Als Andrea sich endlich aufrafft, ihre Talente zu nutzen, gewinnt sie nicht nur Selbstvertrauen, sondern auch Gregs Lieb...
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Als Andrea sich endlich aufrafft, ihre Talente zu nutzen, gewinnt sie nicht nur Selbstvertrauen, sondern auch Gregs Liebe...
1984 by CORA Verlag
Band 24 (232) 1984
Scanned & corrected by SPACY Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt -1-
Josie March
Mit dir kann ich reden Andrea ist ziemlich schüchtern und mit Jungen not total unerfahren. Nur wenn sie auf der Eisbahn ihre Runden dreht und über die glitzernde Eisfläche jagt, fühlt sie sich frei und unbeschwert. Es ist, als könnte sie so ihren Ängsten entfliehen. Als sie sich aber in Greg verliebt, wir ihr von Tag zu Tag klarer, daß sie nicht ewig vor sich selbst und anderen Menschen davonlaufen kann, zumal Greg ihre ständige Unsicherheit immer wieder ganz offen anspricht und Andrea liebevoll kritisiert. Er ist es dann letztendlich auch, der sie zur Teilnahme an Eislaufturnieren überredet, um sich endlich mal einem Kampf zu stellen – einem Kampf, in dem es für Andrea um alles geht...
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1. KAPITEL Seit einer Stunde nun probierte Andrea Sprünge und Figuren auf der fast leeren Eisbahn. Draußen schien die Sonne, die ersten Blätter färbten sich herbstlich bunt. Es war ein herrlicher Septembertag, warm und mit einem strahlendblauen Himmel. Nur, einen solchen Tag verbringt doch niemand, der wie ich fünfzehn und noch ganz richtig im Kopf ist, in einer geschlossenen, feuchten Eishalle, dachte Andrea. Sie lief jetzt quer über die Eisfläche und setzte gerade zum Sprung an, als ihr ein kleines Mädchen in einer roten Jacke plötzlich in den Weg lief. Andrea mußte abrupt stoppen und dabei verhedderten sich ihre Schlittschuhe. Andrea fiel aus vollem Schwung auf den Bauch. "Oh, das tut mir leid", entschuldigte sich die Mutter der Kleinen. Andrea lächelte zwar freundlich, aber sie zitterte am ganzen Körper. Was wäre beinahe passiert! Das Kind hätte bös verletzt werden können! Und außerdem war es nicht gerade witzig, auf allen Vieren platt auf dem nassen Eis zu landen. Langsam rappelte sie sich wieder auf. Als Andrea gerade dabei war, den Eisschnee von ihrer Jeans abzuklopfen, ""hörte sie ein paar laute, männliche Stimmen. Fünf Jungen mit Hockeyschlägern liefen auf das Eis und beschlagnahmten sofort die gesamte Fläche. Kreuz und quer liefen sie über das Eis, schrien sich irgendwelche Bemerkungen zu und bremsten dann so scharf, daß die Eisflocken aufstoben und tiefe Kratzer im Eis entstanden. Andrea versteifte sich. Zwei der Jungen kannte sie, Rick Baker und Tim Davis, wirklich harte Typen aus ihrem Gymnasium. Solche Burschen jagten ihr immer Angst ein, sie lief eilig zum Ausgang. Es war ja sowieso Zeit für sie, mit dem
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Training aufzuhören, ihr Job in der Snack-Bar der Eishalle wartete. An der Ballustrade drehte sie sich noch einmal um, warf einen letzten Blick über die Eisfläche. Jetzt fiel ihr auf, daß einer der Jungen sich von den anderen vier unterschied. Zuerst hatten alle fünf mit ihren strubbeligen Haaren, in den zerfransten Jeans und T-Shirts gleich ausgesehen. Andrea hatte nicht auf ihre Füße geschaut. Doch jetzt stellte sie überrascht fest, daß einer von ihnen statt Hockeystiefeln Eiskunstlaufschlittschuhe angeschnallt hatte. Es gab nur wenige Jungen, die mit solchen Schlittschuhen liefen. Die meisten hatten Angst, zu weich zu erscheinen, ihr hartes, männliches Image zu verlieren. Andrea ärgerte sich über dieses dumme Vorurteil, denn es war wirklich nichts Weichliches am Eiskunstlauf. Die Sprünge und Drehungen erforderten Kraft, Ausdauer, gute Nerven und konnten außerdem gefährlich sein. Andrea blieb stehen und beobachtete interessiert diesen Jungen, der ihr aufgefallen war. Er sah ein klein wenig sauberer und ordentlicher aus als die anderen, war mittelgroß und muskulös gebaut mit schmalen Hüften. Das auffallendste an ihm aber war sein Haar. Andrea plinkerte jetzt mit den Augen. Sie war kurzsichtig, hatte aber beim Eislaufen keine Brille auf. So sah sie nur seinen Wust goldener Locken. Aus dieser Entfernung konnte sie weder sein Gesicht noch seine Augen erkennen. Aber daß er toll eislaufen konnte, das sah sie selbst ohne Brille. Seine sicheren Bewegungen und gekonnten Wenden zeigten, was für ein erfahrener Eisläufer er war. Bewundernd starrte Andrea ihn an, kniff die Augen zusammen und versuchte, mehr zu erkennen. Wer war das nur? Und ob die anderen Jungen wirklich seine Freunde waren? Die fünf hatten jetzt ein lockeres Kriegenspiel angefangen, und ihr Ziel war der blonde Junge. Die anderen jagten ihn, kreisten um ihn herum und versuchten, ihn zu packen. Aber er war einfach zu gut. Er ließ die anderen an sich herankommen, erst im letzten Moment machte er eine elegante Drehung und -4-
fuhr seinen Verfolgern davon, die mit frustrierten Gesichtern hinter ihm herstarrten. Andrea hätte fast laut gelacht, das Zugucken machte ihr Riesenspaß. Mit einem Blick auf die Uhr an der Wand aber stellte sie fest, daß sie leider mit ihrem Job beginnen mußte. Sie stellte ihre Schlittschuhe ins Büro und löste Jeannie in der Snack-Bar ab. Andrea arbeitete hier eine Stunde täglich, auch sonnabends und sonntags. Dadurch konnte sie sich die Eiskunstlaufstunden und die Ausrüstung finanzieren. Aber noch einen weiteren Vorteil hatte der Job hier in der Eishalle: Ned, der Mananger, erlaubte ihr, zu den allgemeinen Öffnungszeiten umsonst zu trainieren. "Es ist doch eine gute Werbung für die Eisbahn", hatte er ihr lächelnd erklärt. "Nur wenige der Kinder, die hier bei uns Schlittschuh laufen, haben schon mal einen richtigen Eiskunstläufer gesehen. Wenn sie aber zugucken, wie du da herumwirbelst, wollen sie's vielleicht doch lernen und nehmen bei uns Unterricht." Andrea war bei Neds Kompliment rot geworden und wußte nicht, was sie sagen sollte. Es stimmte, sie war die einzige, die zu den normalen Öffnungszeiten der Halle kam und übte. Sie hatte eben kein Geld, um mehr als die unbedingt notwendigen privaten Übungsstunden zu bezahlen und trainierte so häufiger in der Halle. Und dabei bleibe ich nur mittelmäßig, dachte Andrea. Die Mädchen vom Grosse Pointe können sich fünf oder sechs Privatstunden in der Woche leisten, nehmen an Wettbewerben teil und sind wesentlich besser als ich. Sie hatte Ned damals einen schüchternen, verlegenen Blick zugeworfen, und er hatte ihr väterlich auf die Schulter geklopft. Andrea kannte ihn seit sie zehn Jahre alt war. "Ich sehe dir gerne beim Training zu, Andrea", hatte Ned sie gelobt und sie dann in die Snack-Bar geschickt. Als jetzt Andrea Jeannie ablöste, schaute sie erstmal, ob auch genügend Pizzastücken und Brezeln da waren. Dann kochte sie frischen Kaffee und füllte die Popcorn-Maschine. -5-
Die Eisfläche war aber so leer, daß wohl kaum mit Hochbetrieb in der Bar zu rechnen war. Aber, wer weiß? Andrea war immer dafür, auf alles vorbereitet zu sein. Während sie alles herrichtete, fielen ihr wieder die fünf Jungen von vorhin ein. Gleich, als sie deren laute Stimmen gehört hatte, hatte sie Angst bekommen. Es war ihr schon peinlich, daß sie sofort fluchtartig und feige die Eisfläche verlassen hatte. Was ist bloß mit mir los, schimpfte sie böse mit sich selbst. Was soll schon passieren? Doch Andrea wußte, wie die Antwort ausfallen würde! Andrea McClellan hat trotz ihres nun schon reifen Alters von fünfzehn Jahren Angst vor Jungen! Und nicht etwa nur vor lauten Rowdys, sie fürchtete sich vor allen Jungen. Diese Furcht war tief in ihr verwurzelt, ging zurück bis zu ihrer Grundschulzeit. In gewisser Weise war sie auch die Ursache dafür, daß sie Eiskunstläuferin geworden war. Andrea seufzte. Sie erinnerte sich ganz deutlich an jenen Tag vor fünf Jahren, sie war noch ein pummeliges Kind und total verschüchtert. Gary Johnson und Dennis McGraw, zwei ihrer Klassenkameraden, hatten sich ein grausames Spiel ausgedacht, mit dem sie die kleinen, zehnjährigen Mädchen traktierten. Gary und Dennis waren tonangebend in der Klasse, keiner wehrte sich gegen die Gemeinheiten. "Steh auf, Ginny", forderten sie ein Mädchen in der ersten Bankreihe auf. Ginny folgte lächelnd dem Befehl und wartete auf das Urteil der Jungen über ihr Aussehen. Die Jungen berieten sich, flüsterten. Nach einem Augenblick stießen sie ein anerkennendes "Oho!" aus. Die blonde, blauäugige Ginny hatte eben Glück. Sie war eines der wenigen hübschen Mädchen in der Klasse und wußte das auch. Aber die anderen waren nicht so gut dran und die Inquisition traf alle Mädchen aus der Klasse. "Sandy, steh auf! Gloria, steh auf! Martha, steh auf'" Die meisten Mädchen fügten sich und standen verlegen auf, während die beiden Jungen über sie beratschlagten. Oft war es nicht das begeisterte "Oho'" sondern ein ablehnendes "Buh". Manchmal gingen die Jungen auch schnell von einer zur anderen, und die betreffende Klassenkameradin sank erleichtert -6-
auf ihren Stuhl zurück. Aber wehe, wenn sie eine auf dem Kieker hatten! Die machten sie richtig fertig, bis man sich wie eine häßliche Kröte fühlte. Es hatte an diesem Tag keinen Zweifel für Andrea gegeben, wie das Urteil über sie ausfallen würde, zu oft hatte sie das Spielchen schon erlebt. Noch tiefer war sie in ihren Sitz gerutscht, hatte so getan, als ob sie intensiv in ihrem Buch läse. Nur Anne Whitehouse neben ihr war noch schlechter dran, die schielte. So habe ich wenigstens eine Chance, nicht letzte der Parade zu werden, hatte Andrea gedacht. Mit Glück ist Miß Homeier, die Lehrerin, zurück, bevor die Jungen bei ihr angekommen sind. Gerade hatte Gloria ein Beifallsgeheul bekommen, und Andrea würde die nächste sein. "Steh auf, Andrea", hatten sie gerufen. Andrea hatte ganz still gesessen und versucht, die Aufforderung zu überhören. Aber ihr Gesicht brannte, und sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. "Steh auf, Andrea", hatten sie noch einmal kommandiert. Andrea hatte sich nicht gerührt, als die Jungen miteinander flüsterten und kicherten. Plötzlich hatten sie begonnen, ein immer lauter werdendes "Buh" anzustimmen. Immer weiter hatten sie geschrien und gebrüllt bis Andrea es nicht mehr länger aushalten konnte. Sie war aufgesprungen und hatte geschrien. "Ich hasse euch. Ich hasse euch alle!" Dann hatte sie sich umgedreht und war aus dem Klassenzimmer gerannt. Das Gelächter verstummte, als die schwere Tür hinter ihr zuschlug. Doch Andrea blieb nicht stehen, sondern riß ihre Jacke vom Haken und rannte die ausgetretenen Treppen der Crocker Elementary School hinunter, hinaus in die blasse Novembersonne. Außer sich und wütend war Andrea den halben Weg nach Hause gelaufen. Doch ihr wurde plötzlich klar, daß sie gar nicht nach Hause wollte. Ihre Mutter würde noch bei der Arbeit sein, sie blieb immer bis um fünf im Kindergarten. Nur Großmutter wäre da; entweder saß sie vor dem Fernseher oder lag auf dem Sofa und machte ein Schläfchen. Und Andrea hatte überhaupt keine Lust, ihrer Großmutter jetzt Rede und Antwort zu stehen.
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Sie zögerte. Endlich hatte sie sich entschlossen, die Jefferson Avenue, eine Hauptgeschäftsstraße mit vielen Schaufenstern, entlangzuschlendern. Nur, ein zehnjähriges Mädchen langweilt sich schnell beim Schaufenstergucken. Nach einer Stunde war Andrea total kaputt, hatte Durst und wollte sich irgendwo hinsetzen. Aber sie hatte kein Geld. Noch eine ganze Stunde lang mußte sie rumtrödeln, bevor die Schule aus war. Erst dann traute sie sich zu Großmutter nach Hause, ohne daß gleich bohrende Fragen kommen würden. Wobei es Andrea schon klar war, daß sie das Unvermeidliche nur hinausschob. Die Lehrerin würde anrufen oder einen Brief schicken, und Großmutter hätte wieder was zu predigen. Sie solle sich nicht darum kümmern, was andere Kinder sagen, war Großmutters Standardthema. Aber wer wollte schon immer hören, wie häßlich man ist. Andrea war über die Straße getrottet und stand plötzlich vor der Leuchtschrift "Princess Eisbahn". Noch vor einem Jahr war die "Princess" ein Kino gewesen. Andrea hatte hier oft die Heldinnen und Helden aus fernen, abenteuerlichen und romantischen Welten bewundert. Vor kurzem hatte man das alte Kinohaus zu einer Eisbahn umgebaut. Mit ihrer Freundin Anne war Andrea schon dort gewesen, aber es hatte ihr überhaupt nicht gefallen. Unzählige Kinder hatten sich auf der völlig überfüllten, unebenen huckeligen Eisfläche getummelt. Außerdem waren ihr die geliehenen Schlittschuhstiefel zu klein, jede Bewegung der Füße tat höllisch weh. Doch in der Eishalle gab es einen Aufenthaltsraum für die Eisläufer, der mit den alten, aufgepolsterten samtblauen Kinosesseln möbliert war. Vielleicht, hatte Andrea, überlegt, kann ich mich dort einfach ein bißchen hinsetzen und ausruhen. Sie betrat die Eingangshalle, alles war wie früher. Sogar der Glastresen, an dem man Süßigkeiten kaufen konnte, stand noch da. Doch jetzt waren dort Eislaufzubehör ausgestellt: Stiefel, Schlittschuhe und Trikots. -8-
Etwas unsicher hatte Andrea sich umgesehen, sie war ganz allein in der Halle. Da hörte sie eine sanfte Melodie, die durch die Schwingtür am Ende der Halle zu ihr herüberklang. Diese Tür führte auf die Eisfläche, erinnerte sie sich. Neugierig war Andrea hineingegangen. Auf Zehenspitzen konnte sie gerade durch die Glasscheibe in der oberen Hälfte der Tür gucken. Und was sie sah, ließ sie den Atem anhalten: Ein schlankes, hübsches junges Mädchen mit kurzen blonden Haaren bewegte sich zur Musik auf der Eisfläche. Aber es war die Art und Weise, wie sie sich bewegte, die Andrea gefangen nahm. Das Mädchen flog geradezu über das glatte Eis. Nichts von Stolpern und Hinfallen, all dem was für Andrea bisher Eislaufen bedeutete. Jeder Schritt war sicher und elegant. Das Mädchen tanzte ganz allein auf der Eisfläche, schien aus einer anderen Welt zu sein. Andrea hatte schon gute Eiskunstläuferinnen im Fernsehen gesehen, aber dieses Mädchen hier war lebendig und wirklich vor ihr. Die Eiskunstläuferin glitt jetzt rückwärts, drehte sich, lief wieder vorwärts, sprang in die Luft, landete auf einem Fuß und streckte dabei das andere Bein elegant von sich. Sekunden später drehte sie sich in eine Pirouette, die Arme waagerecht vom Körper weggestreckt. Dann bog sie den Rücken durch und spannte die Arme in weichem Bogen über ihrem kreisenden Körper. Andrea war fasziniert. So etwas Schönes hatte sie noch nie gesehen. Alles andere war vergessen, der Ärger in der Schule, der ganze schreckliche Vormittag. Der Anblick des Mädchens auf dem Eis hatte alle schlimmen Erlebnisse verdrängt. "Ich möchte wissen, wovon du gerade träumst", riß eine warme Stimme Andrea aus ihren Erinnerungen. Verwirrt sah sie auf, eine Entschuldigung auf den Lippen. Und beinahe hätte sie den Schwamm fallenlassen, mit dem sie gerade den Tresen wischte: Es war der Junge mit den blonden Haaren. Sprachlos -9-
starrte Andrea ihn an. Jetzt, wo er so dicht vor ihr stand, konnte sie seine stahlblauen Augen erkennen. Nett sah er aus. Andrea fühlte, wie sie rot wurde. Hastig blickte sie zurück auf den Tresen. "Tut mir leid. Kann ich etwas für dich tun?" "Du kannst mir eine Cola geben." Ängstlich sah Andrea zur Eisbahn hinüber. "Kommen deine Freunde auch?" stammelte sie. "Also hast du mich da draußen schon bemerkt", grinste er mit unverhohlener Freude. "Aber diese Typen sind nicht meine Freunde. Ich habe sie nur zufällig getroffen, als ich mir meine Schlittschuhe anzog. Und dann wollten sie sich über mich lustig machen, weil ich keine Hockeystiefel habe. Also habe ich sie ganz freundlich zu einem kleinen Spielchen herausgefordert." Er grinste breit und zufrieden. Klar, wer den Test gewonnen hatte! Andrea lächelte zurück. Für einen Augenblick hatte sie ihre Scheu vor dem männlichen Geschlecht vergessen. "Ja, ich habe dich vorhin gesehen, bevor ich vom Eis ging. Du läufst prima." Sie holte einen Pappbecher für seine Cola. "Du bist auch Eiskunstläuferin, oder?" Er lehnte sich mit seinen langen, sonnengebräunten Armen auf den Tresen. "Ich habe dich gesehen, wie du zu einem Toeloop angesetzt hast und dann das kleine Mädchen dir in den Weg lief." Also hatte er sie auch beobachtet. Andrea wurde ganz warm. Aber das bedeutete eben auch, daß er sie hatte fallen sehen. Welch ein blödes Bild mußte sie abgegeben haben. Andrea zog eine Grimasse und beobachtete, wie der Schaum der Cola über den Rand des Pappbechers lief. "Ich versuche es, aber ich kann nicht gut springen", gestand sie. "Aber du kannst mir doch sicher etwas über die Trainingsstunden am Vormittag erzählen", bat er. "Ach, übrigens, ich heiße Greg Banyon." "Ich bin Andrea McClellan." Schüchtern lächelte sie ihn an und stellte die Cola vor ihn hin. Während er in seinen Hosentaschen nach dem Geld wühlte, betrachtete er Andrea. Sie wurde ganz verlegen. Es schien ja fast so, als wollte er mit ihr flirten. Aber warum? Ein Junge,
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der so toll aussieht, interessiert sich doch nicht für ein so unscheinbares Mädchen wie mich, dachte sie. Andrea war felsenfest überzeugt, daß sie nicht hübsch war. Daß sie sich in den letzten fünf Jahren äußerlich sehr verändert hatte, wollte sie nicht sehen. Die Zeit und das regelmäßige körperliche Training hatten ihre kindliche pummelige Figur von damals verändert. Vor Greg Banyon stand heute ein schlankes Mädchen mit glatter, zarter Haut, einer leichten Stupsnase mit Sommersprossen, kastanienroten Haaren und haselnußbraunen Augen mit unglaublich langen, dichten Wimpern. Er gab ihr das abgezählte Geld für seine Cola und lächelte sie an. "Du hast gedacht, diese Typen wären meine Freunde, dabei bin ich ganz neu in der Stadt. Meine Familie ist gerade von der Westküste nach Grosse Pointe gezogen. Du bist die erste hier, die ich kenne, Andrea. Vielleicht können wir ja Freunde werden." Als sie hörte, daß Greg in Grosse Pointe wohnte, zog Andrea sich innerlich zurück. Obwohl die Eisbahn im Stadtgebiet von Detroit lag, war der Nobelvorort Grosse Pointe mit seinen schönen Villen ganz nah. Und von dort kamen all die Kinder, die sich die teuren Trainingsstunden leisten konnten. Andrea zuckte die Schultern und legte das Geld in die Kasse. "Du wirst . bestimmt nicht lange brauchen, um hier Freunde zu finden", bemerkte sie über die Schulter hinweg. Es würde schnell gehen, kein Junge mit solchen Augen bleibt lange allein und er würde sich in kürzester Zeit vor hübschen Mädchen kaum retten können. Die unscheinbare Andrea McClellan wäre dann mit Sicherheit Luft für ihn. Laut schloß sie die Kasse und sah ihn kühl an. "Die Übungszeiten am Morgen sind täglich von sechs Uhr dreißig bis acht Uhr dreißig. Du kannst mit Ned in seinem Büro darüber sprechen." Verwundert sah er sie an und stürzte den Rest seiner Cola in einem Zug hinunter.
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Den leeren Becher knallte er auf den Tresen. "Danke", sagte er. "Vielleicht treffen wir uns dann mal vormittags." Er griff nach seiner Sporttasche und verließ die Snack-Bar. Mit gemischten Gefühlen sah Andrea hinter ihm her. Jetzt, wo sie ihm direkt gegenüber gestanden hatte, verstand sie nicht, wie sie ihn mit den anderen Typen in einen Topf hatte werfen können. Alles an ihm verriet Geld und Eleganz, sogar das Abzeichen auf seinem Hemd. Während alles an mir nach ständigem Kampf und Armut aussieht, dachte Andrea und starrte auf ihre alte Jeans. Seit Andrea damals vor fünf Jahren das Mädchen auf dem Eis beobachtet hatte, war ihr sehnlichster Wunsch, Eiskunstläuferin zu werden. Aber der Weg dorthin sollte hart werden. Sie erinnerte sich, wie Ned, der Manager der Eishalle, sie in ihrer Bewunderung für das tanzende Mädchen gestört hatte. "Für die Öffentlichkeit machen wir erst in einer halben Stunde auf', hatte er laut verkündet. Die kleine Andrea hatte sich verängstigt umgedreht und einem Mann in einer gestreiften Uniformjacke gegenübergestanden, der sie neugierig betrachtete. In der Hand hielt er einen Besen und eine Schaufel. Andrea hatte auf das Fenster in der Tür gezeigt, wo das Mädchen in Rosa inzwischen mit ihrer Pirouette fertig war. "Wo hat sie das gelernt?" Der Mann hatte nur mit den Schultern gezuckt. "Sie hat halt Unterricht genommen und viel geübt, denke ich. Sie ist toll, nicht wahr? Es sieht ganz leicht aus." Er hatte sich umgedreht und Popcornreste auf dem Fußboden zusammengefegt. Aber Andrea wollte nicht aufgeben. "Könnte ich das auch lernen?" drängte sie. Der Mann hatte gelacht. "Woher soll ich das wissen? Warum trägst du dich nicht für den Gruppenunterricht ein und probierst es aus?" Er hatte sich jetzt zu ihr umgedreht und auf den Besen gestützt. Andrea hatte ihn interessiert betrachtet. Selbst wenn sie wollte, woher sollte sie das Geld für den Unterricht - 12 -
bekommen? Großmutter würde es ihr nicht geben, und Mom hatte von ihrem kleinen Gehalt nie etwas übrig. Und Andrea war absolut unsportlich, das wußte sie aus der Schule. Erst gestern war sie vom Barren geplumpst, und alle anderen hatten sie ausgelacht. Aber das Bild von dem Mädchen auf dem Eis ging ihr nicht aus dem Kopf: "Wie teuer ist das?" fragte sie den Mann. Er hatte gelächelt und dabei einen angeschlagenen Vorderzahn gezeigt. "Einundzwanzig Dollar für zehn Wochen. Dafür hast du eine Unterrichtsstunde in der Woche, eine Stunde Trainingszeit pro Tag und Schlittschuhe. Ein sehr günstiges Angebot." Für ihn mag es vielleicht günstig sein, hatte Andrea verzweifelt überlegt, aber für sie war es ein Vermögen. Doch sie hatte sich geschworen, daß sie irgendwie das Geld zusammen kriegen würde. An jenem Abend vor fünf Jahren hatte sie lustlos in ihrem Essen herumgestochert. Immerzu ging ihr die Sache mit den Eislaufstunden im Kopf herum. Ein Blick zu ihrer Mutter hatte ihr klargemacht, daß jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um mit ihr darüber zu sprechen, Mom war total geschafft. Selbst Großmutter hatte es bemerkt. "Du solltest diesen Job aufgeben, Lisa. Du hast nicht die Nerven für eine Kindergärtnerin." Resigniert hatte Andreas Mutter geseufzt, immer wieder kam dieses leidige Thema auf den Tisch. "Ich muß Geld verdienen, und Kindergärtnerin ist nun mal mein Beruf, Mutter." Ungeduldig war die Großmutter Mom ins Wort gefallen. "Du hältst das trotzdem nicht durch. Warum vergißt du nicht endlich deinen Stolz? Schreib deinem Ehemann, bitte ihn zurückzukommen. Er würde es tun, wenn du es verlangst." Mom war ganz ruhig geworden und warf Großmutter einen eisigen Blick zu. "Dan ist glücklich mit seinem Job bei der - 13 -
Ölgesellschaft in Alaska. Er braucht Abenteuer und Aufregung, nicht eine Familie. Er würde nicht kommen, selbst wenn ich ihn bäte. Und ich habe nicht die Absicht, das jemals zu tun." Nervös hatte Andrea auf ihren Teller gestarrt. Mit ihren zehn Jahren verstand sie diese Diskussionen zwischen Mom und Großmutter nie, merkte nur, wie unglücklich alle waren. Sie wußte, daß ihre Eltern sich getrennt hatten. Vor fünf Jahren war ihr Vater als Ingenieur nach Alaska gegangen, während ihre Mutter in Detroit bei der Großmutter geblieben war. Mehr wußte Andrea nicht. Doch durch das Gespräch war ihr eine Idee gekommen! Sie erinnerte sich nur noch vage an ihren Vater, einen großen Mann mit rotbraunen Haaren und haselnußfarbenen Augen. Außer ein paar Weihnachtsgrüßen hatte sie ihm nie geschrieben. Als er damals fortging, war sie gerade fünf Jahre alt gewesen. Es war ihr nie im Laufe der Jahre in den Sinn gekommen, daß er überhaupt etwas von ihr hören wollte. Aber jetzt fragte sie sich plötzlich, warum sie ihm nicht über ihre Eiskunstlaufpläne schreiben sollte. Was er wohl dazu sagen würde? Später am Abend hatte Andrea in ihrem kleinen Zimmer gesessen und versucht, an ihren Vater zu schreiben. "Lieber Dad", hatte sie begonnen. Doch es war so schwer, die richtigen Worte für ihren Vater zu finden, zu dem sie so gar keine Beziehung hatte. Dazu kam: Andrea hatte noch nie in ihrem Leben einen Brief geschrieben, nur immer Grußpostkarten unterschrieben. Nervös hatte sie an ihrem Füller gekaut und angestrengt nachgedacht. Mom fände bestimmt nicht gut, was ich hier vorhabe, war ihr durch den Kopf gegangen. Sie reagiert immer so empfindlich, wenn jemand Dan McClellan erwähnte. Aber ihrem eigenen Vater durfte sie doch wohl schreiben! Entschlossen hatte sie begonnen: .
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"Ich vermute, daß Du über meinen Brief erstaunt bist. Ob Du Dich noch an mich erinnerst? Ich muß zugeben, daß ich mich an Dich gar nicht erinnern kann. Aber jetzt brauche ich Hilfe, und Du bist der einzige, der sie mir geben kann. In meiner Schule gefällt es mir überhaupt nicht. Viele meiner Klassenkameraden sind eklig zu mir, weil ich nicht hübsch bin und in Sport nichts kann. Mit Mom kann ich darüber nicht sprechen. Sie muß hart arbeiten und ist meistens müde. Du hast sicher schon gemerkt, daß ich Dir schreibe, weil ich Dich um etwas bitten möchte. Ich würde so gern Unterricht im Eiskunstlauf nehmen. Vielleicht hört sich das dumm an, aber ich wünsche es mir ganz doll. Ich brauche einundzwanzig Dollar für zehn Stunden und weiß nicht, woher ich das Geld nehmen soll. Mom hat nie etwas übrig und Großmutter auch nicht. Kannst Du mir helfen?" Andrea hatte lange überlegt, wie sie unterschreiben sollte. Normalerweise schrieb man wohl "viele liebe Grüße" oder so etwas unter Briefe an Eltern und Verwandte. Aber liebe Grüße konnte sie ihrem Vater, den sie kaum kannte, wohl schlecht schicken. Schließlich hatte sie sich für ein einfaches: "Deine Tochter Andrea", entschieden. Sie hatte den Brief gefaltet und brauchte jetzt nur noch einen Umschlag und die Marke. Lange hatte sie grübelnd in ihrem Zimmer gesessen. Ihr Bett mit den kuscheligen Kissen sah so einladend aus, daß Andrea gern das Licht ausgeknipst hätte und hineingekrabbelt wäre. Morgen war Sonnabend und sie hatte zwei Tage Ruhe vor ihren verhaßten Klassenkameraden. Doch dann war ihr Blick wieder auf den zusammengefalteten Brief in ihrer Hand gefallen. Wenn sie ihn an diesem Abend nicht in einen Umschlag stecken würde, fände sie wohl nie wieder den Mut dazu. Also hatte Andrea ihren Bademantel angezogen und war barfuß in den dunklen Flur geschlichen. In der kleinen Kommode neben der Eingangstür waren Briefmarken und Umschläge und auch die Adresse ihres Vaters.
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Morgen, hatte sie sich damals geschworen, würde sie als erstes den Brief einwerfen und dann abwarten, was passierte. Und Andrea hatte nicht lange auf Antwort warten müssen! Schon nach einer Woche war ein brauner Briefumschlag aus Alaska angekommen mit einem Scheck auf ihren Namen. Ihr Vater hatte ein Foto von sich und einen herzlichen liebevollen Brief dazugelegt. So war es der damals zehnjährigen Andrea mit Hilfe ihres Vaters ermöglicht worden, den Eiskunstlauf zu lernen. Andrea erinnerte sich noch heute, wie groß damals die Freude bei ihr war, daß ihr Vater die Stunden zahlen wollte. Seitdem hatte sie sich ziemlich verändert. Aber irgendwo, so stellte Andrea selbstkritisch fest, bin ich noch immer das verunsicherte kleine Mädchen, das damals in der fünften Klasse weggelaufen ist. Andrea stellte die Kaffeemaschine ab und packte die restlichen Brezeln ein. Die Eishalle machte zu, und es war Zeit für sie, nach Hause zu gehen.
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2. KAPITEL Als Andrea am nächsten Morgen um viertel nach sechs in den alten, klapprigen Ford ihrer Mutter stieg, war es draußen noch schummrig. Bald ist es um diese Zeit noch stockdunkel, dachte sie, und es wird noch schwerer, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Ihre Klassenkameraden aus dem Gymnasium würden noch in ihren warmen Betten kuscheln, während sie schwierige Sprünge und Drehungen für ihre vierte EislaufPrüfung einübte. Aber dann zuckte sie mit den Schultern. Schließlich hatte sie es sich so ausgesucht. Andrea hatte Glück, daß ihre Mutter immer morgens um sieben Uhr im Kindergarten anfing und die Eishalle auf dem Weg lag. Sonst hätte sie nie um diese Zeit zur Eisbahn gehen dürfen, auch nicht mit fünfzehn. Und schon gar nicht im Winter! Seit fünf Jahren nun war sie jeden Morgen um halb sechs aufgestanden, um noch vor der Schule zu trainieren. Das war zwar hart, aber es hatte sich gelohnt. Andrea hatte gute Aussichten, ihre vierte Prüfung, bei der sie sowohl Pflichtfiguren als auch eine Kür laufen mußte, noch bis Ende des Jahres zu schaffen. Wie es dann weitergehen sollte, war ihr noch nicht klar. Für eine erfolgreiche Karriere mußte ein Eislaufschüler insgesamt acht Prüfungen machen. Aber Andrea sah kaum eine Chance, das jemals zu erreichen: woher sollte das Geld dafür kommen. Aber nichts überstürzen, sagte sie sich. Erst einmal mache ich meine vierte Prüfung, und wenn ich die schaffe, läßt Ned mich vielleicht Gruppenunterricht geben und ich kann mir ein paar Mark dazuverdienen. Andreas Überlegungen wurden unterbrochen, als sich ihre Mutter mit einem tiefen Seufzer und Räuspern ans Steuer - 17 -
setzte. Nur zu gut wußte Andrea, daß sich damit irgendein wichtiges Gespräch ankündigte. Erwartungsvoll betrachtete Andrea Moms hübsches Profil. Mit ihren dreiunddreißig Jahren war sie eine gutaussehende Frau, schlank, mit blonden Locken und großen braunen Augen. Aber im Moment sah sie blaß aus und hatte Schatten unter den Augen. "Andrea", begann Lisa McClellan, "hast du in letzter Zeit eigentlich etwas von deinem Vater gehört?" Andrea wunderte sich, denn normalerweise erwähnte Mom ihren Dad nicht. Am Anfang hatte sie sogar den Eindruck, als ob sie der Briefwechsel zwischen Tochter und Vater störte. Doch dann hatte sie sich daran gewöhnt, fragte aber nie nach. Das Thema Dan McClellan war zwischen Mutter und Tochter tabu. Großmutter hatte da ganz anders reagiert. Zunächst einmal war sie wütend über Andrea, fragte sie aber dann noch ständig über das aus, was der Vater schrieb. Und ewig stichelte sie an Mom und deren gescheiterte Ehe herum. "Er hat letzte Woche geschrieben, Mom", sagte Andrea. Irgend etwas lag inder Luft, das spürte sie genau. "Hat er etwas über seine Zunkunftspläne gesagt?" "Nein." Die Mundwinkel ihrer Mutter zuckten und Andrea wurde immer gespannter. "Ist etwas passiert, Mom?" "Nein, eigentlich nicht." Lisa McClellan bog in die Jefferson Avenue ein und sprach weiter. "Es ist nur, er hat mir gestern geschrieben. Er kommt zu Besuch." Sie machte eine lange Pause. "Ich dachte, du solltest das wissen." Andrea war völlig perplex. Doch die Vorstellung fand sie schon aufregend, diesen mysteriösen Mann, ihren Vater, mit dem sie sich jahrelang Briefe geschrieben hatte, nun endlich einmal zu treffen und richtig kennenzulernen. "Wohnt er bei uns?" platzte sie heraus. "O nein, er wohnt in einem Hotel." Mom hatte jetzt einen richtig panischen Blick bekommen.
