Mit dir allein... Meagan McKinney Nur widerwillig fügen die hübsche Journalistin Jacquelyn und der Rancher A.J. sich dem...
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Mit dir allein... Meagan McKinney Nur widerwillig fügen die hübsche Journalistin Jacquelyn und der Rancher A.J. sich dem Willen der „Grand Lady" des Städtchens: Hazel möchte, dass Jacquelyn unter der Führung von A.J. zu der legendären Blockhütte der McCallums wandert. Dann erst kann Jacquelyn einen Bericht über die McCallums schreiben. Dass zwischen ihr und A.J. vom ersten Moment an die Situation gespannt ist, macht den Trip ziemlich schwierig. Aber fünf Tage voller Gefahren reichen, um Jacquelyn eine ganz neue Seite des Cowboys zu zeigen. Und als sie in der Blockhütte ankommen, ist es die natürlichste Sache der Welt, dass sie sich leidenschaftlich lieben...
1. KAPITEL „Jacquelyn, es ist früh am Montagmorgen, und hier spricht Hazel McCallum. Ich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte. Bei Ihrem letzten Besuch kamen wir während Ihres Interviews über Jake ein wenig vom Thema ab. Es wäre wohl besser, wenn wir uns noch einmal bei mir zu Hause treffen. Rufen Sie mich an, sobald es Ihnen passt, damit wir einen Termin vereinbaren können." Jacquelyn Rousseaux drückte die Rückspultaste ihres Anrufbeantworters und spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. „Letztes Mal kamen wir ein wenig vom Thema ab." Du liebe Zeit, was für eine höfliche Untertreibung! Jacquelyn war ihre für sie untypische mangelnde Zurückhaltung noch immer peinlich. In Atlanta erfuhren sogar die Menschen, die sie seit Jahren kannte, nur wenig über ihr Privatleben. Doch sobald sie und Hazel angefangen hatten, über das Leben im Allgemeinen und ihre Hoffnungen und Träume zu sprechen, hatte sie sich der älteren Frau, die praktisch eine Fremde war, vollkommen geöffnet. Die persönlichsten Dinge waren aus ihr herausgesprudelt, als müsste sie sich das alles endlich einmal von der Seele reden. Sie verdrängte diese unerfreuliche Erinnerung und warf einen Blick auf die alte Standuhr in der Ecke, die in der Redaktion der „Mystery Gazette" seit 1890 nahezu exakt die Zeit anzeigte. Es war fast zehn Uhr vormittags. Jacquelyn rief Hazel an und vereinbarte rasch einen Termin für ein Uhr mit der „Herrscherin über Mystery" - die Stadt, nicht die Zeitung -, wie Jacquelyn die berühmte Rinderbaronin heimlich getauft hatte. Als sie sanft versuchte, mehr über die „etwas ungewöhnliche Bitte" zu erfahren, sagte die kluge alte Lady nur: „Das werden Sie schon noch früh genug erfahren." Eine freundliche Frau mittleren Alters in einem beigefarbenen Ho senanzug trat aus der Plexiglaskabine im vorderen Teil der Redaktion. Die Chefredakteurin, Bonnie Lofton, hielt einen Stahlstichel in der einen und eine Schablone in der anderen Hand. Die „Gazette" war eine der letzten Wochenzeitungen im Land, deren Layout nicht aus dem Computer stammte. Bonnie machte das Layout jeder Druckseite per Hand, um der Zeitung ein Aussehen „wie in alten Zeiten" zu geben, ganz im Sinne der bevorstehenden 150-Jahr-Feier von Mystery. „Guten Morgen, Jacquelyn", begrüßte Bonnie ihr Redaktionsmitglied für den Sommer. „War das Hazels Stimme, die ich gerade gehört habe?" „Ganz recht. Ich habe gleich zurückgerufen. Sie will sich noch einmal mit mir treffen. Den Grund dafür wollte sie mir allerdings nicht verraten." „Das ist typisch Hazel. Manchmal ist sie selbst das Mysteriöseste an Mystery. Sie hat ein so großes Herz, dass sie niemals jemanden in diesem Tal hungern oder frieren lassen würde. Aber sie ist der Boss, und sie erwartet, dass jeder das weiß." „Ich hoffe, es handelt sich nicht um ein Problem wegen des letzten Artikels, den ich geschrieben habe", meinte Jacquelyn besorgt. „Ich habe sämtliche Zitate und Fakten gründlich geprüft." Bonnie winkte ab. „Unsinn! Soll das ein Witz sein? Du bist die beste Dokumentarjournalistin, die wir je unterbezahlt haben. Ich gehe jede Wette ein, dass deine Serie über Jake McCallum noch einen Preis gewinnen wird. Du hast dein Journalismusstudium noch keine drei Jahre hinter dir und schreibst schon wie ein Profi aus den Nachrichtenagenturen. " „Ja, klar. Das sagst du bestimmt zu allen Kindern vom Chef." Bonnie wedelte mit der Schablone. „Dein Vater ist nicht der Chef, Kleines, sondern ich. Er ist durch eine Fusion zufällig der Besitzer dieser und ein Dutzend anderer Zeitungen, die er wahrscheinlich niemals liest. Ich brauche weder vor ihm noch vor seinen Kindern zu buckeln. Aber sieh den Tatsachen ins Auge - du brauchtest nicht hierher zu kommen und für uns zu arbeiten. Trotzdem hast du bewiesen, dass du inzwischen eine gute Journalistin bist. Du hast wirklich Talent, und Talent ist etwas, was man mit Geld nicht kaufen kann." Jacquelyn lächelte. Bonnies bestimmte, aber freundliche Worte freuten sie. Wie viele Einheimische in Montana, die Jacquelyn während ihrer Sommeraufenthalte in Mystery kennen gelernt hatte, war
Bonnie zurückhaltender und verschlossener als die Menschen in Atlanta. Komplimente waren übliche verbale Rituale im Süden; im Westen hingegen musste man sie sich verdienen und schätzte sie dementsprechend. Aber Talent, dachte Jacquelyn mit einem leichten Anflug von Verzweiflung, ist nur ein Teil einer Persönlichkeit. Sie hatte feststellen müssen, dass gutes Aussehen, Bildung und die richtige Erziehung nicht ausreichten, um im Leben und in der Liebe Glück zu haben. Joes grausame Worte an jenem trüben Tag in Atlanta kamen ihr wieder in den Sinn: „Es tut mir Leid, Jackie, aber es ist nicht meine Schuld, dass du ein Eisblock bist. Gina ist alles, was du anscheinend nicht sein kannst." Mit zwei kurzen Sätzen hatte ihr Verlobter sie wegen der Frau verlassen, der sie am meisten vertraut hatte. Plötzlich spürte sie ein heißes Flimmern hinter ihren Augenlidern. Einen Moment lang glaubte sie schon, sie würde die Beherrschung verlieren und vor ihrer Chefredakteurin in Tränen ausbrechen. Mit allergrößter Anstrengung gelang es ihr, stattdessen ein strahlendes Lächeln aufzusetzen. „Nun, ob talentiert oder nicht, die 150-Jahr-Feier ist Hazels Herzensangelegenheit. Die letzte Story, die ich über ihren Urgroßvater geschrieben habe, wurde irgendwo auf dem Land gedruckt. Dort bekamen sie einige Daten durcheinander. Hazel war völlig aufgebracht." Bonnie verzog reumütig das Gesicht. „Ic h kann verstehen, weshalb sie wegen ihres Familiennamens so empfindlich ist. Schließlich wird er mit ihr aussterben. Deswegen ist ihr so sehr an einer exakten Dokumentation gelegen." „Die letzte McCallum", meinte Jacquelyn leise. „Ich habe vor der Frage nach dem Warum gekniffen. Ich weiß ja, dass ihr Mann bei einem Autounfall in der Nähe von Lewistown ums Leben kam, als sie noch jung war. Aber wieso hat sie nie wieder geheiratet?" Bonnie lächelte. „Du magst zwar schlau und hübsch sein, aber Ha zel McCallums Wesen hast du noch nicht durchschaut. Je rauer die Leute im Westen sind, desto tiefer empfinden sie. Für eine Frau wie Hazel gibt es nur einmal die wahre Liebe." Bonnie hatte lediglich erklären, nicht verletzen wollen. Doch Jacquelyn brachte Bonnies Bemerkung zwangsläufig mit den noch nicht lange zurückliegenden Ereignissen in Atlanta in Zusammenhang. Natür lich besitzt du Verstand und gutes Aussehen, sagte sie sich. Nur bist du leider eine Eisprinzessin, und dein Verlobter hat dich für deine beste Freundin sitzen lassen. Bonnie schien Jacquelyns Traurigkeit zu bemerken. „Manchmal plappere ich wirklich gedankenlos vor mich hin", entschuldigte sie sich und berührte mitfühlend Jacquelyns Schulter. „Tut mir Leid. Hör mal, ich habe meine gesamte Arbeit jetzt aufgeholt. Hast du Lust, Kaffee zu trinken und ein wenig zu plaudern?" Im Grunde ihres Herzens freute Jacquelyn sich über Bonnies Versuch, Freundschaft zu schließen, denn ein Teil ihres Ichs wollte die Eisschichten so gern durchbrechen. Aber dieser Teil ihres Ichs war einfach nicht stark genug. Joe und Gina hatten sie zu tief verletzt. Die einzige Möglichkeit für Jacquelyn, mit diesem Trauma umzugehen, war, sich innerlich mit einem Panzer zu umgeben. Auf diese Weise war das Trauma zwar verdrängt, blieb jedoch völlig unbewältigt. Das war genau die Art, mit den Dingen fertig zu werden, die Stephanie Rousseaux ihrer Tochter beigebracht hatte. Mit dieser Methode hatte sie selbst eine lieblose Ehe mit Jacquelyns gefühllosem, hyperkritischem Vater ertragen. Daher widerstand Jacquelyns Überlebensinstinkt Bonnies Herzlichkeit, auch wenn sie sich im Grunde darüber freute. „Danke, Bonnie, aber lieber nicht. Wenn ich die nächste Fortsetzung bis zum Redaktionsschluss am Mittwoch noch schaffen will, muss ich mich an die Arbeit machen." „Na schön. Aber mein Angebot steht." Bonnie musterte sie mit einiger Besorgnis und fügte hinzu: „Als ich jung war, arbeitete mein Grandpa für Jake McCallum auf der Lazy-M-Ranch. Jeder Mann, der für Jake ritt, kannte das Lieblingszitat des alten Mannes: ,Die beste Methode, um ein Geschwür zu heilen, ist, es aufzustechen."` „Na schön, A.J.", meinte Hazel. „Dann sehe ich dich um, sagen wir, zwei Uhr bei mir? Gut. Auf euch Clayburn-Männer kann ich mich immer verlassen, was? Es wird auch nicht lange dauern." Hazel benutzte noch immer am liebsten ihr schweres schwarzes Telefon aus den Fünfzigern, obwohl sie auch ein Handy hatte. Sie legte den Hörer auf die Gabel, und ein entschlossenes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. Noch ganz in Gedanken versunken, schlenderte sie zum großen Er kerfenster in der nördlichen Wand des Wohnzimmers. Mit fünfundsiebzig betrachtete sie sich selbst noch als jung. Jeden Morgen stand sie auf, nahm die langen weißen Haare im Nacken zu einem Knoten zusammen und machte sich daran, die riesige Ranch von Jakes Schreibtisch aus zu leiten. Sie war außerdem auch noch
körperlich sehr aktiv, obwohl durch die vielen Winter auf dem Land ihre „Gelenke ein wenig eingerostet" waren, wie sie oft sagte, um sich die Arthritis nicht einzugestehen. In ihr steckte noch viel Leben, das sie auskosten wollte. Dennoch ... Sie blieb am Erkerfenster stehen und schob die Gardinen auseinander, um hinauszusehen. Über den Weiden mit dem gewendeten Heu trieben Wolkenfetzen am strahlend blauen Vormittagshimmel. Auf den tieferen Berghängen wuchsen Koniferen und Ahornbäume. Weiter oben waren die Hänge nur noch spärlich bewaldet, und die Gipfel waren mit Schnee bedeckt. Bei dieser vertrauten, aber immer noch atemberaubenden Aussicht dachte Hazel an ihre Unterhaltung mit Jacquelyn Rousseaux während ihres Interviews. Die junge Frau hatte ihr anvertraut, dass sie verletzt und betrogen worden war und dadurch zutiefst desillusioniert war. Sie war fest davon überzeugt, dass ihr die Liebe dauerhaft verwehrt bleiben würde. Das alles hatte Hazel gesehen, als Jacquelyn sich ihr letzte Woche anvertraut hatte. Doch Hazel hatte ebenfalls erkannt, wie verzweifelt sich die junge Frau danach sehnte, erneut an die alten Ideale der Liebe, an die Männer und das Leben glauben zu können. Zu diesem Zweck - unter anderem - hatte Hazel einen Plan entworfen. Mehr als alles andere wollte sie, dass Mystery weiterhin die Stadt blieb, die sie war. Der Rodeostar und enge Freund der Familie, A.J. Clayburn, war genau das, was sie brauchte. Er war schon viel zu lange Junggeselle. Es wurde Zeit, dass er heiratete und eine Familie gründete. Hazel wusste nur zu gut, wieso das Herz des Cowboys aus Eis war, und als Jacquelyn Rousseaux sich ihr während des Interviews geöffnet hatte, war ihr klar geworden, dass es an der Zeit war, das Herz des Cowboys zum Schmelzen zu bringen. Sie hatte dagesessen und die kühle, platinblonde Schönheit betrachtet, die genau die Richtige für diese Aufgabe war. Der Zeitpunkt war gut. Hazel würde nicht jünger oder vitaler werden. Sie musste sich den harten Tatsachen stellen: Sie war die letzte McCallum, und sie würde niemanden zurücklassen. Nur eines konnte verhindern, dass Mystery durch den Zustrom rücksichtsloser Investoren und Außenstehender wie Jacquelyns Vater, dem Stadtplaner Eric Rousseaux, vernichtet wurde: Neues Blut musste vorsichtig und leidenschaftlich mit altem vermischt werden. Hazel hatte sich vorgenommen, aus den Familien, die sich dem Ort bereits verpflichtet fühlten, neue zu bilden. Daher hatte sie ein Liste der guten Leute aus Mystery angefertigt, die heiraten mussten. Obwohl sie längst über das Rentenalter hinaus war, begann Hazel, die Herrscherin über alles Land, so weit das Auge reichte, eine zweite Karriere - und zwar als Ehestifterin. Und einer ihrer ersten Kandidaten war niemand anderes als die gepeinigte Blonde, die für die Zeitung der Stadt schrieb. Trotzdem hatte Hazel in Jacquelyns Fall Zweifel, was ihre Aussichten auf Erfolg angingen. Wenn man wissen wollte, was aus einer jungen Frau im Leben werden konnte, brauchte man sich nur ihre Mutter anzusehen. Und Hazel hatte die elende Hoffnungslosigkeit in den Augen von Stephanie Rousseaux, die ihre Sommer mit Jacquelyn in Mystery verbrachte, gesehen. Diese Frau war nicht gerade das ideale Vorbild für eine Tochter, die die Folgen einer emotionalen Katastrophe überwinden sollte. Aber der Plan reichte weit über Jacquelyn Rousseaux hinaus, auch wenn er mit ihr begann. Hazel mochte zwar nicht mehr die Jüngste sein, aber ihr Ehrgeiz war ungebrochen. Erneut richtete sie ihre blauen Augen auf die weißen Berggipfel. Da mit ihr Plan funktionierte, brauchte Hazel Frauen, die in diese Berge passten. Starke, stolze, beständige Frauen. Frauen wie Jacquelyn Rousseaux mit ihrem gebrochenen Herzen, ihrem Südstaatenakzent und ihren zerstörten Illusionen. Oder irre ich mich dieses Mal? fragte Hazel sich. Gab sie sich reinem Wunschdenken hin? Nun, bald würde sie es herausfinden.
2. KAPITEL „Jake war kein gebildeter Mann", räumte Hazel ein. „Er fluchte wie ein Landsknecht, wenn er glaubte, dass keine Kinder oder Frauen ihn hören konnten. Er machte immer Witze darüber, dass er nur zwei Sprachen konnte - Amerikanisch und Fluchen. Aber er hatte Ge schäftssinn. " Die beiden Frauen saßen dicht beieinander in den goldfarbenen Sesseln aus dem neunzehnten Jahrhundert in Hazels Wohnzimmer. Jacquelyns Diktafon war mit einem winzigen, aber hoch
empfindlichen Mikrofon ausgestattet, so dass sie Hazel aufnehmen konnte, ohne ihr unhöflich vor dem Gesicht herumzufuchteln. „Bevor er starb", fuhr Hazel fort, „wurde Jake sogar Teilhaber der Comstock-Mine. Das war eine reichhaltige Gold- und Silberablagerung, die sein alter Partner, Henry T.P. Comstock, in der Nähe von Virginia City, Nevada, entdeckt hatte. Jakes Nebengeschäfte ermöglichten es meinem Großvater schließlich, der erste Rinderzüchter in diesen nördlichen Bergen zu werden, der Shorthorn- und Hereford-Rinder züchtete. Die haben besseres Fleisch als die Longhorn-Rinder aus Texas und erzielen einen höheren Preis." Während Hazel sprach, bewunderte Jacquelyn erneut das älteste und schönste Ranchhaus in Mystery. Erbaut in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, hatte es die ursprüngliche Siedlerhütte ersetzt. Das mit der Axt geschlagene Holz der Hemlocktannen war mit sperrigen Güterwaggons quer durchs Land transportiert worden. Auch andere Materialen waren ausgewählt worden, um Erfolg zu demonstrieren, nicht die Genügsamkeit der Hinterlandbewohner: eine mit Schnitzereien verzierte Treppe aus Kirschholz, Bodendielen aus Ahorn, Kaminsimse aus Blutonyx, Marmor und Schiefer. An der Wand hinter Hazel flankierten Schilde aus hellem Büffelfell ein wunderschönes Aquarellgemälde in einem aufwendigen Goldrahmen. Es zeigte Shorthorn-Rinder, die durch einen Fluss preschten. „Jake war ein strenger Mann", fuhr Hazel fort. „Er bestand darauf, dass alle seine Kinder eine gute Schulbildung erhielten, sogar seine Töchter, was zu jener Zeit ungewöhnlich war. Das schloss auch meine Großmutter - seine Tochter Mystery - mit ein." Hazel schwieg einen Moment und betrachtete nachdenklich ihre junge Interviewerin. Jacquelyn hatte das Gefühl, sogar noch im Sitzen die alte Dame zu überragen, obwohl sie selbst nur einsfünfundsechzig groß war. Sie wartete auf die nächsten Informationen über Jake, musste jedoch verlegen feststellen, dass sich das Gespräch plötzlich wieder um sie drehte. Wissen Sie, ich mag kurze Haare an Frauen nicht, aber Ihres gefällt mir. Zu meiner Zeit nannten wir Ihre Haarfarbe platinblond oder Marilyn-Monroe-blond. Sehr glamourös. Und ich glaube, Ihre Augen sind meergrün, nicht wahr?" Verwirrt von dieser Musterung, schaltete Jacquelyn rasch den Rekorder aus. Irgendetwas im entschlossenen Gesicht der alten Dame signalisierte ihr, dass der offizielle Teil des Besuches vorbei war. Vermutlich würden sie jetzt zu der „ein wenig ungewöhnlichen Bitte" kommen. „Wissen Sie, Jacquelyn, in meinem Alter wärmt eine Frau sich gern die Hände am Feuer der Erinnerung. Aber auch wenn wir uns immer unserer Toten erinnern sollen, gehört die Welt doch den Lebenden." Jacquelyn hob fragend eine Braue und wartete darauf, wie es weitergehen würde. „Ja?" Doch Hazel zögerte. Schließlich sagte sie: „Sie haben mir letztes Mal erklärt, dass Sie das wahre Gefühl von Jakes Pioniererfahrung einfangen wollen. Erinnern Sie sich?" „Natürlich. Ich hoffte, dass mir das mit meinen Artikeln gelingt." „Ihre Artikel sind wunderbar, meine Liebe. Ehrlich gesagt habe ich den üblichen Blödsinn über die alten Pioniere erwartet. Doch Sie haben Jake McCallums Wesen besser erfasst als jeder andere Schreiber zuvor. Und viele haben es schon versucht." Hazel nahm die Ausgabe der Mystery Gazette von letzter Woche zur Hand. „,Jake McCallum"`, las sie laut vor, „,war ein Mann, der bereits eine weite Strecke zurückgelegt hatte, während andere noch darüber debattierten, ob sie lieber heute oder morgen aufbrechen sollten. ` ` Die Falten um ihre Augen vertieften sich etwas, als Hazel lachte. „Jacquelyn, Sie haben den Charakter dieses alten Gauners wirklich verstanden. Aber um Ihrer selbst willen möchte ich, dass Sie ebenfalls eine weite Strecke zurücklegen. Zumindest einen Teil davon. Den wichtigen Teil." „Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz." „Ich möchte, dass Sie Jakes ursprüngliche Reise wiederholen. Selbstverständlich nicht die ganze Tour. Wie Sie ja wissen, wollte er ursprünglich von seinem Zuhause in St. Louis nach Norden zum Yukon reisen, um nach Gold zu graben." Jacquelyn lächelte. „Ja, bis er in einem wunderschönen Tal in Montana Halt machte, um einem Rancher beim Einfangen einiger Rinder zu helfen, nicht wahr?" „Ganz recht. Denn dieser Rancher hatte eine hübsche Tochter im heiratsfähigen Alter namens Libbie. Ein Blick genügte, und Jake schrieb nach Hause, dass er sich in Montana niederlassen würde. Der Teil seiner Reise, der in Jakes Tagebuch am häufigsten vorkommt, war der harte, aber herrliche
Fünftageritt durch die Berge und über den Eagle Pass bis in dieses Tal. Bis heute heißt dieser Weg McCallum's Trace." „Und das ist der Teil der Reise, den ich machen soll?" Jacquelyn dachte einen Moment nach. Ein solches Unternehmen war zwar ungewöhnlich, aber auch sehr reizvoll. Außerdem ging es hier um ein wichtiges Stück amerikanischer Geschichte. „Na schön", sagte sie daher, und ihre Miene hellte sich auf. „Das hört sich interessant an. Meine Familie hat einen Geländewagen hier beim Sommerhaus, der gewöhnlich nur in der Garage steht. Den werde ich mir leihen. Ich könnte auch ... was?" Verwirrt hielt sie inne, da Hazel den Kopf schüttelte. „Jacquelyn, wir sprechen hier von dem ,echten Gefühl`. Das waren Ihre eigenen Worte. Jake hat diese Bergpässe nicht in einem Geländewagen überquert. Es gab auch keinen Highway, nur einen alten Pfad der Sioux. Das ist auch heute noch der einzige Weg, den es dort oben gibt." Jacquelyn starrte sie erstaunt an. „Sie wollen, dass ich den ur sprünglichen Pfad entlangreite? Fünf Tage auf dem Rücken eines Pferdes?" „Nun, Sie reiten doch, oder? Ich habe Sie in Ihrer schicken Reithose gesehen. Und Sie haben ein Pferd." „Das schon. Aber ..." Hazel wischte ihre Bedenken beiseite. „Ich bin den Pfad selbst einmal entlanggeritten, als ich in Ihrem Alter war. Natürlich nie im Winter, so wie Jake es getan hat, sondern im August, wie Sie es tun werden. Nachts wird es etwas kühl, besonders oben am Eagle Pass. Möglicherweise kriegen Sie auch ein bisschen Schnee zu sehen. Aber es ist wirklich herrlich." Hazel, Sie verstehen mich nicht. Ich reite zwar, aber im englischen Stil, den ich auf dem Internat gelernt habe. Sie wissen schon, Dressunrreite n, Springturniere und dergleichen. Vom Reiten in den Bergen verstehe ich nichts. Ich bin nicht einmal Pfadfinderin gewesen. Ich verstehe nicht das Geringste von ..." „Ach, Ihre Einwände sind Unsinn", unterbrach Hazel sie und warf einen Blick zur Uhr auf dem Kaminsims. „Weil Sie nämlich den perfekten Führer für diesen kleinen Treck haben werden." „Einen Führer?" wiederholte Jacquelyn und kam sich sofort wie ein Papagei vor. „Das kann man wohl sagen! Und zwar niemand anderes als Mys terys Weltmeister im Rodeoreiten, A.J. Clayburn." Hazel schlug ein Fotoalbum auf, das auf dem Säulentisch lag, und reichte es ihrer Besucherin. „Dies ist A.J. beim Rodeo in Calgary, wo er die Weltmeistertrophäe entgegennimmt. Das war einer der stolzesten Tage in Mys terys jüngerer Geschichte." Jacquelyn betrachtete die graublauen Augen und die zerzausten, dichten braunen Haare, die ihm bis auf den Kragen reichten. Der spöttische Zug um seinen Mund ärgerte sie sofort. Der attraktive Mann auf dem Foto strahlte eine gelassene Ruhe und Selbstsicherheit an der Grenze zur Arroganz aus. Es war das Selbstbewusstsein von Männern, die gut mit Tieren umgehen können und glauben, dass dieses Talent auch auf Frauen anwendbar ist. „Sie haben ihn doch sicher schon in der Stadt gesehen, oder?" erkundigte sich Hazel. Jacquelyn nickte, noch immer zu verwirrt von allem, um sprechen zu können. Wie hätte man diese graublauen Augen, die breiten Schultern und schmalen Hüften übersehen können? A.J. Clayburn hätte dem Titelbild eines Westernromans entsprungen sein können - nur war Jacquelyn sich nicht ganz sicher, ob er den Held oder den Schur ken verkörperte. Doch auf keinen Fall konnte Hazel von ihr erwarten, dass sie mit diesem Mann über den McCallum's Trace ritt. Das war, als würde man eine Ente in der Wüste aussetzen. Jacquelyns kultivierte, städtische Welt war ihm ebenso fremd wie seine Welt ihr. Anscheinend ahnte Hazel, was ihre Besucherin dachte. „Glauben Sie mir, meine Liebe, Sie werden A.J.s Qualitäten rasch zu schätzen wissen", versicherte sie ihr und nahm das Fotoalbum wieder an sich. „Hazel, ich denke nicht, dass ..." „Normalerweise", fuhr die alte Lady unbekümmert fort, „findet man A.J. irgendwo im Tal an einem Korral, wenn er nicht gerade zu einem Rodeo unterwegs ist." „Wirklich, Hazel, ich kann mir absolut nicht vorstellen ..." „In dieser Saison reitet er allerdings nicht. Beim ersten Rodeo des Jahres verfing sich A.J.s Spore im Sattelgurt. Das Pferd fiel auf sein Bein und quetschte es. Jetzt erholt er sich davon, aber es war ein schlimmer Sturz. Es ist noch nicht ganz klar, ob der Arzt ihn jemals wieder Rodeos reiten lässt. Dadurch hat A.J. momentan Zeit, für mich ein paar Aufträge als Führer zu übernehmen." „Tut mir Leid, dass er den Unfall hatte. Aber ..."
„Nicht, dass er vor Gram vergeht und kürzer tritt", meinte Hazel. „Von wegen! A.J. bleibt weiter aktiv - ein wenig zu aktiv, falls Sie verstehen, was ich meine." Sie zwinkerte. „Er hat eine hübsche Anzahl gebrochener Herzen zurückgelassen, aber ich erinnere mich noch genau an seine Mom und seinen Dad. Sie haben sich sehr geliebt. Es war die Art von Liebe, die man heute nicht mehr findet. Eine Liebe wie die, die ich hatte." Hazel lächelte. „Oh, eines Tages wird ihm diese Liebe auch begegnen. Er braucht nur eine Weile, um das zu begreifen. Bis sein Bein geheilt ist, hilft er seinem früheren Partner Cas Davis. Cas betreibt eine beliebte Rodeo-Reitschule in Thompson Falls." Endlich machte Hazel eine Pause, um Luft zu holen. „Ich kann das nicht", platzte Jacquelyn heraus. „Es tut mir Leid. Ich bin nicht nur völlig unvorbereitet für einen solchen Ritt, sondern A.J. ist auch ein Fremder für mich. Ich kann doch nicht irgendwo in der Wildnis mit einem wildfremden Mann campen." „In ein paar Minuten wird er kein Fremder mehr für Sie sein" , versprach Hazel ihr. „A.J. müsste jede Minute hier sein, um Sie kennen zu lernen." Für einen kurzen Moment stockte Jacquelyn der Atem. „Um mich kennen zu lernen?" wiederholte sie unsinnigerweise und war erstaunt über den Verlust an Kontrolle in ihrem ansonsten so kontrollierten Le ben. „Da Sie so viel Zeit allein mit A.J. verbringen werden", fuhr Hazel unbeirrt fort, „sollte ich wohl erwähnen, dass er seit kurzem eine Vorstrafe hat." Jacquelyn spürte, wie das Blut aus ihren Wangen wich. Hazel lachte. „Ganz ruhig, meine Liebe. Er kann rehabilitiert werden. Da bin ich ganz sicher. Haben Sie mal von Red Lodge, Montana, gehört?" Noch immer benommen, erwiderte Jacquelyn tonlos: „Die Stadt, in der sich jedes Jahr am vierten Juli Cowboys und Rodeoreiter zu einer Party treffen?" „Ja, man könnte diesen jährlichen Krawall eine Party nennen. Wie dem auch sei, in diesem Jahr wurde A.J. verhaftet, weil er mit seinem Pferd in den Snag Bar Saloon geritten ist. Offenbar rannten ein oder zwei Deputys ,mit ihrem Kinn gegen meine Faust`, wie A.J. es vor Gericht ausdrückte." Na großartig, dachte Jacquelyn. Ein Raufbold. Wie viel Glück kann eine Frau haben? „Wenn Sie wirklich erfahren wollen, wie es bei Jake McCallums Ritt war, können Sie keinen finden, der ihm ähnlicher ist", klärte Hazel sie auf. „Genau wie Jake ist auch A.J. schnell zum Tor hinaus." Sie lachte, als sie Jacquelyns ängstliche Miene bemerkte. „Seien Sie unbesorgt, meine Liebe. Das ist nur so eine Redensart. Es bedeutet, dass ein Mann genau weiß, was er will und wie er es bekommt. Sagen Sie, haben Sie Angst um Ihre Haut?" „Meine ... Haut?" „Ich dachte immer, ihr Frauen aus dem Süden seid besonders stolz auf eure schöne Gesichtsfarbe. Sie sind ein lebender Beweis dafür." „Vielen Dank", entgegnete Jacquelyn höflich, obwohl klar war, dass Hazel sie nur davon abzulenken versuchte, ihre verrückte Idee abzulehnen. Jacquelyn wollte gerade fragen, wieso es eigentlich so wichtig war, dass sie diesen Ritt machte. Doch in diesem Moment ertönte eine melodische Klingel. Nervosität erfasste sie. „Das wird A.J. sein", verkündete Hazel mit offenkundiger Zufriedenheit. „Donna wird ihn hereinlassen." Das Geräusch fester Stiefelabsätze war zu hören, als der Neuankömmling durch die Küche und das Esszimmer ging. Hazels Aufmerksamkeit entging nicht, dass Jacquelyn sich wie ein Tier in der Falle vorkam. „Es wird alles bestens, meine Liebe, das verspreche ich Ihnen. Ich will die Gefahren der Berge nicht beschönigen. Aber bei einem Führer wie A.J. Clayburn sind Sie sicher aufgehoben." „Ich verstehe nur nicht, wieso das nötig ist. Sie haben selbst gesagt, dass Ihnen meine Artikel gefallen, weil sie authentisch seien", flüsterte Jacquelyn rasch, während die Schritte näher kamen. „Warum ist dieser Ritt so wichtig? Wieso?" Ein geheimnisvolles Funkeln blitzte in Hazels braunen Augen auf. Es schien großem Ehrgeiz, großer Entschlossenheit und ebenso großer Liebe zu entspringen. Ihre ausweichende Antwort jedoch frustrierte Jacquelyn nur noch mehr. „Haben Sie Geduld. Diese Reise wird Ihr Leben verändern, das versichere ich Ihnen. Nur wenige haben sie bisher unternommen. Nun, schauen Sie, wer hier ist, Jacquelyn. Noch dazu auf die Minute pünktlich. Du liebe Zeit, A.J., steh nicht da, und starr sie an! Komm rein, sie beißt nicht!" 3. KAPITEL Jacquelyn schenkte Hazel kaum Beachtung, als die alte Dame sie und die führende Rodeoberühmtheit Mysterys miteinander bekannt machte. Sie kam sich total ausgetrickst vor.
„Ich persönlich bin auf meine alten Tage ein richtig häuslicher Mensch geworden", plapperte Hazel weiter, während Jacquelyn ihre Fassung wiederzugewinnen versuchte. „Ich schließe mich der Theorie an, dass eine Frau nie ihre Zeitzone verlassen sollte. Andererseits, wenn niemand mehr reisen würde, hätten wir Jacquelyn nicht im Sommer bei uns in Mys tery, nicht wahr?" „Ich nehme an, so ist es", stimmte der Cowboy widerstrebend zu. Sein Ton machte deutlich, dass er mit dieser Möglichkeit durchaus leben könnte. Er setzte sich den beiden Frauen gegenüber in den Ohrensessel aus Leder und balancierte seinen makellosen grauen Stetson auf dem linken Knie. Er trug saubere Cowboykleidung und ein Halstuch. Seine Beine unter der Jeans wirkten muskulös, und seine Füße steckten in handgenähten Stiefeln, die vorn so spitz waren, dass sie aussahen wie Waffen. A.J. Clayburn war, wie Jacquelyn bei ihrer kur zen Musterung widerwillig feststellen musste, ganz genauso attraktiv wie auf dem Foto in Hazels Album. Doch in der Realität strahlte er darüber hinaus noch eine Art körperlicher Bereitschaft, ja sogar etwas Gefährliches aus. Das war unbestreitbar, obwohl er wegen seiner Verletzung ein wenig steifbeinig ging. „Wenn ihr jungen Leute mich für einen Moment entschuldigen wür det", sagte Hazel und stand abrupt auf. „Ich muss nach oben, um ein paar alte Briefe zu suchen, um die Jacquelyn mich für ihre Serie gebeten hat. Ihr zwei werdet euch in der Zwischenzeit miteinander bekannt machen wollen und natürlich euer Arrangement besprechen. Ich versuche mich zu beeilen." Erneut fühlte Jacquelyn Entsetzen in sich aufsteigen, weil Hazel sie unter einem lahmen Vorwand mit diesem arroganten Rüpel allein ließ. A.J. erhob sich höflich, als Hazel aufstand und das Wohnzimmer verließ. Solange Hazel anwesend war, hatte er Jacquelyn noch nicht angesehen. Tatsache war, dass er ihrem Blick sogar auszuweichen schien. Doch jetzt, wo sie allein waren, änderte sich das. Plötzlich spürte Jacquelyn seinen Blick auf sich ruhen, so durchdringend und intensiv, dass sie es fast wie eine körperliche Berührung empfand. „Sitzt vielleicht eine Fliege auf meiner Nase?" fragte sie schließlich. Ihr Gesicht wurde heiß. „Nein. Ich gucke nur." „In den ersten paar Sekunden mag es ja noch gucken sein. Aber nach einer Weile nennt man es ,anstarren`." Er verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „Ist ja komisch." „Was?" „Sie sehen gar nicht aus wie ein Buch. Trotzdem reden Sie wie eines. " „Verzeihen Sie", erwiderte sie. „Ich werde versuchen, einfältiger zu reden, damit Sie sich nicht herausgefordert fühlen." Ihr ätzender Ton schüchterte ihn nicht im Mindesten ein; wahrscheinlich weil er die Ironie gar nicht mitbekam. Sie wollte sich völlig gleichgültig geben, merkte jedoch, wie sein prüfender Blick sie erröten ließ. Nervös stand sie auf und strich rasch ihren schwarzen Jerseyrock über den Schenkeln glatt. Dann ging sie zu der Wand hinter ihr, an der Bilder und Fotografien hingen. Noch immer spürte sie geradezu körperlich, dass er sie ansah. „Mr. Clayburn, Hazel hat mir von Ihrem Plan erzählt, aber ich fürchte, ich bin weder ein Camper noch für einen Ritt durch die Berge geeignet. Offenbar ist sie der Meinung, dass ich die Richtige bin, um über den McCallum's Trace zu schreiben. In meiner Redaktion gibt es jedoch einen fähigen jungen Volontär, der sicher die bessere Wahl für Sie wäre." „He, mich brauchen Sie nicht zu überzeugen", unterbrach er sie. Jacquelyn sah zur Tür. Er hatte Recht, sie würde sich mit Hazel auseinander setzen müssen, nicht mit diesem Mann. Daher besann sie sich ihrer Südstaatenhöflichkeit und wechselte das Thema. „Ich hörte, Sie sind Rodeochampion." Sie ging zurück zu ihrem Sessel, um auf Hazel zu warten. „Das ist wirklich nichts Neues hier. Haben Sie nichts Interessanteres gehört?" Sein unverschämter, spöttischer Ton machte sie wütend. Schlimmer war jedoch das merkwürdige Gefühl, das sie überkam, wann immer er sie ansah. Vermutlich war sie schon viel zu lange nicht mehr in männlicher Gesellschaft gewesen, denn jedes Mal, wenn sein Blick sie traf, fühlte sie sich entblößt und seltsam durcheinander. „Schreiben Sie auch über Cowboys?" erkundigte er sich. Wider besseres Wissen antwortete sie: „Ehrlich gesagt, ich habe daran gedacht." Frech fügte sie hinzu: „Bei meinen Recherchen über Jake McCallum las ich einiges über die Cowboys aus Montana. Stimmt es eigentlich, dass ihr alle nur Imitationen der echten Texas-Cowboys seid?" „Imitationen?"
