelle: Statistik der Arbeitsgerichtsbarkeit, für die Arbeitsgerichte zusammengefasste Durchschnittswerte für die Jahre 1999 bis 2003. Die Berufungsquote bezieht sich auf das Jahr 2001.
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300.000 neue Stellen entstehen – in welchem Zeitraum, wird allerdings nicht gesagt. Gegen die Validität dieser Befragung gibt es erhebliche Einwände. So wird bei der Interpretation der Ergebnisse außer Acht gelassen, dass die Erhöhung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage die unbedingte und unumgängliche Voraussetzung für Neueinstellungen ist. In der Fragestellung wurde diese einfach vorausgesetzt, indem gefragt wurde, ob die Betriebe bei einer entsprechenden konjunkturellen Lage neue Mitarbeiter/innen einstellen würden, wenn durch eine Gesetzesänderung sichergestellt würde, dass für diese das Kündigungsschutz-gesetz nicht sofort gelten würde. Die Forsa-Fragen richteten sich nicht auf eine empirisch nachprüfbare konkrete personalpolitische Praxis, sondern lediglich auf Einstellungsabsichten. Zuverlässige Aussagen über das tatsächliche Verhalten von Kleinstbetrieben lassen sich auf Grundlage dieser Daten nicht treffen. Damit sind die Befunde von Forsa eher als das Ergebnis einer Meinungsumfrage zu bewerten, in der die (politische) Einstellung der Kleinstbetriebe zum Kündigungsschutzgesetz erhoben wurde. Auch eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) (Janssen 2004) meint, herausgefunden zu haben, dass der Kündigungsschutz die Entstehung neuer Arbeitsplätze verhindere. Es handelt sich auch hierbei um eine reine Meinungsumfrage, die allerdings eine überaus skeptische Haltung der Arbeitgeber gegenüber dem Arbeitsrecht widerspiegelt. Auch die Daten der WSIBefragung zur betrieblichen Personalpolitik (2003) belegen diese skeptische Haltung (Pfarr et al. 2005). Die IW-Studie fragt z.B. nach den Bedingungen für Neueinstellungen und stellt als Antwortalternativen lediglich Verminderungen des arbeitsrechtlichen Schutzes zur Auswahl, nicht aber die Verbesserung der ökonomischen Lage des Unternehmens. Andere Meinungsumfragen zeigen dagegen ein anderes Bild: Die gemeinsame Studie des Manager Magazins und Watt Deutschland zieht aus ihrer Befragung folgendes Fazit: „Nur eine Minderheit der befragten Unternehmen hat mit dem Tarif- und Arbeitsrecht Probleme. 30% geben an, sie hätten Probleme mit den Regulierungen des Arbeitsmarktes. Selbst Firmen in nicht guter Lage geben dies nur zu 44% an.“ (Perspektive Mittelstand 2003, S. 10).
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Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers
So unbestritten diese Erkenntnisse sind, so wenig finden sie Eingang in die öffentliche Diskussion, die Medien und vor allen Dingen in die Gesetzesbegründungen. An diesem Phänomen knüpft die Frage an: Darf der Gesetzgeber den aktuellen Stand von Forschung und Wissenschaft in seinen Gesetzesbegründungen einfach ignorieren, oder muss er ihn zur Kenntnis nehmen und
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zumindest begründen, wenn seine Gesetzesvorhaben sich nicht danach ausrichten? Rechtlich gesehen hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsfreiraum. Die getroffene Maßnahme muss nicht die effizienteste sein (BVerfG, Beschluss vom 29.6.2004, 2 BvL 8/02, Rn. 45). Sie muss nur grundsätzlich zur (verfassungsrechtlich legitimierten) Zielerreichung geeignet sein und darf nicht willkürlich erscheinen. Ein Mittel ist bereits dann im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, wenn mit seiner Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann, wobei die Möglichkeit der Zweckerreichung genügt. Auf dem Gebiet der Arbeitsmarkt-, Sozial- und Wirtschaftsordnung kommt dem Gesetzgeber ein besonders weitgehender Einschätzungs- und Prognosespielraum zu; es ist vornehmlich die Aufgabe des Gesetzgebers, auf der Grundlage seiner arbeitsmarkt-, sozial- und wirtschaftspolitischen Vorstellungen und Ziele und unter Beachtung der Sachgesetzlichkeiten des betreffenden Sachgebiets zu entscheiden, welche Maßnahmen er im Interesse des Gemeinwohls ergreifen will (BVerfG, Beschluss vom 29.12.2004, 1 BvR 2283/03, NZA 2005, S. 153). Aber auch ein Entscheidungsspielraum hat – wie jeder Raum – seine Grenzen. Das Parlament kann von diesem Spielraum nur Gebrauch machen und sich in seinem Rahmen bewegen, wenn es die Rechtstatsachen des zu regulierenden Bereichs zur Kenntnis nimmt. So führt das Bundesverfassungsgericht in seiner neuen Cannabis-Entscheidung aus, Ausgangspunkt der verfassungsrechtlichen Prüfung ist die vom Gesetzgeber vorgenommene „konkrete Zielsetzung zur Erreichung des Zwecks“ (Beschluss vom 29.6.2004, 2 BvL 8/02, Rn. 45). Der Umstand, dass die von Cannabisprodukten ausgehende Gesundheitsgefahr anerkanntermaßen geringer sei, als der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes angenommen hatte, führte deshalb nicht zu einer Aufhebung der Vorschrift, weil gleichwohl nicht unbeträchtliche Gefahren und Risiken verblieben, so dass die Gesamtkonzeption des Gesetzes auch weiterhin vor der Verfassung Bestand habe. Hinsichtlich der Frage, ob die Strafbewehrung ein geeignetes Mittel zur Eindämmung des Gebrauchs der Droge Cannabis ist, sei die kriminalpolitische Diskussion noch nicht abgeschlossen. An wissenschaftlich fundierten Erkenntnissen über die Richtigkeit des einen oder des anderen Wegs fehle es. Aus diesen Ausführungen könnte der Umkehrschluss abgeleitet werden, dass die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers da endet, wo wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über die (Un-)Wirksamkeit eines bestimmten Weges vorliegen. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, inwieweit der Gesetzgeber verpflichtet ist, Rechtstatsachen zu ermitteln, wenn entsprechende Forschung nicht zur Verfügung steht. Für die Auffassung, der Gesetzgeber müsse vorhandenes empirisches Datenmaterial zur Kenntnis nehmen, streiten vier Verfassungsprinzipien: das de-
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mokratische Prinzip, das freiheitliche Prinzip, das rechtsstaatliche Prinzip und der Grundsatz der Gleichberechtigung. Laut Art. 20 I GG ist die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Der Rechtsstaatsgedanke findet sich in Art. 20 III GG und Art. 1 III GG. Der freiheitliche Gedanke ergibt sich aus der Ausgestaltung der Grundrechte als Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Aus ihnen ergibt sich auch das absolute Untermaßverbot: Es zwingt den Gesetzgeber in solchen Fällen zu handeln, in denen die Freiheit ohne Einschreiten des Gesetzgebers in unvertretbarer Weise eingeschränkt werden würde. Außerdem hat die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Art. 21 I Satz 3 GG und Art. 11 II Satz 2 GG als Staatsprinzip Eingang in das Grundgesetz gefunden. Das Prinzip der Gleichberechtigung ergibt sich aus Art. 3 I GG.
2.1 Das demokratische Prinzip Der demokratische Prozess gilt deshalb als vorzugswürdige Rechtsform, weil in ihm das Versprechen liegt, durch die Beteiligung verschiedener Interessengruppen einen gerechten Ausgleich zwischen den vorhandenen und gegebenenfalls widerstreitenden Interessen zu finden. Zwar kann es keine absolute Gerechtigkeit geben. Dennoch legitimieren sich demokratische Systeme über genau dieses Versprechen von Gerechtigkeit. In einer parlamentarischen Demokratie geschieht der Ausgleich von Interessen nur selten durch die direkte Beteiligung der betroffenen Gruppen, sondern durch die Beteiligung gewählter Volksvertreter und -vertreterinnen. Die freie Wahl ist ein konstituierendes Prinzip der Demokratie. Ebenso wie die Wählerinnen und Wähler können die Abgeordneten aber nur dann zu einem gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen kommen, wenn sie wissen, worüber sie sprechen. Andernfalls ist eine sachnahe Meinungsbildung in Parlament und Bevölkerung nicht möglich. Ein weiteres konstituierendes Moment der Demokratie ist deshalb das Prinzip der Öffentlichkeit, welches der Kontrolle staatlicher Organe dient. Dieses Prinzip hat in Art. 42 I GG (öffentliche Verhandlung des Bundestages), in Art. 52 III Satz 3 GG (öffentliche Verhandlung des Bundesrates) und in Art. 44 I GG (öffentliche Verhandlung von Untersuchungsausschüssen) Eingang in das Grundgesetz gefunden. Neben der Kontrolle staatlicher Machtausübung durch den Souverän dient die Öffentlichkeit auch der politischen Willensbildung und Information des Wahlvolkes.
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2.2 Das freiheitliche Prinzip Auf der anderen Seite beinhaltet das freiheitliche Prinzip das Versprechen, dass der im demokratischen Prozess gefundene Kompromiss allen Interessen größtmöglichen Raum verschafft. Gewährleistet wird dies durch die Bindung von Recht und Gesetz an die Freiheitsrechte des Grundgesetzes. Die Wesentlichkeitstheorie besagt, dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen. Hierdurch sowie durch das Zitiergebot (ein Gesetz, welches Grundrechte einschränkt, muss diese Grundrechte benennen) des Art. 19 I Satz 2 GG soll gewährleistet werden, dass nicht leichtfertig in Grundrechtspositionen Einzelner eingegriffen wird. Denn im Gegensatz zu Weisungen oder Verwaltungsvorschriften ist die Verabschiedung eines Gesetzes an bestimmte Regeln gebunden, die einerseits die Öffentlichkeit, andererseits die Beteilung aller gewählten Volksvertreter und -vertreterinnen gewährleisten. Aus dem Freiheitsprinzip folgt daher, dass in bestimmten grundrechtsrelevanten Bereichen staatliches Handeln nur auf gesetzlicher Grundlage möglich ist. Entgegen der Auffassung der Positivisten, die nur formale Anforderungen an ein Gesetz stellen, beinhaltet jedoch auch das Gesetz an sich das Versprechen der sachlichen und moralischen Gerechtigkeit – sonst gäbe es keine ‚Unrechtsgesetze’. Dieses Versprechen von Gerechtigkeit spiegelt sich auch in den Anforderungen an die Exekutive, die die Gesetze umzusetzen hat. In ihre Entscheidungen müssen alle relevanten Argumente Eingang finden. Argumente, die mit dem Regelungsgegenstand nichts zu tun haben, dürfen in einem demokratischen Staat nicht Grundlage einer auf ein Gesetz gestützten Entscheidung sein (Waldron 2002). Sachliche Gerechtigkeit kann nur hergestellt werden, wenn die entscheidungserheblichen Tatsachen und auch die voraussichtliche Betroffenheit der beteiligten Personen durch eine Regelung bekannt sind. Dies ist ohne eine Ermittlung der entscheidenden Rechtstatsachen nicht möglich. Für die Exekutive ist dies unbestritten – selbst dann, wenn sie einen Ermessensspielraum hat. Wenn diese Regeln für die Exekutive gelten, warum dann nicht schon für die Legislative?
2.3 Das rechtsstaatliche Prinzip Das rechtsstaatliche Prinzip beinhaltet unter anderem das Prinzip der Gewaltenteilung, der allgemeinen Gleichbehandlung, des Vorranges der Verfassung und der Gesetze, die Gewährleistung von Rechtsschutz und das Recht auf den ge-
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setzlichen Richter. Das Rechtsstaatsprinzip verspricht einerseits die Einhaltung einer bestimmten Form, die in Rechtssicherheit resultiert: Irgendwann sollen Betroffene sich auf eine bestimmte Entscheidung verlassen können. Eine Entscheidung wird rechtskräftig. Andererseits wird durch das rechtsstaatliche Prinzip auch materieller Inhalt, wie beispielsweise die Verhältnismäßigkeit einer Entscheidung, versprochen. Der materielle Anspruch kann das Prinzip der Rechtssicherheit allerdings nur in seltenen Fällen durchbrechen: Im Strafrecht ist dies der Fall, wenn neue Beweismittel, die neue Tatsachen beweisen, aufgetaucht sind oder wenn sich später herausgestellt hat, dass ein Urteil auf falschen Tatsachen beruht. Die Rechtskraft eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts kann durch erneute Vorlage einer Rechtsfrage nur aufgehoben werden, wenn tatsächliche oder rechtliche Veränderungen eingetreten sind, die die Grundlage der früheren Entscheidung berühren und deren Überprüfung nahe legen (BVerfG, Beschluss vom 29.6.2004, 1 BvR 8/02, Rn. 37). Auch hier stellt sich die Frage: wenn die Rechtsanwender und -anwenderinnen in den Gerichten alle relevanten Tatsachen zur Kenntnis nehmen müssen, welches Argument könnte den Gesetzgeber davon entbinden, Gleiches zu tun?
2.4 Das Prinzip der Gleichbehandlung Viertens fordert der Gleichheitssatz, dass „Gleiches gleich und Ungleiches ungleich“ behandelt wird. Die für eine Gruppenbildung notwendigen Kriterien müssen erkennbar und mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Um jedoch festzustellen, wer gleich und wer ungleich ist und wer durch eine Regelung wie betroffen ist, muss wiederum die Realität zur Kenntnis genommen werden. Dieses Prinzip bindet den Gesetzgeber unmittelbar. Stärker als die zuvor genannten Verfassungsprinzipien schränkt es die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers ein. Seinem Gestaltungsspielraum sind hier umso engere Grenzen gesetzt, je stärker sich die Ungleichbehandlung von Personen oder Sachverhalten auf die Ausübung grundrechtlich geschützter Freiheiten nachteilig auswirken kann (BVerfG, Beschluss vom 15.7.1998, 1 BvR 1554/89). Ist dies der Fall, prüft das Bundesverfassungsgericht im Einzelnen nach, ob für die vorgesehene Differenzierung Gründe von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleichen Rechtsfolgen rechtfertigen können.
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Einschränkung des gesetzgeberischen Entscheidungsspielraums durch die Bindung der Gesetzgebung an die Ergebnisse empirischer Forschung?
3.1 Das Problem der Erforschung der Wahrheit Das einzige Argument für den weiten Handlungsspielraum des Gesetzgebers ist der Umstand, dass eine zu enge Bindung der Politik an die Wissenschaft die Handlungsfähigkeit der Politik gefährden kann. Politische Entscheidungen, sich aus bestimmten Wertungen gegen die effektivste, schnellste, „beste“ Lösung zu entscheiden, würden unmöglich, wenn die Politik zu eng an die Ergebnisse von Wissenschaftlern/innen gebunden wäre. Denn die Realität lässt sich häufig schwer ermitteln, zumal, wenn es um so subjektive Dinge wie Einstellungsentscheidungen geht. Allerdings gibt es einfach zu ermittelnde Tatsachen: beispielsweise, wie viele Klagen gegen Kündigungen es in der Bundesrepublik gibt. Eine andere, viel schwierigere Frage ist, welchen Einfluss dieser Umstand auf das Verhalten der Personalverantwortlichen in den Unternehmen hat. Diejenigen Tatsachen, die im Strafrecht die „inneren Tatsachen“ genannt werden, also der gesamte Bereich der Motivationsforschung, sind weit schwerer zu ermitteln als äußere, beobacht- und zählbare Umstände. Das Handeln der Betroffenen wird von unterschiedlichen Handlungsanforderungen bestimmt. Ein einziger Umstand lässt sich nur schwer als entscheidende Determinante isolieren. Manchmal ist die Rechtswirklichkeit, auf die sich eine Regulierung beziehen soll, daher sehr unübersichtlich. Je schwerer ein Zusammenhang zu ermitteln ist, desto schwerer fällt auch die Beurteilung, ob ein Forschungsergebnis valide ist. Wurden alle entscheidungserheblichen Faktoren berücksichtigt? Wurde die befragte Gruppe sorgfältig ausgesucht, sodass die Ergebnisse repräsentativ sind? Traten eventuell systematische Verzerrungen (bias) auf? Um die Handlungsfähigkeit der Politik zu gewährleisten, kann der Gesetzgeber daher nicht an das Ergebnis eines jeden beliebigen Forschungsprojekts gebunden sein. Allerdings gibt es auch für die Beurteilung der Stichhaltigkeit von Forschungsergebnissen Kriterien, die es einer kundigen Person ermöglichen, den Aussagegehalt und die Schwächen einer Studie zu ermitteln. Juristen und Juristinnen besitzen diese Kunde qua Ausbildung nicht. Die Schwierigkeit, das Handeln bestimmter Akteure und den Aussagewert empirischer Sozialforschung zu erfassen, darf allerdings auch nicht dazu führen, dem Gesetzgeber einen Freibrief zu geben, Tatsachen und Forschungsergebnisse zu ignorieren. Die Unmöglichkeit, die Folgen konkreter Rechtsgestaltung ganz exakt abzuschätzen, berechtigt nicht dazu, zugunsten anekdotischer Evidenz völlig auf rechtstatsächliche Fundierung zu verzichten. Dies gilt umso mehr, je
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schwerer der Eingriff in Grundrechtspositionen ist, der durch das gesetzgeberische Verhalten hervorgerufen wird. Da abhängig Beschäftigte – schon aus der Bezeichnung ersichtlich – auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind, um ihre ökonomische Lebensgrundlage zu sichern, ist ein Eingriff in diese Grundlage, beispielsweise durch den Abbau des Schutzes vor ungerechtfertigten Kündigungen, erheblich. Die zur Lösung der Probleme auf dem Arbeitsmarkt geführte rechtspolitische Diskussion zum Abbau von Arbeitnehmerschutz sollte daher auf der Grundlage möglichst objektiver und repräsentativer Erkenntnisse geführt werden.
3.2 Einschränkung der Einschätzungsprärogative durch die Pflicht, einschlägige Forschung zur Kenntnis zu nehmen? Eine solche Verpflichtung schränkt keinesfalls den Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ein, sie stellt nur Anforderungen an die Form. Denn es muss unterschieden werden zwischen der Pflicht, Forschungsergebnisse zur Kenntnis zu nehmen, und der Abgabe von Entscheidungsverantwortung an die Wissenschaft. Entscheidungen auf der Grundlage bestimmter, sich wandelnder Wertvorstellungen zu treffen, ist ureigenste Aufgabe von Politik und sollte das auch bleiben. Welche Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen von Wissenschaft und Forschung gezogen werden, bleibt Sache der Politik. Wie der Begriff schon deutlich macht, hat der Gesetzgeber einen weiten Einschätzungsspielraum. Der Einschätzungsspielraum gibt dem Gesetzgeber das Recht, das Gewicht verschiedener Interessen festzulegen. Vor allen Dingen aber darf der Gesetzgeber Werte festlegen, die seine Politik leiten. Es ist ihm nicht verwehrt, eine Regelung zu treffen, die der Allgemeinheit möglicherweise mehr Kosten auferlegt als eine andere, die dafür aber bestimmte Ziele besser verwirklicht. Hierzu gehört das Recht des Gesetzgebers, seine Bürger und Bürgerinnen zu sozialem Verhalten zu verpflichten. Der Einschätzungsspielraum beinhaltet jedoch die Pflicht, die für diese Einschätzung erheblichen Tatsachen und hier die einschlägige empirische Forschung zur Kenntnis zu nehmen. Diese Verpflichtung des Gesetzgebers bedeutet daher keinesfalls, sich dem Diktat empirischer und ökonomischer Argumente aus dieser Forschung unterwerfen zu müssen, sondern lediglich, sie zur Kenntnis zu nehmen und in den Abwägungsprozess einfließen zu lassen. Denn wie oben ausgeführt, beinhaltet das freiheitlich-demokratischrechtsstaatliche Prinzip, aus dem der Gesetzgeber seine Legitimation zieht, das Versprechen eines adäquaten Interessenausgleichs. Diese kann nur auf dem Boden der Tatsachen stattfinden. Da die Pflicht zur Kenntnisnahme von Tatsachen keine Einschränkung des Entscheidungsspielraumes bedeutet, spricht kein
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Argument dafür, dem Gesetzgeber das Recht einzuräumen, Forschungsergebnisse zu ignorieren. Die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung für den Diskussionsprozess lässt sich im Übrigen täglich beobachten: In politischen Debatten angeführte Argumente beinhalten häufig eine bestimmte Wirklichkeitsbeschreibung bzw. die Annahme bestimmter Wirkungszusammenhänge mit dem Hinweis auf ‚die Wissenschaft‘, die dem Argument mehr Gewicht verleihen soll. Die Grenze der Einschätzungsprärogative wird an folgendem Beispiel deutlich: Der letzte deutsche Juristentag diskutierte unter anderem über das Thema „bessere Gesetze“ und hierbei die Frage, inwieweit Gesetze einer Wirkungsforschung unterworfen werden sollten. Ein Redner merkte an, dass der Einigungsvertrag niemals unterzeichnet worden wäre, wenn die Wirkungsforschung gesetzlich vorgeschrieben gewesen wäre. Den meisten anwesenden Teilnehmern und Teilnehmerinnen erschien der Gedanke absurd, eine Untersuchung zur Abschätzung der Wirkung der Einheit hätte diese verhindern können. Ein solcher Gedanke verkennt aber den Sinn der Wirkungsforschung: nicht Diktat der Forschung, sondern Verbesserung des Diskussionsprozesses. Selbstverständlich kann der Gesetzgeber gravierende Veränderungen wie die deutsche Einheit beschließen, die nicht so sehr aus ökonomischer, wohl aber aus politischer oder historischer Sicht sinnvoll oder gar zwangsläufig erscheinen. Allerdings, wären die Ergebnisse einer solchen Untersuchung zu den Auswirkungen und Kosten der Deutschen Einheit in der Öffentlichkeit diskutiert worden, dann hätte die Politik gute – historische, politische - Argumente dafür anführen müssen, warum die Einheit trotz der hohen Kosten durchgeführt werden soll. Ein solches Vorgehen hätte den Diskussions- und Entscheidungsprozess für die Bevölkerung transparenter gemacht und möglicherweise auch die Akzeptanz des Verhandlungsergebnisses erhöht. Die Berücksichtigung von Wissenschaft und Forschung zwingt zu einer besseren Begründung von Gesetzesvorhaben und damit zu einer Verbesserung der Qualität des politischen Entscheidungsprozesses.
3.3 Die aktuelle Diskussion um den Arbeitsmarkt: Es regiert das Diktat der Ökonomie Hier wird ein zweites Problem der aktuellen Debatte um den Arbeitsmarkt deutlich: Im Gegensatz zur Diskussion um die deutsche Einheit, wo ökonomische Argumente als unpatriotisch galten, scheint es hier, als hätten ausschließlich ökonomische Argumente Gewicht. Der Kündigungsschutz verhindere Einstellungen, die aus ökonomischer Sicht sinnvoll wären. Also muss er gelockert
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werden. Weitere Einwände sind zwecklos, da ihnen das Prädikat „gemeinschaftsschädigend“ oder „arbeitsplatzvernichtend“ anhaftet. Das ist nicht nur deshalb erstaunlich, weil diese Annahme als von der Arbeitsmarktforschung widerlegt gelten kann, sondern auch deshalb, weil über die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte die im Grundgesetz festgelegten Grundfreiheiten als nichtökonomische Werte auch im Arbeitsleben Geltung beanspruchen: die Berufsfreiheit des Art. 12 I GG, die Sozialbindung des Eigentums in Art. 14 II GG, die Koalitionsfreiheit des Art. 9 III GG. Der Präsident des Bundes der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, ging so weit zu behaupten, allein die Schaffung von Arbeitsplätzen wäre ein gesellschaftlicher Wert, der die Arbeitgeber von jedem weiteren sozialen Engagement entbinden würde. Mit sozialem Engagement waren hier Sozialversicherung und Arbeitsrecht gemeint. Deren Finanzierung bzw. Absicherung gehörten in die öffentliche Hand. Prof. Dr. Volker Rieble vom Zentrum für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR) erklärte auf einem Vortrag am 17.9.2004 in München, es gäbe in Deutschland eine moderne Form der Sklaverei: produktive Beschäftigte, die mit dem durch sie geschaffenen Mehrwert weniger produktive Arbeitsplätze „subventionieren“ würden. Denn das Arbeitsrecht würde den Abbau dieser nichtproduktiven Kräfte verhindern. Auch hier: das Diktat der Ökonomie. Die Begrenztheit der Diskussion geht so weit, dass selbst ökonomische Argumente für den Kündigungsschutz keinen Eingang in die öffentliche Diskussion finden: zum Beispiel, dass sich Beschäftigte, die sozial abgesichert sind und sich vor ungerechtfertigter Kündigung sicher wähnen, stärker mit einem Unternehmen identifizieren, dass sie eher bereit sind, in so genanntes betriebsspezifisches Humankapital zu investieren, und in der Konsequenz produktiver arbeiten (Walwei 2000).
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Einfluss der verkürzten Diskussion auf die politische Kultur
Das völlige Außer-Acht-Lassen der für die Entscheidungsfindung erheblichen (fehlenden) Wirkungen des Kündigungsschutzrechts auf den Arbeitsmarkt ist nicht ohne Auswirkung auf die Glaubwürdigkeit der Politik. Die sachliche Erklärungsnot der Politik führt dazu, dass immer häufiger statt Sachargumenten scheinbare Notwendigkeiten behauptet werden: so das Argument, die Gesellschaft müsste jetzt „Mut zu Reformen“ haben. Warum die Gesellschaft Mut zu Reformen haben muss und bestimmte Einschnitte in das soziale Netz ertragen werden sollen, wird nicht mit empirisch belegten Argumenten begründet. Reformen werden um der Reformen willen durchgeboxt. Albrecht Müller schreibt
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in seinem Buch „Die Reformlüge“ (2004, S. 25): „Seit fast einem halben Jahrhundert beobachte ich die politischen Abläufe. In all diesen Jahren habe ich noch keine Zeitspanne erlebt, in der die politische Debatte so von Merkwürdigkeiten und intellektuellen Zumutungen geprägt war wie heute“. Neun Mal hat Bundeskanzler Schröder in den sieben Jahren seiner Amtszeit mit Rücktritt gedroht, sollte das Parlament seine Reformen nicht mittragen, vor allen Dingen zur Durchsetzung der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze – ein Verhalten, welches dem demokratischen Prozess eher abträglich ist. Zu diesem Verlust einer fundierten Diskussionskultur passt die Veränderung des Gesetzgebungsprozesses, welche bei den Hartz- und Agenda 2010-Gesetzen erkennbar wurde: Während die öffentliche Diskussion in vollem Gange war, war ein begründeter Gesetzentwurf nicht erhältlich. Dieser wurde erst kurz vor den entscheidenden Abstimmungen im Parlament erstellt bzw. der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Eine fachliche Diskussion des Entwurfs wurde hierdurch unterbunden. Ebenso die Einbindung der Fachgremien der Ministerien. Die Prüfung der Entwürfe nach Gender-Gesichtspunkten – nach der Koalitionsvereinbarung ein Muss für jedes Gesetzesvorhaben – ist unterblieben. Möglicherweise ist so zwar weniger aufgefallen, dass die für das Gesetzesvorhaben vorgebrachten Argumente nicht stichhaltig waren. Diejenigen, denen der demokratische Prozess am Herzen liegt, mussten sich mit ihrer Kritik zurückhalten, weil eine fundierte Kritik ernsthaft erst an einem vorliegenden Entwurf geäußert werden kann. Die Befürchtung, die vermehrte Einbeziehung der Wissenschaft in die Politik würde zu einer „Sachverständigendiktatur“ führen, ist weniger begründet als die Befürchtung der Selbstdelegitimation des Gesetzgebers durch ein nicht vermittelbares, weil nicht begründetes Verhalten. Dies gilt nicht nur für die Arbeitsmarktpolitik. Schafft es die Politik nicht, zu einer Entscheidungsfindung zurückzukehren, in der verifizierbare Argumente eine Rolle spielen, wird die „Politikverdrossenheit“, die sich ausdrückt in fehlendem Interesse, an Willensbildungsprozessen vor Ort und durch Wahlen mitzuwirken, sich schwer umkehren lassen. Politiker und Politikerinnen verlieren hierdurch mehr und mehr die Legitimation für ihr Handeln. Die aktuelle Politik geht daher auf Kosten der Glaubwürdigkeit der Politik und der Demokratie.
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Ein Lösungsvorschlag
Mit Ausnahme des Gleichheitsgrundsatzes sind die oben genannten Verfassungsprinzipien nicht ernsthaft justitiabel, d.h., ein Verstoß gegen sie kann vom Gericht nur schwer sanktioniert werden. Das darf aber nicht dazu führen, dass sie missachtet werden. Vielmehr muss sich die Politik trotzdem an ihnen orien-
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tieren. Eine Möglichkeit, der Ignoranz gegenüber Forschungsergebnissen entgegenzutreten, ist, in den Gesetzesbegründungen einen Punkt „Stand der Wissenschaft und Forschung“ einfügen. Denn normalerweise enthält jede Gesetzesbegründung lediglich die Punkte „Problem“, „Lösung“, „Alternativen“ und „Kosten“. Der Gesetzgeber wäre dann nach wie vor in seiner Entscheidung frei. Er wäre nur gezwungen, diese besser zu begründen. Im Bereich des Kündigungsschutzes wäre das allerdings schwierig. Die Gesetzesbegründung für eine weitere Anhebung des Schwellenwertes müsste dann ungefähr so lauten: „Obwohl in den letzten zehn Jahren fünf nationale und sieben internationale Studien zu dem Ergebnis gekommen sind, dass die Rigidität des Kündigungsschutzes keinen Einfluss auf das Niveau der Arbeitslosigkeit hat, soll mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Geltungsbereich des Kündigungsschutzes weiter eingeschränkt werden. Es wird eine Ungleichbehandlung eingeführt zwischen Beschäftigten in Betrieben mit weniger als 20 Beschäftigten und Beschäftigten in größeren Betrieben. Es wird erwartet, dass hierdurch neue Arbeitsplätze entstehen.“ Dann müsste eine Begründung folgen. Eine solche Praxis würde auch die Grundlagen der Meinungsbildung für die Öffentlichkeit transparenter machen. Die Wissenschaftslandschaft, für viele Menschen und Beschäftigte in Presse, Funk und Fernsehen ein unüberschaubarer Dschungel, würde von einer Stelle, die es sowieso tun müsste, nämlich dem zuständigen Ministerium, aufgearbeitet werden. Das würde auch das Niveau des öffentlichen Meinungsbildungsprozesses heben.
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Ergebnis
Die aktuelle Debatte um den Arbeitsmarkt muss als Empirie-resistent bezeichnet werden. Die gängigen Annahmen der Diskussion erweisen sich bei einer sachlichen Überprüfung als falsch. Diese Empirieresistenz spiegelt sich nicht nur in der medialen Diskussion, sondern auch in den Gesetzesbegründungen der Arbeitsmarktreformen der letzten Jahre wider. Es dominiert der „Mythos Markt“, also (unbelegte beziehungsweise widerlegte) ökonomische Argumente gegen eine Regulierung des Arbeits-Marktes. Dabei ist der Gesetzgeber aus verschiedenen verfassungsrechtlichen Prinzipien dazu verpflichtet, die entscheidungserheblichen Tatsachen und damit die einschlägige Forschung zur Kenntnis zu nehmen. Zwar gibt es für ein Handeln gegen diese Verfassungsgebote keine rechtliche Sanktion. Allerdings sind die Auswirkungen auf die Glaubwürdigkeit des politischen Prozesses erheblich.
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Arbeitnehmerschutz und vor allen Dingen der Kündigungsschutz wurden geschaffen, um das Machtgefälle zwischen abhängig Beschäftigten und Arbeitgebern auszugleichen. Wenn also der Abbau von Arbeitnehmerschutz ohne sachliche Rechtfertigung gefordert wird, dann ist der Vorwurf nicht unberechtigt, dies geschehe, um das Machtgefälle wiederherzustellen, d.h. Arbeit zu verbilligen. Hierzu passt auch, dass in jüngster Zeit dieses Machtgefälle zwar nicht mehrheitlich, aber wiederholt in Frage gestellt wird. Diejenigen, die – zur Senkung der Arbeitslosigkeit – nach einer Deregulierung des Kündigungsrechts rufen, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, allein die Interessen der Arbeitgeberseite zu vertreten – auf Kosten nicht nur der Rechte der Beschäftigten, sondern auch der demokratischen Kultur. Die fehlenden sachlichen Argumente werden dann häufig durch scheinbare Notwendigkeiten – „Mut zur Reform“, „Reformstau“ – überdeckt; möglicherweise, um das wahre Ziel zu verbergen. Der Abbau von Arbeitnehmerrechten vergrößert allerdings nur scheinbar den Handlungsspielraum auf dem Arbeitsmarkt: Zwar führt dies möglicherweise zu einer Verbilligung von Arbeit. Langfristig wird der Abbau von sozialem Schutz im Arbeitsrecht der Allgemeinheit wahrscheinlich eher schaden: Das Kapital einer Wissensgesellschaft wie Deutschland sind ihre Bürgerinnen und Bürger. Der Gesellschaft hilft ein hohes Bildungsniveau, motivierte Beschäftigte, das Ankurbeln der Binnenkonjunktur sowie eine soziale Absicherung, die wirtschaftliche Talfahrten abfedert. Dem Arbeitsmarkt sowie der demokratischen Kultur in diesem Land würde es daher gut tun, die Ergebnisse empirischer Wirkungsforschung zur Kenntnis zu nehmen.
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Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“
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Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“ – Chancen auf mehr Beschäftigung? Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“
Tim Lohse
Zusammenfassung Angesichts einer stetig steigenden Arbeitslosenquote erließ die Bundesregierung im Jahr 2004 Hartz IV, die größte Reform des Sozialstaats in der Geschichte der Bundesrepublik. Diese Reform, die zu Beginn des Jahres 2005 in Kraft getreten ist, zielt vor allem auf die Erhöhung der Beschäftigung. Kern ist die Stärkung der Eigenverantwortlichkeit und die äußerst umstrittene Reduktion von Transferleistungen für hilfebedürftige, aber erwerbsfähige Arbeitslose. Der vorliegende Beitrag beschreibt die Anstrengungen der Regierung, das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen, und umreißt die wesentlichen Veränderungen der Sozialleistungsgesetze im Zuge von Hartz IV. Die Analyse des deutschen Sozialstaats offenbart einige wichtige Beschäftigungshemmnisse. Aus einem optimalsteuertheoretischen Modell wird das optimale Verhältnis von Arbeitslosengeld II und Sozialhilfe ermittelt und mit dem Status quo verglichen. Von besonderem Interesse sind dabei nicht nur die Transferniveaus, d.h. die Höhe der staatlichen Leistungen als solche, sondern auch die Regelungen über die Zumutbarkeit einer Arbeitsstelle. Diese spiegeln eine veränderte Wertschätzung der Arbeit wider. Abschließend werden mögliche Beschäftigungs- und Wohlfahrtseffekte der Reform skizziert sowie an einem Beispiel illustriert.
Deutschland im Aufbruch Der Sozialstaat ist ein Kernelement unserer sozialen Marktwirtschaft, ja, er ist gerade der entscheidende Part im Vergleich zu anderen bedeutenden Wirtschaftsräumen der Erde. Durch ihn werden Schwache protegiert, und jedem wird eine Mindestteilhabe am ökonomischen Fortschritt ermöglicht. Somit stützt er wesentlich die Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung. Werden die vorhandenen finanziellen Mittel jedoch knapp, stellt sich die Frage ihrer gerech-
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ten Verteilung wesentlich schärfer als in jenen Phasen, in denen gleichsam jeder „bedient“ werden kann. Angesichts einer persistent hohen und damit volkswirtschaftlich sehr teuren Arbeitslosigkeit wurde vielfach erörtert, ob nicht gerade die Ausgestaltung des Sozialstaats den Anreiz zur Arbeitsaufnahme derart mindert, dass die erlangten Umverteilungsgewinne durch die erlittenen Effizienzverluste überkompensiert werden. Ein wesentlicher Ansatzpunkt der Agenda 2010 war der Bericht über „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ einer von der Bundesregierung im Februar 2002 beauftragten Gruppe, nach ihrem Vorsitzenden „Hartz-Kommission“ genannt. Von den vier Teilen der „HartzReform“ ist für die hier diskutierte Problematik insbesondere das noch näher zu erläuternde Gesetz „Hartz IV“ von Bedeutung. Es markiert den sozial- und arbeitsmarktpolitischen Aufbruch Deutschlands. Mit den im Zuge der Umsetzung der Agenda initiierten Reformen gilt es, der Kostenexplosion einer sich über die Jahre zunehmend fehlentwickelten und teils falsch verstandenen Sozialstaatlichkeit Einhalt zu gebieten, um damit einen Kollaps der Sozialsysteme zu verhindern und dem Problem der Arbeitslosigkeit beizukommen. Im Sinne der Nachhaltigkeit sind die Leitmotive eine Stärkung der individuellen wirtschaftlichen Eigenverantwortung sowie die verlässliche Absicherung einer nur mit Augenmaß dimensionierten Solidarität. Doch wie sind die Veränderungen bei den Sozial- bzw. Lohnersatzleistungen ökonomisch zu beurteilen, und, vor allem, welche Beschäftigungseffekte sind zu erwarten? In diesem Beitrag werden im Folgenden zunächst die Mängel des deutschen Sozialstaats im Jahr 2004 skizziert und die politischen Leitlinien der Reformen dargelegt. Alsdann werden die Veränderungen der Sozialleistungsgesetze überblicksartig präsentiert, bevor speziell auf das Niveau des Arbeitslosengeldes II (ALG II) und der neuen Sozialhilfe eingegangen wird. Das Verhältnis dieser beiden staatlichen Alternativeinkommen zueinander wird vor dem Hintergrund des ihnen zukommenden Charakters einer beschäftigungshemmenden Lohnuntergrenze im Rahmen eines optimalsteuertheoretischen Modells analysiert. Es werden mögliche Beschäftigungseffekte der neuen Sozialleistungen erörtert, bevor mit einem Fazit geschlossen wird.
Reformen waren Pflicht Bis Ende des Jahres 2004 existierten für erwerbsfähige Arbeitslose noch drei verschiedene soziale Sicherungssysteme nebeneinander:
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das Arbeitslosengeld als beitragsfinanzierte und zeitlich begrenzte Leistung im Rahmen der Arbeitslosenversicherung, die Arbeitslosenhilfe als bedürftigkeitsorientierte, lohnabhängige und aus Bundessteuermitteln erbrachte Leistung, die Sozialhilfe als von den Kommunen gewährter Transfer zum Schutz gegen sämtliche Lebensrisiken.
Diese Ausgestaltung des Sozialstaats wies beträchtliche Mängel auf. De jure setzte der Erhalt von Arbeitslosenhilfe zwar Bedürftigkeit voraus (§ 190 Abs. 1 Nr. 5 Sozialgesetzbuch (SGB) III), doch weil diese Prüfung der Bundesagentur für Arbeit oblag, die sich ihrerseits die gezahlten Gelder vom Bund rückvergüten ließ, lag ein Anreizproblem hinsichtlich einer effektiven Bedürftigkeitsprüfung vor. Des Weiteren war das Nebeneinander zweier bedürftigkeitsabhängiger Sozialleistungssysteme, nämlich der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe, ökonomisch kaum begründbar und aufgrund vorhandener Parallelstrukturen kostenträchtig, zumal beide Leistungen eben auch gleichzeitig bezogen werden konnten. Vor allem wurde argumentiert, dass das hohe Niveau staatlicher Transferleistungen den Charakter einer Lohnuntergrenze habe und bei Lohnverhandlungen entsprechende Berücksichtigung fände (vgl. etwa Wissenschaftlicher Beirat beim BMWi 2002, S. 13). Die hohe Arbeitslosigkeit gerade unter geringqualifizierten1 belegte anschaulich, dass eine marktgerechte Entlohnung wegen der Überbürdung des Lohns mit der von seiner wirtschaftlichen Grundfunktion des Ausgleichens von Angebot und Nachfrage independenten Sicherung einer menschenwürdigen Existenz nicht mehr stattfand. Teilweise ergab sich aus der Summe staatlicher Leistungen ein Alternativeinkommen, welches bei Transferentzugsraten von 100% jeden Anreiz zur Aufnahme einer regulären Erwerbstätigkeit unterminierte. De lege lata betrug die Arbeitslosenhilfe zwar maximal 57% des Leistungsentgelts, doch wenn man auch Wohn- und Kindergeld, das Einkommen anderer Haushaltsmitglieder, Steuern, Sozialabgaben sowie zulässige Nebenerwerbe berücksichtigte, ergaben sich effektive Entgeltersatzquoten um 80%, Alleinerziehenden wurde gar 90 bis 95 Prozent des früheren Nettoeinkommens gewährt (vgl. Breyer et al. 2004, S. 32). Pointiert ließ sich demnach feststellen, dass der Sozialstaat selbst Arbeitslosigkeit induziere – eine eindringliche Mahnung zu seiner Reformierung.2 1
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In den 90er Jahren hatten beispielsweise 50% der in Westdeutschland als arbeitslos registrierten Personen keine abgeschlossene Berufsausbildung. Vgl. Bundesanstalt für Arbeit, 2001, S. 197. Eine solche Feststellung, wonach der Wohlfahrtsstaat nicht nur nicht zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit und Armut beiträgt, sondern vielmehr deren Ent- und Bestehen befördert, ist erstmalig von Murray im Hinblick auf die USA getroffen worden (Murray 1984).
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Leitlinien der Reformen In seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 vor dem Deutschen Bundestag (so genannte „Agenda-Rede“) hat der damalige Bundeskanzler Schröder aufgezeigt, welches die Zielrichtung der von ihm geführten Bundesregierung in Bezug auf die Reform des Arbeitsmarktes sowie den Umbau der Sozialsysteme ist: „Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigenleistung von jedem einzelnen abfordern müssen“ (Schröder 2003, S. 8). Anstatt der üblichen Begründungen der Arbeitslosigkeit mit arbeitssparendem Fortschritt oder der Internationalisierung der Märkte konstatierte er strukturelle Ursachen als Beschäftigungshemmnisse. Unter dem sprichwörtlichen Motto „Mut zur Veränderung“ hatte der Kanzler viele Vorhaben skizziert, die rund anderthalb Jahre später die Gemüter erhitzten. Eingeleitet durch seine provokante Frage: „Sind die sozialen Hilfen wirklich Hilfen für die, die sie brauchen?“ (Schröder 2003, S. 22), verkündete Schröder, dass „wir die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen werden, und zwar einheitlich auf einer Höhe – auch das gilt es auszusprechen –, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen wird“ (Schröder 2003, S. 22). Zusammen mit der Absenkung der Transferentzugsraten, so der Kanzler weiter, „setzen [wir] damit ein eindeutiges Signal für diejenigen Menschen in unserer Gesellschaft, die länger als zwölf Monate arbeitslos sind“ (Schröder 2003, S. 23). Hinsichtlich des diesen Ausführungen zugrunde liegenden Staatsverständnisses las man in einem Eckpunktepapier der Koalitionsarbeitsgruppe betreffs derjenigen, die zu einer eigenständigen Bedarfssicherung nicht in der Lage sind: „Die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ... werden unter Berücksichtigung des Bedarfsdeckungsgrundsatzes so weit wie möglich pauschaliert ...“ (Bündnis 90/Die Grünen Bundestagsfraktion 2003, S. 18) Mit der gegen viele Widerstände durchgesetzten Agenda 2010 wurde schrittweise ein Reformprozess eingeleitet, um strukturelle Beschäftigungshemmnisse anzugehen. Als charakteristischer Grundsatz kann die Betitelung des ersten Kapitels des neuen SGB II angesehen werden: „Fördern und Fordern“.
Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II und eine neue Sozialhilfe Hinsichtlich des Arbeitslosengeldes I ist vorwegzuschicken, dass mit dem bereits seit dem 1. Januar 2004 gültigen Artikel 3 des „Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt“ vom 24.12.2003 (BGBl. Jg. 2003 Teil I Nr. 67 S. 3002ff.) die Anspruchsdauer auf diese Versicherungsleistung nur noch übergangsweise maximal 32 Monate betrug. Für Ansprüche, die seit dem 31. Januar 2006 entste-
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hen, gilt dann gemäß §§ 434j Abs. 3 sowie 434l SGB III eine grundsätzliche Höchstbezugsdauer von zwölf Monaten und für Arbeitslose nach Vollendung des 55. Lebensjahres von maximal 18 Monaten. Die zentralen Veränderungen zum 1. Januar 2005 bestanden in der Neuschaffung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) sowie des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII). Grob gefasst erhalten erwerbsfähige Hilfebedürftige Leistungen nach dem SGB II, erwerbsunfähige hingegen nach dem SGB XII. Die vorstehende Abbildung stellt die entscheidenden juristischen Veränderungen mit Bezug auf die im Einzelnen betroffenen Personengruppen dar. Seit Beginn des Jahres 2005 erhalten Personen, die zwischen 15 und 65 Jahre alt, erwerbsfähig und hilfebedürftig3 sind, das neue Arbeitslosengeld II gemäß Kap. 3 Abschn. 2 Unterabschn. 1 SGB II. Die Arbeitslosenhilfe wurde mit dem Jahreswechsel 2004/2005 abgeschafft. Damit wurden die Bezieher der alten Arbeitslosenhilfe und die erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger einander gleichgestellt, wobei aufgrund verschärfter Berücksichtigung des Einkommens des Partners nicht jedem Hilfeempfänger ALG II gewährt wird. Familienangehörige des Beziehers von ALG II erhalten, sofern mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebend und selbst nicht erwerbsfähig, Sozialgeld nach Kap. 3 Abschn. 2 Unterabschn. 2 SGB II. Diese beiden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sind aus Steuermitteln finanzierte staatliche Fürsorgeleistungen und orientieren sich deshalb in ihrer monatlichen Regelleistungshöhe von 345 ¼ West bzw. 331 ¼ Ost am Bedarf der Empfänger und nicht am letzten Lohn (§ 20 Abs. 2 SGB II, wobei die neue Bundesregierung einen einheitlichen Satz auf Westniveau plant). ALG II, Sozialgeld sowie etwaige Mehrbedarfe nach § 21 SGB II stellen jedoch nur einen Teil der umfassenderen neuen „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ dar. Dass es sich bei der Grundsicherung nicht um eine simple Alimentierung Bedürftiger handelt, geht aus § 1 Abs. 1 Satz 1 SGB II hervor: „Die Grundsicherung für Arbeitssuchende soll die Eigenverantwortung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen ... stärken und dazu beitragen, dass sie ihren Lebensunterhalt unabhängig von der Grundsicherung aus eigenen Mitteln und Kräften bestreiten können.“ Im Rahmen des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch wurde mit dem SGB XII zum 1. Januar 2005 eine neue Sozialhilfe geschaffen. Es ist die Aufgabe der Sozialhilfe, „den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht“ (§ 1 Satz 1 SGB XII). Zentrales 3
Nach § 8 Abs. 1 SGB II ist erwerbsfähig, „wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein“. Und nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, „wer seinen Lebensunterhalt ... und den Lebensunterhalt der mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft lebenden Personen nicht ... sichern kann“.
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Anliegen ist die Stärkung der Selbsthilfekräfte der Transferempfänger, soll doch die Leistung „so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben“ (§ 1 Satz 2 SGB XII). Als unterstes Netz der sozialen Sicherung und gleichermaßen Kern der neuen Sozialhilfe fungiert für diejenigen Bedürftigen, die sonst keine Leistungen erhalten, die Hilfe zum Lebensunterhalt nach Kap. 3 SGB XII. Diese Hilfe beziehen Personen im erwerbsfähigen Alter, die vorübergehend keine Erwerbstätigkeit ausüben können (z.B. längerfristig Erkrankte), sowie etwa behinderte oder pflegebedürftige Menschen, kurzum: Nichterwerbsfähige. Für die Bemessung des Eckregelsatzes der Hilfe zum Lebensunterhalt gilt seit dem 1. Januar 2005 in Westdeutschland ein Betrag von 345 ¼ im Monat.4 Gleiche Regelsätze für Erwerbsfähige und Erwerbsunfähige Die Höhe des Sozialhilferegelsatzes ist nicht zufällig dieselbe wie die des ALG II. Vielmehr ist dies politisch gewollt (vgl. obige Ausführungen zur AgendaRede des Bundeskanzlers) und entsprechend gesetzlich geregelt (in § 20 Abs. 4 Satz 2 SGB II) mit dem Gebot, die Neubemessung des ALG II entsprechend der Neubemessung der Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 28 Abs. 3 Satz 5 vorzunehmen. Im Vergleich zu den bis Ende des Jahres 2004 noch gültigen monatlichen Regelsätzen für die Hilfe zum Lebensunterhalt von 292 ¼ West bzw. 282 ¼ Ost mutet der Betrag von 345 ¼ wie eine sozialpolitische Wohltat an. Doch im Sinne der mit den Reformen angestrebten Erhöhung der wirtschaftlichen Eigenverantwortlichkeit und Selbständigkeit der Leistungsberechtigten handelte es sich weniger um eine Erhöhung als vielmehr um die Einbeziehung zahlreicher vormals einmaliger Leistungen (z.B. Bekleidung) in die Regelsätze. Als durchschnittlichen Bedarf im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt im Jahr 2002 errechnete das Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung für einen Alleinlebenden (früheres Bundesgebiet) einen Betrag von 339 ¼ (292 ¼ Regelsatz zuzüglich 47 ¼ Einmalige Leistungen; ohne Kosten der Unterkunft) (vgl. Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung 2003, S. 687). Unbestreitbarer positiver Nebeneffekt der verstärkten Pauschalierung von Leistungen ist eine durch die Verwaltungsvereinfachung generierte Effizienzsteigerung. Damit ist zwar die Eigenverantwortung im Sinne einer Stärkung der Idee der Marktwirtschaft gesteigert worden, aber hinsichtlich der Arbeitsanreizwirkung eines so gestalteten Transfersystems ist noch nichts gesagt. 4
§ 2 Abs. 4 Regelsatzverordnung (RSV) stellt eine Öffnungsklausel dar und ermöglicht es den Bundesländern, unter Einhaltung von § 28 Abs. 2 SGB XII von diesem Eckregelsatz abzuweichen.
53 – 57% des p a u s c h a lie r t e n N e tt o e n tg e lts ( § 195)
60 – 67% des p a u s c h . N e t t o e n tg e lts ( § 1 2 9 )
§ 2 8 , s o fe r n k e in A nspruc h au s K a p . 4 S G B X II
S o z ia lg e ld
S G B II
Quelle: Lohse 2004, S. 578
E c k r e g e ls a tz d e r p a u s c h . H ilf e g e m . R e g e ls a tz v e r o r d n u n g n a c h E in k o m m e n s- u n d V erb r a u c h s s t ic h p r o b e
§§ 27 – 40
S G B X II
G e s u n d h e it E in g lie d e r u n g P f le g e Ü b e r w in d u n g b e s . s o z . S c h w ie r ig k . - a nd ere L eb ensla g e n
-
§§ 47 – 74
D iv e r s e H i lf e n
N e u e S o z i a lh i lf e
F ü r s o n s t ig e N ic h t- E r w e r b s f ä h ig e
G S iG
§ 4 2 i.V .m § 3 0 : i.d .R . 1 1 7 % d e s R e g e ls a tz e s n a c h § 28
§§ 41 – 46
G r u n d s ic h e r u n g im A lt e r u n d b e i E r w e r b s m in d e ru n g
§ 3 (1 ) N r. 1 : i.d .R . 1 1 5 % d e s R e g e ls a tz e s n a c h 2 . A b s c h n itt BSHG
G r u n d s ic h e r u n g im A lt e r u n d b ei E r w e rb sm in d e r u n g
G le ic h z e it ig e r L e is tu n g s b e z u g n a c h § § 5 ( 2 ) S G B I I, 2 1 S G B X II g r d s . a u s g e s c h lo s s e n
E in h e it lic h e R e g e lle is tu n g v o n A L G I I u n d S G z u r S ic h e r u n g d e s L e b e n s u n t e r h a lts n a c h § 2 0 (2 ) : 3 4 5 ¼ (O s t: 3 3 1 ¼ )
U n b e fr is te t
§§ 19 – 27
A r b e it s lo s e n g e ld I I
u .a . :
- A u fb a u o d e r S ic h e r u n g d e r L e b e n s g r u n d la g e - K r a n k h e it - W e it e r f ü h r u n g d e s H a u s h a lts - Ü b e r w in d u n g b e s o n d e r e r s o z ia le r S c h w ie r ig k e ite n - A lte n h ilf e
§§ 27 – 75 ,
H i lf e in b e s o n d e r e n L e b e n s la g e n
H i lf e z u m L e b e n s u n t e r h a lt
F ü r N ic h t- E r w e r b s fä h ig e , d ie z u r B e d a r fs g e m e in s c h a ft e in e s E r w e r b s f ä h ig e n g e h ö r e n
R e g e ls ä tz e g e m . R e c h ts v e r ord n u n g d er L ä n d er (§ 2 2 (2 )) : z w . 2 8 2 u n d 2 9 7 ¼ m o n a t l.
L a u f e n d e u n d z a h lr e ic h e e in m a lig e L e is tu n g e n ( § 2 1 ( 1 ) , (1 a))
G r u n d s ic h e r u n g f ü r A r b e it s u c h e n d e
F ü r E rw erb s f ä h ig e
BSHG
S o f e r n b e d ü r ft ig i.S . d e s § 1 1 , H z L a u c h a d d it iv z u A H
§§ 11 – 26
H i lf e z u m L e b e n s u n t e r h a lt
S o z ia l le is i s t u n g s g e s e t z e s e it d e m 1 . J a n . 2 0 0 5
S G B III
F ü r A n sp rü c h e n a c h d e m 3 1 .0 1 . 2 0 0 6 : M ax . A ns p ru ch sd a u er : 1 8 M o n a te ( § 1 2 7 i.V .m . § § 4 3 4 j ( 3 ) , 4 3 4 l)
W ie b is h e r
A r b e it s lo s e n g e ld I
U n b e fr is te te A n sp ru c h sd au e r
§§ 190 – 206
§§ 117 – 152
M ax . A n s p ru c h sd au er: 3 2 M o n ate ( § 1 2 7 i.V .m . § § 4 3 4 j ( 3 ) , 4 3 4 l)
A r b e it s lo s e n h i lf e
A r b e it s lo s e n g e ld
S G B III
S o z i a lle is tu n g s g e s e t z e b is z u m 3 1 . D e z . 2 0 0 4
Abbildung: Die Veränderungen der Sozialleistungsgesetze im Überblick
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Tim Lohse
Gleiche Regelsätze für Erwerbsfähige und Erwerbsunfähige? – Eine optimalsteuertheoretische Analyse Kaum ein Aspekt der Sozialleistungsreformen wurde so gegeißelt wie die vermeintlich höchst unsoziale Zusammenlegung der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe für Erwerbsfähige zum ALG II. Der stets wiederholte Vorwurf war und ist, dass jemand, der ehemals gearbeitet hat, nun nach Ende der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I in die soziale Armut fallen würde. Der früheren Arbeitslosenhilfe mit einer Durchschnittshöhe von 515 ¼ steht das ALG II mit nur noch 345 ¼ gegenüber.51Dieser Kritik wurde entgegengehalten, dass für die Bemessung einer steuerfinanzierten Fürsorgeleistung die Frage des beschäftigungstechnischen „Vorlebens“ der Empfänger keine Rolle spielen dürfe. Obwohl mit der Einführung des ALG II ein fundamentaler Wandel des Sozialstaatsverständnisses einherging, hat der skizzierte Argumentationsaustausch bisher noch keine Beurteilung erfahren. Es ist unklar, ob sich die gleiche Höhe von ALG II und neuer Sozialhilfe von je 345 ¼ begründen lässt und was etwaige Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sein könnten. Einen in jeder Beziehung unpolitischen, rein ökonomisch orientierten Ansatz zur Klärung und damit zur Charakterisierung optimaler Steuer-TransferSysteme liefert die von Mirrlees begründete Optimalsteuertheorie (Mirrlees 1971). Methodisches Fundament im vorliegenden Aufsatz ist ein von Homburg entwickeltes Modell mit endlich vielen Steuerzahlern, deren Charakteristika einzig ihre inhärenten Fähigkeiten sind (Homburg 2001). Es gibt verschiedene Typen h = 0, 1, ..., H von Personen, die jeweils einen Populationsanteil von f h aufweisen und sich durch ihre exogenen Produktivitäten w h unterscheiden. Mit der Annahme 0 = w 0<w 10 generiert jeder ein Bruttoarbeitseinkommen von y h = w hÂl h. Bei einem solchen Einkommen konsumiert eine Person c h>0 und hat einen Nutzen von u(c h, l h). Die Nutzenfunktion ist streng monoton steigend im Konsum, streng monoton fallend in der Arbeitszeit und streng konkav. Der Einfachheit halber seien verschwindende Kreuzableitungen angenommen. Die einzige Art der Besteuerung ist die Besteuerung des Arbeitseinkommens, sodass T h=y hc h, die Differenz von Brutto- und Nettoeinkommen, der zu zahlenden Steuer entspricht und implizit durch Paare (c h,y h) beschrieben wird. Eine negative Steuer stellt dabei einen staatlichen Transfer dar. Das sozialpolitische Problem der Regierung lässt sich damit wie folgt formulieren: h
H
max! EU = ¦ u (c h , l h ) ⋅ f h h h
( c , l ) h=0... H
h=0
H
(1) unter den Nebenbedingungen
i)
¦(y
h
− ch ) ⋅ f h = g ,
h=0
ii) u (c k , l k ) ≥ u (c h ,
yh ) ∀k , h > 0. wk
Die Zielfunktion kann gesellschaftsvertraglich als Maximierung eines Erwartungsnutzens einer sich hinter dem Rawls’schen „veil of ignorance“ befindlichen Person interpretiert werden (Rawls 1971). Danach kennt diese Person zwar ihre zukünftige (Modell-)Welt, weiß aber eben nicht, wie produktiv sie in selbiger sein wird, sondern kann diesen Produktivitätszuständen nur Wahrscheinlichkeiten zuordnen. Dieser Ansatz genügt Rawls Prinzip des „justice as fairness“7,3erfolgt doch somit weder eine Parteinahme zugunsten der Geringproduktiven (und damit in diesem Modell der Armen), die hohe Einkommensteuern samt hohen Transferzahlungen befürworten würden, noch zugunsten der Hochproduktiven (und damit der Reichen), welche eher die gegenteilige Ausgestaltung des Steuer-Transfer-Systems favorisieren dürften. Vielmehr determinieren Risikoaversion einerseits (je größer diese ist, desto höher sind die staatlichen
7
betroffenen Personen könnten in einem anderen, nicht tariflich geregelten Teilbereich der Wirtschaft, in welchem ein kompetitiver Arbeitsmarkt vorliegt, eine neue Beschäftigung finden. Der Fokus auf diesen letztgenannten Part einer Volkswirtschaft ist somit legitim. „Es sind diejenigen Grundsätze, die freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden ... Sie bestimmen die möglichen Arten der gesellschaftlichen Zusammenarbeit und der Regierung.“ Rawls 1971, S. 28.
80
Tim Lohse
Unterstützungen) und Wohlfahrtsverluste durch die Zusatzlast der Besteuerung andererseits die Entscheidung der „Person hinter dem Schleier“. Das zu erzielende Steueraufkommen dient nicht nur der Zahlung von Transferleistungen, sondern ebenfalls der Finanzierung exogener öffentlicher Güter g, was unter der Annahme einer linearen Technologie mit der staatlichen Budgetbedingung i) gewährleistet wird. Bei den Nebenbedingungen ii) handelt es sich um Selbstselektionsbedingungen, die sicherstellen, dass im optimalen Steuer-TransferSystem keine Person k sich durch Imitation einer Person h besser stellen kann. Aufgrund der partiellen Information sind die Erwerbsunfähigen hiervon ausgenommen, weil eben Imitationen der Erwerbsunfähigen durch Erwerbsfähige und vice versa staatlicherseits beobachtbar und damit ausgeschlossen sind. Im mathematischen Anhang wird das zentrale Ergebnis des in (1) dargestellten Maximierungsproblems hergeleitet: c 0>c 1 (vgl. Homburg/Lohse 2005). In einem optimalen Steuer-Transfer-System müssen folglich Personen vom Typ 0, eben erwerbsunfähige Hilfebedürftige, höhere staatliche Transfers erhalten als erwerbsfähige Hilfebedürftige. Dies ist ökonomisch durchaus intuitiv: Da erwerbsfähige Arbeitslose die Gesellschaft nicht nur die ihnen gewährten Transfers, sondern auch den aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit entgangenen Output kosten, sind die durch sie verursachten gesellschaftlichen Kosten höher als jene, die durch die erwerbsunfähigen Arbeitslosen entstehen. Die mit der Einführung des ALG II verbundene Absenkung der Leistung für erwerbsfähige Hilfebedürftige ist somit ökonomisch durchaus zu rechtfertigen. Die Transferbemessung von 345 ¼ sowohl für erwerbsfähige Arbeitslose (ALG II) als auch für nichterwerbsfähige Arbeitslose (Sozialhilfe) scheint hingegen suboptimal zu sein. Da der Staat im Rahmen des SGB II jedoch zwischen den Empfängern dieser beiden Leistungen explizit differenzieren kann, wären gemäß der Lösung des obigen Modells auch differenzierte Leistungen zu erbringen, d.h. eine Sozialhilfe oberhalb des Niveaus des ALG II zu gewähren. Doch betrachtet man die Voraussetzungen für die Gewährung der vollen Regelleistung des ALG II genauer, offenbart sich die Relevanz einer bestimmten Regelung.