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Andrea war enttäuscht. Es wäre schon toll gewesen, wenn Dad bei ihnen gewohnt hätte. Aber Mom würde damit nie einverstanden sein, das merkte man an ihrem Gesicht. Andrea sah, wie fest ihre Mutter das Steuerrad umklammert hatte, die Fingerknöchel traten schon weiß hervor. Jetzt nahm Andrea ihren ganzen Mut zusammen. "Möchtest du denn nicht, daß er kommt, Mom?" Sie hatte Angst vor der Antwort. "Es ist mir egal, was er tut", stieß ihre Mutter bissig hervor. . Andrea zuckte zusammen. Während all der Jahre, in denen sie regelmäßig Post von ihrem Vater bekam, hatte sie sich richtig mit ihm angefreundet. Spannend und lustig hatte er sein aufregendes und abenteuerliches Leben in Alaska geschildert. Es tat ihr weh, den Zorn in Moms Stimme zu hören, wenn sie über ihn sprach. Andrea wußte zwar, daß die beiden Streit miteinander gehabt hatten. Aber heimlich hatte sie davon geträumt, daß ihre Eltern sich eines Tages wieder vertragen und sie eine richtige Familie sein würden. Bis jetzt war das reine Phantasie gewesen, doch vielleicht änderte sich bald alles. Andrea wollte ihrer Mutter von ihren Gefühlen erzählen. Doch bevor sie noch die richtigen Worte gefunden hatte, redete Mom mit sanfter Stimme weiter. "Es tut mir leid, Liebes. Ich habe es nicht so gemeint. Ich bin nur ziemlich durcheinander." Tausend Fragen wirbelten in Andreas Kopf herum, trotzdem sagte sie nichts. Ihre Mutter fuhr sich mit der Hand nervös durch das kurzgeschnittene Haar. Da kam Andrea plötzlich ein Gedanke. "Weiß Großmutter eigentlich davon?" fragte sie. Mom schüttelte den Kopf. "Nein", gestand sie und bog in den Parkplatz der Eishalle ein. "Ich-muß auch zugeben, daß ich mich nicht gerade darauf freue, es ihr zu erzählen." Andrea blickte ihre Mutter scharf an. "Warum denn nicht? Sie sagt doch immer, daß du deinen Job aufgeben und Dad nach Hause holen sollst." Das stimmte.
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Ständig ritt Großmutter auf diesem Thema herum und Andrea verstand überhaupt nichts mehr. Was wollte Granny eigentlich? Mit siebzehn Jahren hatte ihre Mutter geheiratet, ihr Vater war gerade achtzehn. Ganz schön jung für eine Ehe, das war Andrea klar. Und mit Großmutter, die ständig meckerte und kritisierte, mußte das auch nicht die reine Freude gewesen sein. "Sie sagt zwar, daß ich meinen Job aufgeben soll, aber sie meint es nicht so". beantwortete Lisa Andreas Frage. Gedankenverloren starrte sie durch die Windschutzscheibe. "Deine Großmutter, Andrea, war einer der Hauptgründe, weshalb ich damals nicht mit deinem Vater nach Alaska gegangen bin. Sie war krank und ich konnte sie nicht einfach hierlassen." "Und war ich auch ein Grund?" Mrs. McClellan sah ihre Tochter fest an und seufzte. "Ja", gab sie zu. "Ich konnte doch nicht mit einem kleinen Kind bis ans Ende der Welt ziehen. Aber dein Vater behauptete, der Job dort sei die Chance seines Lebens und wollte unbedingt gehen." Wieder seufzte sie tief. "Es war ein Machtkampf zwischen uns, bei dem keiner nachgeben wollte. Und schließlich, nachdem wir uns wochenlang gestritten hatten, ging er." Es gab vieles, was Andrea immer noch nicht verstand, obwohl ihre Mutter heute zum ersten Mal mit ihr wie einer Erwachsenen sprach. Mom stellte den Motor ab und wandte sich Andrea zu. "Ich werde ihm wohl nie verzeihen können, daß er damals gegangen ist. Er hat mir zwar immer Geld für dich geschickt, auch meine Ausbildung zur Kindergärtnerin bezahlt. Aber das alles ersetzt doch keinen richtigen Vater." Sie zögerte, bevor sie weitersprach. "Oder einen richtigen Ehemann." In diesem Moment hielt ein grüner Mercedes neben dem alten Ford. Andreas Mutter drehte sich und zog die Augenbrauen hoch. Es waren die Pattersons. Melissa Patterson war die beste Eisläuferin, die in der "Princess" Eishalle trainierte. Im letzten Jahr hatte sie eine regionale Meisterschaft im Kürlaufen gewonnen und würde in diesem Jahr vielleicht sogar in die Nationalmannschaft - 20 -
kommen. Sie war nicht nur die beste von allen, sondern auch noch die hübscheste. Wie die meisten Eiskunstläuferinnen hier wohnte sie in Grosse Pointe, besuchte eine Privatschule, trug nur die schicksten Kleider und hatte für Andrea nie mehr als ein kühles, herablassendes Lächeln übrig gehabt. Als Melissa jetzt aus dem Mercedes stieg, rang sie sich noch nicht einmal ein Lächeln ab. Nach einem spöttischen Blick aus ihren grünen Augen drehte sie sich auf den Hacken um und rauschte zur Eingangstür der Eishalle, ihre Mutter im Nerzmantel im Gefolge. Mrs. McClellan beobachtete die beiden Patterson-Ladys, bis die verschwunden waren. Dann lächelte sie nur und schüttelte den Kopf. "Andrea", bemerkte sie trocken, "wir müssen noch weiter darüber reden, aber dafür ist hier weder der richtige Ort noch die richtige Zeit. Jedenfalls weißt du jetzt, daß dein Vater nächste Woche hier ist. Warum er kommt, weiß ich auch nicht. Vielleicht will er die Scheidung." Mühsam schluckte sie und machte Andrea die Autotür auf. "Viel Spaß", wünschte sie ihrer Tochter und lächelte zaghaft. Andrea war total verwirrt von dem, was sie eben erfahren hatte. Sie nickte ihrer Mutter zu und stieg aus dem Auto. Noch während sie die Schlittschuhe anzog, war Andrea so in ihre Gedanken vertieft, daß sie total ihre dunkelhaarige Freundin Babs Ritter übersah, die sich neben sie gesetzt hatte. Babs war das einzige Mädchen aus der Eislaufgruppe, mit der Andrea befreundet war. Nach der morgendlichen Trainingsstunde fuhren die beiden immer gemeinsam mit dem Bus in die Schule. Sie waren sich näher gekommen, weil sie hier die einzigen waren, die nicht in Grosse Point wohnten. Außerdem besuchten sie dasselbe Gymnasium. Zu den anderen Mädchen war Andrea zwar nie unfreundlich gewesen. Aber schon seit langem war ihr klar, daß ihre familiären Hintergründe so verschieden waren, daß sie sich in deren Gegenwart, nie locker benehmen konnte.
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Eiskunstlaufen war ein teurer Sport. Die Stunden, die Ausrüstung und die Übungszeit auf der Eisbahn kosteten einen Haufen Geld. Wie sollte ein Mädchen, dessen Eltern all diese Kosten ohne mit der Wimper zu zucken zahlen konnten je verstehen was es bedeutete, ständig jobben und sparen zu müssen, um überhaupt aufs Eis zu dürfen? "Hey, hast du die Neuigkeit schon gehört?" Babs stieß Andrea in die Seite und riß sie damit aus ihren Grübeleien. Andrea schreckte zusammen. "Welche Neuigkeiten?" fragte sie immer noch leicht abwesend. "Greg Banyon ist hier und wird hier eislaufen", verkündete Babs. Ihre Augen funkelten vor Aufregung. Über das Gespräch mit ihrer Mutter hatte Andrea Sven ganz vergessen, doch jetzt fiel er ihr wieder ein. Sie sah sich in der Halle um, doch außer der üblichen Gruppe noch verschlafen wirkender Mädchen war niemand da. "Was ist mit ihm?" murmelte sie und bückte sich, um ihre Stiefel hochzuziehen. Es war sowieso immer eine Plagerei, in die engsitzenden Schuhe zu steigen, aber jetzt war auch noch das Leder brüchig geworden, und es wurde beinahe unmöglich, sie über die Knöchel zu ziehen. Aber woher soll ich das Geld für neue Stiefel nehmen? Andrea seufzte. "Was mit ihm ist?" kreischte Babs ungläubig und schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr langer Pferdeschwanz von einer Schulter zur anderen hüpfte. "Andrea, weißt du etwa nicht, wer er ist?" Irritiert sah Andrea die Freundin an. "Was soll schon besonderes an ihm sein?" "Greg Banyon war letztes Jahr Jugendmeister an der Westküste und dritter bei der amerikanischen Meisterschaft. Und jetzt wird er hier bei uns laufen. Darüber rede ich." Babs war richtig empört über Andreas Ahnungslosigkeit. Ach so. Jetzt war Andrea auch klar, warum er die vier Jungen so locker ausgetrickst hatte. Gerade wollte sie Babs von ihrem Erlebnis mit Greg erzählen, doch da sah sie, daß das Training begann.
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Andrea holte ihre Brille heraus. Wenn sie Kür lief, setzte sie sie nie auf. Aber die Pflichtfiguren konnte sie ohne Brille nicht richtig einüben. Diese verflixte Brille war auch so ein Punkt zwischen ihr und Großmutter. "Du siehst doch gut damit aus", behauptete diese ständig. Andrea wußte es besser, sie war überzeugt, wie eine Eule auszusehen. So wenig wie möglich setzte sie das verhaßte Ding auf. Nachdem sie sich jetzt die Brille auf die Nase geschoben hatte, schaute sie Babs durch ihre dicken Gläser eindringlich an. "Wenn er wirklich so ein Wahnsinnstyp ist", bemerkte sie trocken, "dann greift ihn sich doch sofort Melissa, uns wird er gar nicht bemerken." "Du bist eine richtige Miesmacherin", schimpfte Babs. Andrea lachte. Babs würde schon merken, daß sie recht hatte. Andrea fuhr über die Eisfläche zu der abgeteilten Ecke, die für sie zum Üben vorgesehen war. Sie holte tief Luft und begann, an den verschiedenen Figuren zu arbeiten. Die meisten Eiskunstläufer mochten die Pflichtfiguren nicht, aber Andrea liebte sie. Außer dem schabenden Geräusch der Schlittschuhe auf dem Eis war es jetzt still in der Halle. Die Drehungen, die sie einüben mußte, erforderten ihre volle Konzentration, alles andere war während der Trainingszeit unwichtig. Manchmal schien es Andrea, als ob diese Übungen eine heilsame Therapie für sie wären. Sie vergaß all ihre Probleme, fühlte sich ruhig und gelassen. Auch das Kürlaufen hatte eine solche Wirkung auf Andrea. Nachdem sie mit den Pflichtfiguren durch war, zog sie ihre speziellen Kürlaufschlittschuhe an. Über Lautsprecher erklang Musik, und bald war Andrea ganz gefangen in dem Einklang von Bewegung und Melodie. Gerade, als sie sich auf eine Pirouette konzentrierte, raste dicht an ihr ein muskulöser, blauer Körper mit einem solchen Tempo vorbei, daß sie abrupt stoppte und dem Störenfried hinterherschaute. - 23 -
Andrea sah wie der Eisläufer absprang und hoch ih der Luft zwei perfekte Doppelaxel hintereinander vorführte. Es war natürlich Greg Banyon, det da in seinem leuchtend blauen Trainingsanzug über das Eis glitt. Alle Mädchen hatten ihre Übungen unterbrochen und bestaunten den großen Künstler. Kein Wunder, bei so einem Auftritt, dachte Andrea, als er auch schon Anlauf nahm für einen ebenso perfekten doppelten Lutz. So wie er die Eisfläche beherrschte, konnte man ihn auch nur schwerlich ignorieren. Er war der Traum aller Mädchen hier. Aber ich werde trotzdem versuchen, ihn zu ignorieren, schwor sich Andrea. Die anderen konnten ja ruhig ihre Zeit damit verschwenden, ihn anzuhimmeln. Andrea mußte zu hart arbeiten, um die Trainingsstunden bezahlen zu können. Sie wollte und durfte keine Minute dieser kostbaren Zeit vergeuden. Und schon drehte sie sich wieder in einer Pirouette und übte danach tänzerische Schrittkombinationen im Rhythmus der Musik. Den Toeloop wollte sie jetzt lieber nicht probieren, nicht, solange Mr. Wunderbar wie eine Rakete über das Eis düste. Außerdem war, logischerweise, jetzt auch Melissa Patterson in Aktion getreten und führte ihr Repertoire an Doppelsprüngen vor. Sollten die beiden sich doch gegenseitig etwas vormachen - ohne mich, dachte Andrea. Als die Stunde vorüber war, ging Andrea in den Umkleideraum, zog ihre Legwarmers und den Bodysuit aus, stieg in ihre Jeans und ein Sweatshirt. Die Schlittschuhe ließ sie bei Ned im Büro. Während sie noch auf Babs wartete, sah sie, wie Greg, gefolgt von einem ganzen Schwarm von Bewunderinnen, das Eis verließ. Melissa mit ihrem hellblonden Schopf natürlich vorneweg, ihr strahlendstes Lächeln hatte sie aufgesetzt. Ja, zugegeben, Melissa und Greg gaben schon ein ausgesprochen hübsches Paar ab. Andrea drehte sich um und ging zur Tür. Sie wollte lieber draußen auf Babs warten. - 24 -
Der Berufsverkehr hatte inzwischen voll eingesetzt. Beide Fahrtrichtungen der breiten Durchgangsstraße waren vollgestoptt mit Autos. Andrea klemmte ihre Schultasche unter den Arm und trat ungeduldig mit einem Fuß gegen die Bordsteinkante. Babs trödelte heute morgen aber auch unheimlich lange! Die Haltestelle war direkt vor der Eishalle, und ein Bus war inzwischen schon abgefahren. Wenn sie den nächsten auch noch verpaßten, würden sie zu spät zur Schule kommen. Babs hing doch nicht etwa auch noch da drinnen, .um den großen Star zu bewundern? Zuzutrauen wäre es ihr. Angestrengt blinzelte Andrea durch die gläserne Eingangstür, doch ohne Brille konnte sie außer ihrem eigenen Spiegelbild nichts erkennen. Plötzlich verwackelte ihr Spiegelbild, die Tür schwang auf, und Babs stürmte heraus. Andrea fiel ein Stein vom Herzen. Sie würden also doch nicht zu spät kommen. Aber dann sah sie, wer da direkt hinter Babs aus der Tür kam! Greg Banyon, immer noch im Trainingsanzug und mit seiner Sporttasche in der Hand. So ohne Brille bemerkte Andrea das warme Lächeln nicht, mit dem er sie musterte. Sie hatte nur das Gefühl, angestarrt zu werden und deshalb sah sie verlegen weg. Greg blieb bei ihr stehen und blickte dann zu dem rostigen Halteschild der Bushaltestelle. "Kann ich euch zwei irgendwo hinbringen?" bot er freundlich an. "Ich bin mit dem Auto da." Babs strahlte, aber bevor sie das Angebot annehmen konnte, schnitt Andrea ihr schnell das Wort ab. "O nein", protestierte sie. "Da kommt schon unser Bus. Du gehst doch bestimmt in Grosse Pointe zur Schule, und wir müssen genau in die entgegengesetzte Richtung." Der Bus hielt. Hastig stieg Andrea ein und zog die widerstrebende Babs energisch hinter sich her. Greg zuckte mit den Schultern und schlenderte davon. "Bist du nicht mehr ganz dicht?" keifte Babs wütend. '"Er hätte uns auf jeden Fall zur Schule gefahren, auch wenn er da gar nicht hin muß." - 25 -
"Ich wollte es nicht", erklärte Andrea kurz und kniff die Lippen zusammen. Sie setzte sich, und Babs ließ sich neben ihr auf den Sitz fallen. "Ehrlich, Andrea", zischte Babs unheimlich sauer. "Manchmal denke ich, du hast sie nicht mehr alle. Es ist völlig bekloppt, wie du dich Jungen gegenüber benimmst. Du tust gerade so, als ob sie dich fressen wollten." Andrea biß sich auf die Unterlippe und starrte angestrengt aus dem schmutzigen Fenster. Als der Bus anfuhr, sah sie, wie Greg Banyon in einem roten, offenen Sportflitzer in die entgegengesetzte Richtung losbrauste. Der Fahrtwind zerzauste seine goldenen Locken.
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3. KAPITEL "Bis morgen früh auf der Eisbahn", rief Babs. "Und wenn Greg Banyon mich dann noch mal mitnehmen will, steige ich in sein Auto, ganz egal, was du machst." Babs klemmte ihre Schultasche unter den Arm und stieg aus dem Bus. Andrea sah ihr aus dem Fenster hinterher. Obwohl Babs seit der Geschichte mit Greg Banyon gestern früh ein bißchen gemuffelt hatte, war sie heute auf dem Rückweg von der Schule wie eh und jeh. Aber diese Stichelei gerade zeigte eben doch, daß Babs noch ein klein wenig sauer war. Hoffentlich flippt sie nicht aus, dachte Andrea. Bei so wenigen Freundinnen wollte sie sich nur ungern mit einer zerstreiten. Um die Wahrheit zu sagen, sie hatte ja auch nur zwei Freundinnen. Andrea seufzte und wandte sich Anne Whitehouse zu, die neben ihr saß. Babs war Andreas Eislauffreundin, aber Anne war ihre richtige Vertraute. Schon in der Grundschule hatten beide die gleichen Probleme: keine von ihnen war hübsch, keine war besonders beliebt oder sportlich. Dadurch hatten sie immer treu zusammengehalten, sich gegenseitig durch die schlimmsten Zeiten und Erlebnisse geholfen. Und auch jetzt auf dem Gymnasium waren Andrea und Anne enge Freundinnen geblieben. Anne sah Andrea neugierig an. "Wer ist dieser Greg Banyon, auf den Babs so abfährt?" Andrea stöhnte. Gab es denn kein anderes Thema, über das man reden konnte? Sie wehrte sich, weil sie eigentlich nicht mehr an diesen Traumjungen mit den goldblonden Locken und der sonnengebräunten Haut denken wollte. Es war wie bei einem Einkaufsbummel: in einem Laden sah man etwas ganz Tolles, das man liebend gern haben wollte. Aber dann, fehlte das Geld, um es zu kaufen. Aus vielen bösen Erfahrungen hatte - 27 -
Andrea gelernt: am besten wird man mit solchen Situationen fertig, wenn man seine Wünsche einfach unterdrückt. Und das bezog sich auch auf Greg Banyon, den Traum aller weiblichen Wesen! "Er ist ein Eiskunstläufer, der hierhergezogen ist und jetzt bei uns trainiert", erklärte sie Anne so unbeteiligt wie möglich. Doch so leicht war Anne nicht abzuspeisen. Neugierig zwirbelte sie ihre hellblonden Locken. "Gut aussehend?" forschte Anne weiter. Andrea zögerte. Aber warum sollte sie eigentlich lügen? "Jedes Mädchen in unserem Alter bekommt weiche Knie, wenn es ihn sieht", sagte sie so locker wie möglich. Fragend zog Anne die Augenbrauen boch. "Kann es vielleicht sein, daß du dich für ihn interessierst? Findest du ihn gut?" Andrea gab ihre scheinbar gleichgültige Haltung nicht auf. "Klar. Er ist ein unheimlich starker Typ. Aber du weißt doch ganz genau, daß ich bei so einem keine Chance habe. Außerdem hat Melissa Patterson schon ihre kleinen rosa Klauen nach ihm ausgestreckt." Jetzt mußte Anne lachen. Sie kam zwar nicht auf die Eisbahn und kannte Melissa nicht persönlich. Aber hatte bei einigen Schaulauf Veranstaltungen zugeguckt und die große Diva Patterson in Aktion gesehen. Und sie hatte Andrea und Babs über Melissa lästern hören, über deren zahlreiche maßgeschneiderte Kostümchen, die zehn Privatstunden in der Woche und die feste Überzeugung, Amerikas nächste Eislaufprinzessin zu werden. "Trotzdem ist es merkwürdig", stichelte Anne weiter. "Was?" "Wie du auf den Typen reagierst. Normalerweise existieren Jungens doch für dich überhaupt nicht. Immer bist du unfreundlich zu ihnen, muffelig." Andrea wollte protestieren, doch Anne redete weiter. "Ernsthaft, Andrea, fang bloß nicht wieder mit der alten Leier an: ,Ich sehe nicht gut aus'. Hast du eigentlich in letzter Zeit mal in den Spiegel geguckt?"
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Andrea fand es lieb von ihrer Freundin, daß sie ihr Selbstbewußtsein stärken wollte. Aber es war umsonst, sie wußte, wie sie aussah. Und es stimmt einfach nicht, daß ich unfreundlich bin, sondern nur furchtbar schüchtern, dachte Andrea. Außerdem gehöre ich nicht zu den Mädchen, die in der Gegend rumstehen und kichem, bis irgendein Junge ankommt. Dazu bin ich mir zu schade, basta! Der Bus hielt, und ein paar Fahrgäste stiegen aus. Die nächste Haltestelle war die Eisbahn. "Mußt du heute nachmittag in der Snack-Bar jobben?" fragte Anne. Andrea schüttelte den Kopf. "Mittwoch nachmittags sind zusätzliche Trainingsstunden und die Eishalle ist geschlossen. Ich kann mir die aber nicht leisten, sondern habe einen freien Nachmittag." "Mensch, Wahnsinn, ein Nachmittag in der Woche frei!" spottete Anne. "Manchmal denke ich, du übertreibst ein bißchen mit deiner Eislauferei. Aber egal. Du mußt doch bestimmt nicht schon nach Hause, oder? Komm doch mit zu meiner Großmutter, sie hat heute ihren Backtag. Und mir hat sie einen Apfelstrudel versprochen! Los, so was Gutes läßt man sich nicht entgehen." Andrea ließ sich nicht lange überreden. Seit der dritten Klasse besuchten die beiden Mädchen einmal im Monat an ihrem Backtag Ada Buckridge, Annes niedliche weißhaarige Oma. Zehn Minuten später kletterten die beiden Teenager die Holztreppe zu einer schmalen Veranda hinauf. Mrs. Buckridge erschien in der Tür, wischte ihre mehlbestäubten Hände auf der großen Schürze ab und begrüßte die beiden freudestrahlend. Die Mädchen traten in die angenehm kühle Diele, der blankgebohnerte Holzfußboden glänzte. Der Duft von frischgebackenem KiJchen durchströmte das Haus und ließ den beiden das Wasser im Munde zusammenlaufen. "Es riecht einfach himmlisch, Granny", platzte Anne heraus und verdrehte genießerisch die Augen.
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Liebevoll strich ihr die Großmutter über die silberblonden Locken. "Du siehst aus wie ein verhungernder Pudel", neckte sie ihre Enkelin. "Kommt zu mir in die Küche, dann könnt ihr noch mal ein paar Kekse naschen." Die Freundinnen folgten Mrs. Buckridge durch das Wohnzimmer in die Küche. Viel gemütlicher als bei meiner eigenen Großmutter, dachte Andrea. Weiße, duftige Vorhänge und taubenblau gepolstere Möbel machten den Raum besonders hell und einladend. In der Küche setzten sich die Mädchen an einen weißgestrichenen Holztisch. Mrs. Buckridge stellte ihnen eine große Kanne Tee und einen riesigen Teller mit Schokoladenund Rosinenkeksen hin. Anne, die wegen ihrer Leidenschaft für Süßigkeiten ohnehin etwas pummelig war, verschlang blitzartig vier Stück, während Andrea sich zu mehr Zurückhaltung zwang. Seit sie Greg Banyon kennengelernt hatte, achtete sie mehr auf ihr Äußeres. Sie zog sich sorgfältiger an und legte morgens ein leichtes Augen-make-up auf. Und obwohl ihre Figur durch das Training jetzt tiptop war, könnte sie ruhig noch ein oder zwei Pfund abnehmen, fand Andrea. "Köstlich", lobte sie, bevor sie in den zweiten Keks biß. "Schade, daß meine Großmutter nicht so backen kann wie Sie, Mrs. Buckridge." Annes Oma werkelte an ihrem Arbeitsplatz herum, säuberte die Küchenrolle und spülte die Stäbe des Mixers ab. "Deine Oma kocht eben nicht so gern wie ich", gab sie über die Schulter hinweg zurück, während sie für Anne ein Stück Schokoladenkuchen in Alufolie einwickelte, den sie später mit nach Hause nehmen konnte. "Jeder Mensch hat andere Interessen, weißt du." Da hatte sie recht, mußte Andrea im stillen zugeben. Ihre Großmutter und Mrs. Buckridge kannten sich gut, gingen immer zusammen in die Kirche. Und doch waren die zwei total unterschiedlich. Mit ihren weißen Haaren, ihrer Vorliebe für Backen, Nähen und Haushalten war Mrs. Buckridge eine richtige Bllderbuchomi, während Andreas Großmutter nur rummeckerte und die Leute kommandierte. - 30 -
Ein wenig neidisch blickte Andrea hinter Anne her, die gerade die Küche verließ. Sie wollte ein paar neue Sachen anprobieren, die ihre Granny für sie genäht hatte. Unwillkürlich seufzte Andrea. "Anne hat es gut, daß Sie ihre Großmutter sind. Schade, meine Grandma näht mir nie so hübsche Sachen." Mrs. Buckridge warf ihrem jungen Gast einen scharfen Blick zu. "Als du noch klein warst, hat sie viele Kleider für dich gemacht, kannst du dich nicht erinnern?" "Doch", gab Andrea zu. Aber insgeheim dachte sie, daß dies doch schon lange her war. Damals war es noch nicht wichtig, schicke Sachen zu haben, aber heute hätte sie doch gern mal ein neues, flottes Kleid. "Wie geht es denn Alice?" erkundigte sich Mrs. Buckridge. "Ich habe deine Granny schon fast eine Woche lang nicht gesehen." "Sie...sie", Andrea suchte nach Worten. "Sie ist eine alte Schrulle", platzte sie heraus. Aber sofort wurde sie rot wegen ihrer bösen Bemerkung. Nur, es stimmt ja, versuchte sie sich selbst zu verteidigen, wer den ganzen Tag nur nörgelt, muß sich nicht wundern. "Eine Schrulle, so." Mrs. Buckridge verzog das Gesicht, goß sich eine Tasse Tee ein und setzte sich neben Andrea an den Küchentisch. Sie blickte das Mädchen ernst an. "Andrea, du hast recht, deine Oma kann nicht gut kochen. Alice Clinton hat schon immer lieber zum Dosenöffner als zur Nudelrolle gegriffen. Aber noch vor ein paar Jahren konnte sie wirklich gut nähen. Damals hat sie zauberhafte Kleider für dich gemacht, hinter denen sich meine Sachen für Anne verstecken müssen. Weißt du eigentlich, warum sie das nicht mehr macht?" Andrea schüttelte den Kopf. "Weil sie Gicht in den Händen hat. Auch ich werde wahrscheinlich nicht mehr lange nähen können." Energisch stellte sie ihre Tasse hin und legte ihre blassen Hände flach vor Andrea auf den Tisch.
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"Guck dir meine Knöchel an, Kind. Siehst du, wie geschwollen sie sind? Das ist die Gicht, und glaube mir, das kalte, feuchte Klima hier in Michigan ist Gift für sie." Betroffen starrte Andrea auf Mrs. Buckridges Hände. Kein Zweifel, die Knöchel waren sichtbar angeschwollen. Und jetzt erinnerte sie sich auch an die Hände ihrer eigenen Großmutter. Noch gestern hatte Andrea ungeduldig gewartet, als Granny lange am Fernsehknopf herumgefummelt hatte und ewig brauchte, bis sie ihn drehen konnte. Klar, sie hatte schon oft über ihre Hände geklagt, aber Andrea hatte nie hingehört. Dabei sahen sie viel schlimmer aus als die von Mrs. Buckridge. Verlegen sah Andrea auf. "Tut es sehr weh?" "Es tut weh", erklärte die ältere Frau schlicht, "und bei mir ist es längst nicht so arg wie bei deiner Oma. Sie muß ständig Schmerzen haben. Vielleicht kannst du jetzt ein bißchen mehr Geduld mit ihr haben?" Andrea schämte sich furchtbar. Klar, das Granny miese Laune hatte, wenn ihr immer etwas weh tut! Außerdem war es gemein, Granny zu verurteilen, weil sie nicht so wie Mrs. Buckridge war. Sie selber hatte ja auch keine Lust zum Kochen und Backen. Warum war das dann bei anderen so schlimm? "Nun laß den Kopf nicht hängen", versuchte Annes Oma Andrea aufzumuntern. "Ich möchte dir etwas zeigen." Sie stand auf und holte einen Stapel Prospekte aus der unteren Schublade des Küchenschrankes. Verwirrt betrachtete Andrea die Fotos von Wüstenkakteen, leuchtend blauem Himmel und neuen, weißen Appartementhäusern. "Verbringen Sie Ihre goldenen Jahre in Arizonas wunderbarem Klima", war die Überschrift auf einem der Hefte. "Das verstehe ich nicht", murmelte Andrea. "Dort sollten deine Großmutter und ich jetzt leben", erklärte Mrs. Buckridge voller Begeisterung und zeigte auf ein besonders schönes Bild von einem Sonnenuntergang. "Das trockene, heiße Wetter dort wäre viel besser für die kleinen Zipperlein von uns alten Damen. Und vielleicht wird Annes Vater bald dorthin versetzt. Als ich das hörte, schrieb ich an die Touristeninformation in - 32 -
Arizona und bekam diese Prospekte zugeschickt. Die werde ich Alice das nächste Mal zeigen. Vielleicht kann ich sie überreden, mit mir zusammen dorthin zu gehen. Und dann lassen wir es uns gutgehen." Zufrieden über ihre Pläne sammelte Mrs. Buckridge die Prospekte wieder ein. "Wir würden bestimmt gut miteinander auskommen", träumte sie laut vor sich hin. "Ich könnte kochen und saubermachen, und Alice könnte den ganzen Tag vor dem Fernseher sitzen und mich mit den neuesten Informationen unterhalten." Andrea dachte nur daran, daß ihre Freundin Anne vielleicht wegziehen würde. Warum hatte Mrs. Buckridge das nur erzählt? Was sollte sie ohne ihre Freundin tun? Nachdem die zwei Mädchen sich von Annes Oma verabschiedet hatten, beide mit riesigen Kuchenpaketen versorgt, beruhigte Anne ihre Freundin Andrea ein wenig. "Ich habe dir extra nichts davon gesagt, weil es einfach noch nicht sicher ist, Andrea. Schon oft hieß es, daß Dad versetzt werden würde, und nie ist etwas draus geworden. Noch brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Granny ist nur deswegen so Feuer und Flamme, weil sie so viel über das tolle, gesunde Klima in Arizona gelesen hat." Immer noch zweifelnd sah Andrea ihre Freundin an. "Und was sagt dein Vater dazu?" Anne zuckte leichthin mit den Schultern. "Er sagt, daß wir gehen würden, wenn es klappt. Aber er glaubt selbst nicht daran." Unglücklich versuchte Andrea sich vorzustellen, wie Anne, durch einen halben Kontinent von ihr getrennt, dort in Arizona leben würde. Bilder, wie aus alten Western im Fernsehen, tauchten vor ihr auf: wolkenloser Himmel, endlose, sandige Ebenen. Nur Klischees, dachte Andrea. So wie man Alaska nur mit Eis und Schnee verbindet. Aber in der Wirklichkeit war immer alles ganz anders. Bei dem Gedanken an Alaska dachte Andrea wieder an den angekündigten Besuch ihres Vaters, und schnell erzählte sie Anne die ganze Geschichte.
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"Mensch, Andrea, wie findest du das denn nach all der Zeit?" Das war eigentlich eine gute Frage, wie fand sie das alles? Sie versuchte, Anne ihre Gefühle zu erklären. "Ich freue mich wirklich auf ihn. Insgeheim habe ich mir ja schon immer gewünscht, daß Dad kommt. Aber ich glaube nicht, daß Mom und Granny auch froh darüber sind. Ich habe einfach Angst davor, daß es Krach gibt, wenn er da ist." Am Ende der Straße blieben die beiden Mädchen stehen. Von hier an mußten sie in verschiedenen Richtungen weitergehen. "Immer passiert alles auf einmal", stöhnte Andrea. "Zuerst die Neuigkeit über meinen Vater und dann auch noch die Nachricht, daß du vielleicht wegziehst. Was soll ich denn bloß machen, wenn ich dich nicht mehr zum Ausquatschen habe?" "Och, vielleicht hast du bis dahin schon Ersatz gefunden", neckte Anne sie lachend. "Wen meinst du? Babs?" "Nein." Anne schüttelte den Kopf. Sie amüsierte sich königlich. "Ich meine jemand besseren als Babs." Andrea zog die Augenbrauen zusammen. "Wen denn dann?" "Greg Banyon", prustete Anne los, drehte sich um und rannte laut lachend davon, bevor Andrea sich für diese Bemerkung rächen konnte.
