Tristan Nguyen (Hrsg.) Mensch und Markt
GABLER RESEARCH
Tristan Nguyen (Hrsg.)
Mensch und Markt Die ethische Dimen...
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Tristan Nguyen (Hrsg.) Mensch und Markt
GABLER RESEARCH
Tristan Nguyen (Hrsg.)
Mensch und Markt Die ethische Dimension wirtschaftlichen Handelns Festschrift für Prof. Dr. Dr. h. c. Volker Arnold
RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Ute Wrasmann | Jutta Hinrichsen Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-2983-9
Prof. Dr. Dr. h.c, Volker Amold
Kurzvita Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Amold •
1963 -1968 Studium der Volkswirtschaftslehre in Berlin und Göttingen
•
30.4.1968Examen: Diplom-Volkswirt an der Universität Göttingen
•
30.4.1973Promotion an der Universität Göttingen
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19.10.1977Habilitation an der Universität Göttingen
•
1.10.1969- 2.7.1978Wissenschaftlicher Angestellter am Volkswirtschaftlichen Seminar der Universität Göttingen (Lehrstuhl Prof. Dr. H. Hesse)
•
Vom 3.7.1978 bis 31.7.2009Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Finanzwissenschaft an Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der FernUniversität Hagen
•
1999 - 2003 Vorsitzender des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaft und Ethik" des Vereins für Socialpolitik
•
seit 2004 Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Fernstudienzentrum Budapest
•
6. November 2008 Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Pecs
•
seit 2009 Mitglied im Hochschulbeirat der WHL Wissenschaftliche Hochschule Lahr
Grußwort von Prof. Dr, Michael Bitz
Volker Arnold kenne ich seit seiner Berufung an die FernUniversität im Jahre 1978. Seitdem habe ich ihn als einen Kollegen kennen und schätzen gelernt, der den ihm als Hochschullehrer obliegenden Aufgaben in Forschung, Lehre und Selbstverwaltung stets mit besonderem Pflichtgefühl und innerem Engagement nachgekommen ist. Die ständig länger werdende Liste seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen hat mir stets Hochachtung abgenötigt. Als Vertreter eines betriebswirtschaftlichen Lehrstuhls will ich deren nähere Würdigung jedoch den fachnäheren Kollegen überlassen. Die Haltung Volker Amolds als akademischer Lehrer war und ist durch zwei besonders hervorstehende Eigenschaften gekennzeichnet, zum einen durch einen tiefen persönlichen Respekt vor den Studenten, auch wenn deren Fachwissen so unendlich weit hinter seinem eigenen zurückbleibt, sowie
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Festschrift für Volker Arnold zum anderen durch seine Bereitschaft, den aus einem anspruchsvollen Fernstudium resultierenden Besonderheiten bei der Ausgestaltung des eigenen Lehrangebots vollauf Rechnung zu tragen, ohne dabei jedoch Abstriche an den fachlichen Standards zu akzeptieren.
Dementsprechend haben seine Studienmaterialien bei den an der FernUniversität bereits seit mehr als dreißig Jahren üblichen Evaluationen immer wieder besonders positive Bewertungen erfahren. Zudem hat er als langjähriger Vorsitzender des Prüfungsamtes maßgeblich dazu beigetragen, in unserer Fakultät fernstudiengerechte, aber nichtsdestoweniger leistungsorientierte Prüfungsmodalitäten zu etablieren. Mit gleicher Einsatzbereitschaft hat sich Volker Arnold, insbesondere als Prorektor, Dekan und langjähriges Mitglied des Senats, in der akademischen Selbstverwaltung engagiert. Dabei hat er mit viel politischem Geschick und langfristig großem Erfolg die Interessen unserer Fakultät wahrgenommen. Zugleich hat er jedoch nie den übergeordneten Blick auf die FernUniversität in ihrer Gesamtheit verloren und sich mit Augenmaß und Hartnäckigkeit dafür eingesetzt, unsere Hochschule zu einer konsequent dem Fernstudium verpflichteten, ansonsten jedoch an den bewährten akademischen Standards ausgerichteten Universität zu entwickeln. In dieser gemeinsamen Zielsetzung habe ich lange Jahre gemeinsam mit Volker Amold (und Ulrich Eisenhardt von der rechtswissenschaftlichen Fakultät als dem Dritten im Bunde) dem Senat angehört. Es war für mich immer ein beruhigendes Gefühl, ihn auch in kritischen Situationen als "Kampfgefährten" an meiner Seite zu wissen. Der Bitte, dieser ihm gewidmeten Festschrift nicht nur einen fachlichen Beitrag beizusteuern, sondern auch noch ein persönliches Grußwort, bin ich daher ausgesprochen gerne nachgekommen: Lieber Volker, ad multos annos!
Michael Bitz
Grußwort von Prof. Dr. Manfred Endres
Als ich im Jahre 1991 im Rahmen des Besetzungsverfahrens für den damals ausgeschriebenen Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie zum "Vorsingen" an die FernUniversität kam, hatte ich von dieser Institution gleich den allerbesten Eindruck. Dies lag daran, dass ihr erster Vertreter, den ich in Hagen traf, Herr Professor Arnold war - seines Zeichens Vorsitzender der zuständigen Berufungskommission. Mit Blick auf das weitere, vom Vorsitzenden mit ruhiger Hand gesteuerte Verfahren, liegt es natürlich nahe (für diejenigen, die derartiges nötig haben, sei zugesetzt: "scherzhaft") zu behaupten, dass Volker Arnold mit der letztlich gefällten Entscheidung in diesem Berufungsverfahren schon eine Kostprobe seines in den folgenden Jahres immer wieder unter Beweis gestellten Scharf- und Weitblicks gegeben hätte. Wie auch immer: Damit waren die Weichen der Kooperation zwischen dem Verfasser dieses Grußwortes und dem verehrten Jubilar genau in die richtige Richtung gestellt. Dies wirkte sich dann in einer späteren Phase des gemeinsamen Schaffens an der FernUniversität zum Wohle derselben aus. Ich meine die Zeit, in der Vol-
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Festschrift für Volker Arnold
ker Arnold Dekan des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaft und der Unterzeichnete Prorektor für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs gewesen ist. Liebe Leserinnen und Leser, seien Sie versichert: Das ist eine ganz heikle Konstellation! Der Dekan möchte die Interessen seines Fachbereichs innerhalb der Universität nachdrücklich vertreten. Dazu braucht er erstens Informationen aus dem Rektorat und muss er zweitens in das Rektorat hinein wirken. Der Prorektor erinnert sich zwar sehr genau daran, aus welchem Fachbereich er kommt (jedenfalls meistens ist dies so), andererseits ist er aber verpflichtet, dem Gesamtinteresse der Universität zu dienen. Ich habe es in dieser über mehrere Jahre dauernden Phase stets bewundert, wie perfekt Herr Kollege Arnold bei jeder Kommunikation die Balance gewahrt hat: Er hat einerseits die Interessen seines Fachbereichs nachdrücklich und nachhaltig vertreten, mich aber andererseits nie in die Verlegenheit gebracht, ein unangemessenes Ansinnen mit dem Hinweis auf meine universitäre Gesamtverantwortung zurückweisen zu müssen. Volker Arnold hat in seinen wissenschaftlichen Arbeiten stets angemahnt, die Anreizstrukturen gesellschaftlicher Institutionen müssen so beschaffen sein, dass eigennutzorientiertes Verhalten nicht in Widerspruch zu moralischen Kategorien gerate. (Vgl dazu z.B. seinen in den Perspektiven der Wirtschaftspoli-
tik, Bd. 10 (2009), S. 253-265 erschienenen Beitrag "Vom Sollen zum Wollenüber neuere Entwicklungen in der Wirtschaftsethik".) Ist das ethisch so eindruckvolle Verhalten von Professor Arnold als Dekan nun darauf zurückzuführen, dass die fernuniversitären Institutionen höchsten die Anreizkompatibilität betreffenden Ansprüchen genügen? Oder ist die Erklärung vielmehr darin zu suchen, dass Volker Arnold ein "aufrechter Charakter" ist? Schwer zu sagen. Würde er sich selbst in einen Widerspruch zu seinem wissenschaftlichen Werk setzen, wenn letzteres zuträfe? Gewiss nicht: Volker Amold hat nie behauptet, die Wirtschaftstheorie verbiete es dem Menschen, einfach "ein guter Kerl" zu sein.
Manfred Endres
Grußwort von Prof. Dr, Kurt Röttgers
Lieber Herr Amold, vielleicht sind Sie ein wenig erstaunt, auf einen Beitrag in Ihrer Festschrift und ein Grußwort auch von einem Fachfremden zu stoßen, aber hoffentlich auch nicht zu sehr. Denn seit langem verband uns ja, die Fachgrenzen übergreifend, ein Interesse für wirtschaftsethische Fragen. Nicht zuletzt im Vorstand des Christian-Jakob-Kraus-Instituts für Wirtschafts- und Sozialphilosophie und in der von diesem durchgeführten Weiterbildung "Wirtschaftsphilosophie" fand diese Berührung unserer Interessen und unseres Engagements einen konkreten Ausdruck. Ich bin Ihnen dafür dankbar, dass Sie sich seinerzeit dafür zur Verfügung gestellt haben und die Arbeit des Instituts jahrelang mit wohlwollenden und konkreten Ratschlägen begleitet haben. Vieles hat sich seither geändert. Die Weiterbildung musste aufgrund von Beschlüssen von Rektorat und Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften eingestellt werden, das Institut ist geschlossen worden, wir beide sind inzwi-
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Festschrift für Volker Amold
sehen im Ruhestand. Aber die Erinnerung an eine harmonische Beziehung bleibt. Mit der Herzlichkeit, mit der wir uns oftmals auf den Fluren begegnet sind, grüße ich Sie auch heute und hoffe, dass Sie mich in so angenehmer Erinnerung behalten wie ich Sie.
Ihr Kurt Rättgers
Grußwort von Prof. Dr. Dieter Schneeloch
Volker Arnold und ich kennen uns seit dem ersten Juli 1978. An diesem Tage haben wir beide unsere Tätigkeit als Hochschullehrer an der FernUniversität aufgenommen, und zwar zunächst in gemeinsamen Räumen und mit einer gemeinsamen Sekretärin. Erst einige Monate später hat uns die FernUniversität getrennte Räume und zwei Sekretärinnen zur Verfügung stellen können. Bereits in dieser ersten Zeit unserer Tätigkeit an der FernUniversität habe ich die persönlichen Eigenschaften von Volker Arnold sehr zu schätzen gelernt. Hieraus ist im Laufe der Zeit eine tiefe Freundschaft entstanden, die bis heute anhält. Von Anfang an hat sich Volker Arnold - außer in der Forschung und Lehrein der universitären Selbstverwaltung stark engagiert. So hat er bereits etwa zwei Jahre nach seinem Dienstantritt das schwere Amt des Dekans unseres damaligen Fachbereichs übernommen. Als etwa 20 Jahre später das Ansinnen an ihn herangetragen worden ist, dieses Amt noch einmal zu übernehmen, hat er dies - trotz der damit verbundenen erheblichen Arbeitsbelastung und des
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Festschrift für Volker Arnold
zu erwartenden Ärgers - ohne Zögern getan. Auch das Amt eines Prorektors unserer Universität hat Volker Arnold für zwei Jahre übernommen und hierbei die Geschicke der Universität erfolgreich mitgestaltet. Im Senat der FernUniversität ist er viele Jahre tätig gewesen; vielen Kollegen muss er geradezu als ein Senator auf Lebenszeit erschienen sein. Insbesondere die vielfache
Wiederwahl in den Senat kann nur als ein außerordentlich hoher Vertrauensbeweis angesehen werden, der ihm von den Kollegen unseres Fachbereichs bzw. unserer Fakultät entgegengebracht worden ist. Großen Verdienst hat sich Volker Arnold um das Prüfungsamt unseres Fachbereichs bzw. unserer Fakultät erworben, dessen Leiter er lange Zeit gewesen ist. Seinem Engagement ist es in hohem Maße zu verdanken, dass das Prüfungsamt sehr gut funktioniert und innerhalb der FernUniversität als verbindlich gilt. Von Anfang an hat sich Volker Arnold mit Nachdruck und großem Erfolg dafür eingesetzt, dass die FernUniversität eine "ordentliche" Universität wird. In Konfliktsituationen hat er stets klar und unmissverständlich seine eigene Meinung vertreten. Zugleich ist er aber stets darauf bedacht gewesen, im Ton freundlich und verbindlich zu sein. Nicht zuletzt dieses Verhalten hat ihm stets die Achtung und Sympathie auch seiner hochschulpolitischen Gegner eingebracht. Während der letzten rd. anderthalb Jahrzehnte hat sich Volker Amold im Auftrag des Rektorats in hohem Maße für den Erhalt und den Ausbau der Studienzentren der FernUniversität im östlichen Mitteleuropa und in Osteuropa eingesetzt. Dies hat ihm vor einigen Jahren - verdientermaßen - die Ehrendoktorwürde einer ungarischen Universität eingebracht. Von Anfang an hat sich Volker Arnold sehr stark in der universitären Lehre engagiert. So hat er bereits unmittelbar nach seinem Dienstantritt in 1978 damit begonnen, die zur Vertretung seines Faches in der Lehre erforderlichen Lehrbriefe zu schreiben. Nach Fertigstellung des Curriculums hat er die lehrbriefe über die Jahrzehnte hinweg stets vorbildlich gepflegt. Die Studenten seines Faches haben es ihm zu danken gewusst. Dies zeigen nicht zuletzt die Ergebnisse von Evaluationen und immer wieder lobende Kommentare von Studenten. Dies ist umso bemerkenswerter, als Volker Arnold stets auf ein ho-
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Mensch und Markt
hes Niveau der von ihm vertretenen Lehre bedacht gewesen ist. Anmerken möchte ich, dass der Jubilar stets eine hohe Prüfungslast getragen hat. Als Betriebswirt fühle ich mich selbstverständlich nicht berufen, zu den
volkswirtschaftlichen Veröffentlichungen von Volker Arnold Stellung zu nehmen. Anmerken möchte ich lediglich, dass ich immer wieder mit Freude zur Kenntnis genommen habe, dass die Zahl seiner Veröffentlichungen kontinuierlich gestiegen ist. Eine Reihe seiner Aufsätze hat der Jubilar in renommierten internationalen Fachzeitschriften unterbringen können. Hierzu kann ich ihm nur herzlich gratulieren. Auch außerhalb der FernUniversität hat sich Volker Arnold in vielfacher Weise engagiert. Nennen möchte ich in diesem Zusammenhang insbesondere seine jahrzehntelange und - soweit mir ersichtlich - erfolgreiche kommunalpolitische Tätigkeit in seiner Wahlheimat Halver. Auch sein Engagement in dem Verein für Socialpolitik, deren Ethikkommission er mehrere Jahre lang geleitet hat, möchte ich in diesem Zusammenhang erwähnen. Vo1ker Arnold hat seinen Beruf stets geliebt und liebt ihn offenbar immer noch. Nur so ist es zu erklären, dass er sich erst zum spätestmöglichen Zeitpunkt hat emeritieren lassen und dass er auch heute noch sowohl in der Forschung als auch in der Lehre aktiv tätig ist. Lieber Volker, zu Deinem Jubiläum möchte ich Dir ganz herzlich gratulieren und Dir noch viele schöne Jahre im Kreise Deiner Familie und weiterhin eine hohe Schaffenskraft wünschen.