Er hob die Brauen, blieb zu ihrem Ärger ansonsten jedoch ungerührt. Glaubte Hazel wirklich, dass sie fünf Tage - ganz zu schweigen von den Nächten - mit diesem anmaßenden, flegelhaften Hinterwäldler verbringen würde? Offenbar hatte es keinen Sinn, weiterhin Konversation zu machen. Daher richtete Jacquelyn ihre Aufmerksamkeit auf ein altes Foto, das Hazels Großmutter, Mystery McCallum, zeigte. Mystery trug ein gerüschtes Kleid mit Turnure und einem eng geschnürten Korsett, um die damals modische Wespentaille zu erzielen. Plötzlich war A.J.s Stimme dicht neben Jacquelyns Ohr, so dass sie fast zusammengezuckt wäre. „Ich habe gehört, dass all diese festen Schnüre manchmal ,unreine Begierden` geweckt haben. Sie sind ja eine Frau - meinen Sie, dass das möglich ist?" Sie drehte sich um und wich ein Stück zurück. Dennoch nahm sie seinen Duft nach Leder und herbem After Shave wahr. Dieser Duft löste ein eigenartiges Kribbeln in ihrem Bauch aus, das sie ziemlich irritierte. Sie wich einen Schritt zurück und nahm sich vor, in nächster Zeit öfter mit Männern auszugehen, jetzt wo sie wieder ungebunden war. Durch den langen Entzug geriet sie zu schnell wegen nichts aus der Fassung. Schließlich fand sie den Geruch von Leder und Rasierwasser gewöhnlich nicht stimulierend. Doch dann atmete sie seinen Duft erneut ein und fragte sich, ob er sie gerade um den Verstand brachte, obwohl er es nicht einmal versuchte. Nur ihr Stolz hielt sie davon ab, entsetzt aus dem Raum zu fliehen. Mit großer Mühe warf sie ihm einen gelangweilten Blick zu. „Entschuldigen Sie, sagten Sie gerade etwas?" Sein sexy Mund verzog sich zu einem Grinsen. „Ich glaube nicht, dass ich geflüstert habe. Ich habe Sie nach den Korsetts gefragt." „Tja, tut mir Leid, wenn ich Ihre schlüpfrige Phantasie zerstören muss, aber ich trage kein Korsett und habe nie eines getragen. Die Ge schichte lehrt uns allerdings, dass enge Korsetts zu Rippenbrüchen und Deformierung innerer Organe geführt haben. Außerdem engten sie die Atmung und die Blutzufuhr ein. Man kann das auf den Bildern deutlich erkennen. Ich glaube kaum, dass das erregend war." „Haben Sie darüber ebenso recherchiert wie über die Cowboys, Eisprinzessin?" Es war nur eine alberne Provokation neben den anderen, die sie von ihm in der kurzen Zeit schon gehört hatte. Trotzdem traf sie einen wunden Punkt. Sie dachte an Joes Worte: „Es ist nicht meine Schuld, dass du ein Eisblock bist." Für einen Moment stieg der alte Schmerz über die Demütigung wieder in ihr auf und machte sie benommen. Der Cowboy stand nur wenige Schritte von ihr entfernt und betrachtete sie, während er auf ihre Antwort wartete. Hazel rettete die Situation, indem sie mit rauschenden Röcken und einer altmodischen Mappe voller ausgeblichener Umschläge zurück ins Zimmer kam. „Da sind sie, Jacquelyn, ein paar von Jakes Briefen von der Familie aus dem Osten. Ich hoffe, ihr beide hattet Gelegenheit, über euren bevorstehenden Ritt zu sprechen." „Hazel, ich kann es nicht machen", verkündete Jacquelyn und nahm die Briefe von der alten Dame entgegen. Sie eilte zu ihrem Sessel und nahm ihr Diktafon an sich. Dann ging sie zur breiten Wohnzimmertür. Während all dieser hastigen Aktivitäten mied sie A.J.s Blick. „Es tut mir wirklich Leid, Hazel, aber es kommt schlicht und einfach nicht in Frage. Ich kann es nicht. Verzeihen Sie mir." „Ist schon gut, meine Liebe", meinte Hazel kurzerhand. „Es ist meine Schuld. Ich nehme an, ich habe mich getäuscht. Nur weil die Farbe hübsch glänzt, muss das Holz darunter noch lange nicht solide sein." „Ja, genauso kommt sie mir vor", warf A.J. ein. „Wenn du mich fragst, sollte die ganze RousseauxBande samt ihrem Sommerhaus von hier verschwinden. Die wären besser in einem schicken Ferienapartment in Florida oder Kalifornien aufgehoben, wo sie unter ihresgleichen sind." Jacquelyn war drauf und dran gewesen, aus dem Haus zu stürmen. Doch Clayburns Worte bremsten sie abrupt. Sie drehte sich um und starrte ihn wütend an. „Was meinen Sie denn mit ,ihresgleichen`, Mr. Clayburn?" verlangte sie zu wissen. Habgierige Leute", erwiderte er unverblümt und ohne zu zögern. „Ich weiß alles über Ihren Vater und seine verdammten Erschließungspläne, die das Mystery Valley zerstören werden. Ich bin kein Fan von diesen Leuten, Miss Rousseaux. Ich brauche hier keine geldgierigen Großstadttypen, die das Land aufwühlen und zubauen. Leute, die auf Kosten anderer reich werden. Sie wollen wissen, wen ich mit ,ihresgleichen` meine, Miss Rousseaux? Aufgeblasene, teures Mineralwasser schlürfende, verwöhnte Karrieremacher, die man mal in die Schranken weisen sollte."
Er schleuderte ihr jedes Wort wie einen vergifteten Pfeil entgegen. Doch das machte Jacquelyn nur entschlossener und trotziger. „Ich möchte Sie darüber informieren, Mr. Clayburn, dass ich meinen Vater bei seinem Vorhaben, das Mystery Valley zu erschließen, nicht unterstütze. Ich erinnere Sie jedoch daran, dass weder Sie noch ich diese Entscheidung für diese Gemeinde treffen. Darüber befindet allein die Ratsversammlung. Wenn Sie eine Meinung dazu haben, Mr. Rodeostar, wieso engagieren Sie dann nicht einfach jemanden, der Ihre Rechte als Bürger vertritt und Ihre Meinung dem Gemeinderat zukommen lässt?" Nachdem sie fertig war, herrschte einen Moment lang angespanntes Schweigen. Hazel betrachtete die beiden entzückt. Dann brach A.J. plötzlich in raues Gelächter aus. „Na so was. Sie müssen wirklich eine Schreiberin sein. Ich kenne niemand, der all das in einem einzigen Absatz sagen könnte." Sie erstickte fast an ihrem Zorn. „Sie wissen sehr wohl, dass ich Journalistin bin. Es fiel mir übrigens nicht in den Schoß, Mr. Clayburn. Ich musste hart dafür arbeiten." „Obwohl Daddy die Zeitung gehört", provozierte er sie erneut. „Ja, obwohl Daddy die Zeitung gehört." Ihr Ton war eisig. „Dann bedauere ich es einigermaßen, dass wir nicht zusammen den Berg hinaufreiten. Sie könnten mir noch das ein oder andere neue Wort beibringen." Er sah zu Hazel und lächelte resigniert. „Hazel, ich habe meine Meinung geändert", verkündete Jacquelyn zu ihrem eigenen Erstaunen. „Mr. Clayburn, Hazel hat meine Telefonnummer in der Redaktion und privat. Bin ich eine verwöhnte, teures Mineralwasser schlürfende Karrieremacherin, wenn ich wenigstens einen Tag Vorbereitungszeit erbitte, da wir einen der schwierigsten Bergpässe überqueren?" „Nur zu, Miss Rousseaux. Tun Sie, was Sie für nötig halten", sagte er beinah gönnerhaft. Hazel begleitete sie zur Tür und schien über Jacquelyns Wut viel zu entzückt. Bevor Jacquelyn hinausging, flüsterte die alte Dame: „Machen Sie sich keine Sorgen wegen dieser Reise, Jacquelyn. A.J. wird Sie sicher führen. Ach, und übrigens: Bringen Sie ihm keine neuen Wörter bei." Hazel machte eine bedeutungsvolle Pause. „Er will sowieso nur die schmutzigen lateinischen lernen." Hazels Lazy-M-Ranch lag genau in der Mitte des grünen Mystery Valley und umfasste mehrere tausend Hektar von Flüssen und Bächen durchzogenem üppigen Weidelands. Die Stadt Mystery, mit einer Einwohnerzahl von etwa viertausend, lag angenehme fünfzehn Autominuten weit entfernt. Das Sommerhaus der Rousseaux' war nur zehn Minuten zu Fuß von den steinernen Torpfosten der Lazy-M-Ranch entfernt und somit das nächstgelegene Haus. Während Jacquelyn wieder zur Redaktion fuhr, wirbelten ihre Ge danken noch immer durcheinander. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Wie sollte sie einen so strapaziösen Ritt überstehen - besonders in der Gesellschaft dieses Mannes? In der Redaktion brannte das Rotlicht über der Dunkelkammer, was bedeutete, dass Bonnie an den Offsetplatten für die nächste Ausgabe arbeitete. Jacquelyn hinterließ eine kurze Nachricht, in der sie erläuterte, was Hazel von ihr erwartete, und machte Feierabend. Sie war gerade auf dem Rückweg zu ihrem BMW, den sie schräg vor dem Eingang geparkt hatte, als eine heisere Frauenstimme sie aus ihren Gedanken riss. "He, du! Nimmst du eine alte Dame mit?" Jacquelyn sah ihre Mutter über den backsteingepflasterten Gehweg auf sich zuschwanken. Sie trug eine Plastiktüte, die vom Gewicht mehrerer klirrend aneinander schlagender Schnapsflaschen ausgebeult war. „Ich bin in die Stadt gelaufen", erklärte Stephanie Rousseaux. „Um mich fit zu halten, ehrlich. Aber beim nächsten Anfall von Fitnesswahn ziehe ich mir Tennisschuhe an, das schwöre ich dir. Meine Füße bringen mich um! Ich kann es kaum erwarten, bis dein Vater und ich wieder nach Atlanta zurückkehren. Wie ich mir wünschte, dass wenigstens einer der Dorftrampel hier seinen Pick-up für einen Limousinenservice eintauschen würde!" Mit achtundvierzig war Stephanie noch immer eine eindrucksvolle Frau und perfekt gestylt. In letzter Zeit war sie allerdings etwas fülliger geworden und hatte einen noch grimmigeren Zug um den Mund bekommen. Für sie war es eine Frage der Ehre, sich stets zivilisiert und ausgeglichen zu geben. Zu kultiviert und beherrscht für Gefühlsausbrüche, war sie mit der Zeit immer sarkastischer geworden, was viele Menschen abschreckte und sogar ihre eigene Tochter manchmal befremdete. „Manche der Bauerntölpel scheinen überrascht zu sein, dass ich mittags noch nüchtern bin", fuhr Stephanie fort, als ihre Tochter mit dem Wagen zurücksetzte und sich in den Verkehr auf der Hauptstraße einfädelte. „Mutter, fang nicht wieder damit an", bat Jacquelyn.
„Womit soll ich nicht wieder anfangen, mein Engelchen?" fragte Ste phanie. „Ich bin stolz darauf, dass ich hinsichtlich meiner Sucht strikte Regeln habe. Ich bin genauso diszipliniert wie dein lieber alter Vater. Schließlich kommt es allein auf die Etikette an, findest du nicht? Selbst in einem gescheiterten Leben." „Es gibt hier auch regelmäßige Treffen der Anonymen Alkoholiker", erklärte Jacquelyn geduldig. „Ich habe mich erkundigt. Außerdem hat Dr. Rendquist dir gesagt ..." „Vergiss es. Rendquist kann seinen Ellbogen nicht von seiner Libido unterscheiden. Der einzige Grund, weswegen ich zu ihm gehe, ist der, dass ich durch ihn meine Valium bekomme. Die Anonymen Alkoholiker sind für den Pöbel. Deine elitäre Mutter hat ein besseres System." Stephanie schüttelte die Plastiktüte, so dass die Flaschen darin klirrten. „Disziplin. Keine Therapie vor Sonnenuntergang. Ich verschmähe jeden Drink am Tag. Diesen Säufern, die zu den Anonymen Alkoholikern gehen, fehlt es einfach an Diskretion und Selbstkontrolle." Diskretion und Selbstkontrolle. Zwei Charakterzüge, die Stephanie von Eltern übernommen hatte, deren Vorfahren zu den ersten Familien gehörten, die sich in Virginia niedergelassen hatten. Charakterzüge, die für das Überleben in einer lieblosen Ehe mit einem treulosen, hyperkritischen Mann von unschätzbarem Wert waren. Jacquelyn sehnte sich danach, etwas sagen zu können, womit sie zum innersten Kern ihrer Mutter vordringen konnte. Aus ihrer Kindheitserinnerung an ihre Mutter wusste sie, dass in ihr einst eine Quelle warmherziger Gefühle gewesen war. Aber diese Quelle war lange schon versiegt. Jacquelyn war lange Jahre stumme Zeugin gewesen. Inzwischen ertrug Stephanie Rousseaux das Leben nur noch mechanisch. Hin und wieder wechselte sie den Gesichtsausdruck, damit die Leute auch wirklich dachten, dass sie bei der Sache war. In Wahrheit jedoch bestand ihre Existenz nur noch aus einer anhaltenden, leeren Stille, die zurückgeblieben war, als Liebe und Hoffnung aus ihrem Leben verschwunden waren. Und es gab nichts, was ihre Tochter ihr sagen konnte, um daran etwas zu ändern. Stephanie war die Eiskönigin, und Jacquelyn hatte Angst, selbst einmal so zu werden. Vielleicht war sie es schon längst ein Stück des großen Eisblocks. Jacquelyn beobachtete die vorbeiziehende Stadt und hing ihren Ge danken nach. In der Altstadt Mysterys standen noch viele der alten roten Backsteinhäuser mit schwarzen Fensterläden aus Eisen. Sie waren nicht schick, nur praktisch und stabil. Doch das reich verzierte Opernhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert mit seiner kunstvoll verzierten Kuppel erhob die Gemeinde ein wenig über gewöhnliche Kleinstädte. Ebenso das würdevolle alte Gerichtsgebäude, das einzige graue Ge bäude in der Stadt. „Nicht gerade der Gipfel eleganter Schneiderkunst oder exotischer Küche", bemerkte Stephanie mit ihrer heiseren Stimme. „Aber auch kein dreckiger Industriepark. Obwohl dein Vater daran bereits arbeitet, wenn er sich von seinem Stress nicht gerade bei einer seiner neuen Beraterinnen erholt." Beraterin, dachte Jacquelyn. Was für eine beschönigende Um schreibung für die vielen Geliebten, die Eric Rousseaux anscheinend brauchte, um sich seine Männlichkeit zu beweisen. Links glitt Hazels Lazy-M-Ranch vorbei, während Jacquelyn auf das Sommerhaus der Rousseaux' am westlichen Ende des Mystery Valleys zusteuerte. A.J. Clayburns zerbeulter Pick-up bog gerade aus der Ausfahrt Richtung Stadt. Im Vorbeifahren tippte er sich an den Hut. Jacquelyn überlegte, ob er ihren Wagen wieder erkannte oder er ob jeden unterwegs auf diese Weise grüßte. Erneut stieg Angst in ihr auf, und sie fragte sich, auf was sie sich eingelassen hatte. . Das Haus der Rousseaux' lag in einer wie eine Teetasse geformten Senke, etwa eine Dreiviertelmeile westlich der Lazy-M-Ranch. Es war umgeben von Wäldern und Hazels Weiden im Osten und Süden und im Norden und Westen von zerklüfteten Bergen. Das weitläufige, zweistöckige Haus war aus Mammutbaumholz erbaut und hatte ein Dach aus Zedernholz. Dahinter befand sich das Gästehaus - Jacquelyn hatte auf ihre Unabhängigkeit bestanden -, das sie von ihrem Vater gemietet hatte. Ihr gefiel die Nähe des Sommerhauses zur Stadt. Sie hatte oft Gelegenheit, mit Boots, ihrem Fuchs, nach Mystery zu reiten, statt mit dem Wagen zu fahren. Obwohl ihr Vater und ihre Mutter Pferde hielten, ritt keiner von beiden mehr. Jacquelyn hielt auf der gepflasterten Auffahrt vor dem Haus. „Oh, süßes Zuhause", meinte Stephanie ironisch. „Danke, dass du mich mitgenommen hast, Mädchen." Jacquelyn ging durch das Haus statt außen herum, während Ste phanie ihre Einkäufe in der Kellerbar verstaute. Im Wohnzimmer traf Jacquelyn ihren Vater, der gerade telefonierte.
Mit einundfünfzig war Eric Rousseaux noch immer bestens in Form. Er war einer von den eitlen Männern mittleren Alters, die ständig einen Grund dafür fanden, sich das Hemd auszuziehen, damit andere ihre Muskeln bewundern konnten. Sein beachtliches Vermögen hatte er als Zeitungsverleger gemacht. Er besaß Mehrheitsanteile einiger großer Tageszeitungen und einer Hand voll kleinerer Wochenzeitungen, einschließlich der „Mystery Gazette". In jüngster Zeit widmete er sich allerdings Bauprojekten. „Geld ist wie Dünger", hatte ihr Vater sie einst ernst belehrt. „Man muss es verteilen." Eric winkte seiner Tochter achtlos zu, als sie den Raum betrat. Be vor sie hören konnte, was er sagte, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück und schloss die Tür mit dem Absatz. Neuerdings telefonierte er öfter ungestört. Hatte der „Schwerenöter der Druckerschwärze verschleudernden Industrie", wie Jacquelyns Mutter ihn nannte, wieder eine neue Affäre? Stephanies Alkoholkonsum in letzter Zeit deutete darauf hin. Ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit überkam sie, als sie in ihr Haus floh. Erneut kam ihr in den Sinn, das A.J. sie Eisprinzessin genannt hatte. Außen und innen kalt. Die Eisprinzessin ... die Tochter der Eiskönigin. Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen, und sie setzte sich auf ihre Couch. Ihre Mutter war im Keller des Haupthauses und versteckte sich dort, während sie auf den Sonnenuntergang wartete, um sich endlich betäuben zu können. Ihr Vater war in seinem Arbeitszimmer und verabredete entweder eine Bestechungsaktion oder ein Rendezvous. O ja, süßes Zuhause! Wieso sollte ausgerechnet sie, Jacquelin, noch fähig sein, an die Liebe zu glauben? Wer in dieser Karikatur einer Familie konnte noch das Selbstvertrauen haben, zu glauben, er sei Liebe und Zuneigung wert - ganz zu schweigen von der Fähigkeit, beides anderen gegenüber auszudrücken? Das Telefon auf dem Tisch klingelte. Jacquelyn räusperte sich, atmete tief durch und meldete sich. „Hallo?" „Sie haben einen Tag Vorbereitungsfrist erbeten", erklärte A.J. ohne weitere Einleitung. „Und genau den kriegen Sie. Keinen Tag mehr. Seien Sie morgen früh bei Sonnenaufgang bereit. Ich hole Sie ab." „Das ist kein ganzer Tag. Unmöglich, ich ..." Doch ihr Protest war überflüssig, denn er hatte bereits aufgelegt. 4. KAPITEL Jacquelyn hatte sich nie damit brüsten können, ein Frühaufsteher zu sein. Doch hier stand sie nun vor Sonnenaufgang frierend in der Kälte und fühlte sich elend. „Komm schon, Boots"; drängte sie ihre widerspenstige Fuchsstute, die sich gegen das Zaumzeug wehrte. „Ich weiß, diese Idee, den Wilden Westen noch einmal zu erleben, ist ein Witz." Der Atem des Pferdes bildete Wölkchen in der kalten Luft. Im Spätsommer war es in Montana morgens bereits kühl. Und oben in den Bergen am Eagle Pass würde es noch viel kälter sein. Jacquelyn teilte die Abneigung der Südstaatler gegen kaltes Wetter. Ihr war ein Hurrikan lieber als eine frostkalte Nacht. Gestern Abend hatte sie ein paar warme Kleidungsstücke in einen Matchbeutel gepackt, zusammen mit ihrem Diktafon und einem Notizblock. Ihre Reitsachen musste sie jedoch noch zusammensuchen. Diese Hektik kurz vor Beginn der Tour war völlig idiotisch. Sie plante eine Reise viel lieber ganz in Ruhe. Stattdessen verlangten Hazel und A.J. Clayburn, dass sie von heute auf morgen bereit zum Aufbruch war. „Braves Mädchen", lobte sie Boots, als das Pferd endlich den Kopf senkte und sich das Zaumzeug anlegen ließ. Jacquelyn befestigte eine Fährleine am Halfter und brachte Boots hinaus in das Halbdunkel des Korrals. Sie trug gerade ihren Sattel und die Satteldecke aus der Sattelkammer, als A.J.s Pick-up ums Haus gefahren kam und direkt vor dem Gatter des Korrals hielt. Ein Pferdeanhänger mit zwei Boxen war an den Pick-up gehängt. Irgendwie gelang es ihm, den Kopf zum Seitenfenster hinauszustrecken, ohne die adrette Form seines Stetsons zu beeinträchtigen. Er schob sich den Hut mit dem Daumen aus der Stirn und schaute grinsend zu ihr herüber. Im Lichtschein der Außenlampe war der spöttische Zug um seinen Mund deutlich zu erkennen. „Tempo, Mädchen!" rief er. „Es wird Zeit zum Aufbruch. Werfen Sie den albernen Sattel hin, und lassen Sie uns endlich losfahren." „Den Sattel hinwerfen? Dürfte ich vorschlagen, dass wir zuerst einmal mein Pferd aufladen?"
„Das brauchen wir nicht, ebenso wenig wie den Sattel." Er stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. Gegen ihren Willen fand sie ihn äußerst attraktiv und fühlte sich zu ihm hingezogen. Sofort verdrängte sie derartige Gefühle, da sie erkannte, was sie eigentlich waren: pure Lust. Und die würde ihr bei diesem Abenteuer, auf das sie sich eingelassen hatte, nicht weiterhelfen. Im Gegenteil, sie würde nur zusätzliche Probleme bereiten. „Ach? Dann reite ich wohl mit Ihnen auf einem Pferd?" „Sosehr das auch ein Privileg für mich wäre, aber das wird nicht nötig sein", erwiderte er sarkastisch und deutete auf Boots. „Ist das Ihr Pferd?" Sie nickte und schaute zu ihm auf. Vor dem Hintergrund der Berge, über denen sich der Himmel langsam pinkfarben färbte, wirkte A.J. noch größer als ohnehin schon. Neben ihm fühlte sie sich absolut nicht ebenbürtig. Er ging zum Pferdeanhänger und öffnete die Doppeltüren. „Es ist ein schönes Tier", räumte er ein. „Erstklassige Zucht. Ihr Fuchs ist ein prächtiges Flachlandpferd. Langbeinige Pferde kommen gut in tiefem Schnee im offenen Gelände zurecht. Aber wir reiten hinauf in die Berge. Das bedeutet, dass wir gute Bergponys brauchen." Während er das sagte, zeigte er Jacquelyn die beiden Pferde auf dem Anhänger. Zumindest nahm sie an, dass es sich bei den beiden hässlichen, kurzbeinigen Biestern um Pferde handelte. Trotz ihrer schlechten Laune musste sie so heftig lachen, dass sie fast ihren Sattel fallen gelassen hätte. „Wo haben Sie die denn her?" „Mädchen, Sie haben keine Ahnung von Pferden. Die zwei sind keine Reitpferde von irgendeiner Reitakademie, sondern echte Bergmustangs. Die Indianer haben sie früher geritten. Es sind äußerst ausdauernde Tiere." Jacquelyn legte den Kopf schief und musterte skeptisch die platten Gesichter, die buschigen Schwänze und das wilde Farbengemisch des Fells. Offenbar stammten sie nicht aus einer kontrollierten Zucht. „Mit einem hübschen Pferd wie Ihrem würde ich nicht in die Berge reiten", erklärte er, ihre Gedanken ahnend. „Ein hübsches Pferd ist ein verwöhntes Pferd. Und ein verwöhntes Pferd ist ein verdorbenes Pferd." Der aggressive Unterton in seinen Worten verriet, dass sie sich nicht nur auf Pferde bezogen. Jacquelyn bemerkte, wie er sie ansah und ihre schicke schwarze Jacke ebenso wie ihre handgearbeiteten englischen Reitstiefel vom Wert ihres Charakters abzog. Doch dann verweilte sein Blick auf ihren Brüsten, und ihr Wert schien plötzlich wieder zu steigen. Verlegen richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Ponys. „Sie sind nicht nur hässlich, sondern auch klein." „Klein, aber fein. Sicher, sie sind nicht besonders groß. Aber sehen Sie sich diese kräftigen Beine an. Die braucht man auf schmalen Bergpfaden. Diese Tiere sind in den Bergen geboren und sicher auf den Beinen wie Bergziegen. War Ihre Wiesenschönheit jemals hoch oben auf einem Felsplateau, wo der Wind mit vierzig Meilen pro Stunde weht?" Der provozierende Zug um seinen Mund machte sie erneut wütend und weckte in ihr den Wunsch, ihn zu ohrfeigen. „Nein", gab sie zu und ärgerte sich über seine besserwisserische Selbstgefälligkeit und die Art, wie sein Blick immer wieder zu ihren Brüsten wanderte. „Ihren englischen Sattel können Sie auch getrost hier lassen. Ich habe Ihnen einen besseren mitgebracht." „Einen besseren?" Sie schnaubte verächtlich. „Dieser Sattel wurde extra für mich angefertigt und ..." „Sicher, er ist ja in Ordnung - für eine Hunde- und Ponyshow in London. Oben in den Bergen wird er Ihnen jedoch nichts nützen. Hier geht es nicht darum, was ein Sattel gekostet hat. Dort oben brauchen Sie etwas Vernünftiges zwischen den Beinen." Jacquelyn errötete bis zu den Haarwurzeln. „Wie bitte?" Er grinste. „Ganz ruhig. Ich sprach von einem Sattelhorn. So was brauchen Sie, um auf den steilen Abhängen im Sattel zu bleiben." Er schloss die Türen des Pferdeanhängers. „Komm mit, Mädchen", wandte sie sich an ihre Stute. „Lassen wir dem Cowboy seinen Willen. Du bleibst zu Hause." Sie versuchte Boots zurück in den Stall zu führen. Doch die Stute war durch die Gegenwart der fremden Pferde so aufgeregt, dass sie jedes Mal seitlich auswich, sobald Jacquelyn nach der Leine griff.
A.J. kam zu ihr und stieß einen leisen, sanften Pfiff aus. Boots antwortete mit einem freundlichen Wiehern. Dann trabte sie auf ihn zu und rieb die Schnauze an seiner Schulter, als seien sie alte Freunde. Verdammte Verräterin, dachte Jacquelyn und beobachtete das Pferd mit finsterer Miene. Schließlich nahm sie die Leine und führte Boots in den Stall. " Als sie zurückkam, meinte A.J.: „Hazel bat mich, Ihnen das zu geben." Grinsend fügte er hinzu: „Ihr Abgang gestern war sehenswert." ' Er zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Westentasche. „Was ist das?" „Eine Reiseroute. So hat Hazel es wenigstens genannt. Sie hat sehr genaue Vorstellung davon, wie dieser Trip sein soll." Jacquelyn wollte das Blatt auseinanderfalten, doch er hielt ihre Hand fest. „Sie können es sich in Ruhe im Wagen ansehen. Ich verschwende nicht gern Zeit, wenn ich etwas vorhabe. Also brechen wir auf." Sie befreite ihre Hand aus seinem Griff. Ihre Hand prickelte nach dieser Berührung, daher schob sie sie zusammen mit dem Stück Papier in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Er hatte die Wagentür schon halb offen, als sie sagte: „Bevor wir einsteigen, möchte ich eines klarstellen - auch wenn Sie offenbar sehr gut Kommandos geben können, erwarte ich von Ihnen, dass Sie mein Bergführer sind, nicht mein Rekrutenausbilder. Ich gehe mit Ihnen, weil mein Beruf es verlangt. Aber wir sind nicht in der Rodeoarena, und ich bin keiner Ihrer Fans, die für Sie springen." „Nein, noch nicht", bemerkte er trocken und hob die Hand, bevor Jacquelyn Luft holen und aufbrausen konnte. „Hören Sie, ich mache diesen Babysitterjob auch nicht, weil ich von Ihrer Gesellschaft so begeistert wäre, sondern um Hazel einen Gefallen zu tun. Sie hat mir die Verantwortung für diesen kleinen Ausflug übertragen, weil ich weiß, wo wir hinmüssen und wie wir dorthin kommen. Also lassen Sie uns das gleich von Anfang an klarstellen - solange Sie unter meiner Aufsicht sind, habe ich das Kommando. Wenn Ihnen diese Bedingungen nicht passen, bleiben Sie zu Hause. Ich werde Hazel sagen, der Mut hätte Sie verlassen." Jacquelyn war völlig perplex. „Sie verhandeln wohl nie, was?" Seine graublauen Augen hielten sie erneut gefangen. „Kommt drauf an, was ich will." Ihr Herz schlug schneller. Er stieß ein raues, spöttisches Lachen aus. „Und jetzt steigen Sie ein, oder bleiben Sie hier. Es kümmert mich nicht, was eine reiche, verwöhnte, rotznäsige Göre wie Sie tut. Aber falls Sie nicht mitkommen, sagen Sie es mir gleich, dann kann ich diese Ponys zurück auf die Weide bringen, bevor sie unruhig werden." Sie starrte ihn einen langen Moment an. Dann, aus Gründen, die sie nicht in Worte fassen konnte, kletterte sie auf den Beifahrersitz des Pick-ups. Schweigend fuhren sie auf die Straße und entfernten sich vom Mys tery Valley in Richtung der östlichen Rocky Mountains. Was die „Reiseroute" betraf, die Hazel für sie aufgeschrieben hatte, so schwebte der Rinderbaronin anscheinend Großes vor. Das wurde Jacquelyn klar, sobald sie die handgezeichnete Karte entfaltet hatte. Es war unglaublich, wie detailliert Hazels Notizen bezüglich der Route waren. Jacquelyn sollte nicht nur genau Jakes Pfad folgen, sondern auch an denselben Stellen campieren. Der Höhepunkt der Reise war eine Nacht in der Blockhütte am Bridgers Summit - dem Haus, in dem Jake mit seiner Frau die Flitterwochen verbracht hatte. Benommen faltete Jacquelyn das Stück Papier wieder zusammen und verstaute es in ihrer Jacke. Wenigstens reiten wir nicht mitten im Winter dort hinauf, tröstete sie sich und sah zu dem Mann auf dem Sitz neben ihr. Er drehte den Kopf und ertappte sie dabei, wie sie ihn beobachtete. Sie wandte den Blick ab und fühlte sich unbehaglich bei der Vorstellung, mit einem Mann zusammen sein zu müssen, der so völlig anders war als sie. A.J. Clayburn unterschied sich wirklich von jedem anderen Mann, dem sie bisher begegnet war. Gleichzeitig konnte sie nicht leugnen, dass sie beim Bremsen und Gasgehen fasziniert seine harten Oberschenkel und die muskulösen Waden unter seiner Jeans beobachtete. Die Fahrt war nicht frei von Spannung. Jacquelyn hatte nichts gegen Countrymusic - in moderater Lautstärke. Doch sie war überzeugt davon, dass er das Radio fast voll aufdrehte, um sie zu ärgern. Und er hatte Erfolg damit. Die Musik zerrte an ihren Nerven. Nach etwas über einer Stunde ging es ziemlich steil bergab, und der alte Pick-up fing wild an zu hüpfen. Einer der Radioknöpfe aus Chrom fiel ab.
Jacquelyn hob ihn vom Boden auf, wobei sie mit dem Kopf gegen einen der muskulösen Schenkel stieß, die sie gerade begutachtet hatte. Verlegen richtete sie sich wieder auf und steckte den Lautstärke knopf aufs Radio. „Wieso leisten Sie sich nicht von dem Geld, das Sie verdienen, eine Anzahlung für einen neuen Pickup?" schlug sie vor. Er richtete seine Augen, die er wegen der Sonne zusammengekniffen hatte, kurz auf sie, ehe er wieder auf die Straße sah. Unter seinem Stetson lag sein Gesicht halb im Schatten. „Wenn Pick-ups Status bedeuten, habe ich jede Menge", versicherte er ihr. „Ich fahre dieses alte Mädchen zufällig, weil ich sie mag. Je älter eine Violine ist, desto schöner der Ton." „War ja nur ein Vorschlag." Sie lehnte sich in den abgewetzten Sitz zurück. „Ich dachte nur, dass ein großer Rodeostar wie Sie auch ein bisschen protzen will." Er schnaubte verächtlich. „Stars leben in Hollywood. Außerdem ist das Rodeo nicht mein Beruf, sondern meine Liebe." „Was immer Ihr Beruf ist, Hazel spricht jedenfalls gut von Ihnen." Ihr Ton verriet, dass sie am liebsten hinzugefügt hätte: „Na ja, über Ge schmack soll man nicht streiten." „Hazel und ich denken in vieler Hinsicht ähnlich. Besonders über Mystery." „Falls das schon wieder eine Anspielung auf unwillkommene Fremde sein soll, nur zu." „Die Sache ist ganz einfach. Die freien Flächen schrumpfen im Westen dahin. Dummheit, Gier und Kapital aus dem Osten werden das Land ruinieren. Dagegen kämpft Hazel. Aber ebenso gut könnte sie versuchen, den Ozean mit einem Besen aufzuhalten." „Wegen Leuten wie mir, meinen Sie?" „Vielleicht nicht gerade Sie", räumte er widerstrebend ein. „Aber solche wie mein Vater, nicht wahr? Der seinen Wohnpark Mountain View mit Flugverbindung unbedingt bauen will?" „Ich bin dazu erzogen worden, nicht schlecht über die Eltern anderer Leute zu reden, solange diese Leute dabei sind. Also werde ich keine Namen nennen. Aber es gibt ein paar Leute im Mystery Valley, die keine Baulöwen mögen. Wir brauchen hier keine Leute, die schnellen Profit wollen und dann wieder verschwinden - und uns mit dem Chaos zurücklassen." Jacquelyn wollte etwas sagen, doch A.J. stellte einfach das Radio lauter und sang laut mit. 5. KAPITEL „Sie werden dieses Pferd reiten", erklärte A.J. und führte einen der Wallache die kurze Anhängenrampe hinunter. „Es ist ein gutes Tier, aber tückisch wie eine Rothaarige. Seien Sie auf der Hut, besonders wenn Sie den Sattelgurt festzurren. Er hält gern die Luft an, um den Reiter später abzuwerfen." Jacquelyn musterte das unmögliche Pferd. Die Mustangs mit ihrer kräftigen Statur und der gewölbten Brust, kamen ihr hässlich und ungraziös vor. Aber sie besaßen stark ausgebildete Muskeln und mächtige Hinterläufe. „Ihrer heißt Roman Nose", erklärte er. „Er wurde nach einem abtrünnigen Häuptling benannt, der die Cheyenne Dog Soldiers in dieser Gegend anführte." „Ich weiß, wer das war", erwiderte sie, beeindruckt von seinem Wissen, was sie sich jedoch nicht anmerken lassen wollte. „Ach ja, Sie haben ja ordentlich recherchiert, nicht wahr?" Inzwischen war sie viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um auf seine Stichelei einzugehen. Dieser Ritt durch die Berge war nicht gerade die brillanteste Unternehmung, der sie je zugestimmt hatte. Aber jetzt hing sie mit drin. Der Platz, an dem sie angehalten hatten, sah kaum nach einem günstigen Punkt aus, um zu einer Tour aufzubrechen, die laut Hazels Prophezeiung ihr Leben verändern würde. A.J. nannte es ihren „Ausgangspunkt" - ein kleines Dörfchen namens Truth or Dare am Fuße der Berge. Zahl der Einwohner: 740. Im letzten Jahrhundert war es eine Station zum Pferdewechseln gewesen. Jetzt war es eine letzte Ansammlung aus Tankstellen, Restaurants und Motels an den grünen Ausläufern der gewaltigen Rocky Mountains. „Aufgepasst!" rief A.J. Er stand inzwischen auf der Ladefläche des Pick-ups und warf ihre Ausrüstung herunter. Trotz seiner Warnung rollte das Bündel so hart gegen ihre Beine, dass sie fast umgefallen wäre.