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4. KAPITEL Verdutzt blieb Andrea stehen. Bis zu den Haarwurzeln war sie rot geworden. Und dabei habe ich vorhin im Bus extra so cool getan, als wir über Greg redeten, dachte sie. Aber Anne kennt mich eben zu gut, der kann ich nichts vormachen! Ganz in Gedanken machte sie sich auf den Heimweg. Angestrengt kaute Andrea auf ihrer Unterlippe und dachte nach. Ich darf mir nie wieder anmerken lassen, daß ich ihn mag, überlegte sie. Nicht auszudenken, wenn Babs das mitkriegen würde. Babs war zwar ihre Freundin, aber sie hatte auch einen Mordsspaß an Klatsch und Tratsch. Und das wäre ein gefundenes Fressen für sie. Alle würden über mich lachen, malte Andrea sich schon in den düstersten Farben aus. Mit dem Eislaufen, dem liebsten, was ich auf der Welt tue, ist es dann auch vorbei. Von jetzt an, schwor sie sich, würde sie sich Greg Banyon gegenüber so kühl und distanziert geben, daß niemand auch nur auf die Idee kommen könnte, daß seine goldenen Locken, seine sanften blauen Augen und sein strahlendes Lächeln sie total verwirrten und ihr Herz bei jeder Begegnung hämmerte. Am nächsten Morgen machte Andrea Ernst: Als Babs im Umkleideraum laut darüber nachdachte, ob Greg heute wohl kommen würde, reagierte Andrea überhaupt nicht. Und als er dann auf dem Eis erschien, tat sie, als bemerke sie ihn nicht und guckte möglichst unbeteiligt. Insgeheim wunderte sie sich über sich selbst, wie cool sie bleiben konnte. Aber die Wahrheit war ganz anders, der Junge beschäftigte sie von Tag zu Tag mehr. Das ging schon so weit, daß sie Greg nicht einmal mehr zu sehen brauchte, sie spürte einfach, wenn er da war: Ob im Aufenthaltsraum, oder bei ihren Übungen auf dem Eis. Aber sie blieb immer starr und abweisend, als ob sie ein Schild um den Hals habe: "Bleib weg, ich bin beschäftigt. " - 35 -
Nur, das half alles nichts. Sogar in ihren Ohren schienen in der Zwischenzeit kleine Mikrophone gewachsen zu sein, direkt auf Greg Banyon gerichtet. Und obwohl sie sich darüber ärgerte, hörte Andrea seine Stimme schon aus erstaunlichen Entfernungen, saugte begierig jedes Wort in sich hinein, das sie von ihm erwischen konnte. Doch gerade deswegen blieb Andrea eisern bei ihrem Entschluß, sich ihr Interesse an dem hübschen, kalifornischen Jungen nicht anmerken zu lassen. Es gab viele Gelegenheiten, bei denen er kam und versuchte, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Immer war Andrea höflich distanziert, entschuldigte sich aber jedesmal mit irgendeiner Ausrede und ließ ihn stehen. Hätte sie dabei jemals ihre Brille getragen, wäre ihr vielleicht Gregs erstauntes Gesicht aufgefallen, das er dann jedes Mal zog. Aber selbst wenn, vermutlich hätte sie das dann auch wieder in den falschen Hals bekommen und angenommen, Greg wäre in seiner Eitelkeit gekränkt. Es war zu offensichtlich, daß er sich vor Mädchen kaum retten konnte. Und mitten drin Melissa Patterson! Die auffällige Blondine hatte schon immer flotte Klamotten. Aber seit sie sich an Gregs Fersen geheftet hatte, sah sie aus wie aus einem Modemagazin. "Guck dir die an", tuschelte Babs zu Andrea. "Die ist bestimmt eine Stunde früher aufgestanden, um ihr Make-up aufzulegen. Und jetzt fragt sie ihn schon wieder wegen ihres Doppelaxels, dabei kriegt sie sowieso jeden Tag eine Privatstunde. Das ist doch ekelhaft." Geduldig hörte Andrea sich Babs wütenden Ausbruch an. Das die sich nun auch für Greg interessierte, störte sie nicht, das war bei Babs immer so: In den beliebtesten, bestaussehenden Jungen war Babs grundsätzlich verliebt. Solange, bis ein neuer auf der Bildfläche erschien. In dem Moment vergaß Babs ihre Schwärmerei für den alten und konzentrierte ihre ganze Bewunderung auf die Neuerscheinung. Eigentlich beneidete Andrea Babs jetzt um diese Fähigkeit. So leicht wird es mit meinen Gefühlen für Greg bestimmt nicht - 36 -
gehen, seufzte sie im stillen. Noch nie hatte sie sich so viel aus einem Jungen gemacht. Es tat ja fast schon weh, ihn mit Melissa zu sehen. Aber der größte Schock kam Ende der nächsten Woche. Andrea und Babs beobachteten aus dem Busfenster, wie Greg und Melissa gemeinsam in seinem roten Sportflitzer vom Parkplatz der Eisbahn losfuhren. "Aha", stellte Babs böse fest. "Sie hat es endlich geschafft." "Ja", stimmte Andrea zu, entsetzt über die Eifersucht, die ihr wie ein Stich durchs Herz fuhr. Du hast es doch gewußt, schimpfte sie mit sich selbst. Aber auch das half nichts. Nach der Übungsstunde am nächsten Montag morgen fing Ned Andrea an seiner Bürotür ab, er wollte mit ihr reden. Normalerweise hätte sie ihn auf den Nachmittag vertröstet, weil sie sich ohnehin schrecklich beeilen muß- te, um rechtzeitig in der Schule zu sein. Aber irgendwie schien Ned etwas besonders Dringendes auf dem Herzen zu haben. Andrea bat Babs, schon alleine loszufahren und ging zum Umkleideraum. Während sie ihr Eislaufkostüm gegen Jeans und Pullover tauschte, grübelte sie, was Ned wohl von ihr wollte. Mußte der Übungsplan geändert werden, oder hatte er eine Beschwerde wegen der Snack-Bar? In den letzten Tagen hatte sie nicht gerade viel Pizza verkauft. Mit einem tiefen Atemzug trat sie in Neds Büro. Der Manager saß wie immer zurückgelehnt in seinem alten Bürostuhl, hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Stapel von Papier flogen überall herum, halbvolle Kaffeebecher standen dazwischen verteilt. Als Ned Andreas besorgtes Gesicht sah, lächelte er ihr beruhigend zu. Und dann machte er einen wunderbaren Vorschlag. "Hey, Andrea, was hältst du davon, wenn du im nächsten Jahr keine Pizza mehr backst, sondern Gruppenunterricht für Anfänger erteilst?" Andrea riß die Augen auf. "Wie... was...?" stammelte sie. Noch hatte sie nicht ganz kapiert, was Ned da gesagt hatte. - 37 -
Ned erklärte seinen Vorschlag. "Linda geht nächstes Jahr zur Uni und wir brauchen jemanden, der sie ersetzt." Und dann wurde Andrea klar, was ihr da angeboten wurde. Am liebsten wäre sie Ned vor Freude um den Hals gefallen. Am Freitag hatte Linda Andrea schon von ihren Uni-Plänen erzählt. Andrea war ziemlich traurig, daß Linda gehen wollte, denn sie war das Mädchen in Rosa, das Andrea vor Jahren so begeistert hatte. Damals ging Linda noch ins Gymnasium, inzwischen war sie neunzehn. Linda hatte immer viel Verständnis für Andreas finanzielle Probleme und als ihre Schülerin bekam Andrea deshalb einen Sonderpreis. Zwischen den beiden Mädchen hatte sich in den letzten fünf Jahren ein gutes Verhältnis, eine richtige Freundschaft entwickelt, und darum bedauerte Andrea es sehr, Linda als Lehrerin zu verlieren. Aber jetzt, nach Neds Angebot, sah Andrea Lindas Fortgang mit ganz anderen Augen. Eine Gruppe unterrichten zu dürfen, war immer ihr größter Wunsch gewesen. "O Ned, ich freue mich wahnsinng", rief Andrea begeistert. "Du müßtest allerdings dieses Jahr noch deine vierte Prüfung machen. Glaubst du, du schaffst es?" Andrea schluckte und nickte fest entschlossen. Ganz so sicher war sie allerdings nicht: Der doppelte Toeloop war ein Problem, und es gab ein paar Schrittkombinationen und Sprünge, die noch nicht saßen. Doch sie würde es schaffen! Ned lächelte auf seine liebe Art. "So mag ich dich. Du bist ein stilles Mädchen, aber wenn du etwas willst, tust du alles." In der nächsten Viertelstunde besprach Andrea mit Ned die Einzelheiten ihres zukünftigen Jobs. Erst als der Manager auf die Uhr blickte und seine Jacke nahm, merkte Andrea, daß sie viel zu spät zur Schule kommen würde. "Prima." Ned stand auf, setzte seine alte Baseballmütze auf den Kopf. "Ich freue mich darauf, daß du bei uns unterrichten wirst. Ich hoffe, es wird alles klappen." Andrea lächelte Ned dankbar zu und wollte gemeinsam mit ihm das Büro verlassen. Doch in der Tür prallte sie voll mit Greg Banyon zusammen.
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"Oh, das tut mir leid", lachte er und hielt sie an den Schultern, damit sie nicht umkippte. Mit seinen blauen Augen blickte er sie amüsiert an. Andrea wurde flammendrot. Total durcheinander murmelte sie eine Entschuldigung, riß sich los und rannte auf die Eingangstür zu. Als sie dann draußen auf der Straße stand und langsam wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, ärgerte sie sich über ihre hysterische Reaktion. Was sollte Greg jetzt von ihr denken? Rannte sie bei der geringsten Berührung mit ihm wie von allen Hunden gejagt davon! Ob er schon länger in der Tür gestanden und etwas von ihrem Gespräch mit Ned aufgeschnappt hatte? Aber egal, entscheidend war ihr dummes Benehmen. Mein Gott, warum führte sie sich nur so auf? Angestrengt schaute Andrea nach dem Bus, versuchte an etwas anderes als an Greg zu denken. Heute kam sie aber nun wirklich viel zu spät zur Schule. Von der ersten Stunde würde sie nichts mehr mitkriegen. Aber was war schon eine versäumte Chemiestunde gegen Neds Angebot? Eigentlich komisch, wie sich manchmal so vieles auf einen Schlag ändert, überlegte Andrea. Bis jetzt war in ihrem Leben alles ziemlich ruhig verlaufen, sie hatte immer im selben Haus gewohnt und dieselben Freundinnen gehabt. Jetzt schien die Welt kopfzustehen, es war verwirrend, aber irgendwie auch aufregend und toll. Über den Besuch ihres Vaters oder Annes möglichen Umzug mochte Andrea nicht weiter nachdenken, aber Neds Angebot auf den tollen Job freute sie riesig. Und wieder geisterte Greg Banyon in ihrem Kopf herum. Dort, wo seine Hände sie angefaßt hatten, schien die Haut zu brennen. Wie um Himmels willen sollte sie sich bloß auf die vierte Prüfung konzentrieren, wenn dieser Typ in jeder Übungsstunde seine Kunststücke auf dem Eis vollführte. Allein seine Anwesenheit ließ ihr Herz wie einen Schmiedehammer schlagen. - 39 -
Andrea seufzte tief, als sie plötzlich direkt hinter sich eine bekannte tiefe Stimme vernahm. "Willst du mit in die Innenstadt? Ich treffe mich dort mit meinem Vater." Andrea fuhr herum. Nur wenige Schritte weg stand Greg Banyon auf dem Bürgersteig und betrachtete sie abwartend. Zu seinen blauen Röhrenjeans trug er ein weißes Sweat-Shirt. Andrea schluckte mühsam und versuchte, ihre Gedanken in den Griff zu kriegen. Was sollte sie bloß antworten? Ihr Kopf war leer wie ein Sieb. "Ich... ich...", stammelte sie. "... ich komme zu spät zur Schule, weil ich mit Ned geredet habe." "Das habe ich mir schon gedacht." Greg lächelte. "Da paßt es doch gut, wenn ich dich mitnehme. Und da ich sowieso in die Richtung fahre, ..." Er redete nicht weiter, kam auf sie zu. Andrea wäre vor Schreck fast rückwärts auf die Straße gestolpert. "Gib mir deine Sachen", sagte Greg, griff nach ihrer Schultasche und legte dann seine Hand leicht auf ihren Rücken. Sanft drängte er sie von der Bushaltestelle weg hinüber zum Parkplatz. Wie betäubt ließ Andrea sich auf die schwarzen Ledersitze seines Sportwagens schieben. Sie erklärte ihm den Weg zur Schule, und Greg fädelte sich in die dichte Autokolonne in Richtung Innenstadt ein. Andrea wagte einen schnellen Seitenblick auf sein sonnengebräuntes Profil. Worüber sollte sie nur mit ihm reden? Es gab zwar tausend Dinge, die sie liebend gern über ihn gewußt hätte, aber jetzt kamen ihr noch nicht einmal die üblichen Small Talk-Phrasen über die Lippen. "Vermißt du Kalifornien?" stieß sie schließlich hastig hervor. So eine blöde Frage, schimpfte sie gleich darauf mit sich, wie oft hat er die wohl schon gehört! Aber Greg reagierte ganz gelassen. "Sonst sage ich einfach nein, aber dir will ich die Wahrheit sagen. Hätte mein Dad den Job hier schon vor einem Jahr angenommen, wäre ich vor Wut an die Decke gegangen, weil ich damals auf keinen Fall aus Kalifornien wegwollte. Noch vor einem Jahr war ich so scharf - 40 -
auf Eiskunstlauf und die Teilnahme an Meisterschaften, daß es eine Katastrophe für mich gewesen wäre, mich von meinem Trainer und von meiner gewohnten Eisbahn trennen zu müssen. Aber heute sehe ich das anders." Staunend sah Andrea ihn an. Sie wußte bereits durch Babs Tratschereien, daß Greg nicht mehr an Wettbewerben teilnehmen wollte und hatte immer gespannt zugehört, wenn Babs über die möglichen Gründe spekuliert hatte. Es war! schon komisch, daß Greg nicht mehr an Nationalmeisterschaften teilnahm, wo er doch gute Chancen auf einen Platz ganz vorne gehabt hätte. Ob er verletzt war, oder vielleicht sogar krank? Allerdings sah er kerngesund aus, sein Eislaufstil war kraftvoll und sicher. Erst heute morgen hatten die Mädchen in der Halle vor Begeisterung geschrien, als er einen dreifachen Salcho fehlerfrei auf das Eis gelegt hatte. Greg war der einzige, den Andrea kannte, der einen dreifachen Sprung konnte. "Warum? Was hat sich für dich geändert?" "Ich, ich habe mich geändert", antwortete Greg. Bevor er weitersprach, zog er den Wagen auf die Überholspur, fuhr an einem Lastwagen vorbei. "Letztes Jahr mußte ich mich entscheiden, ob ich weiter an Meisterschaften teilnehmen wollte, oder ob es für mich auch andere wichtige Dinge gibt. Bis dahin spielte das Eislaufen die Hauptrolle in meinem Leben. Du kennst das ja, Andrea. Wenn man ernsthaft trainiert, kostet das so viel Zeit und Energie, daß für nichts anderes etwas übrigbleibt. Acht Stunden am Tag war ich auf dem Eis, und wenn ich meine Schlittschuhe abgeschnallt hatte, dachte ich weiter über Sprünge und Schrittkombinationen nach. Aber damit ist jetzt Schluß. Ich will mehr." "Was zum Beispiel?" "Ich möchte Jura studieren. Und das bedeutet, daß ich jetzt in meinem letzten Schuljahr tierisch büffeln muß, um all das nachzuholen, was ich in den vergangenen Jahren verpaßt habe, als ich außer Eislaufen nichts im Kopf hatte." Er schüttelte den Kopf und zog ein reuevolles Gesicht. "Darum kam der Umzug meiner Familie genau richtig. Jetzt, - 41 -
wo ich nicht mehr in meiner alten Eislaufclique bin, kann ich neu anfangen. Und dazu sehe ich etwas vom Land, lerne neue Leute kennen." Greg warf Andrea ein warmes Lächeln zu. Er schien sich an etwas Schönes zu erinnern. "Ich bin nicht direkt mit meinen Eltern hierhergekommen, sondern habe vorher noch mit einem Freund Urlaub gemacht. Wir sind mit einem Zelt im Kofferraum durch den Westen gefahren. Ich habe mir all die Plätze angucken können, von denen ich immer so viel gehört hatte. Sogar in den Grand Canyon bin ich hinuntergeritten - auf einem Maultier! Das war einfach wahnsinnig toll. Früher habe ich auch in den Sommerferien jeden Tag trainiert." Greg konzentrierte sich jetzt wieder ganz auf den Straßenverkehr. Der Fahrtwind hatte eine goldene Locke in seine Stirn geweht. Andrea mußte ihre Hände ganz fest im Schoß falten, um ihm diese Locke nicht sanft wegzustreichen. Verstohlen betrachtete sie Greg von der Seite, dachte über seine Worte nach. Es mußte sehr hart für ihn gewesen sein, sich gegen eine sportliche Zukunft zu entscheiden. Was mochte wohl seinen Entschluß beeinflußt haben? Hatten seine Eltern ihn gedrängt? Oder hatte er einfach nur die Lust verloren? Andrea hätte es zu gern gewußt, aber eine so persönliche Frage wollte sie nicht stellen. Vielleicht würden sie sich eines Tages besser kennen, und Greg würde es ihr von alleine erzählen. Sie senkte den Btick zu seinen langen, schmalen Händen, die das Steuerrad sicher hielten. Jede Einzelheit nahm Andrea in sich auf, seine goldene Armbanduhr, seine sauberen, kurzgefeilten Fingernägel. Greg unterbrach ihre Gedanken. "Es tut mir leid, daß ich heute morgen in dein Gespräch mit Ned geplatzt bin", entschuldigte er sich ganz unerwartet. Ein zerbeulter, weißer Ford raste mit affenartiger Geschwindigkeit an ihnen vorbei und schnitt Gregs roten Sportwagen, so daß er hart bremsen mußte.
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"So ein Verrückter", brummte er. "Aber nach dem Verkehrschaos in Los Angeles kann mich nichts mehr schockieren. Wie schon gesagt, es tut mir leid, daß ich euch gestört habe. Es war auch nicht zu verhindern, daß ich von dem Gespräch etwas mitbekommen habe. Willst du den Job im ,Prin-cess' annehmen?" "Ja", sagte Andrea und wurde schon wieder verlegen. "Ist dir klar, daß du dadurch deinen Amateurstatus verlierst und nicht mehr an Wettkämpfen teilnehmen kannst?" "Das macht nichts", antwortete Andrea nur. "Das würde ich sowieso nie tun." Greg sah sie erstaunt an. "Warum nicht?" Andrea starrte durch die Windschutzscheibe, wich seinem Blick aus. "Weil ich das nicht mag. Ich bin nicht der Typ dafür", murmelte sie. Andrea haßte nichts mehr, als über Wettkämpfe zu sprechen. Aber sie mochte sich die Wahrheit nicht eingestehen, daß sie einfach Angst hatte. Nur einmal hatte sie es mit einem Wettkampf versucht, und es war die schlimmste Erfahrung ihres Lebens gewesen. Greg fuhr jetzt langsamer, und Andrea stellte erleichtert fest, daß sie schon an der Schule waren. Greg bremste, und der MG hielt direkt vor dem Schultor. Andrea murmelte ein "Dankeschön", wollte aussteigen, doch Greg hielt sie zurück. Uberrascht blickte sie ihn an. Die Sonne, die durch das offene Wagendach schien, ließ ihre haselnußbraunen Augen grünlich schimmern. "Erzähl mir, warum du nicht an Wettbewerben teilnehmen willst", bat Greg sanft. "Das liegt mir eben nicht." Er betrachtete sie genau. "Das liegt dir nicht, so. Was soll das heißen, hast du überhaupt schon mal daran teilgenommen?" "Einmal", gab Andrea zu, "als ich elf war." "Und was ist passiert?" Bei der Erinnerung an diesen furchtbaren Tag damals überlief es Andrea heiß und kalt. Sie hatte gerade ein Jahr Eiskunstlaufunterricht und ihr Lehrer meldete sie für eine - 43 -
lokale Mädchenmeisterschaft. An sich wirklich keine große Sache. Alle anderen Teilnehmerinnen waren auch Anfänger gewesen. Trotzdem war Andrea schon Wochen vorher nervös. Als sie dann allein aufs Eis mußte und dem Kampfgericht gegenüberstand, hatte ihr Herz wie verrückt geklopft, ihre Knie waren weich wie Wackelpudding, Als dann endlich alles vorbei war, hatte sie sich geschworen, so etwas nie wieder zu machen. "Ich fror förmlich auf dem Eis fest, vergaß total meine Kür", gestand sie Greg. "Es war einfach furchtbar. Um ein Haar hätte ich das Eislaufen für immer aufgegeben." Andrea seufzte. "Aber dazu hatte ich dann doch nicht den Mut." Andrea starrte geradeaus, ihr Gesicht brannte vor Scham. Was Greg jetzt wohl von ihr dachte? Ein Sieger wie er hatte bestimmt überhaupt kein Verständnis für eine Versagerin. "Ich verstehe", sagte Greg jedoch voller Sympathie. "Das passiert vielen Kindern beim ersten Mal. Aber wenn sie es dann noch mal versuchen, klappt es besser," "Dir ist das bestimmt nie passiert." "Nein." Seine Augen blitzten, "Das kann man aber auch nicht vergleichen, ich bin schon immer gern vor Publikum gelaufen, Obwohl ich auch reichlich peinliche Situationen auf dem Eis erlebt habe. Das gehört eben dazu, man darf sich dadurch nicht einschüchtern lassen." Andrea zuckte mit den Schultern, "Jetzt ist es eh zu spät. Ich bin zu alt, um gegen Mädchen wie Melissa Patterson anzutreten." "Warum? Du bist eine gute Eiskunstläuferin, ich habe dich beobachtet." Andrea wunderte sich. Hatte er ihr tatsächlich zugeschaut? Schnell erklärte sie: "Ich habe weder das Training, noch das Geld, die Sprungkraft oder auch das Interesse an ernsthaften Wettkämpfen, Als ich angefangen habe, war ich schon zu alt. Ich möchte auf jeden Fall im nächsten Jahr anfangen, als Eislauflehrerin Geld zu verdienen. Ich glaube, das wird mir echt Spaß machen", schloß sie.
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"Das glaube ich dir", stimmte Greg zu. "Aber du kannst besser unterrichten, wenn du selbst Erfahrungen bei Wettkämpfen gemacht hast, Wie kannst du deine Schüler darauf vorbereiten, wenn du selber Angst davor hast?" Damit hatte er den wunden Punkt getroffen, Andrea zuckte zusammen. Greg ignorierte jedoch ihr bedrücktes Schweigen und ließ nicht locker. "Du wirst dich danach selber besser fühlen. Das ist genau so, als wenn man mal von einem Pferd gefallen ist, Dann mußt du sofort wieder aufsteigen und es noch mal probieren. Und das gilt für viele andere Dinge auch. Selbst Versagen ist besser, als etwas gar nicht zu versuchen." Andrea runzelte die Stirn. Was ging Greg das überhaupt an? Sie mochte solche Belehrungen nicht, und um seinen Rat hatte sie ihn auch nicht gebeten. Er hörte sich an wie ein Vater oder so was. "Ich habe vorhin schon gesagt, es ist jetzt zu spät", behauptete Andrea. "Nein, das stimmt nicht." Greg gab immer noch nicht auf. "Wenn du nicht an Eiskunstlaufwettbewerben teilnehmen willst, warum versuchst du es dann nicht mit dem Eistanz? Ich glaube, das wäre genau das Richtige für dich, denn du bist ausgesprochen musikalisch, Andrea. Die Interpretation der Musik ist das wichtigste beim Eistanz, keine Doppelsprünge, die sind gar nicht erlaubt. Übrigens, demnächst ist eine Regionalmannschaft, noch vor den nationalen Wettkämpfen." Andrea wußte sofort, wovon er sprach. Jeden Winter fand dieser Wettkampf in Ann Arbor statt, die besten Läuferinnen und Läufer aus der Gegend nahmen teil. "Warum machst du nicht mit?" schlug Greg vor. Andrea suchte blitzschnell nach einer Ausrede. "Linda, meine Trainerin, kennt sich mit Schrittkombinationen nicht so gut aus. Eistanz ist nicht ihre Sache. Außerdem hat sie auch erst fünf Prüfungen hinter sich." Greg betrachtete sie einen Moment lang versonnen, dann lächelte er. "Ich habe alle acht Tests hinter mir und bin ziemlich stark in Schrittkombinationen. Weißt du was, du meldest dich für den Wettkampf an, und ich trainiere mit dir."
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Dieses Angebot haute Andrea fast um. Es wäre ein Traum, mit Greg zusammen auf dem Eis zu arbeiten. Sie konnte sich die neidischen Gesichter der anderen Mädchen schon jetzt vorstellen, besonders das von Melissa. Fast hätte sie auf der Stelle zugestimmt. Doch dann fiel ihr wieder ein, wie es gewesen war, so ganz allein vor dem Publikum zu stehen. Eiskalt lief es ihr den Rücken herunter. Nein, das wollte sie nicht noch einmal mitmachen. Und warum auch? Sie war halt keine Kämpfernatur. Und Greg würde sein Angebot schnell wieder vergessen, sicher hatte er keine Lust, seine Zeit mit ihr zu verschwenden. Dieser Vorschlag kam wohl nur aus einer Laune heraus und würde, wenn es darauf ankäme, gar nicht mehr gelten. Andrea schüttelte nachdrücklich den Kopf. "Das ist nett von dir, aber Wettkampf ist nichts für mich. Und jetzt muß ich mich beeilen, sonst komme ich zur zweiten Stunde auch noch zu spät. Danke fürs Mitnehmen." Hastig stieg sie aus. Greg beobachtete sie mit einem rätselhaften Zucken um die Mundwinkel. "Hühnchen", neckte er sie in einem liebevollen Ton. Andrea ignorierte das lieber und ging geradewegs auf die Schultür zu. Den ganzen Weg bis zur Tür fühlte sie Gregs nachdenklichen Blick in ihrem Rücken.
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5. KAPITEL Als Andrea am späten Nachmittag die Haustür aufschloß, merkte sie sofort, daß etwas anders war als sonst. Sie härte leise Stimmen aus dem Wohnzimmer, die Luft schien mit Hochspannung geladen. Unruhig stellte sie ihre Schultasche auf den Boden, wischte sich die Hände an der Jeans ab. Leise schlich sie durch den Flur zum Wohnzimmer, und blieb abrupt stehen, als sie einen breitschultrigen Mann in Großmutters verschlissenem Sessel sitzen sah. Sein kastanienbrauner Schopf fuhr herum, und ein Paar haselnußbraune Augen sahen sie zunächst verwundert, dann strahlend an. "Andrea?" fragte eine tiefe Stimme. Dann stand ihr Vater auf und kam auf sie zu. Andrea war wie angewurzelt in der Tür stehengeblieben. Im Nu war er bei ihr, und Andrea fühlte, wie seine warmen Hände sich um ihre kalten Finger schlossen. "Darauf habe ich lange gewartet." Der Mann lächelte zu ihr hinunter. "Zu lange, Dan McClellan", keifte Großmutter dazwischen. "Ich hoffe, daß du dich schämst." Andrea sah zu ihrer Oma hinüber, die auf dem braunen Sofa saß, den Mund mißbilligend zusammengekniffen. Andrea wußte, daß ihrer Großmutter Dads Besuch überhaupt nicht paßte, das war schon vom ersten Moment an klar gewesen. Granny hatte von Anfang an mißtrauisch reagiert. "Was will er denn nach all der Zeit?" hatte sie immer wieder gefragt und Andrea dabei scharf angesehen. Jahrelang hatte Oma gestichelt, daß Mom ihren Ehemann an seine familiären Pflichten erinnern, ihn zurückholen sollte. Und jetzt, wo er da war, tat sie gerade so, als ob ein Fuchs ihr die Hühner stehlen wollte. - 47 -
Offensichtlich war Granny gerade dabei gewesen, ihrem Schwiegersohn die Meinung zu sagen. Aber Andrea merkte an der Art, wie er ihre Hand drückte, sie mit sich ins Wohnzimmer zog, daß ihm das gar nicht behagte. Andrea zitterte. Sie fand es mies, daß der erste Streit schon vom Zaun gebrochen war, bevor sie auch nur ihren gutaussehenden Vater, von dem sie so lange geträumt hatte, begrüßen konnte. Doch Großmutters Schimpftiraden wurden von Lisa McClellan gestoppt, die gerade rechtzeitig mit einem vollbeladenen Tablett mit Kaffeegeschirr und Keksen hereinkam. Moms Haltung ist an sich toll, dachte Andrea, wenn sie nur nicht so geschockt aussähe. Sie wirkt noch aufgeregter als ich mich selber fühlte. Sogar Granny und Dad merkten das. Dad warf der alten Frau einen warnenden Blick zu. Großmutter preßte nur ihre Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und sagte nichts mehr. Vorsichtig stellte Lisa das Tablett auf den Tisch und sah dann unsicher von ihrem Mann zu ihrer Tochter. "Muß ich euch miteinander bekannt machen?" Dan rettete Lisa aus ihrer Verlegenheit. "Das ist nicht nötig. Andrea und ich haben uns schon begrüßt. Außerdem kennen wir uns schon aus unseren Briefen." Obwohl Andrea das nicht bestreiten wollte, sah sie die Sache doch etwas anders. Briefe waren schön und gut, aber mit dem leibhaftigen Dan McClellan hatten die nichts mehr zu tun. Sie hatte erwartet, daß ihr Dad ihr Vertrauter sein würde, doch die nebelhaften Erinnerungen paßten überhaupt nicht zu der Person, die jetzt vor ihr stand. Nur seine Haarfarbe und der Klang seiner Stimme waren ihr vertraut. Während Lisa Kaffee eingoß, legte Dan den Arm um Andreas Schultern. Andrea beobachtete, wie Grannys Augen sich verengten, als sie diese besitzergreifende Geste bemerkte. Soll ich seinen Arm etwa abschütteln? fragte sich Andrea. Aber sie dachte gar nicht dran, ihr Vater hielt sie auch viel zu fest.
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"Wollen wir heute abend alle zusammen essen gehen?" fragte Dan. Mom sah unsicher zur Großmutter und dann zu Boden. "Ich habe für heute abend schon etwas vorbereitet, Dan McClellan", erwiderte die Großmutter kalt. "Du brauchst dir keine Mühe zu machen, wir sind auf deine Einladung nicht angewiesen." Andrea war enttäuscht. Sie wußte, das bedeutete Dosensuppe und Hamburger. Bittend sah sie ihre Mom an, doch die biß sich auf die Lippe und starrte immer noch auf den Fußboden. Von dieser Seite war also keine Hilfe zu erwarten. Aber ihr Vater gab nicht so leicht auf. "Dann kannst du ja mit mir essen gehen, Andrea, oder? Wir müssen über Vieles reden." Andrea fühlte Großmutters beschwörenden Blick im Nacken, aber der war ihr egal. "Klasse", freute sie sich. "Ich ziehe mir schnell einen Rock an." In ihrem Zimmer lief Andrea zum Schrank und betrachtete sich kritisch ihre Klamotten. Zwei Kleider und drei Röcke hingen neben ein paar Jeans, Blusen, T-Shirts und Pullovern. Da sie nicht wußte, wohin sie mit ihrem Vater gehen würde, fiel ihr die Entscheidung schwer. Er trug ein Tweedjackett und eine passende braune Hose, damit konnte man überall hingehen. Seufzend griff Andrea schließlich nach ihrem karierten Faltenrock und einer weißen Leinenbluse. Für den Fall, daß es kälter werden sollte, wollte sie ihren Regenmantel mitnehmen. Andrea beeilte sich mit dem Umziehen, denn sie wollte ihrem Vater gern ersparen, länger als unbedingt nötig dort unten bei der mürrischen Großmutter sitzen zu müssen. Wer weiß, was die beiden sich sonst noch alles an den Kopf werfen würden. Andrea legte Lipgloss auf und bürstete ihre kurze Mähne. Besorgt schaute sie in den Spiegel. Mußte sie ein schlechtes Gewissen haben, weil sie Mom und Granny allein ließ und mit ihrem Vater ausging? Aber was war verkehrt daran, wenn sie einen Abend mit Dad verbrachte, der soviel für sie getan hatte? - 49 -
Auch wenn Granny diese Hilfe nicht schätzte, für Andrea war sein monatlicher Scheck enorm wichtig. Nur so konnte sie sich den Eislaufunterricht leisten. Dafür war sie ihm dankbar, egal, was die anderen von ihm dachten. Außerdem war er ihr Vater. Entschlossen ging Andrea die Treppe hinunter. Gott sei Dank stand Dad allein im Flur und wartete auf sie. Mom und Granny waren nicht zu sehen. So war es leichter, das Haus zu verlassen. Denn irgendwie fühlte sie sich doch ein ganz kleines bißchen wie eine Verräterin. Dan McClellan nahm Andreas Arm und führte sie zu einem grünen Ford, einem Mietwagen, wie er erklärte. "Wohin möchtest du gehen, Andrea? Du darfst es dir aussuchen", bot er an. Damit hatte Andrea nun nicht gerechnet. Da sie nie Verabredungen mit Jungen hatte, und Mom und Granny noch nie mit ihr in ein Restaurant gegangen waren, kannte sie sich gar nicht aus. Das einzige, was ihr einfiel, waren ein paar Imbißstuben, in denen es Pizza oder Hamburger gab. Dad überlegte einen Augenblick, dann lächelte er. Dabei sah er fast jungenhaft aus. "Hast du Lust auf ein kleines Abenteuer?" "Ich...ich glaube schon", stammelte Andrea und rätselte, was er wohl vorhatte. "Dann laß uns in die Stadt ins Griechenviertel fahren. Deine Mutter und ich haben früher oft dort gegessen. Ich bin neugierig, ob sich viel verändert hat." Andrea überlegte bei seinen Worten, wie ihre Mutter früher wohl gewesen war. Mom sprach nie darüber,was sie in den ersten Jahren ihrer Ehe gemeinsam mit ihrem Mann unternommen hatte. Immer war sie nur die stille, in sich gekehrte Person, stand im Schatten von Großmutters starker Persönlichkeit. Dan parkte das Auto an einer Straßenecke. Andrea und ihr Vater schlenderten eine halbe Stunde lang herum, betrachteten die engen Straßen mit den schmalen, alten Gebäuden. Dan zeigte Andrea die griechischen Spezialitäten wie Baklava oder - 50 -
Halva, die in den Schaufenstern, ausgestellt waren und die farbenfrohen, handgearbeiteten Stofftaschen, griechische Kleider und die typisch griechische Töpferware. In einem dieser Läden bestand Dan darauf, für Andrea eine Folklorebluse zu kaufen, die sie sehr bewundert hatte. Sprachlos vor Freude preßte Andrea die Tüte mit der Bluse an sich, als sie neben ihrem Vater die Straße entlang ging. Unterwegs kamen sie auch an einer Taverne vorbei. Andrea blieb neugierig stehen, doch Dan zog sie weiter und erklärte ihr, daß sich in solchen Tavernen die griechischen Männer nach der Arbeit trafen, um sich zu entspannen. Die lauten, rauhen Stimmen aus dem Lokal bestätigten, daß es dabei feuchtfröhlich zuging, und Andrea war einverstanden, ein ruhigeres Restaurant zu suchen. An einer Straßenecke fanden sie, was sie wollten: Eine kleine Kneipe, zwar dunkel, aber mit vielen robusten Holztischen, in die zahlreiche Namen und Sprüche eingeritzt waren. Obwohl der Eßraum nicht besonders gemütlich wirkte, roch es so lecker nach Lamm, Rindfleisch und verschiedensten Gewürzen, daß Andrea das Wasser im Mund zusammenlief. Unsicher studierte sie die fremd klingenden Gerichte auf der orangefarbenen Speisekarte. Ihr Vater erklärte ihr einiges, und nach zehn Minuten entschied Andrea sich für ein Sandwich und einen griechischen Salat. Ihr Vater bestellte sich Souvlaki mit Salat, zum Nachtisch beide Baklava. Während sie auf ihr Essen warteten, wollte Dan alles über die Freunde, die Schule und das Eislaufen seiner Tochter wissen. Anfangs fühlte Andrea sich ein bißchen unsicher, doch ihr Vater hatte eine so offene und frische Art, daß Andrea bald auftaute. Sie prustete laut los, als er ihr über eine Bärenjagd in Alaska erzählte und berichtete ihm dann von einigen komischen Erlebnissen, die sie als Pizzabäckerin in der Snackbar der Eishalle gehabt hatte. Als sie ihm von ihren ersten, unsicheren Schritten auf dem Eis erzählte, verdüsterte sich seine Miene. "Ich wäre gern dabeigewesen", sagte er mit rauher Stimme. "Deine ganze - 51 -
Kindheit habe ich verpaßt. Jetzt bist du schon eine junge Dame, fast erwachsen. Hast du eigentlich einen Freund?" Andrea wurde rot und dachte an Greg Banyon. In dem schummrigen Licht konnte ihr Vater zum Glück das verräterische Zeichen nicht sehen, und Andrea schüttelte schnell den Kopf. Dad seufzte erleichtert. "Ich muß zugeben, daß ich froh darüber bin. Die Erfahrungen, die deine Mutter und ich mit einer Teenagerliebe gemacht haben, sind nicht gerade ermutigend. Du weißt ja, daß LIsa und ich geheiratet haben, noch bevor sie mit der Schule fertig war. Und schon im nächsten Jahr kamst du." Der Kellner brachte das Essen. Nachdem er wieder gegangen war, sah Dan seine Tochter fragend an. "Was weißt du eigentlich darüber, warum deine Mutter und ich uns getrennt haben?" Andrea biß sich auf die Unterlippe. Sie wußte ja kaum was, und das wenige hatte sie hauptsächlich von Granny. Selbst an dem Morgen, als sie Andrea im Auto Dads Besuch angekündigt hatte, war sie nicht besonders redselig gewesen. "Ich weiß, daß du nach Alaska gegangen bist, weil du dort einen Job annehmen wolltest", sagte Andrea. "Und ich weiß, daß Mom die Großmutter nicht allein lassen wollte." Dan McClellan nickte still und begann zu essen. Auch Andrea biß in ihr Sandwich, aber so richtig genießen konnte sie es nicht. Sie war viel zu gespannt, was ihr Vater jetzt sagen würde. "Das ist schon alles richtig", gab Dan schließlich zu. "Aber ich denke, wenn du die ganze Geschichte verstehen willst, mußt du mehr über die ersten Jahre unserer Ehe wissen. Wie gesagt, wir waren beide Teenager. Wir hatten kein Geld, um uns eine eigene Wohnung zu nehmen, also mußten wir bei deiner Großmutter im Haus leben. Ich war damals sehr ehrgeizig, Andrea. Mein Vater, also dein Großvater, hat sein Leben lang als ungelernter Arbeiter in einer Fabrik geschuftet. Und ich wollte es besser machen als er. Also studierte ich
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tagsüber und arbeitete nachts am Fließband. Vielleicht kannst du dir vorstellen, was das für eine junge Ehe bedeutete. Und deine Mutter war auch ehrgeizig. Sie war zu jung, um damit zufrieden zu sein, den ganzen Tag mit einem Baby zu Hause zu bleiben. Ihr Wunsch war schon immer, Kindergärtnerin zu werden. Als du dann alt genug warst, um in den Kindergarten zu gehen, wollte sie mit der Ausbildung anfangen." Andrea versuchte, sich die Situation von damals vorzustellen: Ihre junge, frustrierte, ans Haus gebundene Mutter, der jugendliche Vater und die scharfzüngige Großmutter, alle unter einem Dach. Diese Konstellation schien das Chaos geradezu herauszufordern. Als sie das ihrem Vater sagte, nickte er und seufzte tief. "Nachdem ich mein Ingenieurdiplom in der Tasche hatte und mich nach einer Stellung umsah, ging endgültig alles schief. Damals gab es in Detroit kaum freie Stellen, ich konnte nichts passendes finden. Außerdem wollte ich ganz neu anfangen. Versuche bitte, das zu verstehen, Andrea. Ich war jung, hatte fünf harte Jahre hinter mir, in denen ich nur gearbeitet und gelernt hatte und obendrein unter der Fuchtel meiner Schwiegermutter leben mußte." Er schüttelte den Kopf bei der Erinnerung an den Streß, dem er damals ausgesetzt gewesen war. "Ich wollte ein bißchen Freiheit, Abenteuer und ein paar Chancen, bevor es zu spät war. Als ich dann das Angebot aus Alaska bekam, erschien es mir wie ein Geschenk des Himmels, ich hatte endlich die Möglichkeit, von hier wegzukommen. Ich war Feuer und Flamme und bin nach Hause gerannt, um deiner Mutter davon zu erzählen." "Aber Mom wollte nicht nach Alaska", ergänzte Andrea. "Nein", bestätigte Dad leise, "sie konnte mich nicht verstehen. Heute muß ich zugeben, daß ich damals zu verbohrt war, um ihre Bedenken genau anzuhören. Die Streitereien darüber gaben unserer Ehe den Rest. Das ist keine schöne Geschichte, Andrea, und es tut mir wirklich leid, daß du darunter Ieiden mußtest."