Dieter Schneeloch
Inhaltsverzeichnis Ethik und Wirtschaftswissenschaft - Einführung
1
Tristan Nguyen
1. Teil: Wirtschaftsethik im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Normen
Das Gefangenendilemma und seine ethischen Implikationen bei Aristoteles, Locke und Hume
17
Christoph Lütge
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft
41
Peter N. Posch
Markt und Moral
49
Andreas Suchanek
Zwischen Markt und Brüderlichkeit Zum Zusammenhalt von Gesellschaften
73
Kurt Röttgers
Intersubjektivität und die Beharrlichkeit der Moral in der Wirtschaft.........99 Bemd Remmele
xx
Inhaltsverzeichnis
Ökologie, Ökonomie und Ethik: Eine Gemengelage mit Zukunft?
117
Dieter Beschorner
2. Teil: Wirtschaftsethik im Kontext der Globalisierung und Nachhaltigkeit
"Global Compact" - Geht es auch konkreter?
137
Nikolaus Knoepffler und Reyk Albrecht
Zur Entwicklung eines Ethikkodexes für die untemehmerische Globalisierung
163
Christopher Stehr und Timo Herold
Nachhaltigkeit als Brücke zwischen ökonomischer Rationalität und ethischer Vemunft
189
Georg Müller-Christ und Lars Amdt
Mensch, Markt und Technik Welche Landwirtschaft kann die Welt emähren?
225
Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen
Economic Theory of Environmental Liability Law: Fundamental Issues and Recent Developments 251 Alfred Endres
Inhaltsverzeichnis
XXI
3. Teil:
Wirtschaftsethik in der praktischen Umsetzung
Ethik der Finanzmärkte Der virtuelle Kapitalismus und die menschliche Natur
283
~ichaelSchralllfn
Bankenaufsicht in Deutschland Entwicklungslinien und -tendenzen
315
Michael Bitz und Dirk Matzke
Ethische Investmentfonds: Ein Modeprodukt?
373
Stephan Schöning
Gedanken zu einer normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre .......419 Dieter Schneeloch
Der Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel zwischen Disposition und Controlling
451
Günter Fandei und [an Trockel
Untemehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung des Rechts Heinz Kußmaul, Christoph Ruiner und Dennis Weiler
481
Ethik und Wirtschaftswissenschaft - Einführung Tristan Nguyen
Die ethische Dimension wirtschaftlichen Handelns ist im Zuge der Finanzund Wirtschaftskrise in den Jahren 2008-2010 plötzlich zu einem Top-Thema in der Öffentlichkeit geworden. Ethik und Wirtschaftswissenschaft scheinen in einem disziplinären Nicht-Verhältnis zu stehen: während sich die Ökonomie auf eine ausschließlich an Effizienz ausgerichtete ökonomische Rationalität stützt, sind Fragen der Menschen- und UmweItgerechtigkeit in die Sphäre einer außerökonomischen Ethik verwiesen. An dieser Zwei-WeIten-Konzeption von Ethik und Ökonomie entzündet sich das konstitutive Grundproblem einer modemen Wirtschaftsethik: Wie lässt sich die ökonomische Rationalität mit der ethisch-praktischen Vernunft systematisch vermitteln? Zu Ehren meines akademischen Lehrers Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Volker Arnold' anlässlich seines 70. Geburtstags am 17.06.2011 konnte ich eine Reihe von führenden deutschen Wissenschaftlern im Bereich"Wirtschafts- und Unternehmensethik" für die folgenden 17 wertvollen Fachbeiträge gewinnen, die in der vorliegenden Festschrift mit dem Titel "Mensch und Markt - Beiträge zur Wirtschaftsethik" zusammengefasst sind. Allen Autoren fühle ich mich zum besonderen Dank verpflichtet. Die Festschrift gliedert sich in drei Themenblöcke: •
Wirtschaftsethik im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Normen,
I
Professor Amold war in den Jahren von 1999 bis 2003 Vorsitzender des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaft und Ethik" des Vereins für Socialpolitik und hat während seiner langen wissenschaftlichen Laufbahn bedeutende Beiträge zu wirtschaftsethischen Fragen geleistet.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_1, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
2
Tristan Nguyen •
Wirtschaftsethik im Kontext der Globalisierung und Nachhaltigkeit,
•
Wirtschaftsethik in der praktischen Umsetzung.
Der erste Themenblock befasst sich mit allgemeinen Fragen der Wirtschaftsethik, v. a. mit der scheinbaren Diskrepanz zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Normen. •
Im ersten Beitrag "Das Gefangenendilemma und seine ethischen Implikationen beiAristoteles, Locke und Hume" zeigt Christoph Lütge, dass die Versuche der Vermittlung zwischen ethischen Normen und ökonomischer Rationalität - oder einfach zwischen Moral und Ökonomie - nicht erst mit der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise anfingen, sondern eine lange Geschichte haben, die (mindestens) bis zu Aristoteles zurückreicht. Anhand des sog. Gefangenendilemmas werden die negativen Auswirkungen der Marktmechanismen gezeigt: Der Markt kann nicht unterscheiden, ob jemand aus Ineffizienz oder aus moralischen Motiven heraus zu teuer produziert. Somit könnte auch der moralische Unternehmer, der beispielsweise freiwillig eine teure Filteranlage zum Schutz der Umwelt einbaut, zum wirtschaftlichen Ruin gezwungen werden, falls er im Wettbewerb nicht mithalten und die umweltfreundlichere Produktionsweise nicht als reputationsfördernd darstellen und vermarkten kann. Das Argumentationsmuster des Gefangenendilemmas ist bei Aristoteles, Locke, Hume, Spinoza und Rousseau zu erkennen. Alle kennen auch die negativen Auswirkungen des Dilemmas und schlagen Regeln vor, um aus dem Dilemma zu entkommen.
•
Im zweiten Beitrag "Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft" betrachtet Peter. N. Posch die Akteure der Wirtschaft aus verschiedenen Perspektiven der ethischen Normen. So stellt er fest, dass einerseits der Einübung ethischer Handlungsweisen wenig Raum zugemessen wird, andererseits die Formulierung gültiger und allgemeingültiger Handlungsmaxime schwierig und in Konkurrenz mit anderen, handfesten Interessen stehen. Es ist somit nicht ausreichend, die nikomachische Ethik zu lesen und in den Lehrplänen Raum für Moralphilosophie zu gewäh-
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ren. Eine Änderung der inneren Einstellung ist von Nöten, sofern man ethisches Handeln etablieren und Nachhaltigkeit zu einem Allgemeingut erheben möchte. Der dadurch zu erwartende Gewinn ist nicht monetär, sondern es ist sogar mit einem geldwerten Verlust zu rechnen. Der Gewinn jedoch liegt in der lebenswerten Gestaltung der Umwelt und letztlich der Eudämonie als Ziel an sich, denn "der Ziellose erleidet sein Schicksal- der Zielbewusste gestaltet es.", so Kant. •
Im anschließenden Beitrag "Markt und Moral" stellt Andreas Suchanek fest, dass der Wirtschaftsethik im Rahmen der vielfältig ausdifferenzierten Wirtschaftswissenschaften bestenfalls ein Mauerblümchen-Dasein zu kommt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es sich bei Wirtschaftsethik nicht um eine hoch spezialisierte Einzelwissenschaft handeln kann, die sich auf einige wenige Aspekte ihres Forschungsgegenstandes fokussieren und alles andere ausblenden kann. Vielmehr liegt es in ihrer Problemstellung begründet, dass die Wirtschaftsethik die normativen Annahmen und Argumente in einen systematischen Zusammenhang mit hochkomplexen empirischen Verhältnissen bringen muss, welche die Lebenswirklichkeit der Akteure betreffen. Dementsprechend sind Probleme und Themen der Wirtschaftsethik so geartet, dass es um eine Art des Erkenntnisgewinns geht, die an sich, soweit das möglich ist, durch die konzeptionelle Integration verschiedener Aspekte: technische, rechtliche, ökonomische, psychologische, philosophische usw., charakterisiert ist. Jedoch ist es in einer derart komplexen Gesellschaft wie der heutigen unabdingbar, Orientierungen zu bieten, die mithelfen können, normative Ideale wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Nachhaltigkeit sachgerecht - also unter angemessener Berücksichtigung der empirischen Verhältnisse und Bedingungen - zur Geltung zu bringen. Doch gerade am Beispiel moralischer Einschätzungen des Marktes zeigt sich, wie anspruchsvoll es ist, Urteile darüber zu bilden, was gut oder nicht gut, gerecht oder ungerecht, verantwortlich oder unverantwortlich usw. ist.
•
In seinem Beitrag "Zwischen Markt und Brüderlichkeit - Zum Zusammen-
halt von Gesellschaften" stellt Kurt Röttgers fest, dass gegenwärtig das
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Marktprinzip dasjenige Prinzip ist, durch das sich die globalisierte Weltwirtschaft und ihre Gesellschaft organisiert. Nach dem Motto von Karl Homann "Wettbewerb ist solidarischer als Teilen" gilt der Markt als das Prinzip der Organisation von Gesellschaften der Modeme. Jedoch ist zu bedenken, dass der Markt denjenigen Zusammenhalt von Gesellschaften nicht selbst gewährleisten kann, auf den er gleichwohl angewiesen ist. Für diesen Zusammenhalt von Gesellschaften ist das Prinzip der Solidarität unabdingbar. Jedoch ist es problematisch, Solidarität mit der Brüderlichkeit im Sinne der Fratemite der bürgerlichen Revolution gleichzusetzen oder diese auf die jüdisch-christliche Nächstenliebe und die Bürgerfreundschaft der attischen Demokratie zurückzuführen. Kurt Röttgers versucht mit seinem Beitrag, im Spannungsfeld zwischen Markt und Brüderlichkeit eine Struktur zu identifizieren, die es erlaubt, das soziale Band zu erläutern, das auch dasjenige Vertrauen als Metanorm moralischen Verhaltens plausibel macht, ohne das selbst Märkte nicht funktionieren könnten, weil bei gänzlichem Mangel von Vertrauen die Transaktionskosten für Tausch- und Vertragsbeziehungen ins Unermessliche steigen würden
•
Bernd Remmele stellt in seinem Beitrag .Intersubiektioitdt. und die Beharr-
lichkeit der Moral in der Wirtschaft" fest, dass Intersubjektivität ein Konzept ist, das zunehmend und an verschiedenen Stellen in das ökonomische Denken eindringt. Der Versuch soziales Verhalten auf individuelle Kalküle zu reduzieren folgt einer langen Tradition modernen Denkens, die insgesamt versucht Intersubjektivität auf eine in sich geschlossene Subjektivität zurückzuführen. Jedoch gibt es zunehmend Belege dafür, dass es keinen Primat einer sich selbst entfaltenden individuellen Subjektivität gibt. Vielmehr spricht einiges dafür, dass der menschliche Geist von vorneherein auch auf Intersubjektivität angelegt ist. Bernd Remmele geht zunächst der Frage nach der mehrseitigen anthropologischen Bestimmung der Dualität aus Subjektivität und Intersubjektivität nach. Anschließend betrachtet er die Abhängigkeit der Ausprägung der beiden Teilstrukturen von den jeweiligen Bedingungen und im Hinblick auf deren lernbezogene Entwicklungs-
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fähigkeit. Daran schließt die Frage nach den Bedingungen für die Entwicklung hin zur heute üblichen Entlastung von normativen Erwartungen wirtschaftlicher Aktivitäten an. Abschließend zeigt sich, dass der Zusammenhang insgesamt widersprüchlich bleibt, da der Markt von der Reproduktion normativ geprägter Situationen abhängig ist und die systemischen Gegebenheiten einen darin nicht gegebenen reflexiven Zugang erfordern. •
In seinem Beitrag "Ökologie, Ökonomie und Ethik: Eine Gemengelage mit Zukunft?" befasst sich Dieter Beschorner zunächst mit der grundsätz-
lichen Frage, wer überhaupt für Wirtschaftsethik zuständig ist. Sind es die Wirtschaftswissenschaftler selbst, die in ihrer Breite die Betriebswirtschaftslehre und die Volkswirtschaftslehre abdecken inklusive verschiedener Vertiefungs- und Nebengebiete, oder sind es die Wirtschaftenden, das heißt also die in der Wirtschaft Tätigen, die Unternehmen und Unternehmer also, oder sind es die Ethiker, die ihre Fundierung überwiegend aus Theologie und Philosophie beziehen, oder ist es die Judikative, die uns mit entsprechenden Normen Wegweisung zu wirtschaftsethischen Verhalten an die Hand gibt? Der Autor ist zu dem Schluss gekommen, dass eine eigene Wissenschaftsdisziplin Wirtschaftsund Unternehmensethik sinnvoll und notwendig ist, um die angesprochene Gemengelage zwischen Ökologie, Ökonomie und Ethik auszudifferenzieren und Lösungswege aufzuzeigen. Der Weg zu einer ethisch akzeptablen ökonomischen Handlungsweise, die das ökologische System für die Nachwelt erhält, ist nicht einfach. Jedoch darf er uns nicht davon abhalten, heute zu agieren, um das Morgen zu sichern. Diese Gemengelage ist also unsere Zukunft!