Zur Bedeutung der Zumutbarkeit von Arbeit Gegenstand teils heftiger Kontroversen waren und sind immer wieder die in § 10 SGB II niedergelegten Regeln über die Zumutbarkeit von Arbeit für erwerbsfähige Hilfebedürftige und die mit der Ablehnung von Arbeiten verbundenen Konsequenzen nach § 31 SGB II. Danach gilt grundsätzlich jede Arbeit als zumutbar, und sie ist insbesondere nicht unzumutbar, wenn sie von den früheren
Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“
81
beruflichen Tätigkeiten des Arbeitssuchenden differiert oder die Arbeitsstätte in größerer Distanz liegt als der vorige Beschäftigungsort (§ 10 Abs. 1 und 2 SGB II). Weigert sich der Leistungsberechtigte ohne Nachweis eines wichtigen Grundes, eine ihm offerierte Arbeit aufzunehmen, wird ihm seine Regelleistung um zunächst 30%, bei „wiederholter Pflichtverletzung“ sogar um noch mehr gekürzt (§ 31 SGB II). Unterstellt man die Entstehung eines Niedriglohnsektors – wenn nicht marktseitig, so doch z.B. durch „Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung“ (1-Euro-Job) –, so ist im Prinzip jeder Bezieher von ALG II vor die Wahl gestellt, entweder eine ihm eventuell widerstrebende Arbeit ausüben zu müssen oder eine Absenkung seiner Transfers zu akzeptieren. Für erwerbsfähige Transferempfänger mündet dies in letzter Konsequenz in einem Leistungsniveau unterhalb des Sozialhilfeniveaus. Damit offenbart sich nicht nur eine Justifikation der Leistungskürzungen bei Ablehnung zumutbarer Arbeiten, sondern auch, dass die oben erläuterte Bemessung der Transferhöhen in Verbindung mit den umstrittenen Zumutbarkeitsregelungen nach SGB II volkswirtschaftlich als optimal angesehen werden kann. Dass der Gesetzgeber für die beiden fraglichen Personenkreise nicht direkt differenzierte Regelleistungen – eine Hilfe zum Lebensunterhalt höher bemessen als das ALG II – festgesetzt hat, sondern vielmehr von einheitlichen 345 ¼ spricht, dürfte in erster Linie der politischen Durchsetzbarkeit der Reformen geschuldet sein. Kritischer wäre die neue Rechtslage hingegen einzuschätzen, wenn der so dringend benötigte Niedriglohnsektor nicht etabliert werden könnte (siehe unten). Dann nämlich könnten arbeitssuchenden Empfängern von ALG II keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten angeboten werden. Weil somit tatsächlich ALG II und Sozialhilfe auf demselben Niveau lägen, wäre das entsprechend der Theorie zu erreichende Ziel verfehlt, erwerbsunfähige Hilfebedürftige besser zu stellen als erwerbsfähige. Wohlfahrtsverluste wären die Folge. Als mögliche Lösung bliebe einzig der politisch schwierige Weg, das ALG II offiziell unterhalb der Sozialhilfe anzusetzen. Diese Leistungsunterschiede vor Augen, muss ein in deren Umsetzung sich zukünftig ergebendes Problem indes noch an anderer Stelle vermutet werden: bei der Prüfung der Erwerbsfähigkeit. Da Erwerbsunfähige mit höheren staatlichen Transfers rechnen können als Erwerbsfähige, besteht für die einstufende Institution ein enormer sozialer Druck, die finanzielle Schlechterstellung von ihr als produktiv deklarierten, hilfebedürftigen Personen zu begründen.
82
Tim Lohse
Beschäftigungseffekte In Anbetracht von rund 4,5 Millionen registrierten Arbeitslosen im November 2005 zuzüglich einer verdeckten Arbeitslosigkeit von rund 1,3 Millionen Personen stellt die Beschäftigungsproblematik auch für die neue Bundesregierung die drängendste Aufgabe dar. Hinzu kommt die ungeahnte Kostenexplosion durch das einstige Reformflaggschiff „Hartz IV“ – im 1. Halbjahr des Jahres 2005 wurden bereits rund 74% der für das Gesamtjahr vorgesehenen Bundesmittel für die Arbeitsmarktpolitik verausgabt (vgl. Bundesministerium der Finanzen 2005). So wird in der öffentlichen Diskussion vielfach gefragt, wo denn trotz aller Reformbemühungen, Effizienzsteigerungen und Anreizoptimierungen die Arbeitsplätze für diejenigen, die man wieder dem ersten Arbeitsmarkt zuführen möchte, eigentlich seien. Eine ehrliche Antwort darauf kann nur lauten, dass solche Stellen augenblicklich nicht existieren – zum einen, weil sie wegen einer nicht marktgerechten Entlohnung zu teuer wären, und zum anderen, weil sie aufgrund der hohen staatlichen „Alternativlöhne“ gar nicht nachgefragt werden. Die erst im Frühjahr 2006 in Kraft tretende Verkürzung der Anspruchsdauer auf Arbeitslosengeld I stand einem Beschäftigungswunder dabei durchaus entgegen. Analog zu internationalen Studien belegen auch empirische Untersuchungen für Deutschland einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld und der Dauer der Arbeitslosigkeit (vgl. etwa Hunt 1995). Insofern hätte eine umgehende Beschränkung der Anspruchsdauer die Beschäftigungssituation in Deutschland sicherlich verbessert. Mit der Umsetzung dieses Reformschrittes erst im Jahr 2006 wird eine Verzögerung der Besserung am Arbeitsmarkt in Kauf genommen. Doch auch darüber hinaus besteht Grund zur Hoffnung, denn ein wesentlicher Grund der momentanen Situation liegt in der nicht konsequenten Anwendung des oben erläuterten Instrumentariums des SGB II durch die jeweils mit der Verwaltung der Arbeitslosigkeit betrauten Institutionen. Sind Anlaufschwierigkeiten einmal überwunden, bessere Betreuungsverhältnisse erreicht und im Idealfall sogar eine Alleinzuständigkeit der Kommune verwirklicht, können die vor allem im Niedriglohnsektor benötigten Beschäftigungsmöglichkeiten dank geringerer Kosten auch angeboten werden. Und da die Ansprüche von vielen Leistungsbeziehern bescheidener geworden sind, werden sie auch nachgefragt. Schätzungen über das Arbeitskräftepotenzial der Hilfeempfänger bzw. über den Umfang des neu zu etablierenden Sektors der Geringverdiener variieren zwischen etwa 2,2 und 4,3 Millionen Personen.84
8
Riphan et al. geben unter sehr weit gefassten Kriterien einen Wert von 4,3 Millionen an. Vgl. Riphan et al. 1999, S. 36. Raffelhüschen und Kaltenborn veranschlagen das Potenzial hinge-
Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“
83
Kritischen Äußerungen, in Deutschland würde mit Einführung des ALG II Lohndumping initiiert, lässt sich entgegenhalten, dass die Aufnahme selbst gering vergüteter Tätigkeiten durch (ehemalige) Bezieher staatlicher Leistungen sicher erstrebenswerter ist als ein durch die Solidargemeinschaft alimentiertes Nichtstun. Es sei an Thomas von Aquin erinnert, der schon im 13. Jahrhundert postulierte: Arbeit ist ein Wert an sich. Im Übrigen kann nach § 29 SGB II als Zuschuss zum ALG II ein so genanntes Einstiegsgeld zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit bei Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gewährt werden, sofern dies zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt erforderlich ist. Einen weiteren Anreiz zur Arbeitsaufnahme bilden die Freibeträge bei Erwerbstätigkeit (§ 30 SGB II), die als relativ großzügige Anrechnungsregelungen für zusätzliches Arbeitseinkommen – erst oberhalb eines Bruttoeinkommens von 1500 ¼ erfolgt eine Vollanrechnung – der Kritik an den hohen Transferentzugsraten des noch geltenden Rechts Rechnung tragen. Damit ist eines der größten Hindernisse zur Wiederaufnahme einer regulären Tätigkeit für Bezieher staatlicher Transferleistungen beseitigt worden. Nichtsdestoweniger besteht weiterhin reformpolitischer Handlungsbedarf. Als eine die Neugestaltung der Sozialleistungsgesetze flankierende Maßnahme für mehr Beschäftigung böte sich z.B. eine Lockerung des Kündigungsschutzes an, die über den im Rahmen des Gesetzes zu Reformen am Arbeitsmarkt gefundenen Minimalkonsens hinausgehen. Vor dem Hintergrund der Insider-Outsider-Problematik wäre man damit ein zentrales Beschäftigungshemmnis angegangen. Des Weiteren ist es wünschenswert, dass im Zuge des Reformprozesses auch die politisch heikle Frage der Tarifautonomie aufgegriffen wird, um letztlich flexiblere Vergütungsstrukturen und Arbeitsverhältnisse zu ermöglichen. Hinsichtlich einer Spreizung der qualifikatorischen Lohnstruktur nach unten konstatierte Siebert bereits 1995 „Eine wichtige Voraussetzung für mehr Arbeitsplätze auf den unteren Stufen der Produktivitätstreppe ist, dass die Löhne stärker differenziert werden ... Es muss auch möglich sein, die Löhne nach unten auszufächern“ (Siebert 1995, S. 242). Dass nur so die Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten zu senken ist, belegen Fitzenberger und Franz in ihrer ökonometrischen Analyse (vgl. Fitzenberger/Franz 1998). Für die Tarifparteien ergibt sich somit die Verpflichtung, eine solche Spreizung herbeizuführen, um eine Beschäftigungssteigerung gerade im Bereich niedriger Tariflöhne zu er-
gen auf 2,3 bzw. 2,2 Millionen Personen. Vgl. Raffelhüschen 2001, S. 16 bzw. Kaltenborn, 2001, S. 15.
84
Tim Lohse
möglichen. Etwaigen Bestrebungen, gesetzliche Mindestlöhne einzuführen, ist deswegen eine Absage zu erteilen.95
Illustration Ein Beispiel soll die obigen Ausführungen verdeutlichen. Betrachtet wird eine stilisierte Ökonomie mit sechs gleich verteilten Typen sowie eine Nutzenfunktion u(ch, lh) = ln ch + ln (500 – lh), wobei 500 die monatliche Arbeitszeitobergrenze in Stunden darstellt. Das exogene Pro-Kopf-Steueraufkommen sei g=100. Tabelle 1, in deren erster Spalte der Lohnsatz w, in der zweiten der Konsum c, in der dritten das Bruttoeinkommen y und in der vierten der Steuer- bzw. Transferbetrag T notiert ist, zeigt das Optimum für die Maßgabe einheitlicher Transferhöhen von ALG II und Sozialhilfe.106Tabelle 2 hingegen zeigt das Optimum unter Ausnutzung der partiellen Information, d.h. der Unterscheidung zwischen Erwerbsfähigen und Erwerbsunfähigen. BruttoSteuer/ Lohn- Konsatz sum einkommen Transfer
Lohnsatz
KonBruttoSteuer/ sum einkommen Transfer
0
515
0
-515
0
1300
0
-1300
2
515
0
-515
2
456
100
-356
4
649
411
-238
4
664
695
31
6
886
1105
219
6
936
1365
429
8
1184
1834
650
8
1284
2080
796
10
2500
3500
1000
10
2500
3500
1000
Gesamtwohlfahrt EU = 12,57 Tabelle 1: ALG II = SH
Gesamtwohlfahrt EU = 12,64 Tabelle 2: ALG II < SH
Demnach kann Arbeitslosigkeit durch die auch in der Höhe differenzierten Transfers sinken (es verbleiben nur noch die Erwerbsunfähigen in der Arbeitslosigkeit), während die Gesamtwohlfahrt gleichzeitig wächst. 9
10
So auch die Deutsche Bundesbank: „Bei alledem sollte die individuelle Vertragsfreiheit gestärkt werden. Von der Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns ist dagegen abzuraten.“ Vgl. Deutsche Bundesbank 2004, S. 58. Technisch bedeutet dies, dass im Maximierungsproblem (1) die Nebenbedingungen (ii) für alle k, h gelten (unvollständige Information), weil der Staat hier eben keine Unterscheidung zwischen Produktiven und Unproduktiven vornimmt.
Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“
85
Fazit Die Reformen im Zuge von Hartz IV markieren einen Aufbruch. Die Leitlinie, Eigenverantwortung stärken zu wollen, ist richtig, weil sie das Individuum aus einer sozialstaatlich verordneten Unmündigkeit entlässt und ihm ein persönliches Handeln ermöglicht, das zu seinem eigenen und – in bester Smith’scher Tradition – auch zum gesamtstaatlichen Wohl beiträgt. Die klare Ausrichtung der Leistungen – Sozialhilfe für Erwerbsunfähige und ALG II für Erwerbsfähige – verdient Anerkennung. Die Absenkung des Niveaus staatlicher Transfers für Erwerbsfähige von der ehemals sehr komfortablen Arbeitslosenhilfe zum ALG II mag im Einzelfall eine monetäre Zäsur bedeuten. An volkswirtschaftlicher Rechtfertigung fehlt es dieser Maßnahme indes nicht. Wie aus obigem Modell hervorgeht, wäre alles andere als die Bemessung der Leistung für Erwerbsfähige unterhalb derjenigen für Erwerbsunfähige suboptimal. Daher ist gleichsam für die konsequente Anwendung der Regelungen des SGB II zu plädieren. Der Vorwurf eines unsozialen Reformschritts zielt ins Leere, da staatlicherseits die Schwachen, d.h. Erwerbsunfähigen protegiert werden. Damit ist eine Absenkung der De-facto-Lohnuntergrenze realisiert worden, was einer Beschäftigungssteigerung zuträglich ist. Es wäre insofern fatal, wenn das arbeitsmarktpolitische Schreckgespenst eines gesetzlichen Mindestlohns nun bittere Realität werden würde. Die Funktion des Lohns als Marktpreis für Arbeit wäre dann endgültig passé und mithin auch jede Hoffnung auf einen nachhaltigen Rückgang der Arbeitslosigkeit. Nur wenn der Arbeitsmarkt die Bezeichnung „Markt“ im streng ökonomischen Sinne auch zu Recht tragen kann, stehen die Chancen für mehr Beschäftigung gut.
Mathematischer Anhang Zur Lösung des Optimierungsproblems aus (1) seien zwei zentrale Ergebnisse des Modells erwähnt: (2)
y h +1 ≥ y h und c h +1 ≥ c h und u (c h +1 , l h +1 ) = u (c h ,
yh ) für alle h > 0. wh +1
Die beiden Ungleichungen stellen die so genannte Monotonieeigenschaft dar. Demnach sind Einkommen und Konsum schwach steigend in der Produktivität. Dies ist durchaus intuitiv, da produktive Personen höhere Einkommen und damit auch längere Arbeitszeiten nur akzeptieren, wenn sie auch vergleichsweise mehr konsumieren können. Die Gleichung, nach der alle direkt benachbarten, abwärts gerichteten Selbstselektionsbedingungen bindend sind, bringt die so
86
Tim Lohse
genannte Ketteneigenschaft zum Ausdruck. Staatliche Umverteilung von oben nach unten findet also so lange statt, bis eine Person h+1 zwischen ihrem eigenen Einkommen-Konsum-Bündel und dem der etwas unproduktiveren Person h indifferent ist. Haben verschieden produktive Personen die gleichen Bündel, bezeichnet man dies als Ballung. Ballungen bei positivem Einkommen werden hier nicht weiter betrachtet. Von Interesse sind vielmehr Ballungen bei einem Einkommen von null, bei welchem es sich um Arbeitslosigkeit handelt. Die beiden erwähnten Eigenschaften implizieren, dass alle übrigen Selbstselektionsbedingungen automatisch erfüllt sind und daher weggelassen werden können. Da somit alle Nebenbedingungen mit Gleichheitszeichen gelten und linear unabhängig sind (Homburg 2003), kann das unter (1) benannte Optimierungsproblem in verkürzter Form durch den folgenden Lagrangeansatz wiedergegeben werden:
(3)
H § H · L = ¦ u (c h , l h ) f h + λ ¨ ¦ ( y h − c h ) f h − g ¸ h =0 © h=0 ¹ . h H −1 y · h +1 § h +1 h +1 h + ¦ µ ¨ u (c , l ) − u (c , h +1 ) ¸. w h =1 © ¹
Als Bedingungen erster Ordnung ergeben sich hinsichtlich des Konsums: (4)
∂L ∂u 0 f − λ f 0 = 0, = ∂c 0 ∂c o
(5)
∂L ∂u ∂u ∂u = h f h − λ f h + µ h h − µ h +1 h = 0, h > 0, h ∂c ∂c ∂c ∂c
wobei µ 1 = 0 , weil Personen h = 0 nicht imitierbar sind, und µ H +1 = 0 , weil Personen H keinen noch produktiveren rechten Nachbarn haben, von deren Imitation man sie abhalten müsste. Nach einigen Umformungen ergibt sich:
f0 =
(6)
(7)
f +µ −µ h
h
h +1
λf0 ∂u / ∂c 0 =
,
λfh ∂u / ∂c h
, h >0.
Addiert man diese Gleichungen über alle h, so summieren sich die f h zu eins, die Lagrangemultiplikatoren µ h heben sich gegenseitig auf, und Auflösen nach
Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“
87
λ zeigt, dass der Schattenpreis der Budgetbeschränkung das harmonische Mittel der Grenznutzen des Konsums ist: (8)
λ=
1 . fh ¦ h h = 0 ∂u / ∂c H
Aus (4) ergibt sich darüber hinaus direkt: (9)
∂u =λ. ∂c o
Aus (8) und (9) ist zu schließen, dass der Grenznutzen des Erwerbsunfähigen gleich dem Mittel der Grenznutzen des Konsums aller, eben λ , ist. Da der Konsum monoton steigend in h>0 ist, übertrifft der Grenznutzen erwerbsfähiger Arbeitsloser (bzw. Geringverdiener) den mittleren Nutzen λ . Dies bedeutet wiederum c 0>c 1.
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88
Tim Lohse
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Die sozial- und arbeitsmarktpolitischen Reformen im Zuge von „Hartz IV“
Übergang von der Ausbildung in den Arbeitsmarkt
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Trainingsprogramm zur Förderung unternehmerischer Potenziale im Jugendalter
91
Dagobert Duck im Klassenzimmer – Ein Trainingsprogramm zur Förderung unternehmerischer Potenziale im Jugendalter Trainingsprogramm zur Förderung unternehmerischer Potenziale im Jugendalter
Elke Schröder
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Einführung
Im Klassenzimmer einer elften Klasse sitzen Schüler an mehreren Tischen in Kleingruppen zusammen und spielen eine Variante des Kartenspiels „Black Jack“. Sie notieren ihre Einsätze, Gewinne und Verluste auf einem Protokollbogen. Ist hier Pause, oder fällt eine Unterrichtsstunde aus? Im Gegenteil. Die Elftklässler bearbeiten die Trainingseinheit „Risikoneigung“ eines neuen Trainingsprogramms zur Förderung unternehmerischer Potenziale, das sie im Rahmen des Unterrichts im Fach Wirtschaft und Recht mit ihrem Lehrer durchführen. Im Anschluss an das Kartenspiel werden die Schüler reflektieren, wie risikoreich sie gespielt haben, welche Risiken ein Unternehmer zu tragen hat und wie risikofreudig die Schüler sich selbst auch in anderen Bereichen einschätzen. Das Thema „Risikoneigung“ ist einer von zehn Trainingsbausteinen des neu entwickelten Trainingsprogramms „Wer hat das Zeug zum Unternehmer?“ (Schmitt-Rodermund/Schröder, 2004)1. Mit diesem Programm soll bereits im Jugendalter für die berufliche Selbständigkeit sensibilisiert werden. Gerade in Zeiten sozialen Wandels, in denen diskontinuierliche Erwerbsbiografien mit Wechseln zwischen mehreren Arbeitsverhältnissen, Teilzeitbeschäftigung oder gar Phasen der Arbeitslosigkeit immer wahrscheinlicher werden, kann der Aufbau einer selbständigen beruflichen Existenz eine alternative Beschäftigungsform darstellen. Beharrlichkeit, die richtige Spürnase für eine Marktnische und Leistungsbereitschaft sind unternehmerische Eigenschaften, die uns bereits aus der Welt des Dagobert Duck bekannt sind. Ziel des neuen Programms ist jedoch nicht, zu vermitteln, wie man möglichst viele „Geldberge anhäuft“. Vielmehr bietet das neue Programm bereits jungen Personen die Gelegenheit, sich in 1
Das Training wurde am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie der Universität Jena im Rahmen des EXIST Programms entwickelt und durch das BMBF und TMWFK gefördert; Projektleitung: PD Dr. Eva Schmitt-Rodermund.
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wichtigen unternehmerischen Eigenschaften und Fertigkeiten zu erproben und ihrem unternehmerischen Potenzial nachzuspüren. Das Training kann damit als Orientierungshilfe dienen, ob die unternehmerische Selbständigkeit eine interessante Berufsperspektive für die eigene Person darstellt.
1.1 Selbständigkeit als zukunftsweisende Beschäftigungsform Spätestens seit Einführung der ICH-AGs und Mini-Jobs hat das Thema der unternehmerischen Selbständigkeit in den Medien einen festen Platz unter den „Top Ten” eingenommen. Tatsächlich zählt die Etablierung einer Gründerkultur zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland aktuell zu den vorrangigen Themen. Betrachtet man die aktuelle Arbeitsmarktsituation, gekennzeichnet durch eine hohe Arbeitslosenquote, viele Jobs mit befristeten Arbeitsverträgen bei gleichzeitiger Forderung nach hoher Flexibilität, wird die unternehmerische Selbständigkeit in Zukunft definitiv zu einer wichtigen Säule der Beschäftigung werden. Es stellt sich hierbei jedoch die Frage, welche Wege beschritten werden müssen, um erfolgreich eine Gründerkultur in Deutschland zu etablieren. Die ersten Zahlen zum „Auf- und Abschwung” der Ich-AGs geben Anlass zur Skepsis, ob hier eine kurzfristige Lösung zielführend ist. Nach einem Bericht des UNISPIEGEL (2004) gaben zwischen Januar und April 2004 bereits 14.000 der neu gegründeten ICH-AGs wieder auf. Ein Blick in die inzwischen umfangreiche Forschungsliteratur zur Bedeutung persönlicher Potenziale für den Aufbau einer selbständigen beruflichen Existenz zeigt, dass Eigenschaften wie beispielsweise Leistungsbereitschaft, Führungsstärke und eine gute Portion Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wesentliche Erfolgsfaktoren sind (Frese 1998; Schmitt-Rodermund/Silbereisen 1999). Bereits im Jugendalter haben diese Merkmale Vorhersagekraft für unternehmerische Aktivität (Schmitt-Rodermund 2005). Demnach spielt neben Bedingungen der äußeren Umwelt, wie z. B. der Nachfrage auf dem Markt, auch das persönliche Potenzial bei der Existenzgründung eine zentrale Rolle. Vor diesem Hintergrund scheinen zwei Prämissen bedeutsam, um die unternehmerische Selbständigkeit nachhaltig als Säule der Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zu institutionalisieren. Erstens gilt es, Wege zu finden, um langfristig den viel diskutierten „Gründergeist“ in Deutschland zu wecken und frühzeitig zu fördern. Damit soll verhindert werden, dass Personen erst über den „Um“-Weg der Arbeitslosigkeit zur Gründung einer unternehmerischen beruflichen Existenz kommen. Zweitens bedarf es einer sukzessiven und vor allem auf Potenzialen basierenden Entwicklung einer Unternehmerkultur.
Trainingsprogramm zur Förderung unternehmerischer Potenziale im Jugendalter
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1.2 Schülerprojekte zur unternehmerischen Selbständigkeit Verbunden mit der Idee einer langfristigen Förderung unternehmerischer Selbständigkeit wurden in den letzten Jahren im Schulkontext bereits einige Initiativen, z. B. Schülerfirmen, ins Leben gerufen. So praxisnah und viel versprechend die aktuellen Schülerprojekte sind, bergen sie jedoch auch einige Probleme. Der Schwerpunkt der meisten existierenden Programme liegt auf der Vermittlung betriebswirtschaftlicher Kenntnisse (z. B. zum Marketing, zur Finanzierung oder zur Rechtsform). Weitgehend unbeachtet bleibt dagegen die Reflexion und Exploration des persönlichen Potenzials für die unternehmerischer Selbständigkeit, wie z. B. hinsichtlich des Selbstvertrauens und der eigenen Überzeugungskraft. Durch die meist freiwillige Teilnahme an den Projekten werden primär Schüler erreicht, die bereits ein unternehmerisches Interesse mitbringen. Zur Entwicklung einer Gründerkultur in Deutschland sollten jedoch gerade auch Personen angesprochen werden, die von selbst noch nicht auf die Idee gekommen sind, sich hinsichtlich ihres unternehmerischen Potenzials zu hinterfragen. Zu den bestehenden Maßnahmen ist bislang keine Evaluation bekannt. Das heißt, wir wissen nicht, wie wirksam die aktuellen Projekte sind und ob mit ihnen die intendierten Ziele tatsächlich erreicht werden können. Aussagen zur Effektivität bilden jedoch die Grundlage, um einen dauerhaften Einsatz der Projekte zu rechtfertigen. Die genannten Probleme der aktuellen Förderprogramme machen die Notwendigkeit eines neuen Trainingsprogramms deutlich, das den Fokus verstärkt auf die personenbezogenen Merkmale unternehmerischer Selbständigkeit richtet und durch eine umfassende Evaluation auf seine Wirksamkeit hin geprüft wird. Vor diesem Hintergrund wurde das Trainingsprogramm „Wer hat das Zeug zum Unternehmer?” zur Sensibilisierung für die unternehmerische Selbständigkeit entwickelt. Im Folgenden wird das neue Programm mit seinen Zielen, Hintergründen, Inhalten und Zielgruppen vorgestellt. Anschließend werden die Ergebnisse einer Evaluationsstudie berichtet, in der die Wirksamkeit des Trainings an über 600 Schülern überprüft wurde.
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Das Trainingsprogramm „Wer hat das Zeug zum Unternehmer?“
Das Programm wurde auf der Basis theoretischer und empirischer Erkenntnisse zur Ausprägung unternehmerischer Persönlichkeitsmerkmale, der Entwicklung beruflicher Interessen und deren Umsetzung in Interventionsprogrammen entwickelt. Es existiert inzwischen eine Vielzahl von Studien aus dem deutschen und angloamerikanischen Raum, die zeigen, dass Leitungsmotivation, das Bedürfnis,
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andere zu führen, eine kalkulierte Risikobereitschaft und ein starkes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten typische Merkmale erfolgreicher Unternehmer sind (Brockhaus 1980; McClelland 1987; Müller 2000; Stewart 1996). Im Bereich der verhaltensnäheren Fertigkeiten haben sich beispielsweise kreatives Denken, Problemlösekompetenz, Überzeugungskraft und Kundenorientierung als Erfolgsfaktoren einer unternehmerischen Tätigkeit erwiesen (Baron 2000; Frese 1998; Spencer/Spencer 1993). Die Trainingsinhalte wurden in Anlehnung an diese unternehmerischen Eigenschaften und Fertigkeiten konzipiert. In jeder Trainingseinheit wird ein typisches Unternehmermerkmal behandelt. Darüber hinaus wurden im Jahr 2000 biografische Interviews mit Existenzgründern aus der Region Jena geführt (Schröder 2000). Informationen, die aus den Interviews gewonnen wurden, dienten dazu, die Inhalte möglichst praxisnah zu gestalten und mit dem Training einen realistischen Einblick in das Thema der beruflichen Selbständigkeit zu geben.
2.1 Trainingsziel Das Hauptziel des neuen Programms ist ein Zuwachs an Selbsterkenntnis über die eigenen unternehmerischen Merkmale. Dies bedeutet, dass sich die Teilnehmer durch das Training in ihren unternehmerischen Eigenschaften und Fertigkeiten erkunden können und damit der Antwort auf die Frage, ob die berufliche Selbständigkeit eine interessante Berufsperspektive für sie darstellen könnte, einen Schritt näher kommen sollen. Neu ist, dass auch Teilnehmer, die erkennen, dass die berufliche Selbständigkeit nicht zu ihren Interessen und Fähigkeiten passt, von dem Programm im Sinne einer Meinungsfindung und Interessenspezifizierung profitieren. Damit bietet das Programm einen entscheidenden Vorteil gegenüber Programmen, die ausschließlich auf die Steigerung eines bestimmten beruflichen Interesses, etwa des technisch-naturwissenschaftlichen Interesses bei Mädchen, abzielen (Betz/Schifano 2000; Dawes, Horan/Hackett, 2000).
2.2 Inhalt Das Training umfasst insgesamt zehn Trainingsbausteine, die in der Schule entweder wochenweise als reguläre Unterrichtseinheiten (z. B. im Fach Wirtschaft und Recht) oder über mehrere Tage im Block (z. B. zu Projekttagen) durchgeführt werden können. Jeder Baustein ist für einen zeitlichen Rahmen von 90 Minuten konzipiert. Die Trainingsbausteine beinhalten die Themen:
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Einstieg, Führung, Kreativität, Problemlösen, Beobachten & Perspektive wechseln, Risiko, Überzeugen, Motivation, Gründung und Betriebswirtschaftliche Grundlagen. Je nach Thema richtet sich der Fokus der verschiedenen Trainingsbausteine eher auf die Vermittlung von Wissen, das Training von Verhaltensweisen oder die Selbsterkenntnis darüber, wie stark die eigenen Unternehmerfähigkeiten ausgeprägt sind.
2.3 Aufbau Das Training beginnt mit einem einführenden Baustein („Einstieg“). Hier wird mit den Teilnehmern zunächst eine Kennenlernrunde durchgeführt, das Thema Gruppenregeln besprochen und mit einer Ideensammlung zu typischen Unternehmermerkmalen an das Thema des Trainings herangeführt. Die Bausteine zwei bis acht thematisieren unternehmerische Eigenschaften und Fertigkeiten. Jedem Baustein ist dabei ein Unternehmermerkmal gewidmet. Beispielsweise können sich die Teilnehmer im Baustein „Führung“ in der Rolle eines Teamleiters bzw. -mitarbeiters erproben, wenn es darum geht, im Wettstreit mit den anderen Teams der Gesamtgruppe einen möglichst hohen Papierturm zu bauen. Wesentlicher Bestandteil des Bausteins „Betriebswirtschaftliche Grundlagen (BWL)“ ist schließlich die Computersimulation „Flowerpower“, in der die Teilnehmer sich darin erproben, wie erfolgreich sie einen Blumenladen führen können und ob ihnen das Jonglieren mit Zahlen und betriebswirtschaftlichen Aspekten Spaß macht. Das PC-Spiel „Flowerpower” wurde eigens für das Trainingsprogramm entwickelt.
2.4 Zielgruppe Das Programm richtet sich an Teilnehmer ab der 9. Klasse. Die Idee war hierbei, dass das Programm besonders interessant für Schüler ist, die erste Schritte der beruflichen Orientierung gehen. Grundsätzlich lässt sich das Programm jedoch für alle Personen in einer Phase der beruflichen (Neu-)Orientierung anwenden, die mehr über ihre eigenen unternehmerischen Potenziale erfahren möchten. Das Programm wurde so konzipiert, dass es in verschiedenen Schultypen (Gymnasien, Haupt- und Realschulen, Berufsschulen) eingesetzt werden kann. Gerade nach einer Ausbildung, zum Beispiel im handwerklichen oder technischen Bereich, ist die Qualifizierung als Meister und die Gründung einer eigenen Firma ein denkbares berufliches Ziel. Bislang wurde das Training in Haupt-, Real-, Berufsschulen und Gymnasien erfolgreich durchgeführt.
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2.5 Material Um die Durchführung des Trainings möglichst einfach und praktikabel zu gestalten, wurden detaillierte Trainingsunterlagen für die Trainer und Teilnehmer erstellt. Zu den Unterlagen gehört ein Trainingsbuch, das Hintergrundinformationen und ausführliche Beschreibungen der einzelnen Unterrichtsstunden, inklusive Ablaufplänen, beinhaltet. Alle benötigten Trainingsmaterialien, z. B. Folien, Arbeitsblätter, Karten oder Spielchips sowie die Computersimulation „Flowerpower“ sind zum Herunterladen auf einer Begleit-CD enthalten2.
2.6 Didaktische Methoden Das Programm bietet ein buntes Spektrum an unterschiedlichen Aufgabenformen, um die Inhalte für die Teilnehmer möglichst interessant und abwechslungsreich zu gestalten. Einige Aufgaben sind z. B. in Kleingruppen zu lösen, andere Bausteine beinhalten Paarübungen, Rollenspiele, Gruppendiskussionen und ein Computerspiel. Die Methoden weichen damit stark vom Frontalunterricht ab und haben das Ziel, die Teilnehmer zu selbständigem Arbeiten anzuregen und ihnen möglichst viel Eigenverantwortung für ihr Arbeitsergebnis zu geben. Durch die interaktive Gestaltung haben die Schüler die Chance, sich selbst einmal ganz anders kennen zu lernen und mit Schülern im Team zusammenzuarbeiten, mit denen sie sonst nicht ins Gespräch kommen. Das Training kann damit auch zur Verbesserung des Klassenklimas beitragen.
3
Evaluationsstudie zum Trainingsprogramm „Wer hat das Zeug zum Unternehmer?“
Zur Bewertung eines Trainingsprogramms können verschiedene Kriterien herangezogen werden. Beispielsweise können die Trainingsleiter und Teilnehmer befragt werden, wie zufrieden sie mit dem durchgeführten Training waren. Die Einschätzung der Beteiligten kann wichtige Hinweise darüber liefern, ob beispielsweise die Inhalte verständlich waren, das Training im geplanten Umfang durchgeführt werden konnte, die Beteiligten mit den vorgegebenen Trainingsmaterialien gut zurechtkamen und schließlich, ob das Programm Spaß gemacht hat.
2
Die Trainingsunterlagen sind unter dem Titel „Wer hat das Zeug zum Unternehmer?“ (Schmitt-Rodermund/Schröder, 2004) im Hogrefe-Verlag, Göttingen erhältlich.
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Über die Bewertung eines Trainings durch die Beteiligten hinaus sollte bei einer Programmevaluation jedoch auch erfasst werden, ob am Ende eines Trainings die intendierten Trainingsziele, etwa die Verbesserung der Selbsterkenntnis über die eigenen Stärken und Schwächen, erreicht werden konnten. Neben der generellen Wirksamkeit interessiert, ob ein Programm für bestimmte Teilgruppen besonders wirksam ist. Denkbar wäre, dass die Teilnehmer je nach ihrem Erfahrungshintergrund, ihrem Alter oder ihren Persönlichkeitseigenschaften unterschiedlich von einem Training profitieren. Die hier angeführten Kriterien bilden die Grundlage einer umfassenden Evaluationsstudie, in der die Effektivität des Trainings „Wer hat das Zeug zum Unternehmer?“ untersucht wurde (Schröder 2005). In der Studie wurden sowohl die einzelnen Trainingsbausteine durch die Trainingsleiter und Teilnehmer bewertet, als auch Veränderungen der Teilnehmer nach dem Training hinsichtlich verschiedener Ergebnisvariablen erfasst. Die Evaluationsfragen lauteten im Einzelnen: 1. 2. 3.
Wie beurteilen die Trainer und Teilnehmer das Programm? Kann mit dem Programm das Ziel einer vermehrten Selbsterkenntnis über die eigenen unternehmerischen Merkmale erreicht werden? Welche Wirkung hat das Training für verschiedene Schülergruppen?
Im Folgenden werden zunächst die untersuchte Stichprobe und die Vorgehensweise bei der Datenerhebung dieser Evaluationsstudie beschrieben. Im Anschluss daran werden die Evaluationsergebnisse berichtet, welche Antwort auf die formulierten Evaluationsfragen geben.
3.1 Stichprobe und Durchführung An der Evaluationsstudie nahmen 623 Schüler der Klassenstufen 9 bis 13 aus insgesamt elf Thüringer Schulen teil. Bei den Schulen handelte es sich um verschiedene Schultypen. Es beteiligten sich drei Haupt- und Realschulen mit sechs Klassen (165 Schüler), eine Berufsschule mit zwei Klassen (51 Schüler) und sieben Gymnasien mit insgesamt zehn Klassen (407 Schüler). Im Durchschnitt waren die befragten Teilnehmer 16 Jahre alt, wobei die Altersspanne insgesamt von 14 bis 26 Jahren reichte. Der Anteil an Mädchen (53%) und Jungen (47%) war annähernd ausgewogen. Die Schüler wurden in zwei Gruppen eingeteilt. Die erste Gruppe bildete die Trainingsgruppe mit n = 321 Schülern. Diese Schüler erlebten das Training mit den kompletten zehn Bausteinen entweder im regulären Unterricht oder zu
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Projekttagen mit ihren Lehrern als Trainingsleitern. Die zweite Gruppe bildeten die Kontrollschüler (n = 302). Diese Schüler erhielten kein Training, waren ansonsten jedoch mit den Trainingsschülern vergleichbar, d. h., sie waren im Durchschnitt gleich alt, kamen jeweils aus derselben Klassenstufe und Schule und beantworteten den Evaluationsfragebogen im gleichen zeitlichen Abstand wie die Trainingsschüler. Das Training und die Befragung fanden mit „unausgelesenen“ Schulklassen statt, d. h., alle Schüler einer Klasse wurden einbezogen. Damit war der Vorteil verbunden, nicht nur Schüler zu erreichen, die bereits ein Interesse für das Thema der beruflichen Selbständigkeit mitbrachten, sondern gerade auch solche Schüler zu beteiligen, die bis dahin noch keinen Zugang zum Unternehmerthema hatten. Eine positive Vorselektion konnte somit vermieden werden. Unmittelbar vor und nach dem Training füllten alle Schüler einen Fragebogen aus, in dem sie Angaben zu demografischen Merkmalen (z. B. Geschlecht, Alter, Unternehmertum in der Familie), zu unternehmerischen Persönlichkeitsmerkmalen (z. B. Dominanz und Risikofreude), zu ihrem unternehmerischen Interesse, zum Ausmaß an Faktenwissen über die beruflichen Selbständigkeit und zum Ausmaß an Selbsterkenntnis hinsichtlich der eigenen Unternehmermerkmale machten. Nach jedem Baustein wurden die Trainingsschüler und Lehrkräfte zusätzlich anhand eines kurzen Fragebogens darüber befragt, wie gut ihnen der aktuelle Trainingsbaustein gefallen hat.
3.2 Ergebnisse 3.2.1
Bewertung des Trainings aus Lehrer- und Schülersicht
Zur Einschätzung des Trainings aus Lehrersicht wurden die Lehrkräfte nach jedem Trainingsbaustein befragt, wie viel Prozent der vorgesehenen Inhalte des aktuellen Bausteins durchgeführt werden konnten und wie viel Prozent der Schüler im heutigen Baustein konzentriert mitgearbeitet haben. Auf einer fünfstufigen Skala von 1 [0-20%] bis 5 [81-100%] konnten die Befragten ihre jeweiligen Einschätzungen abgeben. Die Lehrkräfte gaben an, dass sie im Schnitt pro Baustein zwischen 80 und 100% der vorgesehenen Inhalte mit den Teilnehmern durchführen konnten (s. Abb. 1). Die Inhalte lassen sich offenbar entsprechend der Anleitung gut umsetzen. Auch die Intensität der Mitarbeit der Schüler lag nach Lehrerangaben zwischen 80 und 100%, was für eine hohe wahrgenommene Beteiligung spricht (s. Abb. 1). Lediglich zum Thema Problemlösen wurde die Beteiligung etwas unter 80% eingeschätzt, was daran liegen mag, dass hier mehrere Schüler gemeinsam
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an einem Computer eine Problemlöseaufgabe bearbeiteten und so aufgrund der technischen Ausstattung unterschiedlich häufig zum Zuge kamen. Abbildung 1:
Beurteilung des Trainings aus Lehrersicht
100 %
80
60
Menge umgesetzter Inhalte
40
Beteiligung der Schüler
20
Ri Pr M Ei Ü BW Be Kr Fü ot Grü be ns sik ob ea o iva L nd rz tie hru lem ba o ng tivit e u t c g i ug ng on ät lös hte en n en
Die Schülerbeurteilungen pro Baustein zeigen, dass das Programm den Teilnehmern großen Spaß gemacht hat, die Trainingsinhalte gut verständlich waren und den Teilnehmern Anhaltspunkte zur Reflexion der eigenen Gründerfähigkeiten lieferten (s. Abb. 2). Beispielsweise beurteilten die Teilnehmer die Bausteine anhand von Eigenschaftswörtern („Der heutige Baustein war: spannend, super, langweilig, anstrengend etc.“) auf einer fünfstufigen Antwortskala von 1 [stimmt nicht] bis 5 [stimmt völlig]. Negativ formulierte Items wurden nachträglich umgepolt. Die durchschnittliche Bewertung der Schüler über alle Eigenschaftswörter variierte dabei von M = 3.24 (SD = .923) für den Baustein Gründung bis M = 4.21 (SD = .73) für den Baustein Führung (s. Abb. 2) und fällt damit sehr positiv aus. Zusammenfassend sprechen sowohl die Schüler- als auch Lehrerbeurteilungen für eine hohe Akzeptanz des neuen Trainingsprogramms.
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M = Mittelwert, SD = Standardabweichung oder Standard Deviation. Diese drückt die Variation der individuellen Werte um den Gruppenmittelwert aus. Je höher die Werte, desto stärker die Variation um den Mittelwert.
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(1 = stimmt nicht, 5 = stimmt völlig)
Abbildung 2:
Bewertung der Trainingsbausteine aus Schülersicht
5
4
Verständlichkeit der Trainingsinhalte Der heutige Baustein war lustig, spannend...)
3
Reflektion der eigenen Gründerfähigkeiten
2
1 Ei Pr R M Fü Kr Be G BW isi Übe ot r ns ob ea ob ko iva ünd L rz tie hru le ac ng tivit e u m t g io ug ng h ät lö n en se ten n
3.2.2
Konnten die Trainingsziele erreicht werden?
Das zentrale Trainingsziel bildete die Selbsterkenntnis über die eigenen unternehmerischen Merkmale. Schüler, die an dem Programm teilnahmen, sollten ein deutliches Bild über ihre unternehmerischen Eigenschaften und Fertigkeiten entwickeln und der Frage, ob die berufliche Selbständigkeit für sie eine interessante Berufsperspektive darstellen könnte, einen Schritt näher kommen. Dabei ist wichtig zu beachten, dass auch Schüler, die durch das Training erkannten, dass ihnen das Unternehmerthema weniger liegt und gefällt, von dem Programm im Sinne einer Interessenklärung profitierten. Als zweites Trainingsziel sollten die Schüler natürlich auch etwas über die unternehmerische Selbständigkeit als Beschäftigungsform lernen. Hier ging es primär um Fakten zur Unternehmerlandschaft in Deutschland. Zur Überprüfung des ersten Trainingsziels wurden die Trainings- und Kontrollschüler sowohl vor als auch unmittelbar nach dem Training befragt, wie sicher sie sich in der Einschätzung ihrer eigenen Unternehmermerkmale fühlen. Sie konnten ihre Einschätzung auf einer fünfstufigen Antwortskala von 1 [gar nicht sicher] bis 5 [sehr sicher] vornehmen. Es wurde erwartet, dass die Trainingsschüler durch das Erkunden der eigenen Fähigkeiten, z. B. im Bereich
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Führung oder Problemlösen, einen Zugewinn an Selbsterkenntnis verzeichneten und sich nach dem Training sicherer in der Einschätzung ihrer Unternehmermerkmale fühlten. Für die Kontrollgruppe wurde dagegen keine Veränderung in der Selbsterkenntnis erwartet. Die Auswertung der Schülerangaben mittels einer Varianzanalyse4 zeigt, dass es in der Trainingsgruppe zu einer signifikanten Steigerung der Selbsterkenntnis hinsichtlich der eigenen unternehmerischen Merkmale kam, während die Selbsterkenntnis bei den Kontrollschülern unverändert gering blieb. Abbildung 3:
Veränderung der Selbsterkenntnis in der Trainings- und Kontrollgruppe
Training
Kontrolle
Mittelwert (Skala 1-5)
4,0
3,5
3,0
2,5
2,0 t1
Selbsterkenntnis
t2
Die Mittelwerte der Trainingsschüler lagen bei M = 2.76 (SD = 1.13) im Vortest bzw. M = 3.27 (SD = 1.03) im Nachtest. Für die Kontrollschüler resultierten Mittelwerte von M = 2.69 (SD = 1.04) bzw. M = 2.69 (SD = 1.02) im Nachtest (s. Abb. 3). Dies bedeutet, dass Schüler, die an dem Trainingsprogramm teilnahmen, am Ende des Trainings ein klareres Bild über ihre unternehmerischen 4
Statistische Kennwerte der univariaten Varianzanalyse: (F (1,611) = 25.25; p < .000, eta² = .04).
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Eigenschaften und Fertigkeiten hatten als die Kontrollschüler. Demnach ermöglichen die Erfahrungen der Schüler in den Trainingseinheiten wie etwa Führung, Risikoneigung oder Kreativität offenbar einen Einblick in die eigenen unternehmerischen Merkmale. Das Haupttrainingsziel einer vermehrten Selbsterkenntnis konnte damit erreicht werden. Die Auswertung des zweiten Trainingsziels erfolgte, indem der Lernerfolg der Schüler bezüglich wesentlicher Fakten zur Unternehmerlandschaft in Deutschland erfasst wurde. Allen Schülern wurde vor und nach dem Training ein Fragenkatalog vorgelegt, in dem sie Aussagen, z. B. „In Deutschland sind 30% aller Erwerbstätigen selbständig (falsch)“, als richtig oder falsch einstufen mussten. Die Anzahl richtiger Antworten ergab pro Person einen Summenwert (S), der bei richtiger Beantwortung aller Fragen den Wert 8 ergab, bei keiner richtigen Antwort den Wert 0. Da mit den Trainingsschülern die Themen des Fragenkatalogs auch in den Trainingseinheiten erarbeitet wurden, sollten sich die Trainingsschüler im Gegensatz zu den Kontrollschülern in ihrem Wissen deutlich verbessern. Die Evaluationsergebnisse bestätigen diese Erwartung (s. Abb. 4). Während die Trainingsschüler nach dem Programm deutlich mehr Fakten zur Selbständigkeit richtig beantworteten, kam es bei den Schülern der Kontrollgruppe sogar zu einem Abfall an Wissen5. Die Summenwerte der Trainingsgruppe lagen im Vortest bei S = 5.32 (SD = 1.35) bzw. bei S = 5.5 (SD = 1.42) im Nachtest. Der Summenwert der Kontrollgruppe veränderte sich von S = 5.38 (SD = 1.37) im Vortest auf S = 5.24 (SD = 1.4) im Nachtest. Demnach hat das Training wie erwartet zum Wissenszuwachs beigetragen. Das Nachlassen an Wissen in der Kontrollgruppe war sehr wahrscheinlich motivationsbedingt. Diese Schülergruppe musste zweimal den sehr umfangreichen, möglicherweise zähen Fragebogen ausfüllen, ohne einen weiteren Bezug zum Training über die unternehmerische Selbständigkeit zu haben. Fasst man die Befunde zur Umsetzung der Trainingsziele noch einmal zusammen, so konnte sowohl das wesentliche Trainingsziel einer vermehrten Selbsterkenntnis als auch das Ziel eines Wissenszuwachses zur unternehmerischen Selbständigkeit erreicht werden. Damit ist die Grundlage zur Legitimation und weiteren Anwendung des Trainings geschaffen.
5
Statistische Kennwerte der univariaten Varianzanalyse: (F (1,614) = 5.56; p = .02, eta² = .009).
Trainingsprogramm zur Förderung unternehmerischer Potenziale im Jugendalter
Abbildung 4:
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Veränderung des unternehmerischen Wissens der Trainingsund Kontrollschüler Training
K ontrolle
Summenwert (Skala 1-8)
6,00
5,75
5,50
5,25
5,00
t1
3.2.3
W issen
t2
Welche Wirkung hat das Training für verschiedene Schülergruppen?
Eine Schulklasse ist eine bunte Mischung aus Schülern mit verschiedensten Interessen, Vorlieben, Eigenschaften und Erfahrungen. Bei der Anwendung eines neuen Trainingsprogramms in unausgelesenen Schulklassen ist es daher sehr wahrscheinlich, dass das Programm nicht für alle Schüler gleichermaßen wirkt. In Anlehnung an Studien zur Persönlichkeit und zum familiären Hintergrund von Unternehmern (Hisrich 1990; Schmitt-Rodermund/Vondracek, 2002) wurde für das vorliegende Training erwartet, dass die Schüler je nach Persönlichkeitsmerkmalen und elterlichen Unternehmervorbildern unterschiedlich von dem Programm profitierten. Als Zielkriterium wurde das unternehmerische Interesse der Schüler vor und nach dem Training erfasst. Dazu beantworteten alle Schüler auf einer fünfstufigen Skala von 1 [nicht gern] bis 5 [sehr gern], wie gern sie verschiedene unternehmerische Aktivitäten, z. B. bei einem Verkaufs-
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gespräch dabei zu sein oder einen Unternehmensberater zu begleiten, ausführen würden. Über die verschiedenen Aktivitäten wurde der Mittelwert gebildet. Die Ergebnisse einer Diskriminanzanalyse6 (s. Abb. 5) zeigen, dass insbesondere Schüler, die nach ihren Persönlichkeitseigenschaften Unternehmern sehr ähnlich sind und quasi das „Zeug zum Unternehmer“ hätten, jedoch in ihrer Familie noch nicht mit der beruflichen Selbständigkeit in Kontakt gekommen sind, sich deutlich in ihrem unternehmerischen Interesse steigerten (Interessenzunahme). Schüler, die ebenfalls hohe unternehmerische Persönlichkeitswerte aufwiesen, jedoch bereits von Anfang an ein starkes Interesse für unternehmerische Aktivitäten zeigten, kamen dagegen weitaus häufiger aus Unternehmerfamilien (konstant hohes Interesse). Demnach scheint das Training gerade Jugendliche mit ausgeprägten Unternehmereigenschaften, jedoch keinem unternehmerischen Erfahrungshintergrund auf den „Unternehmergeschmack“ zu bringen. Abbildung 5:
Unternehmerisches Interesse nach Persönlichkeit und Familienhintergrund in der Trainingsgruppe 1.0 Unternehmerischer Familienhintergrund 1
Interessenabnahme Mittleres Interesse - 1.0
1.0 Unternehmerische Persönlichkeit
0 -1
Hohes Interesse
0
1
Niedriges Interesse Interessenzunahme -1
- 1.0
6
Das statistische Verfahren der Diskriminanzanalyse erlaubt es, aufgrund der Ausprägung verschiedener Variablen die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Personengruppe vorherzusagen. In dieser Studie wurden aus den Unternehmereigenschaften Dominanz, Leistungsmotivation, Risikobereitschaft und Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten sowie Herkunft aus einer Unternehmerfamilie die Zugehörigkeit zu einer von fünf Interessengruppen (konstant hoch, konstant niedrig, Zunahme, Abnahme, mittleres Interesse) bestimmt.
Trainingsprogramm zur Förderung unternehmerischer Potenziale im Jugendalter
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Die Ergebnisse verdeutlichen außerdem, dass Schüler mit gering ausgeprägten unternehmerischen Persönlichkeitseigenschaften durchgehend wenig Interesse am Unternehmerthema zeigten (konstant niedriges Interesse) oder aber durch das Training erkannten, dass die unternehmerische Selbständigkeit nichts für sie ist (Interessenabnahme). Dies ist eine wichtige Erkenntnis vor dem Hintergrund weit reichender negativer Folgen, die mit einer beruflichen Fehlentscheidung einhergehen können. Insgesamt verdeutlichen die Ergebnisse, dass sowohl die Ausprägung unternehmerischer Persönlichkeitsmerkmale als auch der individuelle Erfahrungshintergrund mit bestimmend für die Frage sind, wer durch das Training auf den „Unternehmergeschmack” kommt oder erkennt, dass die Selbständigkeit keine interessante Berufsperspektive ist.
4
Zusammenfassung und Ausblick
Mit dem Training „Wer hat das Zeug zum Unternehmer?“ steht ein Programm zur Verfügung, mit dem sich bereits Jugendliche hinsichtlich unternehmerischer Merkmale wie Leistungsbereitschaft, Überzeugungskraft und Führungsstärke hinterfragen und kennen lernen können. Das Programm wurde durch eine umfassende Evaluationsstudie begleitet. Somit ist es möglich, wissenschaftlich fundierte Aussagen über die Wirksamkeit und letztendlich den Nutzen für die Anwender und Initiatoren zu machen. Das Trainingsprogramm trägt dazu bei, schlummernde Potenziale aufzudecken, aber auch zu erkennen, wenn die unternehmerische Tätigkeit nicht zur eigenen Person passt. Beide Formen der Selbsterkenntnis haben eine wichtige Funktion, wenn es darum geht, die berufliche Selbständigkeit langfristig als zukunftsweisende Beschäftigungsform auf dem Arbeitsmarkt zu etablieren. Das Programm bietet eine wichtige Orientierungshilfe, um berufliche Fehlentscheidungen und Misserfolge zu verhindern, die langfristig die allgemeine Leistungsfähigkeit mindern können und im Extremfall ganz zum Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt führen. Darüber hinaus ist mit dem Programm eine wesentliche Grundlage geschaffen, wie die berufliche Selbstständigkeit stärker auf der Basis bestehender unternehmerischer Potenziale gefördert werden kann. Die positiven Befunde zur Effektivität des Trainings sollten über einige Grenzen des Programms nicht hinwegtäuschen. Zwar gilt auch für die Förderung unternehmerischer Selbständigkeit das Sprichwort „Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung bzw. zur eigenen beruflichen Existenz“. Jedoch bedarf es weiterer Schritte, um langfristig eine stabile Unternehmerkultur zu etablieren. Schüler, die durch das Trainingsprogramm ein Interesse für die be-
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rufliche Selbständigkeit entwickelt haben, sollten durch Programme weiter gefördert werden, in denen konkrete unternehmerische Fertigkeiten trainiert werden. Dies könnte beispielsweise mit der Aktivität in einer Schülerfirma verknüpft werden. Schließlich sollte für Personen, die tatsächlich den Weg in die Selbständigkeit planen, eine individuelle Betreuung erfolgen. Inhalt könnte hier die Analyse konkreter Stärken und Schwächen, beispielsweise in Form eines Assessment Centers, sein. Ziel sollte es sein, herauszufinden, welche unternehmerischen Fertigkeiten bereits vorhanden sind, welche noch trainiert werden sollten und in welchen Bereichen eigene Defizite durch andere Strategien, z. B. die Wahl eines Firmenpartners oder das Outsourcing bestimmter Domänen, kompensiert werden können. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass mit dem Training Neuland betreten wird. Es fordert daher auch von den Anwendern etwas „Unternehmergeist“, wenn es heißt, sich in ein neues Themen- und eventuell auch Methodenfeld zu wagen. Die Trainingsunterlagen sind jedoch so ausführlich und strukturiert aufbereitet, dass das Training mit geringem Aufwand umsetzbar ist. Dies bestätigen auch die Evaluationsbefunde, nach denen die Lehrer sehr gut mit dem Trainingsmaterial zurechtkamen. In einigen Bundesländern existieren für das Training bereits Anknüpfungspunkte im Schulunterricht. Beispielsweise sieht der Thüringer Lehrplan für das Fach Wirtschaft und Recht das Thema Existenzgründung vor. Hier liefert das Training eine ideale Komponente. Ein letzter und möglicherweise wichtigster Punkt ist, dass das Programm kein Diagnoseverfahren darstellt, das den Teilnehmern am Ende ein Etikett mit der Aufschritt „als Unternehmer geeignet“ oder „ungeeignet“ vergibt. Das persönliche Potenzial ist zwar eine wesentliche Komponente erfolgreichen Unternehmertums, es allein reicht aber nicht aus, um dauerhaft als Unternehmer zu bestehen. Es bedarf darüber hinaus fachlichen Know hows und günstiger Rahmenbedingungen. In fast allen beruflichen Bereichen ist es möglich, sich selbständig zu machen, sei es als Kfz-Mechaniker oder als Ingenieur im Biotechnologiewesen. Ohne solides Fachwissen und betriebswirtschaftliche Grundlagen geht es jedoch nicht. Und schließlich entscheiden Rahmenbedingungen, etwa die Nachfrage und Konkurrenz auf dem Markt, ebenfalls mit über den unternehmerischen Erfolg. Mit dem Programm „Wer hat das Zeug zum Unternehmer?“ steht ein effektives und einfach zu handhabendes Tool zur Verfügung, um unter Berücksichtung der persönlichen unternehmerischen Potenziale frühzeitig für die Selbständigkeit als Beschäftigungsform zu werben. Wer bereits einmal in die Welt des Dagobert Duck eingetaucht ist, wird viele Beispiele finden, wie man durch Leistungsbereitschaft, Risikofreude, Selbstbewusstsein und Dominanz zur einflussreichsten Unternehmerente der Welt werden kann. In Kombination mit fachli-
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cher Expertise und günstigen Rahmenbedingungen könnten auch in der realen Welt bald erfolgreiche Nachkommen des Dagobert Duck aus den Klassenzimmern in die Berufswelt ziehen.
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Elke Schröder
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Keine Nachfrage nach zusätzlichen Akademikern
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Keine Nachfrage nach zusätzlichen Akademikern: Eine Untersuchung der Einkommensentwicklung von Akademikern Keine Nachfrage nach zusätzlichen Akademikern
Christiane Mück und Karen Mühlenbein
Ein Studium garantiert einen Arbeitsplatz und ein hohes Einkommen – mit dieser Illusion studieren mittlerweile fast 2 Millionen junge Menschen in Deutschland, so viele wie nie zuvor. Allein in den 1990er Jahren ist der Anteil der Hochschulabsolventen an der deutschen Bevölkerung um fast 50% gewachsen. Und geht es nach der Politik, soll die Zahl der Studierenden in den nächsten Jahren noch weiter steigen. Das heißt, immer mehr Akademiker drängen auf den deutschen Arbeitsmarkt. Finden all diese Hochschulabsolventen eine adäquate Beschäftigung? Bleiben die Verdienstaussichten trotz steigender Zahlen von Arbeit suchenden Akademikern hoch? Oder ist die gute Verwertbarkeit eines akademischen Abschlusses auf dem Arbeitsmarkt ein Mythos? Der vorliegende Beitrag wirft einen Blick in die Vergangenheit und untersucht, wie sich die Beschäftigungs- und Verdienstaussichten in Zeiten der Hochschulexpansion der 1990er Jahre entwickelt haben. Die verwendete Datenbasis ist der deutsche Mikrozensus für die Jahre 1991, 1995, 1998 und 2001. Es wird gezeigt, dass in Westdeutschland das steigende Angebot an Akademikern auf eine konstante Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt traf und es dadurch zu einem Preisverfall kam. Im Osten hingegen gab es zumindest zu Beginn der Untersuchungsperiode eine steigende Nachfrage, und so zeigten sich trotz der Hochschulexpansion steigende Einkommensprämien für Akademiker. Jedoch trat auch in Ostdeutschland zur Jahrtausendwende zunehmend eine Marktsättigung ein, sodass wohl zukünftig ebenfalls stagnierende oder gar abnehmende Einkommensprämien zu erwarten sind. Insgesamt lässt sich darstellen, dass Hochschulbildung zwar das Risiko von Arbeitslosigkeit verringert, ein bildungsadäquater Einkommensvorteil für die Absolventen jedoch zunehmend nicht mehr gegeben ist.