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Vater und Tochter beendeten ihre Mahlzeit schweigend. Andrea stocherte in ihrem Salat herum, wußte nicht, was sie zu dem eben Gehörten sagen sollte. Auch Dan McClellan war nachdenklich, er grübelte über die Vergangenheit nach. Er tat Andrea leid, ihre Mutter tat ihr leid, und sich selbst bemitleidete Andrea auch. Wie anders wäre ihr Leben wohl verlaufen, wenn ihr Vater immer dagewesen wäre? Beim Gedanken an all das, was sie versäumt hatte, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Als sie im Auto saßen, machte Dad plötzlich einen Vorschlag. "Was hältst du davon, wenn wir einen Abstecher zum See machen, bevor ich dich zu Hause absetze?" Andrea war sofort einverstanden. Sie wollte nicht, daß der Abend mit ihrem Vater jetzt schon zu Ende war, bestimmt hatten sie einander noch viel mehr zu sagen. Außerdem war es immer ein Erlebnis, am See entlang zu fahren. Schon als Kind hatte Andrea Sonntagsausflüge dorthin geliebt. Sie mochte die elegante Uferstraße mit den prachtvollen Villen auf der einen und dem glitzernden Wasser des Lake St. Clair auf der anderen Seite. Die riesigen Villen waren durch Zäune, Mauern und Bäume vor allzu neugierigen Blicken geschützt. Trotzdem konnte man von Zeit zu Zeit einen Blick auf eines der Anwesen erhaschen und sich den Glanz und Reichtum der Besitzer vorstellen. Andrea hatte ihre Lieblingshäuser in dieser Straße und betrachtete sie jetzt bewundernd im Vorbeifahren. Und auf der anderen Seite lag der See in seiner ganzen Schönheit. An manchen Tagen erinnerte er an dunkelblaue Seide, während bei Sturm die Wellen kraftvoll gegen die Uferbefestigung klatschten. Und manchmal fror der See im Winter sogar zu, so daß man dort Schlittschuhlaufen konnte. Auch hatte sie schon öfter junge Leute dort Hockey spielen sehen und war immer neidisch auf sie gewesen. Aber weder Mom noch Granny hätten ihr je die Erlaubnis gegeben, dort Eiszulaufen. Dazu waren beide zu ängstlich.
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Andrea schaute nachdenklich zu ihrem Vater. Ob er es erlaubt hätte? Ohne Zweifel war er wesentlich abenteuerlustiger als Mom oder Granny. Andrea fand, daß es damals sehr mutig gewesen war, einfach alles hinter sich zu lassen und ein neues Leben ausgerechnet in Alaska anzufangen. Er war so anders als die schüchterne, stille Mom, die immer ihre Sicherheit brauchte. Andrea fragte sich, was die beiden wohl überhaupt aneinander gefunden haben mochten. Vielleicht stimmte es ja, daß Gegensätze sich anziehen. Greg Banyon fiel ihr ein, der ja auch total anders war als sie selbst, er war selbstsicher, sie aber voller Komplexe. Waren sie beide auch solche Gegensätze? Dad und sie waren inzwischen an der schönsten Stelle des Seeufers angelangt, am "Grosse Pointe Jachtklub". Das Gebäude direkt am See sah mit seinem hohen Turm gegen den mondbeschienen Himmel aus wie ein romantisches, italienisches Schloß. Die beleuchteten Fenster spiegelten sich im Wasser. "Es scheint, als ob dort gerade eine Party stattfindet", stellte Dad fest, als er die zahlreichen Cadillacs auf dem Parkplatz sah. Er bog in die Einfahrt ein, und Andrea dachte, er würde jetzt wenden. Doch ihr Vater stellte den Motor ab und trommelte nervös mit den Fingern aufs Lenkrad. "Andrea", begann er schließlich und sah seine Tochter an. "Ich denke, du hast vorhin bei euch im Wohnzimmer schon mitbekommen, daß deine Mutter und deine Großmutter mir eine Menge Vorwürfe machen. Ich selbst mache mir auch welche." Dad fuhr sich mit der Hand durch sein volles Haar. "Bitte, glaube mir, ich habe dich und deine Mutter immer geliebt. Wäre sie damals mitgekommen, hätten wir unsere Ehe vielleicht noch retten können." Andrea versuchte, sein Gesicht zu erkennen, aber es war im Wagen zu dunkel. Lediglich an seiner Stimme merkte man, daß er es ernst meinte. - 55 -
Durch das offene Wagenfenster klang Musik vom Jachtklub herüber. Es war ein bekanntes Liebeslied, ergreifend und schön, und Andrea fühlte sich plötzlich unendlich traurig. Dans nächste Worte änderten alles. "Ich bin nie ein Freund davon gewesen, lange über die Vergangenheit zu trauern", sagte er entschlossen. "Die Zukunft ist es, die zählt. Während all der Trennungsjahre wollten weder deine Mutter noch ich die offizielle Scheidung, um jemand anders zu heiraten. Vielleicht sagt das etwas über unsere wahren Gefühle, das gilt zumindest für mich. Ich möchte eine Chance haben herauszufinden, ob wir nicht doch noch mehr füreinander empfinden, als wir denken." Sanft berührte Dan Andreas Schulter und sah ihr direkt in die Augen. "Ich möchte dich um Hilfe bitten. Wenn wir nächstes Wochenende auf der Belle Isle ein Picknick machen, glaubst du, du könntest deine Mutter überreden mitzukommen?" "Ich werd's versuchen", versicherte Andrea, ganz aufgeregt über seinen Vorschlag, voller Hoffnung. Sie stellte sich ihre einsame Mutter und ihren Vater wieder vereint vor, dieses Bild gefiel ihr ausgesprochen gut. Wenn sie irgendwie helfen konnte, ihre Eltern wieder zusammenzubringen, war sie zu allem bereit. Dad setzte Andrea vor der Haustür ab. Mom saß im Wohnzimmer und strickte einen Pullover. Immer, wenn Lisa McClellan nervös oder beunruhigt war, strickte sie. So war Andrea im Laufe der Jahre zu einer ganzen Menge selbstgestrickter Sachen gekommen. Lisas Nadeln klapperten heftig, ein sicheres Zeichen, daß sie völlig durcheinander war. Sie warf Andrea ein gequältes Lächeln zu, als diese das Wohnzimmer betrat. "War's nett?" "Sehr", antwortete Andrea. "Wir haben im Griechenviertel gegessen." Lisa sah betreten zur Seite, gab nur ein kurzes "oh" von sich. Dachte sie jetzt vielleicht daran, wie sie früher mit Dad dort gewesen war, als sie noch ineinander verliebt waren? - 56 -
"Hat...hat dein Vater etwas über mich gesagt?" fragte Lisa zögernd und wühlte in ihrem Wollkorb. Selbst ohne Brille bemerkte Andrea, wie ihre Mutter rot geworden war und um Beherrschung bemüht war. "Er sagte, daß er dich noch liebt", platzte Andrea heraus. O, Mensch, das hätte ich lieber nicht sagen sollen, dachte sie sofort. So läuft das bestimmt falsch. Lisa sah auf, die Lippen zusammengepreßt. Mit einer heftigen Bewegung warf sie ihr Strickzeug in den Korb. "Dann hat er dir Märchen erzählt", zischte sie bissig, stand auf und ging kerzengerade mit steifen Bewegungen aus dem Zimmer. Betrübt sah Andrea ihr nach, strahlte aber dann: Mom mußte doch noch etwas für Dad empfinden, sonst hätte sie nicht so heftig reagiert. Andrea atmete auf. Zufällig fiel ihr Blick auf den Wohnzimmertisch, und sie ging neugierig näher. Dort, auf Großmutters Platz, lagen die Prospekte aus Arizona, die Mrs. Buckridge ihr letzte Woche gezeigt hatte.
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6. KAPITEL "So, jetzt los." Vor lauter Konzentration runzelte Andrea die Stirn. Sie lief aus der einen Ecke der Eisbahn diagonal auf die gegenüberliegende leere Ecke zu. "Zuerst eine langgezogene Drei vorwärts", sagte sie sich selbst vor, "jetzt fertigmachen, einen Fuß nach hinten setzen und mit dem anderen auf die Zehenspitze gehen für den Absprung..." Aber irgend etwas stimmte nicht, und noch bevor sie das Eis wieder berührte, wußte sie, daß eine Polandung fällig war. Andrea stöhnte. "Noch ein paar Mal, und ich kann morgen nicht mehr sitzen. Was mache ich bloß falsch?" schimpfte sie laut vor sich hin. Seit zwanzig Minuten versuchte sie nun den doppelten Toeloop immer mit dem gleithen Mißerfolg. Es war sogar noch schlimmer als letzte Woche. Sie war so frustriert, daß sie hätte heulen mögen. Und beinahe hätte sie laut losgeschrien. Denn als sie hochschaute, sah sie Greg Banyon mit langen, leichten Schritten auf sie zukommen. Er amüsierte sich anscheinend königlich. Warum mußte er sie auch dauernd dabei erwischen, wenn sie auf allen vier Buchstaben landete? "Wenn du da noch länger sitzenbleibst, frierst du fest", spottete er und streckte seinen starken Arm aus, um ihr auf die Füße zu helfen. Andrea mochte ihn nicht angucken. Es fiel ihr auch keine passende Bemerkung auf seinen frechen Spruch ein. Aber das war ja meistens so, sie war eben verklemmt, ärgerte sie sich. Stumm ergriff Andrea seine Hand, und Greg zog sie sanft hoch. Warum war er eigentlich um diese Uhrzeit hier, sonst kam er doch immer nur zu den morgendlichen Übungsstunden.
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Verwundert betrachtete Andrea seine blau-rote Jacke. Es war die Uniform, die die Beschäftigten in der Eishalle anhatten. "Warum trägst du diese Jacke?" Greg sah unschuldig an sich hinunter. "Steht sie mir nicht? Ich finde. sie paßt gut zu meiner Augenfarbe." Andrea nickte. "Nein, genau anders rum. Deine Augenfarbe ist so leuchtend blau, daß dadurch die Jacke besser wirkt." Mein Gott, dachte sie, wie kann ich bloß so was sagen? Jetzt weiß er, daß ich ihn toll finde. "So, du kannst also doch sprechen. Ich hatte mich schon gefragt, ob du eines von diesen stillen, tiefen Wassern bist", witzelte Greg. Schon wieder hatte der Typ Andrea verunsichert, sie wurde noch zurückhaltender als bei anderen Jungen. Klar, daß er das nicht merken sollte. Überhaupt merkte der schon viel zu viel. Ob er sie jetzt wohl auslachte? Sie wollte rückwärts um ihn herumlaufen, aber Greg stellte sich ihr grinsend in den Weg. "Also, hör zu, ich trage diese Jacke, weil Ned mir einen Job als Mädchen für alles gegeben hat. Deshalb wollte ich auch neulich morgens in sein Büro." Andrea wunderte sich, "Warum gerade dieser Job? Mit deinen Qualifikationen könntest du doch Unterricht geben." Er hatte doch viel mehr drauf als sie, warum hatte Ned nicht ihm Lindas Job angeboten? Greg zuckte mit den Schultern. "Im Moment sind alle Trainer-Stellen besetzt. Und nächstes Jahr, wenn Linda geht, werde ich wahrscheinlich am College sein. Übrigens", entwaffnend lächelte er Andrea an, "ich wollte schon immer mal einen Zamboni fahren, und jetzt habe ich endlich die Gelegenheit." Andrea wußte, was er meinte. Der Zamboni war eine riesige Maschine, die benutzt wurde, um die Eisfläche zu glätten. Sie hatte auch oft davon geträumt, einmal diese Maschine zu fahren, hatte aber dabei furchtbare Angst, die Barriere zu rammen.
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Jeder bewunderte Neds lässige Art, mit dem schweren Gerät umzugehen. Auf den Millimeter genau fuhr er an die Holzbande heran, berührte sie aber nie. "Kann ich mal mitfahren?" fragte Andrea scheu. Gregs Augen leuchteten auf. "Wir wollen sehen." Er kam näher und sah Andrea fragend ins Gesicht. "Ich unterrichte nicht, aber das heißt nicht, daß ich nicht hin und wieder Lust dazu hätte. So wie jetzt", fügte er hinzu. Es waren tatsächlich nur sehr wenige Leute auf dem Eis. "Laß mich dir bei deinem Sprung helfen, bevor du noch völlig verzweifelst. Ich muß sowieso die nächsten zwei Stunden hier sein." Andrea sah betreten auf das Eis. "Es gibt keinen Grund, warum du..." wollte sie ablehnen, aber Greg schnitt ihr das Wort ab. "Lauf noch mal an, ich beobachte dich." Andrea begegnete seinem Blick, der so ermutigend wirkte. "Okay", antwortete sie und bereitete sich brav für den Sprung vor. Als sie die Drei gefahren war und den Fuß nach hinten ausstreckte, stoppte Greg sie. "Paß auf, Andrea, du hast nicht genug Schwung. Du kannst nicht wie eine lahme Ente zu einem Doppelsprung ansetzen. Du mußt aggressiver sein. Die Arme mußt du so halten, den Kopf hoch und den Körper gestreckt." Greg machte es vor, seinen athletischen Körper völlig unter Kontrolle. Bei ihm wirkte der Sprung kinderleicht, dachte Andrea. Und ich sehe in seinen Augen bestimmt wie der letzte Trampel aus. Geduldig aber hartnäckig gab ihr Greg weitere Anweisungen, und nach ein paar Minuten war ihre Unsicherheit fast überwunden. "Du holst mit dem Schwungbein nicht weit genug aus, das Sprungbein beugst du nicht tief genug", korrigierte Greg ihre Haltung. "Benutz auch deine Arme für den Schwung, spring ab und dreh dich. Denk dran, die Drehung erfolgt aus dem Oberkörper. Dann klappt's bestimmt." Andrea gab sich alle Mühe, Gregs Tips so gut wie möglich zu befolgen. Beim dritten Versuch schaffte sie immerhin die
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doppelte Drehung in der Luft, landete aber auf beiden Füßen gleichzeitig. "Na siehst du, das war schon viel besser", ermutigte Greg sie. "Aber du springst immer noch ein bißchen zu hastig ab. Hast du Angst vor dem Sprung?" "Ich glaube ja", gab Andrea zu. "Aber warum? Du hast doch gelernt, wie man fallen muß, um sich nicht zu verletzen." "Ich weiß auch nicht." Andrea versuchte, es ihm zu erklären. "Ich habe einfach Angst, rückwärts zu springen. Und wenn hier noch andere rumlaufen, dann denke ich, ich könnte jemanden hinter mir übersehen und ihn umfahren." Sie deutete auf die Kinder, die kreuz und quer über die Eisfläche sausten. "Das verstehe ich schon", sagte Greg. "Aber jetzt bin ich doch da.Und ich passe schon auf, daß nichts passiert." Andrea lachte. "Aber du kannst mich nicht ständig bewachen wie eine Glucke ihre Küken." "Sag das nicht. In Zukunft werde ich zu den Nachmittagsöffnungszeiten meistens hier sein, und dann passe ich auf dich auf." Andrea staunte. Warum war ein solcher Traumtyp nur so nett zu ihr? In dem Neonlicht der Eishalle schimmerten seine blonden Locken silbrig. Seine kalifornische Bräune begann langsam zu verblassen, aber das machte ihn nicht um einen Deut weniger attraktiv. "Das kann ich nicht verlangen...", begann Andrea zögernd, doch Greg schüttelte nur lachend den Kopf. "Du verlangst ja gar nichts von mir, ich biete es dir an. Hast du das noch nicht gemerkt? Ich will dir was sagen, du tust mir sogar einen Gefallen damit, wenn du meine Hilfe annimmst. Für mich ist das jetzt eine harte Zeit. Ich bin daran gewöhnt, mich den ganzen Tag auf der Eisbahn rumzutreiben. Jetzt muß ich die meiste Zeit über meinen Schulbüchern sitzen. Das ist eine wahnsinnige Umstellung." Greg sah richtig gequält aus. "Versteh mich nicht falsch. Es tut mir nicht leid, daß ich die Wettkämpfe aufgegeben habe. Das habe ich mir vorher genau überlegt. Ich habe mir ausgerechnet, wieviel Zeit es mich kostet, für die - 61 -
Nationalmeisterschaft zu trainieren. Und mir ist klar geworden, daß ich überhaupt keine Lust habe, später mal in Eisrevuen aufzutreten oder Trainer zu werden. Warum also weitermachen? Ich möchte Jurist werden wie mein Vater. Der entwirft zur Zeit Gesetze gegen Umweltverschmutzung, und das finde ich wirklich wichtig. Vielleicht kann ich auch mal in dieser Richtung arbeiten." Greg fuhr sich mit der Hand durch die Locken. "Trotzdem komme ich halt schwer vom Eissport weg. Und wenn es erst mal los geht mit den regionalen und nationalen Meisterschaften und ich nicht mehr dabei bin, dann wird das alles noch viel schlimmer. Also, du siehst, wenn ich dir helfen kann, helfe ich mir selbst damit. Es macht mir Spaß, ein bißchen mit dir zu trainieren, und ich habe Ablenkung." Sie liefen jetzt nebeneinander her auf den Ausgang zu. Gleich mußte Andrea mit ihrem Job in der Snack-Bar beginnen. Gregs Angebot ging ihr nicht aus dem Kopf. Meinte er es wirklich ernst, oder wollte er sie nur auf den Arm nehmen? Warum hatte er sich ausgerechnet sie ausgesucht? Hatte er etwa Mitleid mit ihr? Andrea versuchte, aus seinem Gesichtsausdruck schlau zu werden, aber da waren nur die ebenmäßigen Züge eines gutaussehenden blonden Jungen. Und dann kam ihr ein neuer Verdacht. Er wollte sie durch seine Hilfe doch nicht etwa dazu bringen, doch an einem Wettkampf teilzunehmen? Aber als sie ihn fragen wollte, lief Greg gerade los, um einem kleinen Mädchen zu helfen, das ein paar Meter entfernt gestürzt war. Andrea mochte einfach nicht gehen, konnte sich von Gregs Anblick nicht losreißen. Vielleicht kam er ja noch mal zurück. Aber nachdem er das Kind aufgehoben hatte, schoß er mit leichten, eleganten Bewegungen davon. Als er für einen Augenblick ein paar Meter freien Raum um sich herum hatte, sprang er in eine Pirouette. Sie war perfekt ausgeführt. Im Nu sammelte sich eine Schar von Kindern um ihn herum, alle starrten ihn bewundernd an.
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Das wird Ned gefallen, dachte Andrea und machte sich auf den Weg zum Aufenthaltsraum. Der Manager sah es gern, wenn die Eiskunstläufer in der öffentlichen Laufzeit ihre Kunststücke vorführten. Aber bis jetzt war Andrea immer die einzige gewesen, die das getan hatte. Wahrscheinlich würde Ned nach Gregs Vorführung heute mit Neuanmeldungen für Gruppenunterricht überschwemmt werden. Heute waren mehr Leute als sonst da, stellte Andrea fest, als sie die Snack-Bar öffnete. Richtig voll allerdings würde es im Winter werden. Erst bei Eis und Schnee dachten die meisten ans Eislaufen. Andrea kochte Kaffee, servierte Cola und warme Brezeln und dachte dabei an Greg. Jetzt verstand sie seine Entscheidung besser. Aufzuhören war vernünftig, wenn er nicht Schauläufer oder Trainer, sondern Jurist werden wollte. Sicher, es gab Beispiele, daß ehemalige Olympiasieger Arzt oder Rechtsanwalt geworden waren. Aber heutzutage erforderte es unglaubliche körperliche Anstrengung, an die Spitze zu kommen. Und nach dem Sport noch mit einer völlig anderen, neuen Ausbildung zu beginnen, war fast unmenschlich. Vor allem für denjenigen, der wegen des Sports die Schule hatte schleifen lassen. Sicher war es schwer für Greg, nicht mehr zur Eislaufrevue dazuzugehören, nachdem er so viele Titel geholt hatte und schon als Amerikas Nachwuchsstar galt. Andrea konnte das gut verstehen. Als ob plötzlich jeder aufs College will, überlegte Andrea weiter. Sie selbst hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, was sie nach dem Abitur anfangen wollte. Sie hatte nur auf den Job gehofft, den Ned ihr jetzt für das nächste Jahr angeboten hatte. Aber vielleicht ist das für mich auch nicht das Wahre, grübelte Andrea. Sie mußte den Tatsachen ins Auge blicken: ohne ein gutes Ergebnis bei einem Wettkampf wäre ihre - 63 -
Karriere als Privatlehrerin schnell zu Ende. Wütend schnitt sie den Hot Dogs eine Grimasse. Greg und seine verrückte Idee mit dem Wettkampf! Aber recht hatte er, sie sollte es probieren. Nur, allein bei dem Gedanken daran fing sie schon wieder an zu zittern. Vielleicht sollte sie das Eislaufen auch ganz aufgeben und sich für einen Beruf entscheiden. Wobei klar war, Kindergärtnerin würde sie auf keinen Fall werden, um dann abends müde und kaputt wie Mom heimzukommen. Von ihrer Mutter wanderten ihre Gedanken ganz automatisch zu ihre Vater. Mom brauchte Dd, entschied Andrea, damit er auf sie aufpaßt, ihre Sorgen mit ihr teilt. Die Frage ist nur, wie bringt man die zwei wieder zusammen? Sicher war nur eins: Lisa McClellan würde zu dem Picknick auf der Belle Isle mitkommen, schwor sich Andrea, und wenn sie sich auf den Kopf stellen mußte, um Mom zu überreden. Während sie den Tresen wischte und die Lebensmittel wegräumte, begann sie, Schlachtpläne zu schmieden. Dad hatte gesagt, daß er heute keine Zeit hatte, aber morgen abend vorbeikommen würde. Vielleicht könnte sie dann Mom zu einem Spaziergang überreden. Das wäre jedenfalls schon mal ein Anfang. Andrea hatte keine Ahnung, wie lange ihr Vater in Detroit bleiben wollte. Er hatte nichts darüber gesagt, und sie mochte ihn auch nicht aushorchen. Schade, wenn er nur für einen kurzen Urlaub hier wäre, aber den Eindruck machte er eigentlich nicht. Tagsüber hatte er irgendwelche Termine, und von der Abreise wurde bisher nicht gesprochen. Ob er vielleicht für immer blieb? Andreas Hände zitterten. Je eher sie den Stein ins Rollen brachte, desto besser. Zehn Minuten später zog Andrea das Gitter vor dem Tresen der Bar herunter. Aus den Augenwinkeln sah sie Greg durch die Schwingtür kommen. Er setzte sich, zog die Schlittschuhe aus und alberte dabei mit ein paar Kindern herum, die ihm gefolgt waren. Es waren nur noch wenige hier, die meisten waren schon zum Abendbrot nach Hause gegangen. Andrea nahm einen Besen und fing an, die Krümel und das Papier zusammenzufegen. Sie freute sich, als einen Moment
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später Greg neben ihr stand, ebenfalls mit einem Besen bewaffnet. "Soll ich dich nach Hause fahren?" bot er an und fegte die letzten Popcornreste auf eine Schaufel und kippte sie in einen Mülleimer. Andrea erschrak. Sie konnte Greg doch nicht das schäbige kleine Haus zeigen, in dem sie wohnte? Wie dagegen mußte sein Zuhause in Grosse Pointe aussehen. Und was, wenn er noch mit reinkommen wollte und Großmutter schlecht gelaunt wie immer auf ihrem zerschlissenen Sofa in dem kleinen, düsteren Wohnzimmer saß. Andrea hatte noch nie einen Jungen mit nach Hause gebracht. Wie Granny wohl darauf reagieren würde? Eigentlich schämte Andrea sich über sich selbst, weil sie solche Hemmungen hatte. Aber sie konnte es nicht ändern. "Ich wohne nicht weit von hier, und muß noch ein paar Besorgungen machen", redete sie sich heraus. "Aber vielen Dank." Greg zuckte mit den Schultern, nur seine Augen verengten sich leicht. "Hast du mal über den ,Ann-Arbor-Wettkampf' nachgedacht?" fragte er scheinbar ganz nebenbei. Sie gingen nebeneinander zur Tür, dabei paßte Greg seine langen Schritte Andreas viel kürzeren an. "Nein", antwortete Andrea. Also war das doch der Grund, warum er ihr seine Hilfe angeboten hatte. Naja, sie hatte es ja gleich gewußt. "Ned hat Anmeldeformulare im Büro liegen." Andrea holte tief Luft, bevor sie ihn ansah. Warum sollte sie es nicht jetzt gleich hinter sich bringen. "Ich habe dir schon gesagt, daß ich kein Interesse daran habe." "Ich weiß, was du mir gesagt hast. Aber ich habe es nicht ernst genommen", gab er lächelnd zurück. Er hatte es nicht ernst genommen! Das war ja wohl der Gipfel! "Warum nervst du mich dauernd damit?" fragte Andrea sauer. Greg seufzte ungeduldig. "Sei doch nicht so ein Angsthase. Melde dich an, und ich helfe dir beim Training. Wir hätten bestimmt viel Spaß zusammen." - 65 -
Das war ja das allerletzte. Was dachte der sich überhaupt? Andrea zog die Brauen zusammen und streckte das Kinn vor. "Nein! Nein!" zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Wütend rauschte sie durch die Eingangstür davon, doch Greg blieb ihr dicht auf den Fersen. Sie versuchte, ihn zu ignorieren, ging noch schneller. Aber Greg Banyon war kein Typ, der sich so einfach abschütteln ließ. Ihre Nackenhärchen sträubten sich, als sie seine Stimme dicht hinter sich härte. "Du machst es doch, Andrea. Ich gebe nicht auf, ich kriege dich schon dahin, wo ich dich haben will, mein Mädchen." Er lachte laut. Andrea riß es fast von den Socken. Was zum Teufel meinte er nun wieder damit?
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7. KAPITEL Der grüne Ford bog nach links in den Grand Boulevard und fuhr über die Douglas McArthur-Brücke in Richtung Belle Isle. Auf dem Rücksitz saß Andrea höchst zufrieden, denn vor ihr saßen Mom und Dad friedlich nebeneinander. "Es war nicht leicht", hatte sie gestern abend Anne am Telefon berichtet, "aber ich habe es doch geschafft. Am Mittwoch konnte ich Mom überreden, mit Dad und mir spazieren zu gehen. Und am Donnerstag waren wir drei gemeinsam beim Griechen." "Und wie sind sie so zusammen?" hatte Anne wissen wollen. "Zuerst ein bißchen steif. Dann aber sind sie aufgetaut und haben sogar miteinander rumgeflachst. Morgen auf der Belle Isle findet der große Test statt." Jetzt zwinkerte Anne, die neben Andrea auf dem Rücksitz saß, ihr verschwörerisch zu. Andrea zwinkerte zurück und blickte mit glänzenden Augen aus dem Autofenster. Bis jetzt lief alles prima. Sogar das Wetter war traumhaft ein richtig schöner Altweibersommertag. Als sie über die Brücke fuhren, glitzerte der Detroit River wunderschön im Sonnenlicht. "Wußtet ihr das eigentlich?" fragte Anne, die den Kopf aus dem Fenster hielt und eine Informationstafel für Touristen entdeckt hatte. "Man hat die Belle Isle den Chippewa- und Ottawaindianern für fünf Fässer Rum, drei Ballen Tabak und drei Kilo rote Farbe abgekauft." Lisa McClellan lachte. "Nein, das wußte ich nicht, aber ich weiß zum Beispiel, daß die Insel früher Schweineinsel hieß, weil die ersten Siedler hier ihre Schweine züchteten." Langsam fuhren sie an der Lagune vorbei zum östlichen Ende der Ausflugsinsel. - 67 -
"Also, was wollt ihr zuerst machen?" fragte Dan. "In den Zoo, bitte", rief Andrea. Auch Lisa und Anne waren dafür, und so marschierten sie die nächsten eineinhalb Stunden durch das Safariland, besichtigten alle exotischen Tiere, die dort lebten. Als sie die Affen mit Erdnüssen fütterten, bekamen Andrea und Anne auch Hunger. Dan holte einen Picknickkorb, den er in der Nähe seines Hotels in einem Feinkostladen hatte packen lassen. Am Seeufer fanden sie ein lauschiges Plätzchen, verspeisten kaltes Brathuhn, französisches Baguette und frisches Obst. Andrea schälte gerade eine Banane und plinkerte dabei, weil sie versuchte, einem Surfer auf dem See zuzuschauen. Als sie aufschaute, bemerkte sie den besorgten Blick ihres Vaters. "Brauchst du eine Brille?" fragte er. Andrea wurde rot, dieses Thema kannte sie nur zu gut. "Sie ist kurzsichtig", erklärte Lisa, "aber sie will ihre Brille nicht tragen, weil sie sich damit nicht leiden mag." Dan lachte und neckte sie. "Aha, das Fräulein ist eitel! Hast du deine Brille dabei, Andrea? Setz sie doch mal auf, damit ich selber beurteilen kann, wie du damit aussiehst." Andrea war das alles furchtbar peinlich. Aber sie nahm folgsam ihre Brille aus dem Etui, setzte sie auf und blickte ihren Vater trotzig an. Dan legte den Kopf auf die Seite und betrachtete sie prüfend. "Lisa, ich finde, sie hat recht. Die Brille steht ihr nicht, außerdem sieht man nichts mehr von ihren hübschen, großen Augen. Andrea braucht Kontaktlinsen. Mal sehen, vielleicht kann ich da was machen. Was hältst du davon, wenn ich dir welche zum Geburtstag schenke, Andrea?" Lisa und Dan amüsierten sich über Andreas Begeisterungsausbruch. Was ist das heute bloß für ein Tag! dachte Andrea und beobachtete verstohlen ihre Eltern. Dan hatte eine Flasche Chablis mitgebracht, die er jetzt feierlich entkorkte. Er goß den Wein in zwei Gläser. Andrea sah zur Seite, niemand sollte das Strahlen auf ihrem Gesicht sehen.
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Dad wußte, wie er Mom behandeln mußte. Ihre Augen leuchteten, als ihr Mann ihr das Weinglas reichte. Richtig gut sieht sie aus, fand Andrea. Moms schlanke Figur kam in Jeans und dem hellblauen Sweatshirt toll zur Geltung. Beide, sowohl Dan als auch Lisa sahen ausgesprochen jung aus, aber sie waren ja auch jung. Viel jünger, als die Eltern ihrer Klassenkameraden. Harte Zeiten hatten sie hinter sich, jetzt verdienten sie wirklich ein gemeinsames Glück. Nach dem Essen schlug Dan vor, Boote zu mieten und auf dem Lake Takoma zu rudern. Die Mädchen waren begeistert. Andrea achtete darauf, daß sie mit Anne in ein Boot stieg, damit Dan und Lisa in ihrem Kanu allein waren. Die beiden Teenager paddelten schnell los, damit sie außer Hörweite der Erwachsenen kamen. Anne grinste ihre Freundin breit an. "Du hast heute deinen großen Tag, oder, Andrea, altes Haus? Vorhin im Zoo klebten deine Augen die ganze Zeit an deinen Eltern, dabei hast du gar nicht gemerkt, daß du mich fast in den Bärenkäfig geschubst hättest. Und eben hättest du mich bestimmt ins Wasser gestoßen, wenn ich bei deinem Vater ins Boot gestiegen wäre. Findest du nicht, daß es jetzt reicht? Wer weiß, was jetzt noch alles kommt?" Andrea kicherte. Dann lächelte sie entschuldigend. "Du bist mir doch nicht böse, oder? Du weißt, daß diese Sache für mich unheimlich wichtig ist." Anne schüttelte den Kopf, ihre Locken wehten in dem leichten Seewind. "Logisch nicht. Ich bin doch deine Freundin. Übrigens finde ich, daß die beiden ein tolles Paar sind. Deine Mutter fand ich schon immer hübsch, aber dein Vater ist ein Wahnsinnstyp. Diese Schultern!" Anne verdrehte schwärmerisch die Augen. Andrea freute sich über Annes Begeisterung und traute sich, einen Blick zurück zu ihren Eltern zu werfen. Deren Boot glitt gerade in der Nähe des Ufers unter tiefhängenden Ästen hindurch.
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Ohne Brille konnte sie zwar ihre Gesichter nicht erkennen, aber Mom jedenfalls hatte den Kopf dicht zu Dan hinübergebeugt, so als ob sie ein intensives Gespräch führten. Ich würde zu gern wissen, was er gerade zu ihr sagt, rätselte Andrea. Erzählt er ihr jetzt, daß es ihm um die verlorenen Jahre leid tut? Andrea seufzte, sie fand die ganze Szene ausgesprochen romantisch. Ihre Eltern in dem Boot unter den Zweigen, die Sonne auf dem Wasser - ganz wie auf einem schönen alten Gemälde. Anne paddelte inzwischen mit aller Kraft. Sie war richtig fit, weil sie schon oft mit den Pfadfindern auf Paddeltour gewesen war. "Mach weiter so", spornte Andrea ihre Freundin an. "Ich finde es gut, wenn wir außer Sichtweite sind. Und ich finde, wir sollten sie auch allein lassen, wenn wir wieder an Land gehen. Wir zwei verschwinden einfach und unternehmen selbst etwas, okay?" Nachdem sie alle vier die Kanus wieder ans Ufer gebracht hatten, reckte Dan sich. "Also, ich kann jetzt gut eine Pause gebrauchen. Ich glaube, deine Mutter und ich, wir würden uns gern ein bißchen ins Gras legen und noch ein Glas Wein trinken. Was wollt ihr beiden Mädchen machen?" Genauso hatte Andrea sich das vorgestellt. Zehn Minuten später war sie mit Anne auf dem Weg zu dem riesigen Springbrunnen auf der Belle Isle, einem besonderen Anreiz für die Touristen. "Na, das hat ja prima geklappt", gratulierte Anne, die mit Riesenschritten durch den Park raste. "Deine Eltern sahen aus wie verliebte Schüler, als wir losgegangen sind." "Sie waren ja auch mal verliebte Schüler", stimmte Andrea atemlos zu, sie hatte Mühe, mit Anne Schritt zu halten. "Anne, glaubst du, es gibt eine Chance, daß die beiden wieder zusammenkommen?" Anne blieb stehen und sah ihre Freundin nachdenklich an. "Doch, das glaube ich schon. Aber hast du dabei nicht etwas vergessen?" "Was?" "Deine Großmutter. Wie paßt die denn da rein?" - 70 -
Andrea erschrak. Tatsächlich war sie so damit beschäftigt gewesen, ihre Eltern wieder miteinander zu verkuppeln, daß sie Granny gar nicht mehr auf der Rechnung hatte. Wobei von Granny in den letzten Tagen auch nicht viel zu sehen war. Sobald Dan auftauchte, war die Großmutter schnell in ihrem Zimmer verschwunden. Trotzdem hatte Anne recht. Was sollte mit Großmutter passieren? Die beiden Mädchen waren inzwischen bei dem Springbrunnen angekommen, das Wasser rauschte über hundertundneun Marmorstufen in das Auffangbecken hinab. "Ich finde das einfach irre", schrie Anne gegen den Lärm des Wassers an und rannte die Stufen auf die marmorweiße Begrenzungsmauer hoch. "Das Ding sieht aus wie der Hochzeitskuchen eines Monsterpaares. Guck dir die Figuren da oben an, wo das Wasser rauskommt. Die sehen aus wie Delphine, Schildkröten und Löwen." Bewundernd starrten die beiden dieses Kunstwerk von einem Springbrunnen an. Die leichte Brise ließ winzige Wassertröpfchen zu ihnen herüberwehen, aber die Feuchtigkeit auf ihren erhitzten Wangen war sehr erfrischend. "So, über das Liebesleben deiner Eltern haben wir jetzt genug geredet. Ich möchte jetzt mal über deins reden", schlug Anne vor. "Meins!" Andrea kreischte. "Ich habe doch gar keins." Annes gutmütiges Gesicht bekam einen ungläubigen Ausdruck. "Mensch, Andrea, mir kannst du doch nichts vormachen. Erzähl mir, was. zwischen dir und diesem Greg Banyon läuft." "Nichts, absolut gar nicht", bestritt Andrea aufgebracht. Leider wurde sie dabei knallrot, so daß Anne sofort Bescheid wußte. "Er hat überhaupt noch nicht mit dir gesprochen?" "Naja,... doch...ein bißchen..." Anne stemmte die Hände in die Hüften und baute sich vor ihrer Freundin auf. "Los, Andrea, erzähl es mir jetzt! Was ist da los?"