Im zweiten Themenblock werden wirtschaftsethische Fragestellungen im Kontext der neuen Modeworte "Globalisierung" und "Nachhaltigkeit" behandelt. •
Angesichts der Unternehmens- und Führungsskandale der letzten Jahre stellt sich die Frage nach global gültigen und durchsetzbaren Prinzipien oder Regeln verantwortungsvoller Führung. Nikolaus Knoepffler und
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Reyk Albrecht gehen in ihrem Beitrag "Global Compact - Geht es auch
konkreter?" dieser Frage nach. Da eine Führungs- und Unternehmensethik auf verschiedene kulturelle Hintergründe Rücksicht nehmen muss, die in Unternehmen und Ländern vorherrschen, ist es keineswegs sicher, dass eine Suche nach globalen Prinzipien oder Regeln für eine verantwortungsvolle Unternehmensführung Erfolg haben wird. Die beiden Autoren zeigen anhand einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff "Global Compact", welche Anforderungen an ein internationales Regelwerk ethischer Führung gestellt werden müssen. Anschließend wird geprüft, inwieweit solche Regeln auf der Grundlage der international akzeptierten Grundsätze von Menschenwürde, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit entwickelt bzw. entfaltet werden können. Abschließend wird der Vorschlag unterbreitet, wie lebensdienliche Regeln für global agierende Führungskräfte aussehen könnten. •
In eine ähnliche Richtung geht der Beitrag "Zur Entwicklung eines Ethik-
kodexes für die unternehmerische Globalisierung" von Christopher Stehr und Timo Herold. Ziel ihrer Untersuchung ist die Entwicklung eines Ethikkodexes für international tätige Unternehmen. Inhalt eines Ethikkodexes sind Richtlinien (Normen) für das unternehmerische Handeln. Intention eines solchen Ethikkodexes ist die Vermeidung von kriminellem und unmoralischem Verhalten. Ein solcher Kodex stellt grundsätzlich eine Selbstverpflichtung für ein Unternehmen dar. Dabei werden an die kodifizierten Inhalte - im Zuge der unternehmerischen Globalisierung - Anforderungen an deren globale Gültigkeit gestellt. Für die Entwicklung der Normen für die Untersuchung wird auf die Theorie von Donaldson und Dunfee Bezug genommen. An dieser Theorie lehnt sich die Methodik der Untersuchung an, die durch ein deduktives Verfahren Normen aus international existierenden Richtlinien ableitet und durch Interviews überprüft. Es existieren auf internationaler Ebene keine verbindlichen Normen, die ein Unternehmen einhalten müsste. Bis zur Schaffung einer global gültigen Rahmenordnung sind die Unternehmen auf ihre Eigeninitiative angewiesen. Sie müssen selbst entscheiden, auf welche Werte und Normen sie sich in einem globalen Umfeld verpflich-
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ten. Die in dem Beitrag vorgestellten Basisnormen und der daraus resultierende Basis-Ethikkodex, können den Unternehmen als Grundlage zum Aufstellen eines eigenen Kodexes dienen. •
In ihrem Beitrag "Nachhaltigkeit als Brücke zwischen ökonomischer Rationa-
lität und ethischer Vernunft" gehen Georg Müller-Christ und Lars Arndt von der These aus, dass es der Wirtschaftsethik bisher noch nicht gelungen ist, eine überzeugende Lösung für das Problem der Anschlussfähigkeit von Moral und Wirtschaft vorzulegen. Wie exemplarisch am wirtschafts- und unternehmensethischen Ansatz von Karl Homann sowie am Ansatz der integrativen Wirtschaftsethik von Peter Ulrich gezeigt wird, versuchen die beiden Autoren anstelle der eigentlich zu leistenden Vermittlung von Moral und Wirtschaft, einen Primat entweder der ökonomischen Rationalität oder aber der Ethik zu begründen. Vor dem Hintergrund dieser Problematik wird der Vorschlag unterbreitet, das Konzept der Nachhaltigkeit als Brücke zwischen Moral und Wirtschaft, zwischen ethischer Vernunft und ökonomischer Rationalität zu verstehen. Es wird argumentiert, dass Nachhaltigkeit - verstanden als Prinzip haushaltsökonomischer Rationalität - einerseits der ethisch fundierten Forderung nach einer Rücksichtnahme auf die gesellschaftliche und natürliche Umwelt Rechnung trägt, andererseits aber direkt an das ökonomische Interesse der Wirtschaftssubjekte anschlussfähig ist und somit nicht die im Kontext der Ethik üblicherweise auftretenden Begründungs- und Motivationsprobleme auslöst. Dazu arbeiten die Autoren zunächst in allgemeiner Form den Charakter des Konzeptes der Nachhaltigkeit als haushaltsökonomischer Rationalität heraus, bevor anschließend auch deren Implikationen für die Unternehmensführung erörtert werden. Abschließend wird die Frage beleuchtet, welche Bedeutung der Ethik vor dem Hintergrund des dargelegten Nachhaltigkeitsverständnisses zukommt. •
Franz-Theo Gottwald und Isabel Boergen befassen sich in ihrem Beitrag "Mensch, Markt und Technik - Welche Landwirtschaft kann die Welt er-
nähren?" mit der Frage nach Sicherung der Welternährung. Um eine
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Antwort auf die weltweite Emährungskrise zu finden, braucht es nach ihrer Meinung einen grundlegenden Wandel innerhalb der globalen Agrarwirtschaft. Die Hightech-Evolution der Landwirtschaft ist wenig nachhaltig, bietet kaum Potential für Kleinbauern und geht letztlich an den Bedürfnissen des überwiegenden Teils der betroffenen Menschen vorbei. Für die Sicherung der Welternährung sind nachhaltige, ökologische und sozial gerechte Konzepte vonnöten, die regionale Eigenarten berücksichtigen und den Landwirten als Nahrungsmittelproduzenten mehr Wertschätzung entgegenbringen. Ökologische Anbaumethoden können hier einen wesentlichen Beitrag leisten. Deshalb braucht es auch und gerade auf politischer Ebene - eine Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Dazu müssen Kleinbauern in ihren Rechten gestärkt werden, Saatgut und landwirtschaftlich genutzte Tiere auch weiterhin als Gemeingut frei zugänglich sein. Längst überfällige Bodenreformen müssen die ländliche Bevölkerung in Entwicklungsländern vor Enteignung und Agrarkolonialismus schützen. Innovationen des Ökolandbaus können die gesamte Branche inspirieren, einzelne Elemente die traditionelle Subsistenzlandwirtschaft bereichern und stärken. Gleichzeitig müssen die Strukturen der globalen Agrarmärkte radikal verändert werden. Exportsubventionen sollten gestrichen, Agrarsubventionen in den Industrieländern umverteilt bzw. langfristig abgebaut werden. Kriterien für Umwelt- und Sozialstandards müssen entwickelt und international etabliert werden. Nicht zuletzt aufgrund der gesellschaftlichen Leistungen, die ökologisch wirtschaftende Betriebe leisten, muss hier über eine andere Art der Förderung diskutiert werden, weg von einer Subventionierung von industriellen Großbetrieben, hin zu einer gezielten Unterstützung derer, die sauber, umweltfreundlich und sozial wirtschaften, und regionale Arbeitsplätze schaffen. •
In seinem Beitrag .Economic Theory of Environmental Liability Law: Fun-
damental Issues and Recent Developments" setzt sich AIfred Endres mit den Haftungsfragen in der Umweltpolitik auseinander. Es hat sich gezeigt, dass Umweltprobleme in der Regel auf Marktversagen aufgrund negativer externer Effekte zurückzuführen sind. Negative externe Effek-
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te entstehen dann, wenn das Handeln eines Individuums den Nutzen von anderen Menschen negativ beeinflusst, ohne dass dieses Handeln durch die Marktmechanismen sanktioniert wird (z. B. ein Raucher beeinträchtigt das Wohlbefinden der nichtrauchenden Menschen in seiner Umgebung). Durch eine entsprechende Ausgestaltung des Haftungsrechts können die Verursacher von Umweltschäden für die Beseitigung (bzw. die Kosten) dieser Schäden haftbar gemacht werden. Der Autor untersucht unterschiedliche Regelungen bezüglich des Haftungsrechts für Umweltschäden und zeigt auf, dass nur unter sehr restriktiven Bedingungen eine vollständige Internalisierung der negativen externen Effekte erreicht werden kann. Unter realistischeren Annahmen ist eine Internalisierung der externen Effekte nur teilweise möglich, so dass das Haftungsrecht lediglich als eine Komponente im Politik-Mix betrachtet werden soll.
Im dritten und letzten Themenblock werden in sechs Beiträgen einzelne Aspekte der Wirtschaftsethik in der praktischen Umsetzung (z. B. Regulierung der Finanzmärkte, Besteuerung, Controlling, Unternehmensrecht) beleuchtet. •
Michael Schramm untersucht in seinem Beitrag "Ethik der Finanzmärkte
- Dervirtuelle Kapitalismus und die menschliche Natur" die Gründe für die letzte Finanzmarktkrise. Seiner Ansicht nach sind Finanzmärkte nur ein besonders drastisches Beispiel für ein grundsätzliches Problem globaler Märkte: Da eine global ordnende Instanz fehlt, sind die Märkte nicht hinreichend geordnet. Somit ist die Finanzmarktkrise nicht Beleg für ein Scheitern des Kapitalismus per se, sondern ein Scheitern eines unregulierten Finanzmarktkapitalismus. Wenn sich der modeme Kapitalismus nicht selbst zerstören soll, dann brauchen wir insbesondere für die globalen Finanzmärkte eine solidere Konstruktion. Es geht darum, dass wir die Finanzmärkte beherrschen, damit nicht sie uns beherrschen. In diesem Zusammenhang sind mindestens vier Hebel gleichzeitig zu bedienen: die informellen Institutionen, die formalen Institutionen, die Strukturen wirtschaftlicher Organisationen und die individuellen Selbstbindungen. Aufgrund der besonderen ethischen Gefährdung des (virtuali-
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sierten) Finanzsektors ist es vor allem wichtig, dass funktionierende Spielregeln die Spielzüge der Akteure in den Finanzmärkten wirksam kanalisieren und dass sich die Gesellschaft kulturell der Gefahr eines "Vulgärkapitalismus" bewusst hält. Dabei dürfte die Erinnerung daran, dass es neben dem Geld noch andere Werte gibt, entscheidend sein. •
Im anschließenden Beitrag .Bankenaufsicht in Deutschland - Entwicklungs-
linien und -tendenzen" erläutern Michael Bitz und Dirk Matzke die wesentlichen Entwicklungstendenzen und Konzeptionen der Finanzmarktregulierung seit der großen Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929. Es hat sich gezeigt, dass bankenaufsichtsrechtliche Vorschriften überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, in Reaktion auf eingetretene Missstände entwickelt worden sind. Eine Fortsetzung dieser Tendenz zeichnet sich naheliegender Weise auch im Zusammenhang mit der aktuellen Finanzkrise ab. Allerdings ist in der darauf einsetzenden Diskussion um eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte insgesamt sowie der Banken insbesondere eine neue Qualität zu verzeichnen: Bis in die ersten Jahre dieses Jahrhunderts hinein wurden entsprechende Maßnahmen ganz überwiegend in Expertenkreisen vorbereitet und ohne nennenswerte öffentliche Beachtung umgesetzt. Seit der jüngsten Finanzkrise werden demgegenüber die unterschiedlichsten Vorschläge zur Regulation der Finanzmärkte auch von Personen, insbesondere aus Politik und Publizistik, vorgestellt, die bislang noch nicht gerade als Bank- und Finanzexperten in Erscheinung getreten sind. Es bleibt abzuwarten, ob es gelingt, aus der letzten Finanzkrise - so wie bei vorangegangenen Krisen auch - vernünftige Lehren für die weitere Entwicklung des Bankenaufsichtsrechts zu ziehen. Die in Deutschland bislang schon umgesetzten und in weiterer Vorbereitung befindlichen Maßnahmen lassen ein abschließendes Urteil noch nicht zu. •
Nachdem ethische und ökologische Überlegungen unter dem Begriff Socially Responsible Investments (SR!) schon seit längerer Zeit auf den angelsächsischen Finanzmärkten an Einfluss gewonnen haben, sprang diese Tendenz in den 1990er Jahren auch auf die deutschsprachigen Märkte über. Stephan Schöning untersucht in seinem Beitrag "Ethische
Ethik und Wirtschaftswissenschaft
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Investmentfonds: Ein Modeprodukt?" die vier wesentlichen Ausprägungsformen ethischer und ökologischer Investmentfonds - Ethikfonds, Umwelttechnologiefonds, Öko-Effizienz-Fonds und Sustainable Development Funds. Im Zentrum stehen die geschichtliche Entwicklung und die grundlegenden Anlagestrategien dieser Fondsarten. Darauf aufbauend wird die aktuelle Marktsituation insbesondere des deutschsprachigen Marktes für prinzipiengeleitete Investmentfonds dargestellt. Unter Zuhilfenahme dieser Daten werden die Problemfelder und Chancen, die dieser relativ neue Markt bietet, analysiert, wobei auch auf die Entwicklungen im Zuge der Finanzmarktkrise eingegangen wird. Anlagen in ethisch-ökologische Fonds erfordern vom Kapitalanleger zunächst eine intensive Beschäftigung mit den eignen Zielen und der individuellen Risikotragfähigkeit. Angesichts der Merkmale "erhöhte Volatilität sowie "Verpassen von Chancen in Ausschlussbranchen", die den Fonds produktimmanent sind, ist ein sorgfältiges Abwägen zwischen Rendite, Risiko und Nachhaltigkeit notwendig. Auf dieser Basis ist anschließend eine sorgfältige Auswahl des passenden Fonds erforderlich. •
Dieter Schneeloch beleuchtet in seinem Beitrag "Gedanken zu einer normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre" die Wirtschaftsethik von einem anderen Blickwinkel, nämlich der Besteuerung. Zu den Steuerwissenschaften gehören neben der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre die Finanzwissenschaft und das Steuerrecht. Gemeinsames Problemfeld dieser Wissenschaften ist deren rechtskritischer (normativer) Teilbereich. Zur Beurteilung steuerrechtlicher Normen bedarf es - auch aus Sicht der betriebswirtschaftlichen Steuerlehre - zwingend der Reflexion über die diesen zugrunde liegenden ethischen Normen. Diese Normen können von unterschiedlichen Personen und Institutionen stammen, ggf. von diesen entwickelt werden. Als derartige Personen bzw. Institutionen kommen insbesondere der Gesetzgeber, die Gemeinschaft der Fachwissenschaftler und der einzelne Wissenschaftler in Betracht. Unabhängig davon, um wessen Wertungen es sich handelt, sollten diese in jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung klargestellt werden. Strebt der Wertende aufgrund seiner Wertungen mehrere Ziele an, so sollten diese genannt, außerdem sollte ihre Rangordnung festgelegt werden. Nur so
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Tristan Nguyen kann dem Vorwurf der Parteilichkeit begegnet werden. In Diskussionen über eine grundlegende Steuerreform ist es deshalb sinnvoll, auch die Grundwertungen, auf denen das geltende Steuerrecht beruht und das neue beruhen soll, zu hinterfragen. •
"Der Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel zwischen Disposition und Controlling" ist Gegenstand des nächsten Beitrags von Günter Fan-
deI und [an TrockeL Zahlreiche Umfragen sowohl unter Wirtschaftsfachleuten als auch bei anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zeigen eindeutig, dass das Vertrauen in die Überlegenheit des marktwirtschaftliehen Wirtschaftssystems gegenüber autoritären Systemen geringer geworden ist. Im Mittelpunkt der Erörterungen stehen dabei oft das heutige Erscheinungsbild des Kaufmanns und die Frage, inwieweit dieses noch dem des ehrbaren Kaufmanns entspricht, dessen Wort und Handschlag gelten. Grundlage jeden Handelns in Unternehmen sind Verträge, die zwischen Eigentümern und Unternehmensleitung bzw. zwischen der Unternehmensleitung und Mitarbeitern geschlossen worden sind. Da nicht alle Verträge vollständig spezifiziert sein können, herrscht ein gewisses Maß an Informationsdefizit, was wiederum Misstrauen oder"Treu und Glauben" induziert, da gewisse Spielräume ausgenutzt werden könnten. Vertrauen bildet eine wichtige Einflussgröße des Nicht-Ausnutzens der Informationsasymmetrie. Anhand der Darstellung eines wiederholten Spiels, das den Konflikt zwischen der Disposition und dem Controlling beschreibt, zeigen die Autoren, welchen Einfluss Vertrauen als ethischer Aspekt auf die generierte Lösung aufweist. Ihre Analyse zeigt, dass durch dauerhaftes Vertrauen die Auszahlungen der Akteure die Auszahlungen ohne Vertrauen dominieren, zudem aber auch durch eine höhere Wahrscheinlichkeit optimaler Entscheidungen die Gefahr gemindert werden kann, dass höhere, vermeidbare Kosten für die Unternehmensleitung entstehen. •
Im letzten Beitrag .Llniemehmerisdtes Verhalten im Kontext der Europäisierung des Rechts" von Heinz Kußmaul, Christoph Ruiner und Dennis Weiler geht es um die Auswirkungen auf das unternehmerische Verhalten im Zusammenhang mit der Europäisierung der Wirtschaft und des
Ethik und Wirtschaftswissenschaft
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Rechts. Anhand von zwei Beispielen zeigen die Autoren Umgehungssachverhalte, die sich in der Praxis herauskristallisiert haben. o Zum einen wird die Umgehung des deutschen Insolvenzrechts problematisiert, die ihren Ursprung hat in der internationalen Ausrichtung der Unternehmen und in der Möglichkeit, sich im Rahmen der Europäischen Union entsprechend zu positionieren. Nachdem die EU-Insolvenzverordnung verabschiedet wurde, ergab sich für die Unternehmen die Frage, welche Nischen im Vergleich zum deutschen Insolvenzrecht gefunden werden können. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich eine Gestaltung mit der Rechtsform in anderen Ländern Europas, speziell mit der britischen Limited, heraus. o Zum anderen wurde die Umgehung des deutschen Bilanzrechts mit dem Typus des ehrbaren und ordentlichen Kaufmanns ebenso von den Unternehmen verfolgt, wobei die EU durch die allgemeine Akzeptierung der IFRS die Nischensuche geradezu gefördert hat. Hier ergab sich unter anderem eine Gestaltung mit internationalen Bewertungsmaßstäben im Kontext des Fair Value. In der Literatur wird nicht selten die Meinung vertreten, dass der Fair Value der Hauptauslöser der internationalen Finanzkrise gewesen, werden sei. In beiden Fällen ergibt sich eine Komplexitätssteigerung des Rechts insgesamt, was automatisch auch Gestaltungen im immer komplexer werdenden Recht nach sich zieht. Wenn dabei noch der Verlust traditioneller Werte quasi automatisch realisiert wird, wie man insbesondere beim Übergang auf den Fair Value und dem damit verbundenen Verlust des Typus des ehrbaren bzw. ordentlichen Kaufmanns sieht, dann stellt sich die Frage, ob unternehmerisches Verhalten sich im Sinne von Ethik und damit von Anstand automatisch ergibt, oder ob nicht die rechtlichen Regelungen in dem Sinne gestaltet werden müssen, dass ethisches Verhalten gefördert und gefordert wird. Gerade im Zusammenhang mit dem Zusammenwachsen Europas zeigt sich eine klare Folge dergestalt, dass nicht alle Vereinheitlichungen förderlich sind.