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Ausgangssituation
Greencard-Regelung, Brain Drain, Elite-Universitäten – das alles sind zurzeit viel gebrauchte Schlagworte, die allesamt darauf hinweisen, dass es Deutschland an akademisch qualifiziertem Personal mangelt. Besonders die Unternehmen fordern eine größere Anzahl qualifizierter Akademiker, als sie der Arbeitsmarkt aktuell bereitstellen kann. Auch volkswirtschaftlich ist für Deutschland als rohstoffarmes Land das Angebot qualifizierter Arbeitskräfte eine wesentliche Voraussetzung für Wirtschaftswachstum und internationale Wettbewerbsfähigkeit (Barro/Sala-i-Martin 1995). Verglichen mit anderen Ländern ist jedoch der Anteil an Akademikern an der deutschen Erwerbsbevölkerung eher gering (OECD 2004). Aktuell gibt es daher in Deutschland viele Bestrebungen, den Anteil der Akademiker unter den Erwerbstätigen zu erhöhen. Vom Hochschulsystem wird gefordert, dies durch eine Erhöhung der Absolventenzahlen zu ermöglichen. Nach Plänen der Bundesregierung sollen langfristig 40% eines Altersjahrgangs ein Studium aufnehmen. Die ersten Maßnahmen zeigen bereits Wirkung. Im Wintersemester 2003/2004 überstieg die Studierendenzahl in Deutschland erstmals die Marke von zwei Millionen (StBA 2003). Es entschließen sich demnach so viele junge Deutsche wie noch nie zu einem Studium. Von der Hochschulbildung erhoffen sich die Studienanfänger unter anderem einen Schutz vor Arbeitslosigkeit und ein hohes Einkommen im späteren Berufsleben. Der vorliegende Beitrag untersucht, inwieweit diese Erwartungen auch in Zeiten der Hochschulexpansion erfüllt werden. Empirische Indikatoren zeigen ein differenziertes Bild. Wie Abb. 1 darstellt, ist Hochschulbildung trotz steigender Akademikerzahlen in Deutschland immer noch ein guter Schutz vor Arbeitslosigkeit: Weniger als 4% der Akademiker sind arbeitslos, bei Absolventen einer Berufsausbildung ist der Wert doppelt so hoch. Die monetäre Wertschätzung akademischer Qualifikation im deutschen Arbeitsmarkt, gemessen am Einkommensdifferenzial von Akademikern im Vergleich zu anderen Bildungsgruppen, geht jedoch zurück. Das Einkommensdifferenzial ist die absolute Differenz zwischen dem durchschnittlichen Akademikereinkommen und dem Durchschnittseinkommen eines Nichtakademikers, die Einkommensprämie der entsprechende prozentuale Anteil. Während ein Akademiker bzw. eine Akademikerin im Jahre 1992 noch 70% bzw. 75% mehr verdiente als ein Absolvent der Sekundarstufe II, beträgt diese Einkommensprämie 2002 nur noch 56% bzw. 57% (OECD 1995; OECD 2004). Trotz des beklagten Fachkräftemangels in Deutschland ist also ein Hochschulstudium auf dem Arbeitsmarkt immer weniger wert.
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Keine Nachfrage nach zusätzlichen Akademikern
Abbildung 1: Qualifikationsspezifische Arbeitslosenquoten
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%HUXIVDXVELOGXQJ +RFKVFKXOELOGXQJ
10 8 6 4 2 0 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000
Quelle: Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung 4XHOOH,QVWLWXWIU$UEHLWVPDUNWXQG%HUXIVIRUVFKXQJ
In dieser Untersuchung sollen vor dem Hintergrund fallender Einkommensprämien für Akademiker verschiedene Begründungsmöglichkeiten detailliert analysiert werden. Zunächst werden hierfür kurz Erklärungsansätze aus der bisherigen Forschung vorgestellt und ihre Ergebnisse diskutiert. Ein Schwerpunkt wird dabei auf den Zusammenhang zwischen Einkommensentwicklung und Akademikerquote gelegt. Anschließend sollen mögliche Ursachen für den beobachteten Rückgang der Einkommensprämie zwischen 1991 und 2001 empirisch untersucht werden. Zuerst soll geprüft werden, ob die Nachfrage nach akademisch qualifizierten Arbeitnehmern in gleichem Maße angestiegen ist wie das Angebot. In diesem Fall hätten sich die Einkommensprämien für Akademiker nicht verändert, denn der Arbeitsmarkt hätte die zusätzlichen Akademiker in den angestammten Positionen aufnehmen können. Zweitens wird aufgezeigt, inwieweit die Bildungsexpansion zu Veränderungen in der Verteilungsstruktur der Arbeitseinkommen geführt hat. Hierfür werden sowohl die Einkommensprämien unterschiedlicher Alters- bzw. Erfahrungsgruppen als auch die aktuelle Streuung der Einkommensprämien betrachtet.
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Stand der Literatur
2.1 Renditen in Abhängigkeit vom Bildungsabschluss Nach der in den 1960er Jahren entwickelten Theorie zum Humankapital kann (Hochschul-)Bildung als eine Investition in die Leistungsfähigkeit einer Person betrachtet werden (Mincer 1997). Der Verzicht auf Einkommen während der Zeit der Ausbildung verursacht zunächst Kosten, später aber kann ein höheres Einkommen erzielt werden. Ökonomisch rational handelnde Menschen werden in Humankapital investieren, wenn die zu erwartenden Erträge die Kosten übersteigen. Ist das erwartete zukünftige Einkommen zu gering, werden sich Schulabgänger eventuell gegen ein Studium entscheiden, obwohl sie dafür ausreichend begabt wären. Eine solche Situation könnte bei fallenden Einkommensprämien für Akademiker in Deutschland eintreten. Infolge der Ausweitung des Hochschulwesens in den 1970er Jahren wurden in Deutschland eine Reihe von Studien zu den Wechselwirkungen zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem erstellt. Hierbei wurden sowohl theoretisch als auch empirisch die veränderten Berufs- und Arbeitsmarktchancen von Akademikern untersucht (Blossfeld 1983). Beispielsweise war Gegenstand der Forschung, ob mehr Bildung zu mehr Arbeit führt (Blien/Reinberg/Tessaring 1990; Reinberg/Fischer/Tessaring 1995). Aktuelle deutsche Studien befassen sich hauptsächlich mit dem Zusammenhang zwischen Bildung und Einkommen. Hierbei liegt der Schwerpunkt auf der Betrachtung der Einflüsse auf die Höhe von Bildungsrenditen (Ammermüller/Dohmen 2004) und auf dem Vergleich mit anderen Ländern, besonders in Europa und Nordamerika (Brauns/Müller/Steinmann 1997). Auch werden die Einkommensverläufe unterschiedlicher Bildungsgruppen untersucht (Fitzenberger/Garloff/Kohn 2003).
2.2 Renditen bei einer Ausweitung der Bildungsbeteiligung Der Humankapital-Ansatz geht in einer statischen Betrachtung von steigendem Einkommen mit zunehmender Bildung aus. Allerdings kann sich bei einer Ausweitung des Bildungsniveaus der gesamten Bevölkerung eine Situation ergeben, bei der trotz eines höheren Bildungsstandes aufgrund eines Überangebots von Akademikern kein hohes Einkommen erzielt werden kann. Ein solcher Zusammenhang galt offenbar in den 1980er und 1990er Jahren in Österreich und Deutschland. Fersterer/Winter-Ebmer (1999) weisen in Österreich im Zeitraum von 1981 bis 1997 sinkende Bildungsrenditen für Hochschulbildung bei einer gleichzeiti-
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gen Ausweitung der Bildungsbeteiligung nach. Während der Anteil der männlichen Bevölkerung mit Hochschulabschluss um 30% und der der weiblichen Bevölkerung um über 85% ansteigt, sinken die jeweiligen Bildungsrenditen von 10% auf 7,4% bzw. von 11,4% auf 8%. Gleichzeitig nimmt die Streuung der Einkommen zu. Steiner/Lauer (2000) untersuchen die Veränderung der Bildungsrenditen in Deutschland zwischen 1984 und 1997 vor dem Hintergrund steigender Zahlen von Hochschulabsolventen. Die Rendite eines zusätzlichen Jahres Hochschulbildung beträgt durchschnittlich 10,5% für Frauen und 8,3% für Männer. Allerdings kann, besonders bei jüngeren Hochschulabsolventen, ein Absinken der Bildungsrenditen nachgewiesen werden. Zudem sind die Renditen zusätzlicher Bildungsjahre für Fachhochschulabsolventen durchwegs höher als für Absolventen von Universitäten. Bei ausländischen Studien, vor allem in den USA, hingegen steht der Zusammenhang zwischen Bildungsexpansion, technologischem Fortschritt und Einkommenswachstum im Vordergrund. Viele dieser empirischen Untersuchungen zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen der Erhöhung des Bildungsstands und den Einkommensprämien (Katz/Murphy 1992). Neue Technologien erfordern qualifiziertes Personal zur Bedienung und steigern dadurch die Nachfrage nach Hochschulabsolventen. Die Nachfrage nach Akademikern wächst schneller als das Angebot. Dies führt selbst bei einer Erhöhung der Bildungsbeteiligung zu steigenden Renditen eines Studiums (Card 2001; Card/Lemieux 2001; Acemoglu 2003a; Acemoglu 2003b).
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Forschungslücke
Für Deutschland gibt es – mit Ausnahme von Steiner/Lauer (2000) – aktuell keine Studie, welche den Einfluss der Ausweitung universitärer Bildungsbeteiligung während der 1990er Jahre auf den Arbeitsmarkt untersucht. Besonders wichtig ist hierbei, ob sich die finanzielle Wertschätzung von Hochschulbildung seitens des Arbeitsmarkts – ausgedrückt im Einkommensdifferenzial zu anderen Ausbildungsformen – verändert hat. Zudem werden vielfach die Ursachen für die Veränderung des Einkommensdifferenzials über die Zeit nur am Rande untersucht. Besonders eine Erklärung der Veränderung des Einkommensdifferenzials anhand des Zusammenspiels von Angebot und Nachfrage fehlt bislang.
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Forschungsfragen
Vor dem Hintergrund des oben beschriebenen Forschungsstands und unter der Annahme eines funktionierenden Arbeitsmarkts, der für Hochschulbildung zu positiven Einkommensprämien führt, untersuchen wir drei Fragestellungen, die miteinander in Zusammenhang stehen. Hat die steigende Akademikerquote dazu geführt, dass die Einkommensprämie für ein Hochschulstudium gesunken ist? Dies würde dafür sprechen, dass bei einem funktionierenden Marktmechanismus ein Überangebot von Akademikern auf dem Arbeitsmarkt besteht und dadurch die „Preise“ für Akademiker sinken. Sind die Gehälter aller Altersgruppen von Hochschulabsolventen gleich stark gesunken? Wenn es einen stärkeren Gehaltsverlust bei den Absolventen gab, die nach der Ausweitung der Akademikerquote ihr Studium beendet haben, ist davon auszugehen, dass die Unternehmen die höhere Zahl von Absolventen als Qualitätsverlust der Hochschulausbildung interpretiert haben. Hat die Streuung der Gehälter von Akademikern nach der Ausweitung der Akademikerquote zugenommen? Dies könnte dadurch begründet sein, dass Arbeitgeber zwar für eine bestimmte Anzahl von Absolventen nach wie vor hoch bezahlte Posten anbieten, für andere jedoch nur schlechter bezahlte Arbeitsstellen übrig bleiben.
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Datengrundlage und Klassifikation
Grundlage der Untersuchung sind die Daten aus dem Mikrozensus der Bundesrepublik Deutschland für die Jahre 1991, 1995, 1998 und 2001, der vom Statistischen Bundesamt erhoben wird. Die Daten werden in anonymisierter Form vom Statistischen Bundesamt für wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung gestellt. Der Mikrozensus eignet sich vor allem durch die Größe der Stichprobe sehr gut für eine derartige Untersuchung. Selbst wenn nur eine bestimmte Bevölkerungsgruppe (in unserem Fall Vollzeit-Berufstätige) analysiert wird und vielfältige Subgruppen gebildet werden, stehen noch genügend Datenpunkte zur Verfügung, um statistisch signifikante und repräsentative Aussagen zu ermöglichen. Für die ausgewählten Jahre konnten wir zwischen 131.000 und 145.000 Datensätze auswerten. Auch die Erhebungsmethode spricht für die Verwendung der Daten des Mikrozensus. Die Befragten werden zufällig ausgewählt und sind gesetzlich zur Auskunft verpflichtet. Daher werden durch die Natur der Daten-
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erhebung Verzerrungsproblematiken weitgehend ausgeschlossen. Besonders im Hinblick auf die von uns verwendeten Einkommensdaten ist dies von großer Bedeutung. Die auszuwertende Datenmenge wird in verschiedene Gruppen nach Geschlecht und regionaler Herkunft (Ost- bzw. Westdeutschland) unterteilt. Die Aufteilung hinsichtlich der formalen Qualifikation erfolgt anhand zweier unterschiedlicher Klassen. Im Gegensatz zu anderen Studien verwenden wir als Vergleichsgruppe für Hochschulabsolventen nicht Schulabgänger ohne Berufsausbildung, sondern Absolventen einer Berufsausbildung. Hierdurch wird die Entscheidungssituation eines Schulabgängers wesentlich besser repräsentiert, da die überwiegende Zahl der entweder ein Studium oder eine Berufsausbildung beginnt. Ergänzend zur Aufteilung nach Herkunft, Geschlecht und Ausbildungsabschluss teilen wir sechs Kohorten nach der Länge der Berufserfahrung ein. Für jede Gruppe wird das durchschnittliche Einkommen berechnet. Die verschiedenen mittleren Einkommen dienen als Grundlage der folgenden Untersuchungen.
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Ergebnisse
6.1 Einkommensprämien Die erste Forschungsfrage zielte auf den Zusammenhang zwischen einem Anstieg der Akademikerzahlen und den Einkommensprämien für ein Studium. Deutschland verzeichnete im untersuchten Zeitraum einen starken Anstieg der Quote der Hochschulabsolventen. Während 1991 weniger als 13% der 25–32Jährigen einen Hochschulabschluss vorweisen konnten, sind es 2001 bereits knapp 19%. Die Hochschulabsolventenquote ist also in zehn Jahren um fast 50% gestiegen. Interessant ist nun zu sehen, wie sich das Einkommen von Akademikern während dieser Zeit der Hochschulexpansion verändert hat. Im Westen sanken die Einkommensprämien im Untersuchungszeitraum um 8% bzw. 15% für Akademikerinnen und Akademiker (vgl. Abb. 2). Im Osten hingegen stiegen die Einkommensprämien trotz des Anstiegs der Akademikerquote um 58% bzw. 60%. Als Ursache für die unterschiedliche Entwicklung in Ost und West können Anpassungseffekte nach der Wiedervereinigung gesehen werden. Im Folgenden wird untersucht, welcher Zusammenhang zwischen dem beobachteten Mengenzuwachs und der Einkommensveränderung besteht. Wir beobachten einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen den Veränderungen im Angebot und den Veränderungen der Einkommensprämien. In Ostdeutschland hat der Arbeitsmarkt die zusätzlichen Absolventen demnach nicht nur aufgenommen, sondern sieht sie immer noch als so knappes Gut an,
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dass sich die Einkommen im Durchschnitt erhöht haben. Wie in den USA führt die Ausweitung der Bildungsbeteiligung zu Steigerungen in der Einkommensprämie. Der Bedarf an Akademikern ist schneller gewachsen als das Angebot. In Westdeutschland ist die Situation dagegen anders: Der Anstieg der Akademikerquoten hatte einen negativen Effekt auf die Höhe der Einkommensprämie. Die Ergebnisse für den Westen Deutschlands stimmen im Wesentlichen mit denen der Untersuchungen von Festerer/Winter-Ebmer (1999) für Österreich und von Steiner/Lauer (2000) für Deutschland überein. Die Nachfrage nach Akademikern ist nicht so schnell gewachsen wie das Angebot. Es zeigt sich vielmehr ein relativ starrer Bedarf an Akademikern. Die steigende Zahl der Hochschulabsolventen findet nur Beschäftigung, wenn sie auch geringer bezahlte Jobs akzeptiert.
Abbildung 2: Entwicklung der Einkommensprämien 8QLYHUVLWlW *HVDPW )DFKKRFKVFKXOH
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6.2 Qualitätseffekte Die zweite Forschungsfrage zielt darauf ab, ob alle Altersgruppen gleichmäßig von der Einkommensveränderung betroffen sind. Zeigen sich die Veränderungen der Einkommensprämien in allen Erfahrungskohorten gleichmäßig, so sind sie auf einen reinen Mengeneffekt zurückzuführen. Sinken die Einkommensprämien für Berufsanfänger stärker als bei berufserfahrenen Akademikern, so kommt zum Mengeneffekt zusätzlich ein Qualitätseffekt hinzu. Unternehmen vermuten einen Qualitätsrückgang durch die Ausweitung der akademischen Bildungsbeteiligung und zahlen daher den neuen Hochschulabsolventen eine geringere Prämie als Akademikern, die ihren Abschluss vor der Ausweitung erworben haben (Angrist/Krueger 1998; Lui/Suen 2003). Abbildung 3: Einkommensprämien nach Erfahrungskohorten !-DKUH -DKUH -DKUH
(LQNRPPHQVSUlPLH+RFKVFKXODEVROYHQWHQ$XVJHELOGHWHQ
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Abbildung 3 zeigt die empirischen Ergebnisse für die unterschiedlichen Altersgruppen. Hinweise auf einen Qualitätseffekt durch eine Ausweitung der Bildungsbeteiligung liefern vor allem diejenigen Fälle, in denen sich die Trendlinien der Einkommensprämien für unerfahrene (weniger als zehn Jahre Berufserfahrung) und sehr erfahrene (mehr als 20 Jahre Berufserfahrung) Arbeitnehmer in unterschiedliche Richtungen bewegen. Hierbei wird berücksichtigt, dass Hochschulabsolventen und Absolventen einer Berufsausbildung zu unterschiedlichen Zeitpunkten in die Erwerbstätigkeit eintreten. Im Westen sind vor allem bei den Frauen unterschiedliche Entwicklungen der Einkommensprämien je nach Berufserfahrung zu beobachten: Während erfahrene Akademikerinnen hier eine nahezu konstant hohe Einkommensprämie erhalten, fällt die Prämie der jungen Hochschulabsolventinnen. Wenn die Einkommensprämie zumindest teilweise ein Indiz für die wahrgenommene Qualität der Ausbildung ist, ist folglich aus Sicht des Arbeitsmarkts die Ausbildungsqualität von Akademikerinnen gesunken. Dies kann zum Teil auf den überdurchschnittlich hohen Anteil von Studentinnen am allgemeinen Wachstum der akademischen Bildungsbeteiligung zurückzuführen sein. Bei den Männern im Westen ist sowohl bei erfahrenen als auch bei unerfahrenen Akademikern ein Absinken der Einkommensprämie zu beobachten. Hier greift demnach hauptsächlich der Mengeneffekt. Im Osten dagegen ist zu beobachten, dass sowohl bei Männern als auch bei Frauen die unerfahrenen Hochschulabsolventen höhere Wachstumsraten bei den Einkommensprämien erreichen als die erfahrenen Akademiker. Bei den Männern im Osten liegt die Einkommensprämie der unerfahrenen akademischen Berufsanfänger sogar über der für Akademiker mit mehr als 20 Jahren Berufserfahrung. Demnach wird im Osten das aktuelle Fachwissen junger Hochschulabsolventen wohl sehr hoch geschätzt. Dies würde der These entsprechen, dass Anpassungen nach der Wiedervereinigung oder neue technische Entwicklungen der Grund für den Anstieg der Einkommensprämien im Osten sind. Hier wären junge Akademiker im Vorteil, die mit den aktuellen Konzepten und Methoden besser vertraut sind als ihre berufserfahreneren Kollegen. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass vor allem in Ostdeutschland zusätzlich zum Mengeneffekt auch noch positive Qualitätseffekte zu beobachten sind.
6.3 Streuung der Einkommen Bei der dritten Forschungsfrage ging es darum, ob sich durch die steigende Zahl von Akademikern auf dem Arbeitsmarkt auch die Streuung der Einkommensprämien verändert hat. So wäre es denkbar, dass vor allem geringe Einkom-
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mensprämien gefallen sind, während hohe Einkommensprämien nahezu konstant blieben. In diesem Fall hätte sich die Streuung der Einkommensprämien erhöht. Ein solches Phänomen ist oft dann zu beobachten, wenn es einen relativ geschlossenen Arbeitsmarkt für hoch bezahlte Akademikerjobs gibt, der von einem allgemeinen Absinken der Einkommensprämien nahezu unberührt bleibt. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung sind in Abb. 4 dargestellt. Abbildung 4: Streuung der Einkommensprämien REHUVWHV4XDUWLO 0HGLDQ XQWHUVWHV4XDUWLO
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Überraschend zeigt sich, dass die Streuung der Einkommensprämien für keine der vier untersuchten Gruppen zwischen 1991 und 2001 sichtbar zugenommen hat. Im Osten ist vor allem die Bewegung des untersten Viertels bei den Männern von einer negativen zu einer positiven Einkommensprämie ein wichtiges Signal für die gestiegene Wertschätzung für Hochschulbildung. Bei Männern und Frauen im Osten sinken die Einkommensprämien des obersten Viertels nach starkem Anstieg wieder ab, in beiden Fällen bleiben sie jedoch unter
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Westniveau. Im Westen ist für Männer und Frauen ein Absinken der Prämie des obersten Viertels zu beobachten, sodass folglich auch die gut verdienenden Akademiker Einbußen zu beklagen hatten. Bei den Frauen ist die gleich bleibend hohe Differenz zwischen oberstem und unterstem Viertel zwischen 80% und 90% bemerkenswert. Während im Westen die Einkommen im untersten Viertel im gesamten Zeitraum nur geringe oder negative Prämien zeigten, hat sich diese Entwicklung leider auch im Osten eingestellt. Das bedeutet, dass fast ein Viertel der Akademiker weniger verdient als ein durchschnittlicher Absolvent einer Berufsausbildung. Für diese Hochschulabsolventen hat sich folglich das Studium finanziell nicht ausgezahlt. Insgesamt konnte somit zwar keine höhere Streuung der Einkommensprämien gezeigt werden, allerdings ist das allgemeine Absinken der Prämien im untersten Viertel bedenklich: Eine Einkommensprämie von unter 10% für mehr als ein Viertel aller Akademiker rechtfertigt weder auf persönlicher noch auf gesellschaftlicher Ebene die Sach- und Opportunitätskosten einer langwierigen Hochschulausbildung.
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Zusammenfassung und Diskussion
Die gute Nachricht zu Beginn: Eine Hochschulausbildung ist ein guter Schutz vor Arbeitslosigkeit, und dies hat sich auch durch eine Erhöhung der Akademikerquote nicht verändert. Arbeitslosigkeit trifft in der Regel nicht die Akademiker, sondern die weniger Gebildeten. Die Ausweitung der Bildungsbeteiligung in den 1990er Jahren hat im Westen Deutschlands jedoch zu einer Verdrängung weniger Qualifizierter aus ihren angestammten Tätigkeitsbereichen geführt. Die Einkommensprämien von Hochschulabsolventen sind signifikant gefallen, und für das untere Viertel der Akademiker ist hinsichtlich der Einkommensprämie kein wesentlicher Vorteil gegenüber den Absolventen einer beruflichen Bildung auszumachen. Innovation und wirtschaftliche Umbruchsituationen führen oft dazu, dass der Bedarf an Akademikern stärker ansteigt als die Nachfrage. Dieses Phänomen ließ sich im Osten Deutschlands in den 90er Jahren beobachten. Dort konnte die Nachfrage nach Akademikern offenbar auch durch eine stark steigende Akademikerquote nicht ausgeglichen werden. Folglich stiegen die Einkommensprämien für Hochschulabsolventen signifikant. Zusammenfassend bestätigt die Hochschulbildung auch bei steigender Akademikerzahl ihre Funktion als Schutz vor Arbeitslosigkeit, ein tatsächlicher bildungsadäquater Einkommensvorteil lässt sich für viele Absolventen jedoch nicht mehr damit verbinden. Sinkende Einkommensprämien weisen zudem darauf hin, dass Hochschulabsolventen zunehmend in Tätigkeitsfeldern arbeiten,
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für die sie eigentlich überqualifiziert sind (Sichermann 1991; Dolton/Vignoles 1997). Insofern könnte für viele Schüler zukünftig die Aufnahme einer nichtakademischen Berufsausbildung wesentlich attraktiver als ein Studium werden. Benötigt der Arbeitsmarkt jedoch tatsächlich eine höhere Anzahl von Akademikern, so sollte über höhere oder wenigstens konstante Einkommensprämien hier ein entsprechendes Signal an den Bildungsmarkt gegeben werden.
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Über einen notwendigen Wandel der universitären Kunstgeschichte
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Vorbei sind die schönen Tage von Aranjuez? – Über einen notwendigen Wandel der universitären Kunstgeschichte Über einen notwendigen Wandel der universitären Kunstgeschichte
Jana Lucas und Anne-Kathrin Winkler
Die Studierenden der Kunstgeschichte der Universität Leipzig sind sich einig: Neben den klassischen Kompetenzen im Umgang mit Kunstwerken müssen mittlerweile auch berufspraktische Qualifikationen während der universitären Ausbildung vermittelt werden, um dem Einstieg ins Berufsleben besser gerüstet gegenüberzustehen. Daher entwickelten die Absolventinnen Jana Lucas und Anne-Kathrin Winkler ein sich über mehrere Semester erstreckendes neues Ausbildungsmodul: Neben fachwissenschaftlichen Kursen wurden aufeinander abgestimmte Projekteinheiten angeboten, die die kunsthistorischen Inhalte auf ihre öffentliche Vermittelbarkeit hin untersuchten und einem Publikum präsentierten. Ausgangspunkt dazu waren Aspekte der spanischen Kunstgeschichte, die bisher kaum im Lehrangebot deutscher Universitäten zu finden waren: Die Beschäftigung mit spanischer Kunst vom „Siglo de Oro“, dem Goldene Zeitalter Spaniens, bis zu zeitgenössischer Performancekunst bildeten die fachliche Grundlage der praktisch angelegten Projekteinheiten. Abschließen wird das neue Ausbildungsmodul eine Ausstellung über Spanienmythen in der Fotografie. Da der zeitgenössischen Fotografie das „Siglo de Oro“ oft als historischer Referenzpunkt diente, untersuchte das Projekt zunächst die Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts in Spanien, um dann bei einer Exkursion nach Zentralspanien das erlernte Wissen für das Arbeiten im Tourismus aufzubereiten und den Arbeitsmarkt für Kunsthistoriker in Spanien kennen zu lernen. In der zweiten Projektphase, die eine Ausstellung zum Ziel hatte, wurden ebenfalls kunsthistorische und berufspraktische Kenntnisse in einem zweiteiligen Modul vermittelt. Charakteristika von Spanienbildern in der Fotografie werden praxisrelevant in einer Ausstellung präsentiert. Begleitend finden dazu Seminare und Vorträge statt, in denen berufspraktische Qualifikationen wie Kulturfinanzierung, Lektorieren, Marketing oder Presse- und Öffentlichkeitsarbeit vermittelt werden. Welche Erfolge das Pilotprojekt zu verzeichnen hat und mit welchen Schwierigkeiten die Studierenden zu kämpfen hatten, zeigt der folgende Beitrag.
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Derzeitige Studienbedingungen Verfolgt man die Diskussionen unter Kunsthistorikern, so gewinnt man schnell den Eindruck, dass immer weniger Möglichkeiten für einen erfolgreichen Berufseinstieg vorhanden sind. Aus unserer Sicht muss diese Wahrnehmung ebenso kritisch hinterfragt werden wie die Bedingungen des heutigen universitären Studiums der Kunstgeschichte und ihre Folgen für den Berufseinstieg. Sind die schönen Tage der kunsthistorischen Arbeit für die heutigen Absolventen der Kunstgeschichte wirklich vergangen? Welche Arbeitsperspektiven eröffnen sich den Absolventen? Bereitet die derzeitige universitäre Ausbildung der Kunstgeschichte die Studierenden adäquat auf den Arbeitsmarkt vor, oder besteht schon innerhalb des Universitätsstudiums Handlungsbedarf? Wie diese Fragen Studierende beschäftigen und wie diese mit den Chancen und Risiken ihres offenen Berufsbildes umgehen, zeigt ein Projekt am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig. Das Programm verbindet fachliche Qualifikation in einem Spezialgebiet mit Praxismodulen zu klassischen und berufspraktischen Aufgabenfeldern kunsthistorischen Arbeitens. Die Diskussionen um die Modularisierung der Studiengänge im Rahmen der Umstellung auf Bachelor- und Master-Studiengänge regte auch eine interne Debatte um Studieninhalte des Faches Kunstgeschichte an. Gerade von studentischer Seite wird wiederholt eine verstärkte Berücksichtigung praktischer Aufgaben gefordert, die zumeist von Seiten der Universität als modische Zusatzqualifikationen abgetan werden. In diesem Zusammenhang wird die Hauptaufgabe des Universitätsstudiums weiterhin in der Vermittlung klassischer Inhalte, wie der Erforschung, Erhaltung und Vermittlung von Kunstwerken, gesehen. Das praktische Know-how soll sich der Studierende selbständig, beispielsweise in Form von Praktika, aneignen. Dass diese innerhalb des Studiums jedoch nur ein geringes Zeitfenster einnehmen, wird dabei nicht berücksichtigt. Perspektivisch gesehen werden die Möglichkeiten für selbst organisierte Projekte durch die Umstellung auf das Bachelor-/Master-System sogar noch abnehmen. Verschulte Curricula wirken der notwendigen Flexibilität für derartige Vorhaben entgegen. Gegenüber den Wünschen der Studierenden beachtet das traditionelle Universitätsstudium den Wandel des Kultursektors nur unzureichend. Während einerseits die Zahl der Arbeitsplätze im öffentlichen Sektor wie im Museum, in der Denkmalpflege und in der Forschung stagnieren, hat sich andererseits ein florierender Arbeitsmarkt in der Kulturvermittlung, wie beispielsweise in der Öffentlichkeitsarbeit, im Marketing, im Tourismus oder im Projekt- und Eventmanagement, entwickelt, welcher der gesteigerten Nachfrage nach einem heterogenen kulturellen Angebot nachkommt beziehungsweise es initiiert oder fördert. In diesen Aufgabenfeldern sind jedoch neben dem geisteswissenschaftli-
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chen Fachwissen zunehmend auch Kenntnisse in Management, Public Relations, Recht, Organisation und Betriebswirtschaft gefragt, die wiederum im kunsthistorischen Studium kaum vermittelt werden. Die Entwicklung im halböffentlichen1 und privaten Kultursektor hat auch die Diskussion um die Voraussetzungen für eine Tätigkeit im öffentlichen Sektor gewandelt: Vergleicht man heute Stellenanzeigen für Museumsmitarbeiter mit denen vor zehn Jahren, so findet sich neben den üblichen Fragen nach der fachlichen Qualifikation allenthalben die Forderung nach Erfahrungen in der Einwerbung von Spenden- und Sponsorengeldern, nach der Fähigkeit, die Kultureinrichtung nach außen hin zu vertreten und sie im differenzierten kulturellen Angebot öffentlichkeitswirksam zu platzieren. Diese Ansprüche entspringen oft dem internen Druck der Kulturverwaltung, die immer knapper werdenden Gelder durch publikumswirksame Aktionen verteidigen zu müssen. Innerhalb dieser Diskussion ist unser Projekt ein Beispiel für den dringend geforderten Praxisbezug, bei dem wissenschaftliches Arbeiten und dessen praktische Realisierung über einen längeren Zeitraum miteinander verknüpft werden. Das Konzept reagiert damit auf die Selbsteinschätzung der Studierenden am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig: 65% fühlen sich durch die universitäre Ausbildung nicht auf den Berufseinstieg vorbereitet.2 Dementsprechend schätzen 98% der Studierenden ihre Berufschancen unmittelbar nach dem Studium als kritisch bzw. schlecht ein. Trotzdem kann sich der überwiegende Teil hauptsächlich nur eine Anstellung in den traditionellen Berufsfeldern wie Museen, der Denkmalpflege, Medien und Galerien vorstellen. Für diese Tätigkeiten ist in der Regel eine Promotion erforderlich. Dennoch streben nur 38% der Studierenden diese Qualifikation an. Neuere Berufszweige, die oft die Selbständigkeit erfordern, wie z. B. Art Consulting oder freiberuflicher Kurator, rufen in der Regel Verunsicherungen ob des benötigten wirtschaftlichen und organisatorischen Grundlagenwissens hervor. Gleichwohl können sich mittlerweile mehr als 45% der Befragten vorstellen, auch in diesen Berufsfeldern zu arbeiten. Wie können die Studierenden schon innerhalb der Universität auf einen dispersen und wechselhaften Arbeitsmarkt vorbereitet werden? Diese Problematik greift unser Projekt auf. Es versteht sich daher nicht als eine Globallösung für die Risiken des Berufseinstiegs für Geisteswissenschaftler, sondern als eine Mikrostudie für die Absolventen der Kunstgeschichte. In dieser sollen bestimmte Kompetenzen des späteren Berufsalltags in verschiedenen Einsatzfeldern, wie 1 2
Gemeint ist hier die Zusammenarbeit von privaten und öffentlichen Trägern bei Kulturprojekten. Die folgenden Ergebnisse sind einer Umfrage unter den Studierenden am Institut für Kunstgeschichte der Universität Leipzig im April 2005 entnommen.
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sie sich uns im Kontakt mit der Praxis dargestellt haben, in einem quasi realen Rahmen erprobt werden. Jedoch handelt es sich um ein Experiment im geschützten Raum der Universität. Das ist nicht zuletzt daran zu erkennen, dass den Studierenden verschiedene Berufs- und Beschäftigungsformen vorgestellt werden, sie aber durch den Praxisbezug gleichzeitig die jeweils damit verbundenen Chancen und Risiken einschätzen lernen.
Der erste Schritt: „Vor der Praxis kommt die Kunstgeschichte“ Unser Projekt hat sich aus der Begeisterung für die spanische Kunst entwickelt. Insgesamt hat das Interesse an Spanien und seiner Kunst und Kultur seit der schrittweisen Öffnung des Landes nach Francos Tod (1975) zugenommen. In Deutschland existiert mit der 1989 gegründeten Carl-Justi-Vereinigung ein Forum für Experten und Interessierte an spanischer Kunstgeschichte und Kultur. Mit dieser Vereinigung arbeiteten wir eng zusammen, sodass den Studierenden die Tätigkeiten einer Forschungsplattform praktisch vermittelt werden konnten. Allerdings ist nach wie vor spanische Kunstgeschichte Mangelware in deutschen Lehrplänen; dementsprechend existiert auch kein eigenständiger Lehrstuhl. Dem entgegen steht die Vielfältigkeit und auch Einzigartigkeit der spanischen Kultur und das gestiegene Interesse an Spanien: Auf der Iberischen Halbinsel vereinigen sich Einflüsse der christlichen, jüdischen und arabischen Welt, was sich z. B. in künstlerischen Sonderstilen niederschlägt. Andererseits war (und teilweise ist) Spanien für viele gleichbedeutend mit Rückständigkeit, religiöser Intoleranz und europäischer Randlage. Seitdem spanische Kunstgeschichte in Leipzig gelehrt wird, hat sich eine immer größer werdende Gruppe von Studierenden gefunden, die sich für spanische Kunst engagieren und gemeinsam mit dem Dozenten PD Dr. M. ScholzHänsel Seminare, Exkursionen sowie Projekte durchführen und das erworbene Wissen in einer Ausstellung aufbereiten.
Der zweite Schritt: Von der Wissenschaft zur Praxis Insgesamt beruht unser Konzept auf der Verbindung zweier Arbeitsfelder: die kunsthistorische Beschäftigung mit einer Region und deren künstlerischen Erscheinungsformen auf der einen, die Schulung berufspraktischer Fertigkeiten auf der anderen Seite. Um die Brücke zwischen Praxis und Wissenschaft schlagen zu können, wählten wir zunächst Schwerpunkte der spanischen Kunstgeschichte aus, die nur marginal erforscht sind. Ziel war es, ein bisher kaum be-
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achtetes Feld kunsthistorischer Forschung – wie sie verschiedene Aspekte der spanischen Kunstgeschichte darstellen – Studierenden zugänglich zu machen, ihr Interesse dafür zu wecken und somit zur wissenschaftlichen Multiplikation beizutragen. Zu dem jeweiligen fachwissenschaftlichen Seminarthema entwickelten wir entsprechende berufspraktische Module, in denen Kenntnisse aus den Bereichen Lektorat, Tourismus, Ausstellungswesen sowie Presse- und Öffentlichkeitsarbeit vermittelt und durch die Studierenden an konkreten Beispielen erprobt wurden. Das heißt: Zu jedem fachlichen Hauptseminar boten wir ein Praxisseminar und gegebenenfalls Exkursionen an. Die folgende Übersicht verdeutlicht die verschiedenen Kompetenzen, die es dabei für die Studierenden zu erlernen und anzuwenden galt: fachliche Qualifikationen:
berufspraktische Qualifikationen:
selbständiges Erschließen wissenschaftlicher Sachverhalte
Ausstellungsorganisation und -gestaltung
Arbeit vor Ort im Ausland
Einbindung in ein Mentorenprogramm
Exkursionsplanung
Kontakte/Strukturen
Fachvorträge
Kulturfinanzierung
Schreibkompetenz
Lektorat
fachwissenschaftliche Workshops
Presse- u. Öffentlichkeitsarbeit Marketing
1
Projektphase: Zwischen „Siglo de Oro“ und internationalem Arbeitsmarkt
1.1 Seminarkomplex zur Kunst und Kultur des „Siglo de Oro“ In der ersten Projektphase, die den Zeitraum Oktober 2003 bis April 2005 umfasste, standen die vielfältigen künstlerischen und kulturellen Erscheinungsformen des ‚Goldenen Zeitalters’ der spanischen Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts („Siglo de Oro“) im Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Dabei zählt zweifelsohne der Palastkomplex El Escorial – zugleich Wohn-, Begräbnis- und Forschungsstätte der spanischen Habsburger – zu den Hauptwerken des „Siglo de Oro“. Zugleich handelt es sich hierbei aber auch um einen
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sozialen Verdichtungsort politischer, wissenschaftlicher sowie künstlerischer Aktivitäten, dem eine Schlüsselrolle in der Bildgestaltung im Zeitalter der Konfessionalisierung zukommt. Aufbauend auf diesem Wissensstand behandelte ein weiteres Seminar das Werk El Grecos in einer vergleichend-europäischen Perspektive. Dabei wurde die Problematik des Transfers tradierter Bildformeln in neue räumlich-soziale Gegebenheiten besonders problematisiert. Das dritte Seminar schließlich lenkte den Blick der Teilnehmer auf im Gegensatz zu El Greco bisher weniger bekannte spanische Künstler wie Juan de Juni oder Pantoja de la Cruz. Um die enge Verflechtung zwischen den einzelnen Künsten und kulturphilosophischen Disziplinen deutlich zu machen, behandelten Exkurse das schriftstellerische Werk Miguel de Cervantes sowie die Musik am spanischen Hof beziehungsweise in der katholischen Liturgie. Die intensive Behandlung eines relativ kurzen Zeitraumes verstand sich zugleich als Sensibilisierung für den gesamten Themenkomplex ‚Kunst in Spanien’ seit dem Spätmittelalter. Gerade das „Siglo de Oro“ sowie die umstrittene Herrscherpersönlichkeit Philipps II. hat sich – aufgrund der komplexen konfessionell-kulturellen Verdichtungen – zum Referenzpunkt der spanischen Kunst und Geschichte par excellence entwickelt. Die Auseinandersetzung mit der Reconquista prägt bis heute das politische und kulturelle Leben Spaniens, die Konfrontation mit der Rolle der katholischen Kirche nicht weniger. Daher war es nur folgerichtig, politische Monumente der Franco-Zeit, wie das Valle de los Caídos, das Tal der Gefallenen, in die Beschäftigung um die Kunst und Kultur des „Siglo de Oro“ einzubinden. Damit wurde gleichzeitig die Verbindung zur zweiten Projektphase aufgezeigt: Die Fotografie in Spanien setzt sich immer wieder mit den historischen Hinterlassenschaften von der frühen Neuzeit bis zu Franco auseinander, positioniert sich dazu sowohl verharmlosend3 als auch kritisch hinterfragend4.
1.2 Praxismodul: Kunsttourismus und Internationaler Arbeitsmarkt Im April 2005 wurden die in den Hauptseminaren gewonnenen Erkenntnisse vor den Originalen in Zentralspanien auf ihre Stichhaltigkeit hin überprüft. Dabei standen die Stationen Madrid, El Escorial, Toledo, Valladolid, Aranjuez und Alcala de Henarez auf dem Reiseplan. Die Exkursionsplanung und -organisation lag dabei zu großen Teilen in studentischer Hand. Die benötigten Exkursionsgelder konnten wir durch Institutsgelder decken, wobei es für den positiven 3 4
Ein Beispiel dafür ist z. B. der Fotograf Kurt Hielscher. Hierfür stehen vor allem zeitgenössische Künstlerinnen wie Crístina Garcia Rodero und Pilar Albarracín oder der Regisseur Pedro Almodóvar.
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Bescheid ausschlaggebend war, dass es sich um eine studentische Initiative handelte. Vor Ort trafen wir mit spanischen Kunsthistorikern von der Universität Complutense in Madrid, der Universität Valladolid und dem Museo del Prado zusammen, um mit ihnen den Stand der aktuellen Forschungslage zum „Siglo de Oro“ z. B. zur Inklusions-/Exklusionsproblematik vor allem der Juden und Muslime an der Schnittstelle verschiedener Kulturen, zu diskutieren und erste Absprachen zur Durchführung der Ausstellung zu treffen. Mit Prof. Dr. Marìa de los Santos, einer renommierten spanischen Fotografiehistorikerin, und dem deutschen Fotografen Eberhard Hirsch besprachen wir unser Konzept der Fotografieausstellung und die geplante Zusammenarbeit. Die Ausstellung widmet sich dem Thema „Spanien in der Fotografie – Mythos und Wirklichkeit“. Neben diesen fachlichen Fragen stieß unser kombiniertes Haupt- und Projektseminar bei den spanischen Kunsthistorikern auf großes Interesse. Dabei wurde schnell deutlich, dass gerade die noch vorhandene relative Studienfreiheit im deutschen Universitätssystem eine der wesentlichen Voraussetzungen für derartige studentische Projekte darstellt. Die Möglichkeit, während des Studiums praktische Erfahrungen zu sammeln, ist in Spanien zumeist nicht gegeben, da die wissenschaftliche Vermittlung zum überwiegenden Teil auf Frontalunterricht basiert. Um den Austausch zwischen deutschen und spanischen Studierenden weiterhin zu fördern sowie Einblicke in die verschiedenen Bildungssysteme zu gewähren, wurde mit dem Departamento de Historia del Arte der Universität Valladolid und unserem Leipziger Institut ein Erasmus-Vertrag geschlossen. Ziel des Praxismoduls der ersten Projektphase war es, berufspraktische Fähigkeiten im Bereich Kunsttourismus, Einstiegsmöglichkeiten in den spanischen Arbeitsmarkt sowie die Herstellung eines Reiseführers zu vermitteln. Bei der Umfrage unter den Studierenden des Institutes für Kunstgeschichte Leipzig hatten immerhin 33% der Befragten angegeben, dass sie sich eine Tätigkeit im Bereich Tourismus vorstellen könnten. Der Markt für Kunst- und Kulturreisen ist in den vergangenen Jahren beständig gewachsen, wobei gerade mit der hohen Qualität der Begleitführer, ihrem umfangreichen landeskundlichen, historischen und kunsthistorischen Wissen geworben wird. Für jeden Studierenden war es daher obligatorisch, neben dem wissenschaftlichen Referat an der Universität eine Führung im Rahmen der Exkursion vor Ort inhaltlich vorzubereiten, einen kurzen Text für ein Reisehandbuch zu erstellen sowie mit den örtlichen Kultureinrichtungen die Modalitäten für den Besuch abzusprechen. Dazu gehörten unter anderem die Gruppenanmeldung, die Verfügbarkeit der zu betrachtenden Kunstgegenstände sowie die Möglichkeit, eigene Führungen vornehmen zu können. Die Erstellung eines Reisehandbuches im Vorfeld der Exkursion erforderte das Layouten, das gegenseitige
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Lektorat und die Auswahl passender landeskundlicher Texte. Diese praktischen Arbeiten wurden von den Studierenden als hilfreich empfunden. Die spezifischen nationalen Arbeitsmarktanforderungen ebenso wie die Möglichkeiten, als Deutscher in Spanien beruflich tätig zu sein, war ein Schwerpunkt bei einem Arbeitsgespräch mit in Spanien tätigen deutschen Kunsthistorikern und Künstlern im Circulo de Bellas Artes, einem Zentrum für zeitgenössische Kunst und Kultur in Madrid. Verglichen mit den Möglichkeiten in Deutschland, als Kunsthistoriker zu arbeiten, zeichneten sich die Chancen als wesentlich einstiegsbeschränkter ab: Neben Universitätsstudium und Promotion muss der Kunsthistoriker bei zusätzlichen staatlich durchgeführten Prüfungen sein Faktenwissen unter Beweis stellen.
2
Projektphase: Von der Idee zur Ausstellung: Moderne und zeitgenössische Fotografie in und zu Spanien
2.1 Die inhaltliche Konzeption Während in der ersten Projektphase (Oktober 2003 – April 2005) die spanische Kunst und Kultur des 16. Jahrhunderts sowie Praxismodule zu Kunsttourismus, dem Verfassen populärwissenschaftlicher Texte und Arbeitsmarktchancen im Vordergrund standen, änderte sich in der zweiten Projektphase nicht nur das kunsthistorische Sujet, sondern auch die vermittelten Praxisinhalte. Insgesamt umfasste sie den Zeitraum von April 2005 bis Oktober 2006. In einem mehrsemestrigen Hauptseminar wurden die Studierenden in die spanische Fotografiegeschichte, die Besonderheiten der Medien ‚Fotografie‘ sowie ‚Fotografie im Buch‘ und die wichtigsten Bildthemen eingeführt. Ein zentrales Thema bildete dabei der Einsatz der Bilder: Gerade die persönliche Affinität einiger auch außerhalb Spaniens berühmter Künstler wie Ortiz Echagüe zum Franco-Regime verlangt vom Kunsthistoriker eine gewisse Sensibilität im Umgang mit den Objekten. Das erste Seminar zu moderner und zeitgenössischer Kunst- und Fotografiegeschichte führte in die modernen Themen des spanischen Kunstschaffens ein. Stereotypen wie die gesellschaftliche Allmacht der katholischen Kirche, das Carmen- wie das Stierkampf-Motiv, die Reconquista, die traditionelle Folklore der Landbevölkerung sowie die Herausbildung städtischer Lebenswelten werden bereits bei Goya erstmalig problematisiert und in einer teils schonungslosen bildkünstlerisch wie intellektuellen Radikalität dargestellt, sodass seine Bilder auch für Künstler im 20. Jahrhundert noch einen zentralen Referenzpunkt bilden.
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Zwei weitere Hauptseminare thematisierten das Medium ‚Fotografie‘ in seiner spezifischen Ausprägung in Spanien. Dabei standen einerseits wichtige Fotografen des 20. Jahrhunderts wie José Ortiz-Echagüe, der spätere Gründer des SEAT-Automobilkonzerns, Cristina García Rodero und die jüngst auf der Biennale in Venedig präsentierte Pilar Albarracín im Zentrum, andererseits aber auch deutsche Fotografen, die bewusst kritisch, aber auch bewusst unkritisch nationale Stereotypen offen legen oder den Bürgerkrieg thematisieren. Diese Bilder sind zum überwiegenden Teil für Bildbände gedacht, die sich dem Thema ‚Spanien’, sei es in einer landeskundlichen, einer historisierenden, einer anthropologischen oder aber ästhetisierenden Perspektive, widmen. Dazu zählen unter anderem die deutschen Fotografen Kurt Hielscher, Gerta Taro, Reinhart Wolf und Eberhard Hirsch. Die Studierenden waren bei ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzung dazu aufgefordert, die verschiedenen künstlerischen, oft auch politischen Standpunkte der einzelnen Künstler zu erarbeiten, die spezifische Verwendung des Mediums Fotografie als Einzelkunstwerk oder aber in Bildbänden zu berücksichtigen sowie ihre Ansätze gleichzeitig auf ihre Darstellbarkeit in einer Ausstellung hin zu überprüfen. In der von uns getroffenen Vorauswahl der auszustellenden Künstler spielte auch der spezifische Bezug zu Leipzig eine besondere Rolle. Gerade in der frühen Spanien-Fotografie erschienen die wichtigsten Bildbände in renommierten Leipziger Verlagen in erstaunlicher Qualität und Auflagenhöhe. Zudem hatten einige spanische Fotografen erst in Deutschland Erfolg, ehe sie sich in Spanien etablieren konnten. Schließlich spielte gerade zu DDR-Zeiten der Rekurs auf die antifaschistischen Internationalen Brigaden im spanischen Bürgerkrieg eine wichtige Rolle in der Selbstverortung des jungen Staates. Gerta Taro, die ursprünglich aus Leipzig kam, lieferte hierzu bemerkenswerte, auch heute noch berührende Zeitaufnahmen.
2.2 Die praktische Umsetzung der Ausstellung Ziel dieser zweiten Projektphase war die Vermittlung und Schulung von berufspraktischen Fähigkeiten im Ausstellungsbereich. Dazu zählten Konzepterarbeitung, Präsentation, Verfassen von Katalogbeiträgen, Künstler- und Galeriekontakte, die eigentliche Ausstellungsvorbereitung sowie das Redigieren eines Ausstellungskatalogs. Jeder Seminarteilnehmer entwickelte unter dem Oberthema „Spanien in der Fotografie – Mythos und Wirklichkeit“ ein eigenes Ausstellungskonzept, welches präsentiert und von den Seminarteilnehmern kritisch diskutiert wurde.
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Umfang und inhaltliche Schwerpunkte waren dabei vorgegeben. Zu den Aufgaben zählten neben der eigentlichen kunsthistorischen Erarbeitung des Themas gleichzeitig die Recherche nach den aktuellen Bildarchiven beziehungsweise der jeweiligen Künstlergalerie, der Verfügbarkeit der für die Ausstellung relevanten Fotografien sowie das Verfassen von Katalogbeiträgen zu den einzelnen Künstlern, Bildthemen und Stereotypen wie Stierkampf oder Flagellantenumzügen. Hinzu kam die Beschäftigung mit einem/r ausgewählten Künstler/Künstlerin, deren Biografie kataloggerecht aufgearbeitet wurde. Neben diesen Aufgaben war es für jeden Teilnehmer in einem zweiten Schritt obligatorisch, sich für die Mitarbeit in einer bestimmten Arbeitsgruppe für die Ausstellungsvorbereitung zu entscheiden. Die Aufteilung in Teams erwies sich von daher als sinnvoll, weil jeder Teilnehmer spezifische Stärken, Interessen und Vorkenntnisse mitbrachte, die es gezielt einzusetzen galt. Die Arbeitsgruppen umfassten folgende Bereiche: Ausstellungsleitung: Ausstellungslayout: Katalogteam: Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Begleitprogramm: Finanzierung:
inhaltliche Erarbeitung des Konzepts sowie organisatorische Gesamtleitung Erarbeitung einer dem Thema angepassten visuellen Präsentationsstrategie (Gesamtlayout, Beschriftung, Kataloglayout) redaktionelle Erarbeitung und Betreuung des Ausstellungskataloges Konzeption einer Pressemappe, Pressearbeit, Führungen Konzeption eines Rahmenprogramms (Workshop, spanische Filmwoche) Erstellung des Kostenplanes, Einwerbung von Drittmitteln nach den Mitteln des Sponsoring und Stiftungsmitteln
Jede Arbeitsgruppe musste die ihr übertragenen Aufgaben organisatorisch und inhaltlich erarbeiten. Um die Qualität des Unternehmens fachlich zu garantieren, begleiteten Experten die einzelnen Arbeitsgruppen. So führte eine Wirtschaftswissenschaftlerin in die inhaltliche und rechtliche Problematik des Sponsorings ein; des Weiteren fanden Vorträge zu Fragen der Museumspädagogik, des wissenschaftlichen Lektorats und des Galeriewesens mit Praktikern statt. Ziel war es dabei, einerseits Expertenwissen für das Ausstellungsprojekt zu gewinnen,
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andererseits so den Studierenden spezifische Einblicke in bestimmte Berufsfelder zu ermöglichen. Die Ausstellung ist für den Herbst 2006 geplant. Begleitend dazu findet ein wissenschaftlicher Workshop zum Ausstellungsthema statt. Dabei soll auch die Verflechtung von spanischer Kunstgeschichte und möglichen beruflichen Einsatzgebieten die Erfahrungen der Projektphasen reflektieren und einem größeren Publikum vorgestellt werden.
Über einen notwendigen Wandel der universitären Kunstgeschichte Die unterschiedlichen Stadien des gesamten Projektes mit mehreren aufeinander folgenden Hauptseminaren bis hin zur abschließenden Ausstellung und dem Aufbau neuer Netzwerke und Kooperationen verdeutlichen, wie umfangreich, vielseitig, aber auch zeitaufwendig kunsthistorisches Arbeiten sein kann und welche praktischen Kompetenzen ein angehender Kunsthistoriker schon während des universitären Studiums erlernen kann, wenn projektgebunden gearbeitet wird. Damit untermauern wir unsere These, dass die moderne Arbeitswelt im Kultursektor, aber auch der zunehmende Diskurs über die Finanzierung respektive die Finanzierbarkeit von Kultur neue Wege im Studium der Kunstgeschichte verlangt. Dafür sind eigene Ideen, die in adäquate wissenschaftliche Arbeit umgesetzt werden können, funktionierende Netzwerke sowie Kommunikationsfähigkeit, Teamarbeit und schließlich neue Wege bei der Finanzierung von Kultur notwendig. Schwierig bleibt es, aus dem Raum der Universität engen Kontakt zu Praktikern herzustellen. Der wissenschaftliche Austausch mit den spanischen Kollegen dagegen bereitete keinerlei Probleme. Daher ist es geplant, eine Kontaktdatenbank sowie ein Mentorenprogramm anzulegen, welches die Lücke zwischen Universität und Praxis schließen soll und perspektivisch den Studierenden den Einstieg in den Beruf erleichtert. Am Ende bleibt zu vermerken, dass keine absolute Trennlinie zwischen dem Arbeitsmarkt für Kunsthistoriker und der Universität gezogen werden kann. Dennoch muss Raum für unkonventionelle und so genannte Nischenarbeit sein, bei der ökonomische Gesichtspunkte zunächst nicht im Vordergrund stehen. Denn Forschung braucht Zeit und Geld. Diesen Rahmen kann auch weiterhin die Universität zur Verfügung stellen. Bei allem Eintreten für eine umfangreiche Ausbildung sowohl in fachlicher wie in praktischer Hinsicht muss auch klar sein, dass ein Kunsthistoriker kein Allroundtalent ist: Persönliche Neigungen und Fähigkeiten werden weiterhin entscheidend dafür sein, ob und wie man seine Tätigkeit ausübt – als Kulturmanager, Freiberufler oder Festangestellter im Museum. Eine Vorbereitung auf den
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Arbeitsmarkt ist unerlässlich, dafür kann die Universität einige Rahmenbedingungen schaffen; es ist aber auch das Engagement des Einzelnen gefragt. Andererseits kann Kunst – und damit auch die Tätigkeit der Kunsthistoriker – nie restlos vermarktet werden. Kunst und Kultur bleiben zu einigen Teilen dem Zugriff des Marktes versperrt, weil sie letztlich auch unbequem sind und nie „nur“ schön. „Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende.“5 Dies ist jedenfalls teilweise für die klassische Form der Vermittlung von Kunstgeschichte an der Universität zu konstatieren. Dies haben wir versucht, durch neue Wege in der Vermittlung am Beispiel der spanischen Kunstgeschichte deutlich zu machen. Daher können wir Aranjuez, verstanden als ein Ort klassischer Kunstgeschichte, schließlich doch heiter verlassen, die Wege und Pfade seiner ausufernden Parklandschaft haben wir jedoch nicht vergebens, sondern voller Wissensdurst beschritten.
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Über einen notwendigen Wandel der universitären Kunstgeschichte
Arbeitsmarkt im Wandel
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Transorganisationale Arbeit am Theater
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Transorganisationale Arbeit am Theater: Eine empirische Untersuchung marktvermittelter Arbeitsformen Transorganisationale Arbeit am Theater
Doris Ruth Eikhof1
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Einleitung
Im Diskurs über die Veränderungen der Arbeitswelt hält sich hartnäckig der Mythos ‚Mehr Markt auf dem Arbeitsmarkt‘. Durch Feuilleton, Talkshow, Parteipapier und Anti-Hartz-IV-Demonstration geistert dieser Mehr-Markt-Mythos, mal als ersehnte Utopie, mal als Schreckgespenst. In der Wissenschaft wird die Entwicklung der Arbeitswelt als eine Ausweitung der Marktlogik auf das Private nicht mehr nur via Konsum, sondern zusätzlich über das Arbeitsleben beschrieben. Die damit verbundene Vermarktlichung und Eigenkontrolle der Individuen wird kritisch diskutiert – vornehmlich allerdings in der Soziologie und Politologie und ohne explizite Anknüpfung an die Wirtschaftswissenschaften (vgl. Foucault 1992; Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Gorz 2000; Hardt/Negri 2000; Moldaschl 2002; Boltanski/Chiapello 2003; Opitz 2004). Wie jeder Mythos hat auch der Mehr-Markt-Mythos einen wahren Kern. Die zentrale Veränderung ist allerdings grundlegender und mehr als eine bloße Vermarktlichung: Es verändert sich die Form der Arbeit selbst. Arbeit wird immer häufiger in befristeten Kooperationskonstellationen erbracht, die über die Grenzen einzelner Organisationen hinweg operieren und über Marktmechanismen koordiniert werden. Das wesentliche Merkmal dieser Form von Arbeit aber ist ihr transorganisationaler Bezug, der sie von bisherigen Arbeitsformen der Moderne unterscheidet. Die neu entstehenden Arbeitsformen verweisen dabei nicht nur über die Grenzen einer Organisation hinaus, sondern vor allem hinein in ein komplexes Geflecht ökonomischer, kultureller und sozialer Zusammenhänge. 1
Ich danke PD Dr. Axel Haunschild nicht nur für die spannende transorganisationale Arbeit in unserer hoffentlich nicht zeitlich befristeten Forschungskooperation, sondern auch für wertvolle Anmerkungen zu meinem Wettbewerbsbeitrag, für die er sich zu einer Zeit Zeit genommen hat, zu der er weder Zeit noch Muße hatte.
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Doris Ruth Eikhof
Zur Erforschung dieser grundlegenden Veränderung der Arbeitswelt reichen die bisher vorhandenen, auf einzelne Perspektiven des Individuums, der Organisation oder der Gesellschaft beschränkten Untersuchungsansätze nicht aus. Als umfassenderes Analyseinstrument wurde daher der Idealtypus der transorganisationalen Arbeit formuliert (vgl. Eikhof 2004). Aufgrund von dessen praxistheoretischer Fundierung können Veränderungen der ökonomisch geprägten Arbeitswelt in ihrer gesellschaftlichen Einbettung analysiert werden, ohne einzelne Perspektiven zu privilegieren. Dieser Ansatz bietet damit zugleich die Möglichkeit, wirtschaftswissenschaftliche und sozialtheoretische Herangehensweisen zu verbinden. Kombiniert wird die Vorstellung der theoretischen Konzeption mit der Analyse eines Beschäftigungssystems, in dem transorganisationale Arbeitsformen schon lange etabliert sind: der Arbeitswelt Theater. Schauspieler, Regisseure, Bühnen- und Kostümbildner arbeiten schon seit Jahrhunderten in transorganisationalen Teams, die von Intendanten und Dramaturgen für eine kurze Zeit zusammengerufen werden. Dieses Beschäftigungssystem wurde in einer zweistufigen empirischen Studie, durchgeführt von der Autorin in Zusammenarbeit mit Axel Haunschild, untersucht (vgl. auch Eikhof 2004; Eikhof/Haunschild 2004a, 2004b; Haunschild 2003, 2002). Am Beispiel Theater wurden Formen und Logik transorganisationaler Arbeit sowie ihre Voraussetzungen und Folgen auf individueller, organisationaler, beschäftigungssystembezogener und gesellschaftlicher Ebene analysiert. Gleichzeitig war es Ziel der Untersuchung, das Erklärungspotenzial des Konzepts transorganisationaler Arbeit aufzuzeigen und damit einen Beitrag zur Erforschung von Veränderungen der Arbeitswelt zu leisten. Dieser Text erläutert zunächst das theoretische Analyseinstrument ‚transorganisationale Arbeit‘. Im Hauptteil wird am Beispiel der Arbeitswelt Theater aufgezeigt, welche Phänomene und Wirkungszusammenhänge mit transorganisationalen Arbeitsformen verbunden sind. Das Resümee führt die Ergebnisse der empirischen Analyse für einen Ausblick auf die Entwicklung der Arbeitswelt insgesamt zusammen.