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Andreas Widerstand war gebrochen. Sie vertraute sich ihrer besten Freundin an. "Das ist ja echt stark!" rief Anne, als Andrea mit ihrer Geschichte fertig war. "Wenn er dich nicht mögen würde, hätte er dir seine Hilfe sicher nicht angeboten." Sie grinste schadenfroh. "Hat Babs es schon gemerkt? Hast du ihr was erzählt?" Andrea schüttelte den Kopf. "Die ärgert sich schwarz, wenn sie mitkriegt, daß du ihn dir geschnappt hast. Sie war selber ziemlich scharf auf ihn." Andrea widersprach. "Ich habe ihn mir nicht geschnappt. Er hat noch nicht mal den Versuch gemacht, sich mit mir zu verabreden. Während der Trainingsstunden ist er dauernd mit Melissa Patterson zusammen und danach fahren sie mit seinem Auto weg. Babs sagt, daß die beiden miteinander gehen. Du siehst also, es kann keine Rede davon sein, daß ich ihn mir geschnappt habe." Zweifelnd zog Anne die Augenbrauen hoch. "Dann verstehe ich nicht, warum..." "Er langweilt sich ganz einfach", spekulierte Andrea. "Außerdem flirtet er gern. Nachmittags bin ich die einzige Eiskunstläuferin, die da ist, deshalb benutzt er mich als Zeitvertreib." Ganz ohne Nachzudenken war ihr das herausgerutscht. Andrea stutzte. Was sie gerade zu Anne gesagt hatte, klang sehr einleuchtend. Wahrscheinlich war genau das der Grund, warum er so nett zu ihr war! Er war einfach nur tödlich gelangweilt. Und wenn sie richtig überlegte, hatte er das ja sogar gesagt. Und sie war so dumm gewesen, sich Hoffnungen zu machen. Anne riß sie aus ihren trüben Gedanken. "Mein Pullover ist gleich klitschnaß. Laß uns ein bißchen um den See herumgehen." Andrea versuchte verzweifelt, fröhlich zu sein. Sie folgte ihrer Freundin die Treppen hinunter. "Es ist völlig egal, was du meinst, ich glaube jedenfalls, er mag dich. Gut Ding will Weile haben, und wahre Liebe findet immer einen Weg." Anne mußte selbst über diesen blöden Spruch kichern. Aber als sie dann Andreas Gesichtsausdruck - 72 -
sah, wurde sie ernst. "Du siehst aus, als ob du gleich losheulst, also laß uns lieber das Thema wechseln. Jetzt haben wir über das Liebesleben deiner Eltern und über deins geredet. Und nun bin ich dran." Andrea war völlig baff. Das war ja vielleicht eine Neuigkeit. Bisher war Anne genauso ein Mauerblümchen wie sie selbst gewesen. "Deins? Hast du etwa einen Freund?" "Naja, noch nicht so ganz", bekannte Anne. "Aber mir schwirrt einer im Kopf herum. Und der ist nicht neu, man könnte eher sagen, daß ich ihn wiederentdeckt habe." "Wen?" Andrea hielte ihre Freundin am Ellenbogen fest. Anne schwieg bedeutungsvoll. Sie blickte zu Boden, dann lächelte sie. "Erinnerst du dich an unserer Horrortage in der Grundschule? An Dennis McGraw?" Andrea bekam den Mund nicht wieder zu. "Was?" schrie sie dann. "Dieser miese Wiederling!" Diesmal war Anne dran mit dem Rotwerden. "Ich weiß, daß er damals ein übler Typ war. Was waren wir froh, als er in eine andere Klasse kam. Aber er hat sich wirklich verändert. Er ist jetzt in meiner Literaturklasse, und zuerst habe ich ihn überhaupt nicht wiedererkannt. Ernsthaft, er ist ganz anders. Erst als er sich vorgestellt hat, wurde mir klar, wer er war. Dennis sieht inzwischen wirklich gut aus, Andrea. Groß und irgendwie unheimlich männlich. Wir haben über alte Zeiten gesprochen und wahnsinnig gelacht." Andrea traute ihren Ohren nicht. "Gelacht", schimpfte sie sauer. "Wie kannst du darüber lachen, was diese Jungs uns angetan haben? Das war überhaupt nicht witzig, sondern nur grausam und gemein." Anne wurde ungeduldig. "Glaubst du, ich weiß das nicht, Andrea? Aber sieh mal, das ist Ewigkeiten her. Kleine Jungs in dem Alter finden es nun mal toll, fies zu gleichaltrigen Mädchen zu sein. Das gehört einfach zu ihrer Entwicklung dazu. Du siehst das zu eng," "Das gehört zu ihrer Entwicklung?" Andrea war sprachlos, für Annes Haltug hatte sie überhaupt kein Verständnis. Aber
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ein Blick auf deren trotzigen Gesichtsausdurck und es war klar, nichts auf der Welt würde Anne davon abbringen. Andrea biß die Zähne zusammen und zählte bis zehn, um sich zu beruhigen, bevor sie nochmal losschimpfte. Aber Anne kam ihr zuvor. Sie wollte offensichtlich lieber über etwas anderes sprechen. "Du, ich glaube, deine Eltern werden sich wundern, wo wir bleiben. Laß uns noch eine Cola am Kiosk kaufen und dann zurückgehen." Auf dem Rückweg zu ihrem Picknickplatz sprachen die beiden Freundinnen nur über unverfängliche Themen. Als der Lagerplatz in Sicht kam, blieben Andrea und Anne abrupt stehen. Anne grinste breit, und Andrea japste laut. Da saßen Dan und Lisa auf der Decke unter einem großen Baum, hielten sich eng umschlugen und küßten sich. Schnell zog Anne Andrea zurück. "Wir müssen sie warnen", flüsterte sie aufgeregt. "Mensch, Andrea, das war wirklich toll, Ich liebe diesen Springbrunnen. Und was machen wir jetzt?" schrie sie so laut, daß die beiden Verliebten sie unbedingt hören mußten. Durch die Zweige beobachteten die Mädchen, wie Andreas Eltern sich aus der Umarmung lösten. Dann erst kamen sie aus ihrem Versteck hervor und schlenderten, scheinbar völlig unbeteiligt über die Wiese, wobei sie mühsam ihr Kichern unterdrückten. Spät am Nachmittag fuhren sie nach Hause, setzten unterwegs Anne ab. Die freudigen Überraschungen dieses Tages waren jedoch für Andrea noch nicht zu Ende. Dan hielt vor dem Haus und stellte den Motor ab. Dann lehnte er sich nach hinten zu seiner Tochter, die schon fast eingeschlafen war. "Normalerweise bringt es mich um, wenn ich zu einer so unchristlichen Zeit aufstehen muß", zwinkerte er. "Aber wie findest du es, wenn ich am Montagmorgen komme und dich zur Eisbahn fahre? Deine Mutter hat frei, und sie soll sich mal
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richtig ausschlafen. Außerdem möchte ich dich zu gerne mal laufen sehen." Andrea strahlte. Wie stolz würde sie sein, mit ihrem großen, gutaussehenden Vater in der Eishalle aufzutauchen. Die Eltern der anderen Mädchen waren oft da und sahen ihren Töchtern zu, doch Mom hatte fast nie Zeit dafür, sie mußte immer schnell zur Arbeit. "Du solltest noch etwas wissen." Dan warf Lisa einen liebevollen Blick zu, den diese mit strahlenden Augen erwiderte. Dann drehte er sich wieder zu Andrea um, die ängstlich auf seine nächsten Worte wartete. "Ich bin nicht nur zu Besuch hier. Die letzten Tage habe ich laufend Gespräche mit meiner Firma geführt, aber nun ist alles klar. Ich kann dir definitiv sagen, daß ich für meine Firma hier in Detroit einen leitenden Posten übernehmen werde. Alaska ist für mich vorbei, ich bleibe hier." Kurz darauf gingen die beiden weiblichen McClellans ins Haus, beide hatten vor Freude glühende Wangen. Lisa schwebte verträumt nach oben, obwohl Großmutter im Wohnzimmer saß und auf sie wartete. Andrea allerdings kam wieder auf die Erde zurück, als sie den Gesichtsausdruck ihrer Großmutter sah. Alles lag darin: Verletztsein, Wut, Sorge und Kummer. Und Andrea war besorgt, denn Annes Frage fiel ihr wieder ein. Was sollte aus Großmutter werden? Am Montagmorgen stand Dan an der Balustrade und sah Andrea zu. Ihre Freude wurde jedoch stark gedämpft, als sie Greg und Melissa beobachtete. Die beiden probierten ein paar neue Paarlauffiguren. Andrea sah frustriert, wie Greg Melissa hoch stemmte. Melissa, in einem eng sitzenden Glitzerkostüm, quieckte vor Wonne. Das macht die doch nur, damit jeder mitkriegt, daß er sie anfaßt, lästerte Andrea bei sich. So vertraut miteinander hatte sie die beiden noch nicht gesehen. Wahrscheinlich hatten sie am Wochenende viel Zeit miteinander verbracht! - 75 -
Das Herz schien Andrea in der Brust zu zerspringen, bei dem Anblick der beiden wurde ihr richtig schlecht; Babs hatte schon recht, Greg und Melissa gingen miteinander. Vielleicht sogar richtig fest. "Prinzessin Patterson kotzt mich an!" zischte Babs in Andreas Ohr. Andrea war so in ihrem Kummer versunken gewesen, daß sie gar nicht gemerkt hatte, daß Babs auch da war. Hoffentlich sieht man mir nicht an, wie eifersüchtig ich bin, hoffte Andrea. Aber Babs war selbst viel zu neidisch, als daß sie Andreas Unmut bemerkt hätte. Greg hatte Melissa inzwischen überredet, die Todesspirale zu versuchen. Im letzten Moment jedoch, als Melissa ihren Rücken ganz durchdrücken mußte, damit ihr Kopf das Eis berühren konnte, verlor sie die Nerven, richtete sich auf und lief davon. Greg spottete. "Ich denke, du hast vor nichts Angst!" "Aber ich laß mich doch nicht skalpieren", schmollte Melissa. Babs seufzte. "Von diesem Typen würde ich mich skalpieren lassen, so oft er Lust dazu hat", murmelte sie. Doch dann lachte sie über sich selbst, zuckte mit den Schultern und lief davon. Andrea war unglücklich. Schade, daß ich nicht wie Babs bin. Die kann so etwas einfach abschütteln. Gregs Freundlichkeit letzte Woche hatte also überhaupt keinerlei tiefere Bedeutung. Da konnte man mal sehen, wie dumm ein Mensch sich verhalten konnte. Aus ein paar netten Bemerkungen hatte Andrea im Geist schon die große Leidenschaft gemacht. Sie zwang sich, Greg und Melissa einfach zu ignorieren und sich auf ihre eigenen Übungen zu konzentrieren. Wenigstens kann ich Dad zeigen, daß er sein Geld für die Trainingsstunden nicht völlig verschwendet hat, murmelte sie grimmig. Leider begegnete sie nach der Stunde Greg und Melissa schon wieder. Ihr Vater hatte im Aufenthaltsraum auf sie gewartet. "Es hat Spaß gemacht, dir zuzugucken", sagte er liebevoll. Genau in diesem Augenblick kam das blonde Pärchen vom Eis. Sie lachten über irgendeinen Witz. Dan - 76 -
amüsierte sich über die beiden. "Die sehen sehr gut aus zusammen", bemerkte er. Andrea biß sich auf die Unterlippe, murmelte etwas und küßte ihren Vater zum Abschied auf die Wange. Er verschwand, und Andrea ging mit steifen Knien zum Umkleideraum hinüber. Sie merkte, daß Greg hinter ihr war, aber als er ihren Namen rief, tat sie so, als ob sie es nicht gehört hatte. Sie verschwand im Schutz des Umkleideraums und knallte die Tür hinter sich zu. Noch auf dem Weg zur Schule schäumte sie vor Wut. Selbst Babs Bewunderung für Dan McClellan konnten Andrea nicht besänftigen. Erst im Laufe des Vormittags, nach mehreren Stunden Unterricht und Plänkeleien mit Anne und Babs in den Pausen, besserte sich ihre Laune. Über Annes plötzliches Interesse für Dennis McGraw wurde nicht mehr gesprochen. Ebensowenig über den Umzug nach Arizona. Am Nachmittag traf Andrea Greg auf dem Eis. Sie hatte sich inzwischen soweit beruhigt, daß sie ihm gegenüber cool bleiben konnte. Er bot ihr erneut seine Hilfe an, aber sie lehnte entschieden ab. "Nein, danke, ich möchte lieber erst mal allein üben." Später kam Greg in die Snackbar, um sich eine Cola zu holen. Er versuchte, eine Unterhaltung anzufangen, doch Andrea tötete mit ihren einsilbigen Antworten das Gespräch. "Hast du gestern den Krimi im Fernsehen gesehen?" "Nein." "Soll ich dich nach der Arbeit nach Hause fahren?" "Nein." "Du bist ziemlich gesprächig heute, oder?" "Ich habe zu tun." Greg zuckte mit den Schultern und ging weg. Andrea füllte die Popcornmaschine und starrte dabei jedes einzelne Maiskorn an. Er sollte sich bloß nicht einbilden, daß sie auf seine Gesellschaft angewiesen war. Sie hatte keine Lust, mit ihm noch weiterhin zu reden, wo doch in Wirklichkeit Melissa sein Typ war. Trotzdem erinnerte sie sich an seine Tips, die er ihr zu dem Toeloop gegeben hatte. Als sie den Sprung übte, hörte sie - 77 -
immer wieder seine Worte. "Das Bein soweit wie möglich zurückstrecken, das Knie beugen." Am Ende der Woche beherrschte sie den Sprung schon viel besser. Das bestätigte auch Linda, die sie am Freitagmorgen trainierte. "Jetzt packst du es", ermutigte die Trainerin sie. "Endlich hältst du die Absprungposition lange genug. Seit Wochen predige ich dir das, und auf einmal scheint es bei dir angekommen zu sein." Linda hatte recht. Sie hatte ihr immer wieder die gleichen Fehler deutlich gemacht, die auch Greg bemerkt hatte. Gregs Kritik aber schien mehr Gewicht für Andrea zu haben. Es war ihr sehr peinlich. "Ja...ich...ich glaube, ich habe es endlich kapiert." "Na gut, Andrea, vielleicht kapierst du dann auch etwas anderes", fuhr Linda fröhlich fort. "Ich habe einen Vorschlag. Ned hat mir gesagt, daß du nächstes Jahr den Gruppenunterricht übernehmen wirst, wenn ich weg bin. Naja, ich habe gedacht, daß du danach ja nicht mehr an Wettbewerben teilnehmen kannst. Wie wäre es denn, wenn du in diesem Winter beim Eistanzwettkampf in Ann Arbor teilnimmst? Ich glaube, das wäre gut für dich." Andrea fuhr zusammen. Mißtrauisch betrachtete sie das unschuldige Gesicht ihrer Trainerin. Linda wußte doch genau, was sie von Wettkämpfen hielt. Schon seit Jahren hatte sie es praktisch aufgegeben, Andrea zur Teilnahme zu überreden. Warum fing sie ausgerechnet jetzt wieder damit an? "Hat Greg Banyon mit dir über mich gesprochen?" fragte Andrea. Hilflos hob Linda die Hände. "Gut, gut, ich geb's zu", lachte sie. "Er hat mit mir geredet. Und wie der reden kann, was für ein Charmeur! Übrigens sieht er toll aus, wenn ich ein Jahr jünger wäre..." verzückt rollte sie mit den Augen. Andreas Blick war böse, aber Linda lachte sie aus. "Warum willst du nicht mitmachen", redete sie ihr zu. "Er hat recht, und daß weißt du ganz genau. Wenn du andere unterrichten willst, mußt du selber erlebt haben, wie es bei so einem Wettkampf zugeht. Außerdem wird es Zeit, daß du aus deinem Schneckenhaus rauskommst. Du bist kein Baby mehr, also benimm dich gefälligst auch nicht so." - 78 -
Andrea wurde stinksauer. Das war nicht Lindas Idee. Da steckte Greg Banyon hinter. Linda benutzte sogar dieselben Worte wie er. Der Typ hatte vielleicht Nerven! Wie kam er überhaupt dazu, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen? Andrea kochte vor Wut. Dem würde sie es schon zeigen! "Okay, ich mach's", fauchte sie. Und sofort bereute sie ihre Worte. Aber Linda gab ihr keine Chance für einen Rückzieher. "Hervorragend", jubelte sie begeistert und lief auf den Ausgang zu. "Ich muß jetzt los", rief sie über die Schulter zurück, "aber ich fülle noch schnell den Anmeldezettel für dich aus." Mit einem komischen Gefühl im Magen sah Andrea ihr hinterher. Was hatte sie bloß gemacht? Hatte sie tatsächlich zugestimmt, an einem Wettkampf teilzunehmen, zu dem sich die besten Läuferinnen der Gegend melden würden? Sie war wohl völlig verrückt geworden! Das gäbe eine schöne Blamage! Horrorvisionen gingen ihr durch den Sinn. Verzweifelt schaute sie um sich. Da sah sie den bekannten, blonden Lockenkopf zwischen den anderen Schlittschuhläufern. Greg Banyon! Der hatte überhaupt an allem die Schuld! Als Andrea am Nachmittag nach der Schule wieder auf dem Eis war, fühlte sie sich schrecklich gehemmt. So, als sei sie bereits im Wettkampf und die strahlenden Scheinwerfer wären auf sie gerichtet. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Greg sich elegant über das Eis bewegte. Wieder trug er die blau-rote Jacke, die ihm so gut stand und Andrea bekam einen ganz trockenen Hals. Sie lief in die gegenüberliegende Ecke, so weit wie möglich weg von ihm. Den ganzen Vormittag hatte sie gegrübelt, was nun mit dem bevorstehenden Wettkampf werden sollte. Endlich hatte sie sich entschlossen, Linda wieder abzusagen, denn eine Teilnahme würde sie niemals durchstehen. Aber diese Lösung gefiel ihr überhaupt nicht, so ein Rückzug war feige, rückgratlos. - 79 -
Und was sollten dann erst die anderen von ihr denken? Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, meinte sie mit "die anderen" eigentlich nur Greg. So ein Mädchen wie sie, ohne jeglichen Mumm, fand er bestimmt ziemlich langweilig. Und wenn sie sich mit Melissa Patterson verglich, fand sich Andrea noch fader. Melissa kannte sicherlich keine Hemmungen, hatte wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben an sich selbst gezweifelt. Genau wie Greg. Andreas Vater hatte schon recht gehabt: Melissa und Greg waren das perfekte Paar. Ich bin diejenige, die überhaupt nicht dazu paßt, gestand sich Andrea ein. Plötzlich versteifte sich Andrea. Ihr siebter Sinn sagte ihr, daß Greg in der Nähe war. "Ich habe gehört, du hast dich überreden lassen und machst doch mit", rief er ihr freundlich zu. Andrea sah auf und begegnete seinem amüsierten Blick. Es half alles nicht, sie konnte nicht so tun, als wüßte sie nicht, wovon er redete. Linda hatte also schon mit ihm gesprochen. Andrea haßte die Vorstellung, daß es Leute gab, die hinter ihrem Rücken über sie tratschten. "Das habe ich ja wohl dir zu verdanken. Du hattest kein Recht, mit Linda zu reden." Greg lachte nur. "Habe ich dir nicht gesagt, daß ich zu gern meine Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecke?" Doch dieses Mal ließ Andrea sich von seinem Charme nicht beeindrucken. "Das stimmt leider", trotzte sie. Greg schien von ihrer abweisenden Haltung irgendwie betroffen zu sein, denn er guckte ein wenig verunsichert. "Warst du deshalb die ganze Woche über so komisch?" Jetzt konnte Andrea sich nicht mehr zurückhalten, sie explodierte. "Du warst doch die ganze Woche über so mit Melissa beschäftigt, daß du gar nicht bemerkt haben kannst, was mit mir los war!" Irritiert blickte Greg sie an. "Melissa ist ja auch viel freundlicher als du. Bei der brauche ich mir nicht dauernd ein Bein auszureißen, damit sie mich beachtet." Andrea schnappte nach Luft. Was sollte man bloß dazu noch sagen? Überaus verlegen sah sie zu Boden. - 80 -
"Machst du zusammen mit Melissa Paarlauf?" rutschte ihr zu ihrem eigenen Ärger heraus. Doch Greg schien sich über diese Frage nicht zu wundern. "Nein, wir machen das nur so aus Quatsch und weil's Spaß macht. Wie wär's, wollen wir auch mar ein paar Hebefiguren probieren?" Er musterte Andreas zierliche Gestalt. "Du bist viel kleiner als Melissa, dich kann ich ganz leicht heben." Schon streckte er die Hände aus und umfaßte Andreas Taille. Andrea wurde puterrot und stieß sich schnell von ihm weg. "Ich habe keine Lust zu Paarlauf!" "Macht nichts, dann üben wir eben ein bißchen für deinen Eistanzwettkampf", sagte Greg schnell. "Los komm", drängte er, "ich kann dir viel zeigen. Ich habe versprochen, dir zu helfen, und das tue ich auch. Schließlich habe ich dich da hineingedrängt." Das stimmte, dachte Andrea und merkte, daß sie seinem Charme nicht länger widerstehen konnte. Mit seinen tiefblauen Augen sah er sie aufmunternd an, vielleicht meinte er sein Angebot ja tatsächlich ernst. "Okay", stimmte sie schüchtern zu. Greg drückte ihre Hand. "Dann zeige ich dir jetzt einige Schrittfolgen. Kennst du die hier? Du fährst eine umgekehrte Drei, dann den rinken Fuß vor dem rechten kreuzen. Rechts anheben und in die andere Rich- tung..." Die Zeit verging im Fluge und als Andrea wegen ihres Jobs in der Snack-Bar aufhören mußte, hatte sie viel Spaß gehabt und das Gefühl, eine Menge gelernt zu haben. Greg war ein guter Lehrer, er wußte viel über den Eiskunstlauf. Kein Wunder, seine Ausbildung und auch seine Wettkampferfahrungen waren viel umfassender als Lindas. Wer weiß, überlegte Andrea, als sie fertige Pizza aus dem Kühlschrank holte, vielleicht schaffe ich es mit seiner Hilfe tatsächlich in Ann Arbor. Doch dann erschrak sie. Habe ich mich also schon mit dem Wettkampf abgefunden, fragte sie sich. Als Andrea nach einer Stunde die Snack-Bar schloß, war auch Greg gerade fertig und bot ihr zum x-ten Mal an, sie nach - 81 -
Hause zu fahren. Jetzt war Andrea in der Zwickmühle. Auf der einen Seite wollte sie ihm immer noch nicht zeigen, in welch ärmlichen Verhältnissen sie lebte, aber andererseits mochte sie ihm nicht schon wieder einen Korb geben. Er war so nett gewesen, und sie konnte die gute Stimmung zwischen ihnen einfach nicht zerstören. Noch bevor sie wußte, was sie wollte, entschied Greg. "Komm", sagte er einfach, griff nach ihrer Schultasche und ihrer Jacke. "Laß uns losfahren." Er faßte Andreas Ellbogen und zog sie zur Tür. Zehn Minuten später hielt Greg vor Großmutters winzigem Häuschen. In Andreas Augen sah es ziemlich heruntergekommen aus: Die Gartenpforte hing schief, in der Wand war ein Loch und die Fensterläden brauchten dringend Farbe. Auch der Garten war ungepflegt, das Gras stand zu hoch, die Büsche wucherten ungeschnitten in die Höhe. Granny hatte keine Lust zur Gartenarbeit, und Mom hatte dafür nie Zeit. Wenn unser Haus auf mich schon so wirkt, überlegte Andrea, was muß Greg dann nur denken. Verglichen mit Melissa Pattersons Zuhause wohne ich hier fast auf einer Müllhalde. Doch dann straffte Andrea sich. lch habe es überhaupt nicht nötig, mich bei irgend jemandem dafür zu entschuldigen, wie ich lebe! "Das Haus gehört meiner Großmutter", murmelte sie erklärend. "Meine Eltern leben getrennt." Greg besah sich das Haus, starrte nachdenklich aus dem Autofenster. "Du zahlst die Kosten für das Eislaufen selbst, oder?" fragte er plötzlich. Andrea nickte langsam. "Ja. Mein Vater gibt mir einen Teil dazu, aber das meiste bezahle inzwischen ich. Greg schüttelte den Kopf, pfiff zwischen den Zähnen. "Das ist stark. Meine Leute haben in mich bestimmt ein Vermögen investiert. Erst letzten Sommer ist mir klar geworden, daß das nicht so weitergeht. Sie machen sich Bankrott für mein Hobby. Außerdem haben sie dieses Jahr auch noch hohe Extraausgaben - 82 -
durch unseren Umzug und dann fing noch mein Bruder an zu studieren. Greg sah Andrea an. "Du bist anders, Andrea. Du läufst nicht nur so zum Spaß. Du machst es wirklich aus Leidenschaft, und du hast gearbeitet, um es zu finanzieren. Ich finde das toll, du bist ein ganz starkes Mädchen." Greg lachte sie an und streichelte sanft aber ihre Wange. Andrea durchlief ein ganz warmes, schönes Gefühl. Auf einmal schien der heutige Tag so außergewöhnlich zu sein, daß sie es mit Worten nicht mehr beschreiben konnte. Sie, Andrea McClellan, war jung, glücklich und saß in einem Sportwagen mit dem tollsten Jungen, den sie je in ihrem Leben kennengelernt hatte. "Du bist wirklich ein ganz besonderes Mädchen", bestärkte Greg seine Worte noch einmal. Andrea lächelte ihn jetzt völlig frei an, strahlte vor Glück. Dann lief sie die paar Stufen zur Eingangstür hoch. Was machte es schon!, daß die Farbe am Haus abbröckelte! Vor der Tür angekommen drehte sie sich um, sah zu, wie Greg abfuhr. Trotz ihres Glücks war ihr das Herz schwer. Sie wußte jetzt, daß er gern mit ihr zusammen sein wollte, und das war wunderbar. Sie hatte nie erwartet, jemals einen Freund zu finden. Aber konnte sie hoffen, daß aus dieser Freundschaft je mehr werden würde, oder war Greg schon fest an Melissa vergeben? Seufzend ging sie ins Haus. Aus der Küche hörte sie Stimmen und das Klirren von Kaffeetassen, Granny hatte also Besuch. Andrea ging nachsehen,wer da war. In der Küche saßen Granny und Mrs. Buckridge und schwatzten miteinander. Mrs. Buckridge begrüßte Andrea mit einem liebevollen Kniff in die Wange. "Tag, Andrea. Wir haben wunderbar miteinander getratscht, aber ich muß jetzt los. Ich finde schon allein hinaus." Fröhlich verabschiedete sie sich, nahm ihre Jacke, ihren Handarbeitskorb und verschwand. Andrea sah ihre Großmutter fragend an. "Ist Mom schon da?"
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Granny spielte mit Mrs. Buckridges Prospekten und starrte auf die Kuchenkrümel. "Deine Mutter ist mit Dan essen gegangen", informierte sie ihre Enkeltochter gleichgültig. "Ich vermute, sie kommt erst sehr spät zurück, wenn sie überhaupt zurückkommt." Andrea runzelte die Stirn. Was sollte denn das nun schon wieder heißen? Großmutter sah auf und blickte ihre Enkelin an. "Hast du nicht gemerkt, Andrea, daß die beiden sich nach Dans Rückkehr wieder etwas vorgenommen haben? Und jetzt, wo er hierbleiben will, ändert sich alles." Granny machte eine Pause, bevor sie mit sanfter Stimme fortfuhr. "Wie würdest du es finden, wenn deine Eltern wieder zusammen wären?" Andrea wurde ganz still. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte und wich dem forschenden Blick ihrer Großmutter aus. Natürlich wünschte sie sich nichts sehnlicher, als zusammen mit Mom und Dad eine richtige Familie zu sein. Das hatte sie immer gewollt. Aber was war dann mit Granny? Schließlich entschloß sie sich, ehrlich zu sein. "Ich glaube, ich fände es schön." Eine Zeit lang sagte keine der beiden ein Wort. "Das habe ich mir gedacht", murmelte die alte Frau endlich. "Und wahrscheinlich hast du recht. Als er zurückkam hatte ich zuerst Angst, daß er ihr wieder das Herz brechen würde. Aber vielleicht hatte ich Unrecht. Sie sind beide älter geworden und haben sich verändert. Wer weiß, vielleicht schaffen sie es dieses Mal." Mühsam stand sie auf und ging zu dem elektrischen Dosenöffner am Küchenschrank. "Wollen wir uns zusammen eine Dose Eintopf warm machen?" Besorgt betrachtete Andrea die gebeugte Gestalt ihrer Granny. "Laß mal, ich mache das schon", schlug sie vor und nahm ihrer Großmutter schnell die Dose aus der Hand. Sie bückte sich, um einen Topf aus dem Küchenregal zu holen. "Glaubst du, daß sie hier leben werden?" Granny räusperte sich laut. "Nein. Das hat schon mal nicht gekl.appt, und das wird jetzt auch nicht klappen. Es ist ja auch nicht nötig. Dein Vater wird in seiner neuen Position viel verdienen, also können sie sich ein eigenes Haus leisten." - 84 -
"Würdest du dann auch mitziehen?" fragte Andrea. Nebenbei öffnete sie die Dose und kippte den Inhalt in den Topf. Großmutter schüttelte so heftig den Kopf, daß ihre grauen Locken flogen. "Nein, auf keinen Fall", erklärte sie bestimmt. "Es war ein Fehler vor zehn Jahren, und das wäre es auch heute noch." Sie schwieg einen Moment. "Der Sohn von Ada Buckridge zieht mit seiner Familie nach Phoenix in Arizona, und Ada geht mit. Ich denke, ich werde das Haus hier verkaufen und sie begleiten. Fast hätte Andrea die Dose fallen lassen. Schockiert starrte sie die Großmutter an. Das bedeutete, daß Anne tatsächlich wegzog. Warum hatte sie bloß nichts gesagt? "Sag bitte nichts zu Lisa und Dan", bat die Großmutter inständig. "Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden und will im Moment nicht mIt ihnen darüber reden."
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8. KAPITEL "Hey, was läuft da eigentlich zwischen dir und Greg Banyon", wollte Babs am nächsten Morgen neugierig wissen. Andrea guckte verwirrt. Was sollt sie Babs darauf antworten? Klar, Greg hatte ihr bei ein paar Eistanzübungen während der morgendlichen Trainingsstunde geholfen, er hatte sie auch anschließend zur Bushaltestelle gebracht. Aber hieß das, daß da etwas lief? Bestimmt nicht so, wie Babs sich das vorstellte. Natürlich hatte Andrea es genossen, daß Greg sich so um sie kümmerte. Vor allem, weil es vor den anderen Mädchen war, ob Melissa sich jetzt auch ihre Gedanken machte? Nur mühsam konnte Andrea ihr Grinsen verbergen, Das dumme Gesicht von Melissa war zu schön gewesen. Babs sah Andreas Gesichtsausdruck und machte sich sofort ihren Reim drauf. "Du bist ja link, du hast mir nichts erzählt. Da ist doch was zwischen Greg und dir." Andrea sah sich im voll besetzten Bus um. "Um Himmels Willen. Willst du, daß jeder mithört?" Aber Babs ließ nicht locker. Sie quetschte Andrea aus, bis der Bus vor der Schule hielt. "Der will was von dir", behauptete sie steif und fest, als sie aus dem Bus stiegen. "Ich wette, der verabredet sich bald mit dir. Anne gibt mir bestimmt recht, wenn wir ihr heute mittag alles erzählen," Plötzlich prustete Babs los. "Melissa wird total geplättet sein," Andrea seufzte tief. Sie hatte ein komisches Gefühl im Magen. Es war zwecklos, Babs noch länger zu erklären, daß Greg nur ein guter Freund von ihr war. Das würde sie sowieso nicht glauben.