Über den Autor:
Prof. Dr. Tristan Nguyen studierte Mathematik, BWL, VWL und Rechtswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der FernUniversität Hagen, der Technischen Universität Kaiserslautern und der Universität des Saarlandes mit den akademischen Abschlüssen Dipl.-Mathematiker, Dipl.Volkswirt, Dipl.-Kaufmann und Master of Laws. Anschließend promovierte er im Rahmen der Graduiertenförderung des Landes NRW zum Doktor der Wirtschaftswissenschaft (Dr. rer. pol.). Nach der erfolgreichen Habilitation wurde ihm von der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der FernUniversität Hagen die Lehrbefugnis (Venia Legendi) für die Fachgebiete "Volkswirtschaftslehre" und "Versicherungswirtschaft" verliehen. Prof. Nguyen ist seit 1/2009 Inhaber des Lehrstuhls für VWLNersicherungsund Gesundheitsökonomik an der WHL Wissenschaftliche Hochschule Lahr. Von 2004 bis 2008 lehrte er "Versicherungswirtschaft" an der Fakultät für Mathematik und Wirtschaftswissenschaften der Universität Ulm und war als Lehrbeauftragter an mehreren Universitäten im In- und Ausland tätig. Von 2000 bis 2003 war er Referent für Rückversicherungscontrolling bei der Swiss Re Germany Holding AG in München. Von 1996 bis 2000 war er als Prüfer bei
PricewaterhouseCoopers AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Stuttgart und München tätig. Im Rahmen seiner Berufstätigkeit hat Prof. Nguyen die Berufsexamina zum Wirtschaftsprüfer und Aktuar DAV erfolgreich abgelegt.
1. Teil: Wirtschaftsethik im Spannungsfeld zwischen ökonomischer Rationalität und ethischen Normen
Das Gefangenendilemma und seine ethischen Implikationen bei Aristoteles, Locke und Hume
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Christoph Lütge
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft
41
Peter N. Pasch
Markt und Moral
49
Andreas Suchanek
Zwischen Markt und Brüderlichkeit Zum Zusammenhalt von Gesellschaften
73
Kurt Röttgers
Intersubjektivität und die Beharrlichkeit der Moral in der Wirtschaft Bemd Remmele
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16 Ökologie, Ökonomie und Ethik: Eine Gemengelage mit Zukunft? Dieter Beschorner
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Das Gefangenendilemma und seine ethischen Implikationen bei Aristoteles, Locke und Hume Christoph Lütge
Die Versuche der Vermittlung zwischen ethischen Normen und ökonomischer Rationalität - oder einfach zwischen Moral und Ökonomie - haben eine lange Geschichte, die (mindestens) bis zu Aristoteles zurückreicht. Diese Geschichte ist von Wirtschaftsethikern und -historikern mehrfach aufgearbeitet worden,' Mir geht es hier nicht erneut um eine Darstellung dieser klassischen Geschichte. Vielmehr möchte ich einige Wurzeln und historischen Bezüge eines Konzepts beleuchten, das - in ganz unterschiedlichen Formen und Ausprägungen - in der Philosophiegeschichte seinen sowohl ökonomischen als auch ethischen Niederschlag gefunden hat. Ich meine das Gefangenendilemma. Ich werde zunächst die (zweifellos sattsam bekannten) Grundzüge dieses Modells noch einmal kurz vorstellen. Anschließend werde ich auf unterschiedliche Formen des Auftretens dieses Modells in der Philosophiegeschichte eingehen.? Dabei geht es mir nicht um ein exaktes "Wiederfinden", sondern vielmehr um ein "Mustererkennen" in dem Sinne, dass sich das dem Gefangenendilemma entsprechende Argumentationsmuster in den Gedankengängen dreier Denker - zumindest holzschnittartig - wiedererkennen lässt: Aristoteles, [ohn Locke und David Hume. Bewusst übergehe ich dabei Thomas Hobbes, da über seine klassische Analyse des Naturzustands als Dilemmastruktur bereits eine außerordentliche Fülle von Literatur vorliegt.'
1
Vgl. auch das in Arbeit befindliche Handbuch Lütge 2012.
2
Es handelt sich hier um Vorüberlegungen zu einer größeren Studie.
3
Vgl. aktuell etwa Pettit 2008.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_2, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1)
Christoph Lütge
Das Gefangenendilemma
In seiner heutigen Form wurde das Modell des Gefangenendilemmas, wie in allen gängigen Darstellungen zu lesen ist, in den 1950er Jahren von MOresher und M. Flood von der RAND Corporation dargestellt und von A Tucker zum ersten Mal mit dieser Bezeichnung belegt. Das prisoners' dilemma- oder kurz PD ist ein klassisches Modell für Entscheidungen in Interaktionen. In den Grundzügen lautet es wie folgt: Zwei Untersuchungshäftlingen wird eine möglicherweise gemeinsam begangene Tat zur Last gelegt wird. Da jedoch die Beweise fehlen, können sie nur verurteilt werden, wenn mindestens einer die Tat gesteht, sonst können beide nur zu 2 Jahren wegen unerlaubten Waffenbesitzes verurteilt werden. Der Geständige wird straffrei ausgehen, während der andere Häftling 10 Jahre erhält. Gestehen beide, erhalten beide eine Strafe von 8 Jahren. Man kann das Gestehen dabei im Sinne der Spieltheorie als defektive, das Dichthalten als kooperative Strategie ansehen. Die Gefangenen werden voneinander getrennt und können somit ihr Verhalten nicht aufeinander abstimmen. Wenn beide rational handeln, so schlagen sie beide die defektive Strategie ein (sie erhalten jeweils 8 Jahre) und stellen sich dabei beide schlechter, als wenn sie kooperiert hätten (in diesem Fall hätten sie nur 2 Jahre erhalten). Das heißt, defektive Strategien sind dominant. Dies liegt an den Spielregeln, die so gestaltet sind, dass die für beide (also kol-
lektiv) beste Lösung (nämlich 2 Jahre) aus individueller Sicht nur die zweitbeste ist; noch besser wäre es, straffrei auszugehen. Da beide dieselbe Kalkulation anstellen, schädigen sie sich beide selbst. In der Auszahlungsmatrix sieht das wie folgt aus:
• Ich verwende bewusst - und im Gegensatz zur gängigen Bezeichnung "prisoner's dilemma" die Pluralform, denn das Gefangenendilemma ist ein Interaktionsmodell und kein reines Handlungsmodell, das die Entscheidungssituation eines einzelnen, isolierten Akteurs analysiert.
19
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
Spieler 2 Kooperieren
Defektieren
Kooperieren
3,3
1,4
Defektieren
4,1
2,2
Spielerl
Abbildung 1: Matrix zum Gefangenendilemmas
Das Gefangenendilemma kann sowohl positive als auch negative Folgen haben. Die positiven Folgen sind im Allgemeinen weniger bekannt. Dazu zählt eine Disziplinierung der Anbieter zugunsten der Kunden. Anbieter werden beispielsweise daran gehindert, ihre Preise unbegrenzt in die Höhe zu treiben; denn schon ein Defektierer könnte mit niedrigeren Preisen das Anbieterkartell zu Fall bringen. Ähnlich könnte auch ein Unternehmen, das als erstes besonders hohe (von den Kunden gewünschte) Umweltstandards setzt, erreichen, dass alle Mitbewerber mitziehen müssen, um Akzeptanzprobleme zu vermeiden und konkurrenzfähig zu bleiben. Die negativen Auswirkungen des Gefangenendilemmas sind allerdings geläufiger: Der Markt kann nicht unterscheiden, ob jemand aus Ineffizienz oder aus moralischen Motiven heraus zu teuer produziert. Somit könnte auch der moralische Unternehmer, der beispielsweise freiwillig eine teure Filteranlage zum Schutz der Umwelt einbaut, zum wirtschaftlichen Ruin gezwungen werden, falls er im Wettbewerb nicht mithalten und die umweltfreundlichere Produktionsweise nicht als reputationsfördernd darstellen und vermarkten kann. Dilemmastrukturen von der Art des Gefangenendilemmas sind allgegenwärtig. 6 Nicht nur die Ordnungsethik, die Dilemmastrukturen als paradigmati-
5
6
Vgl. Homann/Suchanek 2000, 37. Ich verwende das Gefangenendilemma als paradigmatischen Fall, der für eine Reihe von spieltheoretischen Modellen steht. Hierzu zählen selbstverständlich auch Modelle wie etwa das Battle of the Sexes, das Chicken Garne und andere. Auf die unterschiedlichen Pointen kann ich hier nicht im Einzelnen eingehen, vgl. dazu Lütge 2007, Kap. 2.3.3.
20
Christoph Lütge
sehen Ausgangspunkt nimmt/ sieht das so, sondern durchaus auch andere Konzeptionen, so etwa die Vertragstheorie K. Binmores (1994 und 1998). Man findet Dilemmastrukturen insbesondere überall dort, wo Wettbewerb herrscht. In solchen Situationen ist es den Akteuren nicht möglich, durch individuelle Änderung ihrer Handlungsweise allein aus dem Dilemma zu entkommen. Hierzu ist vielmehr eine Veränderung der Regeln des Spiels, das heißt eine Veränderung der Logik der Situation, erforderlich. Mehrere Bemerkungen hierzu sind erforderlich: 1) Das Gefangenendilemma kann einmalig, mehrmals oder unendlich oft gespielt werden. Von Seiten der Spieltheorie wird gelegentlich behauptet, eine Iteration des Spiels sei selbst schon die Lösung des Spiels. Die Iteration des Dilemmas impliziert jedoch die Einführung von Sanktionen, d.h. Anreizen: In irgendeiner Weise wird gewährleistet, dass man sich wiedersieht - und darin besteht die Sanktionsmöglichkeit. Wenn diese Sanktionsmöglichkeit mit Hilfe von Institutionen zustande kommt, entspricht dies der ordnungsethischen Lösung. Andernfalls ist unklar, was mit einer Iteration des Dilemmas (unter realen Bedingungen) gemeint sein könnte, ohne Institutionen heranzuziehen. In Simulationen lassen sich iterierte Spiele natürlich leicht modellieren - aber wie sehen diese Iterationen in der Realität aus? Zusammentreffen der Akteure durch Zufall dürften nicht ausreichen; was also gewährleistet solche Treffen? 2) Manchmal wird auch argumentiert, das einmalige Spiel sei weitgehend irrelevant, da es in der Realität kaum vorkäme. Dem ist zu widersprechen: Modeme Gesellschaften sind gerade durch den wachsenden Grad an anonymen Beziehungen gekennzeichnet, in denen Defektion ohne wirksame Kontrolle in vielen Situationen leicht möglich ist. Hier werden Spiele durchaus nicht immer wiederholt. Allerdings ist zuzugestehen, dass Reputationseffekte in der globalisierten Welt im Rahmen von CSR, Corporate Citizenship u.a. eine nicht geringe Rolle spielen: Die Publizi-
7
Vgl. ursprünglich Homann/Kirchner 1995, später Homann/Lütge 2005 sowie Lütge 2004b und 2007.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
21
tät von Unternehmenshandlungen ist, vor allem durch das Internet, stark angewachsen. Dennoch: Nur wenn es sich um systematische, dauerhafte Anreizmechanismen handelt, die über Reputationseffekte echte funktionale Äquivalente zu klassischen Regeln bieten, werden Gefangenendilemmata überwunden. (Diese Situationen werden aber hier nicht im Vordergrund stehen.) 3) Entscheidend ist im Gefangenendilemma, dass die Akteure zu jener Handlungsoption greifen, die Kar! Homann als "präventive Gegendefektion"B bezeichnet hat: Es wird keine funktionierende Kooperation zu Fall gebracht, sondern die Kooperation kommt von Vornherein gar nicht zustande, da die Beteiligten die soziale Falle und damit die mögliche Ausbeutung antizipieren. 4) Man kann die präventive Gegendefektion leicht in Verbindung zu mehreren ethischen bzw. wirtschaftsethischen Themen setzen. Nur eins sei hier genannt: das klassische ethische Konzept der Mäßigung." Mäßigung mag für die persönliche Lebensführung (soweit sie nicht mit Interaktionen zu tun hat!) ein sinnvoller Orientierungsmaßstab sein, in der Gesellschaft jedoch ist sie dies nicht: Akteure, die sich mäßigen, geraten auf die Dauer ins Hintertreffen und in Gefahr, aus dem Markt ausscheiden zu müssen. Dies gilt paradigmatisch für Unternehmen, die mit moderaten Gewinnen zufrieden sind, genauso wie für Arbeitnehmer, die sich zurücklehnen: Sie riskieren, dass Stillstand Rückschritt bedeutet.