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Transorganisationale Arbeit
Unzweifelhaft wird ein großer Teil der Arbeit immer noch im so genannten ‚Normalarbeitsverhältnis‘ erbracht, d.h. in unbefristeten Vollzeit-Beschäftigungsverhältnissen mit stabilen inhaltlichen und organisationalen Strukturen. Für einen nicht unerheblichen Teil der Arbeitswelt lassen sich aber neue Beschäftigungsformen beobachten, die Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion
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über atypische Arbeit (Kalleberg 2000; Cappelli 1995), Netzwerkorganisationen (Castells 2000; Miles/Snow 1996), Arbeitskraftunternehmer (Voß/Pongratz 1998; Pongratz/Voß 2003) oder ‚boundaryless careers‘ (Arthur/Rousseau 1996; Jones/Walsh 1997) sind. Unabhängig von ihren zum Teil unterschiedlichsten Erkenntniszielen und -perspektiven beschreiben diese Untersuchungen eine Form von Arbeit, die sich durch folgende Merkmale auszeichnet: (i) Arbeitsleistung wird im Rahmen befristeter Kooperationskonstellationen erbracht, (ii) die Beteiligung an Kooperationskonstellationen und die Mitgliedschaft in Organisationen sind lediglich lose gekoppelt, und (iii) Kooperationen werden über Marktmechanismen koordiniert. Befristete Kooperationskonstellationen: Transorganisationale Arbeit zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass Arbeitsleistung im Rahmen befristeter Kooperationskonstellationen erbracht wird.2 Diese von Anfang an zeitlich befristeten Konstellationen bestehen aus einer jeweils spezifischen Kombination von Kooperationspartnern (individuellen wie kollektiven Akteuren), Aufgaben und Zielen. Sie sind in einen spezifischen Kontext institutioneller Rahmenbedingungen eingebettet und weisen überwiegend idiosynkratische, von Ziel und Akteuren der Kooperationskonstellation abhängige Produktionsstrukturen und Kooperationsverläufe auf. Organisationen als Kooperationspartner müssen sich der kooperationsbezogenen Koordination unterordnen; verglichen mit organisationalen Arbeitsformen verringern sich ihre Einfluss- und Kontrollmöglichkeiten. Ob befristete Kooperationskonstellationen lediglich eine von mehreren Produktionsformen sind oder ob das gesamte Beschäftigungssystem um sie als dominierendes Strukturmerkmal herum organisiert ist, hängt vom Beschäftigungssystem ab. Diese Unterscheidung des Verbreitungsgrades ist zwar eher analytisch, aber sie ist insofern relevant, als Ausmaß und Bedeutung von Kooperationskonstellationen entscheidenden Einfluss auf die im jeweiligen Beschäftigungssystem relevanten Handlungslogiken haben. Lose Kopplung von Kooperationsbeteiligung und Organisationsmitgliedschaft: Organisationsgrenzen werden bei transorganisationalen Arbeitsformen auch hinsichtlich der Kooperationspartner überschritten. Art und Zahl der Kooperationspartner hängen vom Ziel der Kooperation ab. Zwar werden Organisationen als kollektiver Akteur oft zentrale Kooperationspartner sein und entsprechenden Einfluss auf die Kooperation haben. Kennzeichnend ist aber, dass die Mitgliedschaft in einer (zentralen) Organisation nicht Voraussetzung für die Beteiligung an einer Kooperation ist. Bei der Zusammenstellung der Kooperationsmitglieder ist deren möglicher Beitrag zur Erreichung des Kooperationsziels das entscheidende Kriterium, nicht Organisationszugehörigkeit. 2
Nahe liegend wäre die Bezeichnung ‚Projekt‘, die mittlerweile jedoch in zu unterschiedlichen Kontexten und zu wenig trennscharf benutzt wird.
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Koordination über Marktmechanismen: Kooperationskonstellationen als formale Struktur transorganisationaler Arbeit werden über Märkte oder marktähnliche Mechanismen koordiniert. Diese Marktmechanismen werden umso differenzierter und umfassender sein, je höher der Grad transorganisationaler Arbeit im jeweiligen Beschäftigungssystem ist. Unabhängig vom Ausmaß der Marktkoordination ist kennzeichnend, dass unterschiedliche Kapitalformen relevant sind. Ökonomisches Kapital kann ebenso von Bedeutung sein wie kulturelles Kapital (ungefähr: Bildung, Qualifikation) oder soziales Kapital, d.h. Ressourcen, die aufgrund der Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen mobilisierbar sind (vgl. Bourdieu 1983). Die Renditechancen der einzelnen Kapitalarten hängen vom Kontext der Kooperationskonstellationen ab. Dabei bleibt die wirtschaftswissenschaftliche Grundannahme, dass Akteure ihre Kapitalausstattung sichern oder möglichst vergrößern möchten, bestehen. Über ihre reine Form hinaus unterscheiden sich organisationale und transorganisationale Arbeit außerdem hinsichtlich ihrer jeweiligen Handlungslogik. Als Handlungslogik soll ein Set von Annahmen über Werte und Gesetzmäßigkeiten bezeichnet werden, das den Praktiken individueller wie kollektiver Akteure in einem bestimmten Zusammenhang zugrunde liegt. Weitgehend unabhängig vom diskursiven Bewusstsein der Akteure folgen Wahrnehmung und Produktion von Praktiken der jeweils dominierenden Handlungslogik (vgl. u.a. Bourdieu 1998, 1999a, 2001). Organisationale Arbeit unterliegt einer Handlungslogik, deren wesentliche Merkmale die Ideen des arbeitsteiligen, hierarchisch strukturierten Handelns in und zum Wohl von Kollektiven, der auf Dauer angelegten Mitgliedschaft auf Basis eines Anreiz-Beitrags-Schemas und der relativ stabilen Grenzziehung zwischen Organisation und Umwelt sind. Alle Entäußerungen, die die Akteure dem Bereich der Organisation zurechnen, werden vor dem Hintergrund dieser Annahmen wahrgenommen und produziert. Für transorganisationale Arbeit hingegen sind die Leitideen Flexibilität und akteursspezifische Kapitalakkumulation charakteristisch. Die zeitliche Befristung der Kooperationen gilt nicht als bedrohlich, sondern als Garantie für Entwicklungschancen und gegen Stillstand. Akteure entschließen sich zur Beteiligung an Kooperationskonstellationen, wenn diese positive Auswirkungen auf die Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem oder symbolischem Kapital versprechen. Da Investition und Ertrag der unterschiedlichen Kapitalien sich im Rahmen transorganisationaler Arbeit jeweils auf den Akteur beziehen und Arbeitskontexte ohnehin organisationsübergreifend sind, verliert auch die Unterscheidung organisationsintern/-extern und beruflich/privat an Bedeutung. Arbeit, die durch diese Merkmale gekennzeichnet ist, soll als transorganisationale Arbeit bezeichnet werden. Das Konzept der transorganisationalen Arbeit fokussiert vor dem Hintergrund empirischer Beobachtungen Verände-
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rungen der Arbeitswelt, ohne einzelne Analyseperspektiven zu privilegieren. Gleichzeitig bietet die Analyse der Form der Arbeit selbst Anknüpfungspunkte für Untersuchungen auf individueller, organisationaler, beschäftigungssystembezogener und gesellschaftlicher Ebene, ohne den Blick auf die jeweilige Fragestellung von vornherein zu verengen. Im folgenden Abschnitt wird die Analyseperspektive transorganisationale Arbeit auf die Arbeitwelt Theater angewandt.
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Transorganisationale Arbeit am Theater
3.1 Theater als ‚Creative Industry‘ Balletttänzer, Schauspieler, Regisseure, Schriftsteller, bildende Künstler und viele Musiker arbeiten schon seit langem in Strukturen, die von den typischen Prozessen der Industrie- und Dienstleistungsproduktion stark abweichen. Caves definiert diese Bereiche als ‚Creative Industries’, in denen transorganisationale, heterogene Teams in befristeten Kooperationen unter hohem Zeitdruck ein bestimmtes Ergebnis mit ungewissem Markterfolg produzieren (Caves 2000). Die Kooperationen werden über Märkte koordiniert, auf denen informelle Bewertungsmaßstäbe wie Reputation ausschlaggebend sind und sich Investitionsentscheidungen auch auf andere als ökonomische Kapitalformen beziehen (Eikhof/Haunschild 2004a, 2004b). In dieser transorganisationalen Struktur sind die Akteure für ihre Beschäftigungsfähigkeit (employability) und die Vermarktung ihrer Arbeitsleistung selbst verantwortlich (s.a. Haak/Schmid 1999; Menger 1999). Karrieren werden über den wirtschaftlichen und/oder künstlerischen Erfolg der Projekte definiert, an denen ein Künstler beteiligt war (Jones 2002; Jones/Walsh 1997; Haunschild 2003). Auffällig ist die hohe intrinsische Motivation der Arbeitenden, die von einem spezifisch künstlerischen Lebensstil und den Werthaltungen der Boheme gestützt wird: Entwicklung künstlerischer Fähigkeiten, Aufbau und Pflege von Reputation sowie Identitätsfindung und Selbstverwirklichung durch die Kunst spielen eine essenzielle Rolle, und nicht selten sind sie den Künstlern wichtiger als monetäre Erfolge (Brooks 2000; Eikhof/Haunschild 2004a, 2004b). Innerhalb der Creative Industries schwankt die Verbreitung transorganisationaler Arbeitsformen. Während in der Filmindustrie transorganisationale Arbeitsformen als Strukturmerkmal interpretiert werden können (Jones/Walsh 1997; Faulkner/Anderson 1987), existiert am Theater sowohl transorganisationale als auch organisationale Arbeit. Für jede Inszenierung wird ein Team aus theatergebundenen Ensembleschauspielern, Dramaturgen, Technikern usw. sowie frei arbeitenden Regisseuren, Bühnen-/Kostümbildnern und Gastschauspie-
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lern neu zusammengestellt. Pro Spielzeit arbeiten an großen Theatern etwa 15 solcher Produktionsteams jeweils zwei Monate zusammen. In Deutschland obliegt die Leitung der ca. 150 Stadt- und Staatstheater den Intendanten, die den jeweiligen Stadt- und Landesregierungen gegenüber sowohl für den künstlerischen Gehalt des Repertoires als auch für die Budgetverwendung verantwortlich sind. Große Häuser beschäftigen ein Ensemble von ca. 25 bis 40 Schauspielern, deren ‚Normalvertrag Bühne‘ auf ein, seltener auf zwei oder drei Jahre befristet ist und dessen Auflösung einer Nichtverlängerungsmitteilung bedarf. Im Durchschnitt bleiben Ensembleschauspieler ca. fünf Jahre an einem Theater, mit steigendem Lebensalter verlängert sich diese Zeit in der Regel beträchtlich. Zusätzlich zu ihrer Ensembletätigkeit spielen Schauspieler (sofern es die Theaterleitung erlaubt) oft in Projekten außerhalb des Hauses, vor allem in wesentlich besser bezahlten Fernseh- und Filmproduktionen. Ihre Beschäftigungssituation oszilliert somit zwischen Freiberufler- und Selbständigendasein einerseits und unbefristetem Arbeitnehmerdasein andererseits. Intendanten und zum Teil andere künstlerische Angestellte wie Dramaturgen haben zumeist längerfristige Verträge und bleiben im Schnitt circa zehn Jahre an einem größeren Haus. Fest angestellt hingegen ist eine beachtliche Anzahl an Techniker- und Verwaltungspersonal. Auf ca. 70 künstlerische Mitarbeiter kommen an einem größeren Repertoiretheater ca. 250 nichtkünstlerische Angestellte. Für die Analyse transorganisationaler Arbeit ist diese Mischung unterschiedlicher Beschäftigungsverhältnisse besonders interessant, denn sie zwingt die Unternehmensführung, die unterschiedlichen Handlungslogiken organisationaler und transorganisationaler Arbeit zu integrieren. Aus methodologischer Sicht ist außerdem günstig, dass das Beschäftigungssystem Theater eine schon seit langem stabile Struktur besitzt: Bereits 1874 fixierte eine erste Fassung des heute gültigen ,Normalvertrag Bühne‘ die auch damals schon lange Zeit bestehende Realität der Theaterarbeit als Tarifvertrag (Waidelich 1991). Darüber hinaus weisen Theaterkünstler und hier insbesondere Schauspieler verhältnismäßig homogene Kompetenzprofile auf, wodurch berufliche Situation und Karriere relativ gut vergleichbar sind.
3.2 Struktur der Untersuchung Die Basis der vorliegenden Untersuchung transorganisationaler Arbeit bilden qualitative empirische Daten aus 35 teilstrukturierten, intensiven Interviews, die zwischen 2000 und 2003 mit Theaterkünstlern (Schauspielern, Schauspielschülern, Regisseuren, Bühnenbildnern und musikalischem Leiter) und Mitgliedern der Theaterleitung (Intendant, Dramaturgen, Disponentin und Verwaltungsdi-
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rektoren) sowie mit Vertretern überbetrieblicher Organisationen wie des Bühnenvereins, der Genossenschaft deutscher Bühnenangehöriger und der Schauspielschulen geführt worden sind. Die Bühnenangehörigen waren überwiegend an drei großen staatlichen Repertoire-Theatern in Deutschland beschäftigt (vgl. Haunschild 2002, 2003; Eikhof/Haunschild 2004a, 2004b). Ergänzend werden erste Ergebnisse einer in Kooperation mit dem Vienna Career Panel Project (ViCaPP) der Wirtschaftsuniversität Wien durchgeführten Erhebung am Theater und in den Arbeitswelten Bank und Journalismus hinzugezogen. Mit insgesamt 114 umfangreichen Fragebögen wurden Daten zu Karriereaspirationen, berufsbezogenen Persönlichkeitsmerkmalen sowie Biografien mit Hilfe speziell entwickelter Skalen sowie Skalen des ‚Neo Fünf-Faktoren Inventars‘ von Borkenau/Ostendorf (1993, ursprünglich Costa/McCrae) und des ‚Bochumer Inventars zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung‘ von Hossiep/Paschen (2003) erhoben. Die folgenden Abschnitte analysieren basierend auf den Ergebnissen dieser Studien die Arbeitswelt Theater als Mischform organisationaler und transorganisationaler Produktionsstrukturen.
3.3 Befristete Kooperationskonstellationen Als erstes Merkmal transorganisationaler Arbeit wurde die Produktion im Rahmen befristeter Kooperationskonstellationen und mit idiosynkratischen Produktionsprozessen beschrieben. Am Theater sind die formalen Produktionsstrukturen hingegen auffällig klar definiert und lassen nur in seltenen Fällen Abweichungen zu: Für jedes Stück gilt die immer gleiche Abfolge verschiedener Probenformen. Sehr idiosynkratisch ist dagegen die zentrale Produktionsressource, die künstlerische Zusammenarbeit. Alle Interviewpartner beschrieben, wie stark der Charakter der Zusammenarbeit und die geteilten oder eben umstrittenen künstlerischen Vorstellungen vom angestrebten Ziel Arbeitsergebnisse beeinflussen und wie unterschiedlich diese Aspekte von Team zu Team ausgeprägt sind. Dabei scheint nicht zwingend Harmonie zu besonders guten Ergebnissen zu führen, sondern oft erst Spannung, Diskussion oder sogar Rivalität. Wie sehr Krisen und Reibereien den Arbeitsalltag bestimmen, zeigt die Einschätzung eines Intendanten, sowohl er als auch sein Team von fünf Dramaturgen wären pro Woche mindestens einen vollen Tag mit Konfliktmanagement beschäftigt. So betrachtet erscheinen rigide Probenstrukturen eher als Versuch, diese überbordende und so ausschlaggebende Idiosynkrasie in der Zusammenarbeit der Kooperationspartner zu kanalisieren.
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Die ständige Veränderung der Kooperationskonstellationen begünstigt zum einen eine kreativitätsfördernde Arbeitsatmosphäre, die in stabilen Produktionsstrukturen selten oder gar nicht erreicht wird. Zum anderen wachsen durch die beständige Fluktuation der Kooperationspartner die Unsicherheiten über das Verhalten der jeweils anderen, über deren Fairness und Loyalität, die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen (Finanzmittel, intellektuelle und künstlerische Fähigkeiten, Kontakte) und ihre Motivation, diese Ressourcen auch tatsächlich einzusetzen und mit anderen Partnern zu kooperieren. Häufig ist ebenfalls unklar, welche Lernmöglichkeiten die Kooperation bietet, welchen Erfolg die Arbeitsergebnisse am Markt erzielen werden, und damit insgesamt, welchen Beitrag eine bestimmte Kooperation zur individuellen Karriere respektive zum organisationalen Erfolg leisten kann. In unbefristeten, intraorganisationalen Beziehungen werden diese Unsicherheiten durch im Zeitablauf erworbenes Wissen über den jeweiligen Vertragspartner abgemildert. Für transorganisationale Arbeitsformen hingegen müssen andere Möglichkeiten der Unsicherheitsreduktion genutzt werden (vgl. Marsden 2003; Becker/Haunschild 2003). In der Theaterindustrie sind dies beispielsweise organisationsinterne und organisationsübergreifende Netzwerke; die so genannte ‚occupational community‘ mit ihrer impliziten Unterscheidung zwischen ‚professionellen‘ Theaterkünstlern und Amateuren; überbetriebliche Institutionen wie GDBA und Bühnenverein, die allgemeingültige Rahmenbedingungen der Theaterarbeit aushandeln; Arbeitsmarktintermediäre wie die ZBF und freie Agenten sowie schlussendlich der künstlerische Lebensstil, der sowohl individuelle Arbeitseinstellung als auch den Zusammenhalt der Künstlergemeinschaft absichert. Diese kollektiven Strukturen sorgen für allgemein gültige Leistungsnormen und ermöglichen (individuellen und kollektiven) Akteuren den Erwerb qualifikationsbezogener Signale sowie den Aufbau von Reputation und Marktwert (Jones 2002). Gleichzeitig machen sie Informationen über (potenzielle) Vertragspartner zugänglich, die vom jeweiligen Gegenüber nicht direkt beobachtet werden können.
3.4 Lose Kopplung von Kooperationsbeteiligung und Organisationsmitgliedschaft Die Bindung zwischen Kooperationsbeteiligung und Organisationsmitgliedschaft ist aufgrund der kooperationsübergreifenden Verträge von Intendanten und Ensemble an Repertoire-Theatern deutlich enger als beispielsweise in der freien Theaterszene. Aber da (i) organisationsexterne Kooperationspartner einen bedeutenden Anteil an der Produktion haben und (ii) Theaterkünstler oft an Kooperationen außerhalb ‚ihres‘ Hauses beteiligt sind (z.B. TV-/Filmproduktion),
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ist die Verbindung zwischen dem Theater als Organisation und seinen künstlerischen Mitarbeitern wesentlich lockerer als in organisationalen Arbeitswelten. Entsprechend wird Loyalität eher dem Beruf oder einzelnen Personen wie Intendanten oder Regisseuren gegenüber empfunden als gegenüber dem Theaterhaus. Angesichts der Notwendigkeit, ihre Karriere hinsichtlich Können und Reputation voranzutreiben, hat die Bindung an ein Haus für die Theaterkünstler an Bedeutung verloren. Auch in der ViCaPP-Untersuchung bewerteten die Schauspieler freie Arbeitsverhältnisse als wesentlich attraktiver als langfristige Verträge mit einem Haus. Aufgrund der lediglich losen Kopplung von Kooperationsbeteiligung und Organisationsmitgliedschaft sehen sich Theaterleitungen einem sehr starken Einfluss von organisationsexternen Phänomenen auf die von ihnen in künstlerischer und wirtschaftlicher Hinsicht verantworteten Kooperationen gegenüber. Im komplexen, transorganisationalen Netzwerk der ‚occupational community‘ beziehen alle Kooperationspartner implizite, aber sehr exakt definierte Positionen, die in die jeweilige Kooperationskonstellation hineinwirken: Die Autorität eines Kooperationspartners etwa hängt direkt vom Erfolg seiner letzten Inszenierung ab. Erfolgreiche Personalführung am Theater muss für jeden der Kooperationspartner diese individuelle Konstellation organisationsinterner und -externer Einflüsse berücksichtigen. Die Mehrheit der Schauspieler gibt beispielsweise an, zwar mit einer engen Bindung an ein Ensemble arbeiten zu wollen, aber möglichst als freie Schauspieler mit genügend Verhandlungsmacht, um jederzeit attraktive andere Angebote wahrnehmen zu können. Entsprechend versuchen die Theaterleitungen, genau so viele externe Engagements zu erlauben, dass ihre Ensemblemitglieder sich nicht eingeengt fühlen, gleichzeitig aber auch nicht zu gute externe Beschäftigungsmöglichkeiten aufbauen und den Ensemblevertrag kündigen können. In derartiger Form muss Personalmanagement am Theater auf unzählige Einzelfälle zugeschnitten sein. Ein zweites Problemfeld der Personalführung entsteht dadurch, dass transorganisationale Arbeitsformen aufgrund der nur losen Bindung an einzelne Organisationen und damit auch Organisationskulturen eine eigene Handlungslogik entwickelt haben. Während organisationale Arbeitsformen durch die Ideen arbeitsteiligen Handelns im und zum Wohl von Kollektiven und durch AnreizBeitrags-Schemata geprägt sind, wirken in transorganisationalen Arbeitswelten Flexibilität, Mobilität und akteursspezifische Kapitalakkumulation als Leitmotive. Am Theater finden sich sowohl organisationale als auch transorganisationale Arbeitsformen, sodass beide Logiken ausbalanciert werden müssen. Dabei entsprechen die Bereiche transorganisationaler und organisationaler Arbeit im Wesentlichen den Bereichen künstlerischer und nichtkünstlerischer Tätigkeit. Ein typischer Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen von Arbeitenden sind
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abendliche Proben kurz vor der Premiere, die das technische Personal unter Berufung auf seine tarifvertraglichen Arbeitszeiten beenden möchte, während das künstlerische Team weiterproben will. Verstärkt auch durch die zunehmende Notwendigkeit, Theaterarbeit immer flexibler zu gestalten, haben einige Theaterleitungen versucht, diese Konflikte durch die Vergabe künstlerischer Verträge (‚Normalvertrag Bühne‘) an leitende Techniker wie Licht- oder Tonmeister zu entschärfen – die technischen Angestellten sahen dies als massive Gefährdung ihrer Beschäftigungssicherheit an. Während befristete Kooperationskonstellationen und lose Organisationsbindung im Sinne transorganisationaler Handlungslogik zwar als Chancen eröffnend und Flexibilität garantierend gelten, werden sie im Lichte organisationaler Handlungslogik kritischer und negativer eingestuft.
3.5 Koordination über Marktmechanismen Auch hinsichtlich der Koordination der Kooperationen über Marktmechanismen nimmt die Theaterindustrie eher eine mittlere Position ein: Kooperationen werden sowohl über externe Märkte als auch innerhalb der Fokalorganisation Theater koordiniert. Allerdings weisen die organisationsinternen Märkte erstens einen sehr starken Wettbewerb auf und sind zweitens außergewöhnlich eng an die externen Märkte gekoppelt. Ensembleschauspieler stehen in extrem großer Konkurrenz zu Kollegen um die wenigen begehrten Rollen, die auf der Bühne Profilierungsmöglichkeiten bieten. Für viele von ihnen bedeutet Erfolg daher, „von der Theaterleitung geliebt zu werden“ – und von den Regisseuren, die ebenfalls bei Besetzungen mit entscheiden. Aller intrinsischen Motivation zum Trotz kann in transorganisationalen Arbeitsformen nur bestehen, wer eine ausgeprägte Marktorientierung besitzt. Auf den ViCaPP-Skalen, die Marktorientierung und Bewusstsein des eigenen Marktwerts messen, erreichten die Schauspieler entsprechend hohe Werte. Ihre Beschäftigungsverhältnisse sind in ein Umfeld eingebettet, das sich durch folgende Merkmale auszeichnet: (i) häufige Verhandlungen und Vertragsschließungen (aufgrund der kurzen Vertragsdauer) und daher (ii) wesentlich offensichtlichere Angebots- und Nachfragepositionen, (iii) individuelle Marktwerte, die zwar inoffiziell, aber dennoch allgemein beund anerkannt sind, und (iv) Marktteilnehmer, die Leistung und Gegenleistung wesentlich bewusster kalkulieren als ihre Counterparts in organisationalen Arbeitszusammenhängen. Diese Gesamtsituation führt zu einer vornehmlich outputorientierten Wahrnehmung potenzieller Kooperationspartner. Einzelne Akteure werden nicht als Anbieter bestimmter Produktionsressourcen betrachtet, sondern als Produzenten
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eines bestimmten Outputs, der im Rahmen des Produktionsprozesses (weiter-) verarbeitet werden soll. Folglich müssen Akteure nicht mehr nur berufliche Qualifikationen aufweisen, sondern die Fähigkeit, mit allen aus der Arbeit in befristeten Kooperationskonstellationen resultierenden Anforderungen zurechtzukommen. Es werden Selbstmanagement-Fähigkeiten wichtig, die es den Individuen ermöglichen, ihr gesamtes Leben auf die Erfordernisse des Berufs hin auszurichten und ihre Arbeitsfähigkeiten effizient zu vermarkten. Arbeitende in transorganisationalen Arbeitsformen haben das Transformationsproblem zu einem großen Teil verinnerlicht und müssen die Folgen dieser Internalisierung ausbalancieren können. Kurz, sie müssen alle Voraussetzungen für erfolgreiches Arbeitskraftunternehmertum besitzen (vgl. Eikhof/Haunschild 2004a, 2004b; Voß/Pongratz 1998): Extreme Flexibilität und Mobilität; die Fähigkeit, Leistungen und Gegenleistungen in unterschiedlichen Kapitalformen zu kalkulieren; Selbstmarketing-Kompetenzen und die Geschicklichkeit, Anforderungen von Beruf und Privatleben integrieren zu können. Derlei Qualifikationen werden überwiegend nicht im Rahmen offizieller Curricula der allgemeinen oder beruflichen Bildung vermittelt, sondern basieren auf sozialer Interaktion und geteilten Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensschemata, wie sie z.B. über inoffizielle Curricula in (Theater-)Studiengängen vermittelt werden. Diese Dispositionen sind integraler Bestandteil eines spezifischen Habitus, der im jeweiligen Lebensstil zum Ausdruck kommt (Bourdieu 1999b). Am Theater sind dies Habitus und Lebensstil der Boheme (Eikhof/Haunschild 2004a, 2004b). Intrinsische Motivation und ‚Kunst um der Kunst willen‘ scheinen auf den ersten Blick dem Arbeitskraft-Unternehmerkalkül von Leistung und Gegenleistung zu widersprechen. Allerdings müssen zwei Aspekte berücksichtigt werden. Erstens: Die Arbeit in befristeten Kooperationskonstellationen zwingt Theaterkünstler von vornherein zu einem gewissen Grad der Selbstökonomisierung. Dies wird von den Künstlern mehr oder weniger bewusst und mehr oder weniger bereitwillig akzeptiert – für die meisten von ihnen war und ist die Schauspielerei ein Traumberuf, für den sie Opfer zu bringen gewillt sind. Zweitens: Der Markt verlangt nicht zwingend rein ökonomische Kalkulationen, da in den Kooperationskonstellationen auch soziales, kulturelles oder symbolisches Kapital akkumuliert wird (Bourdieu 1983). Beispielsweise können über Kooperationskonstellationen geknüpfte Kontakte zu Schlüsselfiguren der Theaterlandschaft zur Abfederung von Beschäftigungsunsicherheiten ein wichtigerer Ertrag aus einer Beteiligung sein als rein monetäre Kompensationen (Eikhof/Haunschild 2004a, 2004b). Derlei Investitionen in soziales Kapital funktionieren jedoch gerade durch die Vertuschung ihres ökonomischen Werts. Der Schein des vermeintlich nichtökonomischen Charakters kulturellen und sozialen Kapitals kann im Theateralltag vergleichsweise problemlos aufrechterhalten werden
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– auch hier wirken künstlerischer Lebensstil und Habitus unterstützend. Nichtsdestotrotz unterliegt auch die Akkumulation sozialen und kulturellen Kapitals schlussendlich ökonomischen Argumenten (Bourdieu 1983), sodass diesbezügliche Investitionstätigkeiten zwangsläufig die Verschmelzung von beruflichem und privatem Leben nach sich ziehen: Sport dient der Erhaltung bühnentauglicher Kondition, und im Kino verschafft man sich einen Überblick über die Leistungen der Konkurrenz. Überdies werden private Verabredungen immer so getroffen und gelegt, wie es der Proben- und Aufführungsplan verlangt. Fast alle Schauspieler haben dabei Probleme, ihrer sozialen Umwelt die absolute Dominanz ihres Berufs über alle anderen Lebensaspekte zu erklären. Die Übertragung marktorientierter ökonomischer Logik sorgt auch innerhalb der ‚occupational community‘ für Probleme. Theaterarbeit vereinnahmt die gesamte Persönlichkeit, sodass per definitionem berufliche Beziehungen sehr intensiv und freundschaftsähnlich sind. Zusammen mit den zum normalen Arbeitsrhythmus konträren Arbeitszeiten führt diese ganzheitliche Vereinnahmung dazu, dass Schauspieler oft wenig bis gar keine Freunde außerhalb des Theaters haben – was die Transformation von Arbeitsbeziehungen in Freundschaften noch einmal verstärkt. Gleichzeitig haben jedoch ausnahmslos alle Beziehungen innerhalb der ‚occupational community‘ ökonomischen Wert, da sie Karrieren befördern oder zumindest Beschäftigungsunsicherheiten mindern können. Obwohl niemand ohne ein Minimum an schauspielerischem Können großen Erfolg haben wird, betonen doch übereinstimmend alle Interviewpartner, dass ohne Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten des Theatersystems – Intendanten, Regisseuren, Dramaturgen, Kritikern – keine Karriere möglich ist. Auch in der ViCaPP-Untersuchung waren Investitionen in soziales Kapital den Schauspielern wesentlich wichtiger als den Vergleichsgruppen der Journalisten und Bankangestellten. Die Situation sehr intensiver, freundschaftlicher Arbeitsbeziehungen mit gleichzeitig ökonomischem Wert führt zu einer Vielfalt an Spannungen und Schwierigkeiten im Alltag der Theaterkünstler. Aus den vielen unterschiedlichen Berichten kristallisiert sich ein Leitmotiv heraus: Da Freund(schaft)lichkeit jederzeit nur gespielt sein kann (und wo trügerischer als unter Schauspielern!), lassen sich die wahren Interessen des Gegenübers oft schwer einschätzen, und die privat wie beruflich so essenziellen zwischenmenschlichen Beziehungen werden oft mit einigem Unbehagen erlebt.
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In Zukunft: Transorganisationale Arbeitswelten?
Die Forschungsergebnisse zeigen das Theater nicht nur als ein Geflecht marktvermittelter, transorganisationaler und organisationaler Arbeitskooperationen,
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sondern auch als Arbeitswelt von Menschen mit sehr hoher intrinsischer Motivation, mit großem Engagement für die Produktion der Kunst um der Kunst willen. Die am Theater herrschende Form transorganisationaler Arbeit funktioniert nur, weil die Arbeitenden gewillt sind, ihr Leben um die Anforderungen ihres vereinnahmenden Berufs herum zu organisieren. Eine derartige Bereitschaft ist sicherlich nicht in allen Berufsfeldern vorstellbar. Trotzdem lässt sich beobachten, dass transorganisationale Arbeitsformen zunehmend Verbreitung finden. Über viele Beschäftigungssysteme hinweg wird Arbeitsleistung immer öfter in vagen Beschäftigungsverhältnissen erbracht, in denen Anbieter von Arbeitskraft deutlich mehr Beschäftigungsrisiko und Verantwortung für die eigene ‚employability‘ tragen als in organisationalen Arbeitsverhältnissen (vgl. für einen detaillierten Überblick Haunschild 2004). Insbesondere Arbeitsverhältnisse in wissensintensiven, kreativen Industrien wie Medien, Beratung, Werbung, Informations- und Kommunikationstechnologie, Bildung und Forschung werden oft projektbezogen geschlossen und haben zunehmend Werkvertragscharakter, d.h., Produktionsprozesse der Organisationen spielen im Extremfall nur noch insofern eine Rolle, als sie den Beginn eines Leistungsverhältnisses auslösen und den Abgabetermin einer Leistung festsetzen. Vermittlungsinstanz für Anbieter und Nachfrager von Arbeitskraft sind dabei interne und externe Märkte – auch Berater müssen sich beispielsweise unternehmensintern immer wieder via Networking für Projekte empfehlen. Viele gut ausgebildete Akademiker müssen zusätzlich zu ihrem fachlichen Können über die Voraussetzungen verfügen, selbständig, selbst kontrolliert und in hohem Maße zeitlich und örtlich flexibel arbeiten zu können. Sie müssen beruflich nutzbare Netzwerke aufbauen und pflegen und mit dem Wissen um den ökonomischen Wert vormals privater Beziehungen und Lebensaspekte leben können. Spannungen zwischen Arbeits- und Privatleben, sowohl ihrem eigenen als auch dem ihrer Bezugspersonen, müssen entweder abgebaut oder ausgeglichen werden. Den Schauspielern macht ihre Selbstwahrnehmung als Boheme die Arbeit in transorganisationalen Kooperationen erträglich, indem sie Leidensfähigkeit erhöht und Nachteile eher in Kauf nehmen lässt. Eine ähnliche ,Work-life‘Selbstwahrnehmung ist in vielen kreativen Berufen und – aller rezessionsbedingten Desillusionierung zum Trotz – in den Unternehmen der New Economy zu beobachten. Quantitative Untersuchungen belegen einen Anstieg der in diesen Branchen tätigen so genannten ‚Creative Class‘ an den Erwerbspersonen insgesamt (Florida 2002). Verbetrieblichung der Lebensführung, Selbstwahrnehmung, Werte und (Arbeits-)Ethik dieser wachsenden Creative Class dokumentieren auch diverse essayistisch-feuilletonistische Texte und künstlerische Arbeiten (Brooks 2001; Beigbeder 2001; v. Düffel 2002; Bessing et al. 2002;
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Pollesch 2002; Rinke 2002; Hartwig/Spengler 2003; Illies 2003; Niermann 2003). Werbekaufleute und Wissenschaftler sehen ihren Beruf nicht als Broterwerb, sondern als Mittel zur Selbstverwirklichung – auch wenn nicht allen die absolute Hingabe der Schauspieler an ihre Arbeit eigen sein mag. Ein Lebensstil, der persönliches Engagement für die berufliche Tätigkeit und die Ausrichtung des Lebens auf die Arbeit in einer Art und Weise miteinander verbindet, ist in Milieus von beachtlicher Größe bereits etabliert und eine wichtige Voraussetzung für die Verbreitung transorganisationaler Arbeit damit gegeben. Die Arbeitswelt Theater zeigt, dass befristete Kooperationskonstellationen ein in besonderer Weise kreativitäts- und innovationsförderndes Arbeitsumfeld schaffen und/oder schlicht die produktionsnotwendige Flexibilität garantieren können. Andererseits führt diese Form der Arbeit auf Seiten aller Beteiligten zu gravierenden Unsicherheiten. Diese können entweder durch kollektive Strukturen gemindert werden, zum Beispiel durch eine hohe Professionalisierung der Berufe oder stabile organisationsübergreifende Tarifregelungen (Haunschild 2003, 2002). Aus dieser Perspektive bieten die so oft für ihre Rigidität gescholtenen zertifizierten Ausbildungsgänge und Tarifverträge des deutschen Wirtschaftssystems gerade die notwendigen Voraussetzungen flexibler transorganisationaler Kooperationskonstellationen. Als zweites Mittel gegen Unsicherheiten transorganisationaler Arbeitsformen wirken Investitionen in soziales Kapital und Reputation, die wiederum entsprechende Netzwerke voraussetzen. Deren Aufbau und Pflege hat auch in anderen als den künstlerischen Berufen bereits an Bedeutung gewonnen, wie die zunehmende Thematisierung sozialen Kapitals in der wissenschaftlichen Diskussion und von Networking und beziehungsorientierten Karrierestrategien in Ratgeber-Literatur und Wirtschafts-/LifestyleMagazinen zeigt. Besonders in wissensintensiven Branchen und Berufen sind diese Voraussetzungen für transorganisationale Arbeit bereits gegeben. Unternehmen bzw. Organisationen werden an transorganisationalen Arbeitsformen vor allem deren Flexibilität schätzen. Gleichzeitig stellt sie die lose Kopplung von Kooperationsbeteiligung und Organisationsmitgliedschaft vor wesentlich komplexere Situationen in der betrieblichen Personalführung, für die fertige Personalmanagement-Strategien und ‚Best practice‘-Beispiele kaum angemessene Lösungen bieten können. Entscheidend werden hingegen individuelle Führungsstile und die persönliche Glaubwürdigkeit der Führungspersonen sein. Diese müssen sich auf Vertragspartner einstellen, die viel stärker als bisher die Attraktivität unterschiedlicher Verträge miteinander vergleichen und sich ohne besondere Loyalität einer Organisation gegenüber an der Attraktivität der Vertragsangebote orientieren. Unternehmen, denen – etwa aus Gründen der Unternehmenskultur, des Wissensmanagements oder schlicht der geringeren Planungskomplexität – an einer engeren Bindung der Kooperationspartner gele-
Transorganisationale Arbeit am Theater
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gen ist, werden noch stärker in ihr akquisitorisches Potenzial investieren müssen, als dies im Rahmen aktueller ,Employer of choice‘-Konzepte bereits geschieht. Die Gesellschaft als Ganzes muss angesichts einer Zunahme transorganisationaler Arbeit zumindest für bestimmte Erwerbspersonengruppen damit zurechtkommen, dass Privat- und Arbeitsleben (wieder) stärker miteinander verwoben sind und vormals Privates von der ökonomischen Logik der Arbeitswelt erfasst wird. Hierbei dürfte die Integration des Bewusstseins ökonomischer Bewertbarkeit zwischenmenschlicher Beziehungen in das klassische Verständnis von Freundschaft, Familie oder Liebe ein anspruchsvolles Projekt gesellschaftlicher Definitionsarbeit werden. Die im Zusammenhang mit transorganisationaler Arbeit zu erwartende Verbetrieblichung der Lebensführung wird außerdem den Bedarf an unterstützenden Serviceangeboten weiter verstärken. Von der Putzfrau über den Personal Fitness Coach bis zur neoaristokratischen Lebensform (berufstätige Eltern, Kinder, Haushaltshilfe und Aupairmädchen) sind dabei unterschiedlichste Abstufungen der Dienstleistungsnachfrage denkbar – und zum Teil bereits zu beobachten. Der Zusammenhang lokaler Gemeinschaften schließlich wird wesentlich lockerer und als Stütze der Gesellschaft unzuverlässiger werden, wenn Arbeitnehmer stärker als bisher Wohnortwechsel in Kauf nehmen. In diesen Zusammenhang passt auch der schon länger sichtbare Trend vom langfristigen Engagement in lokalen Vereinen und Parteien zur mittel- bis kurzfristigen Mitgliedschaft in Bürgerinitiativen oder Fitnessstudios. Hinter dem Mehr-Markt-Mythos steht demzufolge ein viel komplexeres und tief greifendes Geflecht von Veränderungen hin zu befristeten Kooperationskonstellationen, losen Bindungen zwischen den Kooperationspartnern und damit auch zwischen dem Individuum und seiner sozialen Umwelt, zu einer Verquickung von Arbeit und Lebensstil und zur Vermittlung von Kooperationsbeziehungen über Märkte für die unterschiedlichsten Kapitalarten. Über weite Strecken bedeutet dies eine Ökonomisierung der Gesellschaft – ein weiterer Mythos, für dessen Untersuchung das Konzept transorganisationale Arbeit ein geeignetes Analyseinstrument bietet.
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Doris Ruth Eikhof
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Transorganisationale Arbeit am Theater
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Ich-AG im Walde: Ländliche Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft
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Ich-AG im Walde: Ländliche Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft1 Till Westermayer
Im Mittelpunkt des folgenden Artikels steht die „Ich-AG im Walde“. Gemeint ist damit nicht die spezifische Rechtsform oder Fördermaßnahme, sondern das Phänomen der kleinststrukturierten Selbständigkeit – hier bezogen auf die Forstwirtschaft, in der sich in den letzten Dekaden durch Auslagerung von Arbeit ein derartiges Unternehmertum entwickelt hat. Die Arbeits- und Organisationsformen dieser „Ich-AG im Walde“ werden ausgehend von Merkmalen postindustrieller Arbeit dargestellt. Dabei wird in der Makroperspektive das Aufkommen forstlicher Dienstleistungsunternehmen mit sinkenden Waldarbeiterzahlen, Outsourcing-Prozessen und zunehmenden Vermarktlichungstendenzen verbunden. Komplementär dazu werden einige Ergebnisse aus qualitativen Interviews mit Forstdienstleistern zu ihren Arbeitsbedingungen dargestellt und diskutiert. Deutlich wird, dass die Arbeitsbedingungen forstlicher Dienstleistungsunternehmen sich nicht alleine mit dem Ansatz postindustrieller Arbeit erklären lassen. Eine ebenso wichtige Rolle spielen länger zurückliegende Traditionslinien ländlicher Arbeit in Kleinstunternehmen, die auch heute noch wirksam sind. In der Reaktion auf Globalisierung und Vermarktlichung werden beide Elemente wirksam. Den Schluss des Beitrags bildet eine Diskussion der Möglichkeiten besserer Arbeitsbedingungen im Kontext des globalen Marktes. Dargestellt wird, warum grundlegend bessere Arbeitsbedingungen nur möglich sind, wenn der Rahmen der Erwerbsarbeit deutlich verschoben wird.
1
Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft
Zum heutigen common sense der Soziologie zählt die Annahme, dass wir uns im Übergang von der Industriegesellschaft zu einer grundlegend anders strukturier1
Dieser Beitrag greift Ergebnisse aus dem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Projekt WALD (Wald | Arbeit | Land | Dienstleistung, Förderkennzeichen im Programm Zukunftsfähige Arbeitsforschung: 01 HN 0120, Laufzeit April 2002 bis Juni 2005) auf. Siehe dazu auch: http://www.fobawi.uni-freiburg.de/wald.htm.
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Till Westermayer
ten Gesellschaft befinden. Eine ganze Reihe von Entwicklungen bilden in den 1970er Jahren einen Nexus der Veränderung: soziale Bewegungen (Umwelt, Gleichberechtigung, Wertewandel), Verschiebungen des Produktivitätswachstums in den Dienstleistungssektor, die Herausbildung eines globalen Marktes, die „informationstechnologische Revolution“ und der Siegeszug des Kapitalismus am Ende von Blockkonfrontation und starkem Nationalstaat (vgl. exemplarisch Castells 2003). Die bis dahin geltenden Gewissheiten nationalstaatlicher „Containergesellschaften“ sind brüchig geworden. Auf Arbeit bezogen kommt es zu einem Regimewechsel (vgl. Beck 2000): Das fordistische2 Regime der „Ersten Moderne“ wird durch das – durchaus ambivalent gemeinte – Risikoregime der „Zweiten Moderne“ abgelöst. Es ist durch Individualisierung der Arbeit, ökologische Krise, Multiplizierung der Optionen und den Zwang zur Entscheidung auf dem Hintergrund hergestellter Unsicherheiten und Ungewissheiten gekennzeichnet. Demgegenüber herrscht auf dem Höhepunkt der „Ersten Moderne“ ein fordistisches Akkumulationsregime, in dem Produktion wie Konsum dem Prinzip der Massenstandardisierung unterworfen sind. Die typische und als Orientierungsmaßstab geltende (aber bei weitem nicht einzige) Form von Arbeit ist das sozial abgesicherte, zeitlich regulierte, betrieblich organisierte und als männlich gedachte Normalarbeitsverhältnis. „Die Voraussetzungen des ‚Normalarbeitsverhältnisses‘ – unbezahlte ‚private‘ Haus-, Familien- und Regenerationsarbeit von Frauen – werden verdrängt. Damit wird jedoch […] der überwiegende Teil der Arbeit vergessen.“ (Biesecker/v. Winterfeld 2000, S. 270). Das Risikoregime der „Zweiten Moderne“ bedeutet für die Arbeitsorganisation vor allem die Notwendigkeit zur Flexibilität. An Stelle standardisierter Produktions- und Arbeitsprozesse werden postfordistische Produktionsweisen gesetzt: mal als profitmaximierendes Outsourcing, mal als humanisierende Gruppenarbeit. Arbeit wird von normierter Sicherheit auf dereguliertes Risiko umgestellt. Exemplarisch stehen dafür flexible Arbeitszeitmodelle. Diese generelle Entwicklung trifft den „McJobber“, der nur mit zwei oder drei Jobs überleben kann, ebenso wie die hoch qualifizierte Akademikerin im Drahtseilakt zwischen befristeten Stellen. Quantitativ zeigt sie sich in weltweit hohen Zuwachsraten für den Bereich flexibler Arbeit und prekärer Beschäftigung, von der Schwarzarbeit bis zur Scheinselbstständigkeit. Politisch regulierbar ist diese Vielfalt prekärer Beschäftigungsformen mit ihren Feedback-Schleifen kaum (vgl. Beck 2000).
2
Eine in der Industriesoziologie gängige Einteilung unterscheidet zwischen einer „fordistischen“ Periode, in der wie in den Automobilwerken Henry Fords Massenproduktion und Massenkonsum zentral sind, und einer darauf folgenden, individualisierten und flexibilisierten Periode des Post-Fordismus (oder eben der „Zweiten Moderne“).
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Einige Zahlen zur aktuellen Situation mögen diese Entwicklung illustrieren: 1995 arbeitete (in Westdeutschland) ein Drittel der Erwerbstätigen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses, 1975 war es erst ein Sechstel. Relevant sind dabei insbesondere geringfügige Beschäftigung und Teilzeitbeschäftigung (Beck 2000, S. 107). Es ist anzunehmen, dass seit 1995 Arbeitsverhältnisse jenseits der Normalarbeit weiter zugenommen haben. Dafür sprechen die Statistiken (IAB 2004) ebenso wie aktuelle Schlagzeilen zum Ausbau des Niedriglohnsektors oder zur mehr oder weniger erfolgreichen Forcierung der Gründung von „Ich-AGs“. Obwohl das Normalarbeitsverhältnis absolut gesehen dominant bleibt, sehen viele eine Abkehr von der Vollbeschäftigungsgesellschaft (Beck 2000; Bonß 2000; Bude 2000) oder prognostizieren zumindest massive Veränderungen des Charakters von Arbeit (Bosch et al. 2001). Individualisierte, flexiblere, unsichere und entgrenzte Arbeit gewinnt an Bedeutung: im Trend quantitativ, heute schon als Leitbild gesellschaftlicher Debatten.
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Postindustrielle Arbeit aus Sicht der Industriesoziologie
Soziologie ist selbst ein Kind der industriellen Revolution. Insbesondere gilt dies für die Industriesoziologie. Was macht nun „postindustrielle Industriesoziologie“ (Deutschmann 2002) aus? Hartmut Hirsch-Kreinsen (2000) hat den Stand der Disziplin in einigen Thesen zusammengestellt: Berufe verlieren als lebenslanger Orientierungsrahmen an Bedeutung. Zugleich wird ein Funktionsverlust berufsorientierter Ausbildung konstatiert. Berufsprofile wandeln sich zu hybriden Qualifikationsbündeln. Das Schlagwort der systemischen Rationalisierung bezeichnet Rationalisierungsprozesse, die auf der Basis von Informations- und Kommunikationstechnologien und von Logistikkonzepten ganze Produktions- und Wertschöpfungsketten rationalisieren (lean production, just-in-time production). (Globale) Zuliefererketten und betriebsübergreifende Netzwerke werden wichtig. Systemische Rationalisierung verläuft heterogen und ungleichzeitig, Dezentralisierung und Rezentralisierung wechseln sich ab. Phänomene wie Gruppenarbeit, flexible Arbeitszeiten, ständiger Qualifizierungszwang und leistungsbezogene Entlohnungssysteme werden unter dem Stichwort Post-Taylorismus gefasst. Die Nutzung der menschlichen Arbeitskraft wird auf den Kern der Subjekte ausgeweitet. Die Folgen sind umstritten: Einerseits besteht Hoffnung auf den Ausbau von Autonomiespielräumen, andererseits wird „Herrschaft durch Autonomie“ (Manfred
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Moldaschl), also die Abwälzung von Verantwortungen und Risiko auf die Arbeitenden, diagnostiziert. Noch weiter gehende Ökonomisierungstendenzen sind mit dem Stichwort des Arbeitskraftunternehmers verbunden (Voß/Pongratz 1998). Es wird angenommen, dass der sich ausweitende Zugriff auf die Arbeitskraft letztlich zu einer Selbstökonomisierung alltäglicher Lebensführung führt, also dazu, dass auch Handlungen zur Bewältigung des Alltags bis hin zur Wahl des Freundeskreises primär danach abgewogen werden, ob sie für das weitere berufliche Fortkommen förderlich sind. Als Oberbegriff für einige der angesprochenen Phänomene mag das Konzept der Entgrenzung von Arbeit (Kratzer 2003) dienen. „Unter Entgrenzung von Arbeit verstehen wir die betrieblich vorangetriebene Erosion von Grenzen, die für die institutionelle Verfaßtheit von Arbeit im Fordismus-Taylorismus strukturell und normativ prägend waren.“ (Kratzer 2002). Dazu gehören Betriebsgrenzen, Grenzen zwischen Arbeit und Leben ebenso wie berufliche und Qualifizierungsgrenzen. Schließlich lassen sich Arbeitsformen des Bereichs der NichtNormalarbeit auch als prekäre Erwerbsarbeit bezeichnen (vgl. Castel 2000). Damit ist Erwerbsarbeit gemeint, die unterhalb der für ein Normalarbeitsverhältnis charakteristischen sozialen, rechtlichen und betrieblichen Standards angesiedelt ist.
3
Zur Arbeit in forstlichen Dienstleistungsunternehmen
Wie sieht es nun mit der Arbeit in forstlichen Dienstleistungsunternehmen aus? Forstunternehmer sind eine Erscheinung des ländlichen Raumes. Zugleich handelt es sich dabei überwiegend um kleinste Unternehmen. Beides rückt sie an die Peripherie des industriesoziologischen Blickes. Aber Forstunternehmer sind in Bewegung. Ihre jetzige, tragende Rolle in der Forstwirtschaft haben sie erst seit etwa 20 Jahren inne. Zugleich haben sie dabei einen Gestaltwandel durchgemacht. Dafür gibt es Gründe, die innerhalb der Forstwirtschaft liegen, aber es gibt auch Gründe, die eher auf allgemeine Entwicklungstendenzen hindeuten. Damit stehen sie exemplarisch für derzeit ablaufende Veränderungen von Arbeit. Es lohnt sich also, genauer hinzusehen. Dies soll im Folgenden einmal aus der Makroperspektive und einmal aus der Mikroperspektive geschehen.
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3.1 Die Makroperspektive: Zur Entwicklungsdynamik der Forstwirtschaft Forstwirtschaft als Teil des primären Sektors meint traditionellerweise die Bewirtschaftung von Wäldern zur Holzproduktion, heute ergänzt um Waldleistungen wie Natur- und Klimaschutz, Erholung und Tourismus. Ein Drittel der Landesfläche in Deutschland ist bewaldet. Etwa ein Drittel des Waldes ist Staatswald. Daneben findet Forstwirtschaft bundesweit in etwa 50.000 privaten und 8.500 körperschaftlichen Forstbetrieben3 statt. Die Privatwaldfläche verteilt sich hälftig auf etwa 1.500 Großprivatwaldbetriebe und über eine Million KleinstprivatwaldbesitzerInnen mit Flächen bis 10 ha. Die Besitzverhältnisse für einen großen Teil des Waldes in Deutschland sind also sehr klein strukturiert (Statistisches Jahrbuch Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 2002, S. 385 f.). An dieser Stelle interessiert nun die Geschichte der Waldarbeit (vgl. Erler 2001; Gröger/Lewark 2002, S. 17ff.). Eine grobe Skizze muss genügen: Bis ins 19. Jahrhundert war Waldarbeit vor allem Tagelöhnerarbeit oder Nebenverdienst von Landwirten, unterbrochen nur von einer 200-jährigen Phase, in der Holzkohle zum primären Energieträger wurde und der Holzhauer sich als Berufsbild etablierte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bewegte die Waldarbeiterfrage die forstlichen Gemüter. Die Möglichkeit zur Abwanderung in die industrialisierten Städte und zur Auswanderung nach Übersee trieb die Menschen aus der körperlich schweren Waldarbeit. Letztlich ging es darum, in Konkurrenz zur aufkommenden Industrie ein an einer Ausbildung orientiertes, konkurrenzfähig entlohntes Berufsbild „Waldarbeiter“ zu schaffen und auf einen festen Stamm von Arbeitern zu setzen. Dazu kam es seit den 1920er Jahren. Ein Ausbildungsberuf wurde die Waldarbeit in Deutschland erst in den 1950er (DDR) bzw. in den 1970er Jahren (BRD). Schon seit den 1920er, insbesondere aber seit den 1960er Jahren kann davon gesprochen werden, dass versucht wurde, die Waldarbeit ins fordistische Regime einzugliedern. Ein wichtiger Schritt dorthin war in den 1920er Jahren die Etablierung der Forstlichen Arbeitswissenschaft durch Hubert H. Hilf nach dem Vorbild der tayloristischen wissenschaftlichen Betriebsführung. Zur Eingliederung ins fordistische Regime trägt die Durchsetzung der Motorsägentechnik ebenso bei wie die Etablierung tariflich abgesicherter Stammarbeiterschaften mit fast ganzjähriger Beschäftigung. Eine vollständige Einbindung scheitert allerdings am nicht komplett standardisierbaren Arbeitsgegenstand und Arbeitsort Natur. Mit den 1980er, spätestens aber den 1990er Jahren erreicht diese
3
Forstbetrieb meint hier die wirtschaftliche Bearbeitung von Waldflächen, teilweise auch verknüpft mit Landwirtschaft. Nur ein geringer Anteil der PrivatwaldbesitzerInnen verfügt über Waldflächen, die wirtschaftlich tragfähig sind.
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„industrielle Phase“ der Forstwirtschaft in Deutschland ihren Endpunkt. Drei Entwicklungen tragen dazu bei: die Herausbildung eines globalen Holzmarktes (insbesondere für Zellstoff und Papier) führt zu einem enormen Preisdruck auf die Waldarbeit, mit dem Paradigmenwechsel hin zum „schlanken Staat“ wird die Wirtschaftlichkeit auch staatlicher Eigenbetriebe und Besitztümer betont, technologische Entwicklungen, die über investitionsintensive Großmaschinen (Harvester, Forwarder) halb automatisierte Baumfällung und Holzernte ermöglichen und so die Produktivität um den Faktor fünf bis zehn steigert. Diese Trends führen zu einem weiteren Abbau der Waldarbeiterzahlen, nachdem es bereits in den 1960er Jahren zu einem – damals vor allem die Saisonarbeitskräfte betreffenden – Rückgang kam (vgl. Abb. 1). Während 1974 allein in Westdeutschland noch etwa 80.000 Waldarbeiter (und wenige Waldarbeiterinnen) beschäftigt waren, sind es heute in Gesamtdeutschland weniger als 30.000 sozialversicherungspflichtige WaldarbeiterInnen. Abbildung 1: Entwicklung der WaldarbeiterInnen-Zahlen (1965–2002)
Entwicklung der WaldarbeiterInnen-Zahlen (1965-2002) Quellen: Forststatistik; Berufe im Spiegel der Statistik (IAB) 150.000 135.400
125.000 116.900 103.700
100.000
76.800
75.000
74.903 64.384
58.963 56.300
47.825 48.168
50.000 39.822
41.361 34.192 35.306
25.000
0 1965 1967 1969
1971 1973 1975 1977 1979 1981 1983 1985 1987 1989
Forststatistik (alte Bundesländer)
34.040 32.545 28.629 27.513
1991 1993 1995 1997 1999 2001 2003 2005
Sozialversicherungspfl. Beschäftigte Berufsordnung 062 (ab 1990: Deutschland gesamt)
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Neben den „festen“ WaldarbeiterInnen gab es seit Ende des Zweiten Weltkriegs Landwirte, die im Winter nebenberuflich im Wald arbeiteten, insbesondere zum Herausrücken des geschlagenen Holzes, anfangs mit Pferden, später mit landwirtschaftlichen Zugmaschinen und schließlich speziellen forstlichen Maschinen (Forwarder). Bis in die 1980er Jahre hinein wurden diese forstlichen Lohnunternehmer nur als „Lückenbüßer und Feuerwehr“ (Leinert 1988) eingesetzt. Waren es in früheren Jahrhunderten Tagelöhner, so ist das typische Bild des „freien Waldarbeiters“ nun der Landwirt, der im Winter für den Forstbetrieb Holz rückt und dabei in die Arbeit der „Waldarbeiterrotte“ [sic!] integriert wird. Abbildung 2: Tätigkeitsschwerpunkte forstlicher Dienstleistungsunternehmen "Mischformen Holztransport/Holzernte" 4% "Ingenieurdienstleistung und Logistik" 5%
Sonstiges 6%
"Klassische Forstunternehmer" (Motormanuell und/oder Rücken) 62%
"Holztransport" 8%
"Hochmechanisierte Forstdienstleister" (hochm. Holzernte) 15%
Anfang der 1990er Jahre kommt es zu Sturmereignissen, in deren Folge große Mengen Holz aufgearbeitet werden müssen. Zusammen mit den jetzt verfügbaren forstlichen Großmaschinen und den veränderten Leitbildern der Forstverwaltungen führt dies zu einer Gründungswelle forstlicher Dienstleistungsunternehmen. Das schlanke, auf seine Kernkompetenzen reduzierte Unternehmen geistert durch die Medien; auch betriebswirtschaftlich erscheint es günstig, Arbeit auszulagern. Zu den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die ein umfassendes Outsourcing denkbar machen, kommt die rasante Entwicklung der Forsttechnik. Die neuen Großmaschinen lohnen sich nur bei durchgehender Auslastung. Selbst ein allein selbständiger Holzrücker mit For-
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warder muss sich nun auf dieses Geschäft konzentrieren. In vielen Bundesländern werden keine staatlichen Forstmaschinen beschafft. Vielmehr wird das Risiko der Maschinenauslastung auf den neu entstehenden forstlichen Dienstleistermarkt ausgelagert, wo es zum zentralen Moment der Arbeit wird. Parallel dazu erfolgt ein massiver Personalabbau. Heute kann von bundesweit über 7.000 forstlichen Dienstleistungsunternehmen ausgegangen werden, bei denen etwa 23.000 Menschen ihren Arbeitsplatz haben (Westermayer et al. 2004; Brogt/Westermayer 2005). Um die Größenordnung deutlich zu machen: In Baden-Württemberg gibt es laut IG BAU derzeit etwa 3.500 Beschäftigte (inkl. BeamtInnen und Angestellte) im Staatswald und in der Landesforstverwaltung (IG BAU 2004). Dem stehen etwa 5.000 Erwerbstätige in forstlichen Dienstleistungsunternehmen gegenüber. Tendenziell ist davon auszugehen, dass sich der Abbau von Arbeitsplätzen im Staatswald und in den großen Privatforstbetrieben fortsetzen wird und dass forstliche Dienstleistungsunternehmen in ihrer relativen Bedeutung weiter zunehmen werden (Westermayer 2004). Über ein Drittel der Unternehmen bestehen nur aus einer Person. Nur jedes zehnte Unternehmen beschäftigt mehr als fünf Personen. Abb. 2 schlüsselt die Unternehmen nach dem Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf. Die große Mehrzahl der Unternehmen – über 60% – ist in der Holzernte mit der Motorsäge oder dem Holzrücken tätig (hier als „klassischer Forstunternehmer“ bezeichnet). Diese Unternehmen sind im Schnitt klein (2,5 Beschäftigte inklusive Inhaber) und weisen einen relativ hohen Anteil an nebenberuflich tätigen Selbständigen auf. Etwas größer sind „hoch mechanisierte Forstdienstleister“ (etwa fünf Beschäftigte inklusive Inhaber), die etwa 15% der Betriebe ausmachen. Die Bedeutung forstlicher Dienstleistungsunternehmer für die Erledigung der Waldarbeit dürfte weiter zunehmen. Trotzdem sieht die Situation vieler Unternehmen alles andere als rosig aus. Gründe dafür sind in der Kleinstrukturiertheit wie in einer wenig ausgebauten Verbandsstruktur in den meisten Bundesländern zu finden. Schließlich führt die Position in der forstlichen Wertschöpfungskette zu Druck: Der private und staatliche Waldbesitz ebenso wie die Holz- und Papierindustrie setzen auf möglichst niedrige Holzpreise.