„Hören Sie", sagte er mit harter Miene, „ich rede hier nicht, um meine eigene Stimme zu hören. Passen Sie gefälligst auf! Fangen Sie an, Ihr Pferd zu beladen. Sie werden die Steigbügel für Ihre Beine neu einstellen müssen." Jacquelyn warf ihm einen grimmigen Blick zu. Dann trug sie den abgewetzten Sattel zu Roman Nose, den sie auf einer Wiese angepflockt hatte. Sie ließen A.J.s Wagen mitsamt Anhänger sicher geparkt hinter einer Tankstelle am westlichen Ende des Dorfes zurück. Von hier aus waren die Berge so nah, dass Jacquelyn deutlich die blaue Akelei und andere Blumen an den unteren Hängen erkennen konnte. Roman Nose graste friedlich, während sie ihm die Satteldecke auflegte. Anschließend warf sie ihm den ungewöhnlich schweren Sattel auf. Anders als ihr Englischer Reitsattel hatte dieser einen hohen Vorderzwiesel mit einem Sattelhorn und einen hohen, schmalen Hinterzwiesel, um Hüften und Po zu stützen. A.J. nannte ihn einen „Arbeits sattel. " „Sind Sie am Boden festgewachsen?" Seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Ich bin längst fertig zum Aufbruch. Machen Sie zu, ich kann mich nicht den ganzen Weg über um Sie kümmern." Wut stieg in ihr auf. „Falls Sie es noch nicht mitbekommen haben, ich bin keiner Ihrer Cowboys, den Sie zum Viehtrieb angeheuert haben! Also fahren Sie zur Hölle!" „Sie haben ein flottes Mundwerk, das muss ich Ihnen lassen", neckte er sie, bevor er sie am Arm packte und wie einen Sack Getreide gegen den Sattel warf. Jacquelyn hätte schwören können, dass er bei dieser Balgerei auch seine Hand über ihren Körper gleiten ließ. Das war nun wirklich überflüssig gewesen. „Ich meine es ernst", warnte sie ihn. „Ich tue das hier nur für Hazel." „Geht mir genauso. Sie ist der einzige Grund. Andernfalls würde ich einen großen Bogen um Sie machen." „Auch wenn Hazel mich darum gebeten hat, mittlerweile bin ich fast so weit, die ganze Sache doch noch abzublasen!" rief sie ihm nach, da er ihr bereits wieder den Rücken zugewandt hatte. „Meinetwegen", entgegnete er und befestigte seinen zusammengerollten Schlafsack mit Lederbändern am Hinterzwiesel seines Sattels. „Machen Sie, was Sie wollen. Hazel rechnet damit, dass Sie kneifen, und ich auch. Übers Zähsein schreiben kann jeder." Sie biss sich unentschlossen auf die Unterlippe. A.J. schenkte ihr absichtlich keine Beachtung mehr, sondern war damit beschäftigt, einen schweren Sack Getreide ans Sattelhorn zu hängen. Auch an ihrem Sattelhorn hing einer. Da die Pferde beim Aufstieg schwer arbeiten wür den, brauchten sie viel Hafer, um bei Kräften zu bleiben. Erneut gingen ihr seine Worte durch den Kopf: „Hazel rechnet damit, dass Sie kneifen, und ich auch." „Ich bin gleich so weit", sagte sie schließlich und bückte sich, um die Länge der Steigbügelriemen einzustellen. Sie war fast fertig, als A.J. absaß und zu ihr ging. Seine Miene drückte Missbilligung aus. „Was ist denn jetzt schon wieder?" fragte sie resigniert. „Hat mein Flanellhemd vielleicht nicht die richtige Farbe für Pioniere? Oder meine Jeans nicht genug Nieten an den Taschen?" „Haben Sie nichts anderes außer diesen extravaganten Stiefeln?" erkundigte er sich und deutete auf ihre Reitstiefel aus glattem, ochsenblutfarbenen Kalbsleder. Seine Hand glitt über ihre Wade. Jacquelyns Meinung nach war das nur eine weitere unnötige Berührung. „Die wurden in Dorset, England, handgenäht und werden von einigen der besten Jockeys der Welt getragen." „Ach wirklich, mein Herz?" Er drückte ihr Bein. Seine große Hand schien ihren Knöchel warm zu umschließen. „Tja, der Eagle Pass ist aber leider nicht das Kentucky Derby. Haben Sie mal versucht, bei einem harten Ritt mit flachen Absätzen in den Steigbügeln zu reiten?" „Ich habe gelernt, harte Ritte zu vermeiden", klärte sie ihn kühl auf. „Dann werden Sie eben vergessen müssen, was Sie gelernt haben. Viel Glück dabei, wenn Sie mit diesen verrückten Schuhen in den Steigbügeln bleiben wollen." „Das schaffe ich schon", versicherte sie ihm selbstbewusst. „Es ist viele Jahre her, seit ich zuletzt von einem Pferd abgeworfen wurde." Er schlenderte gelassen zurück zu seinem Pferd, langbeinig und schlank. Selbst im Profil strahlte er Arroganz aus, und in diesem Moment wusste Jacquelyn, dass sie diesen Mann hasste. „Es gibt einen alten Cowboy-Spruch: Kein Pferd, das nicht geritten, kein Reiter, der nicht abgeworfen werden könnte." „Du liebe Zeit, Mr. Clayburn, Sie sind ja so drollig. Ich bin ganz beeindruckt von Ihren anschaulichen Westernsprüchen. Wenn Sie mich jetzt bitte ..." Sie verstummte, da sie sah, wie er ein
Gewehr aus einem Wildlederfutteral zog und es in eine Ledertasche an der Seite seines Sattels schob. „Wofür ist das?" „Wozu wohl? Für den Fall, dass Sie über mich herfallen und versuchen, mich zu vergewaltigen. Ihr Südstaatenmädchen seid bekannt dafür, dass bei euch leicht die Sicherungen durchbrennen." Sie verkniff sich die Frage, ob dieses Vorurteil auf Wutausbrüche oder Leidenschaft anspielte. Aber das wollte sie auch nicht so genau wissen. „Ich werde mir Mühe geben, mich zu beherrschen", bemerkte sie trocken. „Im Ernst, wozu brauchen Sie das?" „Bären und so", antwortete er, und ein verschlagenes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Grizzlys?" „Wahrscheinlich nicht. Aber es gibt dort oben Schwarzbären von stattlicher Größe. Im Sommer ziehen sie sich in die höheren Lagen zurück." „Dürfen Sie denn überhaupt Bären schießen?" „Nicht wenn sie gerade Zeitungsreporter anfallen. Also, wenn ein Gewehr Sie schon nervös macht, können Sie sich noch auf einiges gefasst machen. Bären sind dort oben nämlich nur eine von vielen Gefahren. Wir werden reißende Wasserläufe überqueren müssen und Abhänge, die so rutschig sind, dass sogar Bergziegen manchmal abrutschen und in den Tod stürzen. Weiter unten werden wir auf plötzliche Überschwemmungen achten müssen. Außerdem sind da noch ..." Jacquelyn war sich nicht sicher, doch sie glaubte ein kurzes Zögern an ihm zu bemerken - ein flüchtiger Riss in seiner Fassade der selbstbewussten Gelassenheit, bevor er fortfuhr. „Dann sind da noch weiter oben die Lawinen." „Lawinen? Reiten wir etwa auch durch Schnee?" „Eigentlich nicht. Die Schneegrenze wird knapp oberhalb unseres höchsten Punktes verlaufen. Aber dicke Schneebretter vom letzten Winter können abbrechen und auf jeden herunterstürzen, der sich unterhalb davon befindet." Mit grimmiger Miene drehte er sein Pferd um, so dass beide Tiere tänzelnd vor Unruhe über diese Verzögerung nebeneinander standen. „Und jetzt habe ich genug von Ihren Fragen", verkündete er. „Allein durch Reden kommen wir nämlich nicht über den Eagle Pass. Also, entweder reiten wir jetzt los, oder ich fahre Sie nach Mystery zurück." Jacquelyn nahm sich zusammen und folgte ihm, wobei sie sich fragte, was den Mann so auf die Palme gebracht hatte. Klar war nur eines: Sie würde fünf lange Tage mitten in der Wildnis mit ihm verbringen müssen. Da würde sie noch genug Gelegenheit haben, seine wunden Punkte kennen zu lernen. Trotz ihrer düsteren Stimmung begann Jacquelyn rasch, die Schönheit dieses Tages zu genießen. Der Pfad, dem sie den sanft hügeligen Fuß der Berge hinauf folgten, wurde jetzt nur noch selten benutzt, so dass er fast völlig mit Gras und Bodengewächsen überwuchert war. A.J. fand sich jedoch zurecht, selbst ohne Kompass und Landkarte, indem er sich nach Orientierungspunkten im Gelände richtete. Es war töricht gewesen, seine Erfahrung anzuzweifeln. Die kühle, klare Luft strich über Jacquelyns Haut, und in den wundervollen Bergen, die jetzt vor ihnen aufragten, wuchsen überall Koniferen auf den niedrigeren Hängen. Sie erreichten eine schmale, trockene Felsspalte, die sie auf einer steinernen Fußbrücke überquerten. Kurz darauf kamen sie an einen ruhigen Teich, der von einem. Bach gespeist wurde. A.J. hielt sein Pferd vor ihr und schwang sich aus dem Sattel. „Wir sollten jetzt die Pferde tränken und unsere Feldflaschen füllen", erklärte er. „Dies ist die letzte Wasserstelle in den tieferen Lagen." Jacquelyn saß ebenfalls ab und ließ Roman Noses Zügel fallen, damit er saufen konnte. Sie musste die Augen mit der Hand gegen die grelle Sonne des frühen Nachmittags schützen. Während A.J. zum Wasser ging, bemerkte sie erneut, wie er sein verletztes Bein schonte. Sie erinnerte sich an Hazels Beschreibung seines Rodeounfalls und empfand einen Anflug von Mitgefühl. „Hazel hat mir erzählt, dass Ihre letzte Verletzung ziemlich schlimm gewesen ist", rief sie. „Sie meinte, dass möglicherweise sogar Ihre Rodeokarriere gefährdet ist." Er drehte sich um und schraubte den Deckel seiner Feldflasche zu. Jacquelyn bemerkte, wie ein Schatten über sein Gesicht huschte. „Das ist Hazels Lieblingsthema. Aber sie ist eine Frau, daher plappert sie manchmal." „Es war nicht meine Absicht, einen wunden Punkt zu berühren." „Ich nehme an, dort, wo Sie herkommen, ist es bloß Konversation, im Leben anderer herumzuschnüffeln. Wir hier nennen es schlicht Neugier." Eine Weile herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann deutete er bergauf. „Weiter
oben kommen keine Brücken mehr. Sie sollten also besser Ihren Sattel und den Sattelgurt noch einmal überprüfen." „Ich habe beides bei unserem letzten Stopp überprüft", erwiderte sie. „Wieso kümmern Sie sich nicht um Ihr eigenes Pferd?" Er schwang sich wieder in den Sattel und wendete mit seinem Mustang. Dann beugte er sich vor, stützte einen seiner muskulösen Unterarme auf das Sattelhorn und beobachtete sie mit dem typischen spöttischen Zug um den Mund. „Ganz wie Sie wollen, Ma'am. Von jetzt an werde ich meinen Mund halten." 6. KAPITEL Während die Sonne allmählich Richtung Westen wanderte, gelangten die beiden Reiter zu den ersten Berghängen. Zuerst blieb das Reiten einfach, da sie durch saftige Wiesen mit Wildblumen ritten. Das Gras war so hoch, dass es manchmal die Stiefel der Reiter streifte. Trotz der offenkundigen Feindseligkeit und Verdrießlichkeit ihres Führers A.J. bewunderte Jacquelyn weiter begeistert die Landschaft. Die kühle, frische Luft, die Sonne und die herrliche Aussicht entschädigten sie dafür, dass sie gezwungen war, diesem Cowboy zu folgen. Ich werde nie mit ihm warm werden, dachte sie, wobei ihr sofort das nächste Problem einfiel: Die Nacht stand bevor. Sie wusste, wo sie campieren würden, da es auf der Karte markiert war. Es war dieselbe Stelle, an der Jake McCallum im vorletzten Jahrhundert campiert hatte. Doch fragte sie sich, wie das Schlafarrangement aussehen würde. Plötzlich kam sie sich so weit weg von der Zivilisation sehr verletz lich vor und wünschte, sie hätte sich einen Plan überlegt, solange sie noch im Wagen gesessen hatte. Bei der Ausrüstung waren ihr Schlafsäcke und ein winziges Zelt aufgefallen. Sollten sie etwa beide darin schlafen? Wenn ja, würde sie lieber im Freien übernachten. „Anhalten!" rief er und stoppte vor ihr. „Müssen Sie immer herumkommandieren?" beschwerte sie sich. „Wir sind doch keine biwakierenden Soldaten." Er schenkte ihr keine Beachtung, sondern schwang das Bein über den Hinterzwiesel und landete leichtfüßig wie eine Katze. Dann begann er, sein Pferd abzusatteln. „Was ... was haben Sie vor?" wollte sie wissen und ärgerte sich, dass sie sich ihre Unsicherheit anmerken ließ. „Dies ist nicht der Platz für das erste Lager. Ich dachte, wir machen nur eine kurze Rast." „Die Sonne scheint noch warm", entgegnete er knapp und warf seinen Sattel zur Seite. „Und die Felsen ebenfalls. Die Satteldecken sind nass vom Schweiß. Wenn wir sie jetzt nicht trocknen, müssen wir sie morgen früh nass auf die Pferde legen. " Er betrachtete sie mit seinen durchdringenden, faszinierenden Augen. „Sie sollten anfangen, sich mehr Gedanken über die Pferde zu machen und weniger über Ihre verdammten Fingernägel." „Meine Körperpflegegewohnheiten gehen Sie nichts an", konterte Jacquelyn. „Meine Pferde schon. Also los, nehmen Sie dem Pferd die nasse Decke ab." Jacquelyn biss sich auf die Zunge, stieg ab und löste den Sattelgurt, um den schweren Sattel abzunehmen. Der Cowboy hatte Recht, auch wenn sie es nur widerwillig zugab. Trotz der kühlen Brise und niedrigen Luftfeuchtigkeit waren die Satteldecken nass vom Schweiß, da die Pferde die ganze Zeit bergauf gegangen waren. Jacquelyn machte es wie A.J. und breitete die Decke auf einem sonnenbeschienenen Felsen neben dem Pfad aus. Während die Decken in der Sonne trockneten, striegelten sie die Pferde. A.J. blieb schweigsam, sein Gesicht im Schatten seines Hutes verborgen. Jacquelyn bemerkte, wie er zu einem Punkt weiter oben am Hang sah. Eine Gruppe von Bergantilopen, etwa sechs oder sieben, suchte sich ihren Weg von wolkenumhüllten Granitgipfeln herunter. „Hm, das ist seltsam", bemerkte A.J. mehr zu sich selbst. „Was ist seltsam?" „Bergantilopen gehen normalerweise allein auf Futtersuche. Man sieht sie selten in einer Gruppe." „Sind Jäger hinter ihnen her?" wollte Jacquelyn wissen. „Nein, nicht so hoch oben. Dort oben gibt es keine Zufahrtsstraße. Wahrscheinlich kommt ein Unwetter auf."
Er klang deswegen nicht allzu beunruhigt. Also würde Jacquelyn sich auch keine Sorgen machen, besonders da der Tag so klar und sonnig war. Das ließ ein Unwetter so gut wie unmöglich erscheinen. Allerdings neigte sich der Tag allmählich dem Ende, und bald würde der peinliche Moment kommen, an dem sie bestimmte Dinge klären mussten. Diese Aussicht machte sie ein wenig nervös. Sicher, Hazel hatte sich für diesen Kerl verbürgt. Aber was wusste sie schon von ihm? Der Tag war noch nicht um, und er hatte sie bereits so eingehend gemustert, dass er inzwischen ihre BH-Größe wusste, ganz zu schweigen davon, dass er sie mit der Gründlichkeit eines Arztes angefasst hatte. Falls er glaubte, dass er auch mit ihr die Schlafstelle teilen würde, hatte er sich getäuscht. Jacquelyn suchte nach einem diplomatischen Weg, das Thema zur Sprache zu bringen. Doch schließlich kam sie direkt zur Sache: „Wie werden wir eigentlich schlafen?" Er richtete den Blick auf sie, schlau und wissend, und sie errötete wie ein Schulmädchen. „Kein Problem", versicherte er ihr. „Ich dachte mir, wir schlafen einfach in einem Tucson-Bett." „Was ist das denn?" „Man liegt auf dem Bauch und deckt sich mit seinem Rücken zu", erklärte er mit ausdrucksloser Miene. Jacquelyn starrte ihn an und begriff nicht. Er lachte. „Im Ernst", sagte sie. „Was ..." „Sie machen sich zu viele Gedanken, Miss Rousseaux." „Ich bin eine Frau. Ich habe ein Recht darauf, zu erfahren, wie wir schlafen werden." „Hören Sie, es fällt uns Männern sehr leicht, unsere fleischlichen Gelüste unter Kontrolle zu halten, wenn es gar nichts gibt, worauf sie sich richten könnten. Ich bin nicht gerade ausgehungert, wenn Sie verstehen, was ich meine. Also brauchen Sie keine Angst zu haben, dass ich auf Ihren süßen kleinen Po starren werde." „Sie arroganter, selbstgefälliger ..." „Die Decken sind jetzt trocken genug", unterbrach er sie. „Satteln Sie Ihr Pferd, und ersparen Sie mir Ihren Mumpitz." Schäumend vor Wut tat sie, was er ihr befahl. Doch aufgebracht, wie sie war, vergaß sie völlig, den Sattelgurt zweimal zu überprüfen. „Nicht weit von diesem durch Erosion entstandenen Bach ist die Stelle, an der Jakes Pferd in den Bau einer Taschenratte getreten ist", sprach Jacquelyn in ihr Diktafon. „Als sich der entschlossene junge Pionier bei diesem Sturz den linken Arm brach, schiente er ihn selbst mit dem Tragriemen seiner Feldflasche." Die Sonne war noch immer am Himmel zu sehen, doch nur noch als dunkel orangefarbener Ball am westlichen Horizont. Laut Hazels Karte würden sie bald den Crying Horse Creek überqueren. Danach würden sie ihr erstes Lager aufschlagen. Das Licht des zu Ende gehenden Tages war wunderbar und legte sich wie ein goldener Schleier auf alle Dinge. Während sie auf Jakes Spuren reiste, erfasste sie der Zauber dieser Geschichte, als würde sie den Klängen mystischer Musik lauschen. „Die Liebe, die Jake und Libbie McCallum füreinander empfanden", diktierte sie weiter, „entsprach ihrer gemeinsamen Liebe für dieses raue, aber wunderschöne neue Land. Die eine Liebe verschmolz mit der anderen und verband sich zu einer Liebe, die in jeder Hinsicht so groß und endlos war wie der amerikanische Westen selbst." Sie schaltete das Diktafon ab und verstaute es wieder in der Satteltasche. A.J. drehte sich abrupt zu ihr um und warf ihr einen langen, eindringlichen Blick zu, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf den Pfad vor ihm richtete. „Was ist los?" wollte Jacquelyn wissen. „Langsam begreife ich, weshalb Hazel wollte, dass Sie diese Reise machen. Sie verstehen es wirklich, mit Worten umzugehen." Das klang ja fast wie ein Kompliment. Misstrauisch erwiderte sie: „Ich hoffe es. Schließlich ist das mein Beruf." „Als ob Sie einen Beruf bräuchten, bei dem Reichtum Ihres Vaters." Natürlich, sagte sie sich wütend, dieser Mistkerl muss sofort jeden guten Impuls in sich zunichte machen. Mit grimmiger Miene versuchte sie, ihn von jetzt an zu ignorieren. Schon bald jedoch verdrängte ein neues Problem A.J.s Rohheit aus ihren Gedanken. Seit einiger Zeit hatte sie das Rauschen eines schnell dahinfließenden Gewässers gehört. Doch beim Anblick dessen, was sie hinter dem nächsten Felsen sah, blieb ihr Herz für einen Moment ste hen.
„Das ist der Crying Horse Creek?" rief sie entsetzt. „Das ist kein Bach, sondern ein reißender Fluss!" „Den überwiegenden Teil des Jahres ist er tatsächlich nur ein Bach", versicherte A.J. ihr. „Aber zweimal im Jahr wird das Staubecken am Point Cheyenne geöffnet. Es ist Schmelzwasser, daher ist es sehr kalt. Sie müssen es rasch durchqueren." „Durchqueren?" wiederholte sie benommen. Das klare Wasser floss in der Mitte des Flusses so schnell, dass es schäumte. Jacquelyns Pferd ging bereits auf die grasbewachsene Uferböschung zu und zeigte nicht die geringste Angst. „Tun Sie nichts außer sich festhalten", rief er über das laute Tosen des Wassers hinweg. „Bleiben Sie einfach im Sattel sitzen und lassen die Zügel locker. Diese Pferde sind gute Schwimmer. Sie werden alle Arbeit für Sie übernehmen." „Ich glaube nicht, dass ich ... oh!" Als Roman Nose sah, wie sein Kumpan in den reißenden Fluss stieg, folgte er ihm sofort. Obwohl Jacquelyn völlig überrumpelt war, gelang es ihr, sich am Sattelhorn festzuhalten, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Doch als Roman Nose schnaubend ins Wasser stieg, machte der Wallach eine kurze, starke Drehung, die Jacquelyn nach rechts rutschen ließ - oder besser gesagt, den lockeren Sattel und damit auch sie. Erschrocken schnappte sie in dem schäumenden Wasser nach Luft. Es war so kalt, als würde sie nackt in eine Schneewehe fallen. Roman Nose schwamm unbeeindruckt ohne sie auf das gegenüberliegende Ufer zu und wieherte, um seinen schlauen Sieg über seine Reiterin zu verkünden. Jacquelyn war unter normalen Umständen eine gute Schwimmerin. Doch mit Stiefeln und der schweren Jeans in einer reißenden Strömung sah die Sache anders aus. Zuerst wurde sie so wild herumgewirbelt, dass sie sich nicht einmal orientieren konnte. Außerdem befanden sich große Felsbrocken im Wasser, so dass sie ihren Kopf schützen musste und nur mit den Beinen schwimmen konnte, während sie rasch stromabwärts getrieben wurde. Das Wasser war so entsetzlich kalt, dass ihr Körper sich schon nach wenigen Minuten taub anfühlte und sie heftig mit den Zähnen klapperte. „Lasso!" hörte sie A.J. rufen. „Packen Sie das Lasso!" Welches Lasso? wollte sie schreien, als es sie auch schon buchstäblich ins Gesicht traf. Er hatte eine akkurate Schlinge gemacht. Sie schnappte danach und wurde durch den schlimmsten Teil des Flusses gezogen. Sobald sie es geschafft hatte, watete sie taumelnd ans Ufer. Sie sah aus wie eine ertrunkene Ratte, und so fühlte sie sich auch. A.J. stand über ihr und lachte. „Es ist schon Jahre her, seit ein Pferd mich abgeworfen hat", äffte er sie nach. Jacquelyn fror viel zu sehr, um sich gedemütigt zu fühlen. Mit der einsetzenden Dämmerung wurde es immer kälter, und jede kleine Brise schnitt ihr jetzt wie ein Messer in die nasse Haut. Ihre Ersatzkleidung würde im wasserdichten Rucksack trocken geblieben sein. Allerdings stellte sie ängstlich fest, dass es nirgends eine Stelle gab, an der sie sich ungestört umziehen konnte. A.J. schien ihre Gedanken zu ahnen und meinte grinsend: „Sie wollen bestimmt schnell aus den nassen Klamotten, oder?" „Das kann warten" , erwiderte sie bibbernd. Der Lagerplatz war nur noch eine halbe Meile weit entfernt. Dort würde es Bäume geben, hinter denen sie sich umziehen konnte. „Nur zu", ermutigte er sie und hielt sich demonstrativ die Augen zu. „Ziehen Sie sich aus. Ich werde nicht hinsehen, Ehrenwort." „Nein, danke. Lassen Sie uns einfach Weiterreiten." Sie zwang sich, sich zu bewegen, rückte ihren Sattel zurecht und zurrte ihn fest. Die Berührung der nassen, kalten Kleidung auf ihrer Haut ließ sie zusammenzucken. Sie wollte sich gerade in den Sattel schwingen, als eine warme, starke Hand sie aufhielt. „Interpretieren Sie nicht zu viel da hinein, Miss Rousseaux. Ich will Hazel nur keine Leiche zurückbringen. Man holt sich schnell eine Unterkühlung. Ziehen Sie Ihre nassen Sachen aus, und zwar jetzt." Sie starrte ihn an, am ganzen Körper bibbernd. „Hier kann ich mich nirgends ungestört umziehen." „So nass, wie Sie sind, kann ich ohnehin schon eine Menge sehen." Erschrocken schaute sie auf ihr nasses Hemd, das ihr an der Brust klebte. Der helle pinkfarbene Wollstoff war jetzt durchsichtig wie ein Negligee, und auch ihr glänzender pinkfarbener BH war nahezu vollkommen durchsichtig. Eine professionelle Stripperin hätte kaum aufreizender aussehen können.
Jacquelyn verschränkte die Arme vor der Brust und warf A.J. einen wütenden Blick zu. „Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten kein Interesse daran, mich nackt zu sehen?" „Nein", antwortete er. „Ich habe gesagt, ich sei nicht gerade ausgehungert. Mit meinem Appetit ist jedoch alles in Ordnung." „Sparen Sie sich den für Ihre weibliche Fangemeinde", konterte sie und ging zitternd zu Roman Nose, um trockene Kleidung aus ihrer Tasche zu nehmen.
7. KAPITEL Das erste Lager, das Jake McCallum bei seiner Überquerung der Rocky Mountains aufgeschlagen hatte, befand sich in einer von Kiefern geschützten Senke. Als A.J. und Jacquelyn den Platz erreichten, war er noch in die letzten Sonnenstrahlen getaucht. Obwohl Jacquelyn sich trockene Sachen angezogen hatte, war sie so durchgefroren, dass sie noch immer zitterte. Mit klammen Fingern nahm sie ihrem Pferd Sattel und Zaumzeug ab und striegelte es. Als A.J. damit beschäftigt war, Rinde zum Anzünden von einem alten Baumstamm zu schälen, nahm sie ihre nassen Kleider aus der Sattelta sche und hängte sie außerhalb seiner Sichtweite auf einen Ast. Nachdem A.J. das Feuer entfacht hatte, rutschte Jacquelyn so nah heran wie möglich, um endlich nicht mehr bibbern zu müssen. A.J. hob eine Nylonschnur mit einem Haken. „Ich werde mich um unser Abendessen kümmern. Versorgen Sie inzwischen die Pferde:" Ohne ein Wort des Protestes machte sie sich an die Arbeit, während er in der Dunkelheit zwischen den Bäumen verschwand. Sie bewegte sich ein wenig langsamer als sonst, da ihr Rücken durch den ungewohnt hohen Zwiesel schmerzte und ihre Finger von ihrem Sturz in den Fluss noch taub vor Kälte waren. Sobald die Sonne verschwunden war, wur de es merklich kälter, und sie war froh, endlich auf einem Felsen am Feuer sitzen zu können, nachdem sie ihre Arbeit erledigt hatte. Die Geräusche der nächtlichen Insekten wurden rasch lauter. Es klang wie das Summen dicker Hochspannungsleitungen. Die Flammen fraßen knisternd das Feuerholz, aus dem viele kleine Funken aufstiegen. Jacquelyn atmete den würzigen Duft des Kiefernharzes ein. Trotz des friedvollen Augenblicks war die Dunkelheit um sie herum vollkommen und unheimlich. Irgendwo außerhalb des Feuerscheins knackte ein Zweig, und Jacquelyn spähte nervös in die Finsternis. Vorsichtig erhob sie sich von dem Felsen. „A.J.?" rief sie. „Sind Sie das?" Niemand antwortete. Ein Frosch quakte, und irgendwo in der Nähe war der Ruf einer Eule zu hören. Die Insektenlaute schwollen an. Links von Jacquelyn raschelte plötzlich das Laub. Sie erstarrte. „A.J.?" rief sie erneut, diesmal lauter. „Sind Sie ..." Eine Hand legte sich ihr von hinten auf die Schulter. Jacquelyn schrie vor Angst auf, wirbelte herum und starrte in A.J.s grinsendes Gesicht. Er hielt ihr zwei fette Forellen zur Begutachtung vor die Nase. „Sie sind ein bisschen schreckhaft, was?" „Das war nicht sehr komisch", beschwerte sie sich. „Ich finde schon" , widersprach er und begann, die Fische auf einem Felsen zu säubern. „Tatsache ist, dass Sie sogar komischer sind als ein Clown beim Rodeo. Mir fängt diese Reise langsam an zu gefallen." „Irgendetwas ist dort draußen", meinte sie nervös und spähte weiter in die Dunkelheit jenseits des Feuers. „Ich habe Geräusche gehört. Geräusche, die nicht von Ihnen kamen." „Dort draußen ist eine Menge", stimmte er zu und rieb die Forellen mit dem Saft einer wilden Zwiebel ein. „Bären, Schlangen, Kojoten, Wildkatzen, Stinktiere, Waschbären, Stachelschweine." Er machte eine kleine Ecke des Feuers frei und legte die Forellen direkt auf die glühenden Holzstücke. Er drehte sie immer wieder mit seinem Messer, wobei er die Fische erneut mit Zwiebelsaft beträufelte. Sie garten rasch. Es war ganz leicht, die verbrannte Haut abzuschälen, unter der das zarte und schmackhafte Fleisch zum Vorschein kam. Das schlichte Mahl war köstlich, wie Jacquelyn fand. Besonders bei dem Appetit, den sie inzwischen hatte. Obwohl es noch nicht spät war, war sie müde. Sie nahm ihren Mut zusammen, um erneut zu fragen, wie sie schlafen würden. A.J. kam ihr jedoch zuvor, indem er zu dem Stapel Ausrüstung ging. Er kam mit dem klein zusammengefalteten Zelt und einem Schlafsack zu Jacquelyn zurück und warf beides neben sie.
„Das ist Ihr privates Hotelzimmer", informierte er sie. „Leider ohne Zimmerservice. Und das Badezimmer ist der dritte Baum links von Ih nen. Falls Sie in der Nacht Angst haben, kauen Sie auf Ihren Fingernägeln. Aber lassen Sie mich in Ruhe. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf." „Wollen Sie nicht wenigstens das Zelt aufbauen?" fragte sie, als er bereits davonging. „Ich habe so etwas noch nie gemacht." „Dann ist das eine gute Gelegenheit, sich den ersten Orden zu verdienen. Jake hat schließlich auch niemand geholfen." „Aber Sie sind mein Führer. Hazel hat Sie engagiert, damit Sie sich um mich kümmern." „Dies ist nicht das Ritz, und ich bin nicht Ihr Angestellter. Hier draußen im Westen ist ein Führer kein Hausboy. Sie können froh sein, dass ich Ihnen etwas zu essen gemacht habe. Was Sie selbst können, sollten Sie auch tun." „Sie glauben, ein Rodeochampion zu sein macht Sie zu einer Gottheit", spottete sie. „Sie sind ganz schön blasiert für jemanden, der bloß bockende Pferde reitet." Er breitete eine Unterlage für seinen Schlafsack aus. „Ich weiß ja, dass es im Osten, wo Sie herkommen, eine Menge Snobs gibt. Hier draußen sind aber alle gleich. Hier zählen allein die Fähigkeiten eines Menschen. Und davon kann ich bei Ihnen noch nicht viele erkennen", fügte er hinzu. „Warten Sie's ab", konterte sie. Allmählich zehrte sein Spott an ihren Nerven. „Was immer Sie sagen, Süße." Endlich gelang es Jacquelyn, das kleine Zelt aufzustellen, obwohl eine Seite sofort wieder einstürzte. Aber sie war viel zu müde, um sich darum zu kümmern. Der Tag hatte lange vor Sonnenaufgang begonnen. Die Fahrt, der Ritt, ihr Sturz in den Crying Horse Creek - all das und das Auf und Ab ihrer Gefühle durch die Tatsache, von A.J. abhängig zu sein, forderten ihren Tribut. Jacquelyn schlief wie betäubt innerhalb weniger Minuten ein. Als sie aufwachte, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Erstens lag sie auf dem Rücken. Sie hatte nie auf dem Rücken schlafen können. Eine drängende innere Stimme warnte sie. Dann spürte sie das Ge wicht auf ihrem Bauch. Ein fremdes Gewicht. Wie eine Hand, die auf ihren Bauch drückte. Einen Moment lang war sie versucht, mit der linken Hand danach zu tasten. Doch ihre innere Stimme warnte sie, sich nicht zu bewegen und ganz still zu liegen. Ganz langsam hob sie den Kopf, um sich umschauen zu können. Der Eingang ihres Zeltes hatte sich ein Stückchen geöffnet, vermutlich beim Einsturz der einen Seite. Außerdem war ihr im Lauf der Nacht offenbar zu warm geworden, da der Reißverschluss ihres Schlafsack bis zu ihrem Bauchnabel offen war. Offenes Zelt, offener Schlafsack ... in dem sich eindeutig etwas befand. Etwas, das in der Nacht Wärme suchte. Jacquelyn brach der Schweiß aus, und ihr Herz begann heftig zu pochen. Vorsichtig spähte sie in die Dunkelheit ihres Schlafsacks hinunter. Zu ihrer Angst gesellte sich jetzt heftige Abscheu. Sie wusste, dass die meisten Schlangen nicht giftig waren. Aber in Montana gab es auch Klapperschlangen. Und obwohl ihr Biss für einen Erwachsenen nicht tödlich sein musste, konnte er es unter Umständen doch sein - besonders wenn man so weit von jeder medizinischen Hilfe entfernt war. Jacquelyn zwang sich, ihre Atmung unter Kontrolle zu halten. Das Gewicht auf ihrem Bauch hatte sich bewegt, als würde es auf ihre Angst reagieren. Zum Glück hatte sie vollständig bekleidet geschlafen. Andernfalls würde sie jetzt die rauen Schuppen der Schlange an ihrer nackten Haut spüren. Diese Vorstellung verursachte ihr heftige Übelkeit. Durch den offenen Zelteingang sah sie das graue Licht der Morgendämmerung. Sie nahm all ihren Mut zusammen und sagte leise: „A.J!" Nichts. Anscheinend schlief er tief und fest. „A.J.", versuchte sie es erneut, diesmal etwas lauter. Wieder bewegte sich das Gewicht auf ihr. Es war beängstigend und ekelhaft. „Ich serviere kein Frühstück am Bett", vernahm sie seine verschlafene Stimme, als sie die Hoffnung schon aufgegeben hatte. „A.J., bitte helfen Sie mir", flüsterte sie. „In meinem Schlafsack ist eine Schlange." „Bleiben Sie ganz ruhig liegen", befahl er ihr. Offenbar war er jetzt hellwach und näher an ihrem Zelt. „Man kann sie am Kopf packen, wenn man schnell ist."