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Andrea betrachtete Babs nachdenklich von der Seite, als sie die Treppen zum Klassenraum hochgingen. Noch letzte Woche hatte ihre Freundin ununterbrochen von Greg geschwärmt. Heute schien nichts wichtiger zu sein, als Andrea und Greg zusammenzubringen. Andrea wunderte sich. Hatte Babs etwa schon einen neuen Schwarum gefunden? Als die drei Freundinnen beim Mittagessen zusammensaßen, war Andrea klar, daß sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Babs lobte in den höchsten Tönen einen großen, gutaussehenden deutschen Austauschstudenten. Anne dagegen ließ hin und wieder den Namen Dennis McGraw in das Gespräch einfließen. Nur Andrea war schweigsam und aß mit wenig Appetit. Was sollte sie schon dazu sagen, ihre Erinnerungen an Dennis waren nicht gerade die besten. Aber was soll's. Anne zog ja doch nach Arizona. Bislang hatte Andrea aber noch nicht den Mut gehabt, mit ihrer Freundin darüber zu sprechen. Den ganzen Tag grübelte Andrea, was sie ohne Anne machen sollte. Am Nachmittag in der Snack-Bar war sie deswegen sehr niedergeschlagen. Sie hatte heute allein trainieren müssen, Greg kümmerte sich um eine Gruppe von Pfadfinderjungen, die auf dem Eis herumflitzten. Immer wieder hatte Andrea verstohlen zu ihm hinübergesehen. Ob er wohl schon von dem Klatsch über sie beide gehört hatte? Sie konnte sich gut vorstellen, wie er auf solches Gerede reagieren würde. Er würde sicher denken, sie habe mit seiner Freundschaft herumgeprahlt. Allein bei dieser Vorstellung würde Andrea ganz rot vor Verlegenheit. Zu recht würde er wütend auf sie sein. Als Andrea an diesem Tag in der Bar fertig war, fühlte sie sich total groggy. Die Truppe Pfadfinderknaben hatte sie Snack-Bar gestürmt. Andrea hatte Unmengen von Cola, heißer Schokolade, Chips und Brezeln verkauft. Entsprechend sah aber auch der Fußboden aus! Sie würde min destens eine halbe Stunde brauchen, um die Krümel und Getränkepfützen zu beseitigen. - 87 -
Seufzend holte Andrea sich den Besen und begann zu fegen. Der Fußboden war mit Hartgummi beschichtet, so daß man ihn mit Schlittschuhen betreten konnte. Aber das Saubermachen war umso schlimmer, die festgetretenen Kartoffelchips schienen wie angeleimt. Nach ein paar Minuten kam Greg, wollte ihr helfen. Dankbar lächelte Andrea ihn an. Es war klar, daß er noch nichts von dem Getratsche gehört hatte und nicht böse war, jedenfalls jetzt noch nicht. "Die waren ja vielleicht aufgekratzt", grinste Greg und schüttelte den Kopf. "Diese kleinen Monster machen einem ganz schön zu schaffen. Dauernd rumsten sie zusammen. Ich habe noch nie so viele Kinder in einer Stunde vom Eis aufgesammelt." Andrea nickte. "Wenn es draußen kälter wird, kommt es noch schlimmer. Bald wird es so voll sein, daß ich zu normalen Öffnungszeiten keine Sprünge mehr üben könnte." Greg zuckte nur mit den Schultern. "Dann trainiere ich eben in der Vormittagsstunde mit dir. Besorgt musterte Andrea ihn. Wußte Greg nicht, was die anderen Mädchen dann denken würden? Schon heute morgen waren sie doch grün vor Neid gewesen, als Greg mit ihr trainierte. Und was würde Melissa sagen? Greg stützte sich auf den Besenstil und lächelte Andrea zögernd an. "Magst du eigentlich Fußball?" fragte er plötzlich. Andrea war total überrascht. Zuerst wußte sie gar nicht, was sie sagen sollte."lch fürchte, ich verstehe nicht viel davon." Jetzt grinste Greg breit. "Typisch Frau! Vielleicht schaffe ich es, dir die Spielregeln zu erklären. Wir haben am Freitag ein wichtiges Spiel in der Schule. Kommst du mit mir hin?" Abrupt hörte Andrea auf zu fegen. Hatte sie richtig gehört? Das klang ja nach einer richtigen Verabredung! Ihre Finger wurden vor Aufregung eiskalt. Zum ersten Mal mit einem Jungen verabredet und dann gleich mit einem Traumtyp wie Greg! Das war zu schön, um wahr zu sein! "Ich...ich weiß nicht, ob ich da hin passe, ich meine, zu deinen Mitschülern", stotterte sie hilflos. Meinte er es wirklich ernst "Ich glaube, ich fühle mich da nicht so sehr wohl." - 88 -
"Warum nicht?" fragte Greg. Andrea starrte auf ihre ausgetretenen Turnschuhe. "Du weißt, was ich meine, Greg", flüsterte sie. "Jeder deiner Mitschüler kommt aus einer reichen Familie. Und du hast gesehen, wo ich lebe. Ich gehöre nicht nach Gross Pointe." Greg pfiff durch die Zähne. "Das ist ja wohl das dümmste, was ich je ge hört habe. Weißt du, was du bist? Ein Snob, aber im umgekehrten Sinne!" Andrea wollte protestieren, doch Greg gab ihr gar keine Gelegenheit. Er feuerte den Besen in die Ecke und baute sich in voller Größe vor ihr auf, die Hände.in die Hosentaschen gestopft. "Willst du nun mit mir hingehen oder nicht?" fragte er gereizt. "Sag gefälligst ja oder nein!" Andrea blinzelte zu ihm auf, sein Gesichtsausdruck war hart und kalt. Andrea schluckte. So wütend hatte sie ihn noch nie gesehen. "Ja, ich möchte mir dir hingehen", antwortete sie kleinlaut. Greg beobachtete sie regungslos. "Gut", sagte er schließlich. "Wir fahren von hier aus los und essen bei mir zu Hause. So kommen wir rechtzeitig zum Spiel. Einverstanden?" Bevor Andrea noch überlegen konnte, hatte sie schon genickt. Und als ihr dann klar war, daß Greg sie auch zum Essen bei seinen Eltern eingeladen hatte, konnte sie nicht mehr protestieren - Greg war schon gegangen. Das nächste Problem waren jetzt Mom und Granny. Sie wollten sicher nicht, daß Andrea sich mit jemandem verabredete, den sie überhaupt nicht kannten. Doch die würde sie schon überreden, hoffte Andrea. Abends telefonierte Andrea mit Anne, all ihre Befürchtungen wurden bestätigt. "Bis vor ein paar Tagen war es noch nicht sicher", gab Anne zu. "Und dann mochte ich es dir nicht sagen." Andrea seufzte. "Ja, das kann ich verstehen. O Anne, ich werde dich so sehr vermissen!" - 89 -
"Ich dich auch, Andrea. Aber weißt du was? Meine Großmutter hat mir erzählt, daß deine Granny vielleicht mitkommt. Und dann werden deine EItern sie doch bestimmt ab und zu mal besuchen. Und du kommst mit. Stell dir vor, wir könnten die Sommerferien zusammen in Arizona verbringen!" Andrea lächelte über Annes Art, aus allen Dingen immer nur das Beste zu machen. Aber sie mußte ihrer Euphorie einen Dämpfer versetzen. "Anne, meine Eltern gehen zwar miteinander aus, aber sie leben noch nicht wieder zusammen!" "Das kommt schon wieder in die Reihe, keine Bange", versicherte Anne. "Ich habe doch schon auf der Belle Isle gemerkt, was mit ihnen los ist." Anne kicherte. "Ja, ja, bei allen anderen läuft es toll mit der großen Liebe, nur nicht bei mir. Kaum habe ich Dennis wieder getroffen, schon muß ich auf Wiedersehen sagen. Übrigens, nächsten Monat ist die große Party in unserer Schule, wo die Mädchen die Jungen einladen. Babs will ihren deutschen Austauschstudenden fragen. Ich habe überlegt, ob ich nicht Dennis einlade. Bevor ich wegziehe will ich wenigstens einmal mit ihm ausgegangen sein." Anne machte eine Pause. Dann fragte sie frech: "Warum fragst du nicht deinen Greg?" Allein die Vorstellung jagte Andrea Angst ein. "Erstens ist er nicht mein Greg, und zweitens würde ich das nie bringen!" Sie überlegte, ob sie Anne von dem Fußballspiel erzählen sollte, aber lieber hielt sie doch den Mund. Was wäre, wenn Greg seine Meinung noch einmal ändern würde? Am Freitagnachmittag saßen Andrea und Greg in seinem MG, fuhren in Richtung Grosse Pointe. Es war erstaunlich, wie schnell die Umgebung sich veränderte. Eben noch waren sie an alten, winzigen Häusern mit kleinen Grundstücken vorbeigefahren, und schon wenige Kilometer später wurde die Straße von prächtigen,
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zweistöckigen Villen mit riesigen, gepflegten Rasenflächen vor den Häusern gesäumt. Schüchtern saß Andrea neben Greg und sah an sich hinunter. Zur braunen Cordjeans trug sie einen naturfarbenen Wollpullover ihrer Mutter. Außerdem hatte sie sich Lisas braune Wildlederstiefel geliehen. Granny wollte ihr zuerst nicht erlauben, mit Greg zu fahren. Doch Lisa hatte sich durchgesetzt und Großmutters Einwände zerredet. "Es wird Zeit, daß Andrea ihre eigenen Erfahrungen macht. Sie ist alt genug, um sich zu verabreden." Moms Stimme hatte dabei entschieden wie noch nie geklungen. Greg bog in eine schmale, baumbestandene Straße ein. Die Gegend roch richtig nach Wohlstand. Sogar die Büsche und Sträucher sehen nach viel Geld aus, dachte Andrea. Sie hatte ein ziemlich flattriges Gefühl im Magen. Greg bog in eine Auffahrt ein, die zu einem zweistöckigen Gebäude im Kolonialstil führte. "Wir sind da", sagte er, stellte den Motor ab und stieg aus, um Andreas Tür zu öffnen. "Es ist sehr schön." "Ja, das stimmt. Wenn ich weiter Eisgelaufen wäre. hätten meine Eltern ein wesentlich kleineres Haus suchen müssen. Es ist ganz schön teuer, von einem Bundesstaat in den anderen zu ziehen. Und mein Vater bekommt in seinem neuen Job hier zunächst mal etwas weniger Geld. Umweltangelegenheiten werden nicht gut bezahlt." Greg legte den Arm um Andreas Schultern und führte sie zur Eingangstür. Schwungovoll stieß er die hölzerne Eingangstür auf. "Wir sind da!" rief er laut. "Ich bin hier hinten", rief eine freundliche weibliche Stimme zurück. Andrea bewunderte den glänzenden Marmorfußboden in der Eingangshalle und folgte Greg in eine sonnenbeschienene Küche. Eine schlanke Frau mit goldenen Locken wie Greg sie hatte, stand an der Arbeitsplatte und füllte Salat in eine Glasschüssel.
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"Gerade rechtzeitig", lächelte sie Greg und Andrea an. "Dad ist auf der Terrasse und grillt Rippchen. Wir essen gleich, damit ihr rechtzeitig beim Spiel seid." Sie reichte Andrea die Hand. Andrea begrüßte sie und lächelte schüchtern. Sie war darauf gefaßt gewesen; von Kopf bis Fuß kritisch gemustert zu werden. Aber Mrs. Banyon nahm ihr jede Angst, gab ihr sogar das Gefühl, sehr willkommen zu sein. Gregs Vater war ein großer, schlanker Mann. Er stand über den Grill gebeugt und strich sorgfältig die Rippchen mit Kräuteröl ein. Sowie sein Sohn die Terrasse betrat begannen die beiden, sich in flapsigem Ton zu necken. Andrea fühlte direkt so etwas wie Eifersucht. Sie schaute sich auf der großen, ausholenden Terrasse mit den teuren Gartenmöbeln um. Eine Atmosphäre von solidem Wohlstand umgab dieses Haus. Hier mußte eine Familie sich einfach wohlfühlen. Kein Wunder, daß Greg so selbstsicher wirkt, bei der Umgebung! Wie es wohl gewesen wäre, dachte sie und bekam einen trockenen Hals, wenn ich in solcher Geborgenheit aufgewachsen wäre? Das Essen verlief in lockerer, gemütlicher Stimmung. Zum Nachtisch gab es Blaubeertörtchen. Dann sah Greg auf die Uhr. Wir müssen bald los, sonst kriegen wir keinen Parkplatz." Mr. Banyon nickte. Er hatte graue Augen, bemerkte Andrea, ganz anders als sein Sohn. Greg sah mehr aus wie seine Mutter. Aber die Lebenslust schien er vom Vater zu haben. "Was macht dein Vater beruflich, Andrea?" fragte Mr. Banyon höflich. Noch vor einem Monat wäre Andrea diese Frage furchtbar peinlich gewesen, aber heute konnte sie ohne Hemmungen antworten. "Er ist Ingenieur." "Heißt er etwa Daniel McClellan?" Überrascht nickte Andrea. Gregs Vater lächelte. "Ich habe ihn gestern kennengelernt. Für seine Firma werde ich die rechtlichen Beratungen in Umweltfragen übernehmen. Ein Mann mit einer interessanten Vergangenheit. Hat er nicht die letzten zehn Jahre in Alaska gelebt?" "Ja", gab Andrea zu. "Meine Mutter und er lebten getrennt." - 92 -
Mr. Banyon fragte nicht länger, und Andrea und Greg brachen bald auf. Aber unterwegs kam Greg noch einmal auf das Thema zurück. "Wie findest du es denn, daß dein Vater zurückgekommen ist?" wollte er wissen. Da sprudelte Andrea los, erzählte ihm die ganze Geschichte. Sie redete immer noch, als sie schon am Fußballstadion angekommen waren und sich in den Strom der anderen Zuschauer eingereiht hatten. Es war ein schönes Gefühl für Andrea, einen so aufmerksamen Zuhörer zu haben. Greg hatte jetzt liebevoll den Arm um ihre Schultern gelegt. Andrea war so in Gedanken versunken, daß sie ihre Hemmungen ganz vergessen hatte. Erst als seine Mitschüler ihm kameradschaftlich auf die Schulter klopften und ihr neugierige Blicke zuwarfen, fühlte sie sich wieder ein bißchen unbehaglich. Inzwischen waren sie an der nur halb besetzten Tribüne angekommen. Greg hatte immer noch den Arm fest um Andrea gelegt. Für die anderen muß es ja so aussehen, dachte sie nervös, als ob da etwas ganz Tolles zwischen uns läuft. "Komm, wir suchen uns einen Platz in der Mitte", schlug Greg vor und zog sie mit sich. Sie stiegen die steilen Stufen der Tribüne hinauf. Andrea sah eine Gruppe von gut angezogenen Mädchen, die ganz oben standen, sie beobachteten, miteinander tuschelten und kicherten. Vielleicht sind das Freundinnen von Melissa, überlegte Andrea. Und die wundern sich natürlich, daß Greg mit mir hier ist. Nur Melissas blonden Kopf konnte Andrea nicht ausfindig machen. Sie war zwar mit ihrem Vater schon beim Augenarzt gewesen, hatte die neuen Kontaktlinsen aber noch nicht. Und so ohne Brille erkannte sie halt nur Umrisse. Vielleicht ist Melissa auch nicht da, überlegte Andrea. Sie ist an diesem Wochenende gar nicht In der Stadt und nur deswegen hat Greg mich gefragt, ob ich mitkomme. Endlich begann das Spiel. Andrea plinkerte kurzsichtig, um etwas zu erkennen, aber ohne Brille war das zwecklos. Um so aufmerksamer hörte sie zu, wie Greg ihr die Spielregeln und - 93 -
Spielzüge erklärte. Dabei gingen ihr doch eigentlich ganz andere Dinge im Kopf herum. In der Pause spielte eine Band. Außerdem wurde eine Ballkönigin für das Schulfest am Sonnabend gewählt. Dazu hat er mich nicht eingeladen, stellte Andrea traurig fest. Ob er mit Melissa hingeht? Unzufrieden starrte sie vor sich hin. Alle hier sehen so gut aus, jede von ihnen besser als ich. Warum ist Greg nicht mit einer von denen hierhergegangen? Andrea drehte sich zu der Tribüne um. Die Mädchen dort sahen alle aus wie aus einem Modemagazin. Ob man ihr wohl ansehen konnte, aus welchen Verhältnissen sie kam, daß ihre Klamotten das Beste waren, was sie und Mutter überhaupt besaßen? Unruhig wanderten ihre Augen zu Greg. Der saß nach vorn gebeugt, war ganz gepackt von dem Spiel. Er paßt hierher, dachte Andrea, ich nicht. Gerade in dem Moment drehte er den Kopf und sah sie mit seinen blauen Augen an. Dann lächelte er, und drückte ihre Hand und konzentrierte sich wieder voll auf das Spiel. Es war schon spät, als das Match zu Ende war, und Andrea gähnte müde. "Es finden noch 'ne Menge Partys statt, zu denen wir gehen könnten", schlug Greg vor. "Ich weiß von einer, da ist bestimmt der Bär los. Oder aber wir gehen noch irgendwo eine Pizza essen." Eine Party mit einem Haufen dieser verwöhnten Leute, das war das allerletzte was Andrea jetzt haben mußte. Und Hunger hatte sie auch keinen, das Essen bei den Banyons war gut und reichlich gewesen. Außerdem erwarteten Mom und Granny sie nicht zu spät zurück. "Mir reicht's für heute", erklärte sie Greg. "Ich bin seit fünf Uhr heute morgen auf und ziemlich kaputt. Setz mich doch einfach zu Hause ab, dann kannst du noch zu der Party gehen." "Stimmt", lächelte Greg mitfühlend. Er öffnete die Autotür und wartete, bis Andrea sich gesetzt hatte. "Hat dir das Spiel gefallen?" "Ja." Andrea heuchelte Begeisterung. In Wirklichkeit hatte sie ziemlich wenig mitgekriegt. Aber es war schön, mit Greg - 94 -
zusammen zu sein. Selbst wenn er morgen zu dem Schulfest mit Melissa gehen würde. Als sie auf die Hauptstraße einbogen, spürte Andrea seinen Blick. Ihr Mund wurde trocken. Wollte er ihr einen Gutenachtkuß geben? Und schon begann sie zu zittern, ihre Hände wurden kalt. Sie war noch nie von einem Jungen geküßt worden. Was ist, wenn wir mit den Nasen zusammenstoßen, oder wenn er merkt, daß ich eiskalte Finger habe, fragte sie sich. Melissa war bestimmt nicht so unsicher! Vielleicht haben Greg und sie schon Übung im Küssen. Wenn er uns beide miteinander vergleicht merkt er, daß ich überhaupt keine Ahnung habe, dachte Andrea und geriet in Panik. Als sie schließlich vor ihrem Haus ankamen, war Andrea ein einziges Nervenbündel. Sie griff nach dem Türgriff wie nach einem Rettungsring. Aber Greg ließ sie nicht so einfach davonkommen. Er legte eine Hand auf ihre Schulter, mit der anderen drehte er ihr Gesicht zu sich herum. "Warum hast du es denn so eilig?" fragte er. "Ich wollte dir noch sagen, daß ich es ganz toll mit dir fand. Hoffentlich hat es dir auch Spaß gemacht." "Großen." Andrea schluckte. Ihre Hände waren mittlerweile Eisklumpen, ihr Mund trocken wie Mehl. Greg beugte sich zu ihr hinunter. Der Mond schien auf sein Gesicht. Er wollte sie küssen, das konnte Andrea deutlich in seinen Augen lesen. Dann wurde Andrea wütend. Welche Frechheit, wo er morgen mit Melissa zum Fest wollte. Und hier spielte er nur mit ihren Gefühlen. Gregs Kopf kam näher, seine Hände lagen jetzt warm auf ihren Schultern. In Panik drehte Andrea den Kopf zur Seite, riß die Tür auf und schoß geradezu aus dem Auto. "Gute Nacht, es war ganz toll", rief sie über ihre Schulter zurück, sah dabei sein überraschtes Gesicht. Sie rannte auf die Eingangstür zu. Im gleichen Moment ging drinnen das Licht an. Wahrscheinlich hat Granny auf mich gewartet, überlegte - 95 -
Andrea grimmig. Naja, in Zukunft braucht sie das nicht mehr, eine Verabredung mit Greg Banyon wird es nicht mehr geben.
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9. KAPITEL "Ich komme mir vor wie eine Touristin", sagte Lisa McClellan. "Ich war noch nie im ,Renaissance Center' essen." "Dann wurde es aber Zeit", lachte ihr Mann und hielt die Eingangstür auf. Großmutter und Andrea folgten. Wie gut ich Mom verstehen kann, dachte Andrea und betrachtete staunend die luxuriös ausgestattete Eingangshalle des Restaurants, in das Dad sie zu ihrem Geburtstag eingeladen hatte. Andrea beobachtete, wie liebevoll ihr Vater mit Mom umging. Ihre Stimmung hob sich. In den letzten Wochen sah alles danach aus, als ob es mit den beiden gut ging. Sie waren oft zusammen unterwegs gewesen. Und Mom wurde richtig eitel, hatte sich ein paar neue Sachen gekauft. Die gute Stimmung zwischen ihren Eltern hatte Andrea ein wenig über die Enttäuschung ihrer eigenen ersten Liebe hinweggeholfen. Wobei fraglich war, ob man eine verpatzte Verabredung als den Anfang einer großen Liebe ansehen konnte. Seit jenem Abend war Greg nur noch kühl und höflich. Verdenken konnte sie es ihm nicht. Die McClellans waren jetzt im Restaurant angelangt. Dan hatte einen Tisch auf der Empore reservieren lassen, über eine supermoderne Treppe aus Chrom und Glas kam man hinauf. In einem Spiegel erhaschte Andrea einen Blick auf Großmutters verkniffenes Gesicht. Das war hier überhaupt nichts für sie. Ein Ober geleitete sie zu ihrem Tisch. Granny studierte die Speisekarte, guckte immer böser, als sie die Preise sah. "Kriminell", murrte sie. Andrea dagegen gefiel die Umgebung, noch nie hatte sie in so einem eleganten Restaurant gegessen. Fast andächtig sah sie sich um und streichelte impulsiv die Hand ihres Vaters. "O, Dad, das ist das tollste Restaurant, das ich mir für meine Geburtstagsfeier vorstellen kann."
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Liebevoll lächelte Dan seiner Tochter zu. "Für deinen sechzehnten Geburtstag kann überhaupt nichts gut genug sein! Schon sechzehn und noch ungeküßt", neckte er sie fröhlich. Andreas Lächeln erstarb. Gerade heute konnte sie solche Sprüche überhaupt nicht vertragen. Wenn nicht in diesem Moment der Ober gekommen wäre, hätte Andrea ihre Tränen nicht zurückhalten können. Es war aber auch zu ulkig, wie ehrfürchtig der Ober ihre Bestellung aufnahm. "Fünfzehn Dollar für ein Hühnchen", rief Großmutter aus. "Junger Mann, mit dem Geld kann eine ganze Familie mindestens zwei Tage lang leben." Der Ober jedoch verzog keine Miene, Erschrocken blickte Andrea zu ihrem Vater hinüber. Doch Dan McClellans Mundwinkel zuckten nur verstohlen. Andrea entspannte sich, mußte sich nun selber das Lachen verkneifen. Ich sollte Großmuttes Gerede einfach nicht immer so ernst nehmen, sagte sie sich. Das Essen wurde serviert. Andrea genoß ihr zartes Rumpsteak aus vollem Herzen. Wie schön, mal richtig zu schlemmen, fand Andrea. Und auch Granny, die eben noch so gemeckert hatte, verputzte ihr Essen restlos. Zum Essen hatte Dan eine Flasche guten französischen Rotwein kommen lassen und sprach nun einen Toast auf seine Tochter aus. "Auf meine wunderschöne Tochter und auf meine wunderschöne Frau", sagte er und sah Lisa liebevoll an. "Mögen wir von nun an immer zusammenbleiben." Glücklich sahen sich Dan und Lisa in die Augen. Andrea starrte ihre Eltern erregt an. "Heißt das...?", stammelte sie und blickte unsicher von Mutter zu Vater. "Ja", bestätigte Lisa und lächelte Andrea mit glänzenden Augen an. "Dein Vater und ich... wir..." Verzweifelt suchte sie nach Worten. Dan rettete seine Frau aus der Verlegenheit. Er legte seine kräftige, braungebrannte Hand auf Lisas kleine, zarte. "Ja, Andrea, es ist so. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht, aber du bekommst eine Überraschung zum Geburtstag: Einen Vater, - 98 -
der bei dir zu Hause wohnt. Lisa und ich wollen wieder zusammen leben, wieder eine richtige Familie sein." Andrea wußte vor Freude gar nicht, was sie sagen sollte. "Etwas dagegen haben? O, Dad, du machst mir das tollste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten." All ihre Gebete waren erhört worden. Überwältigt vor Glück sprang Andrea auf, rannte um den Tisch, umarmte halb lachend und halb weinend ihre Eltern. Die neugierigen Blicke der anderen Gäste von den Nebentischen waren ihr völlig egal. Doch als sie gerade Lisa umarmte, fiel ihr Granny ein. Was sagte die wohl zu dieser neuen Entwicklung? Die alte Dame saß mit ausdruckslosem Gesicht am Tisch. Erst als sie Andreas fragenden Blick spürte, rang sie sich ein Lächeln ab. "Ich gratuliere euch allen", sagte sie. Andrea fühlte, wie Mom sich verkrampfte. Auch sie machte sich Gedanken um Großmutter! Aber Grannys nächste Worte machten alle am Tisch sprachlos. "Ich habe auch ein paar Neuigkeiten für euch. Ada Buckridge zieht mit ihrem Schwiegersohn und dessen Familie nach Arizona. Ich habe mich entschlossen, mit ihr zu gehen." Andrea stand vor der Schlafzimmertür ihrer Mutter, unsicher, ob sie klopfen sollte oder nicht. Doch dann hörte sie ein Schluchzen und drückte entschlossen die Türklinke hinunter. Großmutters Neuigkeit war wie eine Bombe eingeschlagen, hatte aus dem Rest der Geburtstagsfeier eine Katastrophe gemacht: Lisa und Dan fingen sofort an, Granny zu überreden, mit ihnen zusammen in ein größeres Haus zu ziehen. Aber Großmutters schroffes Nein hatte die Spannung am Tisch fast unerträglich werden lassen. Als der Nachtisch gebracht wurde, mochte ihn eigentlich niemand mehr essen. Auf dem Nachhauseweg war Mom ganz still gewesen. Endlich zu Hause war sie direkt in ihr Schlafzimmer gegangen. Lisa lag mit roten, verquollenen Augen auf ihrem Bett.
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"O Mom, du hast ja geweint", rief Andrea und ging auf sie zu. "Es tut mir so leid", murmelte Mom und starrte auf ihre verkrampften Hände. "Ich habe dir deine Geburtstagsfeier verdorben. Und dabei wollten wir es so schön machen!" Sie schluchzte und griff nach den Taschentüchern auf dem Nachttisch. Andrea versuchte, ihre Mutter zu trösten. "Du hast mir meinen Geburtstag doch nicht verdorben. Ich bin so froh, daß ihr wieder zusammen seid." Aber Lisa war völlig verzweifelt. Unglücklich schüttelte sie ihren Kopf. "Verstehst du denn nicht, daß das nun unmöglich geworden ist?" Andrea versteifte sich. "Warum?" "Die ganze Situation ist einfach hoffnungslos. Wie kann ich glücklich und zufrieden mit Dan leben, wenn ich mich gleichzeitig wegen Mutter schuldig fühle? Sie ist alt und krank. Ich weiß genau, daß sie eigentlich nicht nach Arizona ziehen möchte. Sie tut das doch nur, weil sie glaubt, daß wir sie nicht mehr wollen." Ungläubig starrte Andrea ihre Mutter an. Während sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, schaute sie sich in Moms Zimmer um. Es war hell, freundlich und blitzsauber. Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte Mom in diesem Raum gelebt, sich nie ein eigenes Heim einrichten können. Ihr Leben lang hatte sie unter Großmutters Fuchtel gestanden. Es war Zeit, daß Mom erwachsen wurde! Andrea schien es, als hätte sie mit Mom die Rollen getauscht. "Du irrst dich, Mom", sagte Andrea. "Ich glaube, Granny möchte wirklich gern nach Arizona. Mrs. Buckridge hat mir erzählt, daß das Klima dort viel besser für jemanden ist, der Gicht hat." "Ich glaub das einfach nicht", winkte Lisa resignierend ab. "O doch, genau das will ich", unterbrach eine Stimme das Gespräch. Mutter und Tochter fuhren herum. Großmutter stand streitlustig in der halb geöffneten Tür. "Ich war auf dem Flur und habe alles mitgehört. - 100 -
Das kann doch wohl nicht wahr sein, Lisa McClellan. Hast du wirklich vor, deine Ehe ein zweites Mal zu ruinieren, nur weil du dich für mich verantwortlich fühlst?" Andrea sah von ihrer Großmutter zu Mom. Die schien sprachlos. Zweimal öffnete sie den Mund, wollte etwas sagen, brachte aber keinen Ton heraus. "Also, nun schnapp nicht wie ein Fisch auf dem Trockenen, sondern beantworte mir eine Frage", befahl Granny energisch. "Liebst du nun deinen Ehemann oder nicht?" Schweigen. Andrea hielt gespannt den Atem an. Mom sah auf ihre zitternden Hände. "Ja, ich liebe ihn", flüsterte sie kaum hörbar. "Willst du mit ihm leben und seine Frau sein?" "Ja." Lisa hob die Augen und sah Großmutter an. "Dann ist ja alles klar." Großmutter kam jetzt rein, schloß energisch die Tür und setzte sich auf einen Stuhl neben Moms Bett. "Ich werde dir jetzt mal genau das sagen, was ich schon Dan McClellan vor ein paar Minuten am Telefon erzählt habe." "Hat Dad angerufen?" fragte Andrea überrascht. "Ja." Großmutter warf ihrer Enkelin einen ironischen Blick zu. "Er wollte wissen, was ich vorhabe und ob ich Geld brauche." Großmutter saß kerzengerade auf dem Stuhl, die Füße fest nebeneinander auf den Boden gesetzt. Eindringlich blickte sie auf ihre Tochter. "Lisa, du hast viel zu jung geheiratet, und das war sicher nicht meine Schuld. Ich habe dich damals gewarnt, und war böse, daß du dich für Dan entschieden hattest. Das hat euch beiden das Zusammenleben bestimmt nicht erleichtert. Glaub mir, heute mache ich mir die größten Vorwürfe." Großmutter holte tief Luft. "Ich weiß, daß die letzten zehn Jahre für dich kein Zuckerschlecken waren. Für mich war es aber auch nicht gerade leicht. Schon oft wollte ich in ein gesünderes Klima ziehen, noch mal was vom Land sehen, bevor ich zu alt zum Reisen bin. Aber solange du und Andrea ein Dach über dem Kopf brauchtet, konnte ich die Zelte hier nicht so einfach abbrechen. Aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt da. - 101 -
Du, Lisa, kannst deine Ehe wieder aufbauen, und du, Andrea, wirst erleben, wie es ist, einen Vater zu haben. Und ich werde mir etwas von der Welt ansehen, bevor ich sterbe." Verwundert starrte Lisa Grandma an. "Bedeutet das, du freust dich über Dan und mich? Und du möchtest gerne von Detroit wegziehen?" Großmutters strenger Blick blieb, aber die Mundwinkel zuckten. "Ich gebe zu, daß ich zuerst mißtrauisch war, als er zurückkam. Doch jetzt glaube ich, daß ihr beiden es packen werdet." Ihr Lächeln vertiefte sich. "Außerdem freue ich mich wie ein Kind auf den Umzug. Ada und ich haben eine großartige Zeit vor uns. Sobald Dan und du ein Haus gefunden habt, werde ich dieses verkaufen, mein Bündel schnüren und mir ein paar Cowboystiefel kaufen", kicherte sie. Alle möglichen Gefühle spiegelten sich in Lisas Gesicht: Zweifel, Verwirrung, Erleichterung und Glück. "O Mutter", rief sie, sprang aus dem Bett, umarmte und küßte die alte Dame. "O Mutter, ich danke dir." "Du brauchst dich bei mir nicht zu bedanken", sagte Großmutter trocken. "Das alles hätte schon vor ein paar Jahren so sein sollen." Zum ersten Mal seit Jahren erkenne ich meine Freunde, dachte Andrea. Ein Hoch auf die neuen Kontaktlinsen! Sie lächelte über Babs, die neben ihr im Bus saß und aufgeregt vor sich hinplapperte. Den ganzen Vormittag hatte sie von Klaus, dem deutschen Austauschstudenten geschwärmt. Seit der ihre Einladung zum alljährlichen Schulball angenommen hatte, redete Babs von nichts anderem mehr. Andrea hatte der Freundin geduldig zugehört, ihre Stimmung war großartig. Heute morgen auf dem Weg zur Eisenbahn hatte Mom ihr erzählt, daß sie und Dad schon am Wochenende mit der Suche nach einem Haus beginnen wollten. Aber Anne war merkwürdig still, das sah Andrea gleich. Bedrückt starrte die Freundin aus dem Busfenster. Andrea war überzeugt, daß irgend etwas nicht stimmte. Sobald Babs - 102 -
ausgestiegen war, setzte sich Andrea neben Anne. "Warum bist du so down?" "Es ist nichts", sagte Anne, starrte weiterhin aus dem Fenster. "Nun sag schon, ich bin doch deine Freundin." Anne seufzte tief und ließ den Kopf traurig hängen. "Stimmt, Andrea, deshalb erzähle ich es dir. Ich wollte nur nicht, daß Babs etwas mitkriegt. Sie ist nicht die einzige, die jemanden zu diesem Ball engeladen hat. Gestern habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und Dennis gefragt." Stirnrunzelnd betrachtete Andrea das bedrückte Gesicht ihrer Freundin. "Und was ist passiert?" Anne zuckte mit den Schultern, als ob das alles nicht so wichtig wäre. Nur das Zittern in ihrer Stimme verriet sie. "Angeblich ist er schon verabredet," "Vielleicht stimmt das ja." Anne nickte und zog die Mundwinkel herunter. "Kann ja sein. Es ist die Art und Weise, wie er das gesagt hat. Er hat mich richtig auflaufen lassen. Ich kam mir vor, wie damals in der fünften Klasse. Dabei dachte ich, darüber weg zu sein. Aber es war plötzlich alles wieder da, das Zittern und die Angst. Gerade, als ob ich wieder zehn wäre." Anne umklammerte ihre Schultasche, "Das ist mir so peinlich. Ich wollte, wir würden schon morgen nach Arizona aufbrechen." "Bloß das nicht", entrüstete sich Andrea. "Ich will am liebsten, daß du überhaupt nicht wegziehst." Andreas Worte halfen. Ein warmer, herzlicher Ausdruck trat auf Annes Gesicht. "Ich weiß, mir geht's ja auch so. Wir werden immer Freundinnen bleiben, egal, wie weit wir voneinander getrennt sind." "Freudinnen für immer und ewig", stimmte Andrea aus ganzem Herzen zu. Das Gespräch mit Anne hatte Andreas guter Laune einen argen Dämpfer versetzt. Als sie zwanzig Minuten später auf das Eis lief, war sie ziemlich niedergeschlagen. Der Anblick
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von Greg, der mit ein paar Mädchen auf dem Eis herumschäkerte, hob ihre Stimmung auch nicht gerade. Andrea seufzte. Seit dem Abend beim Fußball war er immer höflich zu ihr gewesen, hatte ihr auch einige Male bei ihren Übungen geholfen. Aber immer war da dieser kühle Ausdruck in seinen Augen gewesen, der deutlich machte, daß ihre Freundschft sich nicht weiter vertiefen würde. War er immer noch sauer, weil sie sich nicht von ihm hatte küssen lassen? überlegte Andrea. Oder war da noch was? Dachte er vielleicht, daß sie ihn nicht mochte? Aber es würde auch nicht helfen, wenn sie ihm von ihren wirklichen Ge- fühlen erzählte, sie machte sich nur lächerlich! Andrea zerbrach sich den Kopf. Nein, reden half nichts. Annes Beispiel zeigte doch sehr deutlich, wie es einem gehen konnte, wenn man ehrlich war. Plötzlich hörte Andrea zwei bekannte, männliche Stimmen, die sie gar nicht mochte. Tim Davis und Rick Baker waren wieder mal da. Laut lachend und schreiend rasten sie mit ihren Hockeystiefeln über das Eis, bremsten abrupt und zerkratzten dabei die Oberfläche so sehr, daß kleine Eisstückchen durch die Luft flogen. Bloß weg hier, dachte Andrea spontan. Doch dann zwang sie sich, nicht vom Eis zu gehen. Es wäre ja verrückt, sie hatte noch mindestens fünfund-vierzig Minuten Übungszeit, bis der Job in der Snackbar anfing. Außerdem beachteten die beiden sie überhaupt nicht. Greg war es, auf den sie sich konzentrierten. Greg kümmerte sich gerade um eine Gruppe kleinerer Kinder in der Mitte der Eisfläche. Er hatte weder Andrea noch die beiden Hockeytypen bemerkt. Tim und Rick jagten jetzt, aus entgegengesetzten Richtungen kommend, auf ihn zu, bremsten haarscharf vor seinen Füßen. Andreas Herz klopfte wie wild. Was hatten sie vor? Wollten sie Ärger machen? Doch Greg blieb ganz ruhig. Bevor die beiden reagieren konnten, sprang Greg locker über Tims Stiefel und sauste davon. Über die Schulter rief er ihm irgend etwas Herausforderndes zu. Denn in der nächsten Se-kunde jagten die beiden Rowdys los. Und eine wilde Verfolgungsjagd begann. - 104 -
Es war gefährlich mit all den kleinen Kindern auf dem Eis. Sie scheuchte die Kleinen an die Balustrade, wo sie neugierig stehenblieben. Auch Andrea blieb wir angewurzelt stehen. Mit blitzenden Augen gab Greg eine Vorstellung von gekonntem Eislauf. Er hatte überhaupt kein Problem, seine Verfolger auszutricksen. Mit der Geschmeidigkeit einer Katze ent-wand er sich ihnen immer wieder. Trotzdem gaben die beiden nicht auf. Was hatten die bloß vor? Wollten sie ihn verprügeln? "He, Goldlocke, bleib stehen, damit wir dir deine albernen Weiberschlittschuhe ausziehen können", brüllte Rick. "Krieg mich doch", forderte Greg ihn heraus und lief direkt auf ihn zu. Blitzschnell griff er den Kamm, der hinten in Ricks Hosentasche steckte, machte kehrt und kreiste in sicherer Entfernung um ihn herum. "Gib das sofort zurück", kreischte Rick, jetzt so gereizt wie ein angeschos-sener Grizzlybär. "Ruhig Blut!" mahnte Greg und ließ den Kamm in Tims Hemdkragen fallen, als dieser auf ihn zugeschossen kam. Dann nahm er Anlauf und sprang einen hohen Doppelaxel. Tim und Rick fiel der Unterkiefer herunter. Greg landete weich und sicher, kam zum Stand und verbeugte sich tief. "Vielen Dank, vielen Dank, aber das war ja noch gar nichts. Jedes Kind mit Eislaufstiefeln läßt euch beide furchtbar alt aussehen. Ihr könnt es mir glauben, ich werde es euch beweisen." Im nächsten Moment kam Greg auf die Balustrade zugelaufen, wo Andrea ahnungslos stand und zusah. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als Greg ihr Handgelenk ergriff und sie in die Mitte der Eisfläche zog. „O nein." Verzweifelt rang sie nach Luft und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Aber seine Finger faßten nur noch fester zu. "Seht euch die hübsche Kleine hier an", forderte Greg die beiden Hockey-spieler auf. "Sie ist halb so groß wie ihr, aber ich wette um eine Runde Cola, daß sie euch beiden Gorillas jederzeit wegläuft."