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3.2 Die Mikroperspektive: Wie arbeiten kleine Forstdienstleister?4 Je nach Unternehmensgröße, lokalen Gegebenheiten (Ost und West) und Tätigkeitsschwerpunkten (ausschlaggebend ist dabei vor allem der Einsatz von forstlichen Großmaschinen) unterscheidet sich die Situation von Forstdienstleistern erheblich. Trotzdem lassen sich – orientiert an den oben genannten Kennzeichen postindustrieller Arbeit – einige Gemeinsamkeiten darstellen. Als Grundlage der folgenden Ausführungen dienen insbesondere Ergebnisse von 14 qualitativen Interviews mit Forstdienstleistern in Baden-Württemberg, Hessen und SachsenAnhalt, die im Jahr 2003 durchgeführt wurden.
3.2.1
Beruflichkeit
Wenn auch seitens der Unternehmerverbände auf die Etablierung eines Berufsbilds „Forstmaschinenführer“ gedrängt wird, so spiegelt sich die Arbeit forstlicher Dienstleister häufig nicht in ihrer Beruflichkeit wider. „Sag’n wir mal hier natürlich, die entsprechende Ausbildung fehlt aber, sag’n wir mal, das is’ natürlich ein Bereich, da muss man abwägen, will ich ein Forstmann haben, äh, der die Auswirkung auf den Wald einschätzen kann, oder will ich ein Techniker ham, der genau weiß, was mit der Maschine los is’.“ (Interview O1)
In den Unternehmen selbst wird schon allein aufgrund der Unternehmensgröße kaum ausgebildet; wenn, dann eher als training on the job oder als kurzzeitige Fortbildungsmaßnahme bei den Herstellern von Forstmaschinen oder bei einer forstlichen Ausbildungsstätte. Die Berufsbiografien fast aller befragter Forstdienstleister weisen Brüche auf. Berufshintergründe reichen vom Maurer bis zum Landwirtschaftstechniker. Ein Beispiel: der Weg von der Schreinerlehre über die Arbeit als Fahrer für einen Schlachthof, auf die dann eine Forstwirtslehre und die Unternehmensgründung folgen, parallel dazu Übernahme der Landwirtschaft der Eltern. Mit Berufsbildern verbundene Karrieremuster gibt es kaum: Es geht darum, „der eigene Chef zu sein“. Letztlich gilt für die Maschinenfahrer wie die Unternehmensleiter, dass vieles eher auf Erfahrungswissen als auf einer spezifischen Ausbildung beruht. 4
Da wir die Interviews, die die Grundlage für die folgenden Ausführungen bilden, nur mit Forstunternehmern durchgeführt haben, ist im Folgenden für Berufsbegriffe immer nur die männliche Form gewählt. Harvesterfahrerinnen und Waldarbeiterinnen werden im Feld als Exotinnen behandelt – „Nee, ansonsten [außer der Büroarbeit] ist das reine Männersache. Und ich denke, des isses och.“ (Interview O5) Vgl. zur geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in diesem Feld Wonneberger (2004).
166
Till Westermayer
Sofern nicht Maschinenauslastungszwänge dem entgegenstehen, setzen viele Kleinstunternehmen auf eine Strategie der Diversifizierung und machen „alles, was kommt“, von der Problembaumfällung bis zur Straßenpflasterung und dem Weihnachtsbaumverkauf. Auch hier gerät die Vorstellung eines klar umgrenzten Berufsbildes ins Schwimmen.
3.2.2
Betrieblichkeit
Forstunternehmer sind stolz auf ihre Selbständigkeit. Diese ist allerdings begrenzt: „[…] wenn wir die Selbstwerbung [den Kauf von stehendem Holz auf eigene Rechnung, T.W.] nicht mehr betreiben, […] dann biste nur noch Erfüllungsgehilfe der Holzindustrie oder des Waldbesitzes oder der Landesforstverwaltung. Da ist wirklich kein Spielraum mehr.“ (Interview O5)
Wenn forstliche Dienstleister als Subunternehmer für Servicegesellschaften5 arbeiten, tragen sie, wenn es gut läuft, zwar ein höheres Risiko, werden aber ansonsten wie angestellte Maschinenführer behandelt und erhalten einen angemessenen Lohn. Wenn es schlecht läuft, äußern Servicegesellschaften ganz offen, dass der Einsatz von Subunternehmern vor allem der Auslagerung von Risiken und der eigenen Flexibilität dienen soll: „Man muss ganz klar [sehen], diese Subunternehmer sind arme Schweine. […] Und man, man muss […] aus unserer Sicht auch sagen, […] ein sehr großer Vorteil des Subunternehmers ist, dass wir ihn, so schrecklich das auch sein mag, wenn wir einfach, äh, aus, aus, in erster Linie aus Gründen des, des Holzmarktes Aufträge nicht annehmen können oder annehmen wollen, den Subunternehmer dann eben […] in die Wüste schicken.“ (Interview H4)
In mehr oder weniger großem Maß sind forstliche Dienstleister in ihrer Arbeit in die Arbeitsabläufe des Forstbetriebes – oft: wechselnder Forstbetriebe –, der Holzkunden oder der Servicegesellschaft eingebunden. Dies kann etwa bei Ausschreibungen von Aufträgen so weit gehen, dass Stundensätze und Arbeitsweise genau vorgeschrieben werden. Ausgelagert werden Risiken wie das Auftragsrisiko, das Risiko der Maschinenauslastung, Fragen des Arbeitsschutzes und nicht zuletzt auch Sozialversicherungsrisiken. Dagegen muss die Arbeitsweise oft relativ genau mit dem jeweiligen Forstamt oder Waldbesitzer abgesprochen 5
Servicegesellschaften sind Logistikdienstleister, zumeist Tochtergesellschaften des Großprivatwaldes oder der Holz- und Papierindustrie.
Ich-AG im Walde: Ländliche Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft
167
werden. Dabei muss es sich nicht um Scheinselbständigkeit handeln. Forstdienstleister sind, so sie nicht durch langfristige Rahmenverträge an Servicegesellschaften gebunden sind, durchaus für mehrere Forstämter tätig. Trotzdem erfolgt diese Arbeit nicht mehr im betrieblichen Kontext: Sie wird aus den Forstbetrieben in die Kleinstselbständigkeit hinein verlagert. Mit meist unter fünf Mitarbeitern und einem oft recht familiären Charakter kann diese keine Betrieblichkeit generieren. Ein äußeres Anzeichen dafür ist, dass in vielen Fällen der Betriebssitz mit dem Wohnhaus des Inhabers übereinstimmt. Aber auch der Auftraggeber-Forstbetrieb schrumpft und wird zunehmend nur noch zu einer Verwaltungsinstanz eingekaufter Arbeit, die zudem immer stärker den Ansprüchen einer wirtschaftlich profitablen Produktion zu genügen hat. Hinzuweisen ist schließlich noch auf das Phänomen der informellen Kooperation: Einzelne Unternehmer bewerben sich für Ausschreibungen, die sie dann in Zusammenarbeit mit etwa gleich großen, ihnen gut bekannten Unternehmern abarbeiten. Dagegen kommt es kaum zu formal organisierten Kooperationen im Sinne eines „virtuellen Unternehmens“, also eines Netzwerks kleinerer Betriebe, das nach außen hin als ein Unternehmen auftritt.
3.2.3
Entgrenzung und Soziabilität
„Frau O2: Aber das stört uns nicht. Wir gehen ja beide dafür auf, sage ich mal. Das muss eigentlich auch so sein, damit das Geschäft überhaupt laufen kann. — Herr O2: Ich kann es nicht sagen, ja, ich hab’ um halb vier Feierabend. Und dann Knick machen, und morgen früh um sechs stelle ich das da wieder an. — Frau O2: Das geht einfach nicht.“ (Interview O2)
Während das Konzept Arbeitskraftunternehmer nur teilweise auf forstliche Dienstleister anwendbar scheint, zumindest dann, wenn damit zwar eine Ökonomisierung der Arbeitskraft, aber letztlich doch auch eine formal abhängige Beschäftigung gemeint ist (Westermayer 2002, S. 25ff.), scheint einiges dafür zu sprechen, dass die Arbeit der Forstdienstleister entgrenzt stattfindet. Dazu gehört nicht nur die Überschreitung beruflicher und betrieblicher Grenzen, sondern auch eine weitgehende Aufhebung der Trennung von Arbeit und Leben und ein entsprechendes Zeitregime – auch ganz allgemein typisch für kleinselbständige Arbeit. Wir finden lange Arbeitszeiten vor (je nach Auftragslage und Wetter bis zu zwölf oder 14 Stunden am Tag, Arbeit oft auch am Samstag, kaum Urlaube). Dies betrifft besonders die Unternehmensinhaber. Grenzen zwischen dem Betrieb, der Wertschöpfungskette und dem Leben außerhalb der Arbeit verschwimmen. Dies gilt ebenfalls insbesondere für den Unternehmer und seine
168
Till Westermayer
Familie. So ist es beispielsweise üblich, dass Urlaube mit Messebesuchen verbunden werden oder dass mit dem eigenen Haus für Bankkredite für Maschinen gehaftet wird. Ein besonderes Element dieser fehlenden Trennung von Arbeit und Leben ist die Rolle der Partnerinnen der Unternehmer. „I: Was sind ihre Unternehmensziele? — Frau O2: In Ruhe schlafen können. […] Dass die Firma läuft, dass die Firma gesund ist.“ (Interview O2)
Auch wenn diese zum Teil ganz- oder zumindest halbtags einer „eigenen Arbeit“ nachgehen – etwa als Bankkauffrau oder als Verkäuferin – und ihnen in allen Fällen die Verantwortung für Haushalt und Kindererziehung zugewiesen wird, sind sie eng in das Unternehmen eingebunden. Sie erledigen Schreibarbeiten, kennen sich häufiger als die Unternehmensinhaber mit dem Computer aus, nehmen tagsüber – so sie anwesend sind – Anrufe entgegen, organisieren morgens das gemeinsame Frühstück von Familie und Mitarbeitern usw. Wird der normative Rahmen der Soziabilität6 herangezogen, kann die Arbeit in forstlichen Dienstleistungsunternehmen nur als miserabel beurteilt werden. „Na, das zwangsläufig, dass man sich nach Feierabend noch mal mit dem Waldbesitzer unterhält. Die sind, wenn se in Arbeit sind, sowieso erst nach Feierabend zu erreichen […]. Und das ist die Zeit, die man mit so was verbringt.“ (Interview O3)
Vielen der befragten Forstdienstleister bleiben nur wenig Zeit und Energie für andere Aktivitäten. Auf der anderen Seite ist ein engmaschiges Netz persönlicher Kontakte und von Vertrauensbeziehungen äußerst wichtig, um überhaupt Aufträge zu bekommen; dies betrifft sowohl Kontakte zu anderen Forstunternehmern (um Aufträge zu tauschen oder als Subunternehmer irgendwo „reinzurutschen“) als auch Kontakte zu Waldbesitzern und Forstämtern. Es wird allerdings darauf geachtet, klar zwischen privaten und beruflichen Kontakten zu unterscheiden: „H2 sen.: Mhm, man sollte Kunden, Kunden besser so ein bisschen auf Distanz halten.“ (Interview H2)
6
Also der Frage, ob Erwerbsarbeit so gestaltet ist, dass eine Teilhabe an Familienarbeit, Freizeitaktivitäten und gesellschaftlichem Engagement möglich ist (vgl. Janczyk et al. 2003).
Ich-AG im Walde: Ländliche Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft
3.2.4
169
Prekarität
Handelt es sich bei der Arbeit forstlicher Dienstleister um prekäre Arbeit? Wenn damit Arbeit gemeint ist, die die sozialen und betrieblichen Standards des Normalarbeitsverhältnisses unterschreitet, dann ist Waldarbeit bei Forstdienstleistern sicherlich prekär. Der Unternehmererfolg und die aktuelle Einkommenssituation variieren allerdings, soweit sich dies in den durchgeführten Interviews feststellen ließ. Bei einigen Unternehmen überwog der Eindruck gravierender wirtschaftlicher Probleme, andere wirkten wirtschaftlich erfolgreich. Trotzdem stellen sich mit der Kleinstselbständigkeit viele Fragen, von der Absicherung im Alter über die Haftung bei Arbeitsunfällen bis hin zur Belastung durch das ständig vorhandene wirtschaftliche Risiko. Dies potenziert sich bei Unternehmen, die auf Großmaschinen setzen, diese aber „eigentlich“ – bei solider Kalkulation – nicht finanzieren können. Hier wird Maschinenauslastung zum alles bestimmenden Faktor. Selbst wenn das wirtschaftliche Scheitern schon absehbar ist, muss weitergearbeitet werden, weil sonst alles verloren geht. Rationalisierungserfolge in der Forstwirtschaft gehen in diesen Fällen ganz klar zu Lasten von Menschen: „Ja ich habe mir das so gedacht, ich könnte ja auch mal ein Unfall erleiden, und ein halbes Jahr kann ich nicht mehr meiner Beschäftigung nachgehen […] und dann habe ich mal so eben was gekauft und kann das nicht abbezahlen, davor hatte ich immer große Angst gehabt.“ (Interview H1)
4
Postindustrielle Arbeit – Traditionslinien ländlicher Arbeit
Auf den ersten Blick handelt es sich bei der Arbeit forstlicher Dienstleistungsunternehmen um typisch postindustrielle Arbeit. Wir haben es mit Arbeit zu tun, die in mehrfacher Hinsicht entgrenzt ist: Arbeit, die in Kleinstbetrieben stattfindet, die bezüglich ihrer Arbeitsabläufe, aber nicht bezüglich ihrer Risiken in Wertschöpfungsketten eingebunden ist, Arbeit, die kaum Grenzziehungen zwischen Arbeit und Leben zulässt, die die traditionelle Geschlechterteilung mit weiblicher Mehrfachbelastung fortschreibt. Nicht zuletzt handelt es sich um Arbeit, die nicht nur „hart“, sondern auch wirtschaftlich riskant ist und die bei schlechter werdender wirtschaftlicher Situation wachsende zeitliche Anforderungen stellt. Oft ist sie von Ungewissheit und Unsicherheit geprägt. Ist damit die postindustrielle Gesellschaft auch auf dem Land und im Wald angekommen? Einiges spricht dafür, dass sich hier zwei Entwicklungslinien kreuzen. Rahmenbedingungen wie die Globalisierung des Holzmarktes, die Auslagerung
170
Till Westermayer
von Arbeit durch Forstbetriebe und die spezifische Rolle, die Logistik und Informations- und Kommunikationstechnik dabei spielen, diese Form von Arbeit zu ermöglichen, sind Elemente, die ganz klar dem Risikoregime, der „Zweiten Moderne“ zugeschrieben werden können. Ihr Einfluss findet sich durchaus in der Arbeit forstlicher Dienstleistungsunternehmen. Daneben tritt eine zweite Entwicklungslinie ins Bild: Freie Mitarbeit war in der Waldarbeit fast immer – abgesehen von der kurzen Phase der Orientierung am Industriestandard – die Regel. Auch die Tatsache, dass die heutigen Forstdienstleister zumeist keine Landwirte mehr sind, sondern als eigenständige Dienstleister auftreten, ändert nichts an dieser grundsätzlichen Traditionslinie. Beim Blick auf spezifische Merkmale ländlicher, insbesondere landwirtschaftlicher Arbeit finden sich ebenfalls Übereinstimmungen zur Arbeitssituation der Forstdienstleister. So weisen Andrea Fink-Keßler und Ulf Hahne (2004, S. 15) darauf hin, dass die Omnipräsenz der Arbeit ein Wesensmerkmal bäuerlicher Arbeit ist, dass sie immer schon selbst organisierte Arbeit ohne Grenze zwischen Person und Arbeitskraft, Arbeit und Leben, Familie und Betrieb war. Überschneidungen finden sich ebenfalls, wenn Merkmale guter Arbeit in ländlichen Handwerksbetrieben (Brüggemann/Riehle 1995; vgl. auch Müller 1998) und bei Forstdienstleistern gegenübergestellt werden. Aber auch generell weist die Arbeit in Kleinstbetrieben Kennzeichen auf, die anfangs als Besonderheiten postindustrieller Arbeit und oben als Spezifikum der Arbeit in forstlichen Dienstleistungsunternehmen dargestellt wurden. So verweisen Hansjürgen Daheim und Günther Schönbauer (1993, S. 60ff.) in Bezug auf ländlichkleinstädtische Kleinstbetriebe darauf, dass Handlungsmuster hier vor allem auf persönlicher Bekanntheit basieren. Der Markt, für den produziert wird, ist nicht anonym. Auch das Gewinnprinzip gilt nicht uneingeschränkt. Der Unternehmer steht im Zentrum der betrieblichen Sozialordnung, der Leitungsstil ist wenig formalisiert. Im Extremfall kombiniert er Betriebsleitung und ausführende Tätigkeit. Da die Ausbildung ihn kaum auf diese „Ganzheitlichkeit“ vorbereitet, sind häufig Symptome der Überforderung und Selbstausbeutung zu beobachten. Landwirtschaftliche und ländliche Arbeitstraditionen erklären damit, ohne auf die Debatte um Charakteristika postindustrieller Arbeit zurückgreifen zu müssen, bereits einiges an der Arbeitssituation forstlicher Dienstleistungsunternehmer. Zu den Elementen, die an ländliche Arbeitstraditionen anknüpfen, gehört der das ganze Leben umfassende, grenzenlose Charakter von Arbeit ebenso wie die große Bedeutung informeller Kooperation. Allerdings handelt es sich bei forstlicher Dienstleistungsarbeit nicht einfach um die Fortführung ländlicher Arbeit, sondern um ein Hybrid. Traditionelle Elemente entgrenzter Arbeit auf dem Lande werden rekombiniert und in einen neuen Kontext gestellt: den globalen Markt, die Einbindung in globale Produktionsnetzwerke mit ihren Anforde-
Ich-AG im Walde: Ländliche Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft
171
rungen an Preis, Qualität und Zeitpunkt der Lieferung. Dass die Arbeit in kleinsten Unternehmen entgrenzt ist und den Ansprüchen von Soziabilität kaum genügt, galt auch früher schon für Arbeit jenseits der Norm des Normalarbeitsverhältnisses (vgl. auch Kocka 2001) wie für ländliche Arbeit. Neu – und über die Forstwirtschaft hinausreichend – ist der Abbau betrieblich geregelter Normalarbeit, die zu einer Wiederbelebung vormoderner Arbeitsformen führt, jetzt allerdings unter den wirtschaftlichen Bedingungen eines globalen Marktes. Damit verteilt die Auslagerung von Arbeit vor allem die Last des Scheiterns neu.
5
Schlussfolgerungen zur Gestaltung des Kontexts von Arbeit
Per se spricht nichts dagegen, Waldarbeit durch eine Vielzahl ausgelagerter kleinster Dienstleister erledigen zu lassen. Es spricht aber vieles dagegen, wenn dies – und dafür stehen die gegenwärtigen politischen Rahmenbedingungen – aus wirtschaftlichem Zwang, unter Beibehaltung einer strikten Geschlechterteilung der Arbeit und ohne tatsächliche Wahlfreiheit stattfindet. Was kann getan werden? Einige Reaktionsmöglichkeiten liegen innerhalb der gegenwärtigen Verfasstheit von Arbeit. Als negative Tendenzen finden wir in der Praxis die Übernahme weiterer Elemente der Vermarktlichung und großbetrieblicher Rationalisierungsstrategien in bisher eher familienbetriebliche Strukturen. Teilweise setzen Unternehmer bewusst auf Selbstausbeutung. Positiver erscheinen mir dagegen Pilotprojekte zum Aufbau lokal verankerter Wertschöpfungsketten von Sägereien, Forstdienstleistern und Handwerksbetrieben (Brüggemann/Riehle 2005). Generell heißt die Auslagerung von Waldarbeit in kleinste Unternehmen unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen jedoch weiterhin, dass Arbeit wenig soziabel ist und dass Arbeitsschutz kaum greift. Prekarität und Selbstausbeutung drohen. Politische Instrumente der „ersten Moderne“, also etwa Tarifverträge oder Arbeitsschutzgesetze, finden keinen Angriffspunkt und gehen deswegen ins Leere. Eine Problemlösung müsste demnach grundsätzlicher angreifen: Der Erhalt und die Schaffung regionaler, nachhaltiger und soziabler Arbeitsplätze scheinen mir nur durch eine Veränderung des politischen Kontextes möglich. Damit werden die Grenzen des Marktes deutlich. Hier ist die Soziologie gefragt, ihre durchaus vorhandenen Lösungsansätze zu gesellschaftlicher Geltung zu bringen. Ich denke dabei an Überlegungen zur endogenen Regionalentwicklung aus der neueren Agrarsoziologie, insbesondere aber an die Forderung, Existenzsicherung und Arbeit zu entkoppeln. Dies kann etwa durch ein Grundeinkommen geschehen. So wäre es möglich, zu einer nicht mehr auf Erwerbsarbeit fixierten „pluralen Tätigkeitsgesellschaft“ zu kommen, wie
172
Till Westermayer
sie der „Zweiten Moderne“ angemessen wäre (Beck 2000). Derartige Vorschläge bleiben allerdings Papiertiger, solange die Ökonomie Leitwissenschaft der Politik ist. Denn damit werden – und hier sind wir wieder beim Markt angelangt – Logiken eines Teilsystems auf die Gesellschaft insgesamt übertragen: dass das nicht gut gehen kann, ist bekannt.
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Ich-AG im Walde: Ländliche Arbeit in der postindustriellen Gesellschaft
173
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Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
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Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren Claudia Gerhardt
1
Hintergrund der Befragung
Eines der grundlegendsten gesellschaftlichen Probleme in Deutschland ist die hohe Arbeitslosigkeit. Auf der Prioritätenliste zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit steht für viele Bürger und Politiker ihre Bekämpfung an erster Stelle (vgl. Studie „Challenges of Europe“ der GfK 2004). Im Dezember 2005 lag die Zahl der Arbeitslosen laut Bundesagentur für Arbeit bei über 4,6 Millionen, die Arbeitslosenquote betrug für Gesamtdeutschland 11,1%. Abgesehen von den unzähligen möglichen Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit (Siebert 1994), die an den verschiedensten „Stellschrauben“ ansetzen und unterschiedliche Akteure betreffen können (Montada 1994), bleibt eine Frage offen: Können kollektive Verzichte zur Reduktion der Arbeitslosigkeit beitragen? Eine Studie der Abteilung „Angewandte Psychologie“ an der Universität Trier (Gerhardt 2005) ging der Frage nach, inwieweit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer1, die in Vollzeit beschäftigt sind, eine Arbeitszeitverkürzung zugunsten der Schaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland akzeptieren würden, ohne dafür einen entsprechenden Lohnausgleich zu bekommen. Dabei war es Ziel, insbesondere das Spannungsfeld zwischen moralischen und eigeninteressebezogenen Motiven solcher Verzichtsleistungen zu beleuchten. Ausgangsüberlegung war hierbei, dass in der (Fach-)Öffentlichkeit auch immer wieder Verteilungsprobleme als Ursache der Massenarbeitslosigkeit angeführt werden. So wird kontrovers diskutiert, ob eine Einschränkung der Zahl der Überstunden oder eine Reduzierung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich Beschäftigungschancen bringen könnte. Theoretischer Hintergrund der Studie ist die Auseinandersetzung mit so genannten „Rational-Choice-Modellen“, die in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften starke Verbreitung gefunden haben (z. B. Fehr/Schwarz 2003). Modelle der rationalen Wahl gehen davon aus, 1
Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Weiteren auf eine durchgängige Angabe der männlichen und weiblichen Form verzichtet. Wenn nicht speziell differenziert, sind immer Männer und Frauen zugleich gemeint.
176
Claudia Gerhardt
dass Individuen sich grundsätzlich eigennützig verhalten, das heißt bei Entscheidungen die Alternative wählen, von der sie den größten Nutzen für ihre eigenen Anliegen erwarten. In aller Regel gehen die Analysen so weit, sozial verantwortliches, altruistisches oder gemeinsinniges Handeln auf einen zugrunde liegenden Eigennutz zurückzuführen (vgl. z. B. Ramb/Tietzel 1993). Meist bleiben diese Untersuchungen jedoch den empirischen Nachweis schuldig: Modelle rationaler Wahl werden oft post hoc zur Interpretation von Befunden verwendet und nur selten gegen ein Alternativmodell getestet. Dies führt dazu, dass die Annahme der Dominanz von Eigeninteresse zu einer Glaubensfrage wird. Diese könnte sich mit normativer Kraft auch auf den Common Sense in der Bevölkerung auswirken, sodass es – wie Studien zeigen – Menschen unangenehm wird, moralische Motive überhaupt zu formulieren (Wuthnow 1991). Verschiedene empirische Untersuchungen zeigen jedoch, dass Gerechtigkeitsbewertungen beispielsweise im Bereich der Arbeitslosigkeit bedeutsam sind (Montada 1996). So hat man herausgefunden, dass nicht nur Arbeitslose selbst Ungerechtigkeiten wahrnehmen (Montada/Mohiyeddini 1996), sondern auch Personen, die betriebsbedingte Entlassungen „überlebt haben“ (Brockner 1994), und Manager, die Entlassungen vornehmen mussten (Lerner 1996). Die vorliegende Studie geht daher von einem Pluralismus an Bedingungen und Motiven aus. Hierzu wurden Variablen zum Eigeninteresse und Gemeinwohl bzw. zu Gerechtigkeitsüberlegungen in einem umfassenden Fragebogen erfasst. Befragt wurden vollzeittätige Arbeitnehmer. Wesentlich war die Einbeziehung möglicher sozialer Barrieren gegen gemeinsinniges Handeln. Unterschieden werden zwei Kategorien. Zum einen geht es um die mögliche Ineffizienz individuellen Handelns in einer Situation, die kollektives Agieren benötigt. Gesetze, Tarifverträge oder zumindest Betriebsvereinbarungen wären notwendig, wenn nicht „weniger arbeiten“ einen Trend des Zeitgeistes darstellt. Zum anderen kann individuelles Handeln ausgebeutet werden. So wäre denkbar, dass andere Beschäftigte die Arbeitszeitreduktion ihrer Kollegen nutzen, um ihr Arbeitseinkommen durch Überstunden aufzustocken. Oder Arbeitgeber nutzen die Reduktion von Arbeitszeit ohne Lohnausgleich aus, um Arbeitskosten zu sparen, ohne dass neue Stellen geschaffen werden. Hiermit ist das Problem des Trittbrettfahrens angesprochen, also das Profitieren vom Engagement und Einsatz anderer, ohne selbst etwas beizutragen (Komorita/Parks 1994). Die allgemein erwünschten Effekte gemeinsinnigen Handelns kommen auch Trittbrettfahrern zugute, die ihrerseits keine Kosten haben. Auf der Ebene politischer Maßnahmen müsste eine entsprechende Kontrolle dafür sorgen, Trittbrettfahrer abzuschrecken. Eine Politik der Appelle wird nachweislich als ungerecht abgelehnt, weil das – freiwillige – Befolgen von Appellen zu einem Vorteil für die Personen führt, die den Appellen nicht folgen (z. B. Montada 1999).
Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
2
177
Forschungsfragen
Folgende integrative Fragestellungen leiteten die Untersuchung: 1.
2.
3.
4.
Lässt sich eine Überschätzung der Prävalenz und Dominanz von Eigeninteresse – der „Mythos Eigeninteresse“ (Miller/Ratner 1996) – in diesem Handlungsfeld empirisch bestätigen? Findet sich der Effekt, dass die Handlungsbereitschaften bei anderen eher unterschätzt und eigennutzorientierte Motivationen überschätzt werden? Untermauern die empirischen Daten die oft zitierte Dominanz des homo oeconomicus? Oder kommt daneben auch ein verantwortungsvoller und von Gerechtigkeitsaspekten motivierter Mensch zum Vorschein, sodass sich ein komplexeres Menschenbild abzeichnet? Und lässt sich zeigen, dass auch Emotionen für das Handeln ein hoher diagnostischer Wert zukommt? Welche Barrieren gegen gemeinsinnige Handlungsbereitschaften lassen sich empirisch ermitteln? Welche Rolle spielt hierbei das Trittbrettfahrerdilemma? Demotiviert ungestraftes Trittbrettfahren diejenigen, die engagementbereit sind? Welche spezifischen Emotionen und Handlungstendenzen löst die Wahrnehmung von Trittbrettfahrern aus? Welche Rolle spielt die persönliche Wichtigkeit von Erwerbsarbeit für die Verzichte? Lassen sich verschiedene Arbeitsorientierungen identifizieren?
Die Ergebnisvorstellung orientiert sich an diesen Fragestellungen. Zuvor werden die Datenerhebung und Stichprobe kurz vorgestellt. Die Validität des Messinstrumentes wurde in ihren unterschiedlichen Aspekten geprüft und kann als zufrieden stellend bis sehr gut bezeichnet werden. Auf die Darstellung der Ergebnisse hierzu wird an dieser Stelle verzichtet (bei Interesse vgl. Gerhardt 2005).
3
Datenerhebung und Stichprobe
Die Untersuchung wurde sowohl als klassische Papier-Bleistift-Befragung als auch im Internet durchgeführt. In aller Regel waren die Items auf einer Skala von 1 = „stimmt überhaupt nicht“ bis 6 = „trifft genau zu“ zu beantworten. Zur Gewinnung der Teilnehmer wurden Aufrufe in den lokalen und überregionalen Medien (Tagespresse, Radio) platziert, E-Mail-Verteilerlisten und Newsletter unterschiedlicher Institutionen genutzt. Zudem wurden gezielt die Gewerkschaften der Region und andere Arbeitnehmervereinigungen angesprochen. Insgesamt beteiligten sich 694 Personen an der Studie, davon 56% online. Rund 40% der Befragten sind weiblichen Geschlechts. Dies entspricht etwa der
178
Claudia Gerhardt
tatsächlichen Verteilung bei Vollzeitbeschäftigten. Das durchschnittliche Alter liegt bei 37 Jahren, die Altersspanne reicht von 18 bis 64 Jahren. Etwa 34% gaben an, eigene Kinder zu haben. Das Bildungsniveau ist hoch: 72,7% der Teilnehmer haben Abitur oder einen Hochschulabschluss. Fast 27% der Stichprobe sind in einer Gewerkschaft organisiert. Nach der Intensität ihres gewerkschaftlichen Engagements befragt, ergibt sich für eine Skala von 1 = „sehr niedrig“ bis 6 = „sehr hoch“ ein unterdurchschnittlicher Mittelwert von 2,5. Etwa ein Drittel ist in der Gewerkschaft hoch engagiert. 80 Befragte gaben an, im Betriebs- oder Personalrat zu sein (11,5%).
4
Befunde
Bevor die erste Forschungsfrage behandelt wird, werden die Verzichtsbereitschaften der Befragten genauer betrachtet, um einen Eindruck von ihrer Ausprägung – auch in unterschiedlichen Subgruppen – zu gewinnen.
4.1 Worauf würden Vollzeittätige verzichten? Erfragt wurden die Bereitschaften der Vollzeittätigen, für ein bis drei Jahre auf bestimmte Anteile ihrer Arbeitszeit und/oder ihres Einkommens zu verzichten, um zur Schaffung neuer Arbeitsplätze in Deutschland beizutragen. Abb. 1 zeigt, wie viel Prozent der Befragten zu einem bestimmten Verzicht eher bereit oder nicht bereit sind. Die Antwortskala reichte von 1 = „stimmt überhaupt nicht“ bis 6 = „trifft genau zu“. Die Befragten wurden in zwei Gruppen geteilt: Personen, die Werte von 1 bis 3 ankreuzten, wurden zu der Kategorie „eher nicht bereit“ zusammengefasst, Personen mit den Werten 4 bis 6 zur Kategorie „eher bereit“. Über die Hälfte der Befragten ist eher bereit, auf 1 oder 5% ihrer Arbeitszeit und ihres Einkommens zu verzichten, und sogar noch ein Viertel der Befragten würde sogar 20% aufgeben. Fragt man nach einer Abgabe von ganzen Arbeitstagen, so würden 56% zwei Tage weniger arbeiten (was etwa einer Reduktion um 10% entspricht). Drei Tage Reduzierung hätten immer noch 42% der Befragten gern. In der Studie wurden zudem reine Einkommensabgaben erfragt. Knapp 21% der Befragten würden auch einen finanziellen Beitrag von 5% ihres Einkommens leisten. 13% würden auf ihren bezahlten Urlaub verzichten. Geht man von einem durchschnittlichen Urlaubsanspruch von 28 Tagen aus, entspricht dies einem Verzicht auf über 10% des Einkommens. Man kann diese Aussagen zu zwei Bereichen zusammenfassen: zum einen zum Verzicht auf Einkommen bei gleichzeitiger Senkung der Arbeitszeit, zum anderen zum
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Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
reinen Einkommensverzicht (Sonderabgabe, Verzicht auf Gehaltserhöhungen, bezahlten Urlaub). Abbildung 1: Der Anteil der eher Verzichtsbereiten und eher nicht Verzichtsbereiten (in %) für die einzelnen Items eher bereit zu verzichten eher nicht bereit zu verzichten 0
10
20
30
60
70
80
90
100
20,3 65,9
5 % Arbeitszeit und Einkommen
34,1 43,5
10 % Arbeitszeit und Einkommen
56,5 25,1
20 % Arbeitszeit und Einkommen
74,9 71,2
1 Arbeitstag + Einkommen
28,8 55,9
2 Arbeitstage + Einkommen
44,1 42,1
3 Arbeitstage + Einkommen
57,9 20,6
5 % Einkommen
79,4 92,5
7,5
10 % Einkommen 1,9
98,1
41,2
Gehaltserhöhungen Bezahlung Urlaubstage
50
79,7
1 % Arbeitszeit und Einkommen
20 % Einkommen
%
40
58,8 13 87
Hierbei zeigen sich statistisch per t-Test einige interessante Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen: So unterscheiden sich Gewerkschaftsmitglieder von Nichtmitgliedern in ihrer Bereitschaft zum Verzicht auf Arbeitszeit und Einkommen – hier sind Gewerkschaftsmitglieder weniger bereit2. Jedoch findet sich für den reinen Einkommensverzicht kein statistischer Unterschied. Das Familieneinkommen spielt für beide Bereiche keine Rolle – es ist demnach nicht der Fall, dass wohlhabendere Personen eine höhere Bereitschaft zeigen. Wer bereits einmal arbeitslos war, ist eher bereit, einen Verzicht auf Arbeitszeit und Einkommen zu leisten, und ebenso spielt es eine Rolle, ob man einen befristeten Arbeitsplatz hat: Personen mit befristeten Stellen sind signifikant bereiter zu einem reinen Einkommensverzicht als Arbeitnehmer mit unbefristeten Stellen. 2
Die genauen statistischen Angaben finden sich bei Gerhardt (2005).
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4.2 Überschätzung der Dominanz von Eigeninteressen? Die erste Forschungsfrage zielt auf eine Untersuchung der Überschätzung der Dominanz von Eigeninteresse. Lassen sich Hinweise für ein Wirksamwerden des „Mythos Eigeninteresse“ finden? Ein erster Schritt besteht in der Betrachtung der Handlungsbereitschaften und ihrem Vergleich mit den entsprechenden Fremdzuschreibungen: Werden die Handlungsbereitschaften anderer geringer eingeschätzt als die eigenen? – Die Vergleiche wurden per t-Tests berechnet. Die unterschiedlichen Werte in den Selbst- und Fremdzuschreibungen (s. Abb. 2) weisen besonders beim kombinierten Arbeitszeit- und Einkommensverzicht auf einen deutlichen Unterschied hin. Abbildung 2: Mittelwerte für die Fremd- und Selbstzuschreibung der Verzichtsbereitschaft auf Arbeitszeit und Einkommen (links) und der Verzichtsbereitschaft auf Einkommen (rechts) 9HU]LFKWDXI$UEHLWV]HLW XQG(LQNRPPHQ
9HU]LFKWDXI(LQNRPPHQ
6,0
5,0
4,34
4,0 3,26 3,0 2,0 1,0
0LWWHOZHUW
0LWWHOZHUW
5,0
6,0
4,0 3,0
2,53
2,32
2,0 1,0
6HOEVW
)UHPG
6HOEVW
)UHPG
Aber auch der Mittelwertsunterschied bei den beiden Skalen zum reinen Einkommensverzicht wird statistisch signifikant. Dass dieser Unterschied so klein ausfällt, ist auch auf einen Bodeneffekt zurückzuführen, da es hier einen Anteil von 27% der Befragten gibt, die ihre Bereitschaft nicht mehr unterschätzen können, weil sie bei durchschnittlich „1“ liegt. Generell werden die Verzichtsbereitschaften der anderen Arbeitnehmer also im Vergleich zur ermittelten durchschnittlichen Bereitschaft als geringer eingeschätzt, wobei dieser Effekt umso größer ist, je gewichtiger der betreffende Verzicht. Die Selbst- und Fremdzuschreibung wurden zudem für unterschiedliche Ziele erhoben, die bei der Entscheidung über einen Verzicht eine Rolle spielen
Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
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könnten. Besonders zwei Zielbereiche zeigen aufschlussreiche Unterschiede (s. Abb. 3): Zum einen die Skala „gemeinwohlorientierte Ziele“, zu denen die persönlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Bürgerverantwortung zählen – man schätzt sie für sich selbst signifikant als bedeutsamer ein als für andere Vollzeitbeschäftigte. Zum anderen handelt es sich um die Skala der karrierebezogenen Ziele, welche die eigenen beruflichen Aussichten, aber auch die finanziellen Möglichkeiten umfassen. Hier ist das Ergebnis spiegelbildlich: Sie werden im Schnitt bei anderen für signifikant handlungsbestimmender gehalten als für die eigene Person Abbildung 3: Mittelwerte für die Fremd- und Selbstzuschreibung gemeinwohl(links) und karriereorientierter Ziele (rechts) .DUULHUHRULHQWLHUWH=LHOH
*HPHLQZRKORULHQWLHUWH=LHOH 6,0
6,0 4,66
4,0
3,32
3,0
5,0 0LWWHOZHUW
0LWWHOZHUW
5,0
3,93 4,0 3,03 3,0 2,0
2,0
1,0
1,0
6HOEVW )UHPG
6HOEVW )UHPG
Explizit nach dem Vorrang von eher moralischen oder eher eigennützigen Motiven befragt, geben die Teilnehmer der Studie Antwort wie folgt: Die Mehrheit der Befragten (449 Personen) glaubt, dass bei anderen Vollzeitarbeitnehmern das Eigeninteresse bestimmend sei. Für die eigene Person wird am häufigsten von einer Bedeutsamkeit beider Motivationen berichtet. Eindeutig zeigt sich hier der „Mythos Eigeninteresse“. Doch meint eine hohe Anzahl von 253 Personen, bei ihnen selbst habe das Eigeninteresse Vorrang. Eine Dominanz von Moral wird kaum berichtet, sowohl in der Selbst- als auch in der Fremdzuschreibung. Eventuell kommt es einem Tabu gleich, moralische Motive in den Vordergrund zu stellen. Denkbar wäre, dass man nicht als „Gutmensch“ betrachtet werden möchte (Miller/Ratner 1996; Wuthnow 1991).
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4.3 Verantwortung, Gemeinsinn und Eigennutz Zu Beginn dieses Kapitels werden deskriptive Ergebnisse wichtiger Variablen zu den Bereichen Verantwortung und Gemeinsinn sowie Eigeninteresse berichtet. In einem weiteren Schritt werden multiple Regressionsanalysen herangezogen, um die Zusammenhänge dieser Prädiktorvariablen mit den Verzichtsbereitschaften (Kriterien) genauer zu studieren.
4.3.1
Die Rolle der Variablen zu Verantwortung und Gemeinsinn
Die Maßnahme, freiwillig Arbeitszeit zu verkürzen und entsprechend weniger zu verdienen, beurteilen 62% der Befragten als gerecht. Welche Akteure haben nach Meinung der Befragten Handlungsmöglichkeiten, um der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen? 58% der Befragten sehen bei sich selbst keine Möglichkeit. Wird nach der Gemeinschaft der Arbeitnehmer gefragt, so ist eine Mehrheit von 56% überzeugt, dass diese Einflussmöglichkeiten hat. Bei den Arbeitslosen sehen 67% Handlungs-potenzial – und auch den Gewerkschaften (76%), dem Staat (78%) und den Arbeitgebern (83%) werden Möglichkeiten, nachhaltig zu handeln, in hohem Maße zugesprochen. Durch Faktorenanalysen wurden diese Items zu zwei Skalen zusammengefasst: Handlungsmöglichkeiten internal (bei sich selbst und der Eigengruppe Arbeitnehmer) und external. Über 85% der Befragten geben an, dass sie glauben, das Problem der Arbeitslosigkeit werde sich in den nächsten Jahren nicht wesentlich verbessern und 93% sehen Arbeitslosigkeit als großes gesellschaftliches Problem. Das Problembewusstsein der Bürger ist demnach als sehr hoch zu bezeichnen. Darüber hinaus wurde eine Anzahl von Items aufgenommen, die dem Konstrukt der Verantwortungsabwehr (Schmitt/Montada/Dalbert, 1990) zugehören. Hierbei geht es um Strategien, die Verantwortung für eine bestimmte Aktivität zu negieren. Empirisch fanden sich zwei Skalen: Zum einen handelt es sich um eine Tendenz, die Norm zur Hilfeleistung zu relativieren. Zwei Beispiele hierzu: Ein Großteil der Befragten lehnt die Aussage ab, dass die meisten Arbeitslosen zu ihrem Los selbst beigetragen haben (84%). Wer hier eher stark zustimmt, ist weniger bereit, einen auf Arbeitszeit- und Einkommen zu verzichten. Man ist also eher bereit, unverschuldete Not zu mildern.
Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
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Über die Hälfte der Befragten stimmt zu, dass es viele Arbeitslose gebe, die nicht arbeiten wollen. Diese Überzeugung hemmt die eigene Verzichtsbereitschaft. Die zweite Skala fasst die Aussagen zusammen, die sich auf die wahrgenommene Ineffizienz der Maßnahme beziehen. Die Ergebnisse zu drei zentralen Items illustrieren, dass großer Zweifel an der Effizienz der Verzichtsleistungen besteht: Bereits über die Hälfte der Befragten stimmt der Aussage zu, dass vereinzeltes Engagement doch nichts bringt. 62% der Befragten glaubt, dass die Maßnahme „Einkommensverzicht“ keine Arbeitsplätze schafft. Besonders starke Zustimmung erfährt die Aussage, dass man zweifle, ob das durch den Verzicht gewonnene Geld auch wirklich für die Schaffung neuer Arbeitsplätze genutzt wird. Es besteht demnach nur wenig Vertrauen in die Verlässlichkeit der für die Umsetzung zuständigen Institutionen bzw. Akteure. Dieser Zweifel wirkt sich nachweislich negativ auf die Verzichtsbereitschaft aus.
4.3.2
Die Rolle der Variablen zum Eigennutz
Über die Hälfte der Befragten (53,7%) gibt an, ihr Teilzeitinteresse sei groß bis sehr groß. Teilzeitinteressierte wünschen sich eine wöchentliche Arbeitszeit von knapp 31 Stunden, wohingegen Nicht-Teilzeitinteressierte im Mittel fast 38 Stunden wöchentliche Wunscharbeitszeit angeben. Es lässt sich auch der traditionelle Geschlechtsunterschied finden: Als teilzeitinteressiert lassen sich rund 60% der Frauen und 50% der Männer einstufen. Es ist jedoch beachtlich, dass die Hälfte der Männer als teilzeitinteressiert gelten kann. Es wurden zudem die Folgen, die ein Arbeitszeit- und Einkommensverzicht für bestimmte Lebensbereiche haben kann, erhoben. Hier zeigt sich folgendes Muster: Für den Lebensbereich Privatleben (Familie, Partnerschaft) sowie Freizeit und Wellness werden die positivsten Folgen erwartet. Auch für den Bereich nebenberufliches Engagement liegen die Folgeerwartungen über dem neutralen Bereich. Für den Lebensbereich „Job und Karriere“ werden – wie zu erwarten – eher negative Folgen vermutet. Den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren, befürchtet nahezu die Hälfte aller Befragten. Fast 80% haben Angst davor, dass die Massenarbeitslosigkeit den sozialen Frieden gefährden könnte, und sogar 85% fürchten, dass jugendliche
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Arbeitslose auf die schiefe Bahn geraten. Knapp 60% der Befragten ängstigen sich, im Falle eigener Arbeitslosigkeit keine neue Stelle finden zu können. Nach dem Einklang der Maßnahme Arbeitszeit- und Einkommensverzicht mit den persönlichen Interessen befragt, nehmen lediglich 35% der Befragten einen Widerspruch der Maßnahme zu den eigenen Interessen wahr. Eine multiple Regressionsanalyse mit diesem Items als Kriterium und dem Teilzeitinteresse sowie den Folgen für bestimmte Lebensbereiche als Prädiktoren zeigt dabei auf, dass 41% der Varianz dieses Items erklärt werden kann. Es bleibt demnach ein Anteil von fast 60% unaufgeklärt. Daher darf diese Wertung nicht mit dem Teilzeitwunsch gleichgesetzt werden.
4.3.3
Gemeinsame Regressionen: Verantwortung und/oder Eigennutz?
Um zu prüfen, welchen Einfluss diese beiden Variablengruppen auf die Verzichtsbereitschaften haben, wurden schrittweise multiple lineare Regressionen berechnet. Die Bereitschaft, auf Arbeitzeit und Einkommen zu verzichten, lässt sich dabei sehr gut durch das Variablenset vorhersagen (vgl. Abb. 5): Es klärt 57% der Varianz im Kriterium auf. Es zeigt sich, dass drei der eigeninteresse- und drei der verantwortungsund gerechtigkeitsbezogenen Variablen statistische Bedeutsamkeit erlangen. Die Beta-Koeffizienten zeigen Höhe und Ladung (positiv oder negativ) der jeweiligen Prädiktorvariable an. Am bedeutsamsten erweist sich das allgemeine Urteil über den Einklang der Maßnahme mit den persönlichen Interessen, gefolgt von der Gerechtigkeitsbewertung der Maßnahme. Als weitere eigennutzorientierte Variablen finden sich der Teilzeitwunsch sowie die Folgeerwartung für den Lebensbereich Freizeit. Die Ineffizienzbeurteilung erweist sich als wichtigste Barriere. Die unten stehende Variable bezieht sich auf das Ausmaß, mit dem Staat und Gewerkschaften als verantwortlich für die bestehende Arbeitslosigkeit betrachtet werden. Diese Variable hat auf korrelativer Ebene keinen Zusammenhang mit dem Kriterium (r = .07). Es handelt sich um eine Suppressorvariable, d.h., sie unterdrückt die irrelevante Varianz in anderen Prädiktorvariablen.
185
Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
Abbildung 4: Schrittweise multiple Regression verantwortungs- und gemeinsinn- (dunkel unterlegt) sowie eigennutzbezogener Variablen (hell unterlegt) auf den Arbeitszeit- und Einkommensverzicht (LQNODQJGHU0DQDKPHPLWGHQ HLJHQHQ,QWHUHVVHQLQVJHVDPW *HUHFKWLJNHLWGHU0DQDKPH LQVJHVDPW
7HLO]HLWZXQVFK )ROJHQ)UHL]HLW
ǃ
ǃ
ǃ
ǃ
ǃ
,QHIIL]LHQ]GHU0DQDKPH
%HUHLWVFKDIW]XP 9HU]LFKWDXI$U EHLWV]HLWXQGHQW VSUHFKHQGH(LQ NRPPHQVDQWHLOH 5ð
ǃ
%HLWUDJ]XU(QWVWHKXQJ 6WDDW*HZHUNVFKDIWHQ
Betrachtet man die beiden varianzstärksten Prädiktoren sowie ihre hohe Interkorrelation von r = .58, so muss an dieser Stelle die Frage nach einem „maskierten Eigennutz“ gestellt werden, die von Rational-Choice-Theoretikern immer wieder eingebracht wird. Liegt wirklich ein additiver Effekt dieser beiden Variablen vor, tragen sie also unabhängig voneinander zur Varianzaufklärung bei? Es wäre ja denkbar, dass die Gerechtigkeitseinschätzung nur dann einen positiven Einfluss auf die Verzichtsbereitschaft hat, wenn die Maßnahme in Einklang mit den persönlichen Interessen steht. Der Zusammenhang zwischen Verzichtsbereitschaft und Gerechtigkeit wäre also umso höher, je mehr diese Maßnahme in Einklang mit den Eigeninteressen steht. Zur Prüfung dieses Moderatoreffektes wurde eine moderierte mutiple Regression gerechnet. Wie Tabelle 1 zeigt, wird die Interaktion beider Variablen (Produktterm) nicht signifikant. Die These vom maskierten Eigennutz findet also in dieser Analyse keine Bestätigung. Vielmehr ist tatsächlich von zwei additiven Haupteffekten beider Urteilsmaße auszugehen.
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Tabelle 1: Moderierte multiple Regression zur Erklärung der Verzichtsbereitschaft auf Arbeitszeit und Einkommen. R2 Einklang mit persönlichen Interessen Gerechtigkeit Maßnahme .51 Gerechtigkeit * Einklang mit Interessen Konstante df = 3/564 Fgesamt = 197.03**
B .53 .28 .04
SE B r .04 .68 .04 .58 .03 -.14
-.02
.03
F 208.32** 59.04** 1.93**
** p < .01 Für den reinen Einkommensverzicht lassen sich durch das Variablenset lediglich 18% der Varianz aufklären. Hierfür sind insgesamt acht Variablen verantwortlich, von denen nur eine den eigeninteressebezogenen Variablen zuzuordnen ist. Man ist umso eher zum Einkommensverzicht bereit (Reihenfolge nach Gewicht in der Regressionsgleichung): je höher die Überzeugung ist, dass es internale Einflussmöglichkeiten gibt; je stärker man Schuldgefühle gegenüber Arbeitslosen aufgrund der eigenen besseren Lage empfindet (Existenzielle Schuld); je unwichtiger die privaten eigeninteressebezogenen Ziele sind; je stärker man sich über das Verhalten der Gewerkschaften empört; je höher das Gerechtigkeitsurteil ausfällt; je wichtiger gemeinwohlorientierte Ziele sind; je stärker man eine Einflussmöglichkeit durch die Arbeitgeber sieht und je niedriger das Ineffizienzurteil ist. In einem letzten Schritt wurde die jeweilige Fremdzuschreibung der Verzichtsbereitschaft in die entsprechenden Regressionsanalysen aufgenommen. Sie qualifiziert sich für den Arbeitszeit- und Einkommensverzicht auf dem zweiten Rang und erbringt eine zusätzliche Varianzaufklärung von 5%. Für das Kriterium des Einkommensverzichtes wird die Fremdzuschreibung stärkster Prädiktor und hebt die Varianzaufklärung von R2 = .18 auf .43. Es werden also zusätzliche 25% der Kriteriumsvarianz aufgeklärt. Wenn keine persönlichen Vorteile erzielbar sind, wird das Verhalten der anderen Menschen wichtig für das eigene Handeln.
187
Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
4.4 Wie wirkt sich die Wahrnehmung von Trittbrettfahrern aus? Es gibt zahlreiche Hinweise aus Experimenten und dem Alltag, dass Menschen eine Aversion haben, Trittbrettfahren zu tolerieren (Komorita/Parks 1994). Man möchte nicht derjenige sein, der für ein kollektives (gesellschaftliches) Ziel Nachteile in Kauf nimmt, wenn es viele vergleichbare andere nicht tun. Um dieser Frage in der vorliegenden Studie nachgehen zu können, wurden in den Fragebogen Aussagen zu einem spezifischen Szenario integriert. Geschildert wird die Situation, dass man selbst verzichtet habe und später erfährt, dass viele andere in ähnlicher Position nicht verzichtet haben, also als Trittbrettfahrer wirken. Welche Reaktionen lassen sich finden, und wie unterscheiden sie sich zwischen Personen, die hoch bzw. wenig verzichtsbereit sind (vgl. Abb. 6)? Der Ärger über sich selbst, der in dieser Situation entstehen kann, ist bei beiden Subgruppen unterdurchschnittlich ausgeprägt, unterscheidet sich aber signifikant. Aussagen, die sich auf das Sanktionierungsbedürfnis der Befragten beziehen (z.B. „Ich würde das am liebsten öffentlich kritisieren“) und Empörungsgefühle gegenüber anderen (z.B. „Ich würde es unmöglich finden, dass sich die Menschen so wenig einsetzen“) weisen keinen Unterschied in den durchgeführten t-Tests auf. Stark Verzichtsbereite stimmen stärker bei Aussagen zu, die beschreiben, dass keine Verhaltensänderung resultieren würde, weil man aus Eigeninteresse gehandelt habe. Doch auch von einer Demotivierung des eigenen Handelns wird berichtet: „Ich würde meinen Verzicht am liebsten rückgängig machen.“ Dies empfinden wiederum wenig Verzichtsbereite signifikant stärker. Abbildung 5: Mittelwerte der Skalen aus dem Szenario für die Teilstichproben „hohe Bereitschaft“ und „geringe Bereitschaft“ (* * = p < .01) 6 VWDUNH%HUHLWVFKDIW
JHULQJH%HUHLWVFKDIW
5 4
**
3
**
**
**
2 1 (PS|UXQJ EHUDQGHUH
bUJHUEHU VLFKVHOEVW
6DQNWLRQV EHGUIQLV
'HPRWLYD WLRQ
+DQGHOQDXV (LJHQLQWHUHVVH
+DQGHOQDXV 5FNVLFKW
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Das bedeutet auch, dass die Bereitschaft zum Verzicht auf Arbeitszeit- und entsprechende Einkommensanteile statistisch bedeutsam geringer ist bei Personen, die stark von Demotivation3 berichten und die sich in einem solchen Fall über sich selbst ärgern. Demotivation und Ärger über sich selbst weisen eine äußerst hohe Korrelation von r = .75 auf. Wer sich dagegen über andere ärgert, der lässt sich nicht entmutigen, empfindet weniger Demotivation und neigt eher dazu, aktiv handeln zu wollen (z.B. indem er oder sie die Leute fragen möchte, warum sie nichts tun), als sich zurückzuziehen. Es ist also der Ärger, selbst „der/ die Dumme“ zu sein, der zu einem Rückzug führt, nicht die Empörung über an-dere Menschen. Diese scheint eher eine aktivierende Funktion zu haben. Es wurden darüber hinaus verschiedene Argumente aufgeführt, warum eine gesetzliche Regelung gerechter oder ungerechter sein könnte als ein Appell, freiwillig zu verzichten. Insgesamt erhalten die Argumente, dass eine gesetzliche Regelung ungerechter sei als ein Appell, eine leicht höhere Zustimmung (Mittelwert 4.1) als die Argumente, dass ein Gesetz gerechter sei (Mittelwert 3.8). Die Ergebnisse sprechen für das Vorliegen eines Gerechtigkeitsdilemmas: Sowohl Appelle als auch Gesetze haben Aspekte, die sie ungerecht erscheinen lassen. Es gibt kein per se gerechteres Vorgehen. Stark Demotivierte unterscheiden sich von schwach Demotivierten, indem sie eine gesetzliche Regelung tendenziell als gerechter einstufen. Umgekehrt finden sie eine gesetzliche Regelung weniger ungerecht. Das zeigt, dass Demotivation entsteht, wenn sich viele Menschen nicht beteiligen. Einem Gesetz kann sich niemand mehr entziehen – es verhindert Trittbrettfahren per definitionem.
4.5 Schnittstelle: Bedeutung von beruflicher Arbeit? In die Studie wurden verschiedene Maße zur Bedeutung und Funktion beruflicher Arbeit integriert. Es wurden drei Szenarien bzw. Schilderungen dreier Angestellter gegenübergestellt, die auf unterschiedliche Orientierungen bezüglich der Rolle der beruflichen Arbeit im Leben abzielten (Blickle 1999): ein karriereorientierter Typus (a), ein freizeit- (b) und ein alternativ orientierter Typus (c). Die Formulierung im Fragebogen lautete wie folgt: a.
„Ich möchte später einmal in einer großen Organisation der Wirtschaft oder Verwaltung in verantwortlicher Position tätig sein. Dort habe ich die Möglichkeit, Einfluss auf wichtige Geschehnisse zu nehmen, und werde außer-
3
Die Bildung der Gruppen stark und schwach demotiviert erfolgte analog zur Verzichtsbereitschaft.
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Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
b.
c.
dem gut bezahlt. Dafür bin ich gerne bereit, mehr Zeit als 40 Stunden in der Woche zu investieren und auf Freizeit zu verzichten.“ „Ich bin nicht so ehrgeizig. Wenn ich eine sichere Position mit geregelter Arbeitszeit habe und mit netten Kollegen zusammenarbeiten kann, bin ich zufrieden. Die mir wichtigen Dinge liegen nicht in der Arbeitszeit, sondern in der Freizeit – und dafür brauche ich auch nicht sehr viel Geld.“ „Ich bin durchaus bereit, viel Arbeitskraft zu investieren, aber nicht in einer großen Organisation der Wirtschaft oder Verwaltung. Ich möchte einmal in einer anderen, konkreteren Arbeitswelt tätig sein, in der menschenwürdige Lebensformen erprobt werden. Dafür bin ich auch bereit, auf hohe Bezahlung oder auf Geltung außerhalb meines Freundeskreises zu verzichten.“
Von 694 Befragten ordnen sich 170 Personen dem Typus „Karriereorientierung“ (Szenario a) zu, 320 bezeichnen sich als freizeitorientiert (Szenario b) und 195 als alternativ orientiert (Szenario c). Auffällig ist der deutliche Überhang an Personen, die sich selbst als freizeitorientiert einstufen (46%). Die Karriere(rund 25%) und Alternativorientierten (28%) sind etwa gleich stark vertreten. Interkulturelle Studien legen nahe, dass die Freizeitorientierung in Deutschland (im Vergleich zu den USA oder Japan) besonders stark ausgeprägt ist (vgl. Stengel, 1997). Zudem wurden unterschiedliche Funktionen erfragt, die berufliche Arbeit für das Individuum haben kann. Die Antwortskala reichte von 1 = „überhaupt nicht wichtig“ bis 6 = „äußerst wichtig“. Das Muster (s. Abb. 7) zeigt die herausragende Wichtigkeit der Funktion „Broterwerb“ bei nahezu einhelliger Meinung (sehr geringe Streuung unter .70). Die zweithöchste Zustimmung erhält die Funktion des Sinn- und Werterlebens für das Selbst. Abbildung 6: Mittelwerte der sechs Funktionen beruflicher Arbeit. 6 WDWX V
3 ,5 9
6 LQ Q
4 ,1 5
$ N WLY LWl W
3 ,2 2
) LWQ H V V
3 ,2 5
* H P H LQ V LQ Q
3 ,6 5
% UR WH UZ H UE
5 ,4 1 1
2
3
4
0 LWWH OZ H UW
5
6
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Für die drei Berufsorientierungen zeigen sich klar unterschiedliche Ausprägungen bei diesen Skalen. Eine logistische Regressionsanalyse bestätigt die signifikante Trennkraft der Variablen. Karriereorientierte Personen zeichnen sich in fast allen einbezogenen Skalen durch die höchsten Werte aus: Insbesondere der Funktion „Status/Prestige“ und „Sinn- und Werterleben für das Selbst“ wird besondere Zustimmung gegeben. Nur bei der Funktion „Gemeinsinn“ werden sie von den Alternativorientierten überholt und bei der Funktion „Broterwerb“ von den Freizeitorientierten. Die Alternativorientierten bilden für die meisten Skalen die Gruppe mit den mittleren Werten. Bei der Funktion „Broterwerb“ bilden sie jedoch das Schlusslicht. Die drei Gruppen unterscheiden sich in zahlreichen weiteren Maßen, die in der Befragung erhoben wurden. So beispielsweise in den berichteten Verzichtsbereitschaften. Wie Abbildung 7 auf der linken Seite zeigt, unterscheiden sich hier sowohl die freizeit- als auch die alternativorientierten Personen von den Karriereorientierten, die statistisch bedeutsam weniger bereit sind zu verzichten (geprüft post hoc mit Tukey und Bonferoni-Test). Hingegen befragt nach dem reinen Einkommensverzicht (rechts) unterscheiden sich freizeit- und karriereorientierten Personen nicht. Alternativorientierte haben hier eine höhere Bereitschaft. Dieser Unterschied lässt sich auf den Freizeitgewinn zurückführen, der natürlich nur bei einem gekoppelten Verzicht entsteht. Abbildung 7: Mittelwerte der Verzichtsbereitschaft auf Arbeitzeit und Einkommen (links) und der Verzichtsbereitschaft auf Einkommen (rechts); die signifikanten Einzelvergleiche sind verzeichnet
Mittelwert
Mittelwert
Karriere
Fre iz e i t
Alternativ
Karriere
Fre i z e it
Alternativ
Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
5
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Zusammenfassung und Empfehlungen für die Praxis
Die eingangs formulierten Forschungsfragen lassen sich anhand dieser Ergebnisse wie folgt zusammenfassend beantworten: 1.