Ihr Hals wurde müde, so dass sie ihren Kopf wieder zurücksinken lassen musste. Doch sie hörte das leise Ratschen des Reißverschlusses, als A.J. die Zeltklappe weiter aufmachte. Dann sah sie ihn behutsam hereinschleichen und an den beengten Platz neben ihren Schlafsack gleiten. „Ganz ruhig", flüsterte er und schob die rechte Hand in ihren Schlafsack. „Bewegen Sie sich nicht." Er duftete noch angenehm nach dem Lagerfeuer. Sein Oberkörper war nackt, und selbst im kargen Licht der Dämmerung traten seine Muskeln deutlich hervor. Jacquelyn fühlte seine Hand über ihre Brüste gleiten. Sie bildete sich ein, dass es länger als nötig dauerte. „Ich glaube Ihnen nicht", sagte sie. „Das ist doch nur ein billiger Vorwand, um mich anzufassen." „Soll ich jetzt die Schlange aus Ihrem Schlafsack holen oder auf Ihr Schamgefühl Rücksicht nehmen? Entscheiden Sie sich." Er begann sei ne Hand wieder zurückzuziehen. Panik erfasste sie. „Nein! Bitte! Es tut mir Leid. Bitte nehmen Sie sie von mir herunter, A.J." „Ihr Frauen und eure verdammten Schlangen", murmelte er. „Diese Geschichte sollte mir wenigstens einen Apfel einbringen." Erneut schob er seine Hand vorsichtig tiefer. Doch inzwischen fühlte sich die Schlange gestört. Jacquelyn hätte fast laut geschrien, als das Tier weiter nach unten glitt, fort von A.J.s Hand. Jacquelyn konnte es jetzt deutlich fühlen, wie es in der Mulde zwischen ihren Oberschenkeln lag. „Sie ist weiter nach unten gekrochen", flüsterte sie mit vor Angst bebenden Lippen. Er nickte. „Ich habe gesehen, wie sie sich bewegt hat. Jetzt weiß ich wenigstens, an welchem Ende der Kopf sitzt." Grinsend fügte er hinzu: „Ach, jetzt müsste man diese Schlange sein." Am liebsten hätte Jacquelyn ihn geohrfeigt, doch wagte sie es nicht, sich zu bewegen. Sie spürte, wie seine Hand über ihren flachen Bauch weiter nach unten glitt. Trotz ihrer Angst reagierte ihr Körper auf diese intime, wenn auch unvermeidliche Berührung. A.J. schien es zu genießen. „Gleich ist es so weit", flüsterte er. Jacquelyn wimmerte beinah. „Hoffentlich." „Hab dich!" rief er im nächsten Moment und zog seine Hand abrupt zurück. Zum Glück erhaschte Jacquelyn nur einen kurzen Blick auf das fast einen Meter lange Reptil, als er es aus dem Zelt schaffte. „Es ist bloß eine harmlose Schildkrötenschlange", meinte er und ließ das Tier frei. Jacquelyn schüttelte sich, befreite sich aus dem Schlafsack und verließ das Zelt. Inzwischen war es hell genug, um den Lagerplatz deutlich zu sehen. Plötzlich brach A.J. in Gelächter aus. „Ihr Frauen aus den Südstaaten seid wirklich schnell bei der Sache, was?" „Was soll das denn heißen?" „Na ja, wir haben gerade mal eine Nacht zusammen verbracht, und schon durfte ich meine Hand in Ihren Schlafsack schieben. Wenn das kein Fortschritt ist." „Ich hasse Sie", fauchte sie und kehrte ihm den Rücken zu, um das Zelt zusammenzubauen. „War es für Sie auch so gut?" neckte er sie weiter. Sie sah sein Grinsen vor sich, als hätte sie Augen im Rücken. B. KAPITEL Nachdem der Schreck mit der Schlange vorbei war, wich Jacquelyns tiefe Verlegenheit. Dank ihrer Dummheit hatte sie sich selbst wieder - und diesmal buchstäblich - in die Hände des Cowboys begeben. Zweimal hatte A.J. sie jetzt schon gerettet. Um alles noch schlimmer zu machen, hatte ihr Körper diese Berührung offenbar genossen. Zweifellos hatte A.J. bemerkt, wie sich ihre Atmung veränderte und sie diese Berührung, die intimer als nötig gewesen war, zuließ. Bei den ersten Schritten an diesem Tag stellte sie außerdem fest, dass ihr verräterischer Körper vom Reiten wehtat. Jetzt, wo die Angst vorbei war, bemerkte sie erst so richtig ihre schmerzenden Beine und den Rücken. A.J. verzog nur verächtlich den Mund, als er ihr Humpeln bemerkte. „Ich habe etwas herausgefunden", verkündete sie, während sie sich ihre vom Schlaf zerwühlten Haare bürstete. „Schießen Sie los." Er stocherte mit einem Stock in der Glut des La gerfeuers. „Ja, ich durchschaue es nun sehr deutlich. Je schlechter es mir geht, desto besser wird Ihre Laune." Er schnaubte.
„Hazel hat mir verschwiegen, was für eine Prüfung es ist, auf Sie angewiesen zu sein. So, und jetzt will ich baden. Darf ich fragen, wo Sie die Forellen gestern gefangen haben?" A.J. war damit beschäftigt, Anzündholz auf die alte Glut zu schichten, daher deutete er nur mit dem Kopf über die linke Schulter. „In dem kleinen Teich dort hinten, etwa hundert Meter von hier entfernt. Meinen Sie, es gelingt Ihnen hineinzufallen?" Bei der Erinnerung daran, wie sie in ihrer nassen pinkfarbenen Bluse ausgesehen haben musste, errötete sie erneut. Sie schnappte sich ein Handtuch, in das eine Seifendose und andere Dinge gewickelt waren, und marschierte ohne ein weiteres Wort davon. „Seien Sie vor Bären auf der Hut", rief er ihr nach. „Hier in der Ge gend gibt es welche. Das waren die Geräusche, die Sie letzte Nacht gehört haben. Ich habe Spuren gefunden." Jacquelyn hatte keine Ahnung, wann dieser Kerl mal die Wahrheit sagte. Doch ihr fielen die Geräusche wieder ein und verursachten ihr eine Gänsehaut. Trotzdem gönnte sie ihm das Vergnügen nicht, sie schon wieder ängstlich zu erleben. Der Teich, den er ihr beschrieben hatte, wurde gespeist durch eine in der Nähe sprudelnde Quelle. Daher war das Wasser eiskalt und kristallklar. Aber es war auch erfrischend, und sie spritzte es sich ins Ge sicht, um wach zu werden. Mit kritischem Blick betrachtete sie sich im Spiegel ihrer Puderdose. Ihre schöne Haut, zu der Hazel ihr Komplimente gemacht hatte, begann sich von der vielen frischen Luft zu röten. Sie wusch sich und tupfte ihr Gesicht ab. Dann trug sie ein wenig Rouge auf und fragte sich, ob Hazel das auf dieser Reise wohl gutheißen würde. Jacquelyn hatte sich gerade umgedreht, um ihr Spiegelbild auf der gekräuselten Wasseroberfläche zu begutachten, als sie ganz in der Nähe Laub rascheln hörte. In Panik floh sie zurück zum Lager. Erst in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie sehr sie von A.J. abhängig war. Und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie beobachtete ihn feindselig dabei, wie er seinen Schlafsack und die Unterlage zusammenrollte. „Wir haben nicht den ganzen Morgen Zeit, damit Sie sich das Ge sicht anmalen können", meinte er schroff. „Wenn Sie frühstücken wollen, dann tun Sie es jetzt. Und beeilen Sie sich. In fünf Minuten sattle ich das Pferd." „Jawohl, Herr Kommandant!" entgegnete sie mit militärischem Gruß, ehe ihr klar wurde, dass er sie am Teich gesehen haben musste. Ein Schauer überlief sie. Hazels detaillierte Anleitungen enthielten auch die Bitte, im Lauf der Reise Jake McCallums schlichte Mahlzeiten zuzubereiten. Während Jacquelyn am Teich gewesen war, hatte A.J. Maismehl mit Wasser verrührt, Teigbällchen geformt und diese direkt in die heiße Asche gelegt. Heiße Maiskuchen und ungesüßter schwarzer Kaffee, „der einem die Fußnägel hochklappte", wie Jake die Mahlzeit beschrieben hatte, waren ein schlichtes, aber ausreichendes Frühstück. Als sie dem schmalen Pfad weiter bergauf folgten, war die Sonne gerade erst aufgegangen. Sobald sie die Bäume hinter sich gelassen hatte, sah Jacquelyn, dass die Täler noch im Nebel lagen. Ihr Diktafon hatte den Sturz in den Crying Horse Creek überlebt, und so begann sie die Landschaft unter ihnen zu beschreiben. Leider gab A.J. ihr keine Gelegenheit, die Schönheit der Natur in Ruhe zu genießen. Wieder einmal hielt er ihr einen Vortrag über die vor ihnen liegenden Gefahren. Jacquelyn wurde rasch klar, dass er sich große Mühe gab, ihr Angst einzujagen. „Irgendwann morgen werden wir Devil's Slope erreichen", informierte er sie. „Ja, es ist auf Hazels Karte markiert. Ist es sehr steil dort?" „Ist Paris eine Stadt? Aber dass es steil ist, ist nur eines der Probleme. Der Pfad ist dort über hunderte von Metern mit losem Schiefergeröll und Vulkangestein übersät. Zu beiden Seiten ragen die Felswände steil auf. Selbst Bergziegen sind auf diesen Felsen schon abgestürzt. Im Ernst, vielleicht möchten Sie lieber ein Testament aufsetzen, bevor wir diesen Pass überqueren. Oder ein paar letzte süße Worte an Ihren Freund in Georgia schreiben." „Ich habe keinen Freund in Georgia", informierte sie ihn. Diese Antwort schien ihn unerklärlicherweise zufrieden zu stellen. Statt weiter darauf einzugehen, wechselte sie das Thema. „Woher kennen Sie Hazel eigentlich? Immerhin ist es offensichtlich, dass Sie sich ihr gegenüber verpflichtet fühlen." „Als die Clayburns Anfang der dreißiger Jahre nach der Weltwirtschaftskrise hierher kamen, waren sie so arm, dass die Babys Windeln aus Mehlsäcken trugen. Aber die McCallums beurteilten einen Men-
schen nie danach, wie viel Geld er besaß. Für sie zählte allein der Charakter. Hazels Vater stellte meinem Dad Land zur Verfügung. Eine ganze Viertelparzelle." „Eine Viertelparzelle?" „Etwa achtzig Hektar. Für eine Ranch im Westen ist das winzig. Aber unser Land lag an einem Fluss und war mit Nutzholz bewachsen. Und damals brauchte die Burlington and Northern Railroad verzweifelt Eisenbahnschwellen. Dieses Geld verhalf uns zu einem Start." Start zu was? fragte sie sich. Zu einem klapprigen Pick-up? Was für eine Dynastie! „Wie dem auch sei", fuhr er fort, wobei er den Pfad im Auge behielt, „es ist für meine Familie Ehrensache, eine Bitte der McCallums nie auszuschlagen." „Ich verstehe. Daher waren Sie sofort bereit, als Hazel Sie rief. Obwohl Sie sich lieber selbst einen Zahn ziehen würden, als mit einer verwöhnten reichen Ziege wie mir zusammen zu sein, nicht wahr?" Er drehte sich zu ihr um, und seine Augen funkelten. „Da haben Sie Recht", gestand er. „Und eines Tages werden meine Kinder dasselbe tun. Wenn nicht für Hazel, dann für die Stadt Mystery. Denn es ist unser Zuhause, das ihre Familie und unsere gegründet haben." Jacquelyn schwieg eine Weile und dachte über das nach, was er ihr erzählt hatte. Trotz ihrer Abneigung gegen A.J. beneidete sie ihn. Ge nau wie Hazel hatte er Beständigkeit und Zugehörigkeit erfahren, und er hatte in Mystery ein Zuhause gehabt. Sie verglich das mit ihrer eigenen, „privilegierten" Erziehung. Wenn man reich war und die Familie ein halbes Dutzend Häuser besaß, hatte man kein richtiges Zuhause. Besonders dann nicht, wenn die Eltern sich nie verpflichtet fühlten, einem Familiensinn zu vermitteln. Von ihrem Vater hatte sie nur unerbittliche Kritik erfahren, von ihrer Mutter durch Alkohol bedingten Zynismus. „Hazel ist einer der wenigen Menschen, die ihren Traum ausleben und andere dazu bringen, mit ihr gemeinsam zu träumen", erklärte A.J. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht benennen konnte, schmerzten sie seine Worte. Sie erinnerten sie an das, was Joe zu ihr gesagt hatte: „Im Gegensatz zu dir, Eisprinzessin, hat sie ein warmes Herz statt eines Eisklumpens." Jacquelyn kämpfte mit den Tränen und stellte keine weiteren Fragen mehr. Als es im Lauf des Vormittags wärmer wurde, machten dicke Schmeißfliegen Pferden und Reitern zu schaffen. Jacquelyn bemerkte, dass sie und A.J. sich inzwischen in ziemlicher Höhe befanden. Der Baumbestand wurde dünner, und sie sah immer öfter weiter unten tiefe Schluchten, durch die schäumendes Wildwasser floss. A.J. studierte sehr oft mit zusammengekniffenen Augen den Himmel und runzelte die Stirn. Den Grund dafür kannte sie nicht, da nirgends eine dunkle Wolke zu sehen war. Der Pfad war steiler geworden, so dass sie öfter Rast machten, um die Pferde verschnaufen zu lassen und die Satteldecken in der Sonne zu trocknen. „Wir passieren gerade einen alten indianischen Versammlungsplatz", erklärte er am späten Vormittag. „Er heißt Council Rock. Die Sioux und ihre Verwandten, die Cheyenne, trafen sich hier, um ihre Kriegsstrategien gegen die Blauröcke zu entwerfen." Sie betrachtete eine große tischförmige Felsplatte, die nicht auf Ha zels Karte verzeichnet war. „Können wir hier für ein paar Minuten anhalten?" Er nickte und schwang sich aus dem Sattel. „Die Pferde können ohnehin eine Pause gebrauchen." Ich auch, dachte sie verärgert. Aber ich bin ja nur ein Zweibeiner, also zähle ich nicht. Sie stieg von ihrem Pferd und begann, den steinigen Boden abzusuchen. Aufgeregt scharrte sie nach wenigen Minuten mit dem Fuß eine Speerspitze aus Feuerstein frei. „Ich habe eine ganze Zigarrenkiste voll davon", bemerkte A.J. gelangweilt. „Plus einer, die mein UrUr-Großvater in Iowa aus seinem eigenen Oberschenkel gezogen hat." „Na ja, es kann eben nicht jeder so schlau und erfahren sein wie der große A.J. Clayburn. Ich bin jedenfalls aufgeregt." „Zum zweiten Mal heute", bemerkte er und ließ den Blick über ihren Körper gleiten. Sie fühlte, wie ihr bei der Erinnerung an die Geschichte mit dem Schlafsack das Blut in die Wangen schoss. „Sie maßen sich ganz schön was an", konterte sie, wandte sich jedoch ab und schaltete ihr Diktafon ein. „Ich schaue ins Flachland hinunter, von einem Platz neben dem McCallum`s Trace, der unter dem Namen Council Rock bekannt ist. In der Hand halte ich eine Pfeilspitze, die mich an die indianische Sage erinnert, nach der Manitu über diese Berge herrscht. Jeder, der sie einmal gesehen hat, wird immer wieder dorthin zurückgerufen."
A.J. gab einen heulenden Laut von sich wie ein Indianer aus einem Hollywood-Film, ehe er wieder aufs Pferd stieg. „Bleichgesichtige Frau mit Namen ,Schlange im Slip` macht großes Tamtam." Sein Gelächter ließ Jacquelyn erneut erröten. Sie band Roman Nose los und stieg auf, plötzlich zu wütend, um die herrliche Aussicht zu genießen oder sich mit der Geschichte der Indianer zu befassen. Der steile Pfad führte zu einer Fläche, die mit Geröll und losem Schiefer bedeckt war. A.J. ritt seitlich daran vorbei, doch Jacquelyn war noch viel zu sehr in zornige Gedanken wegen ihres Führers versunken, um seinem Beispiel zu folgen. „Vorsicht!" rief A.J. „Wachen Sie auf, Dummkopf!" Aber es war bereits zu spät. Gerade als sie ihren Fehler erkannte, setzte Roman Nose einen Huf auf ein loses Schieferstück. Es gab mit einem scharrenden Geräusch nach, so dass sie und das Pferd rückwärts rutschten. Mit dem Instinkt eines Turnierreiters zog sie die Zügel an. „Lassen Sie die Zügel los!" schrie A.J. „Halten Sie sich nur am Sattelhorn fest!" Sie folgte seinen Anweisungen. Das stämmige Weine Pferd schlitterte ein ganzes Stück bergab, während es versuchte, auf den Beinen zu bleiben. Doch schließlich gewann der Mustang den Kampf gegen die Schwerkraft, und sie kamen unbeschadet zum Stehen. Jacquelyn war zwar unverletzt, aber sie war leichenblass, als sie wieder bei A.J. ankam. Der Schreck war ihr noch deutlich anzusehen. „Sie sollten sich besser zusammenreißen", ermahnte er sie und setzte den Weg fort. „Devil's Slope ist nicht mehr weit entfernt. Dort müssen Sie zusätzlich noch auf die Abhänge achten." „Na ja, wenn ich abstürze, bin ich Sie wenigstens los", konterte sie, noch immer angespannt. Er versuchte ein Grinsen zu unterdrücken. „Genau betrachtet wäre ich Sie los, da ich ja derjenige wäre, der übrig bleibt." Am späten Mittwochnachmittag, dem zweiten langen Tag von A.J.s und Jacquelyns Ritt über den Eagle Pass, rief Hazel die Park-RangerStation am Cheyenne Mountain an. Gestern Abend hatte sie aus dem Wetterbericht erfahren, dass in den Hochlagen Schneestürme erwartet wurden. „National Park Service, Cheyenne Mountain", meldete sich eine polternde, tiefe Bassstimme. „Bob, bist du das? Hier spricht Hazel McCallum aus Mystery." „Hazel, wie geht es dir, junge Lady?" rief Bob Johannson. „Bob, ich habe die Unwetterwarnung gehört. Hast du schlechtes Wetter bei dir oben?" „Nein. Allerdings gibt es ein paar Anzeichen, dass es schlechter wird. Die Tiere aus den Hochlagen kommen in tiefere Gebiete herunter. Aber du brauchst dir um dein Vieh auf den Sommerweiden keine Sorgen zu machen. Unterhalb der Baumgrenze wird es keinen Schnee ge ben. " „Oh, um mein Vieh mache ich mir keine Sorgen, sondern um ein junges Paar, A.J. Clayburn und Jacquelyn Rousseaux, meine Nachbarin. Sie sind gestern Morgen zu einem Ritt über den Pass aufgebrochen, den McCallum's Trace entlang." Es entstand eine kurze Pause in der Leitung, und Hazel beschlich eine düstere Vorahnung. Auch ein guter Plan konnte schief gehen. „Das ist momentan nicht unbedingt der beste Ort", räumte Bob ein. „Vorausgesetzt, das Unwetter entwickelt sich so, wie manche behaupten. Die beiden haben nicht zufällig ein Funkgerät oder ein Handy bei sich?" „Nein, und das ist meine Schuld. Dieser Ritt sollte zum Gedenken an Jake McCallum stattfinden, anlässlich der 150-Jahr-Feier. Jacquelyn ist Reporterin bei unserer Lokalzeitung. Ich habe Wert auf historische Ge nauigkeit gelegt. Ich hoffe wirklich, dass ich diesmal nicht zu weit gegangen bin. Du könntest wohl niemanden zu ihnen hinaufschicken? Vielleicht mit deinem Hubschrauber?" „Für dich, Hazel? Der Hubschrauber wäre schon unterwegs, wenn ich ihn hätte. Aber du hast sicher von den Waldbränden unten im Powder River Valley gehört. Der Gouverneur hat unseren Vogel für die Löscharbeiten dorthin abkommandiert. Und ohne Hubschrauber sind wir nicht rechtzeitig am Pass, um sie zu warnen." „Ic h verstehe. Du kannst nichts unternehmen. Aber ich habe es wenigstens versucht." „Kopf hoch, Hazel. Bis jetzt gibt es noch kein Unwetter. Vielleicht zieht es vorbei. Außerdem, wenn A.J. Clayburn dort oben mit der Frau unterwegs ist, dürfte ihnen eigentlich nichts passieren." Nachdem Hazel aufgelegt hatte, ging sie hinaus in den Garten und sah zu den entfernten Berggipfeln hinauf. Bob hatte Recht, was A.J. betraf. Gewöhnliche Männer gewannen nicht den Weltmeistertitel im Rodeoreiten, schon gar nicht in der Kategorie der halbwilden Pferde. Seine Kompetenz und Hartnäckigkeit würden ihm auch einen Vorteil verschaffen, wenn es ums Überleben in den Bergen ging.
Nur war ein Blizzard dort oben ein besonders heftiges Naturereignis. Selbst Jake, dieser zähe Bursche, hatte zugegeben, dass er den Trip nur überstanden hatte, weil ihn in den Bergen kein Blizzard überrascht hatte. „Herr im Himmel", sagte Hazel leise, „ich wollte doch nur Mystery retten, indem ich dafür sorge, dass sich neues Blut hier niederlässt. Aber es war nie meine Absicht, dass eine junge, unerfahrene Frau durch meine Schuld in eine Naturkatastrophe gerät." Vielleicht hat es aber euch etwas Gutes, wenn die Natur die beiden von der Außenwelt abschneidet und ihren Lauf nimmt, dachte sie mit einem schlauen Lächeln. Eines wusste sie jedenfalls ganz genau: So, wie sie die beiden kannte, würden sie nicht als Freunde aus den Bergen zurückkehren. Für diesen Cowboy und diese Schönheit gab es keinen Mittelweg. Entweder würden sie heftig verliebt zurückkehren oder sich hassen. 9. KAPITEL Ungefähr eine Stunde vor Einbruch der Dunkelheit wählte A.J. eine Stelle für das zweite Lager aus. Diesmal war es ein kleiner Platz mit felsigem Untergrund neben einer Quelle, die zwischen einigen Geröllbrocken hervorsprudelte. Sie befanden sich jetzt ein ganzes Stück oberhalb der Baumgrenze, laut Hazels Karte jedoch noch weit unterhalb des Eagle Passes. Die Luft war spürbar dünner, und den ganzen Nachmittag über waren sie gezwungen gewesen, den Pferden gut zuzureden. Vermutlich war die dünne Luft auch für Jacquelyns momentane Kopfschmerzen verantwortlich, während sie Roman Nose müde Sattel und Zaumzeug abnahm, um ihn zu striegeln. „Verdammt! Das glaube ich einfach nicht! " Erschrocken ließ sie den Striegel fallen, als sie A.J.s wütende Stimme hinter sich hörte. „Schauen Sie sich an, wie wund seine Flanke ist! Sie haben den Sattelgurt zu fest angezogen! Lassen Sie ihn in Zukunft lockerer!" Nach dieser Ermahnung marschierte er zu seiner Ausrüstung und warf eine Tube Wundsalbe nach Jacquelyn. „Hier draußen muss man sehr sorgsam mit seinem Pferd umgehen." „Schön und gut, aber was ist mit den Menschen?" Der Vorwurf und die Verletztheit in ihren Worten beeindruckten ihn offenbar nicht. „Meiner Erfahrung nach ist jemand, der mit den Pferden rücksichtslos umgeht, auch den Menschen gegenüber rücksichts los. " „Ach ja? Da bin ich leider anderer Meinung. Meiner Erfahrung nach kann ein Mann seine Pferde durchaus besser behandeln als andere Menschen." „Armes geplagtes Geschöpf", spottete er. „Sparen Sie sich das Ge jammer. Wie das mit den Pferden läuft, habe ich Ihnen schon erklärt. Sie sind hier nicht im Country Club, wo Ihnen jeder die Arbeit abnimmt. Jetzt sind Sie für Roman Nose verantwortlich. Und bisher haben Sie diese Aufgabe nur schlecht erfüllt. Ich möchte bloß mal wissen, wieso Hazel mich mit einer so wehleidigen Frau losschickt." Es war offenkundig, dass die wunde Flanke nur ein Vorwand war, um sich über Jacquelyn aufzuregen. Doch sie war nicht in der Stimmung, es diesmal zu schlucken. Sie hatte Kopfschmerzen, einen schmerzenden Po, und sie hatte es satt, ständig von diesem eingebildeten Rodeoheini schikaniert zu werden. „Ich würde ebenfalls zu gern wissen, wieso sie das getan hat!" fuhr sie ihn an. „Ich bin mitgekommen, um Geschichte lebendig werden zu lassen, nicht um mich dauernd von Ihnen kritisieren zu lassen und mir anzuhören, dass Sie sowieso alles besser wissen! Sie tyrannisieren mich, genau wie mein ..." Abrupt hielt sie inne, bevor sie den Satz beenden konnte: wie mein Vater meine Mutter tyrannisiert hat. Sie nahm sich zusammen und sagte stattdessen: „Erst schreien Sie mich an, weil der Gurt zu lose ist. Dann flippen Sie aus, weil er plötz lich zu fest ist. Egal, was ich tue, Sie haben immer etwas daran auszusetzen. Im Übrigen bin ich nicht wehleidig. Was habe ich Ihnen überhaupt getan?" Dummerweise traten ihr bei diesen letzten Worten Tränen in die Augen. Überwältigt von ihren Gefühlen und der Erschöpfung, wandte sie sich ab und begann, Roman Noses wunde Flanke einzureiben. A.J. beobachtete sie eine Weile schweigend. Schließlich sagte er: „Es ist nicht persönlich gemeint."
„Ach nein?" erwiderte sie, ohne sich umzudrehen. „Ich nehme an, Sie behandeln Ihre Mitarbeiter ebenso?" „Sie sind kein Mitarbeiter, sondern eine Frau." Entsetzt drehte sie sich nun zu ihm um. „Das kann nicht Ihr Ernst sein! Soll das etwa heißen, dass Sie Ihre Rodeoflittchen so behandeln?" Er stieß ärgerlich die Luft aus. „Meine Frauen nehme ich nicht mit auf einen schwierigen Ritt zum Eagle Pass." „Dann vergessen Sie, dass ich eine Frau bin." „Das ist schwer möglich", murmelte er und wandte den Blick ab. „Wieso sind Sie so gereizt, A.J.?" wollte sie wissen. „Und wieso nehmen Sie Ihre Rodeoflittchen nicht mit hier hinauf? Sie lieben diese Berge doch, da können Sie ruhig mal eine von Ihren Freundinnen herbringen." Ein spöttisches Grinsen umspielte ihre Mundwinkel. „Ich wette, ich kenne den Grund: Hier oben müssten Sie sie als Menschen betrachten. " „Ich betrachte Frauen als Menschen. Hazel betrachte ich ganz sicher als Mensch. " „Klar, das tun Sie. Aber die anderen sind für Sie bloß Betthäschen. Ich frage mich, warum? Wenn Sie die Frauen so lieben, wieso haben Sie sich noch nicht für eine entschieden?" „Ich habe genug Frauen, ich brauche keine Freundin." Mittlerweile klang er wütend. „Aber wieso nicht nur eine?" ließ sie nicht locker. „Verdammt!" fuhr er sie an. „Wenn ich viele Frauen habe und eine mal geht, dann ... dann vermisse ich sie nicht." Er schien äußerst angespannt. Jacquelyn beobachtete ihn und fragte sich, ob sie wohl unwissentlich seine Achillesferse getroffen hatte. A.J. schüttelte den Kopf und schaute Hilfe suchend zum Himmel. „Sie wollen wissen, wieso ich mit keiner meiner Freundinnen hier hinaufreite? Weil es unmöglich ist, aus den Frauen schlau zu werden." „Sie kennen eben nicht das Geheimnis, A.J. Es lautet, dass eine Frau genau ist wie Sie. Ich bin wie Sie." Doch er ging davon. Seltsamerweise schien ihre kleine Auseinandersetzung trotzdem wie eine Art Überdruckventil gewirkt zu haben. Zumindest eine kurze Zeit. Ein grimmiger, vorübergehender Friede folgte. Als Jacquelyn Roman Nose einen Futterbeutel umhängte und ihr Zelt aufbaute, hatte A.J. an den tiefer gelegenen Hängen bereits Holz gesammelt und ein prasselndes Feuer entfacht. „Ist Ihnen aufgefallen, dass etwas fehlt?" fragte er, als sie zum Feuer kam. Sie lauschte einen Moment und suchte sich einen geeigneten Stein, auf den sie sich setzen konnte. Dann fiel ihr auf, dass das beständige, vertraute Summen aufgehört hatte. „Ich höre keine Insekten mehr", sagte sie. „Genau. In dieser Höhe gibt es kaum noch Insekten." „Ja, es kommt mir auch sehr hoch vor", meinte sie und zog sich einen langärmeligen Wollpullover über. Dann beobachtete sie im flackernden Feuerschein, wie er seine engen Stiefel auszog. „Sie hatten übrigens Recht, man braucht tatsächlich hohe Absätze, um sich in den Steigbügeln zu halten", gab sie zu. „Ich werde das in meine Story einarbeiten. Ebenso wie Sie Ihren bisher größten Spaß hatten, als ich in den Fluss gefallen bin." „Ja, das fand ich amüsant", gestand er. „Aber nur, weil ich Sie so oft gewarnt hatte." Sie nickte und war erstaunt, dass sie sich zivilisiert miteinander unterhielten. Einige Minuten vergingen in friedvoller Stille, während aus dem Feuer Funken wie Glühwürmchen zum Himmel aufstiegen. Hin und wieder ertappte Jacquelyn A.J. dabei, wie er sie ansah. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen, dann hatte sie das Gefühl, wegschauen zu müssen. Etwas an seinem Blick war einfach zu durchdringend und intensiv. Sie wollte lieber nicht näher darüber nachdenken, so weit von jeder Zivilisation entfernt. Müdigkeit überkam sie. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal um acht Uhr abends schläfrig sein würde. Ihre Lider wurden schwer, doch A.J.s sanfte, ruhige Stimme weckte sie wieder auf. „Heute Nacht ist Vollmond. In Ihrem letzten Artikel haben Sie geschrieben: ,Der Vollmond erfreut die Liebenden und die Verrückten.` Zu welcher Gruppe gehören wir?" Der Actionheld ließ sich also dazu herab, ihre Artikel zu lesen? Wahrscheinlich nur, um herauszufinden, ob er darin vorkommt, dachte sie sarkastisch. „Sie meinen, da gibt es einen Unterschied?" Er lachte leise. „Hazel sagte, Sie hätten einen guten Sinn für Humor. Vielleicht hatte sie Recht. „Zu schade nur, dass ich eine verwöhnte Göre bin, was?" „Tja, so ist das nun mal."
Sie stand auf. Er stand ebenfalls auf. „Na dann, gute Nacht, Mr. Clayburn." Er stand da und sah sie an. Erneut lief ihr dieser merkwürdige Schauer über den Rücken. Sie stand so nah bei ihm, dass sie die Hand ausstrecken und seine Wange hätte berühren können. „Gute Nacht, Miss Rousseaux", erwiderte er heiser Sein Blick glitt tiefer, über ihre Figur. Er schien etwas zu denken, und Jacquelyn war sich ziemlich sicher, dass es dasselbe war, was ihr durch den Kopf ging. Dann zog er sie an sich und druckte sie an seine Brust. Jacquelyn war weder in der Lage, zu atmen noch sich zu wehren, so überrascht war sie. Das laute Wiehern eines der Pferde war wie ein Sturz ins eiskalte Wasser des Crying Horse Creek. Abrupt stieß A.J. sie von sich. Beide Pferde waren ungefähr zehn Meter von ihnen entfernt angepflockt. Jetzt begannen die Mustangs sich aufzubäumen und herumzutänzeln, bei dem Versuch, die Pflöcke aus dem Boden zu reißen. Jacquelyn bekam eine Gänsehaut, als sie sah, wie er sein Gewehr herausholte. „Was ist los'?" fragte sie, während er schon zu den Pferden rannte und die Tiere beruhigte, indem er ihnen leise etwas ins Ohr flüsterte. Er schob eine Patrone in die Gewehrkammer. Das Geräusch hallte in der Stille bedrohlich wider. „Ich vermute, sie haben die Witterung eines Bären aufgenommen" , erklärte er und suchte mit seinen Augen die Umgebung ab. „Er muss ziemlich nah sein. Pferde haben eine Todesangst vor Bären." Sie folgte ihm zu den Pferden, die sich außerhalb des Feuerscheins befanden. Gemeinsam mit A.J. schaute sie den Berghang hinunter. Das wechselnde Mondlicht ließ die Landschaft unheimlich wirken. „Irgendetwas stimmt nicht", stellte er fest. „Wenn wir Winter hätten, würde es mich nicht überraschen, Bären so tief hier unten anzutreffen. Sie kommen sogar bis zu den Dörfern herunter, wenn sie hungrig genug sind. Aber im Sommer? Normalerweise sind sie im Sommer so weit oben in den Bergen wie möglich, um den Menschen aus dem Weg zu gehen. Sie kennen die Jäger und ihre Gewehre." „Warum ist dann einer so weit unten anzutreffen?" „Wissen Sie was?" meinte er ernst. „Falls der hier auf einen Plausch vorbeischaut, werde ich ihn fragen." „Na kommen Sie, beantworten Sie meine Frage. Ein Aspekt meines Artikels ist nämlich das, was ich während dieser Reise lerne. Also, was treibt einen Bären, außer Hunger, in tiefere Lagen?" „Möglicherweise befinden sich Menschen dort oben", überlegte er. „Bergsteiger kommen hier herauf, manchmal auch Forscher von der Universität. Vielleicht braut sich aber auch ein Unwetter zusammen." „Die Pferde haben sich beruhigt", stellte sie fest. „Ja, es scheint so." Er ließ sein Gewehr sinken. „Wie dem auch sei, ich werde mich jetzt hinlegen. Gute Nacht." Jacquelyn stand da und beobachtete, wie er sein Gewehr wieder verstaute und seinen Schlafsack ausrollte, ohne ihr weitere Beachtung zu schenken. Seltsam niedergeschlagen ging sie zu ihrem Zelt, das sie zweimal durchsuchte. Zusätzlich achtete sie darauf, dass der Reißverschluss diesmal fest verschlossen war. Sie hatte sich gerade in ihren Schlafsack verkrochen, als sie A.J.s spöttische Stimme von der anderen Seite des allmählich herunterbrennenden Lagerfeuers hörte. „Ich versuche meine Hände anzuwärmen, bevor ich morgen früh Ihren Schlafsack durchsuche", versprach er. „Gute Nacht, Mr. Clayburn", rief sie leicht gereizt. „Ich glaube nicht, dass es nötig sein wird, meinen Schlafsack zu durchsuchen." „Warten wir's ab." Sie ignorierte ihn und zwang sich zu schlafen. Das Letzte, was sie mitbekam, war A.J.s samtweiche Stimme, mit der er beruhigend auf die noch immer nervösen Mustangs einredete. Nachdem Jacquelyn am Donnerstagmorgen aufgewacht war, stellte sie rasch fest, dass der Waffenstillstand mit A.J. von gestern Abend schon wieder vorbei war. Sie hatte tief und fest geschlafen und war erfrischt aufgewacht, wenn auch nach wie vor ein wenig steif. Obwohl die Sonne bereits aufgegangen war, hatte sie den Morgennebel noch nicht vertrieben. Eine dünne Schicht Raureif bedeckte den Boden und erinnerte sie daran, wie hoch in den Bergen sie bereits waren.