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"Laß das", kreischte Andrea, versuchte zu fliehen. Aber es war schon zu spät. Rick und Tim beäugten bereits interessiert ihr Opfer. Andrea sah hilfesuchend zu Greg, doch der lächelte nur. "Die beiden können nur rechtsrum drehen", flüsterte er ihr ins Ohr. "Mach Linkskurven, dann kriegen sie dich nie." "Oh, vielen Dank für den Tip." "Und vergiß nicht, ich habe Geld auf dich gesetzt. Die Cola ist nicht gerade billig bei dir in der Snackbar." Andrea hätte ihn am liebsten ans Schienbein getreten. Aber für Rache war jetzt keine Zeit, Rick und Tim hatten die Verfolgung bereits aufgenommen. Andrea duckte sich und lief unter Tims Arm hindurch. Überrascht stellte sie fest, daß Gregs Tip genau richtig gewesen war. Obwohl die Hockeyspieler sehr schnell waren, konnte Andrea mit ihren Eiskunstlaufstiefeln viel besser drehen und wenden. Alles, was sie tun mußte, um ihnen zu entwischen, war, blitzschnell die Laufrichtung zu ändern. Nach den ersten paar Minuten merkte Andrea, daß sie den beiden tatsäch-lich überlegen war. Ihre Angst verschwand, und ihr Selbstvertrauen wuchs. Wieder und wieder lief sie ihren Verfolgern davon. Greg und die Kinder an der Balustrade jubelten ihr zu. Aber sie war nicht die einzige, die an diesem Spielgeschehen Gefallen fand. Trotz ihrer wilden Schlachtrufe schienen auch Rick und Tim ihren Spaß zu haben. Sie wirkten überhaupt nicht mehr bedrohlich auf Andrea, sondern einfach nur lustig. Als sie ihnen wieder mal direkt vor der Nase entkommen war, strahlte sie die beiden an. Die Jungen guckten sich verdutzt an, mußten dann aber auch lachen. Es war klar, daß Andrea und Greg die Wette gewonnen hatten. Erstaunlich, wie fröhlich Rick und Tim ihre Niederlage hinnahmen. Sie erklärten sich bereit, die versprochenen Colas auszugeben, und die vier liefen zusammen zur Balustrade. Andrea wurde ganz warm ums Herz, als Greg dabei den Arm um ihre Schultern legte. Trotzdem war sie immer noch ein klein bißchen sauer auf ihn. "Warum hast du mich da reingezogen? Du wußtest doch - 106 -
ganz genau, daß ich nicht mit diesen Typen Kriegen spielen wollte." Greg zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. "Ja, ich weiß. Alles, was die Aufmerksamkeit anderer auf dich lenken könnte, vermeidest du. Aber ich habe beschlossen, dich aus deinem Mauseloch hervorzuholen." "Wie bitte?" Greg kicherte, aber sein Blick blieb ernst. "Ich meine das Loch, in dem du dich immer versteckst. Es ist Zeit, daß du da endgültig rauskommst. Gib es zu, es hat dir Spaß gemacht, es den Typen zu zeigen." Andrea schwieg. Es stimmte. Sie hatte die Situation genossen. Aber er hatte kein Recht, sie zu etwas zu zwingen. Sie wollte seinen Arm abschüt-teln, aber auch das ließ er nicht zu. "Ich habe dich da hineingezogen, also muß ich dir auch wieder heraushel-fen." Eindringlich sah er sie an. "Oder möchtest du etwa, daß einer von den beiden versucht, sich mit dir zu verabreden?" Heftig schüttelte Andrea den Kopf. Greg lachte laut, als er ihr Gesicht sah. "Na also, dann hör auf, so zu tun, als ob du mich nicht ausstehen kannst. Laß sie glauben, du wärst meine Freundin." Ohne weiteren Protest, allerdings puterrot im Gesicht, ging Andrea mit ihm in die Snackbar. Sie merkte, daß Tim und Rick ihr auffordernde Blicke zuwarfen. Doch sie mußten sich zurückhalten. Denn Greg legte seinen Arm besitzer-greifend um ihre Taille und zwang sie, sich an ihn zu lehnen. So fühlte sie sich sicher und beschützt und irgendwie merkwürdig stolz. Es war Zeit für Andrea, mit ihrer Arbeit zu beginnen. Die Hockeyjungen gin-gen, und Greg mußte wieder zurück aufs Eis, um dort Aufsicht zu führen. Der Zwischenfall hatte Andrea zu denken gegeben. Während sie frischen Kaffee kochte, machte sie sich eines klar: Von nun an würde sie vor Typen wie Rick und Tim keine
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Angst mehr haben. Es war dumm von ihr gewesen, sich ständig einschüchtern zu lassen. Doch da war noch die Sache mit Greg. Er hatte alles getan, um den beiden klar zu machen, daß Andrea und er zusammen gingen. Die Art, wie er sie angesehen und festgehalten hatte, signalisierte ganz deutlich: "Finger weg, die gehört mir!" Warum machte er das? fragte sie sich. Mag er mich etwa doch? Aber warum wurde er dann sofort wieder abweisend, als Rick und Tim gegangen waren? Andrea war ganz flau, als wären Schmetterlinge in ihrem Magen. Sollte sie Greg zeigen, daß sie ihn mochte? Diese Gedanken wirbelten Andrea den ganzen Tag im Kopf herum. Beim Üben am nächsten Morgen benahm sich Greg wieder völlig unverbindlich. Andrea war ein Mädchen unter vielen, ein Nichts in der großen Schar seiner Anbeterinnen. Ich habe mir das alles wohl nur eingebildet, dachte sie wütend, als sie Greg und Melissa gemeinsam in dem roten MG davonfahren sah. Ärgerlich drehte sie sich vom Fenster weg und wandte sich zu Babs. "Glaubst du, es wäre verrückt von mir, wenn ich Greg Banyon zu unserem Schulball einladen würde?" Babs starrte sie an. Als ob ich reif für die Klappsmühle bin, dachte Andrea böse. Und morgen weiß es Gott und die Welt, aber das war jetzt eigentlich auch egal. Sie mußte einfach etwas mit Greg unternehmen. Langsam schüttelte Babs den Kopf. "Ich weiß nicht so recht. Man sieht ihn ja dauernd mit Melissa. Aber mir ist auch schon aufgefallen, daß er dich immer so auf eine ganze besondere Weise ansieht." "Auf welche Weise?" "Kann ich nicht genau erklären, jedenfalls sieht er kein anderes Mädchen so an. Frag ihn doch einfach. Was hast du schon zu verlieren?" Nur meine Selbstachtung, grübelte Andrea. Verzweifelt klammerte sie sich an die Haltestangen im Bus. In der Schule kapierte Andrea an diesem Tag überhaupt nichts. Während Mrs. McKesson einen Vortrag über
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frühägyptische Kultur hielt, dachte Andrea an Greg und den Schulball. "Los, spring über deinen Schatten", riet ihr Babs später. "Du mußt da durch. Frag ihn einfach. Ich habe es mit Klaus ja schließlich auch gemacht, und es hat geklappt." Stolz strich sie sich das Haar aus der Stirn. Anne hat es auch getan, fiel Andrea ein. Und was ist dabei herausgekom-men - sie ist total deprimiert. Gerade aber Anne gab den Anstoß für Andrea, ihn doch zu fragen. Sie hatten immer die guten und die schlechten Zeiten miteinander geteilt. Wenn Greg nun auch ihre Einladung zurückwies, hatte sie wenigstens Anne, mit der sie ihr Leid teilen konnte. Die Gelegenheit, Greg einzuladen, ergab sich zwei Nachmittage später, als Andrea und Greg zufällig gemeinsam die Eisfläche verließen. Andrea blieb unschlüssig neben der Eingangstür stehen. Vielleicht würde Greg ihr ja anbieten, sie nach Hause zu fahren. Unterwegs hätte sie dann irgendwie den Tanzabend ins Gespräch bringen können. Aber er dachte gar nicht daran. Mit einem knappen "Tschüß" ging er zum Parkplatz hinüber. Andrea schluckte. "Greg", rief sie hinter ihm her. Ihr war, als ob sie gerade in Treibstand gesprungen wäre. Greg blieb stehen, drehte sich halb herum und sah sie neugierig an. Es war ein kalter Tag. Die Bäume waren fast kahl, und ein kühler Wind pfiff durch Andreas Pullover, auch Gregs Locken waren ganz zerzaust. Ungeduldig schlug er den Kragen seiner Windjacke hoch und wartete auf das, was Andrea ihm zu sagen hatte. Aber Andrea konnte kaum sprechen, ihr Mund war völlig ausgetrocknet. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Sie zwang sich zum Reden. "Am nächsten Freitag ist in meiner Schule ein Fest, zu dem die Mädchen die Jungen einladen." Greg zog fragend die Augenbrauen hoch. "Ja?" Sie konnte nur noch stottern. "Ich frage mich, ob... ob..." "Ja?"
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Das war furchtbar! Viel schlimmer, als sie es sich vorgestellt hatte. Alles Blut war aus ihrem Kopf verschwunden, und sie würde gleich ohnmächtig vor ihm zu Boden sinken. Sie öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. "Wolltest du mich fragen, ob ich mit dir hingehe?" fragte Greg. "Ja", hauchte Andrea. Ihre Knie fühlten sich an wie Gummi. "Okay", stimmte er zu. "Sag mir Bescheid, wann du los möchtest, dann hole ich dich ab." Fröstelnd zog er die Schultern hoch. "Kalt hier draußen. Soll ich dich nach Hause bringen?" Benommen starrte Andrea ihn an. Er hatte nicht nein gesagt. Greg ignorier-te ihr Erstaunen, nahm ihren Ellbogen und schob sie sanft zum Auto.
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10. KAPITEL "Na, wie gefällt es dir, Kleines?" "Ich finde es wunderschön", antwortete Andrea auf die Frage ihres Vaters begeistert. Entzückt sah sie sich in dem sonnigen Raum mit der hohen Decke und den riesigen Fenstern um. Das würde ihr Zimmer werden, hatten ihre Eltern ihr versprochen, nachdem sie das schöne alte Haus gekauft hatten. "Ab nächste Woche arbeite ich nur noch halbtags", sagte Mom fröhlich zu Dad. "Es gibt so vieles, was ich hier tun möchte. Und stellt euch vor", erklärte sie strahlend, "ich habe mich für einen Kochkurs angemeldet." Andrea staunte, seit wann interessierte Mom sich denn fürs Kochen. Sie wollte schon fragen, doch Lisa ließ sie nicht zu Wort kommen. Sie war ganz aufgeregt. "Ich möchte ganz viel Zeit und Kraft für dieses Haus ha- ben. Es muß so viel gemacht werden." Sie fuhr mit dem Finger über den Türrahmen. "So viel sauberzumachen, anzustreichen und zu renovieren!" Mom sah von Tag zu Tag jünger aus, ihr blondes Haar schimmerte. Es war erstaunlich, wie schnell sich die einst so schüchterne, unscheinbare Lisa in eine sprühende, lebensfrohe Frau verwandelt hatte. Ein Beweis für die Macht der Liebe. Kein Zweifel, so wie Mom und Dad sich heute nachmittag angesehen hatten, liebten sie sich sehr. Andrea konnte einen leichten Stich von Neid nicht unterdrücken. Sie freute sich über das Glück, ihrer Eltern und gönnte es ihnen von ganzem Herzen. Aber wie schön wäre es, wenn auch sie sicher sein könnte, von Greg gemocht zu werden. Sie hätte ihm so gern etwas bedeutet! Die ersten Stunden, nachdem er die Einladung angenommen hatte, ging sie wie auf Wolken. Aber, nicht lange und sie stand - 111 -
wieder mit den Beinen auf der Erde. Warum hatte er wohl zugesagt? Wahrscheinlich weil er mich nicht verletzen wollte. Ja genau, das mußte es sei, er hatte Mitleid mit ihr. In den nächsten Tagen hatte Gregs Verhalten ihr recht gegeben. Zwar setzte er auch nachmittags das Training für den Wettkampf mit ihr fort, blieb dabei aber so unverbindlich, als sei sie nur eine von vielen Eisläufe-rinnen. Kein Anzeichen hatte darauf hingedeutet, daß er sie mehr als die andern mochte. Am Abend des Festes war Andrea so aufgeregt, daß sie kaum die winzi- gen Knöpfe an der griechischen Bluse zubekam, die sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. Auch sonst hatte sie eine anstrengende Woche vor sich. Manchmal, wenn sie im Wohnzimmer saß und den aufgeregten Planungsgesprächen zuhör-te - Großmutter mit ihrem Umzug nach Arizona, Mom mit ihren Ideen für das neue Haus - kam es ihr vor, als gäbe es zwei Andreas. Die eine Andrea McClellan war glücklich, daß es in der Familie so gut lief. Die andere Andrea fragte sich, ob sie je auch solches Glück haben würde. Könnte die Andrea McClellan, über die die Jungen in der fünften Klasse nur gelacht hatten, einen Jungen wie Greg Banyon für sich zu interessieren? Sie marterte sich den Kopf, aber es half alles nichts. Greg war derjenige, den sie wollte. Es klingelte, und Andrea holte tief Luft. Unsicher betrachtete sie sich im Spiegel, eine völlig neue Andrea stand da. Das Mädchen in dem schwar- zen Rock und der hübschen Bluse war schlank, niedlich, ja sogar hübsch anzusehen. Die braunen Augen funkelten hinter den dichten Wimpern. Leichte Sommersprossen betonten ihren zarten, hellen Teint und ihren vollen, rosigen Mund. Ja, das Mädchen im Spiegel sah gut aus, fand An- drea. Ob Greg das auch dachte? Gregs langer, bewundernder Blick, als Andrea die Treppe herunterkam, ließ sie fast stolpern. Oh, wie dankbar war sie ihrem Dad für die Kontaktlin-sen. Ohne sie hätte sie Gregs Gesichtsausdruck gar nicht erkennen können. - 112 -
Wie gut er wieder aussieht, dachte Andrea, als sie ihn sich genauer be-trachtete. Greg trug eine graue Flanellhose und einen dunkelblauen Blazer. Lässig hatte er seine Hände in die Hosentaschen gesteckt. Dabei war die Jacke zurückgerutscht, und man sah deutlich seine schmale Taille und die schlanken Hüften. "Fertig?" fragte er mit seiner tiefen Stimme. Der Ausdruck seiner Augen zeigte Andrea, wie sehr sie ihm gefiel. Andrea nickte. Da bemerkte sie Mom die in der Wohnzimmertür stand und ihr ver- schwörerisch zulächelte. Sie weiß ganz genau, wie ich mich fühle, dachte Andrea und wurde rot. "Viel Spaß, ihr beiden!" "Ja, danke, Mom, den werden wir haben", versicherte Andrea. Sie war noch nie auf so einem Tanzfest gewesen. Außer Babs kannte sie wahr-scheinlich nur sehr wenige Leute dort. Während der Fahrt zu Andreas Schule redete Greg über ihre Fortschritte im Eislaufen. "Dein Ausdruck ist viel besser geworden", lobte er . "Es ist das Geheimnis der guten Haltung, das bei Eistanz entscheidend ist. Du darfst nie vergessen: Das Sprungbein tief beugen und den Rücken stark durchbiegen. Und alles andere mußt du so weit wie möglich strecken." "Das hört sich an, als ob ein Eistänzer gleichzeitig ein Verrenkungskünstler sein muß!" "In gewissem Sinne stimmt das auch. Und weil du so klein bist, mußt du deinen entzückenden Körper ganz besonders strecken." Darauf mochte Andrea nichts sagen. Natürlich war sie ziemlich klein, aber sonst hatte sie sich noch nie Gedanken über ihre Figur gemacht. Fand er sie wirklich entzückend? Glücklicherweise bemerkte Greg ihren verwirrten Blick nicht. "Es ist zu schade, daß du keinen Ballettunterricht gehabt hast", fuhr er fort. "Das würde dir wirklich helfen." Andrea mußte lachen. "Warst du beim Ballett?" Greg lachte selbst. "Mein Trainer hat darauf bestanden, daß ich ein paar Stunden nehme. Ich war gar nicht froh darüber, bis
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ich entdeckte, daß die Jungen aus unserer Fußballmannschaft im selben Kurs waren." Er kicherte. "Du hättest uns sehen sollen, wir haben uns angestellt wie die Affen im Zoo. Aber im Ernst, du solltest dich für ein paar Ballettstunden anmelden. Das ist wichtig für den Eistanz." "Aber ich habe weder die Zeit noch das Geld dafür", protestierte Andrea. Wollte er eigentlich nie über etwas anderes als Eislaufen mit ihr reden? Heute abend konnte sie es nicht hören. Ich wette, mit Melissa spricht er über ganz andere Dinge, zum Beispiel über ihr nächste Verabredung. Ob es wohl zwischen mir und ihm eine nächste Verabredung geben wird? Wahrscheinlich nur, wenn ich ihn wieder frage, und das tue ich nicht noch mal. Als sie in die Cafeteria traten, wo das Fest stattfand, war Andrea ziemlich unsicher. Wie sollte man sich bei einer solchen Veranstaltung verhalten. Aber Gottseidank kannte Greg sich aus. Ganz selbstverständlich führte er sie auf die Tanzfläche, schien völlig unbeeindruckt, daß er weder die Umgebung noch die Leute kannte. Aber schnell wurde ihr klar, warum er so selbstsicher auftrat: alle Mädchen auf der Tanzfläche warfen ihm interessierte und bewundernde Blicke zu. Das beunruhigte sie zwar, brachte aber auch unzweifelhaft Vorteile für Andrea: ihr Image hob sich automatisch. Die anderen Mädchen sahen Andrea voller Neid an. Auch die Begleiter der Mädchen schienen sich plötzlich für Andrea zu interessieren. Langsam entspannte sie sich und begann, die Situation zu genießen. Greg drückte kurz ihre Hand und lächelte ihr aufmunternd zu, als ein Junge aus ihrem Geschichtskurs sie um den nächsten Tanz bat. Danach lief alles locker und leicht ab. Andrea wurde von vielen Jungen zum Tanzen aufgefordert, und Greg tanzte mit Babs und deren Freundinnen. Nur daß Anne nicht da war, störte Andreas Spaß an diesem Abend. Ihre beste Freundin saß zu Hause, langweilte sich und
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war sauer. Und dann sah Andrea Dennis McGraw mit einer aufgedonnerten Blondine vorbeitanzen. Er hatte sich wahrlich verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte! Groß und kräftig war er geworden. Aber Andrea hätte ihn überall an seinem fiesen Grinsen wiedererkannt. Sofort fielen ihr die Quälereien in der fünften Klasse ein und sie drehte sich schnell weg. Aber es war, als ob das Schicksal ihr einen bösen Streich spielen wollte, die dunklen Geister der Vergangenheit ließen sich nicht so leicht abschütteln. Eine nur allzu bekannte Stimme hörte sie an ihrem Ohr, nur heute war der Ton sanft und verführerisch. "Kenne ich dich nicht von der Grundschule? Du bist doch Andrea McClellan, oder?" Andrea fuhr herum und sah in sein freches Gesicht. Sie nickte und merkte, daß er sie unverfroren von Kopf bis Fuß musterte. Dann lächelte er. "Ich kann es gar nicht glauben", schmeichelte er. "Wenn mir nicht jemand deinen Namen gesagt hätte... ich hätte dich nie erkannt. Wie wär's mit einem Tänzchen?" Hilfesuchend sah sich Andrea nach Greg um. Aber der tanzte gerade mit Babs und hörte höflich ihrem Gerede zu. Dennis griff Andreas Arm und zog sie auf die Tanzfläche. Widerstrebend ging sie mit. Und wenn es nicht für Anne gewesen wäre, hätte sie sich geweigert! Ihrer Freundin zuliebe wollte sie versuchen, etwas mehr über diesen Dennis McGraw zu erfahren. Anne hatte ja behauptet, er habe sich verändert, und vielleicht war es unfair, ihn von vornherein abzulehnen. "Wenn ich gewußt hätte, daß du hier bist, ich hätte dich schon viel früher angesprochen", versuchte Dennis zu flirten. "Ich habe dich schon mal gesehen und gedacht, was für ein tolles Mädchen du bist!" Erstaunt sah Andrea auf. Was sollte das? Irritiert guckte sie ihn an. Trotz der harten Gesichtszüge sah Dennis gut aus. Sie konnte schon verstehen, daß, Anne ihn attraktiv fand. Aber Andrea konnte einfach die schlechten Erinnerungen nicht verdrängen. Bin ich deshalb engstirnig? fragte sie sich selbst. Vielleicht war es ja tatsächlich nur ein Entwicklungsstadium - 115 -
bei Jungen, diese Phase, wo sie so gemein und fies zu Mädchen sind. Aber Greg war bestimmt nie so. Er hatte so überhaupt keinen grausamen Zug an sich. "Erinnerst du dich noch an Anne Whitehouse, die geht hier auch zur Schule?" fragte Andrea vorsichtig und beobachtete Dennis. "Ja, sie ist mit mir zusammen in einem Kurs. Aber sie hat sich nicht zu einem so tollen Typ entwickelt wie du." Dennis warf Andrea einen unmiss-verständlichen Blick zu. Andrea zwang sich zwar zu einem Lächeln, doch innerlich kochte sie vor Wut. Dennis hatte sich überhaupt nicht verändert! Er war noch genauso dumm und oberflächlich wie früher. Sicher, Anne sah nicht aus wie Miß Amerika. Aber sie war ein wunderbares Mädchen, und Dennis verdiente ihre Zuneigung überhaupt nicht. Vielleicht war es gut für sie, nach Arizona zu ziehen. Wenigstens würde sie dann diesem Ekel Dennis McGraw nicht länger nachweinen. Andrea war so stinksauer, daß sie zuerst gar nicht richtig mitgekriegte, was Dennis noch sagte. "Laß uns hier abhauen und irgendwo hingehen, wo wir... äh... über alte Zeiten reden können." Vertraulich zwinkerte er ihr zu. "Ich habe heute abend das Auto von meinem Vater." Andrea war schockiert. "Ich bin in Begleitung hier und du doch auch." Sie zeigte auf die Blondine, die sie vorhin mit Dennis gesehen hatte. Das Mädchen tanzte gerade ziemlich eng mit einem breitschultrigen Typen, den Andrea als einen der Fußballgrößen der Schule erkannte. Dennis verzog den Mund. "Och, Patty, die kann auf sich selbst aufpassen. Du siehst ja, wie sie da mit King Kong rumhängt." "Ich bin aber in Begleitung hier." Andrea wollte gehen, doch Dennis griff nach ihrem Handgelenk. "Hey, warte." Böse starrte sie ihn an und versuchte, sich loszureißen. Da hörte sie Greg. "Hast du irgendwelche Probleme? Soll ich dir helfen?" Seine Stimme über-tönte die laute Musik. - 116 -
Andrea fuhr herum. Greg stand direkt hinter ihr und sah mit eiskaltem Blick in Dennis wutverzerrtes Gesicht. Lässig streckte er die Hand aus und befreite Andrea aus Dennis Griff. "Die gehört zu mir", erklärte er kurz und bündig, zog Andrea an seine Seite und führte sie durch die Menge, weg von Dennis. Der lief vor Wut rot an, wagte es aber nicht einzugreifen. "Was war denn da eben los?" fragte Greg. "Oh... nichts", stotterte Andrea." Er wollte, daß ich mit ihm weggehe." Greg grollte. "Ich hoffe, du hast ihm gesagt, daß er zum Teufel gehen soll." Andrea kicherte. Greg zog sie in die Arme, tanzte mit ihr. "So was Ähn-liches", gab sie zu. Während sie sich mit Greg zu dem langsamen Rhythmus des Blues be-wegte, den der Discjockey gerade aufgelegt hatte, dachte sie über Dennis nach. Er hat gesagt, ich hätte mich verändert, wunderte sie sich. Das war zwar unverschämt, aber irgendwie auch ein Kompliment. Ein Typ wie Dennis würde mich doch total übersehen, wenn ich immer noch das unschein- bare, kleine Mädchen von früher wäre. Aber sie wollte mit Dennis McGraw nichts zu tun haben. Und es war toll, daß sie in der Position war, ihn abzu-weisen. Andrea legte den Kopf an Gregs Schulter. Irgendwie war das schon ein denkwürdiger Abend. Auf dem Nachhauseweg war Andrea noch stiller als sonst. "Worüber denkst du nach?" fragte Greg, als er vor Andreas Haus anhielt. Andrea blickte ihn an, und die ganze verfahrene Situation mit Greg war ihr wieder bewußt. Sie stand vor dem Haus, um sich nach einer Verabredung zu verabschieden. Wurde es jetzt wieder so peinlich wie nach dem Fußballspiel? Andrea hatte sich fest vorgenommen, dieses Mal nicht vor seinem Kuß davonzulaufen. Für sie würde der Spruch "Sechzehn und noch ungeküßt" nicht mehr lange gelten! Sie drehte sich mit klopfendem Herzen Greg zu und wartete aufgeregt. Aber Greg machte keinerlei Anstalten, näher zu rücken. Entspannt saß er da, einen Arm auf die Lehne des - 117 -
Beifahrersitzes gelegt, die andere Hand am Steuerrad und betrachtete sie ruhig. Warum versucht er nicht, mich zu küssen? überlegte Andrea. Da saß sie nun, zitterte wie Espenlaub, und er tat einfach so, als ob ihn das überhaupt nicht interessierte. Die Stille zwischen ihnen wurde unerträglich. Irgend jemand mußte doch was tun! "Na dann, gute Nacht. Vielen Dank für den schönen Abend", murmelte sie und hoffte, Greg würde reagieren. "Gern geschehen", antwortete er leichthin. Lag es am Mondlicht oder zuckten seine Mundwinkel wirklich? Lachte er sie aus? Entsetzt versuchte Andrea auszusteigen, aber Greg legte die Hand auf ihre Schulter und hielt sie zurück. "Warte, ich bringe dich zur Haustür." Langsam stieg er aus und kam um den Wagen herum. Im Wohnzimmer brannte noch Licht, und es kam An-drea vor, als hätten sich die Vorhänge bewegt. Wahrscheinlich beobachte-te Granny sie wieder mal, nur würde sie leider überhaupt nichts zu sehen kriegen. "Also, nochmal vielen Dank". Andrea legte ihre zitternde Hand auf die Türklinke. "Andrea?" "Ja?" Ihre Finger wurden eiskalt, sie drehte sich zu ihm um. Das fahle Mondlicht ließ seine Locken schimmern, Licht- und Schattenreflexe machten sein Gesicht geheimnisvoll. Und schon wieder zuckte es um seine Mundwinkel. Was dachte er bloß? "Hast du nicht etwas vergessen?" Belustigung klang in seiner Stimme. Was war denn verdammt noch mal so komisch? Mißtrauisch beäugte Andrea ihn. "Was?" Gregs Stimme klang sanft. "Nun, du hast mich heute eingeladen. Normalerweise bedankt man sich nach einem Rendezvous mit einem Kuß. Jedenfalls, wenn man den anderen mag, und es ihm zeigen möchte."
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Sprachlos starrte Andrea ihn an. Ihr Puls raste wie eine Horde galoppie-render Elefanten. Hatte sie ihn richtig verstanden? Wollte er, daß sie ihn küßte? "Na?" "Na was?" "Ich warte", sagte Greg und blickte auf sie hinunter. Andreas Augen funkelten. Erwartete er wirklich, daß sie ihn küßte? War das die Retour-Kutsche für den mißglückten Abschied nach dem Fußball-spiel? Ein Mädchen, das nur einen Funken von Selbstachtung besaß, durfte doch nicht die Initiative ergreifen! Sie hatte sich wirklich gewünscht, daß er sie küßte, sich sogar darauf gefreut. Warum machte er jetzt nur alles kaputt! Sie wollte ihm sagen, was sie von seiner Aufforderung hielt, doch sie brachte keinen Ton heraus. Es war kein Spott, was da in diesen unglaub- lichen blauen Augen blitzte. Andreas Ärger verschwand schnell, schüchtern senkte sie die Lider. Ja, sie hatte ihn eingeladen, weil sie ihn mochte. Und das sogar sehr. Jetzt war es Zeit, ihm das auch zu zeigen. Andrea sammelte all ihren Mut, stellte sich auf die Zehenspitzen, legte ihre Hände auf Gregs Schultern und berührte sanft mit ihren Lippen seinen Mund. Seine Lippen waren kühl und preßten sich fest gegen ihre. Andrea roch den Duft von Aftershave auf seiner Haut. Schnell löste Andrea sich von Greg und sah ihn unsicher an. Doch der lächelte liebevoll. "Na, siehst du, das war doch gar nicht so schlimm oder? Vielleicht schaffst du es ja beim nächsten Mal noch ein bißchen länger." Mit großen Augen starrte Andrea ihn an. Hatte er gerade gesagt, beim nächsten Mal'? "Gute Nacht", sagte Greg zärtlich. "Gute Nacht", murmelte Andrea und verschwand im Flur.