2.
3.
4.
Auch im Bereich der Beschäftigungspolitik zeigt sich eine Überschätzung von Eigeninteressen und eine Unterschätzung von Handlungsbereitschaften anderer. Dies gilt für beide Kategorien von Verzichtsbereitschaften. Auf Ebene der erfragten Motive zeigen sich im Vergleich von Selbst- und Fremdzuschreibungen entsprechende Tendenzen zur Überschätzung von Eigennutz und zur Unterschätzung gemeinsinniger Motive bei anderen. Auch in einem Bereich, in dem von vornherein mit dem Wirken von Eigeninteressen gerechnet werden muss, lässt sich ein komplexeres Menschenbild finden: Sowohl auf Verantwortung und Gemeinwohl bezogene als auch eigennützige Orientierungen spielen bei der Vorhersage der Verzichtsbereitschaften eine Rolle und ergänzen sich gegenseitig. Dabei erweisen sich die eigennutzbezogenen Variablen für den Arbeitszeit- und Einkommensverzicht als wichtiger. Für den Einkommensverzicht zeigt sich die besondere Bedeutung der Fremdzuschreibung. Unter den Barrieren eines Verzichtes finden sich Indikatoren des Trittbrettfahrerdilemmas, insbesondere Demotivationsimpulse und Ärger über sich selbst. Die begleitenden Emotionen erweisen sich als wichtige Variablen. Stark und gering demotivierte Befragte unterscheiden sich sowohl in Verzichtsbereitschaften als auch in kognitiven und emotionalen Indikatoren. Die Integration der „Berufsorientierungen“ erweist sich als fruchtbar. Durch die unterschiedlichen Muster in den Modellvariablen wird deutlich, wie verschieden die emotionalen Befindlichkeiten und Handlungsdispositionen der drei Gruppen sind. Daher werden sie auch durch unterschiedliche Strategien ansprechbar sein. Beispielsweise wird es für Karriereorientierte besonders wichtig sein, dass ein Verzicht nicht zu einem Karriererückschritt führt.
Zum Abschluss seien einige Empfehlungen für die gesellschaftspolitische Praxis einbezogen, die sich auf Basis dieser Ergebnisse ableiten lassen: Aufklärung über die Überschätzung der Dominanz von Eigeninteresse: Es sind mehr Menschen bereit, Verzichte zu leisten, als man glaubt! Sowohl auf Verantwortung und Gemeinwohl bezogene als auch eigennützige Orientierungen spielen bei der Vorhersage der Verzichtsbereitschaft
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eine Rolle. Daher sind sowohl bewusstseins- und normbildende Maßnahmen als auch Anreizstrategien (z.B. symbolische Gegenleistungen anbieten) und innovative kollektive Maßnahmen (Auszeichnungen etc.) denkbar. Von einem Appell an das schlechte Gewissen ist eher abzuraten, da dies zu Reaktanzeffekten führen kann. Stattdessen sollte die Idee des sozialen bzw. Gerechtigkeitsdilemmas vermittelt werden: Sowohl Appelle als auch Gesetze beinhalten gerechte und ungerechte Aspekte. Vertrauensbildende Maßnahmen von Seiten der Politik: Schaffung von Transparenz, beispielhaftes Engagement, vor allem ein unbedingtes Sicherstellen der Umsetzung. Betroffenheit, persönlichen Bezug schaffen, z.B. durch Patenschaften. Kollektive Regelungen in der Öffentlichkeit diskutieren: Alle Gleichen sollten sich gleich beteiligen. Imagearbeit: Teilzeitarbeit (auch für Männer) attraktiver machen; positives Image der Verzichtenden transportieren, u.a. durch Schlüsselfiguren.
Literatur Blickle, G. (1999): Karriere, Freizeit, Alternatives Engagement. Empirische Studien zum psychologischen Konzept von Berufsorientierungen. München: Hampp. Brockner, J. (1994): Perceived fairness and survivors' reactions to layoffs, or how downsizing organizations can do well by doing good. Social Justice Research, 7, S. 345363. Gerhardt, C. (2005): Arbeitszeit- und Einkommensverzichte als politische Handlungsbereitschaft: die Rolle von Moral, Eigeninteresse und antizipiertem Trittbrettfahren. Dissertation, Trier: Universitätsbibliothek Trier. http://ubt.opus.hbznrw.de/volltexte/2005/336/ Fehr, E./Schwarz, G. (Hrsg.) (2003): Psychologische Grundlagen der Ökonomie: Über Vernunft und Eigennutz hinaus (Vol. 3): NZZ. Komorita, S. S./Parks, C. D. (1994): Social dilemmas. Madison, WI: Brown and Benchmark. Lerner, M. J. (1996): Victims without harmdoers: Human casualties in the pursuit of corporate efficiency. In L. Montada/M. J. Lerner (Hrsg.), Current societal concerns about justice (pp. 155-170). New York: Plenum. Miller, D. T./Ratner, R. K. (1996): The power of the myth of self-interest. L. Montada/M. J. Lerner (Eds.), Current societal concerns about justice, S. 25-48. New York: Plenum Press. Montada, L. (1994): Arbeitslosigkeit ein Gerechtigkeitsproblem? L. Montada (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit, S. 53-86. Frankfurt: Campus. Montada, L. (1996): Mass unemployment under perspective of justice. In L. Montada/M. J. Lerner (Hrsg.), Current societal concerns about justice, S. 171-194. New York: Plenum.
Verzicht auf Vollzeitarbeit? Die Rolle von Moral, Eigeninteressen und Trittbrettfahren
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Montada, L. (1999): Umwelt und Gerechtigkeit. In V. Linneweber/E. Kals (Hrsg.), Umweltgerechtes Handeln: Barrieren und Brücken (S. 71-93). Heidelberg: Springer. Montada, L./Mohiyeddini, C. (1996): Arbeitslosigkeit und Gerechtigkeit (Berichte aus der Arbeitsgruppe “Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral” Nr. 87). Universität Trier, Fachbereich I Psychologie. Ramb, B.-T./Tietzel, M. (Hrsg.). (1993): Ökonomische Verhaltenstheorie. München: Franz Vahlen. Schmitt, M./Montada, L./Dalbert, C. (1990): Struktur und Funktion der Verantwortlichkeitsabwehr (Berichte aus der Arbeitsgruppe “Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral” Nr. 60). Universität Trier, Fachbereich I Psychologie. Siebert, H. (1994): Geht den Deutschen die Arbeit aus? München: Bertelsmann. Stengel, M. (1997): Psychologie der Arbeit. Weinheim: Beltz. Wuthnow, R. (1991): Acts of compassion. Princeton: Princeton University Press.
Durch das Ehrenamt zurück in den Arbeitsmarkt?
195
Durch das Ehrenamt zurück in den Arbeitsmarkt? Susanne Strauß
Arbeitslosigkeit ist eines der drängendsten sozialen und ökonomischen Probleme in Europa. Besonders Langzeitarbeitslosigkeit birgt neben anderen Problemen die Gefahr von Armut und sozialer Ausgrenzung. Neben den traditionellen aktiven und passiven Arbeitsmarktmaßnahmen haben in den letzten Jahren Sozialwissenschaftler in der Diskussion um „das Ende der Arbeitsgesellschaft“ vorgeschlagen, dass angesichts steigender Arbeitslosigkeit Erwerbsarbeit nicht mehr die einzige Form der Arbeit in unserer Gesellschaft sein kann. Vielmehr solle der Arbeitsbegriff erweitert und der Blick auf andere Formen von Arbeit gerichtet werden. Im Zentrum des Interesses steht dabei eine Form von Arbeit, die wahlweise als Ehrenamt, Freiwilligenarbeit oder auch Bürgerarbeit bezeichnet wird. Diese soll den Ehrenamtlichen nicht nur eine sinnvolle Tätigkeit ermöglichen, sondern auch ihre Chancen bei der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt erhöhen. Durch eine aktive Beteiligung in Freiwilligenorganisationen, so die zugrunde liegende Vermutung, bekommen die Arbeitlosen Kontakte, die ihnen bei der Jobsuche helfen können, und erwerben wertvolle Qualifikationen, die denen im Erwerbsarbeitsleben vergleichbar sind. Der vorliegende Artikel argumentiert unter Bezugnahme auf bisherige empirische Forschungsergebnisse, dass der Einfluss von ehrenamtlichen Tätigkeiten auf die Wiederbeschäftigung von Arbeitslosen von verschiedenen Faktoren abhängt: der Art der Freiwilligenorganisation, den häufig geschlechtsspezifischen Formen ehrenamtlichen Engagements und den bereits vorhandenen Ressourcen, die der Person zur Verfügung stehen. Darüber hinaus werden am Beispiel von Deutschland und Großbritannien Thesen entwickelt, wie die jeweilige nationale Arbeitsmarktpolitik den Einfluss von ehrenamtlichen Tätigkeiten auf die Wiederbeschäftigungschancen von Arbeitslosen beeinflusst. Der Beitrag warnt davor, Ehrenamt pauschal als Lösung für Probleme der sozialen Integration in Zeiten steigender Arbeitslosigkeit zu sehen, und plädiert für eine differenzierte Analyse der verschiedenen Einflussfaktoren.
196 1
Susanne Strauß
Bessere Arbeitsmarktchancen durch ehrenamtliche Tätigkeit?
Unter dem Schlagwort „Ende der Arbeitsgesellschaft“ (Beck 1999; Gorz 2000; Rifkin 1995) lässt sich seit Ende der 1980er Jahre ein erstarkendes Interesse an einem Phänomen beobachten, das wahlweise als Ehrenamt, Freiwilligenarbeit oder Bürgerarbeit bezeichnet wird. Tätigkeiten in Freiwilligenorganisationen werden einerseits als Sprungbrett für Arbeitslose in den Arbeitsmarkt, andererseits (in Kombination mit der Forderung nach einem Grundeinkommen unabhängig von Erwerbsarbeit) als alternative Tätigkeit ins Feld geführt (Beck 1999). Durch eine aktive Beteiligung in Freiwilligenorganisationen, so die zugrunde liegende Vermutung, bekommen die Arbeitslosen Kontakte, die ihnen bei der Jobsuche helfen können, und erwerben wertvolle Qualifikationen, die denen im Erwerbsarbeitsleben vergleichbar sind, zum Beispiel die Organisation von Projekten oder Teamarbeit. Arbeitslosigkeit führt zu Veränderungen im sozialen Netzwerk und folglich der verfügbaren sozialen Unterstützung. Insbesondere den homogeneren sozialen Netzwerken von Arbeitslosen – arbeitslose Menschen haben überproportional viele arbeitslose Bekannte – wird ein negativer Einfluss auf den Erfolg bei der Jobsuche zugeschrieben (Russell 1999). Hier setzt die Idee an, ehrenamtliche Tätigkeit als eine Art Arbeitsmarkt-Integrationsmaßnahme für Erwerbslose zu nutzen: Die freiwillige Mitarbeit in Vereinen und Verbänden soll wichtige soziale Kontakte sowie den Erwerb arbeitsmarktrelevanter Qualifikationen ermöglichen, die den Berufseinstieg erleichtern. Die Idee des Wiedereingliederungspotenzials von ehrenamtlichen Tätigkeiten ist von verschiedenen politischen Initiativen, wie der Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen (1997) oder der EnqueteKommission des Deutschen Bundestages, aufgegriffen und in konkrete PolicyForderungen umgesetzt worden. Die Enquete-Kommission postuliert, dass „bürgerschaftliches Engagement sehr wohl Brücken in die Arbeitswelt bauen und einen Beitrag zur sozialen Integration Arbeitsloser leisten kann“ (Deutscher Bundestag 2002, S. 6f.). Empirische Studien zeigen unterdessen, dass Arbeitslosigkeit zu einer Aufgabe der Mitgliedschaft in Freiwilligenorganisationen (Rosenbladt/Picot 1999) und folglich dem Absinken der ehrenamtlichen Tätigkeit führt (Erlinghagen 2000a; Rotollo/Wilson 2003). Insgesamt sind empirische Belege für einen positiven Effekt von ehrenamtlichen Tätigkeiten auf die berufliche Karriere eher selten. Einige Studien zeigen einen positiven Effekt von ehrenamtlicher Betätigung auf Einkommen und Status (Wilson/Musick 2003). Diese Untersuchungen beziehen sich allerdings auf Personen (hier: Frauen) in Arbeit. Nur wenige empirische Studien widmen sich der Frage, ob ehrenamtliche Tätigkeiten auch für
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Personen ohne Erwerbsarbeit von Vorteil sein können. Der „Canadian National Survey on Giving Volunteering and Participating“ zeigt, dass die Hälfte der kanadischen ehrenamtlich tätigen Arbeitslosen sich von ihrem Engagement Vorteile bei der Jobsuche erwarten, im Vergleich zu nur einem Viertel der Erwerbstätigen, die das erwarten (Hall et al. 1998). Ob diese Hoffnungen der Arbeitslosen in Erfüllung gehen, ist allerdings empirisch noch nicht hinreichend abgesichert. Korpi (2001) findet in seiner Untersuchung über schwedische Arbeitslose in den Jahren 1992/93 Anhaltspunkte für einen positiven Effekt von ehrenamtlichen Tätigkeiten auf deren Wiederbeschäftigung. In Deutschland bestätigt Uhlendorff (2004) den positiven Einfluss von ehrenamtlicher Tätigkeit auf die Wiederbeschäftigungschancen von Arbeitslosen nur für Ostdeutschland. Systematische Vergleiche der Fragestellung für verschiedene Länder stehen noch aus.
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Berufsrelevante Qualifikationen und soziales Kapital durch Ehrenämter?
Als Erklärung für den postulierten positiven Einfluss von ehrenamtlichen Tätigkeiten auf die Arbeitsmarktintegration werden zwei Mechanismen diskutiert: der Erwerb von berufsrelevanten Qualifikationen und von sozialem Kapital. Dabei wird vermutet, dass ehrenamtliche Tätigkeit dazu beiträgt, berufsrelevante soziale Kontakte zu knüpfen sowie arbeitsmarktrelevante Qualifikationen zu erwerben. In der soziologischen Diskussion wird diese Art sozialer Kontakte unter dem Begriff „Sozialkapital“ diskutiert. Bourdieu (1983) versteht unter Sozialkapital „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“ (S. 190). Andererseits ist in verschiedenen Studien gezeigt worden, dass soziale Netzwerke, Erwerbstätigkeit und Bildung die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Person sich ehrenamtlich engagiert (Rosenbladt/Picot 1999). Das heißt, der Zusammenhang zwischen Qualifikation und Sozialkapital auf der einen Seite und Ehrenamt auf der anderen Seite ist wechselseitig. Dazu kommt, dass die beiden vermittelnden Faktoren, also berufliche Qualifikationen und Sozialkapital, ihrerseits eng verknüpft sind mit dem Bildungstand und vorhandenem ökonomischem Kapital. Diese Erkenntnis schürt Zweifel im Hinblick auf die „Zauberkraft“ des „Gemeinwohlunternehmers“ (Beck 1999, S. 131), die nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass ehrenamtliche Tätigkeit Ressourcen wie Bildung und Einkommen erfordern, die vielen Arbeitslosen den Zugang zum Ehrenamt verwehren (Sing/Kistler 2000).
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Empirisch ist es bisher nicht möglich, den Zusammenhang zwischen dem Qualifizierungspotenzial von ehrenamtlicher Tätigkeit und bereits vorhandenen, finanziellen, sozialen und kulturellen Ressourcen zu klären. Bisherige Studien zeigen, dass ehrenamtliche Arbeit eher von Menschen mit großem Freundesund Bekanntenkreis, höherer Schulbildung und höherer beruflicher Position ausgeübt wird (Rosenbladt/Picot 2001), und stimmen damit skeptisch hinsichtlich der Idee von erwerbslosen „Bürgerarbeitern“. Dabei lässt sich aufgrund des Querschnittdesigns der Studien jedoch nicht klären, ob die Menschen erst mit diesen Ressourcen ausgestattet sind und sich deshalb ehrenamtlich engagieren oder ob die ehrenamtliche Arbeit auch die besagten Ressourcen stärkt oder ob es sich um eine Wechselwirkung handelt. Viel spricht für Ersteres, da die Forschung über Zugangswege zum Ehrenamt betont, dass die wichtigsten Anstöße zum Engagement von bereits Engagierten in Leitungspositionen kommen. Den zweitwichtigsten Einfluss haben Personen aus dem unmittelbaren sozialen Nahfeld, wie Freunde und Bekannte, aber auch Familienangehörige (Abt/Braun 2001). Aber auch die Vermutung der umgekehrten Wirkrichtung, also des positiven Einflusses des Ehrenamts auf die verschiedenen Formen von Ressourcen, wird von empirischen Hinweisen gestützt: Day und Devlin (1997) zeigen beispielsweise, dass die ehrenamtliche Betätigung von Männern und Frauen in unterschiedlichen Bereichen zur Erklärung von Einkommensunterschieden zwischen den Geschlechtern beiträgt, also bestimmte Formen von Engagement einen positiven Einfluss auf ökonomisches Kapital haben. Um die Frage nach der Integrationswirkung des Ehrenamts beantworten zu können, soll im Folgenden eine Binnendifferenzierung des Phänomens Ehrenamt vorgenommen werden.
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Ehrenamt – was ist das?
Eine Schwierigkeit bei der Beantwortung der Frage nach dem Beitrag von ehrenamtlichem Engagement für die Arbeitsmarktintegration liegt meines Erachtens darin, dass das Phänomen des Ehrenamts (oder „bürgerschaftlichen Engagements“) nicht differenziert genug betrachtet wird. Mit der ständig wachsenden Anzahl von Publikationen zum Thema wächst auch die Anzahl der Definitionen, was unter Ehrenamt zu verstehen ist. Das liegt zum einen an der Schwierigkeit, ehrenamtliche Arbeit von anderen Formen der Arbeit, wie Erwerbsarbeit, Nachbarschaftshilfe oder Familienarbeit, abzugrenzen. Zwar wird prinzipiell unter Ehrenamt eine unbezahlte Tätigkeit verstanden. Die Debatte darüber, ab welcher Höhe eine Aufwandsentschädigung zum Verlust des ehrenamtlichen Charakters der Tätigkeit führt, zeigt jedoch, wie fließend die Übergänge zwischen den ver-
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schiedenen Formen der Arbeit sind (Erlinghagen 2000b). Andererseits ist Ehrenamt selbst ein ausgesprochen heterogenes Phänomen, das Tätigkeiten umfasst, die so unterschiedlich sind wie die Organisation und Durchführung von Treffen, Interessenvertretung in Gremien sowie Beratungs- und Pflegetätigkeiten. Ehrenamtliche arbeiten in Sportvereinen, im Gesundheits-, Kultur- und Freizeitbereich, in Schulen und Kindergärten, Kirchen und – seltener – in politischen Parteien und Gewerkschaften (Rosenbladt/Picot 1999). Viele Definitionen von Ehrenamt schließen Hilfe für Nachbarn, Freunde und Verwandte aus, andere schließen sie als „informelles Ehrenamt“ mit ein (Wilson/Musick 1997). Aber auch innerhalb des in Vereinen und Verbänden organisierten Ehrenamts kann unterschieden werden, beispielsweise zwischen sozialem und politischem Ehrenamt. Während Ersteres helfende und beratende Tätigkeiten umfasst, handelt es sich bei Letzterem um Führungs- und Verwaltungsaufgaben. Verschiedene Formen des Ehrenamts erfordern unterschiedliche Qualifikationen, von Alltagskompetenzen wie Empathie oder Organisationsgeschick bis zu beruflichen Qualifikationen, wie zum Beispiel im Falle einer Krankenschwester, die ehrenamtlich im Hospiz tätig ist. In Reaktion auf Putnams (1995) viel beachtete These, dass sich in Vereinen, besonders auf lokaler Ebene, soziales Kapital bildet, haben verschiedene Studien die Bedeutung einer differenzierten Betrachtung der Art des Vereins für die Frage nach dem Qualifikationspotenzial hervorgehoben. Stolle und Rochon (1998) machen beispielsweise darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, zwischen der Art der verschiedenen Typen von Freiwilligenorganisationen zu unterscheiden: Während einige Vereine tatsächlich soziale Netzwerke erweitern, vermitteln andere starke Werte, wieder andere vermitteln soziale Kompetenzen. Besondere Bedeutung schreiben Stolle und Rochon (1998) der Homogenität beziehungsweise Heterogenität von sozialen Netzwerken zu: Homogene Organisationen, das heißt Organisationen, deren Mitglieder ähnliche sozioökonomische Merkmale haben, schaffen homogene Netzwerke und führen seltener zur Bildung von Sozialkapital (im Sinne Putnams). Lin et al. (1981) weisen ebenfalls auf die Bedeutung der unterschiedlichen „Qualität“ von sozialen Netzwerken, das heißt den Ressourcen, die den Kontaktpersonen zur Verfügung stehen, hin: Wenn die Personen, die ich kenne, selbst nicht über die relevanten Kontakte verfügen, werden sie bei meiner Jobsuche wenig hilfreich sein. Die Bedeutung dieser Differenzierung innerhalb des Ehrenamts-Begriffs soll im Folgenden auf der Grundlage der Ergebnisse des „Freiwilligensurveys“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Rosenbladt/Picot 2001) am Beispiel der Unterschiede zwischen dem ehrenamtlichen Engagement von Frauen und Männern verdeutlicht werden. Ein Ergebnis dieser Studie ist, dass es einen deutlichen Unterschied zwischen den Bereichen
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gibt, in denen sich Frauen und Männer ehrenamtlich engagieren: In den Bereichen Schule und Kindergarten, im sozialen Bereich sowie im kirchlichreligiösen Bereich dominieren Frauen mit zwei Dritteln der Engagierten. Im Bereich beruflicher Interessenvertretung außerhalb des Betriebs, wie zum Beispiel in Berufsverbänden, sind Frauen dagegen nur mit einem Viertel vertreten. Und im Bereich Politik beziehungsweise politische Interessenvertretung ist sogar nur jede fünfte freiwillig tätige Person eine Frau. Frauen sind also eher in betreuenden, gesundheitlichen, helfenden und versorgenden Aufgaben freiwillig tätig, während Männer sich häufiger in außerfamiliären, Freizeit-, Bildungsoder politischen Bereichen engagieren (Zierau 2001). Männer besetzen im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit mehr Funktionsposten, beziehungsweise ihre ehrenamtliche Arbeit findet häufiger in Funktionszusammenhängen statt und ist deshalb mit einer höheren öffentlichen Wirkung verbunden. Ferner nehmen männliche Ehrenamtliche häufiger an Schulungen zur Vorbereitung auf ihre ehrenamtliche Tätigkeit teil und verbinden öfter als Frauen eine berufliche Erfahrung mit ihrer Tätigkeit. Das heißt, die ungleiche Verteilung der Geschlechter in Beruf und Gesellschaft setzt sich auch im Bereich der ehrenamtlichen Tätigkeiten fort. Ein weiterer interessanter Unterschied ist, dass Frauen und Männer ihr Ehrenamt auf unterschiedliche Weise mit der Erwerbsarbeit kombinieren: Bei Männern steigt der Umfang ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit, je mehr Stunden sie erwerbstätig sind – bei Frauen ist der Effekt umgekehrt (Zierau 2001). Dies lässt sich einerseits damit erklären, dass bei Männern das Ehrenamt öfter inhaltlich mit der Erwerbsarbeit verknüpft ist, aber auch dadurch, dass Männer häufiger von ihren Frauen von Haus- und Familienarbeit entlastet werden und ihnen so mehr Zeit fürs Ehrenamt bleibt. Eine Analyse der Tätigkeitsprofile von Männern und Frauen, aber auch von anderen sozialen Gruppen ermöglicht das Qualifizierungspotenzial von ehrenamtlichem Engagement differenziert zu betrachten.
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Die psychosoziale Dimension des Zusammenhangs von Ehrenamt und Arbeitsmarktintegration
Neben der Vermutung, dass ehrenamtliche Tätigkeit Arbeitslose für den ersten Arbeitsmarkt qualifiziert, wird weiterhin die Möglichkeit erwogen, dass das Ehrenamt einen Ersatz für Erwerbsarbeit darstellen könnte. Beck beschreibt in seinem „Modell Bürgerarbeit“, wie „Bürgerarbeit“ (die er von unverbindlichem „bürgerlichem Engagement“ abgesetzt sehen möchte) in Zukunft neben der Erwerbsarbeit eine „alternative Aktivitäts- und Identitätsquelle“ werden könne, die „den Menschen Befriedigung schafft“ (Beck 1999, S. 129). Hier stellt sich
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die Frage, ob Ehrenamt tatsächlich die psychosoziale Funktion von Erwerbsarbeit übernehmen kann und ob es diese Funktion gegebenenfalls auch für arbeitslose Menschen haben kann. Um die Frage zu beantworten, ob Ehrenamt tatsächlich ein psychosozialer Ersatz für Erwerbsarbeit sein kann, muss zunächst geklärt werden, welche Funktion Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft für den Einzelnen hat. Keupp et al. (1999) stellen in ihrer Studie dar, dass Erwerbsarbeit in erfolgsorientierten Gesellschaften lange Zeit das unhinterfragte Zentrum moderner Identität war. Diese Rolle werde durch die steigende strukturelle Arbeitslosigkeit in Frage gestellt. Nach Semmer und Udris (1993) dient Erwerbsarbeit zum Beispiel der Persönlichkeitsbildung, indem sie Erfahrungen von Aktivität und Kompetenz ebenso wie von Zeitstruktur, Kooperation und Kontakt, sozialer Anerkennung und persönlicher Identität ermöglicht. Hier wird deutlich, durch welche sozialen Erfahrungen Erwerbsarbeit ihre integrative Wirkung entfaltet. Da sich diese sozialpsychologischen Studien explizit nur auf Erwerbsarbeit beziehen und andere Formen von Arbeit, wie zum Beispiel ehrenamtliche Arbeit, von der Analyse ausschließen, lassen sich nur Vermutungen darüber anstellen, inwiefern ehrenamtliche Arbeit die psychosozialen Funktionen von Erwerbsarbeit ersetzen könnte. Unsere Gesellschaft inklusive verschiedener sozialer Sicherungssysteme ist weiterhin zentral um Erwerbsarbeit organisiert, weshalb ein Ausschluss vom Arbeitsmarkt eine der prekärsten Formen sozialer Ausgrenzung bedeutet (Ganßmann 1999).1 Viele der genannten Aspekte, wie Aktivität, Kompetenz und Zeitstruktur, können zwar in bestimmten Ehrenämtern ebenfalls erfahren werden. Allerdings ist auch hier wieder eine differenzierte Betrachtung der Art der ehrenamtlichen Tätigkeit von entscheidender Bedeutung. Darüber hinaus sind die psychosozialen Kosten der Ausgrenzung vom Arbeitsmarkt, die von der Arbeitslosenforschung eindringlich dargestellt worden sind (zum Beispiel Jahoda 1983), nicht zu unterschätzen. Freiwilligenarbeit wird von den meisten Ehrenamtlichen nicht als ein Substitut, sondern als eine Ergänzung zur Erwerbsarbeit angesehen (Sing/Kistler 2000). Der Ersatz von Erwerbsarbeit durch ein Ehrenamt kann die gesellschaftliche Ausgrenzung mit all ihren psychosozialen Kosten nicht wieder rückgängig machen. Ehrenamtliche Tätigkeit ist eng mit Erwerbsarbeit verknüpft und nimmt bei Eintreten von Erwerbslosigkeit deutlich 1
Eine Entkoppelung von sozialer Sicherung und Erwerbsarbeit, wie sie von Beck unter dem Stichwort der „Grundsicherung“ diskutiert wird (Beck 1999, S. 64), ist unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen nur als Sicherung eines Mindestbedarfs, ähnlich dem gegenwärtigen Niveau von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, zu erwarten (Beck 1999, S. 128). Eine höhere „Grundsicherung“ würde ein Ausmaß an finanzieller Umverteilung erfordern, wie sie gegenwärtig nicht absehbar ist. Im Gegenteil deutet die gegenwärtige „aktivierende Arbeitsmarktpolitik“ auf eine Fortschreibung der Verknüpfung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit hin.
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ab (Erlinghagen 2000a). Die geringere Beteiligung von Arbeitslosen hängt damit zusammen, dass sie insgesamt weniger aktiv in Gruppen, Vereinen, Organisationen und Einrichtungen beteiligt sind. Zwar sind in der Gruppe der Arbeitslosen mit 22% Engagierten deutlich weniger Ehrenamtliche tätig als in der erwerbstätigen Bevölkerung (37%). Sofern Arbeitslose Mitglieder in Vereinen oder Verbänden sind, ist ihre Engagementbereitschaft aber nicht geringer als die der übrigen Beteiligten (Rosenbladt/Picot 2001). Zwar ist bei bestimmten Formen des ehrenamtlichen Engagements, insbesondere berufsnahen Tätigkeiten oder heterogenen Netzwerken mit einflussreichen Mitgliedern, die Vermutung plausibel, dass berufsrelevante Qualifikationen oder soziales Kapital erworben werden können. Gleichzeitig dürfen jedoch die psychosozialen Kosten durch den Ausschluss aus dem Erwerbsarbeitsmarkt nicht vergessen werden. Von feministischen Autorinnen (Klammer/Klenner 1999) ist ferner darauf hingewiesen worden, dass die politische Forderung nach einer Stärkung des Ehrenamts sich implizit insbesondere an Frauen richtet, die ohnehin bereits die meisten gemeinnützigen Tätigkeiten im sozialen Bereich „übernehmen“. Ein „Ersatz“ von Erwerbsarbeit durch Ehrenämter setzt ein gesichertes finanzielles Einkommen voraus und unterstützt damit (unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen) folglich implizit das „Ernährermodell“, das heißt Partnerschaften, in denen ein (männlicher) Partner Vollzeit erwerbstätig ist und die Familie ökonomisch „ernährt“ und eine (weibliche) Partnerin höchstens Teilzeit arbeitet und für die Haus- und Familienarbeit zuständig ist. Beck geht auf die feministische Kritik an einer einseitigen Orientierung an Erwerbsarbeit und einer Nichtbeachtung von anderen produktiven Tätigkeiten, wie Haus- und Familienarbeit, explizit ein und empfiehlt eine „Öffnung der monogamen Arbeits- zur pluralen Tätigkeitsgesellschaft“ (Beck 1999, S. 64). Dass eine solche Veränderung sehr voraussetzungsvoll ist, beschreibt er allerdings ebenfalls sehr eindrücklich: „So muss sich nicht nur in den Amtsstuben, im Recht und in der Politik, sondern vor allem auch in den Köpfen der Menschen – der Männer – einiges ändern.“ (Beck 1999, S. 64) In Anlehnung an Notz formuliert er zudem Bedingungen, die zu einer geschlechtergerechten Verteilung der verschiedenen Formen von Arbeit führen: „radikale Arbeitszeitverkürzung im Bereich der Vollerwerbsarbeit für alle, existenzsichernde, sinnvolle Arbeit für alle, die das wollen, ‚Gleichberechtigung‘ von Haus- und Sorgearbeit mit der künstlerischen, kulturellen und politischen Bürgerarbeit im freiwilligen Sektor, gleiche Verteilung der (jetzt) bezahlt und (jetzt) unbezahlt geleisteten Arbeit auf Männer und Frauen“ (Beck 1999, S. 145).
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Solange allerdings keine dieser Bedingungen Wirklichkeit ist, birgt meines Erachtens der zunächst geschlechtsneutral formulierte Aufruf zu mehr ehrenamtlichem Engagement in diesen Bereichen vor dem Hintergrund der aktuellen Geschlechterbeziehungen weiterhin die Gefahr einer Verdrängung von Frauen aus dem Erwerbsarbeitsmarkt ins Ehrenamt. Der „Ersatz“ von Erwerbsarbeit durch ehrenamtliche Arbeit für Arbeitslose ist also aufgrund der psychosozialen Folgen der Ausgrenzung vom Erwerbsarbeitsmarkt kritisch zu sehen. Das Ehrenamt könnte durch eine solche „Umfunktionierung“ zu einem Ausgrenzungsmechanismus werden, vergleichbar anderen prekären Arbeitsverhältnissen. Das gilt nicht zuletzt für Frauen.
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Der Einfluss nationaler Arbeitsmarktpolitiken
Schließlich ist der Einfluss von ehrenamtlichen Tätigkeiten auf die Wiedereingliederung von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt abhängig von nationalen Arbeitsmarktpolitiken. Dieser Einflussfaktor hat bisher wenig Aufmerksamkeit erlangt, und es stehen deshalb nur wenige empirische Ergebnisse zur Verfügung. Im Folgenden werde ich zwei Bereiche beleuchten, die einen Einfluss haben können: gesetzliche Regelungen bezüglich ehrenamtlicher Tätigkeiten während der Arbeitslosigkeit sowie Ausgaben des Nationalstaates für aktive und passive Arbeitsmarktpolitik. Beide werden am Beispiel von Deutschland und Großbritannien illustriert. Diese beiden Länder gehören in Esping-Andersens (1990) Klassifikation zwei unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatsregimen an, wobei Deutschland der Kategorie „konservatives Wohlfahrtsstaatsregime“ und Großbritannien der Kategorie „liberales Wohlfahrtsstaatsregime“ angehören. Aus diesen unterschiedlichen Wohlfahrtsstaatslogiken ergeben sich unterschiedliche Herangehensweisen an die Problematik der Arbeitslosigkeit. Ehrenamtliche Betätigung während der Arbeitslosigkeit ist in Deutschland und Großbritannien jeweils gesetzlich geregelt. In Deutschland definiert das Sozialgesetzbuch III Arbeitslosigkeit durch Beschäftigungslosigkeit und die Suche nach einer Beschäftigung von mindestens 15 Stunden pro Woche (§ 118, Abs. 1)2. Einen Anspruch auf Arbeitslosengeld beziehungsweise Arbeitslosenhilfe haben ebenso Personen, die gegenwärtig weniger als 18 Stunden pro Woche selbständig tätig sind oder für Familienangehörige arbeiten (§ 118, Abs.3). Darüber hinaus betont das Gesetz explizit (§ 118a), dass ehrenamtliche Tätigkeiten den Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht beeinträchtigen, solange sie nicht die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt einschränken. Während Gaskin et 2
Ab dem 1.1.2005 gelten dieselben Bedingungen als Anspruchsvoraussetzungen bei Arbeitslosigkeit.
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al. (1996) vermuten, dass die Obergrenze hier ähnlich wie bei selbständigen Tätigkeiten und Arbeit für Familienangehörige bei 17 Stunden pro Woche anzusetzen ist, erläutert Steinmeyer (2002), dass eine Tätigkeit den Charakter der Ehrenamtlichkeit nicht dadurch verliere, dass die zeitliche Grenze von 15 Stunden (§ 118, Abs. 2) wöchentlich erreicht oder überschritten wird. Der Umfang der Tätigkeit ist seiner Ansicht nach grundsätzlich unerheblich. Wichtig sei vielmehr die Definition von Ehrenamt3 und die Nichtbeeinträchtigung der beruflichen Eingliederung, zum Beispiel in Form der Beschäftigungssuche. Eine mindestens 15 Stunden wöchentlich umfassende ehrenamtliche Betätigung muss dem Arbeitsamt angezeigt werden und darf weder die eigenen Bemühungen zur Beendigung der Beschäftigungslosigkeit noch die Vorschläge des Arbeitsamtes zur beruflichen Eingliederung behindern. In Großbritannien wird der Anspruch auf Arbeitslosengeld (Job seaker’s allowance, JSA) durch ehrenamtliche Tätigkeiten nicht eingeschränkt, solange (a) der oder die Arbeitslose eine Beschäftigung sucht, (b) er oder sie bereit ist, innerhalb von 48 Stunden für ein Bewerbungsgespräch zur Verfügung zu stehen4 und innerhalb einer Woche mit einer Erwerbsarbeit zu beginnen, (c) der oder die Ehrenamtliche keine finanzielle Entschädigung für ihre Tätigkeiten erhält (außer für Ausgaben wie Fahrtkosten oder besondere Bekleidung) und (d) es sinnvoll ist anzunehmen, dass der oder die Ehrenamtliche für ihre Tätigkeit nicht entlohnt wird. Wenn diese Annahme nicht sinnvoll ist, wird die JSA um den Betrag gekürzt, der für eine solche Tätigkeit üblicherweise bezahlt würde. Es gibt eine Anzeigepflicht für alle Formen von ehrenamtlichen Tätigkeiten und für finanzielle Entschädigungen wie beispielsweise Essensgutscheine. Gaskin et al. (1996) betonen, dass ehrenamtlich tätige Arbeitslose in Großbritannien trotz des Fehlens einer Stundenbegrenzung für ehrenamtliche Tätigkeiten eine Kürzung ihrer JSA durch die restriktive Auslegung der Gesetzeslage durch die lokalen Arbeitsämter befürchten. Im Allgemeinen ist weder für Deutschland noch für Großbritannien klar, welchen Einfluss die gesetzlichen Regelungen auf ehrenamtliche Tätigkeiten während der Arbeitslosigkeit und auf die Anzeige derselben bei den Arbeitsämtern haben. Steinmeyer (2002) betont, dass die deutsche gesetzliche Regelung der Sicherung des Anspruchs auf Arbeitslosen3
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Eine Verordnung zu § 118a vom Mai 2002 verfügt, dass ehrenamtlich nur solche Betätigungen sind, „die (1) unentgeltlich ausgeübt werden, (2) dem Gemeinwohl dienen und (3) bei einer Organisation erfolgen, die ohne Gewinnzielungsabsicht Aufgaben ausführt, welche im öffentlichen Interesse liegen oder gemeinnützige, mildtätige oder kirchliche Zwecke fördern“. Pauschalen für den Ersatz von Auslagen dürfen den Betrag von 154 Euro im Monat nicht überschreiten. Der Zeitraum zwischen der Benachrichtigung und dem Bewerbungsgespräch ist – auf Druck des Freiwilligensektors auf die britische Regierung – von 24 auf 48 Stunden verlängert worden.
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geld im Falle ehrenamtlicher Tätigkeiten und damit der Förderung des bürgerschaftlichen Engagements von Arbeitslosen dienen soll. Auch in Großbritannien, wo seit 1998 im Rahmen der „New Deal Programmes for Young People under 25 (NDYP)“ ehrenamtliche Tätigkeit ein Baustein der Qualifizierungsmaßnahmen für jugendliche Arbeitslose ist, kann dem Gesetzgeber eine positive Bewertung von ehrenamtlichem Engagement für die Wiederbeschäftigungschancen zumindest von Jugendlichen unterstellt werden. Trotz dieser gesetzgeberischen Intention spiegelt die gesetzliche Einschränkung ehrenamtlicher Betätigung während der Arbeitslosigkeit in Deutschland ebenso wie in Großbritannien meines Erachtens wider, dass das Engagement in Vereinen oder Verbänden vom Gesetzgeber eher als Hinderungsgrund für die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt denn als Qualifikationsmaßnahme betrachtet wird. Eine Ausnahme bildet die Regelung für Jugendliche im Zusammenhang mit dem britischen Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit (NDYP). Die Priorität von formellen Eingliederungsmaßnahmen des Arbeitsamts sowie Unklarheiten bei der Definition von ehrenamtlicher Betätigung und der Verfügbarkeitsanforderung schaffen potenzielle Unsicherheiten bei Arbeitslosen, die eine Kürzung ihrer Leistungsansprüche befürchten müssen. Neben diesen Gesetzen, die explizit auf die Regelung von ehrenamtlichen Tätigkeiten während der Arbeitslosigkeit abzielen, muss auf einen weiteren Bereich eingegangen werden, der potentiell einen Einfluss auf die Aufnahme von Ehrenämtern während der Arbeitslosigkeit hat: die Arbeitsmarktpolitik der Nationalstaaten. Hinsichtlich der Arbeitsmarktpolitik unterscheidet sich das Ausmaß an aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitiken in den beiden Ländern. Während in Deutschland die Ausgaben für aktive und passive Arbeitsmarktpolitik5 in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen sind, sind die Ausgaben in Großbritannien im selben Zeitraum gesunken.6 In Deutschland beziehen Arbeitslose ein relativ hohes, versicherungsfinanziertes Arbeitslosengeld, dessen
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Unter aktiver Arbeitsmarktpolitik wird hier die Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie Qualifizierungsmaßnahmen verstanden. Mit passiver Arbeitsmarktpolitik meine ich kompensatorische Maßnahmen, wie zum Beispiel die Zahlung von Arbeitslosengeld beziehungsweise Arbeitslosenhilfe (vgl. etwa Clasen 1994). Die Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik sind in Deutschland von 0,82% des BIP im Jahre 1985 (nur Westdeutschland) auf 1,43% im Jahre 1996 gestiegen. Im selben Zeitraum sind die Ausgaben in Großbritannien von 0,73% des BIP auf 0,46% gekürzt worden. Deutschlands massive Erhöhung der Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik in den 1990er Jahren erklärt sich durch die Arbeitsmarktsituation in Ostdeutschland nach der deutschen Vereinigung. Die Ausgaben für passive Arbeitsmarktpolitik sind in Deutschland von 1,41% (des BIP) im Jahre 1985 auf 2,53% im Jahre 1996 gestiegen. In Großbritannien sind die Ausgaben im selben Zeitraum von 2,03% auf 1,26% (des BIP) gesunken.
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Höhe vom vorherigen Einkommen abhängig ist7. In Großbritannien beziehen die Arbeitslosen eine steuerfinanzierte Transferleistung zur Deckung des Mindestbedarfs.8 Diese Unterschiede in den nationalen Ausgaben für aktive und passive Arbeitsmarktpolitik spiegeln sich auch in der Länge der Arbeitslosigkeitsphasen wider: Die Dauer der Arbeitslosigkeit (Zeitraum bis zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt) ist in Großbritannien deutlich kürzer (durchschnittlich 3,6 Monate für Frauen und 4,6 Monate für Männer) als in Deutschland (durchschnittlich 7,5 Monate für Frauen und 5,6 Monate für Männer) (Kaiser/Siedler 2000). Im Hinblick auf ehrenamtliche Tätigkeiten während der Arbeitslosigkeit könnte das Fehlen von aktiver Arbeitsmarktpolitik in Großbritannien zu einer größeren Bedeutung des Ehrenamts als informeller Qualifikationsstrategie und als Hilfe bei der Beschäftigungssuche führen. Aufgrund fehlender komparativer Forschung zum Einfluss der nationalstaatlichen Sozialgesetzgebung auf die Rolle des Ehrenamts während der Arbeitslosigkeit lässt sich diese Frage zum gegebenen Zeitpunkt jedoch nicht klären.
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Fazit
Obwohl bestimmte ehrenamtliche Tätigkeiten das Potenzial haben, berufsrelevante Qualifikationen und Sozialkapital der Ehrenamtlichen zu erhöhen, bietet das Ehrenamt keine einfache Lösung für das Problem der sozialen Ausgrenzung durch Arbeitslosigkeit. Um das soziale Integrationspotenzial des Ehrenamts zu beurteilen, müssen eine Reihe von Differenzierungen vorgenommen werden: Eine wichtige Rolle spielt die Art der Freiwilligenorganisation, das heißt ihr Grad an sozioökonomischer Homogenität ihrer Mitglieder, an Qualifikationsanforderungen an die ehrenamtlichen Mitarbeiter sowie an Qualifikationspotenzialen für dieselben. Unterschiede im Ehrenamtsverhalten von Männern und Frauen machen deutlich, dass auf dem „Ehrenamtsarbeitsmarkt“ ähnliche Anforderungsmechanismen gelten und es vergleichbare Diskriminierungsmechanismen 7
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Die Bezugsdauer richtet sich nach der Dauer des vorangegangenen Versicherungsverhältnisses und betrug bis zum 31.13.2004 zwischen sechs und 18 Monaten. Danach bestand für bedürftige Arbeitslose ein Anspruch auf Arbeitslosenhilfe. Seit dem 1.1.2005 ist diese Regelung durch das so genannte Arbeitslosengeld II ersetzt worden. Die Anspruchsdauer auf die Versicherungsleistung (Arbeitslosengeld I) beträgt nur noch übergangsweise maximal 32 Monate. Für Ansprüche, die nach dem 31.1.2006 entstehen, gilt dann gemäß §§ 434j Abs. 3 sowie § 34l SGB III eine grundsätzliche Höchstbezugsdauer von zwölf Monaten und für Arbeitslose nach Vollendung des 55. Lebensjahres von maximal 18 Monaten. 1993 bekam ein durchschnittlicher Arbeitnehmer (allein stehend, Berufsanfänger) eine Lohnersatzleistung (netto, einschließlich Transferzahlungen) von 61,1% in Deutschland und 41,1% in Großbritannien (Kaiser/Siedler 2000).
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gibt wie auf dem Erwerbsarbeitsmarkt. Verschiedene ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen sind die Voraussetzung für ehrenamtliche Tätigkeiten. Obwohl bestimmte ehrenamtliche Tätigkeiten erwerbsarbeitsähnliche Funktionen wie die Erfahrung von Aktivität, Kompetenz und Zeitstruktur ermöglichen, darf bei der Frage nach der psychosozialen „Ersatzfunktion“ von ehrenamtlicher Arbeit für Erwerbsarbeit die psychosoziale Belastung durch die Ausgrenzung vom Erwerbsarbeitsmarkt nicht vernachlässigt werden. Ob bestimmte ehrenamtliche Tätigkeiten einen Beitrag zur Wiedereingliederung von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt leisten können, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Erste Hinweise aus Schweden und Ostdeutschland weisen in diese Richtung. Gleichzeitig lassen sich die Ergebnisse für Westdeutschland nicht bestätigen. Systematische Vergleiche des Einflusses verschiedener Wohlfahrtsstaatssysteme zu dieser Frage stehen noch aus. Diese sollten den Einfluss von gesetzlichen Einschränkungen des ehrenamtlichen Engagements während der Arbeitslosigkeit auf das Integrationspotenzial der freiwilligen Tätigkeiten ebenso berücksichtigen wie den Zusammenhang von Maßnahmen der aktiven und passiven Arbeitsmarktpolitik und „informellen Wiedereingliederungs-Maßnahmen“ wie ehrenamtlicher Tätigkeit.
Literatur Abt, H. G./Braun, J. (2001): Zugangswege zu Bereichen und Formen des freiwilligen Engagements. J. Braun/H. Klages (Hrsg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Ergebnisse der Repräsentativerhebung zu Ehrenamt, Freiwilligenarbeit und bürgerschaftlichem Engagement. Band 2: Zugangswege zum freiwilligen Engagementpotenzial in den neuen und alten Bundesländern. Stuttgart: Kohlhammer. Beck, U. (1999, 2. Aufl.) Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgerschaft. Frankfurt/ Main/New York: Campus. Bourdieu, P. (1983): Ökonomiches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. Soziale Welt, Sonderband 2 (Soziale Ungleichheiten): S. 183-198. Clasen, J. (1994): Paying the Jobless. A comparison of unemployment benefit policies in Great Britain and Germany. Aldershot: Avebury. Day, K.M./Devlin, R.A. (1997): Can volunteer work help explain the male-female earnings gap?, In: Applied Economics, Vol. 29: S. 707-721. Deutscher Bundestag (2002): Bericht der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“. Drucksache 14/8900. Esping-Andersen, G. (1990): The three worlds of welfare capitalism. Cambridge: Polity Press.
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Durch das Ehrenamt zurück in den Arbeitsmarkt?
Grenzen des Arbeitsmarkts
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Who cares? Pflegearbeit, Individuum und Gesellschaft. Eine interdisziplinäre Spurensuche in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Who cares? Pflegearbeit, Individuum und Gesellschaft
Anne Giebel und Christian Apfelbacher
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Zusammenfassung
Mittels eines interdisziplinären Ansatzes soll domänenspezifisches Wissen aus Arbeits-, Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften auf einen inhaltlichen Gegenstand – Pflegearbeit – bezogen werden, um die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Gestaltung dieser Arbeitswelt aufzuzeigen. Der Schwerpunkt der Analyse besteht darin, systematisches Wissen in einer historischen Perspektive für die Zukunft neu auszulegen. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. In einem arbeitswissenschaftlichen Einblick wird die gegenwärtige Situation im Pflegesektor dargestellt, die einerseits durch steigende Nachfrage nach Pflegearbeit und andererseits durch spezifische Belastungen der Pflegenden bei geringer Verweildauer im Beruf gekennzeichnet ist. Erweist sich hier der Markt also als Mythos? Ein historischer Rückblick zeigt, dass sich die Problematik des Pflegeberufs aus gewachsenen Strukturen und festgeschriebenen Leitbildern erklären lässt, die den Pflegeberuf als weiblich konnotierten, semiprofessionellen Beruf hervorgebracht haben. Diese haben sich nur zögerlich modernisiert und modifiziert. Daraus ergibt sich ein Ausblick, der die Gestaltung der Arbeitswelt Pflege an deren weitere Emanzipation koppelt – durch mehr Spielraum für die einzelne Pflegekraft, durch eine Professionalisierung des Pflegeberufs, aber auch durch zivilgesellschaftliches Engagement im Rahmen außerberuflicher Pflegearbeit und veränderte gesellschaftliche Leitbilder.
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Einleitung
Die Frage nach der Arbeitswelt scheint sich besonders zuzuspitzen, wenn es um Arbeitslosigkeit geht. Im Bereich der Pflege stellt sich die Situation jedoch anders dar: Im Frühjahr 2002 waren nach einer Schätzung des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung in Deutschland mehr als 42.000 Stellen in
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der Pflege unbesetzt (NEXT newsletter 1 12/2002). Im Unterschied zu anderen Teilarbeitsmärkten besteht also im Pflegebereich ein Personalmangel. Es stellt sich die Frage, welche Ansatzpunkte sich identifizieren lassen, um auf diesen Arbeitskraftmangel zu reagieren. Um uns einer Antwort zu nähern, greifen wir zunächst auf arbeitswissenschaftliche Untersuchungen zurück und wollen uns dann der Problematik mittels einer historisch informierten systematischen Analyse nähern. Zunächst setzen wir bei der Pflegekraft als Individuum an und fragen, wie die Arbeitswelt gestaltet werden kann, sodass Berufseinstieg und -verbleib attraktiv sind. Die Motivation der Pflegekraft ist jedoch nicht losgelöst vom Pflegesystem als gesellschaftlichem Teilsystem zu verstehen, welches wir ebenfalls in historischer Perspektive analysieren. Spezifisches Merkmal von Pflegearbeit ist, dass die Versorgung Alter und Kranker seit jeher im Sinne einer mixed economy (Horden/Smith 1998) und nicht allein von institutionellen Pflegeanbietern geleistet worden ist. Vor dem Hintergrund der Komplementarität familialer und außerfamilialer Pflegearbeit einerseits und des Arbeitskraftmangels andererseits möchten wir abschließend in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive untersuchen, wie die Pflegearbeit der Zukunft aussehen kann und welche Implikationen diese Vision für unser allgemeines Verständnis von Arbeit hat.
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Einblick: Zur Situation beruflicher Pflegearbeit heute
3.1 Demografischer Wandel und die steigende Nachfrage nach Pflegearbeit Die Nachfrage nach Pflegearbeit ist eng verknüpft mit dem demografischen Wandel, der sich vor allem als demografische Alterung und Strukturwandel von Haushalt und Familie manifestiert. Bei simultanem Geburtenrückgang führt die zunehmende Lebenserwartung zu einem relativen Anstieg des Anteils älterer Menschen. Zwischen 1871 und 1999 stieg der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung von 4,6% auf 16,2%; für die über 80-Jährigen wird mit einer Zunahme von 4,4% im Jahr 2000 auf über 10% im Jahr 2040 gerechnet (Voges 2002). Mit steigendem Lebensalter ist insbesondere ein vermehrtes Auftreten chronischer und demenzieller Erkrankungen wahrscheinlich, die mit dauerhaften Beeinträchtigungen einhergehen. Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigungen wird im Pflegeversicherungsgesetz als Definiens der Kategorie „pflegebedürftig“ gebraucht: Pflegebedürftig sind Personen,
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„die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen“. (BMGS 2004, S. 11).
Nimmt man die für das Alter spezifische Multimorbidität hinzu, die sich aus dem gleichzeitigen oder kumulativen Auftreten mehrerer Krankheiten ergibt, so zeigt sich, dass der Versorgungsbedarf in der Tat mit dem Alter zunimmt. So beträgt der Anteil der Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung an der Gesamtbevölkerung vor dem 60. Lebensjahr rund 0,6%, zwischen dem 60. und dem 80. rund 3,9% und nach dem 80. Lebensjahr rund 31,8%. Insbesondere ist also ein sehr hohes Alter mit einem hohen Risiko der Pflegebedürftigkeit verknüpft. Darüber hinaus führt zunehmende Individualisierung und Mobilität zu einem Strukturwandel von Haushalt und Familie. Dieser ist durch eine Pluralisierung der Lebensformen gekennzeichnet, die mit einem Bedeutungsverlust der traditionellen Familie einhergeht. Daraus folgt, dass im Rahmen der mixed economy der Pflege die Ressourcen familialer Pflege zunehmend weniger aktivierbar sind und die entstehende Lücke durch außerfamiliale Pflegearbeit geschlossen werden muss. Momentan beziehen in der Pflegeversicherung rund 2 Millionen Pflegebedürftige Leistungen. Für die Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen bis 2040 lassen sich, abhängig von Annahmen zur weiteren Zunahme der Lebenserwartung und zur Zuwanderung, verschiedene Szenarien entwickeln. Danach erhöht sich die Zahl der Pflegebedürftigen auf mindestens 2,88 Millionen und höchstens 3,26 Millionen (Voges 2002). Um den aus diesem Anstieg resultierenden Versorgungsbedarf zu kompensieren, wäre, soll das Versorgungsniveau des Jahres 2000 auch 2040 erhalten bleiben, mit einem zusätzlichen Bedarf von 170.000 Pflegekräften zu rechnen, was einer Zunahme des Arbeitskraftbedarfs um 70% entspricht (ebd.). Kalkuliert man den Pflegebedarf unter Einschluss nichtdauerhafter Krankenpflege, so ist bereits bis 2010 mit einem Mehrbedarf von 80.000 Pflegepersonen zu rechnen, um die Versorgung der prognostisch bis dahin um 17% oder 723.000 zunehmenden Zahl von Personen mit Hilfe- oder Pflegebedarf zu gewährleisten (Robert-Bosch-Stiftung 2001).
3.2 „Früher war sie Krankenschwester“: Berufsverbleib in der Pflege Die steigende Nachfrage nach beruflicher Pflegearbeit ist nicht durch eine Ausweitung der Ausbildungskapazitäten zu bewältigen, weil schon jetzt aufgrund eines Mangels an qualifizierten Bewerbern Ausbildungsplätze unbesetzt sind.
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Im Pflegebereich besteht zudem die besondere Problematik darin, dass die Verweildauer im Beruf zurückgegangen ist. Besonders virulent ist die Situation in der Altenpflege, wo etwa ein Fünftel der Pflegekräfte schon nach dem ersten Berufsjahr den Beruf wechselt (Voges 2002). Die Verweildauer in Pflegeberufen variiert nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen vier und sieben Jahren, wird aber möglicherweise unterschätzt, weil es insgesamt wenig gesichertes Wissen gibt (ebd.). Dieser Tatbestand wurde zum Anlass für die Konzeption der NEXT (Nurses Early Exit)-Studie genommen, in deren Rahmen Gründe, Umstände und Konsequenzen des vorzeitigen Ausstiegs aus dem Pflegeberuf („Flucht aus der Pflege“) systematisch untersucht werden. Das NEXT-Studienmodell (s. Abbildung) geht davon aus, dass berufliche und private Anforderungen, die Art der Exposition, individuelle Ressourcen und ökonomische bzw. organisationale Alternativen einen Einfluss auf den Berufsausstieg haben (Simon et al. 2005).
Europaweit wurden von 2002 bis 2005 über 60.000 Pflegekräfte in Krankenhäusern, Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten befragt, zudem wurden die Einrichtungen analysiert. Die Ergebnisse für Deutschland zeigen, dass in Pflegeberufen generell eine hohe Berufsbindung besteht, dennoch aber fast jede/r Fünfte intensiv darüber nachdenkt, aus dem Pflegeberuf auszusteigen (ebd.). Am deutlichsten mit dem Ausstiegswunsch assoziiert sind der Arbeit-/FamilieKonflikt, Entwicklungsmöglichkeiten sowie quantitative Arbeitsanforderungen. Dabei sind es vor allem die jungen und besser ausgebildeten Pflegekräfte, die aus dem Beruf aussteigen wollen (Hasselhorn/Müller/Tackenberg 2005). Tatsächlich den Beruf verlassen haben im Untersuchungszeitraum ca. 15% der
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befragten deutschen Pflegekräfte – ein auch im europäischen Vergleich sehr hoher Anteil. Die illustrierten Einflussfaktoren auf den Berufsverbleib bzw. -ausstieg können zum Anlass genommen werden, die belastenden Determinanten beruflicher Pflegearbeit weiter zu diskutieren.
3.3 Pflege als Dienstleistung: Spezifische Belastungen Pflege als Berufsarbeit ist zunächst als eine Form personenbezogener Dienstleistungsarbeit zu charakterisieren. Spezifisch für Dienstleistungsarbeit ist, dass ihre Ergebnisse nicht materiell sind und ihre Produktivität schwer messbar ist (Offe 1984). Sie ist deshalb auch einer Rationalisierung nur eingeschränkt zugänglich. Personenbezogene Dienstleistungen erfordern darüber hinaus, dass Dienstleister in Face-to-face-Interaktion zu Bedienten treten (Nerdinger 1994). Pflegearbeit ist also Dienstleistungs-Interaktion. Die produzierte Leistung wird in der Interaktionssituation räumlich und zeitlich unmittelbar konsumiert (uno-actu-Prinzip), der pflegebedürftige Dienstleistungsempfänger ist zugleich Ko-Produzent. Pflegearbeit als eine spezifische Form von Interaktionsarbeit beinhaltet kommunikative, emotionale und körperbezogene Anteile (Büssing/Glaser 1999). Das praktische Pflegehandeln ist durch eine Vielzahl organisationaler und ökonomischer Zwänge bestimmt, sodass die Interaktion zwischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen häufig nur eingeschränkt möglich ist: Aus Arbeitsanforderungen werden Arbeitsbelastungen. Körperliche Belastungen in der Pflege resultieren etwa aus einer Exposition gegenüber toxischen oder allergenen Substanzen und v.a. aus einer Belastung des Bewegungs- und Stützapparates. Psychische Belastungen entstehen durch organisationale Stressoren (z. B. Überbelegung), soziale Stressoren (z. B. Konflikte mit Kollegen) und durch widersprüchliche Arbeitsanforderungen (Büssing/Glaser 2002). In jedem Fall wird die psychische Regulation des Arbeitshandelns beeinträchtigt, erschwert oder blockiert. Mangelnde Zeitsouveränität stellt aufgrund zunehmender Arbeitsverdichtung im Kontext ökonomischer Zwänge und allgemeinen Personalmangels für Pflegekräfte eine häufige psychische Belastung dar (Voges 2002). Nach dem DemandControl-Support-Modell besteht die höchste Belastung dann, wenn hohe Anforderungen bei geringer Kontrolle und niedriger sozialer Unterstützung vorliegen (Karasek/Theorell 1990). Dieser Zustand wird job strain genannt. Ob allerdings psychische Arbeitsanforderungen als Belastungen wirken und eine Überbeanspruchung bedingen, hängt, wie auch das NEXT-Studienmodell konzeptionell verdeutlicht, von den vorhandenen individuellen Ressourcen ab. Stress entsteht nach dem Transaktionalen Stressmodell dann, wenn An-
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forderungen die Anpassungsfähigkeiten oder Ressourcen einer Person überbeanspruchen oder übersteigen (Lazarus/Folkman 1984). Die Wahrnehmung eines Stressors als schädlich wird somit von den Bewältigungsfähigkeiten (coping resources) beeinflusst, die einem Individuum zur Verfügung stehen. Eine Überbeanspruchung von Ressourcen bedeutet eine Diskrepanz zwischen Fürsorgepflicht und eigenem Wohlbefinden (Voges 2002). Eine damit einhergehende Verletzung der Reziprozität zwischen Geben und Nehmen wird nach Siegrists Modell beruflicher Gratifikationskrisen effort-reward-imbalance genannt (Siegrist 1996). Sie mündet im Extremfall in das bei Pflegekräften häufig auftretende Burnout-Syndrom, das nach Maslach und Jackson (1981) ein Syndrom aus emotionaler Erschöpfung, Depersonalisation und eingeschränkter persönlicher Leistungsbereitschaft ist. Der arbeitswissenschaftliche Einblick sollte zeigen, dass Motivation, Arbeitsfähigkeit und -zufriedenheit von physiologischen und psychologischen Parametern abhängen. Die Wahrnehmung von Anforderungen, Belastungen und Ressourcen ist jedoch immer auch in soziokulturelle bzw. sozioökonomische Kontexte eingebettet. Arbeitsbelastungen und die Motivation für Pflegearbeit hängen somit nicht nur von individuellen, psychologisch konzeptualisier- und erfassbaren Ressourcen, sondern zudem von bestimmten Werthaltungen und Deutungsangeboten ab (Dunkel 1994). Über Psychologie und Physiologie hinaus spielen also auch gesellschaftliche Deutungsmuster und gewachsene Strukturen eine Rolle, die erst in historischer Perspektive verstehbar werden.