A.J. war nirgends zu sehen, als sie fröstelnd aus ihrem Zelt kam. Doch das Feuer war wieder angefacht, und es duftete nach Kaffee. Jacquelyn baute ihr Zelt ab, rollte es mit ihrem Schlafsack zusammen und legte beides zu ihrem Reitgepäck. Ihr Atem bildete Wolken in der kalten Luft. Sie suchte saubere Kleidung und ein Handtuch aus ihren Sachen und ging zu der Quelle, die mitten aus einer Ansammlung großer Felsen sprudelte. Diese Wasserstelle war nur wenige Meter im Durchmesser groß, aber das Wasser war klar und rein, und die Felsen boten natürlichen Sichtschutz. Jacquelyn war noch einige Schritte davon entfernt, als sie A.J. mit tiefer Stimme singen hörte. Vorsichtig spähte sie um den ersten großen Felsen und entdeckte ihn. Er hatte ihr den Rücken zugekehrt und wusch sich in dem kleinen Teich. Er war vollkommen nackt im Wasser, das er sich trotz der Kälte über den Kopf goss. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, dass Rodeoreiter durch den ständigen Kraftaufwand, der nötig war, um im Sattel zu bleiben, eine starke Muskulatur entwickelten. Doch mit solchen ausgeprägten Muskeln wie denen an A.J.s Rücken und Schultern hatte sie nicht gerechnet. Ebenso überrascht war sie über seinen festen Po. Kein Zweifel, er besaß einen athletischen Körper. Fasziniert starrte sie ihn an und registrierte, dass ein verräterischer Schauer sie überlief. Ihre Atmung beschleunigte sich, ihr Herz schlug schneller. Ich dachte, nur Männer könnten ihre Begierden von ihren Gefühlen trennen, dachte sie. Wie konnte der Anblick dieses Mannes, der so arrogant und ungehobelt war, der in einer völlig anderen Welt lebte als sie, sie dauernd erregen? Schuldgefühle überkamen sie, weil sie ihn heimlich beobachtete, daher zwang sie sich, zum Lager zurückzugehen. Genau in diesem Moment jedoch drehte er sich um und entdeckte sie. Jacquelyn erstarrte vor Schreck. A.J. bedeckte mit beiden Händen seine trotz des kalten Wassers beeindruckende Männlichkeit und grinste verwegen. „Guten Morgen, neugierige Lady!" „Ich ... tut mir Leid. Wirklich, ich wollte Sie nicht heimlich beobachten", verteidigte sie sich und errötete. „Wieso frustriert kehrtmachen? Wenn Sie Lust haben, leisten Sie mir ruhig Gesellschaft." Er machte Anstalten, die Hände fortzunehmen. Jacquelyn war plötzlich so verlegen, dass sie zitterte. „Davon träumen Sie wohl, Cowboy." „Träumen?" Er lachte. „Nein, ich gehöre zu der Sorte Männer, die ihre Träume immer Wirklichkeit werden lassen wollen. Aber freuen Sie sich nicht zu früh, denn von solchen Prinzessinnen wie Ihnen träume ich nicht. Ich mag natürliche und ungezwungene Frauen lieber." Ohne dass er es wusste, trafen seine Worte genau ins Schwarze. Zutiefst verletzt sann sie auf Rache. „Natürlich wollen Sie eine Frau wie mich nicht. Ich habe eben nicht genug Silikon im BH und Luft im Kopf - eben das, was ein Mann wie Sie verdient." Er lachte erneut. Jacquelyn drehte sich um und ging. A.J. schnappte sich seine Jeans und folgte ihr. Als er sie am Arm festhielt, erschreckte seine ernste Miene sie. Ihr Herz schien einen Moment auszusetzen, ehe der Adrenalinstoß einsetzte. Allerdings wollte sie sich nicht eingestehen, dass sexuelle Anziehung dafür verantwortlich war. Nicht hier und nicht durch diesen beleidigenden Kerl. Dennoch durchströmte es sie heiß. Ja, sie hatte ihn tatsächlich nackt sehen wollen, um herauszufinden, was andere Frauen zu ihrem Vergnügen bekamen. Er zog sie an sich. Ein geheimnisvolles Lächeln umspielte seine Lippen. Sie hätte schwören können, dass er sie auf die Probe stellte. Trotzig hielt sie seinem Blick einen Moment lang stand. Dies war eindeutig eine Pattsituation, und es war offen, wer der Stärkere sein würde. Bis er den entscheidenden Schritt machte und sich sein Mund ihrem näherte. Ihr Instinkt warnte sie, den Kopf wegzudrehen. Doch das tat sie nicht. Stattdessen erwiderte sie seinen Kuss mit der Begierde einer Eisprinzessin, die sich danach sehnte, endlich aufzutauen. Seine Zunge begann ein erotisches Spiel in ihrem Mund, auf das sie voller Begeisterung einging. Dann spürte sie ihn hart und pulsierend, und sofort bereute sie ihre Schwäche. Abrupt löste sie sich von ihm und presste sich die Hand auf den Mund. „Sieh mal an", meinte er rau. „Du bist ja doch nur eine Frau aus Fleisch und Blut." Sie wich seinem Blick aus. „Das brauchst du mir nicht zu sagen", flüsterte sie und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. „Das weiß ich selbst am besten." Sie hatte das Gefühl, als hätte sie ihm gerade ihre Seele offenbart.
A.J. schwieg eine Weile. Dann ging er ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei. Er schlenderte davon, als sei nichts geschehen. Doch etwas hatte sich geändert, und sie wussten es beide. Jacquelyn war bereits in schlechter Stimmung, noch bevor sie das La ger abgebaut und weiter Richtung Eagle Pass und dem dahinter liegenden Bridger's Summit aufgebrochen waren. Wie üblich ritt A.J. voran. Obwohl sie nur seinen Rücken sah, gelang es ihr nicht, das Bild seines nackten, muskulösen Körpers aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Nachdem sie etwa eine Stunde lang geritte n waren, drehte er sich im Sattel zu ihr um. „Wir nähern uns dem Steinschlaggebiet", informierte er sie. „Siehst du die Gesteinsschichten und Felsplatten über uns? Manche von ihnen sind instabil. Also hör auf, vor dich hin zu träumen, und pass auf. Man muss hier oben sehr wachsam sein." „Kannst du etwa auch noch Gedanken lesen?" konterte sie. „Oder woher weißt du, dass ich nicht aufpasse?" „Ich weiß es eben. Tu einfach, was ich dir sage." „Zu Befehl, Herr Kommandant!" Er grinste. „Du wirst mich noch etwas Schlimmeres als einen Kommandanten nennen, wenn dieser Trip vorbei ist", versprach er ihr. „Aber falls du dich auf dem Devil's Slope weiter deinen Tagträumen hingibst, wird der Trip ohnehin bald vorbei sein - und zwar für dich." Trotz seiner drohenden und provozierenden Art musste sie zugeben, dass seine Warnung berechtigt war. Sie hatte tatsächlich geträumt und sich wahrscheinlich dadurch in Gefahr gebracht. Unglücklicherweise konnte sie nichts dagegen tun. Aus verschiedenen Gründen schwankte ihre Stimmung zwischen Verwirrung und Heiterkeit. Dadurch war sie immer weniger in der Lage, wachsam zu bleiben und sich auf Gefahren einzustellen. Hinzu kam die überwältigende Aussicht, die eine Ablenkung für sich darstellte. Aus dieser Höhe konnte sie bis zu den Kanadischen Rockies in nördlicher Richtung sehen, im Osten bis zu den Prärien North Da kotas und im Süden bis zu dem sich weithin erstreckenden Grasland im östlichen Wyoming. Plötzlich blieb A.J.s Pferd von selbst stehen und spitzte die Ohren. „Stopp!" rief A.J. und hob einen Arm. „Was ist los?" „Frag mein Pferd." Mit zusammengekniffenen Augen suchte er gründlich die unmittelbare Umgebung des Passes ab. „Vielleicht ist unser Bär noch in der Nähe", meinte er und trieb sein Pferd sanft weiter. „Sei auf jeden Fall vorsichtig. Bären können blitzschnell angreifen, wenn sie überrascht werden, besonders eine Bärenmutter mit Jungen." Selbst diese Gefahr schaffte es nicht, sie aus ihren düsteren Grübeleien zu holen, in die sie sofort wieder versank. Tatsache war, dass sie umso mehr darin versank, je höher sie ritten. Jacquelyn hatte keinen Einfluss darauf. Es lag an dem starken Ge gensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart; zwischen dem Reisebericht des Pioniers Jake, der in heftiger Liebe zu seiner jungen Braut entbrannt war, und der liebesarmen Realität ihres eigenen Le bens; zwischen einer Eisprinzessin und einer echten Frau, die das Le ben mit all seinen Vergnügungen genoss. Mittlerweile war sie sich auf niederschmetternde Weise sicher, dass eine solche Liebe und ein solches Zugehörigkeitsgefühl, wie die beiden Liebenden es damals in Mystery empfunden hatten, für sie unerreichbar waren. Was hatte sie, die privilegierte Tochter aus gutem Haus, stattdessen? Gerade jetzt wurde sie immer abhängiger von dem Mann, aus dessen Nähe sie sich immer stärker fortwünschte. So tief in Gedanken versunken, passierte genau das, wovor A.J. sie gewarnt hatte - sie war absolut unaufmerksam im Augenblick der Ge fahr. A.J.s Pferd bäumte sich auf und trat wild mit den Vorderläufen, während er versuchte, es auf dem steilen, schmalen Pfad wieder unter Kontrolle zu bringen. Jacquelyn wurde fast aus dem Sattel geschleudert, da Roman Nose ängstlich zur Seite sprang und beinah den Abhang hinuntergestürzt wäre. Sie hörte das wütende Brüllen des Bären, bevor sie das Tier sah. A.J. riss sein Pferd herum, um seine Nase aus dem Wind zu bekommen, der die Witterung des Raubtiers trug. „Reite den Pfad zurück!" schrie er. „Beeil dich!" Er trat mit beiden Absätzen in die Flanke des Pferdes und schnappte sich im Vorbeireiten Roman Noses Zügel. Jacquelyn registrierte noch, wie er sein Gewehr zog, ehe sie die massige, aufgerichtete Gestalt des Braunbären sah, der mit erhobenen Pranken von der Seite auf sie zukam.
10. KAPITEL Das ganze Geschehen dauerte nur wenige Sekunden. Für Jacquelyn lief es jedoch wie in Zeitlupe ab, als würden sie sich alle unter Wasser befinden. Sie hatte zu viel Angst, um zu schreien. Als das riesige, schmutzige und narbige Tier auf sie losstürzte, war sie vor Schreck wie gelähmt. Ihre Situation war heikel. Roman Nose hatte den schmalen Pfad verlassen. A.J. hielt mit aller Macht die Zügel des Pferdes fest, um den verängstigten Mustang auf dem steilen Abhang unter Kontrolle zu halten. Gleichzeitig musste er sich um sein eigenes aufgebrachtes Pferd kümmern. Als Roman Nose auf den Pfad zurücktänzelte, bäumte sich A.J.s Pferd beim Anblick des riesigen Braunbären erneut auf, so dass er um ein Haar abgeworfen wurde. Jacquelyn versuchte sich verzweifelt festzuhalten, doch ein Fuß rutschte aus dem Steigbügel. Im nächsten Moment stürzte sie vom Pferd. „Was, zur Hölle, machst du da?" rief A.J., als sei sie nur gestürzt, um ihn zu ärgern. Roman Nose preschte den Bergpfad hinunter. Der Bär kam mit Ge brüll näher. A.J. versuchte nicht länger, sein Pferd zu beruhigen. Dazu war jetzt keine Zeit mehr. Er sprang ab, gab seinem Pferd einen Klaps und half Jacquelyn auf die Beine. „Das mache ich nur für Hazel", murmelte er und spannte den Hahn seines Gewehrs. Doch statt auf den Bären zu zielen, feuerte er in die Luft. Das Echo des Schusses hallte von den Bergwänden wider. Das Geräusch verscheuchte den Bären zwar nicht, ließ ihn jedoch erschrocken innehalten. Er stand auf seine Hinterläufe aufgerichtet da und schnupperte in die Luft. „Steh nicht herum, und starr ihn entsetzt an", fuhr A.J. seine leichenblasse Begleiterin an. „Zieh ihm das Fell ab, während ich die anderen verscheuche." Jacquelyn war viel zu verängstigt, um den amüsierten Unterton zu bemerken. „Was soll ich tun?" „Das war nur Spaß. Lauf den Pfad hinunter. Na los, lauf schon! Es ist eine Bärin. Sie hat Angst, dass wir ihren Jungen etwas tun wollen." Er schubste Jacquelyn in die Richtung, in die die Pferde geflohen waren, und blieb ihr dicht auf den Fersen. Er schoss noch einmal in die Luft, doch diesmal beeindruckte es den Bären anscheinend nicht mehr, da sie sein bedrohliches Knurren näher kommen hörte. „Mein Gott!" schrie Jacquelyn, „kannst du die Bärin nicht erschießen?" „Weshalb? Nur weil sie ihre Jungen zu schützen versucht? Hör auf zu jammern, und renn weiter. Wenn es uns gelingt, aus ihrem Territorium zu verschwinden, wird sie möglicherweise bei ihren Jungen bleiben und uns in Ruhe lassen." Jacquelyn versuchte nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn sie hinfiel oder in eine der tiefen dunklen Schluchten rechts des Pfades stürzte. Plötzlich blieb A.J. stehen, und Jacquelyn glaubte, dass er jetzt auf die Bärin schießen wurde. Völlig außer Atem drehte sie sich um und erstarrte angesichts des Schauspiels, das sich ihr bot. A.J. hatte sein Gewehr neben sich auf den Boden gelegt und sich zu seiner vollen Größe von knapp ein Meter neunzig aufgerichtet. Dazu stellte er sich auf die Zehenspitzen und hob beide Arme über den Kopf, wodurch seine Jacke wie zwei große Flügel um ihn herumflatterte. Der Bär wusste zuerst ebenso wenig wie Jacquelyn etwas mit diesem Spektakel anzufangen. A.J. versetzte die beiden in weiteres Erstaunen, indem er die Laute eines Bären nachahmte. „Bären sehen nicht besonders gut", erklärte er ihr leise. „Außerdem stehe ich im Wind, so dass die Bärin meine Witterung nicht aufnehmen kann. Wenn sie mich für einen anderen Bären hält, wird sie vielleicht mein Territorium respektieren und sich zu ihren Jungen zurückziehen." Nach einigen Sekunden äußerster Spannung machte die Bärin tatsächlich kehrt und trottete den Pfad wieder hinauf. A.J. nahm die Patrone aus der Kammer. „Wir machen uns besser bergab auf die Suche nach unseren Pferden. Das kann ein langer Marsch werden, so verängstigt wie sie waren. Wenn du bloß im Sattel bleiben könntest." „Ich? Roman Nose hätte fast einen Purzelbaum rückwärts geschlagen! " „Ach ja? Du hättest dich trotzdem festhalten müssen. Um ein Haar wären wir beide deinetwegen umgekommen. Und jetzt verlieren wir auch noch wertvolle Zeit mit der Suche nach den Pferden. Das bedeutet, dass wir morgen noch früher aufbrechen müssen."
„Noch früher? Wenn wir heute Morgen noch früher aufgebrochen wären, wäre es gestern gewesen!" Er hob die Hand, zum Zeichen, dass er genug davon hatte. Inzwischen marschierte er den Pfad hinunter. Jacquelyn musste praktisch rennen, um mit ihm Schritt zu halten. Hin und wieder schaute sie sich um, um sicherzugehen, dass die Bärin sie nicht hereinlegte. Ihr pochten noch immer die Schläfen von dem Schock. „Ich war sicher, dass du die Bärin erschießen würdest", gestand sie. A. J. antwortete, ohne sie anzusehen: „Du hättest es anscheinend getan. Was ist los mit dir? Bist du schießwütig?" „Ich gebe zu, dass ich versucht hätte, sie zu erschießen. Aber nur, weil ich solche Angst hatte. Allerdings hätte ich sie wahrscheinlich verfehlt und dadurch noch wütender gemacht." „Dann bist du hier oben doppelt nutzlos", erwiderte er mit verletzender Unverblümtheit. „Erstens schießwütig und zweitens deiner Aufgabe nicht gewachsen." „Schießwütig!" rief sie empört. „Jetzt behauptest du auch noch, ich sei mordlustig. Entweder du beleidigst mich, oder du machst mir Vorwürfe." Sofort bereute sie ihre Bemerkung. Nicht den Inhalt, aber den wehleidigen Tön. Es ärgerte sie, dass sie ihm gezeigt hatte, dass sie sich seine Anerkennung wünschte. „Wenn du Zuneigung brauchst, kauf dir einen Hund", knurrte er. „Hazel hat mich nicht darum gebeten, dein Selbstwertgefühl aufzubauen, sondern dich zügig durch die Berge zu führen." „Na, das machst du jedenfalls gut!" Er grinste und sah sie endlich an. „Leg einen Zahn zu, wir vergeuden nur Zeit." Als sie die Pferde endlich eingefangen hatten, waren sie wieder unterhalb der Baumgrenze. „Es hat keinen Zweck, jetzt wieder loszureiten", meinte A.J. und schätzte das noch verbleibende Tageslicht ein. „Wir haben ohnehin unser ganzes Holz verloren. Ich muss also neues suchen. Wir werden hier unser Lager aufschlagen." „Und woher bekommen wir Wasser?" Jacquelyn schaute sich in dem kleinen Wäldchen um, in dem sie ihre Pferde wieder gefunden hatten. „Für heute Nacht haben wir noch genug. Morgen achten wir einfach darauf, wo sich bei Anbruch des Tages Vögel niederlassen. Sie trinken stets im Morgengrauen." Er ging, um Feuerholz zu suchen, während sie sich um die Pferde kümmerte. Nach dem Schock durch die Begegnung mit der Bärin fiel Jacquelyn jetzt in ein Gefühlstief, und ihre Verzweiflung kehrte umso stärker zurück. Hazel hatte Recht, diese Reise würde ihr junges Leben verändern. Zumindest machte sie ihr klar, dass sie im Grunde vollkommen allein war. Plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt, und heiße Tränen stiegen ihr in die Augen. Aus Angst, A.J. könnte sie so ertappen, suchte sie sich einen ungestörten Platz hinter einem umgestürzten Baum und überließ sich ihrer Niedergeschlagenheit. „Ich hatte schon gehofft, die Bärin hätte dich geholt", meinte A.J. bei seiner Rückkehr in freundschaftlichem Ton. „Tut mir Leid, dich enttäuschen zu müssen", konterte sie. „Vielleicht wirst du mich ja am Devil's Slope los." Er lachte. Entsetzt registrierte sie, dass sie immer verletzlicher wurde und A.J. freundlicher. Ich werde dafür bezahlen, dachte sie düster und setzte sich ans Feuer, um sich zu wärmen. Die Nacht legte sich wie eine dunkle Decke über die Berge. Das La gerfeuer brannte kräftig. „Was duftet da so interessant?" erkundigte Jacquelyn sich nach einer Weile. Er deutete auf das gehäutete Kaninchen, das auf einem Grill aus Waldholz über dem Feuer garte. „Ich habe es mit einer Schlinge gefangen", erklärte er. „Auf diese Weise hat Jake hier oben des Öfteren für sein Abendessen gesorgt. Dadurch brauchte er sein Gewehr nicht abzufeuern und seine Position zu verraten." „Es ist sicher köstlich. Aber ich begnüge mich doch lieber mit einem Müsliriegel und einem Apfel." Er sah sie an. Dann sagte er nur: „Gut, dann bleibt mehr für mich." Inzwischen stellte sie ihr Zelt schon wie ein Profi auf. Als sie fertig war, bemerkte sie, wie er vorsichtig sein Flanellhemd auszog. Auf der Rückseite waren Blutspuren. „Du bist verletzt", sagte sie und ging auf seine Seite des Feuers, wo er auf einem Baumstumpf saß. „Nur ein Kratzer", versicherte er ihr. „Mama-Bär hat mich einmal kurz erwischt, aber nicht richtig." „Du hast die Bärin so nah herankommen lassen?" Sie untersuchte seinen muskulösen Rücken, wo mehrere rote Spuren verliefen. „Es sind tatsächlich nur Kratzer. Trotzdem sollten sie desinfiziert werden."
A.J. grinste schief und hielt eine braune Plastikflasche hoch. „Ich weiß, dass Jake kein Wasserstoffsuperoxid dabeihatte. Er benutzte Karbolsäure, was wie Feuer brannte und nach verbrannten Haaren stank." „Lass mich dir helfen. Du kommst nicht heran." Sie nahm ihm die kleine Flasche ab und holte den Verbandskasten. „Am besten legst du dich hin." Er rollte seinen Schlafsack aus und legte sich dann auf den Bauch. Jacquelyn setzte sich auf den Baumstumpf, auf dem er zuvor gesessen hatte. Dann tränkte sie einen Wattebausch mit dem Wasserstoffsuperoxid und betupfte seinen Rücken. Im kupferfarbigen Schein des Feuers wirkten seine Muskeln wie gemeißelt. Es kostete sie einige Mühe, sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren, da sie sich daran erinnerte, wie sein Po ohne Jeans aussah. Schließlich klebte sie Mullverband auf die Wunden, damit sein Hemd nicht scheuerte. Während sie den letzten Streifen Pflaster aufklebte, begann ein leichter Regen zu fallen. Rasch packte Jacquelyn alles zusammen. „Du brauchst dich nicht zu beeilen", versicherte er ihr mit verschlafener, entspannter Stimme. „Es wird nicht genug regnen, um nass zu werden. Es reicht gerade, dass sich der Staub legt." „Dann nehme ich nicht an, dass es sich um das schlechte Wetter handelt, das du erwähntest?" „Wohl kaum." Mehr sagte er zu dem Thema allerdings nicht. „Der Sommerregen in Georgia klang immer sanft und schön wegen der Blätter", bemerkte sie. „Hier ist es genauso." Dank der dichten Zweige bekam sie kaum einen Tropfen ab. Einige Minuten lang saß sie schweigend da und lauschte dem leisen Prasseln. Wie A.J. vorhergesagt hatte, war es rasch wieder vorbei. Danach war die Stille so vollkommen, dass sie hören konnte, wie das Wasser von den Bäumen tropfte. Sie hatte ihre Aufgabe beendet. Es gab keinen Grund mehr, noch länger bei A.J. sitzen zu bleiben. Daher stand sie auf und klopfte sich Rinderreste von der Jeans. „Das war's dann", erklärte sie mit erzwungener Heiterkeit. „Gute Nacht." Sie machte sich auf den Weg zu ihrem Zelt. „Jacquelyn. " Überrascht hielt sie inne. Zum ersten Mal, soweit sie sich erinnerte, sprach er sie mit ihrem Vornamen an. Langsam drehte sie sich zu ihm um betrachtete sein markantes, attraktives Gesicht im weichen Licht des Feuers. „Ja?" fragte sie vorsichtig, aus Angst vor dem, was er als Nächstes sagen würde. „Wir brechen morgen sehr früh auf, um die verlorene Zeit aufzuholen." Er wandte den Blick von ihr ab und richtete ihn aufs Feuer. Jacquelyn sah ihn noch eine Weile an, da sie sich sicher war, dass er eigentlich etwas anderes hatte sagen wollen. Doch dann entschied sie, dass es am klügsten war, sich zurückzuziehen. Ohne weiteren Kommentar kroch sie in ihr kaltes Zelt und zog den Reißverschluss ihres Schlafsacks zu. Den Großteil der Nacht versuchte sie Schlaf zu finden, doch immer wieder sah sie in Gedanken den nackten Cowboy in der Quelle vor sich, hörte ihren Namen aus seinem Mund und was all das möglicherweise bedeutete. 11. KAPITEL Sie brachen um vier Uhr morgens auf. Jacquelyn bemerkte gleich, dass die Pferde viel besserer Laune waren als sie. Sie suchte in ihrem journalistischen Vokabular nach dem richtigen Wort, um die vor ihnen liegende schwierige Strecke der nächsten acht Stunden zu beschreiben. Schließlich entschied sie sich für „Schinderei". Trotz ihrer Entschlossenheit breitete sich Angst in ihr aus, lange bevor sie Devil's Slope erreicht hatten. „Herunterstürzende Felsen", sagte A.J. und deutete zu den narbigen Felswänden hinauf. „Von solchen Furchen wie der direkt vor uns. Die französischen Trapper in dieser Gegend nennen sie Couloirs. Man muss sehr aufpassen in ihnen. Die Seiten sind stabil, doch der mittlere Teil ist mit Steinen übersät. Die Furche, die du vor uns siehst, ist leicht zu ersteigen. Zumindest anfangs. Aber nach etwa einer Stunde bergauf wird sie zu Devil's Slope." Es war erst Mittag, doch Jacquelyns Muskeln schmerzten bereits und zitterten von dem harten Aufstieg, der nötig gewesen war, um erneut über die Baumgrenze zu kommen. Sie hatten kurz Halt gemacht, um die Pferde zu füttern und getrocknetes Rindfleisch zu essen.
„Es wird viel kälter", stellte sie fest und kramte einen weiteren Pullover aus ihrer Tasche. „Und windiger." Kaum hatte sie es ausgesprochen, wehte eine plötzliche Windbö A.J. beinah den Hut vom Kopf. „Natürlich. Wir kommen ja auch immer höher", erwiderte er knapp. Der Wind trieb außerdem dunkle Wolken am Horizont zusammen. A.J. machte keine Bemerkung dazu, doch er wirkte besorgt. „Am wichtigsten auf losem felsigen Untergrund ist die gleichmäßige Gewichtsverteilung. Wenn man das richtig macht, kann man auch lose Felsbrocken mit viel Gewicht belasten. Aber vermeide ruckartige Bewegungen mit deinem Pferd, sonst riskierst du einen Absturz." Jacquelyn wollte ihre Feldflasche zum Trinken ansetzen, doch sein eiserner Griff stoppte sie. „Trink niemals, wenn du schwitzt. Warte, bis du dich abgekühlt hast. Sonst verdampft es sofort wieder, bevor es deinem Körper nutzen kann." Aus irgendeinem Grund musterte er ihren Körper als würde er sich fragen, wo genau sie überall schwitzte. Als sie ihn dabei ertappte, fügte er rasch hinzu: „Hier oben können wir leider nicht den Zimmerservice kommen lassen, um uns ein Perrier bringen zu lassen. Also geh sparsam mit unserem Wasser um." Fast hätte sie gelächelt. „Pass auf, du hörst dich fast besorgt an. Du wirst doch hoffentlich nicht fürsorglich und gefühlsduselig mir gegenüber, Trapper?" „Keine Sorge." Er trieb sein Pferd weiter. „Falls doch, mache ich es später durch extra Boshaftigkeit wieder gut." Sie schaute die lange, enge und instabile Rinne hinauf, die sie erklimmen würden. Kalte Angst beschlich Jacquelyn. Wenn alles nichts mehr half, blieb ihr immer noch die Fähigkeit, zu bluffen und aufzuschneiden. Entschlossen hob sie das Kinn. A.J. schien ihre Angst und ihren gespielten Mut zu bemerken. „Bist du bereit?" Ein spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen. Dann ritt er los. A.J. hatte Recht, was die Couloir betraf: Die steilen Seiten waren anfangs ziemlich stabil. Zwar geriet Roman Nose manchmal auf einem glatten Stein ins Rutschen, aber der Untergrund war fest. Wegen der Gefahr für den zweiten Reiter, wenn sie hintereinander ritten, nahmen sie getrennte Seiten in der Rinne. Jacquelyn achtete sorgsam darauf, Roman Nose nicht zu nah an die instabile Mitte zu lenken. Doch schon bald wurde der Weg noch viel beschwerlicher. Jetzt waren auch die Außenseiten der Couloir mit losem Geröll übersät. „Lass die Zügel locker"; ermahnte A.J. sie. „Das Pferd muss sich seinen eigenen Weg suchen." Sie gehorchte trotz des barschen Kommandos, da sie viel zu viel Angst hatte. Allerdings war es ein merkwürdiges Gefühl, jetzt völlig ta tenlos im Sattel zu sitzen, so dass ihr Leben von einem halbwilden Mustang abhing. Stück für Stück arbeitete sich A.J.s Pferd den Berg hinauf und war Roman Nose voraus. Jacquelyn beobachtete, wie A.J. an den Zügeln zog und auf sie wartete. Er stellte sich in den Steigbügeln auf, um die Steigung besser überblicken zu können. In diesem kurzen Moment der Unaufmerksamkeit begann sich der Berghang zu bewegen. Durch die ins Rutschen geratenen Steinmassen verlor sein Pferd den Halt und stürzte. A.J. wurde davon überrascht und hatte keine Gelegenheit mehr zu reagieren. Er wurde abgeworfen, rollte den Berghang hinunter, wobei er sich überschlug, und blieb schließlich regungslos liegen. „A.J.! A.J.! Ist alles in Ordnung mit dir?" Doch der eigentliche Ärger ging erst los. Sobald A.J.s Pferd wieder sicher auf den Beinen stand, begann es bergauf zu fliehen, wodurch es weitere Steinschläge auslöste. Bis jetzt hatte keiner der Brocken A.J. getroffen, doch der Steinschlag wurde heftiger, je höher das Pferd kletterte. Gott sei Dank! Zumindest versuchte er, sich aufzusetzen. Also konnte er nicht allzu schlimm verletzt sein. Doch als er aufstehen wollte, gab sein Knie nach. Er wirkte benommen. Offenbar hatte er auch einen Schlag auf den Kopf bekommen. Mit lautem Poltern stürzte ein großer Felsbrocken den Berghang hinunter, nur wenige Meter von ihm entfernt. Weitere Geröllmassen fielen herab und drohten, ihn unter sich zu begraben. In diesem Moment griff Jacquelyn instinktiv auf ihre jahrelange Er fahrung als Reiterin zurück. Ohne auf die Gefahr zu achten, lenkte sie Roman Nose in die instabilen Geröllmassen in der Mitte der Rinne. Alles, was sie je beim Dressurreiten gelernt hatte, kam ihr in diesen nächsten Minuten zugute Balance, Anmut, Haltung und Präzision, Entscheidungen in Sekundenbruchteilen, die über Leben und Tod entschieden. All das half ihr jetzt, wie es ihr bei der Überwindung von Hürden und Hindernissen geholfen hatte.
Sie musste in wildem Zickzack reiten, um den schlimmsten Stellen auszuweichen. Der geschickte Mustang reagierte sofort auf jedes Ziehen am Zügel. Doch als sie wie durch ein Wunder die instabile Mitte überwunden hatte, musste sie auf der anderen Seite einem erneuten mächtigen Steinschlag ausweichen. „A.J.!" schrie sie über den Lärm hinweg. „A.J., kannst du mich hören?" Es war ihm gelungen, sich auf die Knie aufzurichten - Jacquelyn sah ihn durch die Staubwolke hindurch. Doch er war noch immer völlig benommen. Irgendwie - vermutlich weil die Angst ihr ungeahnte Kräfte verlieh - gelang es ihr, ihm auf das Pferd zu helfen und selbst wieder aufzusteigen, ohne dass sie beide vom Steinschlag zerquetscht wurden. Aber jetzt musste sie auch noch zurück auf ihre Seite, und diesmal mit einem zusätzlichen Gewicht. Mit einer Hand hielt sie A.J. hinter sich fest, mit der anderen umklammerte sie die Zügel. Dann ritten sie zum zweiten Mal durch die von Geröll übersäte Mitte der Furche. Unglücklicherweise fand Roman Nose nicht mehr den gleichen Weg wie vorhin. Sie hatten den Weg bereits zur Hälfte hinter sich gebracht, als sie ins Rutschen gerieten. Roman Nose gelang es, sich auf ein kleines Stück Felsen zu retten, das stabil war. Nur waren sie jetzt buchstäblich auf einer winzigen Insel gefangen, das rettende Ufer in Sichtweite. Würden sie springen können? Trotz des zusätzlichen Gewichts und fast ohne Anlauf? Aber welche Wahl hatten sie schon? Jacquelyn redete dem Pferd gut zu und konzentrierte sich ganz auf ihr Können als Reiterin. Dann gab sie dem Pferd einen Klaps, und sie sprangen. Um ein Haar wäre A.J. bei dem Sprung heruntergefallen. Aber jetzt standen sie wieder auf festem Boden, und Jacquelyn atmete erleichtert auf, als ihr klar wurde, was sie gerade geschafft hatte. In Sicherheit waren sie allerdings noch lange nicht, denn jetzt musste sie mit A.J. und ihrem Pferd den Rest des Devil's Slope überwinden. A.J., an dessen linker Schläfe eine blauschwarze Prellung anschwoll, kam allmählich wieder zu Kräften, während sie sich den gefährlichen Berghang hinaufkämpften. Die Windböen waren jetzt so kalt, dass Jacquelyn trotz mehrerer Kleidungsschichten fror. Und obwohl es noch Nachmittag war, hatte sich der Himmel wie in der Abenddämmerung verdunkelt. A.J. sprach kaum während des Aufstiegs. Schließlich erreichten sie sicheren Boden oberhalb von Devil's Slope, wo sein Mustang in aller Ruhe auf ihn wartete. Inzwischen war A.J.s Benommenheit vollständig gewichen, so dass er mit Leichtigkeit vom Pferd springen konnte. Dann erstaunte er sie, indem er ihr die Hand reichte, um ihr vom Pferd zu helfen. Irgendwie sah er sie mit seinen graublauen Augen jetzt anders an - weniger spöttisch. „Die Tochter aus gutem Hause rettet den Rodeochampion", erklärte er. „Das war ein toller Sprung, den du mit Roman Nose vollbracht hast. Vielleicht sollte ich auch mal diesen englischen Reitstil üben. " Sie konnte es nicht fassen. Der unausstehliche Egoist A.J. Clayburn klang plötzlich ganz bescheiden. Jacquelyn wartete darauf, auch verletzte männliche Eitelkeit aus seinem Ton herauszuhören. Jetzt lobte er sie zwar, aber wahrscheinlich würde sie für diese Rettung bezahlen müssen. Wundern würde es sie nicht. „Ich kann mir dich nur nicht in einem Reiterjackett vorstellen", erwiderte sie und erschauerte wegen des kalten Windes. „Du liebe Zeit, ist das kalt geworden!" Er nickte, packte sein Sattelhorn und schwang sich auf sein Pferd. „Du hast gute Arbeit geleistet am Devil's Slope." Er schaute hoch zu den sich rasch zusammenziehenden dunklen Wolken über ihnen. „Aber der Tanz ist noch nicht vorbei. Los, beeilen wir uns. Das Gebiet zwischen hier und dem Eagle Pass gehört zu dem mit den schlimmsten Lawinen - und bald wird hier jede Menge Schnee fallen."
12. KAPITEL A.J. hatte Recht - der Tanz war noch nicht vorbei. Devil's Slope lag etwa eine Stunde hinter ihnen, als sich der Himmel öffnete und es heftig zu schneien begann. Durch die starken Windböen war in dem dichten Schneefall teilweise kaum noch etwas zu erkennen. Es gab keinen geeigneten Unterschlupf, also konnten Jacquelyn und A.J. nicht anhalten. Damit sie sich nicht verloren, band A.J. ein Seil an Roman Noses Zaumzeug.