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11. KAPITEL "Und wie ist der Abend so gelaufen?" fragte Anne beiläufig. "Ganz gut." Andrea forschte im Gesicht ihrer Freundin. Sie hatte absichtlich abgewartet, bis Anne das Thema von sich aus ansprach. Noch wußte sie nicht so recht, wie sie ihr das mit Dennis beibringen sollte. Bis jetzt hatten sie den Nachmittag damit verbracht, in Annes gemütlichem Zimmer zu sitzen, Hausaufgaben zu machen, Musik zu hören und über alles mögliche zu reden. Aber Andrea wußte ganz genau, was Anne die ganze Zeit über wirklich im Kopf herumging. "Hast du Dennis gesehen?" fragte Anne, während sie so tat, als sei die wichtigste Aufgabe der Welt, eine Bluse auf den Bügel zu hängen. Andrea spürte jedoch, mit welcher Spannung die Freundin auf die Antwort wartete. "Ja", gab sie zu. "Mit einem Mädchen?" "Ja". Anne kroch noch weiter in ihren Schrank hinein. "War sie hübsch?" Andrea zögerte, aber was nützte es, wenn sie Anne etwas vorlog? "Sehr", sagte sie so sanft wie möglich. Anne seufzte und tauchte dann wieder aus dem schützenden Schrank auf. "Ja, ja, Dennis zeigt sich nur mit absoluten Spitzenmädchen in der Öffent-lichkeit. Wenigstens hat er mich nicht belogen. Er hatte also tatsächlich eine Verabredung." "Ja, das stimmt." Anne errötete, als sie Andreas Gesichtsausdruck sah. "Ich weiß, du denkst ich bin verrückt, mir etwas aus ihm zu machen. Aber ich kann nun mal nicht dagegen an. Die nächsten - 120 -
eineinhalb Monate werden für mich der blanke Horror. Am liebsten würde ich schon morgen von hier abhauen." Liebevoll betrachtete Andrea ihre Freundin, konnte sie aber auch nicht trös-ten. "Ach, Anne, in Arizona gibt es bestimmt auch tolle Jungs. Einen Cow-boy vielleicht, mit dem du der untergehenden Sonne entgegenreiten kannst." Hoffentlich findet sie den wirklich, wünschte Andrea. Typen wie Dennis, die nur am hübschen Äußeren interessiert sind, gibt es zu Tausenden. So einer paßt überhaupt nicht zu der warmherzigen, sanften Anne. Sie braucht jemanden, der herzlich und liebenswert ist. Andrea runzelte die Stirn. Sie nannte Dennis oberflächlich, weil er so auf Äußerlichkeiten abfuhr. Aber war sie eigentlich anders? Gerade Gregs umwerfendes Äußeres hatte ihr doch immer den Atem genommen. Würde sie ihn auch mögen, wenn er nicht so gut aussähe? Ja, entschied sie. Es war eben nicht nur das Aussehen, sondern sein liebenswertes Wesen, sein Charakter, den sie so mochte. Anne trottete durchs Zimmer und kniete sich vor das Bett, auf dem Andrea im Schneidersitz hockte. Anne hob die Decke hoch und wühlte unter dem Bett herum. "Was ist denn nun los?" fragte Andrea. "Ich suche meinen Koffer: Wir wollten doch nächstes Wochenende nach Phoenix fliegen und die freien Tage ums Erntedankfest herum nutzen, uns nach einem Haus umzusehen. Was soll ich bloß einpacken?" Anne wischte den Staub vom Koffer, den sie unter dem Bett hervorgezerrt hatte. "Ist es nicht ein bißchen früh zum Packen? Ihr fliegt doch erst am Mittwoch." "Ich mache das immer so früh wie möglich, weil ich doch mindestens noch drei oder viermal umpacken muß, bevor es losgeht." Andrea mußte lachen. So war Anne! Sie wußte nie, was sie anziehen sollte. "Eigentlich wollte meine Großmutter ja mit euch fliegen. Seit heute morgen aber hat sie das Haus zum Verkauf angeboten. Mom und Dad ha-ben in dem neuen Haus zu tun, deshalb kann Granny nicht weg. - 121 -
Habe ich dir eigentlich schon erzählt, daß ich bei ihr in dem alten Haus bleiben werde, bis es verkauft ist? Dann haben meine Eltern auch ein paar Tage für sich alleine, bevor ich zu ihnen ziehe." "Nett von dir", antwortete Anne geistesabwesend. Plötzlich wechselte sie das Thema. "Wie lief's überhaupt mit Greg und dir?" "Ganz gut", antwortete Andrea. Möglichst normal sollte das klingen. Sie wollte noch nicht über diesen Kuß reden. Anne warf ihr einen mißtrauischen Blick zu, dann zog sie eine Schreibtisch-schublade auf und kramte darin herum. "So, so, ganz gut also. Trainiert er eigentlich immer noch mit dir für den Wettkampf?" Andrea nickte und sammelte unruhig ihre Hefte zusammen, die sie auf dem ganzen Bett verteilt hatte. "Zwei Wochen nach dem Erntedankfest findet dieses schreckliche Ereignis statt", bestätigte sie und stopfte ihre Sachen in die Schultasche. "Du mußt unbedingt kommen. Ich brauche dich, damit du mich vom Eis schleppen kannst, wenn ich nach dreißig Sekunden vor Angst ohnmächtig zusammengebrochen bin." Das sollte zwar witzig klingen, aber Andrea war es bitterernst. Schon jetzt klapperten ihr die Zähne bei dem bloßen Gedanken an den Wettkampf. Anne kicherte. "Ist es wirklich so schlimm? Natürlich bin ich da, wenn deine Eltern mich mitnehmen. Aber mich wirst du wohl kaum brauchen, um dich vom Eis zu tragen. Dafür ist ja der gute, alte Greg da." Andrea spürte, daß sie rot wurde. "Naja, klar..." "Er ist doch dabei, oder?" Andrea nickte. "Dann muß ich ja auf jeden Fall kommen. Ich kann's schon gar nicht mehr abwarten, bis ich diesen Kerl endlich mal sehe." Ach ja, dachte Andrea, ich selber auch nicht. Sie hatte aber schreckliche Angst, ihn nach diesem Kuß gegenüberzutreten. Am Montagmorgen während der Übungsstunde waren ihre Nerven wie Drahtseile gespannt. Jede Sekunde erwartete sie Gregs tiefe Stimme zu hören. Als sie nach der Hälfte der - 122 -
Laufzeit merkte, daß er nicht mehr kom-men würde, war sie erleichtert, aber auch besorgt. Was war los? Warum kam er nicht? Der Vormittag in der Schule verlief entsprechend miserabel. Auf nichts konnte sie sich konzentrieren. Als sie am Nachmittag die Eishalle betrat, war sie ein richtiges Nervenbündel. Und als Greg dann lässig und selbstbewußt wie immer seine Kurven auf dem Eis drehte, war sie beruhigt. Also mied er sie doch nicht. Doch wie würde er sich ihr gegenüber verhalten? Und was sollte sie tun? Verlegen betrat Andrea die Eisfläche und begann, sich warmzulaufen. Sie tat, als hätte sie ihn gar nicht gesehen. Auf keinen Fall würde sie es schaffen, auf Greg zuzulaufen und so zu tun, als sei nichts geschehen. Als sie sich für eine achtteilige Schrittfolge einlief, tauchte Greg plötzlich neben ihr auf. Andrea hatte soviel Geschwindigkeit drauf, daß der Fahrt-wind ihr die Haare aus der Stirn wehte. Greg hielt mühelos Schritt. Er war unglaublich schnell, wenn er seine ganze Kraft einsetzte. Das hatte sie schon mal vormittags beobachtet, wenn er in Sekundenbruchteilen die ge-samte Länge der Eisfläche überquerte und alle Mädchen, einschließlich Melissa, einfach stehen ließ. "Laß uns an der Dehnung arbeiten", rief er ihr fröhlich zu, als er vorbeisaus-te. Andrea bremste abrupt. Aha. So sah es also zwischen ihnen aus. Zurück zu Stufe eins. Während der nächsten halben Stunde war Greg ein erbarmungslos stren-ger Trainer. Eine Anweisung folgte der anderen: Schwungbein strecken, in die Knie gehen, den Rücken durchbiegen, die Schultern entspannen, die Arme anwinkeln, den Kopf in den Nacken. "Schau niemals auf deine Füße", erklärte er. "Das verdirbt total die Haltung." "Aber bei den schnellen Schrittkombinationen habe ich immer das Gefühl, als ob ich gleich mit den Schlittschuhen durcheinanderkomme." - 123 -
"Das kenne ich. Trotzdem darfst du nicht gucken. Und denk daran, immer lächeln. Und fällst du hin, sofort aufstehen und weiterlaufen." Völlig entmutigt seufzte Andrea. Wir dunkle Gewitterwolken hing das Da-tum des Wettkampfes über ihrem Kopf. Was konnte alles schiefgehen, wenn sie die vielen kritischen Blicke auf sich fühlte. Greg hatte so viele Stunden geopfert, um mit ihr zu arbeiten. Wenn sie sich dusselig anstellte und alles verdarb, wäre er bestimmt stinksauer auf sie. Die Verzweiflung mußte ihr im Gesicht stehen, denn Greg legte den Arm um ihre Schultern, drückte sie beruhigend an sich. "Mensch, Andrea, nun guck nicht so, als ob du gleich geschlachtet werden sollst. Es dreht sich hier nur um einen Eislaufwettkampf und um nichts an-deres." Er neigte den Kopf und sah sie besorgt an. "Ich glaube, wir beide brauchen eine Pause. Laß uns eine Cola trinken, bevor du anfängst zu arbeiten." Andrea nickte und ließ sich widerspruchslos vom Eis führen. Im Aufent-haltsraum war es voll. Lärmende Kinder zogen ihre Schlittschuhe an, an-dere spielten an den lauten Flipperautomaten. Greg fand eine unbesetzte Ecke, wo sie sich hinsetzen und sogar noch ihr eigenes Wort verstehen konnten. Andrea wollte lieber eine heiße Schokolade statt einer Cola. Mit kleinen Schlucken trank sie die dampfende, süße Flüssigkeit. Greg lümmelte sich neben ihr in einem der alten Kinostühle und lehnte den Kopf gegen die Wand. Er hatte die Augen geschlossen, und Andrea konnte in Ruhe sein Gesicht studieren. So entspannt wirkte er sehr verletzlich und in wenigen Jahren würde er ein außergewöhnlich gutaussehender Mann sein. Ob sie ihn dann noch kannte? Oder wäre sie nur eine unwichtige, schnell vergessene Epi-sode in seinem Leben? In diesem Moment schlug Greg die Augen auf, begegnete ihrem Blick. Abrupt setzte er sich auf. "Andrea, was ist los? Bringt dieser blöde Wettbe-werb dich tatsächlich so aus der Fassung? Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich dich nie dazu gedrängt." "Es ist schon in Ordnung", sagte Andrea schwach. - 124 -
"Wenn du bloß wie Melissa wärst. Sie sagt, bei Wettkämpfen konzentriere sie sich nur auf die Musik, das hilft ihr über die Aufregung hinweg." Andrea versteifte sich. "Meslissa und ich sind unterschiedlich." "Das kann man wohl sagen", stimmte er zu. Was sollte das denn nun schon wieder heißen? "Ich weiß, daß du dich öfter mit Melissa triffst. Gehst du eigentlich mit ihr?" Die Worte rutschten Andrea raus, bevor ihr klar wurde, was sie da sagte. "Ja, ich habe mich ein paar mal mit ihr getroffen", gab Greg zu. "Ich sehe sie ja auch dauernd in deinem Auto", klagte Andrea. Es gelang ihr einfach nicht, ihren Mund zu halten. Greg zog die Augenbrauen noch, aber seine Augen blieben sanft. "Ich ha-be sie mit zur Schule genommen. Warum auch nicht? Wir haben den sel-ben Weg. Aber das heißt noch lange nicht, daß sie meine feste Freundin ist." "Oh." Ein langes, vielsagendes Schweigen folgte. Zitternd hielt Andrea den Blick auf ihre Stiefel gerichtet, dann nahm sie einen Schluck aus ihrem Plastikbecher. Die heiße Schokolade verbrannte ihr die Zunge. "Andrea, ich weiß überhaupt nicht, woran ich bei dir bin." Gregs Stimme klang erregt. Er starrte vor sich hin, und eine leichte Röte kroch von seinem Nacken hinauf, seine Brauen waren düster zusammengezogen. "Es hört sich an, als ob du eifersüchtig auf Melissa bist. Dabei habe ich, seit ich dich das erste Mal gesehen habe, versucht, deine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich habe alles getan, außer vor dir einen Kopfstand zu machen. Ich war schließlich so verzweifelt, daß ich mir schier den Hals fast gebrochen hätte bei den vielen Doppelaxeln, die ich direkt vor deiner Nase gesprungen habe. Aber du schienst mich überhaupt nicht zu bemerken. Den Wettkampf habe ich nur deswegen angeleiert, damit ich einen Grund habe, mit dir zusam-men zu sein." Andrea riß die Augen auf. Der Kakaobecher fiel ihr aus der Hand, die klebrige Flüssigkeit lief über den Fußboden, das war ihr völlig egal. - 125 -
Greg wandte sich ihr zu. "Ich will dich nicht weiter zu dem Wettkampf drän-gen. Nachher hasst du mich noch, falls es schief läuft. Und das will ich auf gar keinen Fall." Andrea blieb der Mund offen stehen. Träumte sie, oder sagte Greg das wirklich? "Aber... aber..." Greg ignorierte ihr Gestammel und stopfte die Hände in die Hosentaschen. "Ich weiß, ich bin einer von diesen Typen, die immer bestimmen wollen, wo es langgeht. Vielleicht magst du das überhaupt nicht. Du bist immer so still und zurückhaltend. Ich mußte dich doch fast dazu zwingen, mit mir auszu-gehen. Und dann, als du mich nicht küssen wolltest, dachte ich, einfach nicht dein Typ zu sein." Andrea beugte sich zu ihm und berührte seine Schulter. "Es ist nur... ich bin so schüchtern gegenüber Jungen... ich wußte nie, wie ich mich verhalten sollte. Außerdem dachte ich du und Melissa..." Sie konnte nicht weitersprechen. "Ich wäre fast umgefallen, als du mich zu dem Fest eingeladen hast. Ich konnte es kaum glauben." Andrea fühlte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Verlegen betrachtete sie Gregs Hand, die locker auf der Armlehne lag. "Warum sollte ich dich denn neulich küssen?" Sie riskierte einen Blick in sein amüsiertes Gesicht. "Ich glaube, ich mußte meine Rache haben. Du hattest mich vorher zu arg vor den Kopf gestoßen. Außerdem wollte ich wissen, ob du es tun würdest. Wenn, so hatte ich mir ausgemalt, hätte ich vielleicht eine Chance bei dir." Andrea saugte seine Worte in sich auf. Das Herz schien ihr vor Freude zu zerspringen. "O Greg, ich mag dich! Ich mag dich sogar sehr! Ich bin so blöde gewesen! Und ich werde auf keinen Fall von dem Wettbewerb zurücktreten." Nie im Leben, dachte sie. In diesem Moment wäre sie sogar in Schlittschuhen die Freiheitsstatue hochgeklettert, wenn Greg es gewollt hätte.
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12. KAPITEL Genau zehn Tage lang herrschte für Andrea eitel Sonnenschein, sie erleb-te die glücklichsten Tage ihres Lebens. Auf dem Eis machte sie mit Gregs Hilfe erhebliche Fortschritte. Endlich durfte sie sich seiner Zuneigung sicher sein. Natürlich hatte er nicht von ewiger Liebe gesprochen, aber dafür war es ja auch bei ihnen beiden noch zu früh. Und trotzdem fühlte sich Andrea eines Abends, als Greg sie von der Arbeit nach Hause gefahren hatte, am Boden zerstört. Sie schleppte sich die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. Woher mochten diese Depressionen wohl kommen? Aus der Küche klangen die Stimmen von Granny und Mrs. Buckridge zu ihr hinauf. Die beiden alten Damen saßen in letzter Zeit oft zusammen, klönten und kicherten wie Teenager. Müde warf sich Andrea auf ihr Bett, die Sprungfedern quietschten anklagend. Noch gestern war sie unheimlich guter Laune und die ganze Welt sah rosarot aus. Aber heute fand sie alles zum Heulen. Vielleicht ist einfach zu viel Glück um mich herum, dachte sie. Granny ist happy, Mom und Dad sind happy, und sogar Anne ist wieder fröhlicher, seit sie aus Arizona zurück ist. Da fiel Andreas Blick auf den Kalender neben der Tür. Ein dicker, roter Kreis war um den nächsten Sonnabend gezogen der Tag des Wettkampfes. Die Wettkampfteilnehmer mußten sich schon vormittags in der Eishalle einfinden, um noch genügend Einlaufzeit zu haben. Deshalb fuhr Greg schon früh am Sonnabendmorgen mit Andrea nach Ann Arbor. Ihre Eltern würden mit Granny, Anne und Linda später nachkommen. Obwohl Andrea seit gestern abend völlig mit den Nerven fertig war, tat sie ihr bestes, um ihre Verfassung vor Greg zu - 127 -
verbergen. Er hatte wie eh ein schlechtes Gewissen, weil er sie da hineingezogen hatte. Andrea wollte es ihm nicht noch schlimmer machen. Als sie im Auto saß, fiel es ihr schwer, ruhig zu erscheinen. Es half auch nichts, daß er ihr unterwegs noch eine Menge taktischer Tips gab. "Sie werden die Musik zweimal für dich spielen, Andrea. Du mußt genau hinhören. Normalerweise beginnen sie mit einem langsamen Teil, dann kommt ein schnelles Stück. Präg dir genau ein, an welcher Stelle das Tempo wechselt. Am wichtigsten ist der Schluß. Du mußt es schaffen, beim letzten Ton der Musik auch den letzten Schritt zu machen, sonst sieht es schlecht aus. Andrea konnte nur schwach nicken. Mochte er sich ruhig Gedanken über Tempowechsel und wohlplazierte Schlußschritte machen. Sie hatte nur Angst davor, einen Blackout zu kriegen, oder bei jedem kleinen Hüpfer hinzufallen. Medaillenhoffnungen machte sie sich überhaupt keine. Nur weil sie beweisen wollte, kein Feigling zu sein, machte sie überhaupt mit. Greg stellte den MG auf den vollen Parkplatz vor der riesigen Eishalle ab. Der Wettbewerb war schon im Gange. "So, da sind wir", verkündete Greg mit aufgesetzter Fröhlichkeit. "Ja", stimmte Andrea zu und betrachtete die Eishalle mit äußerst unguten Gefühlen. "Dann kann ich ja reingehen und mich umziehen." "Warte einen Moment, ich möchte dir noch etwas geben." Umständlich holte Greg eine kleine, weiße Schachtel aus der Innentasche seines Anoraks. "Mach's auf." Andrea entfernte das Papier und öffnete das Kästchen, Auf blauem Samt lag eine silberne Kette mit einem kleinen Anhänger. Es war ein winziger Schlittschuhstiefel. ,,0 Greg... " "Nicht der Rede wert", winkte er ab. "Er soll dir Glück bringen. Komm, ich binde sie dir um." Er nahm die Kette und band sie ihr um den Hals. Als Andrea den Kopf hob, gab er ihr schnell einen Kuß. - 128 -
"Jetzt siehst du wenigstens nicht mehr ganz so verängstigt aus. Mit dem Gesicht darfst du auch nicht auf das Eis gehen, Andrea. Es gehört nun mal zum Gewinnen dazu, daß du die Kampfrichter überzeugst: nur du bist der Typ, der gewinnen muß." Die Uhr an der Wand zeigte elf Uhr. In einer Stunde würden die Kampfrich-ter Pause machen, und Andrea hätte Gelegenheit, sich warm zu laufen. Die Tribüne war gut besucht. Andrea hatte schon gehört, daß viele Leute aus Eislaufwettkämpfen private Modenschau machten. Und das stimmte. Staunend betrachtete Andrea die teuren Pelzmäntel und modischen Winterausrüstungen der Zuschauerinnen. Aber nicht nur die Frauen stellten ihre besten Stücke zur Schau. Auch viele Männer trugen elegante Fellmäntel und exklusive Daunenjacken. Eine Stimme aus dem Lautsprecher lenkte Andreas Aufmerksamkeit auf die Eislauf-Gegenwart zurück. Sechs junge Eiskunstläuferinnen kamen auf das Eis, um sich warm zu laufen. Es könnte ja sein, daß einige der Mädchen auch später beim Eistanz mitmachen würden, deshalb sah An-drea genau zu. Auch hier bot sich eine kleine Modenschau. Die Mädchen trugen maßgeschneiderte Kostüme, über und über mit Rüschen und Pailetten besetzt. "Guck mal, die versuchen schon jetzt, sich gegenseitig fertig zu machen", flüsterte Greg ihr zu. "Das habe ich früher auch immer so gemacht. Wäh-rend des Warmlaufens habe ich meine besten Sprünge gezeigt, um die Kampfrichter zu beeindrucken und meine Rivalen zu verunsichern. Das ist eine gute Strategie." Was Andrea da auf der Eisfläche sah, war nur zu vergleichen mit einem großartigen Feuerwerk. Was die alles konnten! Andrea wurde vor Angst schneeweiß. Greg bemerk-te das allerdings nicht, er beobachtete konzentriert und mit Kennerblick die Läuferinnen. "Siehst du die Kleine da in Rosa? Hoffentlich mußt du nachher nicht gegen sie antreten. Sie ist wirklich gut."
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Andrea schluckte, ihre Kehle war total ausgetrocknet. "Sie sind alle gut. Viel besser als ich. Gegen keine von denen habe ich eine Chance." Greg runzelte die Stirn. "Hör auf, so zu reden! Dein größtes Problem ist, daß du dich selbst ständig schlecht machst. Hier mußt du genau das Gegenteil tun. Eistanz ist etwas völlig anderes als Eiskunstlauf. Da mußt du nicht einfach nur ein paar gute Sprünge drauf haben. Du brauchst sowohl ein gutes Gehör als auch ein gutes Gespür für die Musik. Und genau das ist deine Stärke, Andrea!" "Wenn du das sagst." Sie sah auf die Uhr. "Ich muß mich jetzt aber wirklich umziehen." Greg betrachtete sie besorgt. "Ich hole mir inzwischen einen Hotdog. Soll ich dir was mitbringen?" Andrea schüttelte den Kopf und ging zum Mädchenumkleideraum. Nachdem sie sich umgezogen hatte, mußte sie warten, bevor sie sich im Spiegel betrachten konnte. Ein aufgeregt schnatternder Haufen von Mäd-chen hing davor. Was Andrea im Spiegel sah, beruhigte sehr. Das seidige, apfelgrüne Eislaufkostüm mit einer silbernen Borte um den Ausschnitt hatte Linda ihr geliehen. Das elastische Material saß bei Andrea wie angegos-sen, die Farbe stand ihr ausgezeichnet. Sanft berührte sie die silberne Kette um ihren Hals. Vielleicht brachte sie tatsächlich Glück. Andrea zog eine Strickjacke über und ging hinaus, um Greg zu suchen. Er lehnte an der Balustrade und verdrückte gerade seinen Hotdog. In der anderen Hand hielt er ein zweites in einer kleinen Pappschachtel. Greg lächelte, als er Andrea auf sich zukommen sah. "Ich glaube, du solltest das hier doch besser essen, sonst wirst du mir noch ohnmächtig vor Hunger." "Stimmt, ich habe jetzt schon mächtig Kohldampf", gab Andrea zu. "Offen-sichtlich weißt du immer, was ich möchte", lachte sie. Greg beobachtete sie zufrieden, wie sie fix ihr Hotdog herunterputzte. "Ich möchte immer nur dein bestes", grinste er.
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Der Eiskunstlauf war vorbei, das Mädchen in Rosa hatte die Goldmedaille gewonnen. Nach der Siegerehrung war das Eis frei zum Warmlaufen der Eistänzerinnen. "Los, zeig den anderen, daß du besser bist", flüsterte Greg und hielt An- drea die Tür in der Balustrade auf, die direkt auf die Eisfläche führte. "Na klar". Andrea begann mit ihrer Runde um das Eis. Leider nutzten außer den Eistänzerinnen noch viele andere Wettkämpfer die zum Üben freigegebene Eisfläche. Sie wollte sich nur locker laufen und an die fremde Eisfläche gewöhnen. Der Unterschied zur "Princess"-Eisfläche war schon erstaunlich. Zunächst einmal fehlte Andrea die Orientierung. Aber am Ende der Übungszeit hatte sie sich einigermaßen an die fremden Bedingungen gewöhnt. "Du sahst gut aus da draußen, Kleine", begrüßte Greg sie an der Ba- lustrade. "Die Farbe steht dir prima." Anerkennend glitt sein Blick über ihre schlanke Gestalt in dem hautengen Kostüm. Dann zog er eine Grimasse wie ein alter Lustmolch. "Idiot!" Andrea gab ihm einen Stubs. Sie war drauf und dran, wieder nervös zu werden. Gleich würde der Paarlauf im Eistanz beginnen, und sofort danach war sie an der Reihe. Aber Greg ließ ihr überhaupt keine Zeit groß nachzugrübeln. Eine halbe Stunde lang hielt er das durch. Entweder er ärgerte sie, oder er machte über alles und jeden blöde Witze. Andrea war viel zu beschäftigt, seine dummen Bemerkungen zu parieren. Eine Viertelstunde bevor es losging, kamen Andreas Eltern mit Granny, Anne, Linda und auch noch Babs im Schlepptau. Völlig außer Atem ent-schuldigten sie sich für ihr Zuspätkommen, sie hatten sich in Ann Arbor ein paar Mal verfahren. Die Lautsprecherstimme meldete sich. "Alle Läuferinnen für den Eistanz aufs Eis, bitte. Vier Minuten Einlaufzeit!" Andrea hatte das Gefühl, als ob sie aufs Schafott müßte, glaubte, keine Luft mehr zu kriegen. Ihre Knie, stellte sie verzweifelt fest, bekamen schon wieder das bekannte Wackelpuddinggefühl, als ob die Knochen und Mus-keln sich in Nichts aufgelöst hätten. - 131 -
"Mach sie fertig", flüsterte Greg beschwörend und drückte fest ihre Schulter. Mehr konnte er nicht für sie tun. Jetzt war sie auf sich gestellt. Andrea blieb nichts anderes übrig, sie mußte jetzt aufs Eis. Neun Mädchen nahmen an dieser Disziplin teil, und eines war die Kleine in Rosa. Sie mochte ungefähr dreizehn sein. Auch alle anderen Teilnehmerinnen schie-nen jünger als Andrea. Gottseidank, dachte Andrea, bin ich sehr klein und wirke nicht wie fünfzehn. Nicht, wie das große, dunkelhaarige Mädchen in Lila. Obwohl es höchstens so alt wie Andrea war, wirkte es wie ein Riese unter den zierlichen Zwölf- und Dreizehnjährigen. Der kräftigen Brünetten schien das nichts auszumachen, sie war kühl und voll konzentriert. Toll, dachte Andrea, ich muß auch versuchen, nicht so verängstigt auszusehen. Entschlossen drehte sie sich in verschiedenen Pirouetten. Trotz ihrer Gummiknie lief sie viel zu steif. Doch die Pirouetten gelangen ihr fehlerfrei. Danach fühlte sie sich ein wenig besser. Am Ende der Warmlaufphase stellten sich alle neun Mädchen vor dem Kampfrichtertisch auf, um sich ihre Anweisungen abzuholen. "Die Musik wird euch zweimal vorgespielt", erklärte ein weißhaariger, älterer Herr, der in der Mitte des Tisches saß. Nach dem zweimaligen Ab- hören des Bandes sollten alle Teilnehmerinnen in den Umkleideraum und würden dann einzeln aufgerufen werden. Doppelsprünge waren nicht erlaubt. Bewertet wurde die Umsetzung einer fremden Melodie in tänzerische Bewegungen. Als die ersten Takte der Musik erklangen, war Andrea enttäuscht. Greg hatte sie gewarnt, daß die Wettkampfleitung irgendein klassisches Stück heraussuchen würde, das kein Mensch kannte. Trotzdem hatte sie im stillen gehofft, daß sie wenigstens die Melodie kennen würde. Doch dieses langsame Violinenstück hatte sie noch nie gehört. Mit einem Seitenblick auf die Gesichter der anderen Mädchen stellte sie fest, daß es denen ebenso fremd war. Wenigstens hatten sie so alle die gleichen Chancen.
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Andrea versuchte, sich ihre Eröffnungsschritte vorzustellen. Sie wußte, daß sie sich jetzt eigentlich total auf die Musik konzentrieren sollte. Aber es war verrückt, ihre Gedanken spielten einfach nicht mit. Die verschiedensten Bilder tauchten vor ihren Augen auf, es flackerte wie eine Lightshow in der Disco. Sie dachte daran, wie sie zum ersten Mal in der "Princess-Eishalle" gewesen war und Linda auf dem Eis bewundert hatte. Dann erinnerte sie sich, wie sie den Brief an ihren Vater geschrieben hatte und ihn um Hilfe gebeten hatte. So vieles war seitdem passiert. Ohne daß sie es wollte, suchte sie ihre Eltern, die irgendwo auf den Rängen saßen, am anderen Ende der Eisfläche. Szenen wirbelten wie Konfetti durch ihren Kopf: Mom und Dad zusammen, Mom und Dad getrennt, Mom und Dad Arm in Arm bei dem Ausflug auf die Belle Isle. Ich mußt unbedingt damit aufhören, sagte Andrea verzweifelt. Die Musik hatte jetzt das Tempo gewechselt, aber sie hatte überhaupt nicht aufge- paßt, an welcher Stelle das passiert war. Es spielten laute Trompeten, im Hintergrund hörte man Trommeln. Wie sollte sie bloß danach laufen? Keine einzige der Schrittfolgen, die Greg ihr beigebracht hatte, fiel ihr ein. Abrupt endete die Musik. Andrea wußte überhaupt nicht mehr, was sie eben gehört hatte. Schuldbewußt machte sie sich klar, daß Greg einen großen Teil seiner Zeit damit verbracht hatte, ihr beizubringen, wie man fremde Musik in Bewegung umsetzt. Die zweite Chance jetzt durfte sie auf keinen Fall verpassen. Als die Musik erneut begann, gelang es Andrea dann auch, sich auf das zu konzentrieren, was sie hörte. Einige der Mädchen begannen bereits, Figuren nach den Klängen aus dem Lautsprecher auszuprobieren. Andrea jedoch blieb ganz still stehen. Der erste Tempowechsel kam nach einem kurzen Geigensolo, der zweite nach einem lauten Trompetenstoß. Das wußte sie jetzt. Am schwierigsten war es, das Ende abzuschätzen. Sie versuchte, die unterschiedlichen Phasen zu zählen, so wie Greg
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es ihr gezeigt hatte. Es waren sechs, aber ganz sicher war sie sich nicht. Hoffentlich schaffte sie es, ihren Bewegungsrhytmus auf die Musik abzu- stimmen und den Schluß richtig abzupassen, auch wenn sie mitten in ei- ner komplizierten Figur war. Ein Mädchen wurde aufgerufen. Sie mußte auf dem Eis bleiben und begin-nen, die anderen wurden in den Umkleideraum geführt, wo sie die Musik nicht hören konnten. Die Tür wurde hinter ihnen geschlossen. Andrea lehnte sich gegen die Wand und machte die Augen zu. Sie ver- suchte, sich ein Programm vorzustellen. Wie wäre es, wenn sie mit einer Drehung anfinge, dann mehrere Achten hintereinander lief und eine zurückgelehnte Pirouette anschloß? Ganz toll wäre es, wenn sie ihren Lauf mit einer eingesprungenen Waage und einer daran anschließenden rückwärtigen Drehung beenden könnte. Aber wenn die Musik stoppte, bevor sie damit fertig ,war, säh das ganz schön blöd aus. Andrea öffnete die Augen. Inzwischen waren schon drei Mädchen drau- ßen gewesen. Ob sie die nächste war? Ihr Blick schweifte durch den Raum, in Gedanken setzte sie sich aber weiter mit dem Problem der Schlußfigur auseinander. Auch die große Dunkelhaarige lehnte mit geschlossenen Augen an der Wand. Andere redeten miteinander, die Stimmen laut vor Nervosität. Das Mädchen in Rosa wurde als nächstes aufgerufen. Andrea war sich ziem- lich sicher, daß sie danach drankommen würde. Eine der Teilnehmerinnen in einem roten Kostüm kannte sie aus der "Princess-Eisbahn". Sie hieß Sandy. Sie lächelte Andrea zu und wünschte ihr viel Glück. "Dir auch", gab Andrea zurück. Sie fühlte sich eigentlich ein wenig schlecht, weil sie ganz ohne Grund nie besonders freundlich zu Sandy gewesen war. Ehrlich gesagt, sie war nie freundlich zu einem der Mädchen aus Grosse Pointe gewesen. Sie hatte einfach vorausgesetzt, daß sie mit denen nichts gemeinsam hätte, nur weil sie reiche Eltern hatten. Inzwischen wußte sie, daß das dumm war. Schließlich waren sie alle
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Eisläuferinnen, und das bedeutete, daß sie sehr viel Gemeinsames hatten. Es gab an sich keinen Grund, warum sie nicht mit Sandy befreundet sein konnte. Vielleicht gab es noch nicht einmal einen Grund, weshalb sie nicht mit Melissa Patterson klarkommen sollte. Sie hatte es ja nie versucht. Ob es dafür jetzt zu spät war? Andrea wollte gerade etwas Liebes zu Sandy sagen, als eine laute Frauenstimme rief "Andrea McClellan!!' Andrea drückte sich von der Wand ab und ging steifbeinig auf die Eisfläche zu. Als sie die vielen Menschen in der Eishalle sah, begann ihr Herz- wild zu schlagen. Würde jetzt die große Katastrophe eintreten, vor der sie so Angst hatte? An der kleinen Holztür in der Balustrade bückte sie sich, und entfernte die Schlittschuhschoner von ihren Kuven. Sorgfältig überprüfte sie, ob die Schnürsenkel festgefunden waren. Es konnte gefährlich werden, wenn sich die Schuhbänder während ihrer Vorführung lösten. Als sie sich aufrichtete, entdeckte sie Greg. Er saß auf einem Platz direkt gegenüber dem Kampfgericht und schaute ihr voll ins Gesicht. So nervös hatte sie ihn noch nie gesehen! Er macht sich Sorgen um mich, stellte Andrea fest. Die ganze Zeit über hatte sie nur an sich gedacht, aber es sah so aus, als ob er derjenige war, der völlig down wäre, wenn sie jetzt versagte. Das Zittern aus ihren Beinen verschwand, und sie warf ihm ein aufmunterndes Lächeln zu. "Ich muß es packen", schwor sie sich laut und betrat die Eisfläche. Diese Worte schienen eine magische Wirkung zu haben. Als die Musik einsetzte, war Andrea bereit. Sie konzentrierte sich, ihr fielen die Schritt- folgen ein, sie streckte das Schwungbein und dehnte sich, so weit sie eben konnte. Der langsame Teil der Musik dauerte dreißig Sekunden. Andrea hatte das Gefühl, daß es gut klappte. Sie war jetzt auch sicher. Und trotz der inten-siven Konzentration auf jeden Schritt schaffte sie es, ihr ganzes musika-lisches Gespür in ihre Bewegungen zu legen. Den ersten Tempowechsel verpasste sie ein wenig, aber der zweite stimmte haargenau. Aus einer schnellen Schrittkombination wechselte sie in einen Sprung, - 135 -
gerade als die Marschmusik des Schlußteils begann. Sie zählte die Phasen und bereitete sich auf die eingesprungene Waage vor. Vielleicht war es dumm, einen so schwierigen Schluß zu versuchen, aber es war eine ihrer besten Figuren, und wenn es klappte, würde er gut aussehen. Doch sie hatte sich zu viel vorgenommen. Die Musik brach ab, als sie mittendrin war. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie entsetzt. Als ihr aber klar wurde, daß sie die ganze Prozedur überstanden hatte, ohne tot umzufallen, war sie so erleichtert, daß ihr der kleine Patzer am Schluß nichts mehr ausmachte. Mit weichen Knien lief Andrea von der Eisfläche. Gottseidank, es war vorbei, und sie hatte sich nicht blamiert. Greg, der an der Balustrade auf sie wartete, sah so erleichtert aus, wie Andrea sich fühlte. "Du warst großartig", rief er, legte einen warmen Pullo-ver um ihre Schultern und drückte ihre kalten Hände. "Der Schluß hat nicht richtig hingehauen", brachte Andrea hervor. "Bei den anderen auch nicht, und alles andere sah Spitze aus. Was ist los mit dir? Du siehst krank aus." Andrea schüttelte den Kopf. "Die Nerven", japste sie. Greg musterte sie besorgt, doch dann lächelte er. "Gleich geht's dir besser. Entspann dich, und laß uns zusehen, den anderen zuzusehen" Sie hatten Sandy verpaßt, die direkt nach Andrea gelaufen war. Aber bei den nächsten drei Mädchen konnte sie zusehen, als letzte kam das große Mädchen. Die machte es gut, schaffte es sogar, im richtigen Moment mit ihrem Programm fertig zu sein. Andrea seufzte und sah Greg an. "Was meinst du?" Greg zuckte die Schultern. "Sie war gut, hatte den Vorteil, daß sie als letzte laufen konnte. Vielleicht wird sie erste, doch du hast auch eine Chance auf eine Medaille." Andrea lehnte sich an seine Schulter. Sie mochte es ihm nicht sagen, aber eine Medaille war ihr völlig egal. Entscheidend war, daß sie mitgemacht hatte. - 136 -
Ihrer Angst und ihren Selbstzweifeln zum Trotz hatte sie sich dem Publi-kum gestellt. Und es hatte geklappt. Sie hatte alles gegeben, was sie konnte. Darüber hätte sie vor Freude laut jubeln mögen. Darüber, und weil Greg das alles möglich gemacht hatte. Sie blickte zu ihm auf, betrachtete sein markantes Profil und die goldenen Locken. Die Augen wurden ihr feucht. "Du, die hängen da hinten gerade die Platzierungen aus. Ich gehe mal gucken", sagte er. "Drück die Daumen." "Logisch." Andrea sah ihm nach, wie er sich zwischen die aufgeregten Eisläufer drängte, die vor der Anzeigetafel standen. Andrea rechnete sich überhaupt keine Chance aus. Als Greg zurückkam, strahlte er. "Kämm dir die Haare, Andrea, in einer Viertelstunde werden sie dir eine Bronzemedaille um den Hals hängen!" "Ich hatte eigentlich mit der Silbermedaille für dich gerechnet, Andrea. Aber über den dritten Platz brauchst du dich auch nicht zu schämen." Nicht schämen? Liebevoll berührte Andrea" ihre Bronzemedaille. Die Sie-erehrung, die Umarmungen und die Küsse ihrer Eltern und Feundinnen, all das hatte sie erst langsam überzeugen können, daß sie nicht träumte. Nie hätte sie mit einer Medaille gerechnet. "Greg", begann sie, "du hast immer viel Erfolg gehabt, darum verstehst du mich vielleicht nicht. Überhaupt da rauszugehen und zu laufen, war eine riesige Überwindung. Und daß ich noch unter die ersten Drei gekommen bin, ist für mich einfach wahnsinng. Ich würde mich auch nicht besser fühlen, wenn ich hundert Goldmedaillen gewonnen hätte." Greg warf ihr jetzt trotz des dichten Verkehrs auf der Straße einen liebevol-len Blick zu. "Ich habe mich ein bißchen umgehört. Die beiden Mädchen, die besser als du waren, stehen schon seit Kindesbeinen auf den Schlittschuhen. Ich wette, in paar Monaten kannst du sie schlagen." - 137 -
Andrea strahlte vor Glück. Heute hatte sie einen Sieg errungen, an den sie noch lange denken würde. In der letzten Zeit hatte sie überhaupt viele Siege errungen. Noch vor ein paar Wochen war sie ein kleines, verunsi-chertes Mäuschen gewesen, das Angst vor Jungen hatte. Aber das war jetzt anders. Es war physisch und psychisch ein anstrengender Tag für Andrea gewe-sen, und sie fühlte sich total erschöpft. Greg lenkte den Wagen durch den dichten Feierabendverkehr von Ann Arbor, und Andrea betrachtete interessiert die alte Universität. Vormittags auf der Hinfahrt hatte sie vor lauter Aufregung überhaupt nicht auf ihre Umgebung geachtet. Jetzt sah sie erst, wie schön die alten Häuser waren. Horden von geschäftigen Studenten waren unterwegs. "Das ist ja toll hier, wer hier studiert, kann sich freuen." Greg warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. "Ja, da hast du recht. Ich war letzten Monat mit meinem Vater hier und habe mir alles angesehen. Auch ich fand es ganz toll." Bevor Andrea etwas sagen konnte, bremste er und fuhr in eine gerade frei gewordenen Parklücke. "Wir haben viel Zeit", meinte er, als er Andreas erstaunten Blick bemerkte. "Ich möchte dir etwas zeigen, wenn du nicht zu müde bist." Andrea war zwar müde, aber jetzt hatte er sie neugierig gemacht. "Was denn?" fragte sie. Doch Greg verriet nichts. Er führte sie über die Straße zu einer Mauer, hinter der alte, gotische Gebäude standen. Greg nahm ihre Hand und zog sie durch einen Torbogen. Andrea staunte, als sie auf der anderen Seite der Mauer waren. Es war, als ob sie in einem anderen Jahrhundert angekommen wären. Vor ihnen erstreckte sich ein riesiger Innenhof, von allein Seiten durch die alten Gebäude begrenzt. Die ganze Szenerie strahlte Würde aus und erweckte Ehrfurcht. Andrea war sprachlos vor Bewunderung. "Wo sind wir hier?" fragte sie schließlich. "Es sieht hier aus wie in Oxford oder Cambridge."
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Greg nickte. "Das ist die juristische Fakultät. Hier werde ich studieren." Andrea hielt die Luft an. Er hatte die Hände tief in die Taschen seines Anoraks gesteckt und sah sich mit leuchtenden Augen um. "Als wir hierher zogen, hatte ich mir erst vorgenommen, zurück nach Kalifornien zu gehen, um dort zu studieren. Aber nachdem ich dich kennen-gelernt habe und mir diese Uni angeguckt habe, habe ich beschlossen, hierzubleiben. Ich habe mich schon beworben." Greg sah in Andreas Augen. "Es ist nicht weit nach Detroit, an den Wochenenden kann ich immer kommen." Er legte den Arm um ihre Schulter und zog sie enger an sich. Andrea zitterte vor Glück. Greg küßte sie zärtlich. "Du hast zwar nicht die Goldmedaille gewonnen", flüsterte er ihr in's Ohr. "Aber du hast etwas gewonnen, was viel wichtiger ist - Entschlußkraft und Mut. Damit wirst du immer siegen."
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