Soweit die systematischen Ausführungen zum Gefangenendilemma. Ich wende mich jetzt wie angekündigt drei klassischen Philosophen zu, bei denen sich verwandte Argumentationsmuster wiedererkennen lassen: Aristoteles, Locke und Hume.
8
Homann/Suchanek 2000, 36.
9
Vgl. Lütge 2004a.
22
2)
Christoph Lütge
J\ristoteles
In Aristoteles' "Politik" kommen grundsätzlich zwei systematische Stellen in Frage, an denen sich eine Dilemmastruktur finden lassen könnte: zum einen in der Beschreibung des Prozesses der Staatenbildung, zum anderen in der Beschreibung der Verhältnisse im Staat.'? Im ersten Buch der "Politik" beschreibt Aristoteles, wie die Staaten entstehen,
angefangen vom ehelichen Zusammenschluss über kleinere Gemeinschaften und Dörfer. Der Staat entsteht auf natürlichem Wege, auch schon deswegen, weil der Mensch von Natur aus - so die klassische abendländische Bestimmung - ein politisches Lebewesen (zoon politik6n) ist. Aber auch die Staatsbildung ist ein natürlicher Vorgang, da die vom Staat bereitgestellten Leistungen menschliche Bedürfnisse bedienen. Dies führt bis zur höchsten zu erreichenden Stufe des guten Lebens im Staat, der Autarkie. Eine Dilemmastruktur kommt dann ins Spiel, wenn es um Menschen geht, die nicht dem üblichen Wesen entsprechen: "derjenige, der aufgrund seiner Natur und nicht bloß aus Zufall außerhalb des Staates lebt, ist entweder schlecht oder höher als der Mensch [... ] Denn dieser ist von Natur [... ] gierig nach Krieg, da er unverbunden dasteht, wie man im Brettspiel sagt." (Aristoteles 2003, 49). Dieser Mensch hat entweder, als höheres Wesen, kein Bedürfnis nach Kooperation - dann ist es unproblematisch -, oder aber er ist schlecht und ist gewissermaßen permanent auf Defektion aus. Er hat dann auch kein Bedürfnis nach Freundschaft und kann der Stabilität eines Staates nur abträglich sein. Aufgrund seiner zu erwartenden Stärke ist er gefährlich - und hat gefährliche Waffen: "Das Schlimmste ist die bewaffnete Ungerechtigkeit. Der Mensch besitzt von Natur als Waffen die Klugheit und die Tüchtigkeit, und gerade sie kann man am allermeisten in verkehrtem Sinne gebrauchen. Darum ist der Mensch ohne Tugend das gottloseste und wildeste aller Wesen [... ]" (Aristoteles 2003,50) Die Waffen der Intelligenz kann ein solcher Mensch zur Manipulation anderer verwenden und so etwa Kriege führen. Diese Gefahren sieht er auch in Platons 10
Ich danke Eva Solloch für einige Vorarbeiten.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
23
Vorstellung vom idealen Staat gegeben: Manipulationen und Dilemmastrukturen. Dem wende ich mich nun zu. Im zweiten Buch der "Politik" erörtert Aristoteles die Gefahren des von Platon
in der "Politeia" beschriebenen Idealstaats. Diese Gefahren werden vor allem in zwei Hinsichten erörtert, in denen dann auch die Dilemmastrukturen beschrieben werden: erstens im Hinblick auf die Gemeinschaft von Kindern (Kapitel 3 und 4), zweitens im Hinblick auf die Frage der Güterteilung im Idealstaat. Der Gedanke der Dilemmastruktur hat dabei zwei Grundlagen: 1) Für Aristoteles ist es nicht das Ziel, eine Einheit des Staates zu erreichen, sondern den Staat als Zusammensetzung vieler zu sehen: "Der Staat besteht außerdem nicht nur aus vielen Menschen, sondern auch aus solchen, die der Arzt nach verschieden sind. Aus ganz Gleichen entsteht kein Staat." (Aristoteles 2003,70). 2) Der Begriff "alle" kann nach Aristoteles einmal verstanden werden als Summe aller Einzelnen, das heißt, jeder bleibt Individuum und kümmert sich um seine eigenen Aufgaben und seine Familie. Oder aber der Begriff kann, in seiner platonischen Ausprägung, alle in ihrer Gesamtheit meinen - und dann haben alle gemeinsame Kinder, gemeinsame Familien und gemeinsamen Besitz: ,,[... ] denn jeder wird seinen Sohn als seinen Sohn und seine Frau als seine Frau bezeichnen, und eben so wird er vom Vermögen und allem, was ihn betrifft sprechen. Aber jene, die die Frauen und Kinder gemeinsam haben, werden gerade nicht so reden: alle zusammen können es, aber nicht jeder einzelne [... ]" (Aristoteles 2003,71). Diese beiden Definitionsmöglichkeiten sind für Aristoteles Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Aristoteles' Ziel in diesem zweiten Buch ist zu zeigen, dass der platonische Gedanke von "alle" als Gesamtheit zum einen nicht realisierbar und zum anderen auch gar nicht wiinschenswert ist, da er erhebliche Nachteile mit sich bringen würde.
Christoph Lütge
24
Generell erhielten die Dinge, die alle gemeinsam besitzen, so gut wie keine Pflege: "Denn um das Eigene kümmert man sich am meisten, um das Gemeinsame weniger oder nur soweit es den einzelnen angeht. Denn, abgesehen vom übrigen, vernachlässigt man es eher, weil sich doch ein anderer darum kümmern wird, so wie auch in den häuslichen Dienstleistungen viele Diener zuweilen weniger leisten als wenige." (Aristoteles 2003, 71) Der Grund scheint bei Aristoteles in der Natur des Menschen zu liegen: offenbar betreiben Menschen für solche Dinge am wenigsten Aufwand, bei denen sie davon ausgehen, dass es zahlreiche andere Verantwortliche gibt. Die Folge ist allgemeines Desinteresse. Das gilt auch und gerade für die Kindergemeinschaft: "Nun bekommt aber jeder Bürger tausend Söhne, und diese nicht als Söhne eines einzelnen, sondern jeder beliebige ist gleichmäßig Sohn von jedem beliebigen. Also werden sie sie alle gleichmäßig vernachlässigen." (Aristoteles 2003, 71) Damit liegen Elemente einer Gefangenendilemmastruktur vor: es herrscht Unklarheit über die Verantwortlichkeit für einen gemeinsames" Produkt". Die Folgen malt Aristoteles im Folgenden (2. Buch, Kap. 4) aus: es kommt zu Zwietracht, Überfällen und Mord: " dies sind Dinge, die vielleicht gegen Femstehende [siel], aber keinesfalls gegen Väter und Mütter und nahe Verwandte vorkommen dürfen. Sie müssen jedoch öfter vorkommen, wenn man einander nicht kennt, als wenn man einander kennt." (Aristoteles 2003,72). Ohne klare Verwandtschaftsverhältnisse kommt es nach Aristoteles zwangsläufig zur Defektion - und kaum zur Kooperation der Bürger untereinander. Letztlich ist das Ergebnis gemeinschaftlichen Kindereigentums das gleiche wie bei der klassischen"Tragik der Allmende"!': da sich keiner für das Ergebnis verantwortlich fühlt, leiden alle unter den Folgen, hier: der Verrohung. Es gibt noch einen zweiten Faktor, der hier eine Rolle spielt: Freundschaft. Das Bestehen von möglichst vielen Freundschaften ist sehr wichtig, "... denn so werden wohl am wenigsten Bürgerkriege stattfinden... " (Aristoteles 2003,73). Im platonischen Idealstaat jedoch komme Freundschaft nicht zu Stande, da es
11
Hardin 1968.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
25
immer Streit um den gemeinsamen Besitz gebe. Selbst über grundlegende Dinge herrschte Zwietracht: " denn zwei Dinge erwecken vor allem die Fürsorge und Liebe der Menschen: das Eigene und das Geschätzte. Bei den Bürgern eines solchen Staates kann weder das eine noch das andere vorhanden sein." (Aristoteles 2003,73) Das gute Zusammenleben im Staat hat für Aristoteles oberste Priorität, und im platonischen Idealstaat findet er eine Reihe von Dilemmasituationen, die das Zusammenleben stören können. Die Beschreibung dieser Situation hat daher für ihn die Funktion, bessere Formen des Zusammenlebens zu finden. Das wird auch in Bezug auf die Frage der allgemeinen Güterteilung sichtbar: Aristoteles fragt hier nicht nur, ob Besitz gemeinsam genutzt werden soll oder nicht, sondern auch differenzierter, ob Gewinn, der aus privatem Grundbesitz resultiert, gemeinsam genutzt werden sollte, zum Beispiel die Ernte in der Landwirtschaft (Aristoteles 2003,74). Solche Fragen sind wiederum zentral für das gute Zusammenleben mit Freunden: "denn in bestimmten Sinne müssen die Güter gemeinsam sei, im Allgemeinen dagegen privat. Wenn jeder für das seinige sorgt, werden keine Anklagen gegeneinander erhobene, und man wird mehr vorankommen [... ]. Die Tugend wiederum wird den Gebrauch nach dem Sprichwort: ,den Freunden ist alles gemeinsam' regeln." (Aristoteles 2003,75) Der Privatbesitz sorgt auch hier dafür, dass die Bürger sich um ihre Güter kümmern, und er verhindert Konflikte. Gleichzeitig soll aber auch Freundschaft im Staat gewährleistet werden, denn sie ist nach Aristoteles erst die Bedingung der Möglichkeit eines guten Lebens in der Gemeinschaft. Um also sowohl Konflikte zu verhindern als auch Freundschaft zu erhalten, sollen Gesetze sicherstellen, dass Privatgegenstände (etwa Werkzeuge) gemeinsam genutzt werden können: "Aber auch den Freunden, Gästen oder Gefährten Freundlichkeiten oder Hilfe zu gewähren, macht die größte Freude." (Aristoteies 2003, 75) Ein freundlicher Staat ist ein friedlicher und stabiler Staat mit zufriedenen Bürgern, deren Hang zum Defektieren zumindest verringert worden ist.
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Christoph Lütge
Festhalten lässt sich, dass Aristoteles einige Grundzüge des Gefangenendilemmas kennt, von den positiven Wirkungen jedoch ist ihm nichts bekannt. In dieser Hinsicht ändert sich bei Locke kaum etwas.
3)
lohn Locke
Die Lockesche Version der Gesellschaftsvertragstheorie arbeitet mit einer Naturzustandskonzeption, die in der Regel als fundamentaler Gegensatz zum Hobbesschen Naturzustand beschrieben wird. Geht Hobbes davon aus, dass im Naturzustand der Krieg aller gegen alle herrscht, so sieht Locke hier schon vorstaatliche Normen am Werk. Die grundsätzliche Problemaufmachung im Naturzustand, die als PD rekonstruiert werden kann, findet sich jedoch auch bei Locke.P In der "Zweiten Abhandlung über die Regierung" beschreibt Locke zunächst
das natürliche Gesetz, das im Naturzustand eine - wenn auch schwache Funktion in der Koordinierung der Handlungen der Einzelnen übernimmt: "Im Naturzustand herrscht ein natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen so1L"13 Damit wird das natürliche Gesetz eingeführt, das dem traditionellen Naturrecht ähnelt: "Gott erweist sich als Geltungsgrund des natürlichen Gesetzes und der individuellen Rechte."14 Das natürliche Gesetz ist nicht nur gegeben, sondern es ist auch erkennbar: Menschliche Vernunft ist dazu ausreichend'" aber auch notwendig. Und darin zeigt sich auch bereits, dass Locke Differenzen zur naturrechtliehen Tradition aufweist: Das natürliche Gesetz ist nur durch die Vernunft erkennbar, nicht aber (beispielsweise) durch Offenbarung
12
Ich danke [ohannes Dejon für einige Vorarbeiten.
13
Locke 1689/1977,203, Hervorhebung im Original.
,. Kersting 1994, 111. 15
Vgl. etwa Locke 1689/1977, 207.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
27
oder menschliche Selbsterkenntnis. Die natürlichen Gesetze müssen damit nicht mehr im Menschen als ursprüngliche Anlage vorhanden sein. Im Naturzustand reichen die natürlichen Gesetze jedenfalls trotz ihrer (schwa-
chen) Kraft nicht aus, eine stabile Gesellschaft hervorzubringen. Locke gibt hierfür insgesamt drei Gründe an, deren erster wie folgt beschrieben wird: "Erstens fehlt es an einem feststehenden, geordneten und bekannten Gesetz, das durch allgemeine Zustimmung als die Norm für Recht und Unrecht und als der allgemeine Maßstab zur Entscheidung ihrer Streitigkeiten von ihnen allen angenommen und anerkannt ist. Denn obwohl das Gesetz der Natur für alle vemunftbegabten Wesen klar und verständlich ist, werden die Menschen doch durch ihr eigenes Interesse beeinflusst, und da sie außerdem nicht darüber nachdenken und es folglich auch zu wenig kennen, pflegen sie es nicht als ein Recht anzuerkennen, das in seiner Anwendung auf ihre eigenen Fälle für sie verbindlich wäre."16 Das Gesetz ist also selbst "klar und verständlich", aber zum einen denken nicht alle darüber hinreichend nach, und zum anderen kommt ihnen ihr Eigeninteresse in die Quere. Aus der Perspektive des Gefangenendilemmas kann man rekonstruieren: Kooperation hieße Einhaltung der natürlichen Gesetze, Defektion ihre Übertretung. Die Menschen denken danach zunächst an ihr eigenes Interesse - und sehen das Gesetz nur als gültig für andere an, nicht für sich selbst. Sie entscheiden sich, andere auszubeuten, und so enden schließlich alle in der sozialen Falle. Dabei kommen gerade die Leidenschaften und auch die Gleichgültigkeit ins Spiel, wie die folgende Passage über juristische Entscheidung von Streits zeigt. Der Naturzustand ist bei der Locke vor allem auch deswegen ein Zustand der Unsicherheit, weil unparteiische Richter fehlen, um Streitigkeiten zu entscheiden: "Zweitens fehlt es im Naturzustand an einem anerkannten und unparteiischen Richter, mit der Autorität, alle Zwistigkeiten nach dem festste16
Locke 1689/1977,278.