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Rückblick: Pflegearbeit in historischer Perspektive
Es gibt mehrere Gründe, die die Wahl einer historischen Perspektive legitimieren, nicht zuletzt die vermeintliche Zeitlosigkeit bzw. das konstante Vorkommen von Pflegebedürftigkeit. Darüber hinaus suggeriert die Strukturkontinuität des deutschen Gesundheitssystems wie auch die Tatsache, dass es sich beim Pflegeberuf um einen so genannten klassischen Frauenberuf handelt, dass eine historische Analyse Erkenntnisse bezüglich der Gestaltung von Pflegearbeit liefern kann. Doch die Pflegegeschichte hat sich gegenüber der Medizingeschichte erst vor kurzem als Disziplin etabliert. Dies spiegelt den lange existierenden Mangel an Autonomie der Pflege wider, den es hier zu untersuchen gilt. Dieser Mangel an Autonomie ergibt sich aus den verschiedenen Abhängigkeitsverhältnissen, in die Pflegearbeit im Laufe der Jahrhunderte eingebunden war. Das Wesen dieser Abhängigkeiten und die Konsequenzen, die sich aus diesen Bindungen ergeben haben, sollen im Folgenden unter Verwendung des systemtheoretischen Begriffs der Koppelung aufgezeigt werden.
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4.1 Pflege als Berufung: Altruistische Motivationen für den Dienst am Menschen Pflegearbeit galt lange Zeit als Berufung und war in religiöse Werthaltungen und Strukturen eingebettet und an diese gekoppelt. In der Zeit Karls des Großen (784–814) setzte sich die Vereinigung von Kloster und Spital durch (Seidler 7 2003): Es entstanden karitative Sozialasyle für arme, kranke und hilfsbedürftige Menschen. Im Zentrum stand die pflegerisch-diätetische und seelsorgerische Versorgung der Kranken; ein Arzt wurde nur im Ausnahmefall hinzugezogen. Die christlichen Pfleger verstanden die im arbeitswissenschaftlichen Teil dieses Aufsatzes beschriebene Interaktionsarbeit als einen Dienst in einem höheren moralischen Sinn: Der Input – die pflegende Tätigkeit – war an einen sich automatisch aus der Pflegehandlung ergebenden metaphysischen Output – religiöse Erfüllung – gekoppelt. Die für das Mittelalter und die frühe Neuzeit charakteristische religiöse Deutung von Arbeit (von Dülmen 1999) traf demnach insbesondere auf die Pflege zu, nicht zuletzt, weil der Kranke im christlichen Europa eine „allen anderen Kulturkreisen gegenüber unvergleichliche Sonder-stellung“ (Schipperges 1993) innehatte. Diese ergab sich aus der auf Matthäus 25,36 zurückgehenden Tradition, im Kranken einen Stellvertreter des leidenden Jesus Christus zu sehen. „Um die Kranken muss man vor allem und über alles besorgt sein. Man diene ihnen wirklich wie Christus. Er hat ja gesagt: ‚Ich war krank und ihr habt mich besucht‘“, schrieb Benedikt von Nursia in seiner Ordensregel anno 536 (Overath 1983, S. 19). In der Moderne differenzierte sich die Gesellschaft aus, und es wurden Deutungen jenseits der Religion etabliert. Doch die Koppelung von Pflegearbeit an die Religion hatte Bestand. Ein Beispiel hierfür sind jene katholischen Vertreter der Romantik gewesen, die im 19. Jahrhundert durch die Gründung klosterähnlicher Mutterhäuser für Pflegerinnen versuchten, an die mittelalterlichchristliche Form der Pflegearbeit anzuschließen. Auch die von Theodor Fliedner (1800–1864) begründete evangelische Diakonie erklärte die Pflegekräfte zu Dienerinnen Jesu und der Kranken um Jesu willen (Seidler/Leven 72003). Im Jahr 1876 waren 93% aller Pflegekräfte Angehörige kirchlicher Pflegevereinigungen auf rein karitativer Basis (Hohm 2002). Die Zahl der freiberuflichen Pflegekräfte überwog erst 1928 gegenüber den Schwestern mit kirchlicher oder Mutterhaus-Bindung (Steppe 1988). Doch das Ideal vom selbstlosen Dienen fand auch in der säkularen Moderne eine Fortsetzung, wie sich anhand der Rotkreuzschwestern verdeutlichen lässt. Selbst die Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen (1903 von Agnes Karll gegründet) verstand sich zugleich als „Schwesternschaft” und knüpfte mit
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ihrem Leitspruch „Ich dien“ deutlich an das Diakonissenideal an (Uhlmann 1996). So schrieb eine Schwester im Jahr 1900: „Fasst man die Krankenpflege richtig auf, so heißt dies meinem Gefühle nach: einer großen, schönen Idee dienen; wir erwählen uns in ihr nicht nur einen Beruf – nein, wir opfern ihr unser ganzes Leben, wir scheiden aus der so genannten ‚Welt‘ und machen uns zum größten Teil unabhängig von den äußeren Verhältnissen“ (Steppe 1988, S. 26).
Grund hierfür war vor allem die Verschränkung des Fürsorgeideals mit den sich im 19. Jahrhundert etablierenden bürgerlichen Weiblichkeitsvorstellungen (Bischoff 1992). Dies hatte zunächst zur Folge, dass die im Zuge des sozioökonomischen Modernisierungsprozesses überwiegend von Frauen geleistete private Pflege ihre öffentliche Beachtung verlor, da sie im Sinne der nun vorherrschenden Vorstellungen von Arbeit nicht dem produktiven, sondern dem reproduktiven Bereich zugeordnet wurde, der keinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leistete (Hansen 1999). Die vermeintliche Anschlussfähigkeit von Pflegearbeit an Haushaltstätigkeiten bewirkte jedoch darüber hinaus, dass auch berufliche Pflegearbeit als natürliche, intuitive und nicht erlernbare Gabe der Frau charakterisiert wurde. Eigenschaften wie „Gehorsam, Selbstlosigkeit, Aufopferung und Demut“ (Steppe 1988, S. 25) qualifizierten für den Beruf. So vertraten die Clemensschwestern beispielsweise das Ideal der „natürlichen Krankenpflege“ (Seidler/Leven 72003, S. 211), demzufolge „gesunder Menschenverstand, Überlegung, Achtsamkeit, Ruhe und Geistesgegenwart” sowie die Zurückstellung der eigenen Bedürfnisse die Pflegearbeit charakterisierten (ebd.). Daraus ergab sich ein Spannungsverhältnis in dem Sinne, dass sich das Ideal der Selbstaufgabe nur schwer mit dem Prinzip professioneller Interessensvertretung in einem modernen Berufskontext vereinbaren ließ. Uhlmanns Studie (1996) zur Pflegearbeit in einem Hamburger Krankenhaus der Kaiserzeit zeigt, dass das hier charakterisierte Berufsethos vielmehr zur Annahme von Arbeitsbedingungen führte, die sich zu Lasten der Ressourcen von Pflegekräften auswirkten. Ein Beispiel hierfür ist die im Hamburger Krankenhaus vorgenommene Kasernierung von Pflegekräften, die der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung hin zur Trennung von Wohnen und Arbeiten diametral gegenüberstand und den sozialen und persönlichen Bewegungsspielraum der Pflegekräfte stark einschränkte (ebd.). „Das ganze Leben der Krankenpflegerin ist“, so Oberin Hedwig von Schlichting im Fachblatt des Roten Kreuzes, „in eine so enge Form gezwängt“, die geprägt sei von Entsagung und Verzicht, Verzicht u.a. auf Familiengründung und Sexualität (zit. nach ebd., S. 408). Darüber hinaus bedingte dieses Dienstethos das Phänomen, dass Dienen als Gegensatz von Verdienen gedeutet werden konnte (Hohm 2002). So erklären sich die zögerlichen
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und ohnehin verzögerten Versuche, bessere Lohnbedingungen auszuhandeln und die sozialen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts auch für Pflegekräfte geltend zu machen. Die Analyse der Entstehung, Ausformung und Modernisierung des Pflegesystems sowie der damit einhergehenden Koppelungen soll nun zeigen, welche weiteren Spannungsfelder bei der Transformation einer an die Religion und an dezidiert selbstlose Motivationen gekoppelten Berufung in einen modernen Dienstleistungsberuf entstanden sind. Was kennzeichnet die „so genannte ‚Welt‘“ (Steppe 1988, S. 26), von der sich die oben zitierte Krankenschwester im Jahr 1900 so unabhängig wähnte?
4.2 Das Pflegesystem als fragiles sekundäres Funktionssystem im Schatten der Medizin Es ist nicht möglich, die Modernisierung des Pflegesystems losgelöst von der Modernisierung der Medizin zu verstehen. Beide sind mit der sich seit dem 18. Jahrhundert vollziehenden Umstellung der stratifizierten auf die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft verknüpft (Hohm 2002). Im 19. Jahrhundert wandelte sich das christliche Armenhospital zum modernen Behandlungskrankenhaus (Jütte 1996), und der Arztberuf etablierte sich als Profession1. Das Medizinsystem wurde weitgehend einheitlich und aufgrund staatlicher Initiierung institutionalisiert: durch die Bildung von Ärztekammern, die fortan als kollektive Akteure mit den sich im Zuge der Etablierung des Sozialstaats entwickelnden Krankenkassen im Gesundheitssystem interagieren konnten. Demgegenüber war das Pflegesystem von struktureller Heterogenität und somit auch Fragilität gekennzeichnet. Charakteristisch für diese Entwicklung war zunächst eine sich steigernde Eigenkomplexität des Systems, die sich an der Proliferation unterschiedlicher konfessioneller und schließlich auch nichtkonfessioneller Pflegeorganisationen festmachen lässt (Hohm 2002). Horden/Smith (1998) haben frühere Annahmen korrigiert, denen zufolge es ein vormodernes goldenes Zeitalter der Familie gegeben habe, das in der Moderne durch wohlfahrtsstaatliche Institutionen ersetzt worden sei. Die Sorge für Alte und Kranke wurde vielmehr schon immer, 1
Zur Professionalisierung zählen nach Spree (1981, S. 138): Erlangung berufsgruppenspezifischer Autonomie hinsichtlich des Arbeitsinhalts und der Formen der Berufsausübung; Kontrolle des Zugangs zum Beruf sowie der Ausbildungsinhalte und Formen; Dominanz der im Berufsfeld stattfindenden Arbeitsteilung; Erlangung politisch-gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit durch verbandsmäßigen Zusammenschluss; Etablierung eines Expertenstatus und Propagierung einer besonderen Berufsethik.
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so auch in der Neuzeit, zwischen „family, community and institutions“ (ebd.) ausgehandelt. Dieser Faktor und die fortwährende Heterogenität aus teils um Modernisierung bemühten, teils dieser entgegenwirkenden Pflegeorganisationen (Hohm 2002) bedingten, dass sich das Pflegesystem nur langsam und nie vollständig als autonomer Bereich der Gesellschaft ausdifferenzieren konnte. Stattdessen mutierte die Pflege mehr und mehr zur Handlangerin der Medizin. Diese hierarchische Koppelung und die damit einhergehende Privilegierung der Medizin zu Lasten der Pflege lässt sich an verschiedenen Punkten festmachen, so am Beispiel staatlicher Anerkennung: Erst 1907 gab es im Kaiserreich eine gesetzlich geregelte, jedoch nicht bindende Ausbildung in der Pflege. Zudem war die Pflege von Arbeitsschutzbestimmungen meist explizit ausgenommen, Sozialversicherungspflicht bestand nur teilweise, und bis 1914 gab es nur einen einzigen Tarifvertrag in der Krankenpflege (Steppe 1988), eine Inklusion in die Unfallversicherung erfolgte erst 1928 (Uhlmann 1996). Das hier dargestellte Dominanzverhältnis ergab sich nicht zuletzt auch aus der strukturellen Koppelung der Medizin an das Wissenschaftssystem (Hohm 2002), die es den akademisch ausgebildeten Ärzten ermöglichte, den „Markt der medizinischen Dienstleistungen“ (Frevert 1984, S. 36) zu monopolisieren. Die Konsequenzen dieser Verbindung für die Pflege waren ambivalent, indem sie sie zwar modernisierten, jedoch immer nur vor dem Hintergrund ihrer Abhängigkeit von der Medizin und deren Prämissen. War die Pflege im frühen 18. Jahrhundert noch von Lohnwärtern geleistet worden, generierte die Modernisierung des Gesundheitssystems, die mit der Inklusion breiter Bevölkerungsschichten in das System gesundheitlicher Versorgung einherging, eine Nachfrage nach professioneller Pflegearbeit, die sich nunmehr an den modernen, von der wissenschaftlichen Medizin hervorgebrachten Patienten wandte, der an die Stelle des verarmten Kranken getreten war (Hohm 2002). Um diesen Anforderungen gerecht zu werden, wurden die Schwestern von Ärzten unterrichtet. Dies reflektierte die Dominanz der akademisierten Medizin gegenüber dem „handwerklich-zuarbeitenden Teil der Heilkunde“ (Steppe 1988, S. 25), der nunmehr unter ärztlicher Weisung stand (Uhlmann 1996). „Das Weib“, hieß es in der Stellungnahme einer Medizinischen Fakultät, „hat andere natürliche Interessen, es strebt vor allem danach, Gehilfe des Mannes zu werden“ (zit. nach Seidler/Leven 2003, S. 223). Leistungsrollen und Akademisierung blieben der Pflege somit abermals aufgrund der vorherrschenden Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verwehrt. Dies ging mit der Marginalisierung pflegerischer Inhalte einher. Mit dem somatischen, episodenhaften Krankenbild der Medizin fand eine Reduktion innerhalb des Gesundheitssystems auf die Therapie heilbarer Erkrankungen statt. Da die Medizin zusehends unter dem „Code organbezogener Krank-
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heit/Gesundheit“ (Hohm 2002; Luhmann 1990) operierte, wurden nichtorganische Ursachen für Pflegebedürftigkeit wie Armut, Alter und psychische Probleme „sukzessive vom Pflegesystem entkoppelt und in andere Funktionssysteme abgeschoben“ (ebd., S. 48). Vor diesem Hintergrund war die Pflege nicht mehr auf das geistliche und leibliche Wohl des Patienten gerichtet und an der traditionellen Diätetik orientiert, sondern unterwarf sich dem therapeutischen Prinzip und den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Medizin, ohne sich selbst zu entfalten (Jütte 1996). Das Streben nach medizinischem Fortschritt kann hier als Symptom eines zwischen Individualisierung (Frevert 1983) und Sozialisierung (Jütte 1992) oszillierenden Verständnisses von Krankheit erachtet werden, das in der Gesundheit ein Produkt menschlichen Verhaltens und in Krankheit ein Hemmnis gesellschaftlichen Fortschritts sah (Frevert 1983). Im Kontext der extremsten Ausprägung dieses Humankapital-Ansatzes mutierte Pflegearbeit vom Dienst am Menschen zum Dienst an der Volksgemeinschaft und ihren „erbgesunden“ Vertretern (Baron 1986). Die historische Perspektive hat gezeigt, dass das Ideal des selbstlosen Dienens Grund bzw. Hauptantriebskraft und zugleich Grenze von Pflegearbeit ist. Grenze vor allem aufgrund eines Kontexts, der die Entfaltung von individuellen, strukturellen und inhaltlichen Spielräumen eingeschränkt hat. Die Gestaltung der Arbeitswelt Pflege ist also, wie der arbeitswissenschaftliche Einblick gezeigt hat, vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen äußerst wichtig. Doch wirft dieser Rückblick die Frage auf, ob man mit Blick auf die Geschichte der Pflege überhaupt von Gestaltung reden kann, denn Gestaltung findet jenseits von einengenden Koppelungen statt. In diesem Sinne ist Gestaltung Emanzipation.
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Ausblick: Die Emanzipation der Pflege
Das Zusammenspiel von individueller Motivation und externen Determinanten brachte den Pflegeberuf als einen „prekär institutionalisierten, primär weiblichen, niederen bzw. semi-professionellen personenbezogenen Dienstleistungsberuf[s]“ (Hohm 2002, S. 81) hervor. Dieser ist zudem durch niedrige Entlohnung und hohe Arbeitsbelastung gekennzeichnet. Kurz: Pflegekräfte stellen heute und gestern trotz hoher Nachfrage eine benachteiligte Gruppe auf dem Arbeitsmarkt dar (Uhlmann 1996). In diesem Licht erscheint die individuelle und gesellschaftliche Emanzipation von Pflegearbeit essenziell.
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5.1 Ganzheitliche Pflege: Mehr Spielraum für die Pflegekraft Aus arbeits- und organisationspsychologischer Sicht kommt dem Entscheidungs- und Handlungsspielraum und damit der Möglichkeit, Einfluss auf die eigene Arbeit zu nehmen, eine überragende Bedeutung als arbeitsbezogene Ressource zu (Kirchler/Hölzl 2002). Eine Arbeitstätigkeit ist umso persönlichkeitsfördernder und somit zufriedenstellender, je größer der Tätigkeitsspielraum ist. Bei Pflegearbeit kommt hinzu, dass sie als Interaktionsarbeit in hohem Grad situativ erfolgt und damit von sich her Handlungs-, Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume erfordert. Kommunikations-, Emotions- und Körperarbeit können nicht nach dem Vorbild industrieller Fertigungsarbeit funktionsorientiert nach einem tayloristischen Arbeitsprinzip mit hochgradiger Arbeitsteilung erfolgen. Dennoch ist die funktionale Pflege in den Pflegediensten das dominante Organisationsprinzip, weil man dadurch effektives und effizientes Pflegehandeln zu erreichen glaubt. Demgegenüber trägt das Konzept der ganzheitlichen Pflege dem Charakter der Pflegearbeit Rechnung, indem es konsequent an Mitarbeitern und Patienten ausgerichtet ist (Büssing et al. 2001). Während die Pflegebedürftigen in der verbreiteten funktionalen Stationspflege je nach Arbeitsfunktion (z. B. Waschen) mit wechselnden Pflegepersonen umgehen müssen, ist ein Merkmal patientenorientierten Handelns in seiner idealen Form der Bezugspflege die Zuständigkeit einer verantwortlichen Pflegekraft für einen Bewohner. Damit wird das individuelle Bezugssystem des Patienten zur sensitiven Orientierungsgröße, und das für personenbezogene Dienstleistungen essenzielle Vertrauensverhältnis zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigen kann aufgebaut werden. Erst eine nicht fragmentierte, kontinuierliche Pflegearbeit erlaubt eine umfassende Unterstützung und Förderung der Pflegebedürftigen, was wiederum positive Rückkoppelungseffekte auf die Arbeitszufriedenheit hat. Erforderlich sind eine individuelle Pflegeplanung und ausreichende Zeitsouveränität, kurz: ein hoher Tätigkeitsspielraum. Dies kann durch Orientierung des Pflegehandelns am Pflegeprozessmodell erreicht werden, dem ein Regelkreis aus Anamnese, Diagnose, Intervention und Evaluation zugrunde liegt. Dadurch lassen sich vollständige Pflegetätigkeiten realisieren, so dass Wahrnehmen, Denken und Tun miteinander verkoppelt werden (Voges 2002; Glaser/Büssing 1997). Von einer solchen Pflegearbeitsorganisation erhofft man sich nicht nur einen Belastungsabbau, sondern darüber hinaus eine Steigerung von Wohlbefinden, psychischer Gesundheit, Arbeitszufriedenheit und -moti-vation sowie eine Kompetenzentwicklung der Mitarbeiter (Büssing et al. 2001).
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5.2 Das Pflegesystem auf dem Weg in die Eigenständigkeit Als bedeutsam für die Aufwertung des Arbeitsbereichs Pflege innerhalb des Gesundheitssystems ist zudem die Professionalisierung dieses Berufs zu erachten, beispielsweise durch die Einführung einer akademischen Qualifikation im Bereich der Pflege. Vor diesem Hintergrund hat die von der Robert-BoschStiftung herausgegebene Schrift „Pflege neu denken“ eine Reform der Pflegeausbildung angemahnt und ein Zukunftsmodell entwickelt, das die Einführung unterschiedlich qualifizierter Pflegefachpersonen propagiert (Robert-Bosch-Stiftung 2001). In diesem Modell findet die Forderung nach Akademisierung ihren Niederschlag, indem es eine Qualifikationsstufe „Pflegefachperson II“ mit FHDiplom/Bachelor, eine Pflegefachperson III mit Universitätsabschluss/Master und promovierte Pflegefachpersonen vorsieht (ebd.). Kritisiert wird hieran u.a. die Einführung einer abermaligen Hierarchisierung sowie die bislang – bedingt durch die Heterogenität der seit den 1990er Jahren bestehenden Pflegestudiengänge – nur langsam erfolgende institutionelle Zuordnung akademisierter Pflege an Fachhochschulen und Universitäten. Die wissenschaftliche Pflege sieht sich dabei nicht nur mit dem Problem konfrontiert, dass wissenschaftlich erarbeitetes Wissen in der Pflegepraxis auf Akzeptanzschwierigkeiten stößt (Voges 2002), sondern überhaupt damit, für ihren Gegenstandsbereich spezifische Wissensbestände zu entwickeln (ebd.). Aus dem Blickwinkel der Emanzipation des Pflegesystems wird sich eine künftige Pflegewissenschaft stärker an Sozial- und Gesundheitswissenschaften/Public Health als Bezugswissenschaften orientieren und weniger an der Medizin ausrichten. Auf diese Weise kann eine wissenssystematische Entkoppelung von Medizin und Pflege erfolgen, die dann ein dialogisch-komplementäres Verhältnis zueinander aufbauen könnten.
5.3 Das außerberufliche Angebot: Bürgerschaftliches Engagement und Familie Von den hier vorgestellten Emanzipationsansätzen allein ist jedoch nicht zu erwarten, den durch den demografischen Wandel bedingten Bedarf an Pflegekräften zu decken. Vielmehr ist eine makrogesellschaftliche Betrachtung nötig, um zu klären, in welches Verhältnis Familie, Staat, Markt und zivilgesellschaftliche Organisationsformen in diesem Bereich gebracht werden müssen. Pflegearbeit kann weder auf berufliche noch auf erwerbsmäßige Arbeit verkürzt werden. Sozialpolitische Vorgaben greifen das Prinzip des Wohlfahrtsmixes (mixed economy) auf. So ist es ein zentrales Prinzip der 1994 eingeführten Pflegeversicherung, die durch familiale oder ehrenamtliche Pflegepersonen erbrachte nichtberufliche Pflegearbeit in Form von Pflegegeld zu be-, aber nicht zu entlohnen.
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Dadurch sollen Anreize zur Aktivierung privater Fürsorgeressourcen geschaffen werden. Gleichzeitig favorisiert die Pflegeversicherung marktorientierte Gestaltungsprinzipien, indem sie neben öffentlichen und freien Pflegedienstträgern gewinnorientiert arbeitende private Pflegedienste zulässt. Damit wurde im Bereich personenbezogener Pflegedienstleistungen ein Quasi-Markt geschaffen, und die Zahl ambulanter Pflegedienste stieg zwischen 1994 und 1996 um 22% auf 13.640 an (Voges 2002). Allerdings besteht durch die Ausrichtung an Marktmechanismen und Kriterien der Effizienz die Gefahr eines downgrading in Bezug auf Pflegequalität und Pflegekultur der Pflegedienste (Klie 2001b). Die Pflegegeldregelung hatte darüber hinaus einen starken Effekt auf so genannte intermediäre Organisationen wie etwa Nachbarschaftshilfe. Die Anzahl semiprofessioneller Dienste im ländlichen Bereich ist von 1996 bis 1999 um nahezu 10% auf 1150 angestiegen, die geleisteten Arbeitsstunden haben um fast ein Drittel auf 6,8 Millionen zugenommen (Voges 2002). Dennoch ist festzustellen, dass der Beitrag freiwilligen, unentgeltlichen und gemeinwohlorientierten Engagements in der Pflege konzeptionell und praktisch einen stark vernachlässigten Bereich darstellt. Dies steht in einem Zusammenhang mit der Umsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes, die eine Fokussierung der Pflege auf medizinnahe Leistungen begünstigt hat (Deutscher Bundestag 2002). Traditionell durch familiale und bürgerschaftliche Fürsorge erbrachte sozialpflegerische und kommunikative Leistungen wurden dadurch der Tendenz nach marginalisiert. In diesem Sinne empfiehlt die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft“ eine „konzeptionelle Wiederaufwertung bürgerschaftlichen Engagements im Pflegebereich“ (ebd., S. 253). Dazu sind neben monetären Belohnungsanreizen wie dem Pflegegeld Leitbilder einer Gesellschaft zu entwerfen, in denen „Engagement nicht als Lückenbüßer, sondern als dynamischer Bestandteil einer Modernisierung und Humanisierung der Pflegekultur erscheint“ (ebd.). Grundlage solcher Leitbilder ist eine Neubestimmung des Verhältnisses von Sozialstaat und Bürgerschaft, dergestalt, dass sich ein aktivierender Staat einerseits und eine aktive Bürgergesellschaft komplementär zueinander positionieren und eine „Beziehung der Interaktion und Kooperation“ (Olk 2001, S. 40) eingehen. Es geht dabei darum, eine Anerkennungskultur für die vielfältigen Dienste freier Träger, Vereine und Initiativen auf lokaler und kommunaler Ebene in der Pflege zu entwickeln. Darunter fallen zum Beispiel Fahrdienste, Besuchskreise und Sterbebegleitung. Gefordert ist hier auch eine institutionelle Öffnung etablierter Sozialakteure wie Kranken- und Pflegekassen, Kommunen, Wohlfahrtsverbände und Kirchen. Darüber hinaus empfiehlt die Enquete-Kommission die Förderung von Selbsthilfe durch Pflege- und Krankenkassen im Sinne des § 20 SGB 5 (Deutscher Bundestag 2002). Auf diese Weise entsteht ein Raum für
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soziale Netzwerke, die einerseits familiale, berufliche und gesellschaftliche Beiträge zur Bewältigung der Pflegearbeit miteinander verbinden und andererseits Alte bzw. Kranke in ihrer Rolle als aktive Koproduzenten ihrer Lebensqualität ernst nehmen. Dies wiederum trägt dem „Leitbild des zivilgesellschaftlichen ‚Aktivbürgers‘“ (Olk 2001, S. 43) als normativem Kern sowohl auf der Versorgungs- wie auf der Klientenseite Rechnung. Die Hypostasierung der Erwerbsarbeit im Zuge sozioökonomischer Modernisierung hat nicht nur ehrenamtliche Arbeit sowohl „faktisch als auch normativ“ (Kocka/Offe 1999, S. 11) marginalisiert, sondern auch die in Privathaushalten geleistete Pflegearbeit, obwohl Leistungen der Familie bis heute die wichtigste Ressource für Pflege im Alter darstellen (Klie 2001a). Dabei ist auffällig, dass immer noch vier Fünftel aller Pflegebedürftigen über 60 fast ausschließlich von ihren weiblichen Familienangehörigen versorgt werden (Voges 2002). Infolge der hohen Belastung durch die Pflege geben diese Frauen die Ausübung ihres Berufs i.d.R. auf oder schränken sie ein: Zwei Drittel der Hauptpflegepersonen gehen keiner Erwerbstätigkeit nach (ebd.). Die Stärkung familialer Pflegearbeit ist vor diesem Hintergrund nur durch eine „Entkoppelung der Arbeits- und Geschlechterwelt“ (Kocka/Offe 1999, S. 267) denkbar, und zwar dann, wenn der bislang für Frauen typische „patchwork-Lebenslauf“ und die in ihm vorgesehene „Rollenvielfalt“ (Bertram 1999, S. 337-40) auch auf Männer übertragen werden kann. Es geht hier in konzeptueller Hinsicht um einen Begriff androgyner Fürsorge (ebd.) bzw. Zuwendungsarbeit, der sich in praktischer Hinsicht durch Aushandlungsprozesse der Geschlechter zwischen Lebens- und Berufswelt und im Kontext von sich „pluralisierenden Zeitverwendungsformen“ (Mutz 2001, S. 151) konstituieren muss.
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Abschluss
Das Spannungsverhältnis, in dem sich die berufliche Pflegearbeit im Zuge der sozioökonomischen Modernisierung bewegt hat, liegt in den Gegensätzen, die zwischen der inneren, religiös-altruistischen Motivation der Pflegekräfte und dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich diese Motivation als Interaktion mit dem Kranken und Alten manifestiert, entstanden sind. Als sozioökonomischer Kontext sind sowohl die strukturelle Binnenposition der Pflege innerhalb des Gesundheitssystems als auch die Beziehung zwischen Gesundheitssystem, Staat und Gesellschaft und die daraus resultierenden historisch erklärbaren Vorgaben, Werthaltungen und Deutungsangebote zu sehen. Für das Überwinden dieser Spannungsverhältnisse im Sinne der Gestaltung und Entfaltung von Pflegearbeit
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erscheint das Erschließen neuer Spielräume für die individuelle Pflegekraft und das Pflegesystem nötig. Zudem sind veränderte gesellschaftliche Deutungsangebote für die Emanzipation von Pflegearbeit entscheidend. Hierzu scheinen sowohl ein Verständnis von Gesundheit jenseits der medizinischen Definitions- und Deutungsmacht als auch die (De-)Konstruktion von Geschlechterrollen sowie eine gesellschaftliche Re-Definition des Arbeitsbegriffs notwendig. So können vor dem Hintergrund eines im Sinne einer „pluralen Tätigkeitsgesellschaft“ (Beck 2000, S. 54) erweiterten Arbeitsbegriffs bereits vorhandene gesellschaftliche Ressourcen für Pflegearbeit aktiviert werden. Berufliche Pflegearbeit bildet auf diese Weise mit familialer Fürsorge und bürgerschaftlichem Engagement die mixed economy der Pflege. Aus diesen mannigfaltigen Formen von Pflegearbeit – als Dienstleistung, private Fürsorge und zivilgesellschaftliche Bürgerarbeit – entsteht jedoch zugleich ein neues Spannungsverhältnis, und zwar zwischen der Forderung nach Professionalisierung beruflicher Pflegearbeit einerseits und der Stärkung freiwilliger, gewissermaßen ausbildungslos durchführbarer Pflegearbeit andererseits. Wie diese Spannung ausbalanciert werden kann, wird sowohl die künftige Pflegepraxis als auch die pflegewissenschaftliche Reflexion zeigen müssen. Im Hinblick auf ihre Emanzipation erscheint die Pflege insgesamt als eine in hohem Maße gestaltbare Arbeitswelt, in der womöglich der Markt die kleinste, die Familie eine veränderte, der Staat eine ermöglichende und die Zivilgesellschaft eine wachsende Rolle spielen wird.
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Brasilianische Spielregeln – Kulturelle Unterschiede als „Störvariable“
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Brasilianische Spielregeln – Kulturelle Unterschiede als „Störvariable“ Brasilianische Spielregeln – Kulturelle Unterschiede als „Störvariable“
Christin-Melanie Fuchs
Zusammenfassung Im Zuge der Globalisierung siedeln sich immer mehr deutsche Unternehmen im Ausland an, mit dem Ziel, neue Absatzmärkte zu erschließen. Im folgenden Beitrag wird vor diesem Hintergrund das Thema ‚Kultur‘ aufgegriffen. Es wird die Frage diskutiert, ob die Firmenleitungen entsprechend einem Mythos eine inadäquate Vorstellung vom ausländischen Absatzmarkt haben, wenn sie ihn als eine reine Tauschbeziehung zwischen Anbieter und Nachfrager betrachten, die auf der ganzen Welt den gleichen Regeln unterliegt und somit unabhängig von kulturellen Einflüssen ist. Dazu wird eine psychologische Studie vorgestellt, in der die kulturellen Unterschiede der deutschen und brasilianischen Kultur aufgedeckt wurden, indem deutsche Expatriats nach konfliktreichen Situationen bzw. nach so genannten ‚kritischen Interaktionssituationen‘ mit Brasilianern befragt wurden. Das Fazit dieses Beitrags ist, dass die Werte einer Kultur sowohl das Arbeitsverhalten als auch das Konsumverhalten beeinflussen. Das bedeutet, dass im Sinne einer sozialen und ökonomischen Gestaltung der Arbeitswelt die fremde Kultur nicht nur in der zwischenmenschlichen Zusammenarbeit, sondern auch in der Produktpolitik eines Unternehmens berücksichtigt werden muss. Sonst sind zum einen das Arbeitsklima und zum anderen der finanzielle Gewinn und damit auch die Arbeitsplätze der Mitarbeiter gefährdet.
1
Einleitung
Sucht man nach einer Definition des ‚Markts‘, so stößt man stets auf folgende Hauptbestandteile: die Akteure Anbieter und Nachfrager sowie ihre Beziehung zueinander, die durch die Aktion des Tauschens gekennzeichnet ist. Es stellt sich die Frage, ob eine derartige Definition in dieser vereinfachten Weise auch für den globalen Markt gilt oder ob wir entsprechend einem Mythos eine falsche
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Vorstellung vom ausländischen Absatzmarkt haben, wenn dieser als universell gültig und damit als unbeeinflusst von der Kultur des Anbieters und Nachfragers betrachtet wird. Diese Frage ist äußerst bedeutend, wenn man bedenkt, dass in unserem so genannten Zeitalter der Globalisierung immer mehr deutsche Firmen im Ausland nach neuen Absatzmärkten und somit wirtschaftlichem Erfolg suchen. Ein besonders viel versprechender ausländischer Absatzmarkt – da es sich um ein wachstumsstarkes Schwellenland handelt – ist Brasilien. Allein in der Metropole São Paulo haben sich mittlerweile rund 800 deutsche Unternehmen niedergelassen. Doch deren wirtschaftliche Bilanz ist nicht immer von Erfolg gekrönt. Der Automobilhersteller Volkswagen hat beispielsweise in den 90er Jahren in Modelle investiert, die sich heute in Brasilien nur sehr schlecht verkaufen lassen. Rund 4.200 brasilianische Mitarbeiter mussten deswegen entlassen werden. Dabei stellt sich die Frage, was der Grund für diesen Fehlschlag war. Es wurden diverse Hypothesen aufgestellt, doch an erster Stelle wird davon ausgegangen, dass der brasilianische Markt hinsichtlich der Kaufkraft der Brasilianer falsch eingeschätzt wurde1. Die Autorin dieses Beitrags ist ebenfalls der Meinung, dass der brasilianische Markt falsch eingeschätzt wurde, allerdings glaubt sie weniger, dass das Problem in der mangelnden Kaufkraft begründet liegt. Diese Erklärung scheint zu einfach zu sein, zumal sich die Kaufkraft prognostizieren lässt und dies für ein Unternehmen wie Volkswagen sicherlich zum Standardvorgehen zur Absetzung eines neuen Produkts gehört. Es wird vermutet, dass es sich hier auf Seiten des Konsumenten weniger um eine Frage des Könnens, sondern des Wollens handelt. Das oben genannte Beispiel ist ein möglicher Hinweis darauf, dass der globale Markt mehr ist als lediglich das vereinfachte Schema von den ‚Tauschbeziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern‘. Im folgenden Beitrag wird angenommen und mit den empirischen Ergebnissen einer Studie zu den Unterschieden der brasilianischen und deutschen Kultur begründet, dass der Faktor Kultur für das Verständnis dieser Tauschbeziehungen eine beträchtliche Rolle spielt. Bevor jedoch die Studie vorgestellt und die Ergebnisse diskutiert werden, sollen kurz die wesentlichen theoretischen Grundlagen angeschnitten und die methodische Vorgehensweise erläutert werden, um so die Begrifflichkeiten und den Forschungsrahmen, in dem sich die empirische Erhebung bewegt, zu klären.
1
Nachzulesen unter www.faz.net Stichwort VW do Brasil, Anzeige vom 21. Juli 2003 (Stand 24. Januar 2006) und www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/127/28099 (Stand 24. Januar 2006).
Brasilianische Spielregeln – Kulturelle Unterschiede als „Störvariable“
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Theoretische Grundlagen zum Kulturenvergleich
2.1 Forschungsansätze zur Erfassung einer Kultur Wie kann eine Kultur überhaupt empirisch erfasst und analysiert werden? Die Forschungsansätze hierzu werden grundsätzlich in zwei unterschiedliche Herangehensweisen differenziert, die als etischer und emischer Ansatz bezeichnet werden. Ihr gemeinsames Merkmal ist, dass sie Kulturen miteinander vergleichbar machen. Sie unterscheiden sich jedoch entscheidend in der Methodologie und Interpretation ihrer Ergebnisse. Beim etischen Vorgehen werden „kulturübergreifende“ (Feichtinger 1997, S. 24), also universelle Prinzipien identifiziert, die derart grundlegend sind, dass sie in allen Kulturen mehr oder weniger stark ausgeprägt vorkommen. Sie werden für gewöhnlich als Kulturdimensionen bezeichnet und dienen dazu, Länder zu kategorisieren, um schließlich die verschiedenen Kategorien miteinander zu vergleichen. Besonders bedeutsame Forschungsarbeiten hierzu stammen von Hofstede (1993) und Hall/Hall (1990). Beim emischen Vorgehen beschränkt sich der Forscher auf die Erforschung einer einzigen Kultur, indem er versucht, die wesentlichen Merkmale dieser Kul-tur aufzudecken. Das Vorgehen wird daher auch als „kulturangepasst“ (Feichtinger 1997, S. 24) bezeichnet. Dabei verwendet der Forscher eine zweite Kultur (für gewöhnlich die eigene) als Vergleichs- bzw. Referenzkultur. Dieses Vorgehen basiert auf der Vorstellung, dass es keine kulturlose Metaperspektive gibt, d. h. keinen neutralen Blickwinkel, aus dem eine fremde Kultur beschrieben werden kann (Demorgon/Molz 1996). Ein Gedankenspiel soll dies verdeutlichen: Ein Merkmal der japanischen Kultur könnte eine stark ausgeprägte Hierarchieorientierung sein. Diese Hierarchieorientierung lässt sich jedoch nicht absolut konstatieren, sondern kann nur relativ, also anhand eines Vergleichsgegenstands festgestellt werden – in diesem Beispiel soll das die deutsche Kultur sein. Das bedeutet demnach, dass die japanische Kultur im Vergleich zur deutschen Kultur wesentlich hierarchieorientierter ist. Zentral für emische Ansätze ist nun folgender Gedanke: Ändert sich der Vergleichsgegenstand – wird statt der deutschen beispielsweise die chinesische Kultur hinzugezogen –, so ist es sehr wahrscheinlich, dass auch ein anderes kulturelles Merkmal bzw. ein anderer „kultureller Unterschied“ festgestellt wird. Es ist hier z. B. denkbar, dass sowohl die japanische als auch die chinesische Kultur ausgesprochen hierarchieorientiert sind und somit dieses Merkmal nicht als kultureller Unterschied aufgedeckt wird. Stattdessen kann womöglich ein ganz anderes kulturelles Merkmal festgestellt werden, das diese beiden Kulturen in spezifischer Weise unterscheidet.
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Eine wesentliche Konsequenz dieses theoretischen Ansatzes ist, dass die Forschungsergebnisse nur relativ gültig sind, nämlich nur in Hinblick auf die jeweilige Referenz- und Zielkultur. Sie stellen die grundlegenden Unterschiede zweier Kulturen aus der Sicht der Referenzkultur dar und werden nach Thomas (1993) als „Kulturstandards“ (S. 381) bezeichnet. Aufgrund einer Reihe von Nachteilen des etischen Ansatzes – wie z. B. die Notwendigkeit zahlreicher Befragungen in möglichst vielen unterschiedlichen Kulturen, der Einsatz quantitativer Methoden (z. B. Fragebogen, Experiment), die im Gegensatz zu den qualitativen Methoden (z. B. Qualitatives Interview, teilnehmende Beobachtung) weniger gut gewährleisten können, dass die komplexe soziale Realität adäquat erfasst wird (Layes 2003; Wirth 1992) – wurde für die vorliegende Studie der emische Ansatz gewählt. Was das konkret bedeutet, wird im nächsten Kapitel anhand des Kulturstandardkonzepts erklärt.
2.2 Das Kulturstandardkonzept Was ist denn eigentlich Kultur?! Diese Frage ist leichter gestellt als beantwortet, wie die amerikanischen Kulturanthropologen Kroeber und Kluckhohn bereits im Jahre 1952 feststellen mussten: Sie stießen bei ihrer Literaturdurchsicht auf 150 unterschiedliche Kulturdefinitionen und erkannten, dass der Begriff Kultur keineswegs eindeutig definiert ist. Jeder Forscher, der mit dem Konzept Kultur hantiert, sollte deswegen verdeutlichen, welche Aspekte dieses vielschichtigen Begriffes für ihn bedeutsam sind. Da die theoretische Grundlage der vorliegenden Studie auf der handlungstheoretischen Kulturkonzeption von Thomas (1983) basiert, wurden von ihm folgende Merkmale als definitorisch für eine Kultur übernommen: Kultur ist ein universelles Orientierungssystem, das jedoch je nach Gesellschaft, Organisation und Gruppe spezifisch ausgeprägt ist. Dieses Orientierungssystem wird aus spezifischen kulturellen Codes gebildet und in der jeweiligen kulturellen Gemeinschaft durch Sozialisation weitergegeben. Das kulturspezifische Orientierungssystem beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder und definiert somit deren Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Das kulturelle Orientierungssystem entwickelt sich aus einer Anpassung an die jeweiligen Umweltbedingungen (Thomas 1996, S. 115).
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Die wesentlichen Punkte dieser Definition sind, dass das Orientierungssystem das soziale Miteinanderleben der Mitglieder einer Kultur organisiert, indem es ihnen eine kognitive und verhaltensbezogene Orientierung liefert, und dass die Eigenschaften dieses Orientierungssystems nicht in allen Kulturen gleich sind, sondern dass es kulturspezifische Charakteristika aufweist. Ein solches Charakteristikum kann in einer Kultur z. B. eine ausgeprägte Personenorientierung sein, in einer anderen stattdessen eine ausgeprägte Sachorientierung. Nicht zu vergessen ist, dass es sich stets um die kulturellen Charakteristika einer Zielkultur aus dem Blickwinkel der Referenzkultur handelt, und dass sie als Kulturstandards bezeichnet werden. Damit die Kulturstandards nicht mit anderen kulturellen Phänomenen verwechselt werden können, wurden sie ebenfalls präzise definiert. Kennzeichnend für Kulturstandards ist, dass sie: ... das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln beeinflussen und für die Mehrzahl der Kulturmitglieder als normal, typisch und verbindlich angesehen werden; ... eine Art Norm darstellen, die verlangt, dass sich alle Kulturmitglieder entsprechend der Norm verhalten, um problemlos miteinander interagieren zu können; ... einen gewissen Toleranzbereich besitzen, jedoch Verhaltensweisen und Einstellungen außerhalb der Toleranzgrenzen abgelehnt und sanktioniert werden; ... in einer Kultur das Verhalten der Kulturmitglieder beeinflussen können, in einer anderen Kultur jedoch völlig fehlen oder nur von peripherer Bedeutung sein können (vgl. Thomas 1993, S. 381).
Kulturstandards lassen sich nach Thomas (1996) sowohl induktiv als auch deduktiv aus philosophischen, ethnologischen, kulturanthropologischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Konzept Kultur ableiten. Der induktive Ansatz bezieht sich auf die Erfragung kritischer Interaktionssituationen (= KI). Die Methodik der ‚kritischen Interaktionssituationen‘ bzw. die ‚critical incident technique‘ wurde von Flanagan (1954) entwickelt, um Verhaltensweisen analysieren zu können. Im interkulturellen Kontext sind kritische Interaktionssituationen Ereignisse, die kulturell bedingt zu Konflikten führen, da (meistens unbewusst/ungewollt) gegen das fremdkulturelle Orientierungssystem verstoßen wird. Ein Konflikt ist dabei nicht zwangsläufig eine ausgetragene Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Parteien, sondern kann auch intrapersonell stattfinden und sich in Überraschung, Verärgerung und Irritation äußern. Wesentlich ist, dass die betroffene Person im ersten Moment nicht weiß, wie sie die Situation bewerten und wie sie sich verhalten soll. Der Clou der Methode der kritischen Interaktionssituationen besteht darin, dass durch sie das Problem umgangen werden kann, dass die eigene Kultur durch die kulturspezifische Sozialisation weitgehend unbewusst geworden ist,
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d. h., dass man sich über viele Aspekte der eigenen Kultur nicht bewusst ist und daher in einer Befragung nur wenig Auskunft darüber geben kann. Die KIMethode löst also das Problem, wie ein Forscher feststellen kann, dass die fremde Kultur beispielsweise hierarchieorientierter ist als seine eigene Kultur, obwohl er sich nicht (und auch nicht alle zu befragenden Mitglieder seiner Kultur) über das Fehlen der Hierarchieorientierung in seiner Kultur bewusst ist. Die KI-Methode bietet einen Ausweg aus diesem Dilemma, da einfach eine Person aus der Kultur A (Vergleichskultur) nach erwartungswidrigen bzw. konfliktären Situationen mit Personen aus der Kultur B (Zielkultur) befragt wird. Die Unpünktlichkeit eines Brasilianers kann z. B. nur deswegen zu einem Konflikt in einer deutsch-brasilianischen Interaktion führen, weil Deutsche besonders viel Wert auf Pünktlichkeit legen. Wenn mehrere Personen der Vergleichskultur A inhaltlich ähnliche KIs schildern, ist dies ein erster Hinweis auf einen Wert, eine Norm bzw. Regel (= Kulturstandard) der Zielkultur B. Die Sammlung und Analyse solcher Situationen offenbaren somit die gegensätzlichen Wertesysteme zweier Kulturen2. Der interkulturelle Arbeitskontext ist zur Erfassung von KIs besonders gut geeignet, da hier Personen mit unterschiedlichen Orientierungssystemen interagieren, dies zu zahlreichen erwartungswidrigen Situationen führen kann und zugleich die Konflikte im Sinne einer effektiven Zusammenarbeit gelöst werden müssen. In der vorliegenden Arbeit wurden daher KIs als methodisches Werkzeug verwendet, um die brasilianischen Kulturstandards aus deutscher Sicht im beruflichen Handlungsfeld aufzudecken. Im Folgenden wird der empirische Teil der Arbeit vorgestellt. Dabei wird ausführlicher auf den Erhebungsprozess der Kulturstandards eingegangen, damit der hier verwendeten und etwas komplexen Methodik mehr Transparenz verliehen wird.
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Empirie – Identifikation brasilianischer Kulturstandards
3.1 Methodisches Vorgehen der Untersuchung Der Ausgangspunkt der vorliegenden Studie ist die theoretische Vorannahme, dass sich Deutsche und Brasilianer kulturell in ihrer Arbeitsweise unterscheiden, und dass diese kulturellen Unterschiede induktiv mit Hilfe der KI-Methode 2
Das heißt, dass nicht nur die Zielkultur hinsichtlich ihrer Werte charakterisiert werden kann, sondern implizit (da beim Standardvorgehen nicht direkt danach gefragt wird) auch die Werte der Vergleichskultur festgestellt werden können, da sie den Werten der Zielkultur diametral gegenüberstehen.
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ermittelt werden können. Das Ziel der Studie wird in den folgenden Forschungsfragen zusammengefasst: 1. 2.
Welche brasilianischen Kulturstandards werden in der Interaktion zwischen Deutschen und Brasilianern im beruflichen Handlungsfeld wirksam? Wie können die identifizierten Kulturstandards kulturhistorisch erklärt werden?
Mit der zweiten Frage wird die Genese der brasilianischen Kulturstandards angesprochen. Kulturelle Charakteristika können nicht einfach aus dem Nichts entstehen, sondern entwickeln sich als eine Form der adäquaten Umweltbewältigung und werden über Generationen hinweg tradiert (Demorgon/Molz 1996). Durch eine kulturhistorische Verankerung werden die empirisch identifizierten Kulturstandards in ihrer Funktion und Wirkungsweise plausibler.
Die Teilnehmer An der Studie nahmen zwei unterschiedliche Gruppen an Interviewpartnern teil. Die erste Gruppe bestand aus deutschen Expatriats, die in São Paulo arbeiten und leben und nach kritischen Interaktionssituationen mit Brasilianern befragt wurden. Ihre Mindestaufenthaltsdauer in Brasilien sollte drei Monate nicht unterschreiten, da ab diesem Zeitpunkt die Anfangsbegeisterung abflaut und vermehrt kritische Situationen mit fremdkulturellen Interaktionspartnern wahrgenommen werden (Berry 1985). Außerdem sollte die Stichprobe möglichst heterogen sein (hinsichtlich Geschlecht, Alter, Aufenthaltsdauer und Position), um eine möglichst breite Fächerung an kritischen Situationen im beruflichen Handlungsfeld zu erhalten.3 Es konnten 40 deutsche Fach- und Führungskräfte für die Befragung gewonnen werden, die aus 25 unterschiedlichen Firmen und elf unterschiedlichen Branchenbereichen stammen. Die zweite Teilnehmergruppe bestand aus den so genannten Experten, welche die von den Expatriats geschilderten KIs dahingehend bewerten sollten, inwiefern sie tatsächlich typisch brasilianisches Verhalten zeigen. Außerdem sollten sie erklären, warum sich der Brasilianer in der geschilderten Situation auf diese Weise und nicht anders verhalten hat. Die Experten sollten die deutsche oder brasilianische Nationalität besitzen (bzw. in einem dieser beiden Länder sozialisiert worden sein), bereits einen beruflichen Aufenthalt von mindes3
Hinsichtlich der Variable Geschlecht ist dies leider nicht gelungen, da es nur sehr wenige deutsche Frauen gibt, die in Brasilien berufstätig sind.
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tens drei Monaten in Deutschland und Brasilien absolviert haben und sich beruflich mit der interkulturellen Thematik auseinander setzen oder als Psychologe im Bereich der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie tätig sein. Es konnten sechs deutsche und sechs brasilianische Experten ausfindig gemacht werden, die diese Kriterien erfüllten und bereit waren, an der Studie teilzunehmen.
Materialien Bei der Befragung kritischer Interaktionssituationen bietet es sich an, eine Interviewmethode zu verwenden, die dem narrativen und problemfokussierten Interview zuzuordnen ist. Dadurch wird der Gesprächsgegenstand durch den Interviewer in den Mittelpunkt der Unterhaltung gerückt, Auswahl und Schilderung kritischer Ereignisse werden jedoch den Interviewpartnern so weit wie möglich selbst überlassen. Es ist anzunehmen, dass hierbei diejenigen Situationen wiedergegeben werden, die eine besonders tiefe Gedächtnisspur hinterlassen haben, d.h. die womöglich als besonders kritisch erlebt wurden (z. B. Pedersen, 1995; Thomas 1996). Um während des Gesprächs eine Fokussierung auf den Gesprächsgegenstand gewährleisten zu können, wurde ein Interviewleitfaden erstellt. Das Gespräch wurde mit Hilfe eines Diktiergeräts aufgenommen und anschließend vollständig transkribiert. Im Durchschnitt dauerte das Interview ca. zwei Stunden. Die Expertenbefragung fand ebenfalls mündlich statt und wurde mit Hilfe eines Leitfadens auf die Analyse und Interpretation der KIs fokussiert.
Das Vorgehen – Schritt für Schritt Zur Erinnerung – das Hauptziel der Studie bestand darin, die brasilianischen Kulturstandards mittels der KI-Methode zu ermitteln und die erhaltenen kulturellen Unterschiede kulturhistorisch zu erklären. Die gesammelten KIs offenbaren jedoch nicht automatisch die gesuchten Kulturstandards. Um die Kulturstandards aus den geschilderten KIs herauszufiltern, mussten die folgenden Arbeitsschritte durchgeführt werden: 1. Identifikation der KIs in den Transkriptionen Hierzu wurden die Kriterien von Fiedler, Mitchell und Triandis (1971) zu Rate gezogen: Ihrer Meinung nach sollte eine KI eine alltägliche, konfliktäre, kurze, verständliche und typische Situation sein, um kulturell divergentes Verhalten
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aufzeigen zu können. Für diese Einordnung stellte sich jedoch in der Praxis das Problem, dass die Interviewpartner in ihren Situationsschilderungen oftmals keinem durchgängigen Erzählstrang folgten und sprachlich schwierig zu verstehende Äußerungen (Dialekt, mangelhafte Aufnahme etc.) die Nachvollziehbarkeit einer geschilderten Situation erschwerten und somit die Einschätzung, ob es sich um eine KI nach den Kriterien von Fiedler et al. handelt. Um diesem Problem zu begegnen, wurden in einem ersten Schritt alle Situationen, die eine ‚potenzielle KI‘ (= kulturdivergente Äußerung)4 enthalten könnten, in der Transkription identifiziert und in eine so genannte journalistische Fassung überführt. Das bedeutet, dass die erlebte Situation zusammengefasst, auf das Wesentliche fokussiert und sprachlich geglättet wurde, um die weitere Bearbeitung zu erleichtern. Bei der Durchsicht des Interviewmaterials konnten 240 derartiger Situationen identifiziert werden, d.h., dass bei 40 Interviewpartnern jeder Befragte durchschnittlich sechs ‚potenzielle KIs‘ schilderte. 2. Systematische Reduktion der gesammelten Situationen Die Experten sollten die KIs letztendlich analysieren und interpretieren, um festzustellen, ob das in den Situationen gezeigte Verhalten tatsächlich typisch brasilianische Charakteristika aufweist. Der Hintergedanke dabei ist, einen generalisierenden Fehlschluss zu vermeiden, d.h. zu verhindern, dass von rein individuell bedingten Verhaltensweisen auf allgemein gültige Kulturstandards geschlossen wird (vgl. Thomas 1996). Hierzu mussten die 240 ‚potenziellen KIs‘ so weit wie möglich reduziert werden, um die Experten nicht mit einem zu großen Umfang an Analysematerial zu überfordern. Es wurde ein Kategoriensystem entwickelt, in dem inhaltlich ähnliche Situationen zusammengefasst wurden. In einer so genannten formalen Reduktion wurden die Kategorien aussortiert, die nur auf einen bestimmten Personenkreis zutreffen (z. B. nur auf Eltern mit Kindern). Weiterhin wurden alle Freizeitsituationen aussortiert sowie Situationen, die nicht Fiedlers Kriterien (s. o.) entsprechen. In einer sich anschließenden inhaltlichen Reduktion wurden repräsentative KIs aus den verbliebenen Kategorien ausgewählt. Nach einer anschließenden Prüfung durch deutsche Studierende wurden alle Situationen aussortiert, die als nicht nachvollziehbar beurteilt wurden. Durch dieses Verfahren konnten die 240 Situationen letztendlich systematisch auf 45 KIs reduziert werden.
4
Als kulturdivergente Äußerung werden hier alle geschilderten kritischen Situationen bezeichnet, die potenziell kulturelle Unterschiede aufzeigen können, also auch solche, die nicht alle fünf Kriterien von Fiedler, Mitchell und Triandis (1971) erfüllen.
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3. Expertenanalyse Die verbliebenen 45 KIs wurden den Experten per Zufallsprinzip zugeordnet, sodass jeder Experte 15 KIs zur Analyse erhielt und jede Situation jeweils von zwei brasilianischen und zwei deutschen Experten analysiert wurde. Die Interpretationen der Experten mussten im letzten Schritt ausgewertet werden. Zunächst wurden diejenigen Situationen von einer weiteren Bearbeitung ausgeschlossen, die von den Experten einheitlich als untypisch oder kontextuell bedingt (z. B. nur typisch im Berufskontext Modebranche) eingestuft wurden. Anschließend mussten die Aussagen der Experten auf ihre Hauptaussage reduziert werden, um zum einen das sprachliche Material überschaubarer zu machen und zum anderen die Expertenaussagen miteinander vergleichen und gegebenenfalls zusammenfassen zu können. Eine bewährte Methode hierzu stellt die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2003) dar. Mit Hilfe dieser Verfahrensweise konnten sieben Kernkategorien ermittelt werden. Diese Kernkategorien repräsentieren letztendlich die brasilianischen Kulturstandards, die durch ihre Subkategorien spezifiziert werden.
3.2 Ergebnisse der Studie Zum besseren Überblick wird zunächst jeder Kulturstandard mit seinen Subkategorien vorgestellt. Aus Platzgründen werden die identifizierten Charakteristika der Kulturstandards stichpunktartig zusammengefasst. Die an jeden Kulturstandard anschließende kulturhistorische Verankerung soll die historischen Bedingungen darstellen, die zur Entwicklung des Kulturstandards geführt haben könnten, sowie deren soziokulturelle Folgen anschneiden. Die geschichtlichen Überlegungen zur Entstehung der Kulturstandards dienen lediglich als Erklärungsmodell und erheben somit weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch auf absolute Gültigkeit. Die kulturhistorische Verankerung basiert auf den Expertenaussagen und der recherchierten Brasilien-spezifischen Literatur, die den Bereichen Belletristik, Wirtschaft, Politik, Geschichte, Soziologie, Anthropologie und Psychologie zuzuordnen ist.
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Tabelle 1:
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Überblick über die brasilianischen Kulturstandards
Kulturstandard
Subkategorien
Personenorientierung
-
Einzigartigkeit von Personen & Beziehungen Beziehungsorientierung in der Arbeit
Interpersonelle Harmonieorientierung
-
Sprachroutinen Gesicht wahren durch Indirektheit Konfliktvermeidung
Emotionalismus
-
Emotion vor Ratio Expressivität von Emotionen
Hierarchieorientierung
-
Obrigkeitsdenken Paternalismus Statusorientierung
Flexibilität
-
Anpassungsfähigkeit Kreativität Jeito Ambiguitätstoleranz
Gegenwartsorientierung
-
kurzfristige Planung & polychrone Arbeitsweise Pragmatismus Opportunismus
Kontakt- & Kommunikationsfreudigkeit
Kulturstandard Personenorientierung Einzigartigkeit von Personen und Beziehungen: Persönliche Beziehungen werden wertgeschätzt und als wichtig für die Zusammenarbeit erachtet. Positive Beziehungen können nicht auf Dritte übertragen werden. Ebenso verhält es sich mit mündlichen Abmachungen, d. h., jedes Individuum muss sich selbst um die Etablierung einer positiven Beziehung zu seinen Kollegen und Vorgesetzten bemühen. Eine individuelle Behandlung wird erwartet: Jede Person kann unterschiedliche Gründe für ein- und dasselbe gezeigte Verhalten haben, daher werden Generalisierungen, wie z. B. Kollektivstrafen, als ungerecht angesehen. Auf gleicher Hierarchiestufe wird Solidarität und Unterstützung erwartet.