„Vor uns liegt eine Höhle, knapp hundert Meter von hier!" rief er dicht an Jacquelyns Ohr, da er wegen des heulenden Windes sonst kaum zu hören gewesen wäre. „Sie ist groß genug, um uns allen Schutz zu bieten!" Bis jetzt konnte Jacquelyn nur ein paar Meter weit sehen. Am meisten machte ihr jedoch die Kälte zu schaffen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Selbst nach ihrem Sturz in den Crying Horse Creek hatte sie nicht so gebibbert. Aber A.J.s kartografisches Gedächtnis war wieder einmal zuverlässig, und schon bald folgte sie ihm in eine riesige, breite Höhle mit einem trockenen Boden aus festgestampfter Erde. „Binde dein Pferd rechts vom Eingang an", forderte er sie auf. „Dort gibt es eine kleine Quelle, falls sie noch nicht zugefroren ist." Jacquelyn fiel auf, dass sich sein Ton seit dem Zwischenfall am Devil's Slope verändert hatte. Er gab noch immer Anweisungen, aber nicht mehr im Kommandoton. „Diese Höhle ist nicht auf Hazels Karte verzeichnet", meinte sie, während sie Roman Nose die Vorderläufe mit einem Lederseil locker zusammenband. „Weil Jake einen Bogen um sie gemacht hat", gestand er. „Wieso hat er das getan?" Sie klopfte sich sorgfältig den Schnee von den Stiefeln. „Wegen des bösen Zaubers. Die Indianer beerdigten hier ihre Toten." Jacquelyn schaute sich nervös um. A.J., der damit beschäftigt war, aus den letzten Holzresten ein Feuer zu machen, lachte. „Keine Sorge, sämtliche Knochen und Perlen wurden inzwischen von Hobby-Archäologen gestohlen." Sie dachte über diese deprimierende Information nach und ging zum breiten Höhleneingang. Sie rieb sich die Ellbogen und versuchte hinauszuspähen. Doch das Schneetreiben war so dicht, dass es einen regelrecht blendete. „Mein Gott", sagte sie, und Furcht schwang in ihrer Stimme mit. „Es ist schrecklich dort draußen. Ich kann es nicht fassen. Was, wenn wir nicht ..." „Beruhige dich." Er fachte die Flammen mit seinem Hut an. „Wir sind in Montana. Hier ist so ein bisschen schlechtes Wetter nichts Be sonderes. Es wird nicht mehr lange dauern, bis du sicher und behaglich in der Hütte am Bridger's Summit bist. " „Dein Wort in Gottes Ohr." Sie sah weiter nach draußen. „Kaum zu glauben, dass es August ist." „Es hat nichts damit zu tun, dass August ist, sondern mit der Höhe und dem geographischen Längengrad. So schlimm ist der Sturm gar nicht. Ich geriet im Sommer 93 einmal hier oben in ein Unwetter. Ich überlebte, indem ich in einen hohlen Baumstamm kroch und dort anderthalb Tage blieb. Der Schnee war so hoch, dass die Kaninchen in ihrem Bau erstickt sind." Grinsend fügte er hinzu: „Junge, musste ich dringend aufs Klo, als ich endlich wieder hervorkriechen konnte." „Du wusstest, dass wir in solches Wetter geraten konnten? Und trotzdem warst du mit Hazels Idee einverstanden?" „Autounfälle passieren auch. Soll ich deswegen aufhören zu fahren?" Er hatte Recht, und Jacquelyn beließ es dabei. Schließlich hatte er diesen Schneesturm ja nicht vorhersagen können. „Wärm dich lieber auf, solange es noch möglich ist", forderte er sie auf. „Das ist der Rest von unserem Holz. Unser nächster Halt wird erst bei der Hütte sein. Sobald das Feuer aus ist, bleibt es kalt, bis wir zum Summit aufbrechen können." „Können wir nicht einfach hier bleiben?" schlug sie vor und sah erneut hinaus in das weiße Schneegestöber. „Würde man nicht Hilfe schicken?" „Hilfe? Weshalb? Wir befinden uns noch nicht in einer Notlage." Sie betrachtete die größer werdende Beule an seinem Kopf. „Was ist mit deiner Prellung? Du hast fast das Bewusstsein verloren." „Das ist nichts. Selbst wenn wir Hilfe bräuchten, könnte niemand hier zu uns heraufkommen. Wir sind auf uns allein gestellt." Jacquelyn kniete sich vor das Weine Feuer, das bis auf ein paar glühende Scheite schon fast ganz heruntergebrannt war, und wärmte sich die Hände. Sie war völlig durchgefroren, und in der Höhle war nur noch wenig Wärme. Draußen vor dem Eingang heulte der Wind weiter mit der Gewalt eines Blizzards. Plötzlich war A.J. an ihrer Seite und rollte seinen Schlafsack aus. „Zieh deine Stiefel aus", forderte er sie auf. „Dann kriech zu mir in den Schlafsack. Wir werden uns gegenseitig wärmen." Sie schüttelte den Kopf.
„Glaub mir, das ist kein Annäherungsversuch", versicherte er ihr. „Wenn ich so etwas vorhätte, bräuchte ich dazu keine Tricks. Aber wir sitzen hier möglicherweise eine Weile fest, und ich werde nicht dabei zusehen, wie du erfrierst. Hazel würde mir das nie verzeihen. Jetzt vergiss dein Schamgefühl, und kriech in den Schlafsack." Sie lächelte schwach über seinen tadelnden Ton. „Na schön, immerhin ist noch eine dicke Schicht aus Kleidungsstücken zwischen uns, " „Dann bin ich ja in Sicherheit", neckte er sie. Bevor sie zu ihm hineinkroch, griff er noch nach der Kaffeekanne und füllte sie mit Schnee. „Für den Fall, dass die Quelle einfriert", erklärte er und machte es sich mit Jacquelyn im Schlafsack bequem. Jacquelyn sah ihn misstrauisch an. Doch als ihre Zähne aufhörten zu klappern, schwand auch ihre Verlegenheit. Inzwischen war ihr deutlich wärmer. Trotzdem - er war ihr so nah. Aber er war auch warm. Und sein Duft war verlockend. Ihr Blick fiel auf die Beule an A.J.s Schläfe. Sie stützte sich auf den Ellbogen, um die Verletzung zu untersuchen. Dann nahm sie etwas Schnee aus der Kaffeekanne und hielt ihn vorsichtig an die Prellung. „Wie fühlt sich das an?" erkundigte sie sich. „Angenehm." Sie fühlte seinen Puls unter ihren Fingern. Ihre Blicke trafen sich, und plötzlich wurde Jacquelyn auch bewusst, dass ihre Lippen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt waren. Ihr Herz schlug schneller. Die Hitze zwischen ihnen war sogar sichtbar - die Handvoll Schnee schmolz in ihrer Hand wie Butter in einer heißen Pfanne. Sie legte sich wieder hin und fragte sich, was sie als Nächstes tun sollte. Mit der Etikette bei Unterkühlung war sie nicht vertraut. Sollte sie mit dem Gesicht zu seinem gewandt einschlafen, um ihn notfalls im Auge behalten zu können? Oder sollte sie ihm den Rücken zukehren, um sich seinem Blick zu entziehen? Sie war unentschlossen, und am Ende nahm er ihr die Entscheidung ab, indem er sie einfach umdrehte und ihren Rücken an seine Brust drückte. Trotz der knisternden Atmosphäre zwischen ihnen war diese Berührung eher tröstlich und wärmend als erotisch. A.J.s starker, männlicher Körper war genau das, was sie bei dem heulenden Wind und Schneegestöber dort draußen brauchte, um endlich einschlafen zu können. „Es ist herrlich! Einfach herrlich!" A.J. und Jacquelyn waren aus der Höhle getreten, in einen klaren, friedlichen, wenn auch noch kalten Samstagmorgen. Am Beginn des fünften Tages ihrer anstrengenden Reise ging die Sonne über den umliegenden Berggipfeln auf und ließ die schneebedeckten Hänge glitzern. „Wunderschön", stimmte A.J. zu und schwang sich in den Sattel. Dann warf er Jacquelyn einen viel sagenden Blick zu. „Aber wie die meisten schönen Dinge auch heimtückisch." Sie spürte noch immer die Spannung zwischen ihnen, doch ausgiebiger Schlaf und das Ende des Schneesturms gaben ihr neue Kraft. Sie genoss einfach die friedliche stille Landschaft so hoch in den Rocky Mountains. A.J. schien sich an den gewaltigen weißen Berghängen nicht ganz so erfreuen zu können. Er wirkte ernst und nachdenklich. Jacquelyn wollte ihn auf seine gedämpfte Stimmung ansprechen, doch die Art, wie er die Lippen zu einer schmalen Linie zusammenpresste, verriet ihr, dass ihm nicht nach Geplauder war. Irgendetwas stimmte nicht, aber Jacquelyn kannte ihn nicht gut genug, um nachzuforschen. „Ja, es ist schön", wiederholte er. „Aber es fängt bereits an zu tauen. Das bedeutet, dass wir auf Schneebretter und Felskanten achten müssen: An den Vorsprüngen haben sich riesige Eiszapfen gebildet, die abstürzen können. Wir müssen ihnen wie fallenden Speeren ausweichen." Er band eine Sicherheitsleine an ihr Sattelhorn. „Der Grund, weshalb wir uns jetzt beeilen müssen", fuhr er fort, „ist der, dass die frischen Schneebretter am Morgen noch hart und fest sind. Erst am Nachmittag werden sie weich und somit gefährlich. Das Problem hier sind die steilen Winkel. Schnee hält sich nicht in einem Winkel über achtunddreißig Grad. Und eine Menge von diesen Hängen sind steiler." Er nickte ihr zu. „Reiten wir los. Beweg dich langsam und gleichmäßig, und halt nach allen Seiten die Augen offen." Sie setzten sich die Sonnenbrillen auf, um nicht geblendet zu werden, und lenkten die Mustangs unterwegs immer wieder in den Schatten, damit auch sie nicht schneeblind wurden. Dummerweise stiegen die Temperaturen rasch. Sie mussten häufig Gebrauch von ihren Lassos machen, indem A.J. zunächst bergauf ritt, das Seil an einem Felsvorsprung oder Haken befestigte und dann wartete, bis Jacquelyn zu ihm aufgeschlossen hatte.
Nach einigen Stunden schmerzten ihre Muskeln. Ihre Füße waren taub vor Kälte, und jeder Atemzug wurde zu einem leisen Stöhnen. „Es ist nicht mehr weit bis zum Bridger's Summit" , tröstete er sie irgendwann. „Wir nähern uns dem Ziel." Jacquelyn nahm ihre letzte Kraft und ihren ganzen Willen zusammen und folgte ihm.
13. KAPITEL Solange sie lebte, würde Jacquelyn diesen letzten grausamen Abschnitt bis hinauf zum Bridger's Summit und dem einsamen Eagle Pass nicht vergessen. Bei gutem Wetter war es schon ein schwieriger Ritt, doch jetzt wurde er durch große Mengen rasch schmelzenden Eises regelrecht heimtückisch. „Es wird einfach zu schnell warm", bemerkte A.J., als sie ihre Sättel neu zurrten und die Pferde verschnaufen ließen. Er sah zu den Hängen über ihnen hinauf. „Zum Glück fallen die Lawinen nie an unerwarteten Orten. Wir müssen nur die gefährlichen Stellen im Auge behalten." Jacquelyn registrierte eine neue Angespanntheit an ihm angesichts der Gefahren durch den Schnee. Das verwirrte sie. Immerhin hatte dieser Mann eine Kopfverletzung weggesteckt und sich sogar einer wütenden Bärin entgegengestellt. Von den halbwilden Pferden beim Rodeo ganz zu schweigen. Inzwischen verstand sie das Vertrauen, das Ha zel in ihn hatte. Seine plötzliche Nervosität wegen des Schnees war ihr jedoch ein Rätsel. Er war doch in Montana aufgewachsen und Schnee für ihn daher nichts Besonderes. Nach einer Weile stoppte er wieder, und Jacquelyn ritt mit Roman Nose neben ihn. „Siehst du die Hütte schon?" fragte sie hoffnungsvoll. Er schüttelte den Kopf. Sein Gesicht lag zur Hälfte im Schatten seines Hutes. „Die Hütte ist vielleicht noch zwanzig Minuten von hier entfernt. Das Problem ist nur, dass wir uns vorher damit auseinander setzen müssen." Er deutete den schmalen Pfad hinauf. Soweit Jacquelyn erkennen konnte, ragte eine Felskante über den Weg, die mit einer dicken schmelzenden Schneewechte bedeckt war. „Man kann genau sehen, wo der Schnee schon überall heruntergekommen ist", fügte er hinzu. „Sieh dir einmal die Stelle dort hinten an - der Schnee türmt sich haushoch. Das sind betonharte, tonnenschwere Schneemassen." „Ja, aber wird sie nicht noch instabiler, während wir hier stehen und darüber diskutieren?" Er grinste. „Verdammt, du lernst wirklich. Aber wir werden mindestens zehn Minuten brauchen, um unter der Wechte hindurchzukommen. Am besten ist es, die Pferde zu führen und weit auseinander zu gehen. Binde dir das um die Taille." Er reichte ihr ein Ende seines Lassos und band sich das andere Ende selbst um die Taille. „Ich werde vorangehen", erklärte er. „Warte, bis das Seil zu Ende ist, bevor du mir mit Roman Nose folgst. Und pass ständig auf, was über dir geschieht." Inzwischen hatte sie gelernt, seinen Anweisungen zu vertrauen. Fast hatten sie die Schneewechte passiert. Von oben tropfte immer mehr Wasser auf sie herunter. Jacquelyns Nacken begann vom vielen Hochschauen bereits zu schmerzen. Da sie schon fast aus der Gefahrenzone heraus waren, richtete sie ihren Blick wieder auf den Pfad. Unglücklicherweise hatte die Erschöpfung ihre Aufmerksamkeit und Reaktionsschnelligkeit beeinträchtigt. Als das Geräusch rutschenden harten Schnees einsetzte, zog A.J. heftig am Lasso. Erschrocken rannte Jacquelyn ein paar Meter vorwärts und fiel in den Schnee. Nur einen Herzschlag später stürzte ein riesiges Schneebrett genau auf die Stelle, an der sie Sekunden zuvor noch gestanden hatte. Es verfehlte auch Roman Nose nur knapp, und sie musste aufpassen, dass das ausweichende Pferd nicht auf sie trat. „Beeil dich!" drängte A.J. „Der Rest ist auch locker, so dass gleich alles herunterstürzen wird!" Noch während er sprach, brach die gesamte Schneewechte herunter. Roman Nose sprang behände in Sicherheit. Jacquelyn jedoch stürzte erneut, bei dem Versuch, im Schnee Halt zu finden. A.J. wartete nicht länger und zog sie die letzten zehn Meter aus der Gefahrenzone heraus. Jacquelyn lag mit dem Gesicht im Schnee und hörte hinter sich ein Tosen, als würde die Welt untergehen. Dann traf sie wie ein Schock Eis und eisiges Wasser. „Ich kann dich zwar retten, aber irgendwie wirst du trotzdem jedes Mal nass", zog er sie auf und half ihr auf die Beine. „Alles in Ordnung?" Sie nickte. „Ich hoffe nur, es ist nicht mehr weit bis zur Hütte." „Wir sind nur noch fünf Minuten vom Bridger's Summit entfernt. In der Hütte ist Klafterholz, falls es noch niemand benutzt hat. Im Handumdrehen bist du wieder warm und trocken."
Die Schneemassen hatten seinen Orientierungssinn nicht beeinträchtigt. Tatsächlich kamen sie nach fünf Minuten um eine große Felsansammlung. „Da ist sie!" rief er. „Zwar eingeschneit, aber anscheinend heil." Jacquelin hielt ihr Pferd neben seinem. Der Pfad schien nicht weiter anzusteigen und öffnete sich vor ihnen zu einer flachen Lichtung, auf der, windgeschützt durch zusammengetragene Steine, eine kleine Blockhütte stand. „Dann haben wir das Ritz wohl endlich gefunden", sagte sie mit klappernden Zähnen. „Was ist das dahinter? Ein Nebengebäude?" Sie zeigte auf einen Weinen, wetterfesten Schuppen, der jetzt vom Schnee halb vergraben war. „Nein, der Schuppen liegt am Pfad hinter dem Haus und ist von hier aus nicht zu sehen. Das da ist der Vorratsschuppen. Kannst du erkennen, dass er über einer kleinen Quelle gebaut wurde? Die Quelle ist einer der Gründe, weswegen Jake sich die Mühe gemacht hat, Holz hier heraufzuschleppen und eine Hütte zu bauen." Sie führten ihre Pferde über den felsigen, schneeglatten Hang. Die warme Sonne hatte überall kleine Bäche mit Schmelzwasser gebildet. Neben der Hütte quietschte eine alte, verr ostete Winde. „Im Anbau befindet sich der Unterstand für die Pferde", erklärte A.J. „Ich werde mich um sie kümmern, während du dir trockene Sachen anziehst." Sie sah ihn verblüfft an. Seit gestern etwa hatten sich die Dinge zwischen ihnen sehr verändert. Jacquelyn war jetzt nicht mehr die lächerliche Anfängerin. Mittlerweile schien er fast schon besorgt um sie zu sein, und sie war sich nicht sicher, ob sie dafür bereit war. Es war ihr noch unangenehmer als sein Spott. „Gibt es keine Türklinke?" fragte sie und betrachtete die verwitterte Tür. „Meinst du, Jake hatte einen Eisenwarenladen in der Nähe gehabt?" neckte er sie. „Siehst du diesen Riemen? Das ist deine Türklinke. Wenn du drinnen bist und nicht willst, dass die Tür von außen geöffnet wird, ziehst du ihn einfach hinein, wenn du die Hütte betrittst. Allerdings ist man hier oben äußerst selten nicht ungestört." Er sah sie mit seinen graublauen Augen an und fügte hinzu: „Es war ja auch die Flitterwochen-Hütte." „Ich bin hier, um Geschichte zu erfahren, nicht um sie nachzuerleben", stellte sie klar. Trotzdem errötete sie bei der Erinnerung an den leidenschaftlichen Kuss bei der Quelle. Sie bekam dieses Bild einfach nicht aus ihrem Kopf. Es hatte eine ganz besonders erotische Wirkung auf sie gehabt, dass sie vollständig angezogen gewesen war und er nackt. Joe hatte sie nie auf diese Weise geküsst. Wenn sie sich liebten, war es stets korrekt, sauber und ein wenig leidenschaftslos gewesen. Er hatte eine Frau haben wollen, die er auf einen Sockel stellen konnte. Und als er sie endlich gefunden hatte, konnte er nicht mehr zulassen, dass sie von diesem Sockel herunterstieg. Und so war sie zum Standbild geworden. Am Ende wollte er dann Gina, die sündig, wild und sinnlich war. All das, was Jacquelyn in Joes Augen nie sein durfte, und sie hatte sich gefragt, ob irgendetwas davon überhaupt in ihr steckte. Jetzt, wo sie an A.J. dachte, war sie sich jedoch sicher, dass sie so sein konnte. Sündig, wild und sinnlich. Sie wusste, dass das in ihr steckte - denn es machte ihr eine Höllenangst. „Am besten, ich sehe zuerst hinein", meinte er. „Manchmal haust jemand dort drin." Er drückte die Tür mit der Schulter auf, und ein muffiger, abgestandener Geruch drang aus dem Innern der Hütte. Jacquelyn spähte an A.J. vorbei und war erstaunt, wie gemütlich und aufgeräumt es drinnen war. Nur eine dünne Staubschicht verriet, dass sie unbewohnt war. „Alles klar", verkündete er. Jacquelyn entdeckte zwei mit Rindsleder bezogene Stühle und einen stabilen Tisch aus Kiefernholz. In einer Ecke stand ein eiserner Herd, daneben eine Wiege, in der Feuerholz aufbewahrt wurde. Der Herd diente sowohl zum Kochen als auch zum Heizen. An zwei Wänden befand sich jeweils eine Kerosinlampe, und in der Nähe des einen Stuhls stand ein bronzener Spucknapf. „Die Handpumpe und die Metallspüle wurden irgendwann um 1890 zusätzlich eingebaut", erläuterte A.J. „Die Pumpe funktioniert noch heute. Fast alles Übrige hier ist im Originalzustand." Er deutete auf ein Bett aus Ledergeflecht an einer Seitenwand. „Das ist tatsächlich bequem, wenn man seinen Schlafsack darauf ausgebreitet hat." Ja, dachte sie, nur wer wird es von uns beiden darauf bequem haben? Sie hatte keine Ahnung. Im Moment musste sie sich erst einmal um trockene Sachen kümmern.
A.J. entfachte rasch ein Feuer im Herd. „Ich werde die Pferde versorgen", sagte er noch einmal und ging wieder hinaus. „Danach werde ich ein wenig angeln gehen." Bevor er die Tür hinter sich schloss, fügte er vieldeutig hinzu: „Ich lasse den Türriemen drinnen." Jacquelyn erhitzte einen großen Topf Wasser auf dem Herd und zog sich die nassen Sachen aus. Nervös behielt sie die Tür im Auge, während sie sich von Kopf bis Fuß wusch. Dann zog sie ihre letzte saubere Jeans und ein weiches Baumwollhemd an und fühlte sich wie neugeboren. Als A.J. zurückkehrte, waren seine Haare nass und zurückgestrichen. „Ich bin kurz nackt in den Bach gesprungen", verkündete er. „Er ist kälter als ein Eisbärfurz." Müde ließ er sich auf einen der Stühle sinken. Jacquelyn beobachte te, wie er die langen Beine ausstreckte und an den Knöcheln kreuzte. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, ehe sie beide unsicher zur Seite schauten. „Ich habe eine Angelleine gespannt", berichtete er. „Zum Abendessen müssten zwei fette Barsche oder Forellen dran sein. Schau mal in den Schrank hinter dir." Sie tat, was er sagte. Auf luftdichten Metallbüchsen stand „Zucker", „Salz", „Kaffee" und „Backpulver". „Sind irgendwelche Insekten in dem Mehl? Ich habe es bei meinem letzten Besuch frisch mit heraufgebracht." „Igitt! Insekten!" Sie öffnete den Deckel. „Nein, es sieht gut aus." „Ausgezeichnet. Du hast Glück, denn du kommst in den Genuss einer legendären Köstlichkeit. Die Clayburn-Männer machen nämlich die besten Brötchen im ganzen Westen. Meine Brötchen sind so locker und leicht, dass du sie auf dem Teller festhalten musst." Jacquelyn grinste über seine Prahlerei. Kein echter Südstaaten-Macho würde jemals mit seinen Kochkünsten angeben. In Montana hingegen gerieten Cowboys sogar in Schlägereien, um ihre geliebten Rezepte für Eintopf, Pfannkuchen oder Schoko-Kirsch-Cocktail zu verteidigen. „Frischer Fisch und ofenwarme Brötchen", meinte sie staunend. „Das reinste Festessen nach den letzten Tagen. Fehlt nur noch der Wein." „Sieh mal hinter die Kanister." Sie schob die Kanister beiseite und entdeckte eine ungeöffnete Flasche Old Taylor Bourbon. „Na ja, es ist nicht gerade Wein", räumte er ein. „Aber Jake hasste auch Wein. Er behauptete, das sei nichts anderes als alter Essig. Colonel Taylor war sein Kumpel. Daher gab es in Jakes Haus nur Old Taylor." Normalerweise trank Jacquelyn keinen Alkohol, weil sie durch die Abhängigkeit ihrer Mutter abgeschreckt war. Aber hier oben, erschöpft und abgeschnitten von der Welt, war ein Schluck wohl in Ordnung. Inzwischen war die Hütte herrlich warm. Jacquelyn war so erschöpft, dass sie ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. „Leg dich eine Weile hin", schlug A.J. vor und breitete seinen Schlafsack auf dem Bett mit dem Ledergeflecht aus. „Wenn du wieder wach bist, bereite ich unser Abendessen zu." „Warte mal einen Moment." Sie hielt es nicht länger aus. „Wo ist der knallharte Bursche geblieben, der mir nicht mal beim Aufbauen meines Zeltes helfen wollte? Der mir eine Lektion darüber hielt, dass er niemandes Sklave sei. Und jetzt steckst du mich ins Bett und bereitest mir das Abendessen zu?" Er grinste. „Ich weiß, was du denkst. Du bildest dir noch immer ein, ich hätte die Absicht, meinen Harem zu vergrößern. Aber die Frau, der ich beim Zeltaufbauen nicht helfen wollte, hatte sich meine Zuwendungen noch nicht verdient. Die Frau, mit der ich jetzt hier zusammen bin, hat mir am Devil's Slope das Leben gerettet. Solche Dinge vergessen wir Clayburns nicht. Ich schulde dir ein gutes Mahl." Es ist also eine Frage der Ehre, dachte sie und war seltsam enttäuscht. Bedeutete diese Enttäuschung, dass sie sich danach sehnte, von ihm umworben und verführt zu werden? Hatte sie den Verstand verloren? Sie sah zu dem verlockend bequem aussehenden Bett. „Na ja, vielleicht mache ich ein kleines Nickerchen." Trotz des Durcheinanders ihrer Gefühle schlief sie sofort ein. Als sie aufwachte, war es draußen bereits dunkel. Beide Lampen brannten hell, und ein köstlicher Duft erfüllte den Raum. „Da bist du ja wieder", begrüßte A.J. sie, der am Herd stand. „Ich wollte dir schon einen Spiegel unter die Nase halten, um zu sehen, ob du noch lebst." „Wieso hast du mich nicht aufgeweckt?" fragte sie verschlafen. „Hazel sagt, man soll ein zufriedenes Baby nicht aus der Wiege nehmen." Er warf ihr einen seltsamen, neugierigen Blick zu. „Verstehst du etwas von Babys?"
Sie errötete ein wenig, stand auf und strich ihre Kleidung glatt. „Nicht das Geringste." „Ich hörte, sie sind leicht zu bekommen." Er grinste mutwillig. „Es überrascht mich einigermaßen, dass jemand wie du noch keinen Stall voll von ihnen hat." „Ich denke gerade darüber nach, mir ein paar anzuschaffen." Er nahm die Brötchen aus dem Backofen und würzte den Fisch. Jacquelyn war es plötzlich viel zu warm. „Was soll's, ich verstehe nichts davon. Ich bin ohnehin nicht der mütterliche Typ." „Ach, du unterschätzt dich." A.J. zog die Stühle näher an den Tisch. „Und jetzt komm essen." „Ich bin gar nicht allzu hungrig ..." „He! Ich habe doch nicht die ganze Zeit vor diesem heißen Herd geschuftet, damit du wieder an einem Müsliriegel knabberst. Kaninchenfutter von der Ostküste! Kein Wunder, dass du keine Kraft hast!" Sie musste unwillkürlich lachen. „Na schön, ich werde essen. Aber vorher hätte ich gern einen Drink, um den Appetit anzuregen." Er hob eine Braue und wendete den Fisch, der in einer schwarzen Eisenpfanne brutzelte, mit einem Fahrtenmesser. „Du willst einen Drink? Ladys bekommen in diesem Saloon Gratisdrinks. Im Schrank sind Gläser. Schenk mir auch etwas ein." Sie fand zwei Gläser und wischte mit ihrem Hemdzipfel den Staub heraus. Dann öffnete sie die Whiskeyflasche und goss jeweils zwei Fingerbreit von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in die Gläser und reichte eines A.J. „Auf Jake und Libbie", schlug er vor. Sie erschauerte und stieß mit ihm an. „Auf Jake und Libbie." Der Bourbon brannte bis hinunter in ihren Magen. „Oh!" Sie rang nach Luft, und ihre Augen tränten. „Das ist ziemlich starker Stoff. Ich sollte lieber aufpassen." „Noch einen?" A.J. hielt verlockend die Flasche hoch. „Vielleicht." Er lachte. „Ja, ich kann sehen, wie du aufpasst." Den zweiten Schluck nahm sie wie ein alter Profi und schmatzte sogar mit den Lippen. „Man gewöhnt sich dran." „Wie an viele andere Dinge", erwiderte er bedeutungsschwer. „Was ist Ios, Cowboy? Hast du Angst, die Tochter aus gutem Hause könnte dir etwas tun?" Er kniff die Augen zusammen. „Ich will verdammt sein, du kleines Biest." Er füllte ihr Glas erneut. „Wir sollten jetzt lieber essen, solange du ... Appetit hast." „Einverstanden, Rodeostar." Sie sah ihm in die Augen, bis er tatsächlich errötete und den Blick abwandte. „Bis nach dem Essen gibt es keinen Schnaps mehr für dich, Lady." „Spielverderber", neckte sie ihn. „O nein, das bin ich nicht", widersprach er beinah flüsternd. „Du wirst es erleben. Und dazu brauche ich nicht einmal Alkohol. Aber zuerst wird gegessen."
14. KAPITEL Jacquelyn war satt und zufrieden, und die beschwipste Unbekümmertheit ließ nach. Es folgte eine leichte Dumpfheit, als das durch den Alkohol ausgelöste Hochgefühl nachließ. Die Hütte wurde plötzlich wieder kleiner. Jede Bewegung schien übertrieben und beinah bedrohlich. Jacquelyn empfand die sexuelle Spannung zwischen ihr und A.J. wie ein in der Dunkelheit lauerndes Ungeheuer. „Man kann wohl behaupten, dass ich nicht viel trinke", gestand sie und schob ihren blauen Emailleteller von sich. „Ja, das habe ich bemerkt. Das ist auch gut, denn du verträgst nicht viel. " Sie lächelte müde. „Das war ein köstliches Abendessen", sagte sie, um das Thema zu wechseln. „Danke." Dann bemerkte sie ein leises Geräusch an den Fenstern, wie das Kratzen von winzigen Klauen. „Es schneit schon wieder!" rief sie aus. „Ich kann es gegen die Scheiben prasseln hören." „Keine Sorge." A.J. trank einen Schluck des starken Kaffees aus seinem zerbeulten Metallbecher. „Es sind große Flocken. Ein leichtes Schneetreiben, kein schwerer, harter Schnee, der liegen bleibt. Dies wird nicht der Weiße Tod." Jacquelyn hatte die Einheimischen oft vom Weißen Tod reden hören. Der Weiße Tod von 1896 war der schlimmste dokumentierte Winter in Montana. Der Schnee lag bis zu den Dachtraufen der Häuser, und im viehreichen Judith Basin kamen damals ganze Rinderherden um. Die Tiere konnten nicht mehr gefüttert werden, und die hungernden Rinder fraßen sogar die Teerpappe von den Wänden der Futterställe.
„Apropos Schnee", meinte Jacquelyn und betrachtete sein attraktives, markantes Gesicht im weichen Lampenlicht. „Wieso beschäftigt er dich so sehr? Du scheinst so viel über ihn zu wissen wie ein Soldat über seinen Feind, den er respektiert und fürchtet." „Man sollte ihn fürchten und respektieren. Wenn man es nicht tut, kann er einen in Gestalt einer Lawine töten, wie es mit meinen Eltern geschah, als ich acht Jahre alt war. Sie wussten nicht, in welchem Winkel ein Schneebrett nachgeben kann. Diese Unwissenheit hat sie getötet." Er sprach nüchtern davon und beantwortete einfach ihre Frage. Doch Jacquelyn erinnerte sich an den Ausdruck in seinen Augen, als er zu den schneebedeckten Berghängen hinaufgesehen hatte, und ihr wurde einiges klar. „Ich habe es mit angesehen", fuhr er fort. „Ich fuhr auf einem Hang in der Nähe Ski. Wir gruben stundenlang, doch sie waren unter zweihundert Tonnen Schnee begraben. Man fand sie viel zu spät." Einen Moment lang lastete eine schwere Stille zwischen ihnen. Schließlich sagte Jacquelyn leise: „Da habe ich wohl eine alte Wunde berührt. Es tut mir Leid." „Ich war noch ein Kind und hätte ohnehin nichts tun können. Aber wenn einem so etwas passiert, verfolgt es einen das ganze Leben. Man geht es wieder und wieder in Gedanken durch und fragt sich, ob man nicht doch etwas hätte tun können, um sie zu retten." Er hatte deutlich Mühe, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. „Sie waren beide innerhalb eines Sekundenbruchteils verschwunden. In der einen Minute lachte ich noch mit ihnen, während sie herumalberten, und in der nächsten waren sie metertief unter Schneemassen begraben. Das hat eine ... eine ..." „Was?" drängte sie sanft. Er schüttelte den Kopf, als wollte er die traurigen Gedanken daraus vertreiben. „Ich weiß nicht", gestand er. „Es hat in mir eine Angst davor ausgelöst, dass ich alles, was mir je etwas bedeuten könnte, für immer verlieren würde." Er hielt einen Moment inne. „Himmel, das sind schreckliche Worte: ,für immer`." Während er von diesen schmerzlichen Erinnerungen berichtete, war das einzige Anzeichen seiner inneren Anspannung die geballten Fäuste vor ihm auf dem Tisch. Mitfühlend legte Jacquelyn ihre Hände auf seine Fäuste. „Du warst noch zu klein, um ihnen helfen zu können. Aber mich hast du heute gerettet, als das Schneebrett herabstürzte. Ihrer Tragödie verdankst du deine Wachsamkeit, die mich gerettet hat. Deine Eltern wären stolz auf dich." „Ach, dass ich dich gerettet habe, geschah in einem Augenblick der Schwäche", neckte er sie mit ausdrucksloser Miene, und Jacquelyn schlug ihn auf den Arm. „Es klingt verrückt", fuhr er fort, „aber ich wurde zum Teil deshalb Rodeochampion, damit meine Eltern stolz auf mich sein konnten, obwohl sie nicht mehr lebten. In gewisser Hinsicht ist diese Leistung für mich eine Wiedergutmachung für meine Hilflosigkeit als Kind." Jacquelyn konnte das gut nachvollziehen. Ihr eigener heimlicher Traum, eines Tages eine für ihre guten Reportagen anerkannte Jour nalistin zu werden, war ebenfalls eine Art von Kompensation. Sicher, ihre Eltern lebten noch. Doch auch sie hatten ihr ein starkes Gefühl der Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit gegeben. Mit einer Spur Bitterkeit sagte A.J.: „Das Problem als Rodeochampion ist nur, dass man nur so gut ist wie der nächste Ritt. Und beim letzten Sturz habe ich mir das Knie so schlimm verletzt, dass es vielleicht nicht mehr zum nächsten Ritt kommt. Diesen Weltmeistertitel behält man nicht sein Leben lang. Man muss jede Saison erneut darum kämpfen." „Was macht es schon, wenn du dich tatsächlich vom Rodeo zurückziehen musst?" entgegnete sie ernst. „Irgendwann musst du es sowieso. Aber niemand kann dir nehmen, was du erreicht hast. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass du im mittleren Alter auf einmal dick und faul wirst." „Wenn es nur um mich ginge, würde ich das Rodeo abhaken. Ir gendwann bleibt jeder Pilot am Boden. Das ist nun mal so. Aber verdammt, es war wie ein Geschenk, das man mir jetzt wegnimmt. Verstehst du, was ich meine?" Sie hielt noch immer seine geballten Fäuste in ihren Händen und konnte die Sehnsucht nachvollziehen, die in seiner Stimme mitschwang. Sie wusste sehr genau, wie es war, etwas Unerreichbares zu begehren, Geschenke zu erhalten, die dann zurückgefordert wurden. In der gleichen vergeblichen Weise, wie A.J. versucht hatte, seine toten Eltern zu beeindrucken, hatte sie vergebens Liebe gesucht und das Gefühl, irgendwo wirklich dazuzugehören. Beides schien für sie unerreichbar zu sein.