28
Christoph Lütge henden Gesetz zu entscheiden. Denn da im Naturzustand jeder gleichzeitig Richter und auch Vollzieher des Gesetzes der Natur ist, die Menschen aber sich selbst gegenüber parteiisch sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass in eigener Sache Leidenschaft und Rache sie zu weit fortreißen und ihren Eifer übertreiben, in Sachen anderer Menschen dagegen Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit sie zu indifferent machen."17
Kooperation ließe sich hier ansehen einerseits als unparteiische Durchsetzung der natürlichen Gesetze, andererseits als Akzeptieren der Strafe als gerecht im Falle einer eigenen Gesetzesübertretung. Eine solche Kooperation kommt jedoch wiederum nicht zustande aufgrund der eigenen Interessen und aufgrund unzureichenden ,Nachdenkens'. Locke nennt allerdings nun noch einen weiterenGrund: "Drittens fehlt es im Naturzustand oft an einer Gewalt, dem gerechten Urteil einen Rückhalt zu geben, es zu unterstützen und ihm die gebührende Vollstreckung zu sichern. Menschen, die sich durch irgendeine Ungerechtigkeit gegen das Gesetz vergehen, werden, wenn sie dazu in der Lage sind, selten darauf verzichten, ihr Unrecht mit Gewalt durchzusetzen: ein solcher Widerstand macht die Bestrafung häufig gefährlich und oftmals für die, die sie durchführen sollen, verderblich."18 Die Begründung hat sich hier etwas verschoben, weil sich auch das ,Akteursmodell' verschoben hat: Die Individuen maximieren hier primär nicht mehr (kurzfristig) ihre eigenen Interessen, sondern sie versuchen, das größtmögliche Übel zu verhindern. Nicht der Interessenkonflikt, sondern diese ÜbelVerhinderung verhindert ihrerseits die Kooperation der Einzelnen. Locke betrachtet hier nicht mehr die Gesetzesbrecher, sondern diejenigen Akteure, die sanktionieren sollen - und erkennen müssen, dass es ihnen nicht gelingt. Auf diese Weise kann Locke die Defektion selbst als vernünftige Handlung erweisen:
17
Locke 1689/1977,279.
18
Locke 1689/1977, 297.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
29
Die Selbsterhaltung ist erste Pflicht des natürlichen Gesetzes, und alle sozialen Pflichten haben zur Bedingung, dass sie die Selbsterhaltung nicht beeinträchtigen dürfen". Daraus ergibt sich, dass im Naturzustand - nicht in der Gesellschaft - Defektion vernünftig ist, da sie mit den natürlichen Gesetzen übereinstimmt. Sie verlangt keinen Heroismus von den Einzelnen; sie überfordert die Einzelnen nicht. Soweit die drei Gründe. Es bleibt aber letztlich eine Interpretationsfrage, ob man Locke zugesteht, die systematische Bedeutung des Gefangenendilemmas voll erkannt zu haben. Die philosophische Traditionslinie verbindet Locke zum einen mit dem Widerstand gegen (illegitime) staatliche Gewalt, zum anderen mit der Möglichkeit, auch durch Selbstorganisation bzw. nichtstaatliche Einheiten soziale Gebilde zu formen. Interessant sind die diesbezüglichen Ausführungen Lockes, in denen er Hobbes kritisiert (insbesondere §§227ff.): Hobbes verzichtet auf ein Widerstandsrecht der Einzelnen im Staat, nach Vertragsschluss.e' Das ist nur konsequent, weil Hobbes strikt darauf fokussiert, wie die Akteure dem Naturzustand entkommen können, und weniger darauf, wie nach staatlicher Übereinkunft die politische Gewalt unter Kontrolle gehalten werden kann. Dies ist eher eine methodologische Entscheidung als eine politische Entscheidung (gar für absolutistische oder wenigstens autoritäre Staaten, wie es Hobbes regelmäßig vorgeworfen wird). Locke jedenfalls äußert sich zu diesem Widerstandsrecht wie folgt: Ehrliche Menschen müssen sich "Räubern und Piraten" (Locke, [ohn 1689/1977, 343) widersetzen dürfen und nicht um jeden Preis Frieden halten müssen: " ... dann bitte ich zu bedenken, was für eine Art von Frieden in der
Welt sein wird, der nur aus Gewalttat und Raub besteht und nur zum Vorteil von Räubern und Unterdrückern bewahrt werden soll. Wer würde es nicht als einen herrlichen Frieden zwischen dem Mächtigen und dem Schwachen ansehen, wenn das Lamm ohne Widerstand seine
19
Vgl. Locke 1689/1977, 203.
2D
Hobbes 1651/1995, insbes. 18. und 20. Kap.
30
Christoph Lütge Kehle darböte, damit sie von dem gebieterischen Wolf zerrissen werde?" (ebd.)
Locke plädiert hier somit eindeutig für die Gegendefektion, um Ausbeutung durch die Mächtigen zu vermeiden. Aus einer Hobbesschen Sichtweise könnte man dies als Nichterkennen der PD-Struktur der Situation ansehen: Wenn die Möglichkeit des Widerstands besteht gegen eine Regierung, zu deren Einrichtung man seine Zustimmung ja gegeben hatte (um aus dem PD zu entkommen), so besteht das PD effektiv fort. Es könnte jederzeit wieder aufbrechen, wenn jemand das Widerstandsrecht für sich in Anspruch nähme. Dies ist die
eine Sichtweise. Man könnte aber auch eine alternative Sicht vertreten: Danach dient die Möglichkeit, das PD wieder aufbrechen zu lassen, der Disziplinierung der "Anbieter" auf dem politischen Markt. Die Mächtigen, die Regierenden, müssen sich zurückhalten und dürfen die Bürger nicht massiv benachteiligen - aufgrund der latent weiterbestehenden PD-Situation, die alle wieder in die soziale Falle treiben könnte. Hier dient also die Gefahr des PDs einem Zweck, der Disziplinierung - während die Kritik an Locke das PD eher als Gefahr sieht, die es soweit wie möglich zu bannen gilt. Insofern ist Locke - wenn man sich dieser zweiten Sichtweise anschließt - einen Schritt weiter als Aristoteles: er kann den Gedanken denken, wonach das PD einem positiven Zweck dient. Das ist allerdings noch einen Schritt von der Vorstellung entfernt, wonach Anbieter durch die positive Rolle des Wettbe-
werbs diszipliniert werden. Diesem Gedanken nähert sich Hume.
4)
David Hume
David Hume begründet Moral systematisch mit ihrer gesellschaftserhaltenden und -stabilisierenden Funktion. Moral dient nach Hume weder göttlichen Geboten noch denen der Vernunft, sondern den Wünschen der Menschen. Diese Wünsche sind jedoch nicht allein durch eigene Interessen, sondern auch durch Sympathiegefühle bestimmt: Weite Teile der "Enquiry Concerning the Principles of Morals" (Hume 1751/1972) bestehen in der deskriptiven Untersu-
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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chung der Art und Weise, wie Moral unser Leben steuert. Hume analysiert die unterschiedlichen Typen von Affekten (insbesondere ,Wohlwollen' und ,Gerechtigkeit'), auf deren Wirken er eine funktionierende Gesellschaft aufgebaut sieht. Die Gesellschaft soll dabei dem Wohl aller dienen, auch derer, die ihre Handlungen aufgrund dieser Affekte Beschränkungen unterwerfen. Hume (1751/1972, 128ff.) versucht zu zeigen, dass es für jeden Einzelnen generell vorteilhaft ist, sich moralisch zu verhalten. Der Band 3 der "Treatise on Human Nature" liefert hierfür die theoretischen Grundlagen. Hier erkennt Hume die theoretischen Implikationen des Gefangenendilemmas; er sieht, dass die Kooperation der Akteure im Gefangenendilemma aufgrund der situationalen Anreize nicht zustande kommen kann: Grundsätzlich sind die Akteure eigeninteressiert "oder besitzen nur eine beschränkte Großmut; deshalb kommen sie nicht leicht dazu, eine Handlung zum Vorteil anderer zu tun, es sei denn mit der Aussicht auf einen eigenen Vorteil, den sie nur durch solche Leistung zu erreichen hoffen können. Nun geschieht es häufig, dass die gegenseitigen Leistungen nicht im selben Augenblick vollzogen werden können [...]" (Hume 1739-40/1989, Teil 2, 267).
Derjenige, der in Vorleistung geht, setzt sich der Gefahr der Ausbeutung aus, und daher unterbleibt die Vorleistung (vgl. Hume 1739-40/1989, Teil 2, 267): "Ich strenge mich daher nicht um deinetwillen an; und würde ich um
meinetwillen, d.h, in Erwartung einer Erwiderung bei dir arbeiten, so weiß ich, dass ich enttäuscht werden und vergeblich auf deine Dankbarkeit rechnen würde. Also lasse ich dich bei deiner Arbeit allein. Und du behandelst mich in gleicher Weise." (ebd., 268; Hervorhebungen im Original) Angesichts dieser Logik entwirft Hume eine Begründung für gemeinsame Regeln: Appelle helfen nicht, denn eine "Korrektur der Selbstsucht und Undankbarkeit der Menschen" (vgl. ebd., 268) könnte nur eine "Allmacht" bewirken, die "allein imstande [wäre], den menschlichen Geist umzumodeln und seinen
32
Christoph Lütge
Charakter von Grund aus zu verändern" (ebd.). Das Eigeninteresse sei nicht abzuschaffen, sondern wir müssten lediglich den "natürlichen Affekten eine neue Richtung geben" (ebd., 269) und lernen, "dass wir unsere Bedürfnisse auf indirekte und künstliche Weise besser befriedigen können, als wenn wir ihnen ganz die Zügel schießen lassen" (ebd.). Nur die (eigennützige) Neigung selbst hält die (eigennützige) Neigung im Zaum, "wenn man ihr nämlich eine neue Richtung gibt" (ebd., 236). Das heißt, es muss ein System von Regeln entworfen werden, das - als Ganzes - zum gegenseitigen Vorteil ist (vgl. ebd., 333) und das - als künstliches, nicht natürliches Werk21
-
auf einer "Übereinkunft" beruht. Hume lehnt die Ver-
tragstheorie nicht kategorisch ab 22, unter der Bedingung, dass die Idee eines ursprünglichen Vertrags ausdrücklich als (nützliche) Fiktion angesehen werde (vgl. ebd., 236f.). Dann gebe die wechselseitige Übereinkunft eine verlässliche Basis für Regeln ab.23 Auf dieser Basis könnten Versprechen gehalten werden (vgl. ebd., 262f.), und es kann sich ein staatliches Gebilde entwickeln. Zwei Gedanken der Ordnungsethik sind hier kongenial verkörpert - sogar bisweilen noch pointierter ausgedrückt als im Leviathan: • Erstens kann nur das Eigeninteresse das Eigeninteresse im Zaum halten - und das wird nicht verstanden als Mäßigung. Im Gegenteil wird den Akteuren empfohlen, ihr Eigeninteresse noch besser und raffinierter - man könnte sogar sagen: noch gieriger - zu verfolgen, indem sie sich einer Selbstbindung unterwerfen, d.h. sich Regeln geben. Nichts anderes meint die Formulierung "auf indirekte und künstliche Weise". Man könnte hier - bei etwas freier Auslegung - hineinlesen: Die Anbieter auf einem Markt sollen sich nicht mäßigen, sondern vielmehr ihren Gewinn ,bis zum Anschlag' maximieren, aber im Rahmen des Wettbewerbs als Dilemma, der sie zu diesem Handeln zwingt.
21
Vgl. zu diesem Gegensatz Hume 1739-40/1989,Teil 2, 24lf. sowie 282f.
22
Hume 1748/1988 liest sich zwar über weite Strecken als Ablehnung der Vertragstheorie. tatsächlich wird aber nur eine historisch-realistisch verstandene Vertragstheorie verworfen.
23
Hume entwickelt sein Zustimmungskonzept in Hume 1739-40/1989, Teil 2, 232ff.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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• Zweitens wird der ordnungstheoretische Grundgedanke der Regelsteuerung konsequent verfolgt, und zwar methodisch noch deutlicher (als in manchen Passagen Hobbes') als Fiktion. Dass das Regelsystem ausdrücklich ein künstliches und kein natürliches Gebilde ist, unterscheidet Hume insbesondere von Aristoteles' Staatskonzeption, in der - wie wir gesehen haben - der Staat auf einer natürlichen Grundlage basiert. Ein Problem für Hume ist allerdings die Frage, ob er nicht Interessenkonflikte vernachlässigt und zu sehr von einer - anders als Smith verstandenenv - Har-
monie der Einzelinteressen ausgeht. Tatsächlich erkennt Hume dieses Problem selbst: Seine "Enquiry Conceming the Principles of Morals" endet nahezu in einer Aporie, als er die Schwierigkeit sieht, dass manche Menschen wünschen könnten, alle anderen befolgten die moralischen Regeln, sie selbst aber nicht. Diese Schwierigkeit ist das Trittbrettfahrerproblem, das dem Gefangenendilemma weitgehend entspricht. Die einzige Hoffnung auf Lösung des Problems sieht Hume (1751/1972, 133f.) darin, dass diese Menschen irgendwann die Fruchtlosigkeit einer solchen Strategie einsähen. Die Trittbrettfahrer müssten erkennen, dass auf lange Sicht jeder Regelbrecher gefasst und bestraft würde und dass sie sich somit (auf lange Sicht) besser stellen würden, wenn sie auf das Trittbrettfahren verzichteten. Dieser Lösungsversuch trägt jedoch deutlich ad hoc-Charakter und kann letztlich nicht befriedigen.
Hume steht damit am Ende der Untersuchung überdie Prinzipien der Moral vor einem Problem, das seine gesamte Konzeption zu Fall zu bringen droht - und das, obwohl er in seinem früheren Werk, der Treatise, die Grundlagen für eine Lösung des Trittbrettfahrerproblems bereits gelegt hatte. Allerdings hat Hume letztlich den Gedanken der institutionellen Verankerung von Regeln noch nicht hinreichend ausgebaut. Das kann nicht überraschen, denn dazu fehlen ihm die ökonomischen Grundlagen, die erst Smith im Wealth of Nations legen wird - allerdings erst 1776, 25 Jahre nach Veröffentlichung der Enquiry Concer-
ning the Principles of Morals. (Damit emanzipiert sich die Ökonomik dann von 24
Adam Smith (1776/1990, 54, 104ff., 499ff., 587ff., 645ff.) diskutiert gerade Möglichkeiten, diese Harmonie durch Regeln herbeizuführen.
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Christoph Lütge
der Philosophie, kurioserweise über einen Philosophieprofessor, der im Gegensatz zu einer ganzen Reihe von außeruniversitär tätigen britischen Philosophen (Hobbes, Hume, Locke, Berkeley) universitär verankert war.) Soweit meine Ausführungen zu Aristoteles, Locke und Hume. Einige kurze Bemerkungen zu Spinoza und Rousseau mögen das Bild abrunden: Auch sie kennen das Argumentationsmuster des Gefangenendilemmas.