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Beziehungsorientierung in der Arbeit: Der Beziehungsaufbau dient als Grundlage für eine Rollendefinition und zur Errichtung einer Vertrauensbasis. Wichtig für einen ungehinderten Informationsfluss ist eine positive und persönliche Beziehung. Im Sinne einer ‚Vetternwirtschaft‘ können Beziehungen ausgenutzt werden, um sich persönliche oder berufliche Vorteile zu verschaffen; Es besteht höheres Vertrauen in persönliche Referenzen, d. h. es wird mehr Wert auf Auskünfte von Freunden und Bekannten gelegt als auf Informationen von einer unbekannten Person oder aus einer sachlichen Quelle. Der Arbeits- und Freizeitbereich werden miteinander vermischt. Kulturhistorische Verankerung Die Entwicklung der Personenorientierung lässt sich mit dem Elitesystem der Portugiesen zur Kolonialzeit erklären. Die Portugiesen, die sich nach der Entdeckung Brasiliens durch ihren Landsmann Pedro Alvares Cabral im Jahre 1500 in diesem Land niederließen, sahen sich weder als Teil eines Kollektivs noch strebten sie danach, eine Art ‚Volksherrschaft‘ zu etablieren. Jeder war im Prinzip auf sich selbst gestellt, um seinen Platz in der neuen Gesellschaft zu finden. Durch persönliche Beziehungen schufen sie ihr ganz individuelles soziales Netz. Und lediglich in dieser Kleingruppe herrschte enger Zusammenhalt und Loyalität vor. Es entwickelte sich folglich eine starke Verpflichtungsbeziehung, die sich nur auf die Mitglieder des eigenen Beziehungskreises bezog. Kulturstandard Interpersonelle Harmonieorientierung „Sprachroutinen“5 - Durch Höflichkeitsfloskeln wird eine positive Grundstimmung herbeigeführt und Sympathie bekundet; Gesicht wahren durch Indirektheit - ‚Gesicht zu besitzen‘, bedeutet für die Betroffenen Selbstrespekt sowie von Mitmenschen gezollter Respekt. Hinzu kommt, dass die Person und Sache untrennbar miteinander verbunden sind, d.h., die Ablehnung einer Sache hat unweigerlich auch die Ablehnung der Person zufolge und damit einen Gesichtsverlust dieser Person (z. B. durch direktes Verneinen einer angebotenen Kooperation). Die brasilianische Lösung des Problems besteht darin, eine Sache indirekt abzulehnen oder
5
vgl. Liang (1996, S. 249); Sprachroutinen sind Sprachrituale, die nicht wörtlich zu verstehen sind; z. B. „Komm mich doch mal besuchen“ (a.a.O.).
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zu verneinen, um das Gesicht aller und eine gute Beziehung zu wahren. - Kritik wird indirekt geäußert, da jede direkte Kritik nicht als sachliche Kritik, sondern als Bloßstellung der Person aufgefasst wird. Konfliktvermeidung - Konfrontationen mit höher gestellten Personen oder Kollegen werden vermieden, z. B. durch Vorenthalten von Informationen, die zu einer unangenehmen Auseinandersetzung führen könnten. - Es kann zu einer ‚Konfliktverschiebung‘ kommen: Probleme in der Zusammenarbeit auf (aus deutscher Sicht) sachlicher Ebene führen auch zu Konsequenzen auf persönlicher Ebene, wie z. B. ‚beleidigt sein‘ und ‚aus dem Weg gehen‘. Kulturhistorische Verankerung Die Förderung und Aufrechterhaltung positiver Beziehungen als oberste Priorität entstammt sehr wahrscheinlich dem arabischen Einfluss der Portugiesen durch die Mauren (Gesteland 1999). Im Zuge der portugiesischen Kolonialisierung Brasiliens manifestierten sich diese Umgangsformen auch in der brasilianischen Gesellschaft. Die empfindlichen Reaktionen der Brasilianer auf direkte Kritik in der Arbeit lassen sich auch auf die Sklavenzeit Brasiliens zurückführen. Die niedere Arbeit wurde den Sklaven überlassen, die zur Ausführung verpflichtet waren. Die Brasilianer entwickelten folglich eine eher gespaltene Beziehung zur Arbeit, v. a. was manuelle oder rein exekutive Tätigkeiten betraf (Trevisan 2001). Durch Anordnungen und Befehle konnte sich damals ein ‚Nichtsklave‘ schnell auf den Sklavenstand reduziert fühlen. Daher tendieren Brasilianer bis heute dazu, sich von der Auffassung zu distanzieren, ihre Arbeitsleistung sei eine Pflicht. Die eigene Arbeitsleistung wird vielmehr als Gefallen angesehen, den man jemandem erweist. Brasilianische Mitarbeiter auf einem etwas gehobenen hierarchischen Niveau erwarten deswegen, dass ein Arbeitsauftrag von ihrem Vorgesetzten oder Kollegen als persönliche Bitte formuliert wird und nicht als nackte sachliche und damit erniedrigend empfundene Anordnung. Eine direkt formulierte Kritik vermittelt den Brasilianern das Gefühl, dass ihre Arbeit nicht mehr den Wert eines Gefallens hat, sondern den einer Verpflichtung, mit der wie zur Sklavenzeit Belohnung und Bestrafung einhergehen. Kulturstandard Kontakt- und Kommunikationsfreudigkeit Es besteht ein grundlegendes Interesse an den Mitmenschen sowie Aufgeschlossenheit und Gastfreundschaft gegenüber Fremden.
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Small Talk und ein stetiger kommunikativer Austausch werden als äußerst wichtig erachtet, um die Arbeitsatmosphäre aufzulockern. Freude an der Arbeit entsteht durch die Herstellung eines freundlich-spielerischen Arbeitsklimas. Kulturhistorische Verankerung Die Gastfreundschaft ist vermutlich ebenfalls ein arabisch-maurisches Kulturerbe, das sich in der portugiesischen Kultur durch den engen Kontakt zu Nordafrika manifestieren konnte (Freyre 1982). In arabischen Ländern nimmt die Gastfreundschaft einen besonders hohen Stellenwert ein. Den Fremden möchte man möglichst alle schönen Seiten der Heimat zeigen (Lewis 1999). Durch die portugiesische Kolonialisierung fand diese Einstellung gegenüber Ausländern Eingang in die brasilianische Gesellschaft. Hinzu kommt, dass Urlaubsreisende in Brasilien stets relativ rar waren und das Land bis heute weit entfernt von einem Massentourismus ist. In gewisser Weise wird es deswegen als Ehre angesehen, wenn ein Ausländer nach Brasilien reist, und man möchte ihm durch eine außerordentlich große Gastfreundschaft zeigen, dass er willkommen ist ( Schelling-Sprengel 2002). Kulturstandard Emotionalismus Emotion vor Ratio - Es herrscht eine schnelle Begeisterungsfähigkeit für innovative Ideen; - Handeln geschieht eher ‚aus dem Bauch heraus‘, d. h., dem spontanen emotionalen Impuls wird nachgegangen, ohne rationale Aspekte zu berücksichtigen. Expressivität von Emotionen - Emotionen werden gezeigt und akzeptiert, mit Ausnahme von sozial negativen Emotionen wie z. B. Ärger. Kulturhistorische Verankerung Das emotionsgeleitete Denken und Handeln lässt sich auch bei den Portugiesen wieder finden, die Brasilien im 16. Jahrhundert kolonialisierten. Ihr Streben nach Innovation sowie das Ausblenden rationaler Aspekte werden als Begründung dafür angesehen, dass es einem kleinen Land wie Portugal möglich war, zu den damaligen Kolonialmächten zu gehören und fremde Länder auf völlig unterschiedlichen Kontinenten zu besetzen (vgl. Freyre, 1982). Die Tendenz, Emotionen offen zu zeigen, lässt sich eher auf den afrikanischen Einfluss in der brasilianischen Kultur zurückführen. Den afrobrasilianischen Sklaven wird in einem der bedeutendsten Werke der soziologischen Lite-
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ratur Brasiliens zugeschrieben, dass sie zu „tiefer Empfindsamkeit, starker Ausdrucksfähigkeit und Fröhlichkeit“ (Freyre 1982, S. 24) neigten. Kulturstandard Hierarchieorientierung Obrigkeitsdenken - Arbeitsaufträge werden je nach Position der delegierenden Person angenommen und ausgeführt. - Die Mitarbeiter fügen sich in einen autoritären Führungsstil ein; - Hierarchiegrenzen und Zuständigkeitsbereiche werden respektiert. Der Vorgesetzte möchte über alles informiert werden, da er sämtliche Verantwortung trägt. Paternalismus - Zwischen Chef und Mitarbeiter besteht eine wechselseitige Verpflichtungsbeziehung. Die Chef-Verpflichtung besteht in der Fürsorge und dem Eingehen auf die (persönlichen) Bedürfnisse der Mitarbeiter. Die Mitarbeiter-Verpflichtung besteht in der Loyalität und Unterstützung des Chefs durch gegebenenfalls auch persönlichen Einsatz. - Hinsichtlich der Arbeitsbereiche von Chef und Mitarbeiter herrscht strikte Aufgabentrennung: Der Chef verfügt über alle Informationen, hat den Überblick und ist daher in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Die Mitarbeiter führen tendenziell lediglich aus, was ihnen aufgetragen wird. - Die Kompetenz des Chefs gilt als unantastbar. Statusorientierung - Der Status wird durch Statussymbole und auch im Verhalten gezeigt. - Die Selbstdefinition erfolgt weniger über die erbrachte Leistung, sondern über sichtbare Statussymbole. Kulturhistorische Verankerung Das Obrigkeitsdenken entstand womöglich ebenfalls zu Zeiten der Kolonialisierung Brasiliens durch die Portugiesen. Das Land wurde vom portugiesischen König in Bundesstaaten aufgeteilt, in denen jeweils ein so genannter Capitão monarchisch regierte. Seine Anordnungen mussten ausgeführt werden, auch wenn es sich um sinnlose oder benachteiligende Befehle für die Allgemeinheit handelte (vgl. Schelling-Sprengel 2002). Zugleich wurde die brasilianische Gesellschaft besonders stark durch das Fazenda-System charakterisiert. Der Großgrundbesitzer war für das Funktionieren der Fazenda6 verantwortlich. Seine Aufgabe als Oberhaupt der Fazenda bestand darin, zu organisieren und Ar6
Port.: Großgrundbesitz.
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beitsaufträge zu verteilen, während er von seinen Arbeitskräften erwartete, dass sie diese ohne Rückmeldung – sei es durch Kritik oder Verbesserungsvorschläge – ausführten. Der Paternalismus entwickelte sich ebenfalls aus der Fazenda-Struktur heraus und charakterisiert die Beziehung zwischen Großgrundbesitzer und Sklave. Der Patriarch stand im Zentrum der Familie und Fazenda und hatte jegliche Befehlsgewalt, aber auch die gesamte Verantwortung zu tragen. Um ein einigermaßen harmonisches und konfliktfreies soziales Zusammenleben mit den Sklaven auf der Fazenda sicherzustellen, zeigte sich der Patrão7 seinen Sklaven gegenüber fürsorglich, was die existenziellen Bedürfnisse betraf, und bestrafte nicht nur, sondern belohnte auch – manchmal sogar mit Freilassungen (vgl. Handelmann/Faber 1987). Die Statusorientierung entwickelte sich sehr wahrscheinlich aus dieser hierarchisch strukturierten Gesellschaft: Der Sklave befand sich ganz unten in der Hierarchie, wohingegen der Großgrundbesitzer zur Hierarchiespitze zählte. Die Kolonialportugiesen (und später die Brasilianer) legten deswegen Wert darauf, dass man ihnen anhand der Statussymbole ansah, dass sie Herr und nicht Sklave waren (vgl. Bernecker/Pietschmann/Zoller 2000). Kulturstandard Gegenwartsorientierung kurzfristige Planung und polychrone Arbeitsweise - Fristen werden oftmals nicht eingehalten. - Plötzliche Planänderungen sind üblich. - Verschiedene Arbeitsaufträge werden zur gleichen Zeit bearbeitet. Priorität haben dabei die jeweils aktuellen Aufgaben bzw. die Kontaktpflege zu einzelnen Personen. Dadurch kann sich die Fertigstellung einzelner Arbeitsaufträge in die Länge ziehen. - Es herrscht ein fließendes Zeitverständnis, d.h., Uhrzeiten werden nicht als fixer Zeitpunkt, sondern innerhalb eines flexiblen Zeitrahmens aufgefasst – Verspätungen sind daher üblich. Pragmatismus - Konkrete Probleme werden zielorientiert und auf kreative Weise mit den verfügbaren Mitteln gelöst. Man verlässt sich mehr auf die eigenen Sinne und Erfahrungen als auf Vorschriften und Regeln. Opportunismus - Gegenüber ‚Outgroup-Mitgliedern‘ besteht eher ein egozentrischer Individualismus, d.h., eine günstige Gelegenheit wird wahrgenommen und ein Vorteil aus ihr gezogen, auch wenn andere Personen – aller7
Port.: Großgrundbesitzer; Vorgesetzter.
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dings nur, wenn zu ihnen keine persönliche Beziehung besteht – dadurch geschädigt werden; Korruption kann als eine verschärfte Form des Opportunismus angesehen werden, v. a. gegenüber ausländischen Firmen, deren Repräsentanten in der Anfangszeit noch über keinerlei Beziehungsnetze verfügen.
Kulturhistorische Verankerung In Brasilien existieren keine Umweltbedingungen, die das Leben beeinträchtigen könnten, wie z. B. ein sehr kaltes Klima oder häufige Naturkatastrophen. Die brasilianische Kultur gehörte deswegen nicht zu denjenigen Kulturen, die in einem langen soziologischen Prozess gelernt haben, Gefahren vorauszusehen und Gegenmaßnahmen zu entwickeln, um im Notfall einen Überlebensvorteil zu haben. Es hat sich dadurch eine eher gelassene, in den Tag hinein lebende Gesellschaft herausgebildet (Oertl 2001). Wirtschaftliche Faktoren verstärkten diese Grundhaltung in den letzten Jahrzehnten. Im Jahre 1992 erreichte die Inflation beispielsweise einen Spitzenwert von 2491% (Bernecker/Pietschmann/Zoller 2000). Der Lohn musste zu solchen Zeiten sofort ausgegeben werden, weil er bereits am nächsten Tag sehr viel weniger wert sein konnte. Eine langfristige Planung war unter solchen Umständen unmöglich. Kulturstandard Flexibilität Anpassungsfähigkeit Es besteht ein starker Glaube an sich selbst hinsichtlich der eigenen Flexibilität nach dem Motto: „Nichts ist unmöglich, alles ist irgendwie machbar.“ Kreativität Probleme werden oft auf sehr kreative Art und Weise gelöst, und die Improvisation dient meistens als wesentliches Hilfsmittel. Jeito Mit Regeln wird oft sehr flexibel verfahren. Dies kann sich auf zweierlei Arten ausdrücken: zum einen, indem man eine Regel umgeht (z. B. indem man auf dem Amt etwas erreicht, das einem gesetzlich eigentlich nicht zusteht), und zum anderen, indem man sich nach einem Regelverstoß aus der Verantwortung zieht. Ambiguitätstoleranz Es werden häufig mehrdeutige Situationen provoziert und akzeptiert durch Ausdrücke wie „vielleicht“, „mal sehen“, „warum nicht?“, die weder Bejahung noch Verneinung ausdrücken.
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Man legt sich weniger auf exakte Zahlen fest, sondern geht eher spekulativ und flexibel mit Zahlen um.
Kulturhistorische Verankerung Gemäß dem brasilianischen Soziologen Freyre (1982) entwickelte sich die Flexibilität der Brasilianer vermutlich aus einer Notsituation heraus: Die portugiesischen Kolonisatoren entdeckten mit Brasilien ein Land, in dem noch keine ‚höhere Zivilisation‘ existierte, von der die Kolonialherren hätten profitieren können. Eigenschaften wie Kreativität und Improvisationsgabe erwiesen sich daher als vorteilhaft, um das Überleben sichern zu können. Die Entwicklung des Jeito lässt sich auf die portugiesische Kolonialpolitik zurückführen. Der Merkantilismus Portugals führte zu einer Reihe unsinniger Gesetze, die den neuen Einwohnern Brasiliens eher schadeten als nutzten. So wurde beispielsweise Baumwolle in Brasilien angepflanzt, aber die Kleidung musste in Portugal hergestellt werden. Für das Volk war es zwecklos zu revoltieren, da die Verantwortlichen zu mächtig waren. Dies traf v. a. auf die Sklaven zu, die nahezu keine Rechte hatten. Es entwickelte sich ein purer Existenzialismus und die Erkenntnis, dass man am Lauf der Dinge nichts verändern kann (vgl. Levine 1998). Die Lösung dieses Dilemmas bestand darin, sich scheinbar zu fügen und lediglich nach einer provisorischen Lösung zu suchen. Dies kennzeichnet schließlich den Jeito, der auch als individuelle Flucht vor den gesetzlich aufgestellten Determinationen angesehen werden kann.
4
Schlussbilanz
Wie lässt sich nun die eingangs gestellte Frage nach dem „Mythos Markt“ beantworten? Bestehen tatsächlich falsche Vorstellungen von den Tauschbeziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern, was den globalen Markt betrifft? Die vorgestellte Studie hat empirisch belegen können, dass zwischen Deutschen und Brasilianern bedeutende Unterschiede in der Arbeitsweise bestehen. Diese kulturellen Unterschiede betreffen den zwischenmenschlichen Bereich und äußern sich manifest durch das beobachtbare Verhalten. Dem gezeigten Verhalten liegen wiederum latente Mechanismen zugrunde, wie etwa Einstellungen, Meinungen und Werte, die von der jeweiligen Kultur beeinflusst werden (vgl. auch die Kulturdefinition im theoretischen Teil). Diese latenten kulturellen Werte steuern jegliches Verhalten, d.h., nicht nur das Arbeitsverhalten, sondern auch das Konsumverhalten bzw. die Entscheidung einer Person, ob sie ein Produkt erwirbt oder nicht. Wenn in einer Kultur beispielsweise die Hausmannskost äußerst geschätzt wird, wird es schwierig sein, ein Tiefkühlmenü auf den Markt
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zu bringen, womöglich sogar mit dem Werbeslogan, dass sich die Hausfrau nun endlich zurücklehnen könne, da mit diesem Menü nichts mehr vorzubereiten sei … In anderen Kulturen mit den entsprechenden Werten könnten allerdings dieses Produkt und der Slogan ein durchschlagender Erfolg werden. Das bedeutet, dass den Kundenbedürfnissen und somit der Nachfrage nach einem Produkt oder Service kulturelle Werte zugrunde liegen. Ein konkretes Beispiel soll anhand der Ergebnisse der vorgestellten Studie veranschaulichen, wie sehr die Kundenbedürfnisse dem kulturellen Einfluss unterliegen können: In der Einleitung dieses Beitrags wurde erwähnt, dass Volkswagen in Brasilien erhebliche Verluste erlitt, da die Firmenleitung in Automobilmodelle investiert hatte, welche die Brasilianer nicht in der vorhergesehenen Menge kauften. Es stellt sich also die Frage, warum sich die Brasilianer anders verhalten haben, als prognostiziert wurde. Eine Antwort hierzu könnte der Kulturstandard Gegenwartsorientierung der vorgestellten Studie liefern: Brasilianer planen wesentlich kurzfristiger als Deutsche. Für den ‚Durchschnittsbrasilianer‘ ist somit der Augenblick wichtiger als die Zukunft, d.h., er möchte sich im Moment ein funktionstüchtiges Auto leisten können, und die Frage, ob dieses Auto auch in fünf Jahren noch einwandfrei funktionieren wird, ist für ihn eher irrelevant. Er bevorzugt folglich ein günstigeres Auto, auch wenn es qualitativ nicht so hochwertig sein sollte wie die teureren Alternativen. Deutsche hingegen verhalten sich eher entgegengesetzt, da sie kulturell bedingt andere Werte haben. Sie neigen dazu, in die Zukunft zu planen, und es ist anzunehmen, dass sie daher bevorzugt ein Auto kaufen, auf das sie sich auch nach Jahren noch verlassen können, auch wenn es dafür momentan mehr kosten sollte (Schroll-Machl 2003). Diese Interpretation der Ergebnisse würde für Volkswagen bedeuten, dass das Unternehmen möglicherweise zu viel Wert auf neue Automobilmodelle nach deutschen Qualitätsstandards legte, was sich im Preis widerspiegelt und was den deutschen Kundenbedürfnissen entspricht, jedoch nicht den brasilianischen. Die ‚Gesetzmäßigkeiten‘, die in der interkulturellen Zusammenarbeit ermittelt wurden und die auf Individuumsebene wirken, sind somit womöglich – denn dies muss empirisch noch geprüft werden – auch auf eine höhere Ebene, nämlich auf die Organisationsebene bzw. auf den ausländischen Absatzmarkt, übertragbar. Ob Mikro- oder Makroebene – es handelt sich in beiden Fällen um Ebenen, in denen Individuen wirken und in denen somit auch ihre (kulturellen) Werte zum Tragen kommen. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet demnach: Wir haben dann eine inadäquate Vorstellung von den Tauschbeziehungen zwischen Anbietern und Nachfragern auf dem ausländischen Absatzmarkt, wenn die Kulturen des Anbieters und des Nachfragers als relevante Einflussgrößen auf diesen Markt ignoriert werden.
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Eine andersartige Kultur kann somit allzu schnell zu einem unvorhersehbaren, unangenehmen und lästigen Faktor werden, der in wirtschaftlichen Organisationen den ökonomischen Erfolg beeinträchtigt. Was kann man also tun, damit die fremde Kultur nicht zu einer Art ‚Störvariablen‘ wird? Das Naheliegendste ist, die ‚Störvariable‘ zu kontrollieren. Es bieten sich hierzu zweierlei Optionen an, die gleichermaßen bedeutend sind, um als Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich agieren zu können: Die Lösungsansätze betreffen zum einen die „ökonomische“ und zum anderen die „soziale Gestaltung der Arbeitswelt“8. Mit der ökonomischen Gestaltung ist hier gemeint, dass in der Produktpolitik die Werte der fremden Kultur und somit die unterschiedlichen Kundenbedürfnisse berücksichtigt werden müssen, um wirtschaftliche Misserfolge zu vermeiden. Systematische psychologische Studien können dabei wertvolle Anhaltspunkte liefern. Was die soziale Gestaltung der Arbeitswelt betrifft, besteht die Möglichkeit, interkulturelle Reibungspunkte zwischen den Mitarbeitern und damit einen Effizienzverlust in der Zusammenarbeit zu verhindern. Die vorgestellten Forschungsergebnisse wurden beispielsweise benutzerfreundlich gestaltet, damit sie als Trainingsmaterial zur brasilianischen Kultur genutzt werden können9. Die brasilianischen Kulturstandards werden mittels kritischer Interaktionssituationen, also konkreter und authentischer Situationen, erläutert. Ein solches Training ermöglicht deutschen Expatriats, sich über die brasilianische Kultur zu informieren und sich auf die Anforderungen einer deutsch-brasilianischen Zusammenarbeit vorzubereiten. Bilanz? Sei es mehr kulturelles Verständnis und somit ein sozial verträgliches Arbeitsklima, oder sei es die Sicherung der Arbeitsplätze der Mitarbeiter durch wirtschaftlichen Erfolg – es lohnt sich auf dem ausländischen Markt auf jeden Fall, kulturelle Unterschiede zu berücksichtigen.
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8 9
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Dissertation: Interkulturelle Zusammenarbeit: Beziehungen zwischen Brasilianern und Ausländern bei Volkswagen/Audi in São José dos Pinhais – PR [Übers. d. Verf.].
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Insolvenz – Alles muss raus Eine fotografische Auseinandersetzung mit Räumen insolventer Betriebe in Deutschland Insolvenz – Alles muss raus
Susanne Ludwig
Vor einiger Zeit besuchte ich die „Nordischen Stahlwerke“ in Neumünster. Seit die Firma im Jahre 2000 Insolvenz angemeldet hat, verfällt das Gelände. Ein Teil der Gebäude wurde bereits abgerissen, und die übrigen Hallen warten auf ihre Abwicklung. Der Anblick des Chaos in den ehemaligen Laboren, der Zerstörung und des fortschreitenden Verfalls machte die Vorstellung fast undenkbar, dass hier zwei Jahre zuvor noch Menschen gearbeitet hatten. Die alten Industriegebäude schienen voller Geschichten zu stecken, und noch überall sichtbare Spuren regten dazu an, Vergangenes aus den unterschiedlichsten Zeitepochen zu rekonstruieren. Doch die jüngsten sichtbaren Spuren der Insolvenz des Unternehmens interessierten mich besonders. Was geschah an den letzten Arbeitstagen, als die Mitarbeiter erfuhren, dass es nicht mehr weitergehen würde und jeder seinen Spind ausräumen musste? Geschah alles ganz plötzlich? In den Räumen sah es jedenfalls so aus, als seien sie von den Mitarbeitern beinahe fluchtartig verlassen worden, aufgerissene, durchwühlte Schubladen wurden nicht wieder verschlossen, und Akten, Arbeitsmittel und sogar persönliche Gegenstände blieben liegen. Alles, was noch einen materiellen oder ideellen Wert besaß, wurde mitgenommen oder im Rahmen der Insolvenzversteigerung veräußert. Wände wurden für den Abtransport der versteigerten Maschinen eingerissen. Mit der Zeit drangen Wasser und Pflanzen ins Innere der Gebäude ein und belebten es von neuem. Doch andererseits schienen einige Gebäudeabschnitte noch seltsam unangetastet, so war zum Beispiel der Tisch im Pausenraum noch gedeckt, und Poster hingen noch an den Wänden. Die Spuren der Insolvenz im „Nordischen Stahlwerk“ weckten mein Interesse für die Vorgänge in den Räumen, die mit diesem wirtschaftlichen Prozess einhergehen. Ich beschloss, im Rahmen meines Fotografie-Diploms weitere insolvente Firmen und Industrieunternehmen aufzusuchen und die Räume, in denen vormals das Wirtschaftsgeschehen stattfand, fotografisch zu dokumentieren. Branchenübergreifend fotografierte ich vom Herbst 2003 bis zum Frühjahr 2004 in verschiedenen Unternehmen in Deutschland. Die dargestellten Stadien
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der Insolvenz reichen von den Insolvenzversteigerungen, dem Geschäft im Abverkauf bis hin zu den schon ausgeräumten Fabrikhallen. Auch neu errichtete Gebäude, die nie bezogen wurden, weil deren Betreiberfirma bereits vor Eröffnung des Betriebes Insolvenz angemeldet hatte, gehören zu den dargestellten Objekten. Einige Bilder zeigen das letzte „Ruinen-Stadium“ der Insolvenz: in Verfall und Zerstörung begriffene Hallen, Räume und verlassene Firmengelände. Der Titel der Arbeit „Insolvenz – Alles muss raus“ nimmt Bezug auf den aus der Werbung in Schaufenstern, Prospekten, aber auch im Internet bekannten Slogan im Zusammenhang mit Räumungs- und Ausverkäufen, die zumeist Folge von Insolvenzen sind. Zugleich bezeichnet dieser Slogan auf ambivalente Art und Weise die Konsequenzen der Insolvenz für den Raum: Er büßt – jedenfalls zeitweilig – seine ihm ursprünglich zugedachte Funktion als Ort des Wirtschaftsgeschehens ein, er muss geleert, „geräumt“ werden. Das Thema Insolvenz ist in unserer Gesellschaft zwar aktuell und allgegenwärtig – konkretes Wissen über diesen Vorgang ist jedoch im Allgemeinen, außerhalb von Expertenkreisen und berufsmäßig damit Befassten, eher gering. Man nimmt die „Supersonder-“ und „Lagerverkäufe“ in den Läden wahr und freut sich über das billige „Schnäppchen“ bei Insolvenzverkäufen, doch häufig macht man sich nicht bewusst, dass diese günstigen Gelegenheiten womöglich eine Kehrseite haben: Sie sind Folge des wirtschaftlichen „Aus“ eines Betriebes, Begleiterscheinung eines wirtschaftlichen Existenzverlusts und der Entlassung von Arbeitnehmern. Die Räume insolventer Betriebe und der Wandel, der sich während des Insolvenzprozesses in ihnen vollzieht, sind Hauptgegenstand dieser schriftlichen Arbeit, dessen wesentlicher Bestandteil die Fotografien sind. Im Folgenden wird auf die Bildästhetik der Ruine und die Industriefotografie, die in unserer Gesellschaft das typische Bild vom Unternehmen beeinflusst hat, eingegangen. Im Anschluss wird meine Herangehensweise und das aus Beobachtungen vor Ort und den Bildern der Insolvenz abgeleitete „Phasenmodell“ vorgestellt, das die Vorgänge im Raum während und infolge des Insolvenzprozesses beschreibt. Anmerkungen zu meiner Intention, den technischen Daten und der Präsentationsform der Bilder beschließen den schriftlichen Teil der Arbeit. Am Ende folgten der Bilderkatalog und Hinweise zu den fotografierten Unternehmen.
Zur Bildästhetik der Ruine Diderot schrieb 1788 den Satz: „Ich glaube, die Ruinen bewirken mehr als wohlerhaltene ganze Denkmäler. Sie haben etwas Drohendes, und die Hand der Zeit hat in das Moos, das solche Ruinen bedeckt, eine Menge großer Ideen und
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schwermütig-süßer Gefühle gestreut. Ich bewundere das unzerstörte Bauwerk; die Ruine macht mich schaudern; mein Herz ist bewegt, meine Einbildungskraft hat mehr Spielraum als sonst.“ (Zanker, 1999, http://www.kzu.ch/fach/as/aktuell/1999/ruinen/ruine.htm) Kunsthistorisch ist die Thematik des Verfalls – insbesondere der Ruine – ein immer wiederkehrendes Bildmotiv. Schon im 14. Jahrhundert entstehen bildliche Darstellungen der Ruinen des alten Roms. Die Symbolik der Ruine besteht darin, dass sie als erkennbares Relikt die Vergangenheit repräsentiert. Auch die Kunst der Renaissance wendet sich der Ruine zu: Die Künstler nutzen sie als Requisiten der Antike, deren Ideale und Gedanken sie bewundern. Die Ruine symbolisiert die vergangene Größe der Antike und lässt diese wieder aufleben. Die „Ruinen-Begeisterung“ fand im England des ausgehenden 18. Jahrhunderts vor allem in der Landschaftsgartenarchitektur ihren Höhepunkt. Einerseits war die Ruine traditionelles Vanitas-Symbol, welches den unerbittlichen Zahn der Zeit verkörperte. Andererseits diente sie als Trägerin historischer Assoziationen, als Monument nationaler Geschichte und pittoreskes Staffageobjekt des Landschaftsausblickes. (Buttlar 1989, S. 67) Wie unterschiedlich die Gründe der Ruinendarstellungen kunstgeschichtlich auch sein mögen, jeder Epoche gemein ist die existenzielle Bedeutung, die der Ruine zugeschrieben wird. Ob als Symbol oder Stimmungsträger, die Ruine verweist stets auf die Auflösung, aber sie stellt auch einen sinnlich erfahrbaren Zugang zur Vergangenheit her: „Die prekäre Balance der noch sichtbaren Formbestimmtheit und der noch nicht endgültigen Formauflösung der Ruinen prädestiniert sie dazu, zur stummen Zeichensprache der Geschichte zu werden. Die Ästhetik der Ruine ist dabei eine besondere Weise der Erfahrbarkeit von Zeit: Der Blick, der ein Trümmerfeld zu einer Ruinenlandschaft synthetisiert, ist der festgehaltene Augenblick zwischen einer unvergangenen Vergangenheit und einer schon gegenwärtigen Zukunft.“ (Böhme, 1989, S. 287-304) Auch die modernen Ruinen der Fotoserie konfrontieren den Betrachter mit der Formauflösung. In den von Insolvenz betroffenen Betrieben wird den Mitarbeitern – jedenfalls vorübergehend – ihre wirtschaftliche Existenz entzogen. Zugleich rufen die Innenansichten der zerfallenden Gebäude eine Ahnung davon wach, wie der Betrieb in seiner Blütezeit wohl ausgesehen haben mag.
Die Industriefotografie und unser Bild von Unternehmen Mit der Industrialisierung und dem fast gleichzeitigen Aufkommen der Fotografie in Deutschland bildete sich das Genre der Industriefotografie heraus. Die Bilder, die in Betrieben und Firmen in der Blütezeit der Industrialisierung und
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des „Wirtschaftswunders“ aufgenommen wurden, sollten dazu dienen, die Betriebsamkeit, den Erfolg, die Größe oder das Prestige eines Betriebes zu präsentieren. Die fast ausschließlich von Unternehmen in Auftrag gegebenen Fotografien, die häufig aufwendig inszeniert wurden, dienten somit der Selbstdarstellung. „Als Bildquellen zeigen sie zuallererst wie sich Unternehmen im Bild präsentiert sehen wollten und, welches Image sie sich gaben und durchsetzen wollten, nach außen wie nach innen.“ (Rahner,1999, S. 8)
So ist unser Bild von Wirtschaftsunternehmen zum größten Teil infolge der Eigenvermarktung von den Firmen selbst geprägt und in Umlauf gebracht worden, sofern wir nicht persönliche Erfahrungen durch eigene Mitarbeit oder durch Werksführungen gesammelt haben. Die Sujets Arbeitswelt mit ihren vielfältigen Bezügen zum Leben, Industrieanlagen und Architektur, Produktionsprozesse und Technik, Produkte und Arbeiter, Belegschaften und Unternehmer haben zahlreiche Fotografen fasziniert. Bei vielen konzentriert sich das fotografische Interesse ganz auf den Menschen. Bei anderen Fotografen stehen hingegen die Orte, die Räumlichkeiten des aktiven Wirtschaftgeschehens und der Produktion ganz im Mittelpunkt ihrer Arbeit. So sind Arbeitsprozesse, die Bedingungen der Arbeit und die Folgen von Arbeitslosigkeit vielfach mit der Kamera dokumentiert worden und von Unternehmen in Auftrag gegeben, als Reportage z.B. für ein Magazin oder als freie Arbeit entstanden. (Kosok, 2002, S. 9f.) Die auftragsgebundene Industriefotografie ist als Hintergrund der Serie „Insolvenz – Alles muss raus“ insofern von Bedeutung, da sie im bewussten oder unbewussten Kontrast zu den zum Mythos gewordenen Bildern von Arbeitswelt und Markt zu sehen sind. Ich zeige nicht die einem Firmenimage dienlichen Bilder eines florierenden Unternehmens, sondern setze meine Fotografien dem entgegen und gewähre einen Blick auf die Kehrseite der Marktwirtschaft. Das Abbilden wirtschaftlichen Misserfolges ist ein Tabu, denn mit der Insolvenz und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Ableben des Wirtschaftsbetriebes erlischt der Wunsch der Unternehmer, ihre Geschäftsräume zu präsentieren oder die Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer darzustellen. Das eigene, wirtschaftliche Scheitern wird fotografisch nicht mehr dokumentiert. Wo das Repräsentationsbedürfnis von Firmen aufhört, entfällt auch der Zwang fotografischer Auflagen. In dieser Bildserie muss ich mich nicht an von Unternehmern vorgegebenen Bildkonzepten (Außenaufnahme des Firmengeländes, betriebsamer Produktionsbereich, Mitarbeiterbilder oder Fotos der Belegschaft, Chefporträt am Schreibtisch, Maschinenpark, Produktfoto) orientieren. So konnte ich in dieser
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Arbeit ein eigenes Fotokonzept entwickeln und an den bildlichen Darstellungsmöglichkeiten der Insolvenz arbeiten.
Das Phasenmodell der Räume in der Insolvenz Im Laufe des Fotoprojektes kam immer wieder die Frage auf, wie der abstrakte Vorgang der Insolvenz überhaupt fotografisch sichtbar gemacht werden könne. Gibt es sichtbare Zeichen der Insolvenz in Betriebsräumen? Was muss in einem Raum an Möbeln oder Gegenständen vorhanden oder entfernt worden sein, damit der Betrachter der Bilder erkennt, ob dort noch gearbeitet wird oder ob die Arbeit endgültig eingestellt wurde? Kann man anhand eines Bildes erkennen, in welcher Phase der Insolvenz sich der Betrieb gerade befindet? Oder gibt es optische Gemeinsamkeiten in Räumen von Insolvenz betroffener Firmen? Ganz am Anfang des Projektes durchstreifte ich die Betriebsgelände noch etwas ziellos, denn ich wusste im Vorfeld nur sehr selten, was ich vorfinden würde. Bald war eine mögliche Systematik zur Darstellung der Insolvenz in Räumen erkennbar. Aus den Beobachtungen vor Ort und durch die spätere Analyse der Fotos entwickelte ich das „Phasenmodell der Räume in der Insolvenz“. So konnte ich planvoller vorgehen und den Motiven räumliche und zeitliche Phasen zuordnen. Dieses Modell diente mir somit als theoretische Fundierung und Hilfe bei der Erstellung und Klassifizierung der einzelnen Bilder. Durch dieses Hintergrundwissen konnte ich beim weiteren Fotografieren meinen Blick auf das Wesentliche konzentrieren. In den Betriebsräumen, Verkaufshallen und Fabrikhallen insolventer Firmen konnte ich diese zeitlichen und räumlichen Phasen häufig in der gleichen Reihenfolge erkennen, wobei sich verschiedene Phasen auch verschieben und überlagern können. Einigen Bildmotiven sind auch mehrere Phasen zuzuordnen.
Intakte, betriebsame Räume Um die Anzeichen einer Insolvenz in den Räumen zu erkennen, habe ich mir zunächst vergegenwärtigt, was der wirtschaftliche Niedergang, die Insolvenz in Räumen bewirkt. Ausgangspunkt der Betrachtung sind deshalb zunächst relativ intakte Räume, in denen noch gearbeitet wird. Die primäre Funktion der Gebäude und Räume – auch eines Betriebsraumes – besteht darin, den Mitarbeitern und Angestellten Schutz, Abgrenzung und Sicherheit zu bieten. Ob vor Witterung, den Blicken der Kollegen oder vor Einbruch: Ein Büroraum ist in erster Linie ein abgrenzender Schutzraum. Hinzu kommen weitere Charakteristika,
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sekundäre Merkmale: Den Räumen liegt immer eine planerische Bestimmung zugrunde. Sie sind z.B. Lager, Produktionshalle oder Umkleideraum. Allerdings kann die Nutzung von der Funktion abweichen, ein Büroraum kann beispielsweise als temporäres Lager genutzt werden. Je nach der geplanten Funktion des Raumes sind sie für bestimmte Personen mehr oder weniger zugänglich und öffentlich, so ist es beispielsweise nur dafür ausgebildeten Arbeitern erlaubt, einen Sicherheitsbereich zu betreten. Jeder Raum unterliegt einer individuellen Ordnung und kann oft selbst wieder in mehrere Raumabschnitte unterteilt werden (Essecke, Sitzgruppe, Arbeitsbereich). Andererseits sind Räume auch Orte sozialer Kontakte, wie z.B. die Kantine.
Phase 0: Die „unberührt“ funktionslosen Räume Hierbei handelt es sich um noch nicht bezogene Gebäude, die beinahe oder komplett fertig gestellt wurden, bevor deren Betreiberfirmen Insolvenz anmelden mussten. Es sind vom Menschen noch ungenutzte Räume, ohne vorhandene Gebrauchsspuren. Sie stehen oftmals für ungewisse Zeit leer, bis eine neue, womöglich andere Funktion als ihre ursprünglich geplante feststeht. (Abb. 6)
Phase 1: Der Verlust der sozialen und wirtschaftlichen Funktion der Räume In der Krise eines Betriebes werden die Mitarbeiter häufig aus Kostengründen entlassen. Ist eine Firma wirtschaftlich nicht mehr effektiv und somit nicht mehr zu retten, wird schließlich auch dem letzten Arbeitnehmer gekündigt. Mit dem Wegbleiben der Menschen findet in den Räumen keine wirtschaftliche Produktion mehr statt, und sie können nicht mehr als Ort des sozialen Kontaktes, der menschlichen Interaktion fungieren. Je weiter die Insolvenz voranschreitet, desto weniger Menschen halten sich in den Arbeitsräumen und Produktionsstätten auf. (Abb. 10, 13, 14)
Phase 2: Die Konzentrierung der Gegenstände in den Räumen Vor der Versteigerung werden die Fabrikhallen aufgeräumt. Das noch brauchbare Inventar wird zusammengestellt und häufig mit rot-weißem Absperrband zusammengeschnürt, um beispielsweise alle Computer als einen Posten zu versteigern. Ähnlich verhält es sich bei Räumungsverkäufen: Hier werden oft Waren aus den unterschiedlichsten Bereichen auf engstem Raum veräußert. Diese
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Pakete sind nach ihrem Gebrauchswert sortiert und entstehen nach einer Systematik, z.B. Bürostühle oder Monitore. An einer Stelle des Raumes werden alle Gegenstände einer bestimmten Kategorie konzentriert und zu „InsolvenzmassePaketen“ komprimiert. Sie bilden nun neue, eigenständige Raumeinheiten. Die einst gebrauchsorientierte Verteilung der Möbel und Maschinen im Raum ist aufgehoben. (Abb. 8, 9)
Phase 3: Der Verlust der Beziehungen der Gegenstände in den Räumen Durch das Zusammenstellen der Gegenstände zu Einheiten in Räumen verlieren die Arbeitsmittel und Möbel ihre Beziehungen zueinander. Der Bürostuhl steht nun nicht mehr bei seinem Schreibtisch. Ohne den Tisch behält der Stuhl zwar noch seine Qualität als Sitzmöbel, aber als Arbeitsmittel wird er unbrauchbar, da er nur in Verbindung mit dem Tisch einen kompletten Arbeitsplatz bildet. Manchmal entstehen Zusammenstellungen von Gegenständen, die nie in einem Bezug zueinander gestanden haben. (Abb. 1, 5, 10) Hinzu kommt, dass hin und wieder nichtzusammengehörige Gegenstände in „Versteigerungspaketen“ gepackt werden. Aufgrund fehlenden Fachwissens der Mitarbeiter der Versteigerungsfirma wird bisweilen eine korrekte Zuordnung z. B. einzelner Maschinenteile zueinander nicht gewährleistet. Fälschlicherweise wird angenommen, Unpassendes würde zusammen eine sinnvolle Einheit bilden.
Phase 4: Der Verlust der Orientierung in den Räumen Durch die fehlende oder nur unvollständige Möblierung in den sich auflösenden Räumen geht die gewohnte Orientierung verloren. Besucher können sich nicht mehr auf die ursprüngliche Ordnung der Räume verlassen. Ein intakter Raum besitzt oft Abschnitte, die nicht von jedem betreten werden dürfen, beispielsweise der Bereich hinter einem Verkaufstresen oder ein abgesperrter Sicherheitsbereich in einer Fabrikhalle. In einem von Insolvenz betroffenen Raum aber herrschen keine Hierarchien und Trennungen mehr zwischen den verschiedenen Raumbereichen. (Abb. 1)
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Phase 5: Die Entwertung der Räume Insolvenzversteigerungen vermitteln oftmals den Eindruck eines „Ausschlachtens“ der Räume, das erst dann endet, wenn übrig bleibt, was niemand mehr haben will. Wenn beschlossen wurde, das betroffene Gebäude nach der Abwicklung abzureißen, werden Wände eingerissen, um die noch brauchbaren Maschinen einfacher demontieren zu können. Diese Räume werden zur bloßen Hülle, die wie bei einer Nuss entfernt werden, um zum eigentlich verwertbaren Kern vorzudringen. Dadurch werden baulich noch intakte Räume entwertet, sie scheinen nur noch ein Hindernis bei der Abwicklung des verwertbaren Inventars zu sein. Für dieses Inventar gilt allerdings Ähnliches: Es kann in zwei Kategorien aufgeteilt werden, verwertbar und wertlos. Wertlos sind Dinge immer dann, wenn der Bergungsaufwand zu hoch und die Bergung damit betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll ist. Was nicht einmal ideellen Wert besitzt, wie etwa persönliche Fotografien oder Andenken, bleibt zurück. Dinge, für die sich niemand mehr interessiert, sind z.B. Schreibtische, Stühle, Lampen, Pflanzen, Poster und Kalender. (Abb. 5, 16, 17)
Phase 6: Der Verlust der Funktion der Räume Die ursprüngliche Funktion eines Raumes ist verloren gegangen. Die Räume befinden sich in einem Übergangsstatus zu einem neuen Abschnitt: Restaurierung, Umnutzung oder Abriss. Welche Funktion sie einmal innehatten, ist anhand von Spuren noch nachvollziehbar. In einer Fabrikhalle sind die Spuren von Betriebsamkeit in den teilweise oder ganz entleerten Räumen zu erkennen: Man sieht, dass dort tonnenschwere Maschinen standen, und erkennt auf dem Boden die schwarzen Verfärbungen von ausgelaufenem Öl. Andere Anzeichen – z. B. nicht fertig gestellte Werkstücke – verweisen auf die Arbeit der Menschen und teilweise auch auf den plötzlichen Abbruch der Arbeit. In einigen Bildern sind die Zeichen subtiler: Etwas ist umgekippt, was man normalerweise wieder aufrichten würde, wenn es den regulären Arbeitsbetrieb noch gäbe. Es fehlen Bilder an der Wand des Chefbüros, deren helle Spuren man auf den vergilbten Tapeten noch erkennen kann. (Abb. 14, 19)
Phase 7: Der Verlust der Öffentlichkeit in den Räumen Im Laufe des Insolvenzprozesses vollzieht sich ein Wandel vom zugänglichen, vom Menschen belebten Raum hin zum menschenleeren Raum. Anhand vieler
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Spuren erkennt man, dass die Räume vom Menschen lange Zeit nicht mehr betreten wurden. Der bemooste Boden eines Arbeitsraumes oder ein versperrter Eingang sind Indizien dafür. Die Anzahl der Menschen in den Räumen nimmt stetig ab. Zuvor gab es noch regelmäßig Mitarbeiter, Kundschaft, Kuriere, die in den Arbeitsräumen verkehrten. Mit der Insolvenz verringert sich die Bandbreite der Personengruppen: Bei den öffentlichen Versteigerungen betreten nur noch diejenigen Menschen den Betrieb, die beispielsweise am Kauf von Inventar oder speziellen Maschinen interessiert sind. Der Insolvenzverwalter, Angestellte von Versteigerungs- und Transportunternehmen, Techniker zur Demontage der Maschinen und schließlich die Wachmannschaften oder der Hausmeister sind die letzten Personen, die die Räume insolventer Firmen betreten. (Abb. 4, 7)
Phase 8: Der Verlust der primären Schutzfunktion der Räume Die von intakten Räumen ausgehende Sicherheit verliert sich in den verwüsteten, verfallenen Räumen, die ihren Schutzcharakter nicht mehr erfüllen können. In dieser Phase wird die Rekonstruktion von Spuren oft zur Mutmaßung. Maschinen, Arbeitsgeräte oder Computer, die einem speziellen Raum eine Funktion verliehen, werden selbst zum Gegenstand des Verfalls. Die ursprüngliche Funktion mancher Räume lässt sich nur noch mit einem Bauplan oder Erfahrungsbericht belegen. Da niemand mehr für die Sicherheit und Instandsetzung der Gebäude verantwortlich ist, werden die Räume beim Betreten möglicherweise zur Bedrohung für den Menschen. So werden diese Orte zu verbotenen und gefährlichen Orten. Dieser Übergang vom renovierungsbedürftigen Raum zu einem ruinösen Gebäude ist fließend. (Abb. 11, 15)
Intention, Methode, technische Daten und Präsentation Die fotografische Dokumentation der abgewickelten Firmen erforderte oftmals eine Gratwanderung zwischen der Darstellung des wirtschaftlichen Niedergangs und der Verwüstung einerseits und der Wahrung der „Würde“ dieser Orte und vor allem der betroffenen Menschen andererseits. Meine Intention ist es, ein verborgenes und verdrängtes Bild der Arbeitswelt sichtbar zu machen und abzubilden: die Folgen der Verdrängung des wirtschaftlich Schwächeren durch den wirtschaftlich Stärkeren vom Markt. Zudem ist es oft ein letztes Bild des insolventen Unternehmens, da einige der fotografierten Betriebsgebäude kurze Zeit später abgerissen wurden und heute nicht
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mehr existieren. Die Bilder symbolisieren so den Abschied von einem Lebenswerk und ebenfalls den ganz persönlichen Arbeitsplatzverlust zahlreicher Beschäftigter. Doch ich versuchte in der 36 Fotos umfassenden Serie, dem emotional aufgeladenen Thema des wirtschaftlichen Niedergangs zurückhaltend und sachlich zu begegnen, um propagandistische Tendenzen in den Bildern auszuschließen. Ich wählte eine strenge und nüchterne Form der Fotografie der insolventen Betriebe, um die bedrückende Tatsache zu verdeutlichen, dass Firmenpleiten und die sozialen Folgen im heutigen Zeitalter der Modernisierung und Globalisierung zum Alltag geworden sind. Ob große Raumansichten oder Details in den Räumen: Die Kamera ist stets gerade auf das abgebildete Motiv ausgerichtet, um Klarheit und Stille im Bild zu erzeugen. Die Serie wurde im Format 6 cm x 7 cm auf Farbnegativmaterial (Kodak Portra 160/400 VC) überwiegend vom Stativ fotografiert. Wobei ich vor Ort nicht inszeniert habe, sondern vorgefundene Szenerien mit der Kamera dokumentiert habe. Ich empfinde diese Serie in der Tradition der abbildenden Fotografie, die „den Nachweis für das Da-Sein der Dinge liefert und ihre Spuren mit historischem Gespür sichert“. (Jäger 1988/1990, S. 158) Bei der Anordnung der Fotos beispielsweise im Buch oder einer Ausstellung durchbreche ich den beschriebenen räumlichen und zeitlichen Phasenablauf der Insolvenz ganz bewusst. Durch eine nicht chronologische Präsentation der Bilder entstehen Kontraste und überraschende Gegenüberstellungen. „Ernsthaftere“ Motive sollen sich mit „grotesken“ Motiven abwechseln. Die industriellen Ruinen werden mit modernen Raumansichten durchmischt, so wird die Aktualität des Themas „Insolvenz“ unterstrichen. Die theoretische Auseinandersetzung mit den Geschehnissen im Raum während der Insolvenz, die ich in zeitliche und räumliche Phasen geteilt habe, war für die fotografische Umsetzung eine notwendige Basis, um auf diese Art und Weise die Insolvenz bildlich darstellbar machen zu können. Allerdings möchte ich betonen, dass das „Phasensystem“ als mein „praktisches Arbeitsinstrument“ zu sehen ist und die Bilder der Hauptbestandteil der Arbeit sind. Das „Phasensystem“ soll dem Betrachter als Hintergrundinformation dienen, doch es wäre wünschenswert, dass die Fotoserie auch unabhängig von der Kenntnis dieses Theorieteils verstanden wird. Jeder soll seine eigenen Vorstellungen zu den Bildern entwickeln.
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Bildkatalog
Abbildung 1: Halle, Hagenuk
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Abbildung 2: Pausenraum, Nordische Stahlwerke Bach
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Abbildung 3: Kartons im Flur, Maschinenfabrik Koch
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Abbildung 4: Büro, Hagenuk
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Abbildung 5: Büro/Labor, Nordische Stahlwerke Bach
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Abbildung 6: Vivo!
Abbildung 7: Spreewald Park
Abbildung 8: Kanine, Hagenuk
Abbildung 9: Druckerei Schwarzdruck
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Abbildung 10: Verkaufshalle, Möbel Meyn
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Abbildung 11: Produktionshalle, Zementfabrik Alsen
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Abbildung 12: Umkleideraum, Hagenuk
Abbildung 13: Verkaufshalle 2, Möbel Meyn
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Abbildung 14: Cargolifter
Abbildung 15: Betriebsgelände, Zementfabrik
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Abbildung 16: Produktionshalle, Nordische Stahlwerke Boch
Abbildung 17: Verkaufshalle 3, Möbel Meyn
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Abbildung 18: Spreewald, Freizeitpark
Abbildung 19: Produktionshalle, Hagenuk
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Fotografierte Firmen, Orte, Insolvenzdaten: CargoLifter GmbH, Luftschiffbau, Brand, Insolvenzdatum 01.08.2002 Hagenuk GmbH, Telekommunikation, Kiel, mehrere Insolvenzen von 1997 bis 2003 Klinik am See, Waren, Insolvenzdatum unbekannt Kulturhalle, Zinnowitz, Insolvenzdatum unbekannt Maschinenfabrik Koch, Kiel, Insolvenz im November 2002 Möbel Meyn GmbH, Neu Wulmstorf, Insolvenzdatum 01.10.2003 Nordische Stahlwerke Bach, Neumünster, Insolvenzdatum 01.06.2001 Schwarz Druck, Druckerei, Raisdorf, Insolvenzdatum 01.10.2003 Spreepark GmbH, Vergnügungspark, Berlin, Insolvenzdatum 25.06.2002 Vivo! Ökologisches Einkaufszentrum, Hamburg, Insolvenz 2003 Zementfabrik Alsen, Itzehoe, seit 1982 stillgelegt Literatur Böhme, Hartmut (1989): Die Ästhetik der Ruinen. D. Kamper/Chr. Wulf (Hrsg.): Der Schein des Schönen. Göttingen Buttlar, Adrian (1989): Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Erweiterte Neuauflage. Köln, DuMont Buchverlag. Jäger, Gottfried (1965–1990): Fotoästhetik – Zur Theorie der Fotografie. München, Verlag Laterna Magica. Kosok, Lisa (2002): Industriefotografie. Peter Keetman Preis. Katalog Museum der Arbeit. Hamburg, edition Braus. Rahner, Stefan (1999): Industrie und Fotografie. Sammlungen in Hamburger Unternehmensarchiven. Katalog Museum der Arbeit. München, Dölling und Galitz Verlag. Zanker, Paul (1999): Die Ruine – Vom Baumaterial zur Erzeugung starker Gefühle – Die römische Ruinen und ihre Betrachter, Neue Züricher Zeitung, Literatur und Kunst http://www.kzu.ch/fach/as/aktuell/1999/ruinen/ruine.htm, 02.05.2005
Die Autorinnen und Autoren
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Die Autorinnen und Autoren
Pieter De Vos studierte in sieben Semestern Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians Universität München und der University of Southampton/ Großbritannien. Aufbauend auf VWL studiert er seit Oktober 2004 Statistik an der LMU München. Doris Ruth Eikhof (Jahrgang 1976) ist Lecturer in Organization Studies an der University of Stirling und Research Associate am Interdisziplinären Arbeitsbereich für Verhaltensorientiertes Management der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Wandel von Arbeits-, Organisations- und Beschäftigungsformen, Creative Industries, Work life-boundaries sowie Organisationen und Lebensstil. Von 2001 bis 2006 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Personalwirtschaftslehre der Universität Hamburg; 2005 forschte sie außerdem als Marie Curie Research Fellow am Arbeitsbereich Nonprofit Management der Wirtschaftsuniversität Wien. Christin-Melanie Fuchs (Jahrgang 1978) ist Diplompsychologin mit der Zusatzqualifikation „Internationale Handlungskompetenz“ und hat in Regensburg und São Paulo (Brasilien) studiert. Sie promoviert zurzeit an der Victoria University of Wellington (Neuseeland) im Bereich der interkulturellen Psychologie. Dr. Claudia Gerhardt (Jahrgang 1973) hat Psychologie und Germanistik an der Universität Trier und der University of Stirling, Schottland, studiert. Nach dem Diplom arbeitete sie als Redakteurin der Fachzeitschrift „Wirtschaftspsychologie aktuell“ sowie als freie Trainerin. 2005 beendete sie ihre von der Stiftung der Deutschen Wirtschaft unterstützte Promotion an der Universität Trier am Lehrstuhl für Angewandte und Pädagogische Psychologie. Seither ist sie im Referat der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der VolkswagenStiftung tätig. Tim Lohse hat Volkswirtschaftslehre an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der Universität Hannover sowie der Università Commerciale Luigi Bocconi in Mailand/Italien studiert. Seit Anfang 2004 ist er Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliche Finanzen der Universität Hannover.
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Die Autorinnen und Autoren
Jana Lucas, M. A., studierte in Leipzig und Bologna Kunstgeschichte, Philosophie und Kommunikations- und Medienwissenschaft. Susanne Ludwig hat Kommunikationsdesign an der Muthesius Hochschule in Kiel studiert. In der Fachklasse für Fotografie bei Prof. Dirk Reinartz absolvierte sie im Januar 2004 ihr Fotografie-Diplom. Seit Februar 2006 lebt und arbeitet die Fotografin in Hamburg. Christiane Mück (Jahrgang 1977) hat in Bamberg, Vallendar, Tokio und Lyon Betriebswirtschaftslehre studiert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Strategisches Management der Wissenschaftlichen Hochschule für Unternehmensführung (WHU) in Vallendar und in der Abteilung Hochschulforschung/Hochschulfinanzierung der Hochschul-Informations-System GmbH (HIS) in Hannover. Aktuell arbeitet sie an der Humboldt-Universität zu Berlin im Bereich Strategische Entwicklung und Planung. Sie ist zudem externe Doktorandin am Arbeitsbereich Weiterbildung und Bildungsmanagement der Carlvon-Ossietzky-Universität Oldenburg und schreibt an einer Arbeit zur „Positionierung von Hochschulen durch Weiterbildungsangebote“. Karen Mühlenbein (Jahrgang 1978) hat in Vallendar, Pittsburgh und Bilbao Betriebswirtschaftslehre studiert. Ihre Doktorarbeit hat sie im Arbeitsbereich Public Management der Universität Hamburg zum Thema „Fehlsteuerung von Hochschulreform“ geschrieben. Sie arbeitet als Unternehmensberaterin für McKinsey&Company in Düsseldorf. Dr. Heike Opitz (Jahrgang 1975) hat in Bonn und Hamburg Rechtswissenschaft studiert. 2000 legte sie das erste juristische Staatsexamen ab und promovierte 2004 über die Rahmenbedingungen von Teilzeitarbeit in Deutschland und in den Niederlanden. Zu Forschungszwecken verbrachte sie im Jahr 2002 drei Monate an der Universität Utrecht. 2005 schloss sie ihr zweites juristisches Staatsexamen ab. Seit Juni 2003 ist sie Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und Fachsprecherin ihrer Fraktion für Wissenschafts- und Forschungspolitik. Dr. Elke Schröder (Jahrgang 1974) arbeitet seit ihrem Diplom in Psychologie im Jahr 2000 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und im Center for Applied Developmental Science (CADS) der Universität Jena. Ihr Forschungsinteresse liegt in den Bereichen Personalentwicklung und Personalauswahl, Intervention und Evaluation sowie in der beruflichen Entwicklung über die Lebensspanne. Im Jahr 2003 beendete sie
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erfolgreich eine Zusatzausbildung zur Trainerin im Sozialpsychologischen Training. Im Jahr darauf hat sie ihre Dissertation zum Thema „Berufliche Selbstständigkeit als Ziel: Entwicklung und Evaluation eines Life-skills basierten Trainingsprogramms“ abgeschlossen und wurde 2005 promoviert. Heiner Schumacher hat Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians Universität München und der Universität Carlos III de Madrid/Spanien sowie Mathematik an der Fernuniversität Hagen studiert. Seit Anfang 2004 ist er Doktorand am „Center for Doctoral Studies in Economics and Management“ der Universität Mannheim und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie. Susanne Strauß hat Psychologie an der Universität Hamburg und Sozialpsychologie an der London School of Economics and Political Science (LSE) studiert. In ihrer Abschlussarbeit hat sie sich mit der Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Identität von Frauen in Ost- und Westdeutschland beschäftigt. Seit Oktober 2003 promoviert sie in Soziologie an der Graduate School of Social Sciences (GSSS) der Universität Bremen zur Bedeutung von ehrenamtlichem Engagement für die soziale Integration von Arbeitslosen in Deutschland und Großbritannien. Karen Ullmann hat am Fachbereich 17, der reformierten Jurist/innenausbildung in Hamburg, Jura studiert. Seit 2002 ist sie Rechtsanwältin und arbeitet ebenfalls seit 2002 als wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt „REGAM“ (Regulierung des Arbeitsmarktes) des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. REGAM ist ein interdisziplinäres Projekt unter der Leitung von Prof. Dr. Heide Pfarr, der wissenschaftlichen Direktorin des WSI, welches sich mit den Arbeitsmarktwirkungen arbeitsrechtlicher Regelungen beschäftigt. Till Westermayer (Jahrgang 1975) hat in Freiburg i. Br. Soziologie, Informatik und Psychologie studiert und sein Studium mit einer Magisterarbeit zum Virtuellen Parteitag von Bündnis 90/Die Grünen Baden-Württemberg abgeschlossen. Seit April 2002 ist er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Forstbenutzung und Forstliche Arbeitswissenschaft der Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg tätig, derzeit in einem Projekt zu Geschlechterverhältnissen in Forstverwaltungen. Anne-Kathrin Winkler, M. A., studierte in Leipzig und Paris Kulturwissenschaften, Kunstgeschichte, ferner Theaterwissenschaften und Geschichte.