Ihre Blicke trafen sich, und eine ganze Weile sahen sie einander in die Augen. Jacquelyns Puls beschleunigte sich. A.J. stand auf, und eine Anspannung erfasste sie, da sie nicht sicher war, was geschehen würde und was sie tun sollte. Doch er ging lediglich zum Herd, öffnete die eiserne Luke und warf ein Stück Holz hinein. Auf dem Rückweg jedoch blieb er hinter ihrem Stuhl stehen und begann ihre Schultern und ihren Nacken zu massieren. Sie seufzte behaglich und spürte deutlich, wie die Anspannung aus ihren Muskeln wich. „Bist du jetzt wieder nüchtern?" fragte er mit leiser, heiserer Stimme dicht an ihrem Ohr. „Ja." „Gut. Das bedeutet dann wohl", meinte er, während seine Hände nach vorn zum obersten Knopf ihres Hemdes glitten, „dass ich deine Zustimmung dazu habe, das hier zu tun?" Er öffnete die obersten zwei Knöpfe und schob seine Hand in ihr Hemd. Ihr Instinkt riet ihr, ihn aufzuhalten. Aber dann fragte sie sich, wieso sie das tun sollte. Nach der Trennung von Joe war sie mit keinem Mann mehr zusammen gewesen, und das war lange her. Sicher, sie wollte mehr als ein kurzes Abenteuer mit einem Rodeochampion. Aber wenn das alles war, was ihr angeboten wurde, wieso sollte sie dann heute Nacht allein schlafen? Sie spürte, wie er ihren BH öffnete. Jacquelyn schloss die Augen und genoss die Berührung seiner warmen Hände, die ihre Brüste umfassten. Ihre Knospen wurden hart und richteten sich auf. „Genehmigung erteilt?" fragte er. Ihre Atmung beschleunigte sich. Sie nickte. „Und wie steht es damit?" wollte er wissen und hauchte sinnliche Küsse auf ihren Nacken. Jacquelyn erschauerte, als sei ihr kalt. Aber ihr war nicht kalt. Ganz und gar nicht. „Und damit?" Er presste seine Lippen auf ihre. Sie erwiderte seinen zärtlich-drängenden Kuss mit einer Leidenschaft, die sie selbst nicht für möglich gehalten hätte. Erst jetzt, überwältigt von Verlangen und Anspannung, erkannte sie, wie groß die Be gierde war, die sich in den letzten Tagen immer mehr in ihnen angestaut hatte. Doch eine innere Stimme warnte sie, dass auch dies nur eine Form der Kompensation sei. A.J. Clayburn war sowohl in gesellschaftlicher als auch in charakterlicher Hinsicht das totale Gegenteil von ihr. Möglicherweise würde sie später bitter für diese kurze Flucht bezahlen müssen. Doch das Verlangen, das er mit seinen stürmischen Küssen in ihr entfachte, ließ sie alle Bedenken vergessen und nur noch dem Moment entgegenfiebern, in dem sie eins sein würden Widerstrebend löste er seine Lippen von ihren. „Jetzt habe ich genug um Erlaubnis gefragt", erklärte er und hob sie mühelos auf die Arme. „Tun wir es. Wenn du mich fragst, ist es längst überfällig." Er trug sie zum Bett, wo er ihr das Hemd und den BH ganz auszog. Jacquelyn stöhnte vor Lust und bekam kaum mit, wie er ihr die Jeans und den Slip abstreifte. A.J. kniete sich neben das Bett und begann ihren nackten Körper mit heißen Küssen zu bedecken, während er sich ebenfalls auszog. Seine Lippen bahnten sich behutsam und zärtlich einen Weg von ihren harten Brustspitzen bis hinunter zu ihrem flachen Bauch. A.J. würde nicht eher zufrieden sein, bis er jeden Zentimeter ihres Körpers intim erforscht hatte. Schließlich glitt sein Mund tiefer, und Jacquelyn fühlte seine streichelnden Hände an den Innenseiten ihrer Schenkel. Als sein Mund begierig ihren sensibelsten Punkt zu liebkosen begann, durchströmten Jacquelyn Wellen der Lust, jede neue intensiver als die vorangegangene. Ihr Blut schien sich in flüssige Lava zu verwandeln, und während sie einen überwältigenden Höhepunkt erreichte, wurde ihr klar, wie viel Verlangen nach diesem Mann sie verleugnet und unterdrückt hatte. Sie stieß einen ekstatischen Schrei aus und sehnte sich sofort nach mehr. Rasch legte A.J. sich zu ihr auf das Bett. Als Jacquelyn ihn nun in seiner ganzen männlichen Pracht vor sich sah, wusste sie, dass sie nicht enttäuscht werden würde. Seine Beine waren lang und muskulös, seine Hüften schmal, sein Bauch flach. Das Vorspiel hatte seine Erregung ins Unerträgliche gesteigert. Ein Beben durchlief seinen Körper. „Du bist also tatsächlich eine Frau aus Fleisch und Blut", flüsterte er heiser. Ein seltsames Gefühl schnürte ihr die Kehle zu. Mit einer Wildheit, die sie selbst erstaunte, küsste sie ihn und bewies ihm nur allzu gern, dass er Recht hatte. Ja, sie war eine Frau aus Fleisch und Blut, und es war himmlisch, zu lieben und geliebt zu werden. Mit einem lustvollen Seufzer nahm sie ihn tief in sich auf. A.J. stöhnte, und ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Er war auch nur ein Mensch ...
Jacquelyn schlang die Beine um seine Hüften und krallte die Finger in seinen festen Po. Er begann sich in ihr zu bewegen, behutsam zunächst, dann in einem immer schneller werdenden Rhythmus, während er sie immer fester an sich zog, um sie noch intensiver zu spüren. Es war der pure Sinnenrausch, und sie kam mühelos zweimal zum Höhepunkt, bevor A.J. ein letztes Mal tief in sie eindrang. Jacquelyn schloss die Augen und genoss es, als er wild erschauernd mit rauer Stimme ihren Namen flüsterte. Die anschließende Ruhe hielt nicht lange an. Zu ihrer großen Freude stellte Jacquelyn fest, dass A.J. Clayburn ein ausdauernder, ja fast schon unersättlicher Liebhaber war, dessen Verlangen nicht ab-, sondern zunahm, je länger die Nacht dauerte. Erst im Morgengrauen kamen sie zur Ruhe. Jacquelyn schlief sofort ein, nackt an ihn geschmiegt. Für diese eine süße Nacht hatte der Cowboy seine Meisterin gefunden. 15. KAPITEL „Verdammt, Larry", fluchte Eric Rousseaux ins Telefon, „du begreifst es einfach nicht, was? Wir müssen genügend Stimmberechtigte im Stadtrat unter Druck setzen. Und zwar dringend!" Eric trainierte mit Hanteln, während er mit seinem Geschäftspartner sprach. Wie üblich trug er kein Hemd, um seinen athletischen Körper zur Schau zu stellen. Dabei spielte es keine Rolle, dass er sich in seinem Arbeitszimmer befand, wo niemand ihn bewundern konnte. Seine Miene verfinsterte sich. „Wechsle nicht das Thema, indem du dich nach Jacquelyn erkundigst. Du siehst doch die Nachrichten, also weißt du sehr gut, dass sie noch nicht zurückgekehrt sind. Aber darum geht es hier nicht. Und ich will dich nicht wegen Hazel jammern hören. Ich gehöre nicht zu den Männern, die gern verlieren. Beschaff mir die nötigen Stimmen, oder du bist gefeuert." Er wollte gerade erneut etwas sagen, als Stephanie plötzlich im Tür rahmen erschien, eine Flasche Kognak in der rechten Hand. Seine Frau besuchte ihn in seinem Arbeitszimmer ungefähr so oft, wie der Halleysche Komet über den Himmel zog. Na fabelhaft, dachte Eric. Sie ist betrunken und wird eine Szene machen. Allerdings war es gewöhnlich nicht ihre Art, Szenen zu machen. Im Gegenteil, Stephanies Selbstbeherrschung war geradezu beängstigend. „Larry", sagte er brüsk, „wir klären alles Weitere später." Er legte das schnurlose Telefon auf seinen Schreibtisch und sah Stephanie erwartungsvoll und wachsam an. Merkwürdigerweise war ihr Blick klar, und auch ihr ironisches kleines Lächeln fehlte. Zehn Uhr abends, und sie war offenbar noch nüchtern. „War das wirklich Larry?" erkundigte sie sich mit ihrer kehligen Stimme. „Oder doch eher Linda, Lucy, Lana oder ..." „Sehr witzig. Larry und ich sprachen gerade über die Details wegen des Mountain-ViewProiektes. Was wünschst du?" „Was ich wünsche?" Stephanie klang zwar spöttisch, aber nicht kampflustig. „Ich fange lieber nicht damit an, denn die Liste würde dir nicht gefallen. Aber ich bin nicht hier heraufgekommen, um über meine Wünsche zu reden. Mir ist klar, dass dich dieses Thema nicht inte ressiert. Ich bin nur neugierig, Eric. Unsere Tochter ist dort oben an diesem Bergpass und kämpft möglicherweise um ihr Leben. Kümmert dich das überhaupt?" Bei dieser unerwarteten Frage verzog er verärgert das Gesicht. „Was, zur Hölle, soll das?" „Du hast mich schon ganz gut verstanden. Du sitzt hier und heckst fragwürdige Geschäfte aus, während dein einziges Kind vielleicht um sein Leben kämpft. Das hat mich neugierig gemacht. Deine Gleichgültigkeit mir gegenüber kann ich bis zu einem gewissen Grad verste hen. Zum Teil bin ich daran schuld. Aber was hat Jacquelyn dir je getan, dass dir ihr Schicksal so gleichgültig ist?" „Ich bin nicht gleichgültig, sondern beschäftigt! Ich liebe unsere Tochter so sehr wie du, aber was soll ich machen? Ich habe Hazel angerufen. Du hast gehört, was der Polizeichef gesagt hat. Eine vernünftigte Rettungsaktion kann erst anlaufen, sobald ein Notfall bestätigt ist. Wir wissen doch gar nicht, ob Jacquelyn in Schwierigkeiten steckt. Sie könnte ebenso gut mit A.J. Clayburn gemütlich in einem Motel sitzen." Stephanie betrat das Arbeitszimmer. Ihre Miene zeigte eine bisher nicht gekannte Entschlossenheit. „Du weißt, dass sie nicht zu dieser Sorte Frau gehört. Ich weiß, dass du es weißt, weil du mehr Erfahrung mit dieser Sorte Frauen hast als jeder andere Mann, den ich kenne."
„Verschwinde, und verschone mich mit diesem Thema", erwiderte Eric mit zusammengebissenen Zähnen. Sie hob die Kognakflasche, damit er den Inhalt sehen konnte. „Normalerweise wäre sie um diese Zeit schon bis hier leer", erklärte sie und zeigte mit dem Finger auf die Stelle. „Doch heute Abend habe ich etwas anderes gemacht. Ich habe beschlossen, nüchtern zu bleiben und darüber nachzudenken, wie viel Glück ich mit Jacquelyn hatte. Und weißt du was? Es gibt viele wundervolle Dinge in meinem Leben. Du gehörst allerdings nicht dazu." „Was soll das jetzt wieder heißen?" Eric ging zu ihr, packte sie am Arm und schüttelte sie. „Das bedeutet, dass ich dich verlasse. Sobald Jacquelyn zurück ist - möge Gott geben, dass sie heil zurückkommt -, werde ich mir einen Anwalt nehmen und dich verlassen." „Du bist verrückt. Dieser Clayburn soll ein verdammt fähiger Bursche sein, der durch die Hölle gehen kann, ohne sich auch nur eine Brandblase zu holen. Wenn Jacquelyn wieder zurück ist, wirst du jedes Wort, das du heute Abend ausgesprochen hast, bereuen." „Selbst wenn sie unversehrt aus den Bergen zurückkehrt, werde ich dich verlassen", beharrte Stephanie. „Ich kann zwar nicht die Welt retten - ich kann ja momentan nicht einmal meine Tochter retten -, aber mich selbst." „Dich selbst? Wovor willst du dich retten?" „Vor dir, Eric. Zusammen sind wir Gift. Es ist uns sogar gelungen, das Leben unserer Tochter zu vergiften. Keiner von uns beiden hat je an jemand anderen als an sich selbst gedacht. Ist dir zum Beispiel mal aufgefallen, dass Jacquelyn sich seit Monaten elend fühlt? Dass Joe Colbert ihr in Atlanta das Herz gebrochen hat, indem er sie für Gina Gallatin fallen ließ?" Eric zuckte die Schultern. „Ach, junge Liebe, das ist eine Schlacht der Herzen. Verluste gibt es immer." „Schon, aber ein wenig Erste Hilfe wäre nett, wenn man verletzt ist. Doch keiner von uns war für Jacquelyn da. Wir sind nie für sie da. Sie ist allein, und all dein Geld kann nicht wieder gutmachen, was wir versäumt haben." Die Wahrheit ihrer Worte traf Eric wie ein Nadelstich ins Herz. „Ich kann nicht glauben, was du tust." „Weißt du was?" konterte Stephanie verächtlich. „Ich kann nicht glauben, dass es dich wirklich kümmert." Jacquelyn erwachte am Samstagmorgen als Erste. Einen Moment lang war sie in der frühmorgendlichen Stille der Hütte orientierungslos. Eine der Lampen war ausgegangen, die Flamme der anderen tanzte wie eine Kerzenflamme im Wind. Jacquelyn stellte fest, dass ihre Kleidungsstücke in einem Haufen mit A.J.s Kleidern neben dem Bett lagen. Beim Anblick ihres pinkfarbenen Baumwollslips, der an einem von A.J.s zerschrammten Stiefeln baumelte, riss sie entsetzt die Augen auf. O Grundgütiger, was hatte sie getan! Obwohl sie letzte Nacht nicht betrunken gewesen war, kroch in ihr eine Panik wie nach einer wilden Zecherei hoch - nur konnte sie ihr Verhalten nicht auf den Alkohol schieben. Diese Möglichkeit hatte A.J. ihr nicht gelassen. Sie tadelte sich selbst für ihre Hemmungslosigkeit. Ihr rebellischer Körper allerdings sandte kleine, eindeutige Signale der Zufriedenheit über die Ereignisse der vergangenen Nacht. Jacquelyns Lippen waren noch leicht geschwollen von A.J.s stürmischen Küssen. Und als sie sich vorsichtig aufsetzte, erinnerte sie sich nur allzu gut an ihr leidenschaftliches Liebesspiel, das bis zum Morgen angehalten hatte. Als ihre nackten Füße den rohen Holzfußboden berührten, kehrte sie vollends in die Realität zurück. Sie betrachtete den gut aussehenden Mann, der friedlich neben ihr schlummerte. Letzte Nacht hatten sie nicht genug voneinander bekommen können und hatten sich umarmt, als wollten sie sich nie wieder loslassen. Jetzt allerdings, im Licht des neuen Tages, schien all das Vergangenheit zu sein. Jacquelyns Begierde hatte sich nun in Besorgnis verwandelt. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich ihm gegenüber verhalten sollte. In welchem Ton sollte sie mit ihm sprechen? Intim oder nur freundlich? Liebevoll oder neutral? Es gab zu viele Entscheidungen zu treffen, und das in so kurzer Zeit. Ängstlich fragte sie sich, wie er wohl reagieren würde, sobald er aufwachte. Was würde er jetzt erwarten? Er konnte kaum mit der wilden kleinen Hexe gerechnet haben, in die Jacquelyn sich letzte Nacht verwandelt hatte. Würde er also in Zukunft mehr von ihren Nächten erwarten?
Er murmelte etwas im Schlaf, und seine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Rasch zog sie sich an und bürstete sich die Haare. Dann fachte sie das Feuer im Herd wieder an und kochte Kaffee. Der köstliche Duft, der sich allmählich in der Hütte ausbreitete, weckte A.J. „Denk dran", sagte er verschlafen, „er ist erst stark genug ..." „ ... wenn der Löffel drin steht", beendete Jacquelyn den Satz für ihn. „Ich weiß, Cowboy. Ich lerne schnell." „Na ja, wenn du alles unter Kontrolle hast, wieso hüpfst du dann nicht noch mal zu mir ins Bett?" „Vielleicht sollten wir lieber über unseren Rückweg sprechen?" erwiderte sie in neutralem Ton. „Ich muss nämlich wirklich nach Hause." Das klang lahm, wie sie selbst zugeben musste. Aber es war leichter, offensichtliche Ausflüchte zu machen, als jetzt Ordnung in das Durcheinander ihrer Gefühle zu bringen. „Sicher", meinte er nach einer langen Pause. „Wir können uns über den Rückweg unterhalten." Doch er klang skeptisch. Natürlich konnte er nicht glauben, dass dies die gleiche Frau war, die ihm mit ihren Fingernägeln den Rücken zerkratzt hatte. Es ist also wieder das alte Lied, dachte sie verzweifelt. Ich bin abweisend zu ihm, weil ich nicht die richtigen Worte oder den nötigen Mut finde. Er zog sich seine Jeans an und ging ein paar Minuten nach draußen. Als er zurückkehrte, schenkte er sich einen Becher Kaffee ein. „Es wird rasch warm draußen", sagte er und sah ihr in die Augen. „Der Schnee, der direkt der Sonne ausgesetzt ist, wird sofort schmelzen. Aber das ist nur die erste Schneeschmelze. Viel Schnee liegt an schattigen Hängen, die von den Sonnenstrahlen kaum erreicht werden. Dort dauert es länger, bis der Schnee geschmolzen ist - gewöhnlich Tage." Er runzelte die Stirn und spuckte den Kaffee in die Spüle. „Von wegen, du lernst schnell." Er kippte den ganzen Inhalt seines Becher fort. „Wie dem auch sei", fuhr er fort und betrachtete sie, als versuche er etwas zu sehen, was nicht da war. „Uns bleiben nur zwei realistische Möglichkeiten. Von hier aus brauchen wir auf dem Ritt ins Mystery Valley nur einmal zu campieren. Wir können uns also entweder beeilen, bevor die erste Schneeschmelze so viel Kraft gewonnen hat, dass sie die Furten überflutet ..." „Oder?" Er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Wirkung zu verleihen. „Oder wir warten etwa eine Woche hier oben, bis alles geschmolzen ist. Wir könnten die Flitterwochen von Jake und Libbie nacherleben. " Jacquelyn fühlte erneut Panik in sich aufsteigen. „Das geht nicht", sagte sie viel zu hastig. Zu spät wurde ihr klar, dass sein Vorschlag nur ironisch gemeint war. „Ganz ruhig, Hoheit. Nicht gleich erschrecken. Wir werden noch heute Morgen aufbrechen. Aber ich warne dich lieber jetzt schon, dass wir uns ziemlich beeilen müssen. Ich habe schon erlebt, wie heftige Regenfälle den Thompson's Creek überflutet haben. Falls das geschieht, ist der Pfad unterhalb des Passes nicht mehr passierbar. Die Schneeschmelze kann das Gleiche anrichten. Wir müssen uns also beeilen." Jacquelyn nickte erleichtert. Sie würden sich beeilen müssen. Das bedeutete, dass ihnen weniger Zeit für Gespräche blieb, weniger Zeit für eine Analyse der vergangenen Nacht und weniger Zeit für einen Abschied. Sie aßen ein rasches Frühstück, bestehend aus übrig gebliebenen Brötchen mit Honig. Keiner von beiden schien so recht zu wissen, wo er während des Essens hinschauen sollte, und Jacquelyns schwache Versuche, Konversation zu machen, erstarben ihr schon auf den Lippen. Er war nicht interessiert. Wieso sollte er auch? Letzte Nacht hatte sie sich ihm hingegeben; jetzt hatte sie Angst und hielt ihn auf Distanz - wieder ganz die Eisprinzessin. Nach dem Frühstück sattelten sie eilig die Pferde für die Heimreise. Einmal nahm Jacquelyn beinah ihren Mut zusammen, um durch das Eis zu brechen. „A.J.?« Er hielt gerade einen Steigbügel hoch und zurrte den Sattelgurt fest. Seine Miene war grimmig. „Ja?" fragte er, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Die Erfahrung war ein grausamer Le hrmeister, und Jacquelyn hatte Angst davor, was geschehen könnte, wenn sie die Sicherheit verließ, die ihre kühle Beherrschtheit ihr garantierte. Oft genug hatte sie dafür bezahlt, wenn sie sich Joe zu öffnen versucht hatte. „Ach nichts", sagte sie schließlich. „Ich bin fertig zum Aufbruch." „Hauptsache, du hast bekommen, weswegen du hergekommen bist", bemerkte er nur und schwang sich in den Sattel.
Der Ritt bergab war viel leichter, nachdem sie sich unterhalb der schneebedeckten Hänge befanden. Trotzdem herrschte auf dem Rückweg eine unangenehmere Stimmung als bei ihrem Aufstieg zum Eagle Pass. Nichtsdestotrotz gab es jetzt weniger Feindseligkeit zwischen ihnen, zumindest keine so offene. Ihre Gespräche waren gelegentlich jedoch mit einigen sarkastischen Anspielungen gespickt. Immerhin hatten sie den Punkt überwunden, an dem sie nur Beleidigungen austauschten. „Du hast mich nach meiner Familie gefragt", erinnerte er sie bei ihrem ersten Halt, um die Pferde verschnaufen zu lassen. „Und nach Jakes. Was ist mit deiner Familie? Abgesehen von der Tatsache, dass dein alter Herr am liebsten unser Weideland asphaltieren möchte. Wie ist es, so hübsch zu sein und so privilegiert aufzuwachsen?" Sie fühlte sich durch die Bemerkungen über ihren Vater nicht angegriffen, da sie in diesem Punkt wie die Einheimischen dachte. Dennoch ließ sie sich mit der Antwort etwas Zeit. Sie atmete tief die kühle, saubere Luft ein. Der schmale und windige Eagle Pass lag jetzt bereits wieder ein ganzes Stück über ihnen. Jacquelyn beobachtete die Pferde am Bach und das Spiel ihrer Muskeln im kupferfarbenen Sonnenlicht. „Dass ich hübsch bin, habe ich schon mal gehört", begann sie und brachte ein Lächeln zu Stande. „Was das ,privilegiert` angeht - mein Vater liebte es, mich daran zu erinnern, dass nichts umsonst sei. Nur zu deiner Information - er gab mir nicht einen Dollar. Während meine' College-Zeit kellnerte ich vier Jahre lang, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Und seit ich das Studium beendet habe, arbeite ich." „Du bist sicher fleißig", räumte A.J. ein und fügte widerstrebend hinzu: „Und du machst ausgezeichnete Arbeit. Verzeih, wenn ich das sage, aber ich wünschte, Mystery würde deinem Dad so viel bedeuten wie dir." „Er hat andere Prioritäten", erklärte sie vorsichtig. A.J. schien tatsächlich zuhören zu wollen. Daher wollte sie auch, dass er verstand, wie schwierig es war, als Tochter von Eric Rousseaux aufzuwachsen, dem hyperkritischen Perfektionisten. Und dass sie ständig darum bemüht sein musste, vollkommen zu sein, um nicht schroffe Ablehnung zu erfahren. Doch sie fand nicht die richtigen Worte, um zu erklären, wie es war, als Kind jeden Tag ein kleines bisschen zu sterben - so wie ihre Mutter. „Ich nehme an, du könntest auch eine Waise sein", sagte er und stieg wieder auf sein Pferd. „Erzähl mir etwas anderes." „Was willst du wissen?" „Kam deinetwegen nicht letzten Sommer so ein großer Tennisspielertyp hier herausgeflogen? In diesem Sommer höre ich nichts mehr von ihm." Jacquelyn zuckte innerlich zusammen. „Weder in diesem noch im nächsten", versicherte sie ihm. Während sie Weiterritten, erzählte sie ihm ein paar knappe Details darüber, wie Joe und Gina sie abgeschrieben hatten. „Solche Leute wie die beiden nennen wir hier draußen ,secondhand'", bemerkte er. „Es hat nichts mit der Anzahl der Partner zu tun, die man hatte, sondern damit, ob man sie billig behandelt hat oder nicht." Sie glaubte einen vorwurfsvollen Unterton aus seiner letzten Bemerkung herausgehört zu haben. Meinte er mit „solche Leute" auch sie? Sie überlegte angestrengt, was sie als Nächstes sagen sollte. Er kam ihr zuvor, indem er ihre Aufmerksamkeit auf die anschwellenden Bäche um sie herum lenkte. „Wir sollten uns beeilen." Er war offenbar froh, das Thema wechseln zu können. „Je tiefer wir gelangen, desto mehr Schmelzwasser." Die Intimität der vergangenen Nacht hatte sein Verhalten ihr gegenüber verändert. Zwar war er nicht direkt höflich oder gar fürsorglich, aber zumindest zivilisiert und nachsichtig. Das war immerhin eine gewaltige Verbesserung gegenüber seiner früheren Schroffheit und Gleichgültigkeit. Aber Veränderungen gab es nicht nur in seinem Verhalten. Jacquelyn musste zugeben, dass sie ihn jetzt in einem ganz anderen Licht sah als bei ihrer ersten Begegnung in Hazels Wohnzimmer. Obwohl sie nicht die Absicht gehabt hatte, mit ihm zu schlafen, war nicht nur Lust der Auslöser dafür gewesen. Dass er sich von der wütenden Bärin lieber hatte verletzen lassen, als das Tier zu erschießen, bewies ihr, dass er auch eine sensible Seite besaß. Und was er ihr über seine Eltern erzählt hatte, rührte sie noch immer. Er musste eine tief verwurzelte Verlustangst entwickelt haben,
die er nie ganz hatte abschütteln können. Ein solcher Mann fühlte sich natürlich wohler bei kurzen Affären, als einer einzigen Frau Treue zu schwören und damit alles zu riskieren. Während sie weiter die Berghänge hinunterritten, fragte Jacquelyn sich, was sie und A.J. jetzt waren. Wahrscheinlich war es für ihn wie die übrigen erotischen Eskapaden, die er bisher gehabt hatte: kurz und bedeutungslos. Irgendwann würde sie ihn noch einmal zufällig in der Stadt treffen, und dann würde er sie wie eine Fremde ansehen. Er würde sich an den Hut tippen und weitergehen. Und sie würde ihm nachsehen und sich zwingen, beherrscht zu bleiben. Sie war die Eisprinzessin, die kühl blieb. Dann würde sie vielleicht nicht mehr an die Nacht denken, in der sie ihm mit ihren Fingernägeln den Rücken zerkratzt hatte, als wollte sie sich an ihre Hoffnung krallen, sondern stattdessen in den Schnapsladen gehen und sich eine Kiste Kognak kaufen. 16. KAPITEL „Ich fing noch während der High School als Rodeo-Clown in Red Lodge an", berichtete A.J. endlich, nachdem Jacquelyn ihn lange genug nach seiner Geschichte gelöchert hatte. „Ich lernte dabei schnell, dass der Job der Clowns in der Arena längst nicht so witzig war, wie es aussah. Ihre Hauptaufgabe besteht nämlich darin, wild gewordene Stiere und Pferde davon abzulenken, auf einen abgeworfenen Reiter loszugehen. Ich fand, wenn ich schon der Gefahr ausgesetzt bin, kann ich auch den Ruhm einheimsen. Also fing ich selbst an zu reiten." Sie ritten jetzt unter Bäumen und folgten dem McCallum Trace zwischen einer Ansammlung aus Birken und Kiefern hindurch. „Von El Paso bis Calgary bin ich auf allen Rodeos geritten", fügte er hinzu. „Das Rodeo in Red Lodge ist nach wie vor mein liebstes." Sei- ne Miene verdüsterte sich. Offenbar dachte er an seine Verletzung. , Jacquelyn wünschte, sie könnte irgendetwas Tröstliches sagen. Doch ihre finstere Stimmung hinderte sie daran. Inzwischen war ihr klar geworden, dass sie diesen Mann völlig falsch eingeschätzt hatte. Wenn sie tief in ihr Herz hineinhorchte, musste sie zugeben, dass er sogar der Typ Mann war, nach dem sie sich sehnte. Er war stark, anständig, leidenschaftlich und loyal. Er war all das, was Joe nicht war. Wenn sie einen Mann wie A.J. Clayburn mit anderen Männern verglich, begann Gina ihr plötzlich Leid zu tun. Irgendwann würde ihre Freundin Joes Oberflächlichkeit ebenfalls durchschauen. Jacquelyns Kehle war wie zugeschnürt. Wenn diese Reise ihr irgend- '_ etwas bewiesen hatte, dann dass es gut war, Joe los zu sein. Dieser Ritt durch die Berge hatte ihr sogar noch etwas Verlockenderes präsentiert. Leider lag es außerhalb ihrer Reichweite. Sie und A.J. waren wie Tag und Nacht. Auf ihn wartete vermutlich schon seine weibliche Fangemeinde in Mystery, und Jacquelyn würde gut daran tun, das nicht zu vergessen. Es hatte überhaupt keinen Sinn, sich auf etwas einzulassen und dann zuzusehen, wie es wie eine Lawine zusammenstürzte. Ihre Liebesnacht war wie der Ritt auf einem wilden, bockenden Pferd: für sie etwas Bedeutsames, für ihn reine Routine. Jacquelyn wurde immer stiller, und auch A.J. schien in Gedanken woanders zu sein. Als würde er genau wie sie noch immer versuchen herauszufinden, was da in der Hütte eigentlich zwischen ihnen passiert war. ,Achtung, Reporterin!" rief er irgendwann am späten Nachmittag. „Willst du das nicht auf deinem Band festhalten?" Er zeigte auf einen felsigen Morast, wo auf einer Lichtung die Überreste einer Siedlerhütte standen. An einer Kiefer davor war ein handgemaltes Schild angenagelt. Die verwitterten Buchstaben waren noch schwach lesbar: „Be treten bei Strafe verboten! Schusswaffengebrauch!" Old Dad Gillycuddy schürfte früher hier oben nach Gold", erklärte A.J.. „Er fand nie welches, wurde aber trotzdem einer der berühmtesten Einsiedler Montanas. Er bezeichnete jede Ansiedlung mit über fünfzig Einwohnern als ,Syphilisation`." Danke, dass du laut gesprochen hast. " Sie zeigte ihm ihr Diktafon. „Ich habe alles auf Band. Das scheint ja ein wirklich netter Kerl gewesen zu sein." .Oh, ungefähr wie du", erwiderte A.J. und ritt weiter. „Er nahm sich, was er wollte, zu seinen Bedingungen." "Was soll das denn heißen?" fragte sie, war sich jedoch nicht sicher, ob sie das wirklich erfahren wollte. "Was hast du nicht verstanden, Collegegirl? Das war doch ein kur zer, klarer Satz. He, ich bin doch bloß ein dummer Cowboy. Wie könnte ich da etwas sagen, was dich verwirrt?"
Was immer seine Worte zu bedeuten hatten, sie verschlimmerten ihr Gefühl nur, emotional isoliert zu sein. Als sie das letzte Lager ihrer strapaziösen Exkursion aufgeschlagen hatten, hatte sich Jacquelyn ganz in sich zurückgezogen. Nach außen hin hatte sie sich kaum verändert. Doch tief in ihrem Herzen war nur noch Platz für Überlebensstrategien - und zwar nicht die, die man für die Berge brauchte. „Drüben im Westen", hatte Jake in einem seiner Briefe an zu Hause geschrieben, „bist du bloß ein Gesicht mit einem Namen. Niemand interessiert sich wirklich für deine Geschichte." Das war einer der Gründe, weshalb Jacquelyn sich darauf gefreut hatte, diesen Sommer nach Mystery fliehen zu können. Doch ihren Problemen hatte sie auch hier in Montana nicht entfliehen können. Die nahm man mit wie schlechte Gewohnheiten. A.J. riss sie aus ihren Gedanken, indem er das lange Schweigen am Lagerfeuer beendete. „Wir sind wieder daheim ... verdammte Moskitos", murmelte er und schlug sich auf den Nacken. „Die Biester fliegen in Schwärmen um diese Jahreszeit. Ich bin gleich wieder da." Fünfzehn Minuten später kam er mit seinem Kaffeebecher voller runder Beeren zurück. „Wenn du deine Haut mit dem Beerensaft einreibst, wird das die Moskitos fern halten", erklärte er. „Hier ... du musst sie so ausdrücken." Er nahm ihre linke Hand und rollte ihren Ärmel hoch. „Nimm eine Beere zwischen Daumen und Zeigefinger, und halte das dicke Ende an deine Haut. Dann reib den Saft einfach ein." Sie sah ihm zu, wie er den klebrigen Saft auf ihrer Haut verrieb. Bei dieser Berührung überlief sie sofort ein heißer Schauer. Sie sagte kein ' Wort und rührte sich nicht, doch in ihrem Innern glühte sie. Schließlich sagte sie etwas, um das Schweigen zu beenden. „Ich nehme an, dieser überraschende Schneesturm hat für Schlagzeilen gesorgt. Ich kann es kaum erwarten, die Zeitungen zu lesen." „So überraschend kann er nicht gewesen sein", meinte er abwesend. „Ich habe ihn schon Montagabend kommen sehen." Sofort schien er ' seinen Fehler zu erkennen. Jacquelyn starrte ihn benommen an. „Montagabend? Du wusstest es schon, bevor wir aufbrachen?" „Ich sah, dass die Gefahr besteht", versuchte er sich eilig herauszuwinden. Einen Moment lang war sie vor Wut sprachlos. Dann sagte sie: „Hast du die Schlange etwa auch in meinem Schlafsack versteckt?" Er sah ihr ins Gesicht. „Schätzt du meine Fähigkeiten als Liebhaber , so niedrig ein, dass ich zu solchen Tricks greifen müsste, um ans Ziel zu kommen?" Das war alles, was du wolltest? dachte sie. Ans Ziel kommen? Laut sagte sie jedoch: „Es gibt vieles an dir, worüber ich mich beklagen könnte. Deine Fähigkeiten als Liebhaber gehören allerdings nicht dazu. " „Vielen Dank." „Wir haben eine Menge zusammen durchgemacht", meinte sie, ob-' wohl jedes Wort sie schmerzte. „Können wir da nicht wenigstens zum Abschied versuchen, Freunde zu sein?" Sein Blick wurde kalt und spöttisch. „Freunde, wie? Du meinst, ich gebe dir meine Telefonnummer, und falls dir mal nach einer heißen Nacht ist, rufst du mich an? Du bist wirklich eiskalt." Er nahm seinen` Schlafsack und ging. Seine Worte hatten sie betäubt. Diese Ablehnung hatte sie nicht so bald erwartet. Vor allem hatte sie nicht damit gerechnet, dass er so zielsicher ihren wunden Punkt treffen würde. Sie beobachtete, wie er seinen Schlafsack ausrollte. Da nn schluckte sie ihre Angst herunter und ging zu ihm. Ich bin nicht kalt", flüsterte sie und berührte seinen Arm. Er richtete sich auf. „Nein? Beweise es mir." Mit zitternden Händen umfasste sie sein Gesicht, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn voller Leidenschaft. A.J. stöhnte, legte einen Arm um ihre Taille und hob sie an. Das sinnliche Spiel seiner Zunge ließ keinen Zweifel an seinen Absichten, und Jacquelyn wusste, dass sie ihn haben musste, auch wenn es nur für eine Nacht war. „Ich werde es bereuen", murmelte er, hob seinen Schlafsack auf und warf ihn in ihr Zelt. „Ich will nicht, dass du es bereust", flüsterte sie, ehe er sie mit einem neuen Kuss zum Schweigen brachte. Er zog sie mit sich ins Zelt und zerrte ihr das Hemd vom Leib. Ein kleiner pinkfarbener Knopf riss ab und rollte zur Seite. Keiner von ihnen achtete darauf. In der Hitze ihres Liebesspiels merkte Jacquelyn auch nicht die Kühle der Nacht. Noch bevor ihr richtig bewusst
war, was sie taten, war sie nackt und lag auf A.J., während er ihren Po umfasste und sie mit glühender Leidenschaft küsste. Ungeduldig rollte er sie auf den Rücken und drang in sie ein. Tief in ihr zog sich etwas zusammen. Ihr Puls raste, und sie bäumte sich wild auf. Niemand hatte ihr je zuvor solche Lust bereitet. Nach nur wenigen Augenblicken schon erreichte sie einen überwältigenden Höhepunkt. A.J. folgte ihr kurz darauf. Doch als sie erschöpft in die Schlafsäcke sanken, wusste Jacquelyn bereits, dass sie nur ihren ersten Appetit gestillt hatten. Ihnen blieb noch eine letzte Nacht. Und sie wollte jede Minute nutzen. Bei Sonnenaufgang am Montagmorgen rollte Jacquelyn ihr Zelt zusammen und brach das Lager ab. Zwischen ihr und A.J. herrschte ein schwer zu ertragendes Schweigen. Sie verfluchte die Tatsache, dass ihnen nur noch ein wenige Stunden langer, überwiegend leichter Ritt bevorstand. Schon bald würden sie ins Mystery Valley gelangen und auseinander gehen. Und dann ... sie wollte nicht darüber nachdenken, wie es dann weitergehen würde. „Brechen wir auf", sagte er und führte Roman Nose fertig gesattelt zu ihr. Er sah ihr lange in die Augen, ehe er ihr die Zügel reichte und sich auf sein Pferd schwang. Jacquelyn folgte ihm und wollte den Dingen verzweifelt eine Wendung geben. Vor Tagesanbruch, als sie eng umschlungen zusammengelegen hatten, hatte sie ihn gefragt, ob sie ihn wieder sehen würde. Daraufhin hatte er nur gelacht und geantwortet: „Was? Willst du dein Leben in der Stadt aufgeben und mit mir in Montana ein spartanisches Leben führen? Willst du statt in deinem schicken BMW in meinem alten Pick-up durch die Gegend fahren? Willst du die nächsten fünfzig Jahre damit verbringen, dir meinen Cowboyslang anzuhören und was für eine hochnäsige Frau du bist?" Und dann hatte er erneut gelacht, kalt und spöttisch. Die Antworten auf all diese Fragen lauteten: ja. Doch sie hatte es nicht ausgesprochen. Jetzt war sie verwirrt und verletzt und fragte sich nur, wann er für ihre Antworten bereit sein würde. Doch das würde erst möglich sein, wenn er aufhörte, sie wegzustoßen. Er war selbst innerlich so erkaltet durch den Verlust seiner Eltern vor langer Zeit, dass sie sich fragte, ob er einer Frau jemals sagen würde, dass er sie brauchte. Am schnell dahinfließenden Thompson's Creek hatten sie Glück; trotz des Schmelzwassers gelang es ihnen, ihn an einer Furt zu überqueren. Gegen Mittag schließlich blickten sie auf das Mystery Valley herunter. Die Stadt Mystery selbst war eine Ansammlung winziger Häuser fast in der Mitte des Tals. Westlich davon war deutlich Hazels riesige Lazy-M-Ranch zu sehen. Jacquelyn kam es so vor, als wären sie eine Ewigkeit fort gewesen, nicht nur ein paar Tage. Sie hatte so viel erlebt. Jetzt musste sie das alles erst einmal verarbeiten. Hazels seltsame Prophezeiung hatte sich tatsächlich erfüllt: Die Reise hatte Jacquelyns Leben für alle Zeiten verändert. Früh am Montagnachmittag erreichten Jacquelyn und A.J. die Stadt. Doch am Fuß der Berge, jenseits der Stadtgrenze, erwartete sie eine letzte Überraschung. Eine Gruppe identischer glänzender Pickups, jeder mit einem Pferdeanhänger dahinter, stand auf dem Parkplatz, auf dem A.J. seinen Wagen stehen gelassen hatte. Ein Geländewagen mit dem Emblem des Colfax County Constable auf der Tür rollte auf sie zu. Ein grauhaariger Gesetzeshüter in Holzfällerstiefeln und einem Hut mit breiter Krempe auf dem Kopf winkte ihnen freundlich zu. Jacquelyn erkannte Bonnie Loftons Mann Ray. „Verdammt, A.J.!" rief er. „Jetzt bist du offiziell gerettet! Herzlichen Glückwunsch! Jeder Reiter von der Clayburn-Ranch ist auf der Suche nach dir. Und ich finde dich auf dem Parkplatz. Jetzt bin ich ein Held!" A.J. lachte. Jacquelyn stieg von ihrem Pferd und registrierte, dass alle Pferdeanhänger schneeweiß waren und das Clayburn-Logo wie ein Brandzeichen auf den Seiten trugen. „Clayburn-Ranch?" fragte sie. „Ich dachte, du hilfst bloß Cas Davis auf seiner Ranch." „Mein alter Freund vom Rodeo, Cas, hat mich zu Beginn meiner Karriere gesponsert, als mich noch niemand beachtete. Deshalb helfe ich ihm an den Wochenenden aus. Aber ich leite auf unserem Land mit meinen beiden jüngeren Brüdern eine Pferdezuchtfarm. Das Clayburn-Brandzeichen findet sich häufiger auf erfolgreichen Rodeopferden als jedes andere." Jacquelyn versuchte diese neue Facette seines Charakters zu verarbeiten. A.J. war also nicht nur ein harter Cowboy, sondern auch ein erfolgreicher Geschäftsmann. Sie schaute sich zu den fünfzehn identischen Pick-ups mit Anhänger um und hätte fast über A.J.s alten Pick-up gelacht. „Dann fährst du diesen alten zerbeulten Wagen tatsächlich, weil es dir Spaß macht?" Er nickte. „Ist das wichtig?"