5)
Spinoza und Rousseau
Von Baruch Spinoza liegen zwei Schriften zur Theorie des Gesellschaftsvertrags vor: der "Tractatus theologico-politicus" (Spinoza 1670/1994) sowie der unvollendet gebliebene und postum veröffentlichte"Tractatus politicus" (Spinoza 1677/1988). In beiden wird wie bei Hobbes eine Vertragstheorie auf der Basis aufgebaut, dass die Einzelnen eigeninteressiert handeln, genauer: nur durch Hoffnung auf ein größeres Gut oder die Furcht vor einem größeren Übel werden die Akteure motiviert. Im Naturzustand versuchen sich die eigeninteressierten Akteure so viel wie möglich anzueignen - und tatsächlich hat nach Spinoza hier jeder ein Recht auf alles. Im Gegensatz zu Locke verzichtet Spinoza auf vorstaatliche Rechte. Ganz wie Hobbes folgert er, dass damit effektiv niemand ein Recht auf etwas hat, da sich keiner seines Eigentums sicher sein kann. In diesem Zustand liegt eine Dilemmastruktur vor: Den Akteuren fehlt die Möglichkeit, sich glaubwürdig an eine Regel binden zu können: es fehlt an einer Sanktionsinstanz. Mündliche Versprechen binden nicht hinreichend. Spinoza sieht deutlich, dass hier ein Interaktionsproblem vorliegt (und kein handlungstheoretisches Entscheidungsproblem). Auch nach Überwindung des Naturzustands bleibt die Dilemmastruktur in den Interaktionen der Staaten untereinander bestehen. Diese streben nach möglichst viel Macht, geraten dadurch in eine Dilemmastruktur und suchen dann nach Möglichkeiten, eine glaubhafte Selbstbindung zu erreichen (dies führt Spinoza allerdings nicht mehr aus).
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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Rousseau J.-J. Rousseau strebt klar die Vereinbarkeit von Recht und Interesse an: Zu Anfang des "Contrat Social" schreibt er: "Bei dieser Untersuchung werde ich mich bemühen, stets das, was das Recht zulässt, mit dem zu vereinen, was das Interesse vorschreibt, damit Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit nicht auseinanderstreben." (Rousseau 1762/1948, 45; im Original: "Je tächerai d'allier toujours dans cette recherche ce que le droit permet avec ce que l'interet prescrit, afin que la justice et l'utilite ne se trouvent point divisees."), Gerechtigkeit ist kein Selbstzweck und ist nicht einfach als Beschränkung von Interessen bzw. Präferenzen zu sehen, sondern Rufe nach Gerechtigkeit müssen sich mit den in der Gesellschaft vorhandenen Interessen zumindest auseinander setzen. Das Gefangenendilemma dient als Illustration: Gerechte Regeln lösen danach Interaktionsprobleme. Man will kooperieren, aber die Anreize verhindern es. Als Illustration wählt Rousseau im .Dlscours sur I'inegalite" allerdings nicht die Argumentation des Gefangenendilemmas, sondern eine verwandte Metapher, die in die Literatur als Hirschjagd-5piel (stag hunt) eingegangen ist. Bei Rousseau heißt es im Original: "Voila comment les hommes purent insensiblement acquerir quelque idee groseiere des engagements mutuels, et de l'avantage de les remplir, mais seulement autant que pouvait l'exiger I'interet present et sensible; car la prevoyance n'etait rien pour eux; et, loin de s' occuper d'un avenir eloigne, ils ne songeaient pas meme au lendemain. S'agissait-il de prendre un cerf, chacun sentait bien qu'il devait pour cela garder fidelement son poste; mais si un Iievre venait a passer a la portee de l'un d'eux, il ne faut pas douter qu'il ne le poursuivit sans scrupule, et qu'ayant atteint sa proie il ne se souciät fort peu de faire manquer la leur a ses compagnons." (Rousseau 1755, seconde partie) Im Hirschjagd-Spiel, so wie es anknüpfend an Rousseaus Bemerkungen in der Spiel theorie beschrieben wird>, geht es darum, dass zwei Jäger einen Hirschen nur gemeinsam erlegen können. Nur, wenn sie kooperieren, haben sie
25
Vgl. etwa Binmore 1994, Kap. 2.3.2.
36
Christoph Lütge
Erfolg, ansonsten gehen beide leer aus und können allenfalls alleine als Hasenjäger tätig werden. Trotz möglicher Gewinne für alle kommt es aber nicht zwangsläufig zur Kooperation. Der Grund liegt darin, dass ein Abkommen zur Kooperation schwierig zu implementieren ist; die (Selbst-) Bindung muss gegenüber dem Kontrahenten glaubhaft werden. Die Auszahlungsmatrix lautet wie folgt: y
Kooperation
Defektion
Kooperation
A,A
D,B
Defektion
B,D
c,c
x
(A > B > C > D)
Im Vergleich zum PD fehlt die Rationalitätsfalle, also die Situation, in der sich der Defektierer auf Kosten des anderen deutlich besser stellt als bei Kooperation. Dadurch wird die Besserstellung durch Kooperation eindeutiger, weil die Ausbeutungsmöglichkeit wegfällt. Dennoch muss erst ein Abkommen implementiert werden, um die Kooperation zu sichern. Wenn die Akteure sich gegenseitig vertrauen, kann dies eine solide Basis sein - aber das Vertrauen kann nicht einfach postuliert werden. Es muss Gründe dafür geben, den Partner für vertrauenswürdig zu halten - und letztlich auch Sanktionsmöglichkeiten. (Dies wird im Detail ausführlich von Seiten der Spieltheorie und Ökonomik bearbeitet.")
26
Vgl. exemplarisch wiederum Binmore 1994, 123f.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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Fazit Das Argumentationsmuster des Gefangenendilemmas ist bei Aristoteles, Locke, Hume, Spinoza und Rousseau zu erkennen. Alle kennen auch die negativen Auswirkungen des Dilemmas und schlagen Regeln vor, um aus dem Dilemma zu entkommen. Der Gedanke, dass das Dilemma jedoch auch positiven Folgen haben könnte, wird noch nicht voll erkannt, allenfalls einige rudimentäre Grundzüge bei Locke und Hume. Hobbes selbst hat die positive Wirkungen des PD schließlich noch am ehesten gesehen, wenn er sich über die Nachteile der Einrichtung eines Monopols äußert, "welches zwar ihnen selbst [den Kaufleuten, C'L] großen Vorteil, den übrigen Bürgern aber manchen Nachteil bringt. [... ] TImenbringt dies Gewinn, den übrigen Bürgern aber Schaden."27 Monopole schaden, Wettbewerb nutzt. Und in einem ganz anderen, eher alltagspraktischen Zusammenhang fand bereits Schopenhauer, von dem man es eher nicht erwarten würde, dass eine PDSituation durchaus nicht nur negative Seiten hat: Als die Bank, bei der seine Familie Geld angelegt hatte, 1819 in Konkurs ging, gelang es ihm, durch geschicktes Verhandeln Verluste völlig zu vermeiden - und reagierte auf das Argument "wenn alle so dächten" (Rationalfalle!) so: "Wenn alle Menschen dächten wie ich, so würde überhaupt mehr gedacht, und es gäbe weder Bankrotte noch Kriege noch Faro-Tische [GlÜcksspieltische]."28 Wer defektiert, denkt überhaupt - diesem Lob ist nichts mehr hinzuzufügen.
Literatur Aristoteles (1994): Nikomachische Ethik, Stuttgart: Rec1am. Aristoteles (2003): Politik, 9. Aufl., München: dtv.
zr Hobbes 1651/1995,205f. 28
Das Zitat verdanke ich H. Postma, "Das Leben ist eine missliche Sache", Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 21.09.2010, S. 6.
Christoph Lütge
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Binmore, Ken (1994): Game Theory and the Social Contract: VoL 1: Playing Fair, Cambridge, Mass., London: MIT Press. (1998): Game Theory and the Social Contract: Vol. 2: [ust Playing, Cambridge, Mass., London: MIT Press. Hardin, Garrett (1968): The Tragedy of the Commons. The population problem has no technical solution; it requires a fundamental extension in morality, in: Science 162, S. 1243-1248. Hobbes, Thomas (1651/1995): Leviathan, übersetzt von [acob Peter Mayer, Stuttgart: Reclam. Homann, Karl / Kirchner, Christian (1995): Ordnungsethik, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 14, S. 189-211. Homann, Karl / Lütge, Christoph (2005): Einführung in die Wirtschaftsethik, 2. Aufl., Münster: LIT. Homann, Karl / Suchanek, Andreas (2000): Ökonomik: eine Einführung, Tübingen: Mohr Siebeck. Hume, David (1739-40/1989): Ein Traktat über die menschliche Natur, übers. von Theodor Lipps, mit neuer Einf. hrsg. von Reinhard Brandt, Hamburg: Meiner 1989. (1748/1988): Über den ursprünglichen Vertrag, in: Politische und ökonomische Essays, übers. von Susanne Fischer, hrsg. von Udo Bermbach, Hamburg: Meiner, 301--324. (1751/1972): Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, übers. von Carl Winckler, Hamburg: Meiner. Kersting, Wolfgang (1994): Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Locke, [ohn (1689/1977): Zwei Abhandlungen über die Regierung, hrsg. W. Euchner, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Lütge, Christoph (2004a): Abschied von einer Ethik der Mäßigung: Moral, Eigeninteresse und Globalisierung, in: Norbert Copray (Hrsg.), EthikJahrbuch 2004, Frankfurt/M.: Fairness-Stiftung 2004, S. 133-139.
Gefangenendilemma bei Aristoteles, Locke und Hume
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Über den Autor:
Prof. Dr. Christoph Lütge •
Geboren in Helmstedt/Niedersachsen
•
Abitur am Gymnasium Anna-Sophianeum in Schöningen
•
Studium der Philosophie und Wirtschaftsinformatik in Braunschweig, Göttingen und Paris
•
Diplom Wirtschaftsinformatik, Magister Philosophie
•
Promotion zum Dr. phil.
•
Visiting Professor an der Venice International University
•
Habilitation im Fach Philosophie an der LMU München
•
Vertretung des Reinhard-Mohn-Stiftungslehrstuhls für Untemehmensführung, Wirtschaftsethik und gesellschaftlichen Wandel an der Universität Witten/Herdecke
•
Vertretung des Lehrstuhls für Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig und Geschäftsführender Leiter des Seminars für Philosophie
•
Ab 8/2010 Inhaber des Peter Löscher-Stiftungslehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft Peter N. Posch
Nähert man sich dem Thema der Ethik in den Wirtschaftswissenschaften ist es angebracht sich mit beiden Themenkomplexen zuerst einzeln zu beschäftigen. Einerseits ist hier also die "Ethik" Untersuchungsgegenstand und damit die Büchse der Pandora offen. Denn unter zweitausend Jahren Geistesgeschichte ist dieser Begriff kaum fassbar, hunderte Werke der Primärliteratur und abertausende Sekundäre warten in den Bibliotheken, die Klassiker empfehlen sich - selbstverständlich - im Original. Doch wird hier das Interesse an der Ethik in dem Wirtschaftsleben nicht ertränkt, vielmehr der Hintergrund erleuchtet auf welchem sich jegliche spezifischere Überlegungen abzeichnen. Entleeren wir also die Büsche gänzlich und schöpfen Hoffnung aus drei Pfeilern im Meer des Abendlandes: Aristoteles, Kant und die "best practice",1 Aristoteles nun stellt in seiner nikomachischen Ethik- die Zielbestimmung an den Anfang:" Jede [d.i. Alle] Kunst und jede Lehre, jede Handlung und jeder Entschluss, scheint ein Gut zu erstreben, weshalb man das Gute treffend als dasjenige bezeichnet hat, wonach alles strebt." (1094a). Und neben der Vielseitigkeit seiner folgenden Aussagen bleibt es doch die erste und vorrangige Frage: Was ist das Ziel all unseres Handelns?
1
Der Autor ist sich bewusst, dass die Vorsokratiker und Sokrates/platon unerwähnt zu lassen bei m kundigen Leser Unmut erregt, allerdings sei hier der Kürze des Textes der Vorrang vor der Genauigkeit geschuldet.
2
Zitiert im Folgenden nach der Übersetzung von E. Rolfes, herausgegeben von G. Bien bei Meiner, Hamburg.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_3, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Peter N. Posch
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Es geht Aristoteles hier also nicht um ein Wissen, eine erlernbare Kenntnis von Dingen, sondern die Frage nach dem Handeln, der Praxis guten Lebens: "Darum ist ein Jüngling kein geeigneter Hörer[... ] Ihm fehlt die Erfahrung im praktischen Leben[ ... ]"(1095a). Damit sind bereits in kürzester Zeit zwei entscheidende Charakteristika der Ethik umrissen: Es geht um das "doing", die tägliche Handlung, die guten Sitten, eben die Moral im Sinne des Wortursprungs. Und die Gründe dieses Handelens sind in dem Ziel verortet welchem das gute Leben folgt. Da dieses Ziel somit Ursprung der vielen einzelnen Handlungen darstellt steht sofort die Frage im Raum was denn ein Lebensziel sein soll? Ratgeber zu dem Thema türmen sich in den Eingängen jeder Buchhandlung, Anleitungen zum Glücklichsein, zur Vereinfachung des Alltags und zur Entschlackung der Komplexität gieren um die Käuferschaft. Glücklich kann sich hier schon fühlen, wer es heil wieder herausgeschafft hat. Was schlägt also Aristoteles vor? Was sollte seiner Meinung nach das höchste Gut sein, welches zu guten Handeln, zur Ethik Anlass gibt? Die "Glückseligkeit", so lautet die holprige Übersetzung für die griechische Eudamonia Und hier erfüllt sich der Rat der Philosophen, Klassiker im Original zu genießen. Den mitnichten sollte man nun doch nach den Ratgebern greifen, denn die Eudamonia bezeichnet anderes als wir heute mit "Glück" oder "Glückseligkeit" assoziieren. Vielmehr bezeichnet Eudomonia eine Art Endzustand, ein Freisein von Zwecken, weiteren Zielen, ein Ziel-an-sich. Denn viele Handlungen werden nur willens weiterer Handlungen ausgeführt, die Eudamonia jedoch aufgrund ihrer selbst allein. Und hier wird ein weiteres deutlich: Glückseligkeit erreicht man bei Aristoteles nicht durch Meditation oder durch Wissen, weder durch Initiation noch durch Geburt, nein allein durch Handeln und genauer durch gutes, ethisches, Handeln. Damit nicht genug, denn dieses soll "ein volles Leben hindurch dauern; denn wie eine Schwalbe und ein Tag noch keinen Sommer macht, so macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig." (1097b)3
3
Es sei an dieser Stelle nochmals angemahnt unser heutiges Verständnis von "glücklich" nicht mit der Übersetzung des aristotelischen Glücksbegriffs gleichzusetzen!
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft
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Hier wird also eine recht hohe Latte an ethisches Handeln gelegt und es schließt sich gleich die Frage an wie denn eine derartige Lebensweise aussehen könnte? Hier nun unterscheidet Aristoteles zwischen drei Lebensarten in aufsteigendem Gehalt an ethischer Fülle: die hedonistische, auf reinen Lusterwerb ausgelegt Lebensweise macht den Anfang. Diese kann kaum eine Zielan-sich darstellen. Ist doch die Lust kurz und lang ist das Leben. Besser ist hier die zweite, die politische Lebensweise, in der man sein Handeln nach dem Wohle der Gemeinschaft, der Polis, ausrichtet. Hierbei überprüft man seine Handlungen nach der Wirkung auf die Umgebung. Man bezieht andere in sein Handlungskalkül mit ein und sind damit nahe Kants Imperativ: Handle stets so, dass Deine Handlung als Anleitung gelten kann. Man ist mit seiner in der Gemeinschaft eingebetteten Handlung stets auch Vorbild, stets auch prägend für seine Umwelt. Allerdings klingt hier noch ein anderer Aspekt heraus, nämlich die Frage nach der Verhältnismäßigkeit. Denn kaum sind Handlungen derart, dass sie für alle, für den Handelnden und seine Gemeinschaft, vorteilhaft sind. Diese"winwin" Situationen finden sich nur in den Lehrbüchern der Ökonomie, im Leben
leidet der ein oder andere Teil immer mehr oder minder. Die Frage der Abwägung scheint kaum apriori beantwortbar, weshalb mehrere "Optimalitätskriterien" die Runde machen. Das demokratische Prinzip schlägt vor die Bedürfnisse der Mehrheit in den Vordergrund zu stellen: "the need of the many outway the needs of the few
,,4.