Sie wusste nicht, ob er sie wegen ihres Schweigens verurteilte, aber sie war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie einfach nicht gleich antworten konnte. A.J. wandte sich an Ray. „Dann arbeitet also niemand auf der Ranch? Alle sind in den Bergen und suchen nach mir? Ich werde sie alle feuern, sobald sie zurück sind." Ray grinste und gab ihm die gestrige Ausgabe des „Helena Sentinel". Jacquelyn kam mit Roman Nose näher, damit sie ebenfalls die Schlagzeile lesen konnte: „Rodeochampion und Journalistin verschollen im Schneesturm in den Bergen". Jacquelyn spürte, wie sie blass wurde. „Bonnie hat es aus der ,Gazette` herausgehalten", erklärte Ray, als wollte er Trost anbieten. „Tja, anscheinend habt ihr zwei Schlagzeilen gemacht. " „Ja, scheint so", meinte A.J. „Zu dumm, dass nichts passiert ist. Absolut nichts." „Was soll's", versuchte Ray ihn ein wenig aufzumuntern. „Von uns hat keiner geglaubt, dass du in Schwierigkeiten steckst. Und die Cowboys? Ach, die reißen doch jetzt noch ihre Witze darüber, wie du und sie ..." Ray hielt gerade noch rechtzeitig inne. Er sah zu Jacquelyn und räusperte sich. Selbst A.J. zuckte ein wenig zusammen. „Ja, Ray, ich verstehe, was du meinst." Jacquelyn hatte auch begriffen, was er meinte. Der Schmerz in ihrem Innern wuchs. Es war überdeutlich, dass sie für A.J. nur ein weiteres belangloses Abenteuer gewesen war. Da hatte es auch keinen Sinn, sich lange mit dem Abschied aufzuhalten. Sie drückte A.J. die Zügel in die Hand und wandte sich an Ray. „Könntest du mich mit nach Mystery nehmen?" Ray sah zögernd zu A.J. „Kein Problem. Deine Mom wird sich freuen, dich wieder zu sehen." Da er spürte, dass er jetzt nicht mehr gebraucht wurde, begann er, Jacquelyns Gepäck vom Pferd in den Wagen zu laden. Sie wandte sich an A.J. „Bitte sag Hazel, dass ich sie morgen wegen des Artikels anrufen werde." „Du bist der Boss", entgegnete er sarkastisch und begann sein Pferd abzusatteln. Sie zögerte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie konnte nur noch daran denken, schnell von hier wegzukommen, um irgendwo allein ihre Wunden zu 1ecken. „Das war's dann wohl. Soll ich dir dein Honorar bezahlen, oder hat Hazel sich schon darum gekümmert? Oder war die Tour angesichts des Unterhaltungswertes gratis?" Er verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte sie mit einem eisigen Blick. „Betrachte sie als gratis. Ich lasse mich von dir nicht für meine Dienste bezahlen, auch wenn ein reiches Mädchen wie du es sich leisten könnte." Damit führte er beide Pferde zum Anhänger und ließ eine enttäuschte Jacquelyn zurück. „Wie nett von dir, herzukommen und mir zu berichten, wie es gelaufen ist, A.J. In meinem Alter gehe ich zwar noch aus dem Haus, aber ich fahre nicht gern", sagte Hazel. A.J., der ihr in ihrem Wohnzimmer gegenübersaß, war misstrauisch. „Jedes Mal, wenn du dein Alter zur Sprache bringst, führst du etwas im Schilde." Hazel hob die Brauen. „Bist du etwa wütend auf mich?" Er schnaubte. „Und wenn schon. Das hat dich noch nie aufgehalten. Außerdem erweisen sich Hazels Tricks - wie auch immer sie aussehen - gewöhnlich als gut für Mystery." Sie lächelte. „Das ist die richtige Einstellung! Und nun erzähl mir - hat Jacquelyn eine gute Story bekommen?" „Falls nicht, zur Hölle mit ihr." Sein Ton war voller Verachtung. „Ich werde sie jedenfalls nicht noch mal mit dort hinaufnehmen." Oh, dachte Hazel, das klingt ja vielversprechend. Er rutschte nervös in seinem Sessel herum, streckte die Beine aus und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Miene verriet Zorn. „Diese Frauen, die reich aufgewachsen sind, halten sich für Gottes Ge schenk an die Männer", platzte er heraus. „Ja, sie können hochmütig sein", stimmte sie diplomatisch zu. „Hochmütig ist schon überhaupt kein Ausdruck mehr." Er redete sich allmählich in Rage. „Diese Sorte Frauen hält sich doch für zu kostbar und will auf der anderen Seite alles, was ihnen gefällt, gleich als Spielzeug haben." Hazel frohlockte. Offenbar war sie erfolgreicher gewesen, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie beschloss, es zu riskieren. „A.J., bitte korrigiere mich, falls ich mich irre. Aber du versuchst mir nicht zufällig zu verstehen zu geben, dass du dich in Jacquelyn Rousseaux verliebt hast, oder?" Einen Moment lang fürchtete sie, sie sei zu weit gegangen. Doch dann antwortete er.
„Sie ist das höchste Blatt, das ich je auf die Hand bekommen habe", gestand er zerknirscht, um gleich darauf seine Fassung und Entschlossenheit wiederzugewinnen. „Aber es nützt nichts. Es gibt absolut keine Zukunft für zwei so unterschiedliche Menschen wie sie und ich." „Nein", stimmte Hazel zu, „da hast du wohl Recht." „Selbst als sie von der Clayburn-Ranch erfuhr, war es ihr egal. Ich könnte nie genug Geld machen, um sie zufrieden zu stellen." „Soweit ich hörte, bedeutet Geld ihr nicht viel. Aber da weißt du sicher besser Bescheid. Schließlich hast du all die Nächte mit ihr dort oben in den Bergen verbracht. Da wirst du sie inzwischen ja ganz gut kennen, nicht wahr?" Er antwortete nicht. Stattdessen bekamen seine Augen einen traurigen, aufgewühlten und beinah schuldbewussten Ausdruck. „Außerdem ist Jacquelyn Rousseaux nicht dein Typ", fuhr Hazel fort. „Sie ist eine Frau für eine dauerhafte Beziehung. Du kannst sie unmöglich haben, weil du sie sonst heiraten müsstest. Aber du willst ja keine Frau. Zu viel Ärger, sagtest du, glaube ich, immer." Ihre Worte schienen ihn zu quälen. Einen Augenblick lang rang er mit sich. Doch was für Hoffnung auch in ihm gewesen sein mochte, er verdrängte sie. „Wie dem auch sei, die Expedition ist vorbei, und ich brauche mich von ihr nicht mehr herablassend behandeln zu lassen." „Da ist nur noch eine kleine harmlose Sache." „Hazel, deine Vorschläge sind nie harmlos. Wovon sprichst du?" „Du siehst wirklich gut aus, wenn du wütend bist." „Dann muss ich ja jetzt verdammt gut aussehen. Also, was für eine Sache?" „Na ja, während du und Jacquelyn fort wart, wurde eine Gemeindeversammlung abgehalten. Wir haben Eric Rousseaux' Pläne für Mys tery zunichte gemacht. Aber der Preis dafür war sehr hoch. Nach der Versammlung wollten sich ein paar Leute bei mir einschmeicheln." „Ach ja? Weswegen?" „Halt dich fest", warnte sie ihn und zögerte noch immer. „Betrachte es einfach als deine Pflicht." „Was, zum Teufel noch mal?" Hazel setzte an, es ihm zu erklären. Doch dann verließ sie doch der Mut. A.J. starrte sie an. „Ist es so schlimm, dass du Angst hast, es mir zu erzählen?" „Ehrlich gesagt, ja", gestand sie. „Dabei ist das noch der leichte Teil. Gott steh mir bei, morgen muss ich es Jacquelyn erzählen." 17. KAPITEL Jacquelyn ging auf direktem Weg nach Hause und sagte ihren erleichterten Eltern nur kurz hallo. Sie wich ihren Fragen aus, indem sie sofort ins Gästehaus floh und die Tür verriegelte. Der ausgiebige Schlaf tat ihr gut. Sie wachte erst Dienstagmorgen wieder auf, entschlossen, A.J. Clayburn aus ihrem Herzen und ihren Gedanken zu verbannen. Sie stand auf und bereitete sich auf einen anstrengenden Tag vor. Nach dem Duschen zog sie ein Schlauchkleid an und war froh, endlich keine Jeans mehr tragen zu müssen. Dann setzte sie sich an den Frisiertisch mit dem dreigeteilten Spiegel, um ein Paar schwarze Onyxohrringe anzulegen. Plötzlich entdeckte sie im Spiegel ihre Mutter an der Tür. „Und? Wie war es?" wollte Stephanie wissen. „Wie war was?" „Tu nicht so! Wie war es oben in den Bergen mit A.J. Clayburn und seinem sexy Schlafzimmerblick?" Jacquelyn errötete und wich dem Blick ihrer Mutter im Spiegel aus. „Du bist früh auf", bemerkte sie stattdessen, um das Thema zu wechseln. „Ich habe keinen Kater, das ist der Grund. Ich habe seit Samstag keinen Tropfen mehr angerührt. Es ist erstaunlich, wie früh man aufste hen kann, wenn man abends nicht betrunken war." Trotz ihrer düsteren Stimmung entlockten die Worte ihrer Mutter Jacquelyn ein Lächeln. „Das freut mich für dich." „Fein, aber es hat auch seine Nachteile, wenn deine alte Mutter aufhört zu trinken. Denn jetzt wirst du ab und zu mit mir reden müssen. Mir ist, während du fort warst, nämlich klar geworden, dass wir nicht genug miteinander reden." Jacquelyn lächelte ihrer Mutter im Spiegel zu. Das Heim der Rousseaux' hatte sich während ihrer Abwesenheit bestimmt nicht in ein Märchenschloss verwandelt. Aber etwas war eindeutig anders. Tatsache ist", fuhr Stephanie zögernd fort, „dass ich beschlossen habe, deinen Vater zu verlassen." Jacquelyn verarbeitete die Worte ihrer Mutter. Sie wünschte, sie wäre traurig wegen der Scheidung ihrer Eltern. Doch tief in ihrem Innern wusste sie, dass es die beste Entscheidung war, die ihre Mutter jemals getroffen hatte. Sie drehte sich um und sah sie direkt an.
Stephanie legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Als du gestern nach Hause kamst, wirktest du sehr aufgewühlt. Da wollte ich dir schon sagen, dass du keine große Sache daraus machen solltest ... was immer dort oben in den Bergen geschehen ist. Aber weißt du was?" „Was?" flüsterte Jacquelyn. „Vielleicht ist unser Fehler - deiner und meiner - der, dass wir genau das Gegenteil tun sollten." „Ich kann dir nicht folgen." „Ich meine, vielleicht ist es falsch, dass wir nie etwas an uns heranlassen und alles verdrängen. Vielleicht sollten wir den Dingen mehr Be deutung beimessen statt weniger." Stephanie drückte sie kurz und verlegen an sich und verließ das Zimmer. Jacquelyn saß regungslos da und dachte über das nach, was ihre Mutter gesagt hatte. Doch dagegen stand die letzte Nacht in den Bergen, in der sie all ihre Schutzschilde abgelegt hatte, damit A.J. sie nicht länger für eine Eisprinzessin hielt. Am nächsten Morgen jedoch war das Feuer wieder erkaltet - sein Feuer. Jacquelyn war für ihn bloß eine weitere Eroberung. Er war nicht fähig, sie zu lieben, ja nicht einmal die Intensität dieses Augenblicks so zu empfinden wie sie. Denn dazu hätte er sich ganz auf sie einlassen müssen, und er hatte geschworen, dass er das niemals tun würde. Zumindest nicht bei einer Frau wie Jacquelyn. Die Tränen, die sie inzwischen unter Kontrolle zu haben glaubte, liefen erneut. Sie legte den Kopf auf den Frisiertisch und schluchzte. „Jacquelyn, Sie sehen wundervoll aus!" begrüßte Hazel sie und führte sie ins Wohnzimmer. „Falls Ihre schöne Haut gelitten hat, so können meine alten Augen es jedenfalls nicht erkennen." „Danke", sagte Jacquelyn und setzte sich in einen Ohrensessel. Hazel betrachtete sie genauer. „Obwohl, es scheint, dass Ihre Allergien wieder ausgebrochen sind. Ihre Augen sind so gerötet." Jacquelyn lächelte gequält über Hazels skeptische Betonung auf dem Wort „Allergien". „Ihnen kann man nichts vormachen, was?" „Nicht eine Minute", erwiderte Hazel. „Danke, Donna", wandte sie sich an die Haushälterin, die ihnen Kaffee und Gebäck brachte. „Und jetzt erzählen Sie mir von McCallum's Trace", drängte sie Jacquelyn. „Zuerst - hatte ich Recht? Hat es Sie verändert?" Diese Frage hatte Jacquelyn nicht erwartet, obwohl sie so viel darüber nachgedacht hatte. Daher beschloss sie, zunächst auszuweichen. „Sie haben sicher schon mit A.J. über die Reise gesprochen." „A.J. ist vieles, aber bestimmt keine Plaudertasche. Männer wie er reden ungern mehr als nötig." Jacquelyn fühlte, wie sie errötete. „In Ihrer Gegenwart vielleicht nicht. Er respektiert Sie sehr, Hazel. Er scheint sogar zu glauben, dass die Sonne ohne Ihre Zustimmung nicht aufgeht. Aber wenn es darum geht, einen Schuldigen zu finden oder auf jemandem herumzuhacken und ihn zu kritisieren, dann redet er eine ganze Menge." Hazel nickte, als wollte sie „so ist's recht, Mädchen" sagen. Doch Jacquelyn hatte sich ohnehin bereits in Rage geredet. „Ich wünschte, er würde tatsächlich nicht mehr reden als nötig. Eingebildet? Vom Rodeochampion bis zum Gott des Universums! Außerdem ist dieser Kerl absolut unzivilisiert. Er ist ... er ist ein Tyrann. Arrogant, unausstehlich ..." Jacquelyn hielt abrupt inne, da ein zufriedenes Lächeln auf Hazels Gesicht erschien. „Arrogant und unausstehlich, zweifellos. Und Sie sind in ihn verliebt, oder?" Fast hätte Jacquelyn vor Schreck ihre Tasse fallen lassen. Sie wollte schon empört protestieren. Doch stattdessen brach sie überraschend in Tränen aus. „Du liebe Zeit, Schätzchen, es hat Sie wirklich erwischt." Hazel ging zu ihr und nahm sie in den Arm. „Ich bin so dumm", meinte Jacquelyn schluchzend. „Mich mit einem Mann einzulassen, der so völlig anders ist als ich." „Schätzchen, was hat das mit der ganzen Sache zu tun? Ergänzt nicht das Yin vollkommen das Yang, oder so ähnlich?" Jacquelyn musste über Hazels Vergleich unwillkürlich lächeln und schnäuzte sich in ihr Taschentuch. „Wie dem auch sei, ich werde jedenfalls nicht mehr mit ihm in Kontakt treten. Nie mehr!" „In Kontakt treten?" wiederholte Hazel verwirrt. „So nennt ihr jungen Frauen das heute?" Jacquelyn errötete erneut, als ihr dämmerte, was Hazel meinte. „Nun, Liebes, ich muss Ihnen etwas gestehen."
Jacquelyn hob den Kopf. „Ja?" „Während Ihrer Expedition in den Bergen gab es eine letzte Ge meindeversammlung. Hauptsächlich ging es darum, das Projekt Ihres Vaters zu beerdigen. Richten Sie ihm bitte mein Beileid aus. Aber wir mussten im Rahmen der 150-Jahr-Feier auch den kommenden Samstag planen. Da findet der Frontier Days Ball statt. Erinnern Sie sich?" Jacquelyn nickte. „Jemand meinte, es wäre toll, wenn wir ein junges Paar aus dem Ort hätten, das Jake und Libbie darstellt. Es könnte in einer offenen Kutsche vorfahren, in authentischer Kleidung, um das Fest offiziell zu eröffnen. " Jacquelyn erbleichte. „Wer hat das vorgeschlagen?" Die alte Dame hob hilflos die Arme. „Wer weiß das schon noch? Je denfalls traf der Vorschlag auf Begeisterung und wurde einstimmig angenommen." „Einstimmig? Und was ist mit meiner Zustimmung? Bin ich zwangsverpflichtet?" Hazel klatschte erfreut in die Hände. „Genau das! Sie sind zum Dienst an der Gemeinde zwangsverpflichtet. Und jetzt kommen Sie mit, Schätzchen, ich werde Ihnen Ihr Kleid zeigen. Es wird Ihnen passen, denn ich habe schon mit Ihrer Mutter wegen Ihrer Größe gesprochen. " Jacquelyn machte Anstalten, sich zu widersetzen, doch Hazel zog sie '. einfach aus dem Sessel und führte sie ins angrenzende Schlafzimmer. „Es gehörte früher tatsächlich Libbie", erläuterte Hazel das smaragdgrüne seidene Ballkleid. „Sie bezahlte einen Schneider aus dem Ort, damit er es von einer europäischen Modepuppe kopierte. Die Turnure hat Libbie selbst entworfen. Ich denke, die Seidenstiefeletten mit den Seitentressen werden Ihnen auch passen." „Es ist wunderschön", gab Jacquelyn zu. „Aber es geht nicht. Bei Ihrer Idee mit dem Ritt durch die Berge habe ich mitgemacht. Ich habe meinen Beitrag geleistet, glauben Sie mir. Ich will nichts mehr mit A.J. ;, zu tun haben und er nicht mehr mit mir. Bitte ,verpflichten` Sie jemand anderen. " „Es geht doch nicht nur um mich, Liebes", versuchte Hazel sie zu besänftigen. „Es ist eine allgemeine Forderung. Sie können nicht die ganze Gemeinde enttäuschen. Das wäre nicht Ihre Art. Kopf hoch, Mädchen. Sie brauchen ja nicht mit A.J. allein zu sein. Es geht nur um eine kurze Kutschfahrt von hier in die Stadt." Jacquelyn merkte, dass sie dabei war, sich erneut von dieser alten Dame überrumpeln zu lassen. „Weiß A.J. schon davon?" „Ich habe es ihm gestern erzählt. Er macht mit." „Natürlich. Er würde auch eine Kirche niederbrennen, wenn Sie es von ihm verlangen. Sagen Sie mir die Wahrheit, Hazel. Wie hat er reagiert?" „Na ja", meinte Hazel seufzend. „Ganz ehrlich? Tja, sagen wir mal so: Jetzt bin ich zumindest überzeugt, dass nichts auf der Welt A.J. dazu bringen kann, eine alte Dame zu schlagen." „Sehen Sie? Er will auch nicht. Es ist keine gute Idee. Außerdem glaube ich wirklich nicht, dass ich das kann." Die Vorstellung, ihm nach all dem, was sie ihm gestanden, was sie mit ihm getan hatte, wieder gegenüberzutreten, war unerträglich. „Hm." Hazel musterte ihre Besucherin nachdenklich. „Sie haben natürlich zu kurzes Haar. Wir werden eine Haube brauchen." „Ich gebe es auf!" rief Jacquelyn. „Ich hatte doch von Anfang an keine Wahl!" „Das stimmt", meinte Hazel. „Denn Ihre einzige Wahl wäre gewesen, Nein zu sagen. Und das wäre keine Wahl, sondern Feigheit. Aber Jacquelyn Rousseaux ist nicht feige. Sie ist eine verwirrte, frisch verliebte junge Frau. Und dieser Tatsache wird sie sich stellen." 18. KAPITEL Um acht Uhr am Dienstagabend waren die meisten Bürgersteige in '; Mystery bereits hochgeklappt. Bonnie Lofton arbeitete jedoch noch konzentriert in der Redaktion der „Gazette". Sie bereitete das Layout der Ausgabe zur 150-Jahr-Feier vor. In der ' Mitte hatte sie eine Doppelseite für Jacquelyns Bericht freigelassen. Gemeinsam mit Hazel und Jacquelyn hatte sie bereits den Großteil der Fotos und Dokumente, die den Artikel begleiten würden, ausgesucht. Es war ruhig in der Redaktion. Nur das einschläfernd gleichmäßige Ticken der alten Standuhr war zu hören. Daher schrak Bonnie hoch, als unerwartet das Telefon klingelte. „,Mystery Gazette`, Bonnie Lofton am Apparat. Was kann ich für Sie tun?" „He, Bonnie, hier spricht A.J. Clayburn. Ich habe bei dir zu Hause '' angerufen, und Ray sagte mir, dass du noch arbeitest. Spielst du jetzt auch noch Nachtwächter?"
Bonnie lachte. „Nein, obwohl ich für eine Beförderung längst fällig bin. Was für eine Überraschung, von dir zu hören! Was gibt's, Cowboy? Hast du Neuigkeiten für uns?" Kann sein. Hat Jacquelyn ihre Geschichte über den Trip schon fertig?" „Nur eine erste Fassung." „Hast du sie gelesen?" „Sie hat sie mir am Telefon vorgelesen. Sie ist wundervoll geworden. 1 In dem Bericht verwebt sie historische Details mit dem spannenden Ritt, den ihr beide gemacht habt." „Erwähnt sie in dem Artikel auch, dass sie mir am Devil's Slope das Leben gerettet hat?" „Sie hat dir das Leben gerettet?" wiederholte Bonnie. „Nein. Sie hat die schreckliche Lawine beschrieben, aber nichts von ... Na so was!" „Nicht nur das", fuhr A.J. fort. „Sie hat dabei auch einen dieser kunstvollen Sprünge im Turnierstil vollbracht, als sei sie im Sattel geboren." „Das sieht ihr ähnlich", meinte Bonnie, „dass sie zu bescheiden ist, es in ihrem eigenen Artikel zu erwähnen." „Vielleicht können wir da etwas machen?" schlug er vor. Bonnie grinste. „Und ob. Wir beide tun uns für eine kleine Nebengeschichte zusammen. Du beschreibst mir, was passiert ist, ich formuliere es aus. Wir werden beide in der Verfasserangabe auftauchen. Einverstanden?" „Absolut", stimmte A.J. zu. „Die Leute werden mich für einen Lite raten halten." „Wir werden Jacquelyn damit überraschen", meinte Bonnie, die sich für die Idee immer mehr erwärmte. Sie nahm einen Kugelschreiber. „Jetzt erzähl mir mehr von dieser heldenhaften Rettung." Hazel band die Musselinhaube unter Jacquelyns Kinn fest und trat zurück, um diese Schönheit des neunzehnten Jahrhunderts zu bewundern. „Jetzt machen Sie nicht so ein Gesicht! Sie tun ja so, als hätten Sie Angst vor A.J. Sicher, er ist durch und durch ein Mann. Aber, Schätz chen, er ist auch n u r ein Mann. Das ganze männliche Geschlecht ist zur Niederlage verdammt, sobald sie mit dem Willen der Frauen aneinander geraten. Und das wissen sie auch." „A.J. weiß es nicht", beharrte Jacquelyn. „Und falls er es je gewusst hat, hat er es längst vergessen." „Ja? Dann seien Sie eine echte Frau und erinnern ihn an seinen Platz." Hazel schaute auf die Uhr. „Ich muss in ein paar Minuten los, weil ich der Grand Marshai des Festes bin. Da darf ich nicht zu spät kommen. A.J. wird gleich hier sein. Die Kutsche ist bereit und wartet neben dem Haus. Und bitte machen Sie ein fröhliches Gesicht. Dieses Fest bedeutet der Stadt so viel, nicht nur mir." „Dazu bräuchte ich Ohrstöpsel und eine Augenbinde, damit mein Kostüm komplett ist ... aber ich werde mein Bestes versuchen", versprach Jacquelyn. Hazel winkte ab. „Ich weiß, worauf Sie anspielen. Sie glauben, Sie seien unfähig, wirklich liebevoll zu empfinden. Solche Zeiten machen wir alle mal durch. Seien Sie nicht dumm und hören Sie auf, sich wegen dieses Kerls in Georgia und seiner Ignoranz Gedanken zu machen. Frauen, die nichts empfinden, riskieren nicht ihr Leben, wie Sie es getan haben, um A.J. zu retten." Jacquelyns Augen weiteten sich vor Ersta unen. „A.J. hat Ihnen davon erzählt?" „Mir? Der ganzen Welt!" Jacquelyn war in den letzten Tagen so trübsinnig und mit den Vorbereitungen für diesen Abend beschäftigt gewesen, dass sie nicht einmal die gestrige Ausgabe der „Mystery Gazette" gelesen hatte. Hazel nahm die Zeitung von der Kommode aus Eichenholz und reichte sie Jacquelyn. „Schlagen Sie Ihre Story auf." Das tat Jacquelyn und hielt verblüfft inne. Es gab einen Nebenbericht zu ihrer Story mit der Überschrift: „Rodeochampion meint: Heldenhafte Reporterin verdient Orden". Der größte Schock war allerdings, dass A.J. mit Bonnie in der Verfasserzeile auftauchte. Der Artikel war kurz und sachlich. A.J. gestand sogar seine Dummheit ein, dass er sich im falschen Moment in den Steigbügeln aufgerichte t hatte. Der Artikel beschrieb Jacquelyns Handeln als „intuitiv richtig, kompetent, mutig und anmutig". „Ich ... ich hatte keine Ahnung", stammelte sie. Sie hatte gedacht, sie wäre inzwischen das Objekt anzüglicher Witze. Dabei wurde sie als Heldin gefeiert! „Na, jetzt wissen Sie es." Hazel wandte sich zum Gehen. „Warum ändern Sie Ihr Verhalten nicht entsprechend? Und jetzt muss ich mich auf den Weg machen. Donna wird Ihnen Bescheid sagen, sobald A.J. da ist." Hazel hob den Finger. „Machen Sie auf der Fahrt nur ein finsteres Gesicht, so viel Sie wollen. Aber sobald die Kutsche um das Ge richtsgebäude fährt, will ich Sie beide vor Glück
strahlen sehen. Verstanden? Der Platz wird voller Menschen sein. Also, denken Sie daran, Sie sind Jake und Libbie, und Sie lieben sich!" „Ich werde es versuchen", versprach Jacquelyn, obwohl sie am liebsten die Augen verdreht hätte. „Sie werden es nicht versuchen, sondern tun. Sie haben McCallum's Trace überstanden, da wird eine kleine Kutschfahrt mit A.J. Ihnen nichts anhaben können." Jacquelyn zwang sich zu einem Lächeln. „Sie sind mir vielleicht eine, Hazel. Für Gott, unser Land und für Mystery, richtig?" „Sie ahnen gar nicht, wie Recht Sie damit haben", sagte Hazel, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Die Dämmerung tauchte den Himmel in ein dunkles pinkfarbenes Licht, als A.J. seine „Braut" zum Frontier Days Ball abholte. Jacquelyn war so gedankenverloren gewesen, dass sie ganz vergessen hatte, dass auch A.J. ein historisches Kostüm tragen würde. Der erste Blick auf diesen attraktiven Siedler erschreckte sie. Er war so schick gekleidet und zurechtgemacht in dem leichten grauen Sommeranzug mit dem weißen Rüschenhemd darunter und der achteckigen Fliege. Statt wie üblich seinen Stetson trug er einen breiten schwarzen Hut der Präriebewohner. Aus der Uhrtasche seiner Weste hing eine goldene Uhrkette. „Du siehst sehr gut aus", sagte Jacquelyn verlegen, als A.J. ihren Arm auf seinen legte und sie zur Kutsche führte. „Danke", erwiderte er brüsk und mied ihren Blick. „Du siehst auch sehr gut aus." Er half ihr beim Einsteigen in die offene Kutsche, einem Originalgefährt der McCallums aus den frühen Tagen des Mystery Valley. Jedes Mal, wenn Jacquelyn A.J. ausdruckslose Miene und seine zusammengepressten Lippen betrachtete, gab es ihr einen Stich. Er will dieses Theater ebenso wenig wie ich, dachte sie. Er zündete die Lampe neben dem Fahrersitz an, nahm die Zügel und schwang sich auf den Sitz. „Hü!" spornte er das Pferd an, worauf sich die Kutsche in Bewegung setzte. Als sie die Steinpfosten am Tor der Lazy-M-Ranch passierten, nahm Jacquelyn endlich ihren Mut zusammen. „Hazel hat mir den Artikel gezeigt, den du und Bonnie geschrieben habt." „Bonnie hat ihn geschrieben", korrigierte er sie. „Ich habe ihr die Geschichte bloß erzählt:" „Trotzdem danke. Das war sehr ... nett von dir." „Was soll's?" Er zuckte die Schultern. „Du hast es verdient, das ist alles. Es war nur fair. A.J. Clayburn steht in niemandes Schuld." „Jetzt verstehe ich. Du hattest Angst, ich würde mich an deiner Rettung weiden und sie dir unter die Nase reiben? Eine völlig unerfahrene Frau rettet den berühmten A.J. Clayburn in den Bergen?" „Kann schon sein", erwiderte er. „Aber nun kannst du dich nicht mehr daran weiden. Jetzt stehe ich nicht mehr in deiner Schuld." „Du unausstehlicher, selbstverliebter Egoist!" Sie kochte vor Wut. „Du hochnäsige, eingebildete Göre!" schoss er zurück. Mehrere Minuten vergingen in verlegenem Schweigen. Jacquelyn lauschte dem Klirren des Pferdegeschirrs und dem Geklapper der Hufe auf dem Asphalt. Trotz ihrer Wut war etwas von dem, was er gesagt hatte, hängen geblieben: Du hast es verdient. Hazel hatte sie erst vor wenigen Minuten auf den gleichen Punkt aufmerksam gemacht. Ja, Jacquelyn war den McCallum's Trace entlanggeritten und ha tte überlebt. Eisprinzessin oder nicht, Versager in der Liebe oder nicht - sie hatte es getan. Die Reise hatte sie tatsächlich verändert, so wie Hazel es prophezeit hatte. Sie hatte einiges von dem überstanden, was der legendäre Jake McCallum überlebt hatte, plus einiger zusätzlicher Gefahren. Sie war in den Abgrund ihrer Ängste und Zweifel hinabgestiegen und wieder daraus aufgestiegen. Sicher, sie würde A.J. in Mystery nicht aus dem Weg gehen können. Wahrscheinlich war sie sogar dazu verdammt, sich für den Rest ihres Lebens nach ihm zu sehnen. Doch was sie in den Bergen an Gefahren überstanden hatte, würde ihr Kraft geben. Und vielleicht würde sie eines Tages, wenn sie A.J. zufällig in die Augen sah, nicht mehr den Schmerz über den Verlust einer Liebe emp finden, sondern Dankbarkeit dafür, dass sie in ihrem kurzen Leben überhaupt Momente wahrer Liebe hatte durchleben dürfen. Denn mit niemandem zuvor hatte sie das gehabt. Aber wenn sie ans Hier und Jetzt dachte ... Erneut betrachtete sie A.J. grimmiges Profi l. Sie musste den Mut finden, ihn noch einmal anzusprechen, denn sonst würde dieses Schweigen sie in den Wahnsinn treiben. Sie räusperte sich. „A.J.?" Er reagierte nicht. „A.J.?