Doch schon bei der Betrachtung langfristiger Infrastrukturprojekte, beispielsweise und aus aktuellem Anlass, mag man dieses Prinzip in Frage stellen. Es könnte ja durchaus Situationen geben bei denen anfangs Viele wenig Nutzen aus einer Maßnahme zögen und nur Wenige viel Nutzen. Wenn im Laufe der Zeit jedoch Viele daraus mehr Nutzen ziehen könnten, wäre die Maßnahme dann am Beginn abzulehnen? • Während der Gedanke sowohl bei Aristoteles als auch später über den Hohepriester Caiaphas - durch [ohannes 11:49-50wiedergeben- auftritt und auch bei etlichen Urvölkern zu existieren scheint, stammt diese populäre Formulierung aus dem Kinofilm Star Trek und bietet ein anschauliches Beispiel für die Diffusion philosophischen Gedankengutes in die breite Gesellschaft.
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Peter N. Posch
Während moderne Effizienzkriterien selten die zeitliche Komponente einbeziehen, so weichen sie doch von der harten Demokratie ein wenig ab. In den Wirtschaftswissenschaften hat damit das Prinzip der "Pareto Effizienz" den höchsten Bekanntheitsgrad erreicht. Hiernach ist eine Maßnahme begrüßenswert wenn mindestens eine Person durch die Maßnahme besser gestellt und niemand schlechter gestellt wird als ohne die Durchführung. Was hier Generationen von Studenten als Olymp der Effizienzkriterien präsentiert wird ist vieles, nur eines nicht: lebensnah. Denn selbst jemand der freiwillig und unentgeltlich sich der Gesellschaft zur Verfügung stellt handelt nicht streng pareto optimal, sofern externe Kosten, wie beispielsweise die zugenommene Luftverschmutzung durch Nutzung des Autos etc., hinzukommen. Auch wenn dies kleinlich klingen mag, lassen sich derartige Beispiele viele finden. Einen Ausweg hieraus sucht das "Kaldor-Hicks" Kriterium. Die beiden Ökonomen Nicholas Kaldor und [ohn Hicks schlagen vor, dass die Profiteure einer Maßnahme die Leidtragenden kompensieren können MÜßTEN. Sie brauchen es nicht zu tun, es geht nur darum, dass diejenigen, denen es besser, geht diejenigen, denen es schlechter geht, überwiegen. Hierbei offenbaren sich wiederum Probleme anderer Art. Wie misst man "besser" und "schlechter" und wie fasst man dies dann zusammen? Wie wäre eine Situation zu beurteilen bei denen ein Bauunternehmer Milliarden verdient und Tausende wenige Euro verlieren? Hier kommt [ohn Rawls ins Spiel. Ursprünglich zum Ausgleich sozialer und ökonomischer Ungleichheiten formuliert kann sein Prinzip aus der "Theory of [ustice" ebenso als Effizienzkriterium gelten. Maßnahmen müssen den größten Nutzen für die am meisten benachteiligten Mitglieder einer Gesellschaft bieten. Die Idee hierbei ist, dass wenn man auf die am wenigsten Begünstigten achtet, man gesellschaftlich den größten Nutzen für alle hieraus zieht. Jedoch braucht man dieses Kriterium nicht global zu lesen, sondern für die Abwägung einer konkreten Maßnahme und denen daran beteiligten Gewinnern und Verlierern. Doch kommen wir zurück zu Aristoteles, es steht ja noch eine Lebensform aus, die dritte und höchste Form, nämlich die Kontemplation. Das rein auf die Wissensmehrung, das Verständnis der Welt gerichtete, Dasein stellt diese drit-
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te Lebensform dar. Sie hat nur Zweck-in-sich, dient keinem anderen Sinn als dem Eigensinn. Schlägt der antike Philosoph also vor uns eremitisch mit Mathematikbüchern in Zengärten zurückzuziehen? Anfangs schon, doch dann verlangt er die Rückkehr in die Lebenswelt: Nach der Kontemplation muss das Gemeinwohl kommen, man sollte also die Philosophen zwingen Politik zu machen, denn dem rein Politischen droht offenbar Machtlust, Intrigen und ÜbersichtsverIust,"
Was kann man also aus diesen Anfängen der Beschäftigung mit der Ethik entnehmen? Zum einen überrascht sicherlich die Aktualität, das Wiederfinden der eigenen Erfahrungswelt in der Beschreibung des antiken Philosophen. Insbesondere den Aspekt der Handlung sollte man bedenken. Ethik zeigt sich in der Handlung, nicht in der Theorie. Und damit sind wir beim modemen Manager angelangt. Diesem obliegt die Richtungsvorgabe und die Handlung. Dieser entscheidet über die Nutzung von Ressourcen, über den Gang der Unternehmung. Und dieser hat die Möglichkeit entweder ethisch oder unethisch zu handeln. Doch legen wir diesem Handlungsbevollmächtigten nicht zuviel Gewicht auf seine Schultern? Sind Handelnde en gros eigentlich fähig zu ethischem Handeln? Denn wenngleich klarer sein mag was darunter zu verstehen sei, so sind die Voraussetzungen noch dunkel. Zum einen ist ja die Kenntnis der Folgen einer Handlung Voraussetzung für die Abwägung, egal nach welchem Effizienzkriterium diese erfolgt. In der modemen arbeitsteiligen Welt regiert jedoch der Spezialist, der sehr hoch ausgebildet für seinen Bereich, sein Detailwissen verantwortlich zeichnet. Können wir von diesem erwarten das große Ganze zu überblicken und seine Handlung mitsamt der Konsequenzen hierin einzuordnen?
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Aristoteles erwähnt noch eine vierte Lebensweise, die des Kaufmanns und sagt darüber: "Das auf Gelderwerb gerichtete Leben hat etwas Unnatürliches und Gezwungenes an sich" (1096a 7-10). Diesem Gewinnstreben ist sogar der Hedonismus vorzuziehen. Wenngleich diese Anmerkung nach Kommentierung schreit, so sei dem Leser angemerkt, dass dies kaum der Platz ist dies zu tun.
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Peter N. Posch
Wollte man dies verlangen, so müsste man erwarten dürfen, dass die Person hierin eine Kompetenz haben kann. Es müsste Platz reserviert werden neben der Vermittlung von Fachwissen und Methoden für die Einübung der Ethik. Denn wir haben ja gesehen, dass richtiges Handeln und nicht Wissen um richtiges Handeln, die Ethik ausmacht. Doch Übung braucht Zeit und im Dickicht der Lehrpläne ist hierfür wenig vorhanden. Praktika müssen absolviert, Auslandssemester geplant und Klausuren geschrieben werden. Folglich spielt die Beschäftigung mit der Ethik in der überwiegenden Zahl der Vitae kaum eine Rolle. Man ist nun verleitet es dem Mangel an Zeit zuzuschreiben; doch wenn Zeit der knappe Faktor ist, dann sollte man seine Beschäftigungen nach der Wichtigkeit wählen. Ist denn dem Eigner einer Unternehmung, den Aktionären, wichtig ob ihre Angestellten, ihre Manager ethisch handeln? Oder verliert sich dieser "soft factor" in der Aggregation auf die erwartete Rendite ihrer Investition? Man mag dies glauben, sind doch gerade die Aktionäre handlungsfähig. Sie wählen aus welcher Unternehmung sie ihren Produktionsfaktor Kapital zur Verfügung stellen, sie bestimmen wer dem Aufsichtsrat angehört und damit wer von diesem berufen wird die Unternehmung zu leiten. Eng mit der Frage nach dem ethischen Unternehmertum verknüpft ist das Stichwort der Nachhaltigkeit. Der Grundgedanke ist hierbei, dass ethische Handlungen sowohl ökonomisch, ökologisch als auch sozio-kulturell werterhaltend oder gar mehrend zugleich sind. Nachhaltige Investitionen erfreuen sich, nicht zuletzt seit der Finanzkrise 2007-09, zunehmender Beliebtheit. Das Thema ist in einer alternden Volkswirtschaft modern geworden und der Grundsatz der Ethik scheint an Gewicht zu gewinnen. Jedoch ist Vorsicht angemahnt, zu schnell ändert sich die Mode, und nachhaltige Verhaltensänderungen bedürfen einer geänderten inneren Einstellung. So unterscheidet Kant in seiner Kritik der praktischen Vernunft nach legitimen und moralischem Handlungen. Hiernach ist eine legitime Handlung eine rechtlich zulässige und angebrachte Handlung. Moralisch wird sie jedoch erst durch die innere Einstellung zur Handlung. Spring man beispielsweise rettend einem Ertrinkenden in die Fluten zur Hilfe so ist zu unterscheiden warum man
Betrachtungen zur Ethik und der Wirtschaft
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rettet. Rettet man beispielsweise eine junge Dame von anmutiger Schönheit weil man sich hiervon ihre Gunst erhofft, so ist dies legitim, nicht aber moralisch. Abschließend zu diesem kleinen Umriss der Ethik in der Wirtschaft lässt sich festhalten, dass dieses Thema ebenso wichtig wie vielschichtig ist. Betrachtet man die Akteure der Wirtschaft aus verschiedenen Perspektiven, so stellt man fest, dass einerseits der Einübung ethischer Handlungsweisen wenig Raum zugemessen wird, andererseits die Formulierung gültiger und allgemeingültiger Handlungsmaxime schwierig und in Konkurrenz mit anderen, handfesten Interessen stehen. Es reicht also nicht die nikomachische Ethik zu lesen, es langt nicht aus in den Lehrplänen Raum der Moralphilosophie zu gewähren. Eine Änderung der inneren Einstellung ist von Nöten, sofern man ethisches Handeln etablieren und Nachhaltigkeit zu einem Allgemeingut erheben möchte. Der zu erwartende Profit ist nicht monetär, es ist sogar mit einem geldwerten Verlust zu rechnen. Der Gewinn jedoch liegt in der lebenswerten Gestaltung der Umwelt und letztlich der Eudamonia als Ziel-an-sich, denn Der Ziellose erleidet sein Schicksal- der Zielbewusste gestaltet es.", so Kant.
Über den Autor:
Dr. Peter N. Posch ist Junior-Professor für Finanzwirtschaft an der Universität UIrn und Lehrbeauftragter für Volkswirtschaftslehre an der Munich Business School Vor dieser Tätigkeit war er bei einer großen Bank für das Management von Kreditrisiken und den Handel mit Kreditderivaten verantwortlich.
Er hat in Finanzwirtschaft über die Dynamik von Kreditrisiken promoviert und hat während seiner Promotionszeit für den hier gewürdigten Prof. Arnold Übungen am Studienplatz München der Fernuniversität Hagen abgehalten. Sein Studium der Volkswirtschaftslehre, Philosophie und Jura hat er an der Universität Bonn absolviert.
Markt und Moral Andreas Suchanek
I. "Der Wirtschaftsethik kommt im Rahmen der vielfältig ausdifferenzierten Wirtschaftswissenschaften bestenfalls ein Mauerblümchen-Dasein zu." (Arnold 2009, 253) Dies schreibt Volker Arnold, der als ehemaliger Vorsitzender des Ausschusses "Wirtschaftswissenschaft und Ethik" im Verein für Socialpolitik weiß, wovon er spricht. Der von Arnold beschriebene Sachverhalt ist nicht nur zutreffend, sondern bei genauerer Betrachtung gleichermaßen verständlich wie bedauerlich.
Verständlich ist es, weil es sich der Sache nach bei Wirtschaftsethik nicht um eine hoch spezialisierte Einzelwissenschaft handeln kann, die sich auf einige wenige Aspekte ihres Forschungsgegenstandes fokussieren und alles andere ausblenden kann; vielmehr liegt es in ihrer Problemstellung begründet, dass sie die normativen Annahmen und Argumente in einen systematischen Zusammenhang mit hochkomplexen empirischen Verhältnissen bringen muss, die die Lebenswirklichkeit der Akteure betreffen. Dementsprechend sind Probleme und Themen der Wirtschaftsethik so geartet, dass es um eine Art des Erkenntnisgewinns geht, die an sich, soweit das möglich ist, durch die konzeptionelle Integration verschiedener Aspekte: technische, rechtliche, ökonomische, psychologische, philosophische usw., charakterisiert ist. Doch ist es nicht nur äußerst schwierig, entsprechende Theorien zu entwickeln; mindestens ebenso herausfordernd ist es, von der scientific community anerkannte Standards auszubilden, die den üblichen wissenschaftlichen Kriterien genügen.
Bedauerlich ist es, weil in einer derart komplexen Gesellschaft wie der heutigen es immer wichtiger wird, Orientierungen zu bieten, die mithelfen können, T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_4, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Andreas Suchanek
normative Ideale wie Gerechtigkeit, Freiheit oder Nachhaltigkeit sachgerecht, also unter angemessener Berücksichtigung der empirischen Verhältnisse und Bedingungen, zur Geltung zu bringen. Doch gerade am Beispiel moralischer Einschätzungen des Marktes zeigt sich, wie anspruchsvoll es ist, Urteile darüber zu bilden, was gut oder nicht gut, gerecht oder ungerecht, verantwortlich oder unverantwortlich usw. ist.' Die folgenden Ausführungen befassen sich mit dem damit angesprochenen Problem wirtschaftsethischer Urteilsbildung in folgenden Schritten: Zunächst wird kurz das methodische Problem skizziert, das als Integration normativer und empirischer Aussagen charakterisiert werden kann. Diese Integration ist auch erforderlich, wenn es um eine moralische Beurteilung des Marktes bzw. um die Frage geht, ob und wann Markt und Moral miteinander vereinbar sind. Im Anschluss daran wird die These aufgestellt, dass diese Vereinbarkeit von Markt und Moral drei Voraussetzungen hat, die alle mit der Herausforderung vernünftiger wirtschaftsethischer Urteilsbildung verbunden sind: (1) verantwortlicher Gebrauch der Freiheit durch die Marktteilnehmer, (2) eine "gute" Rahmenordnung und (3) ein hinreichendes Verständnis als Grundlage der Legitimation der Marktordnung. Im weiteren Verlauf der Argumentation wird vor allem auf den ersten Punkt, mit dem Fokus nach einem angemessenen Verständnis des derzeit viel diskutierten Konzepts "Corporate (Social) Responsibility", also der Verantwortung von Unternehmen, genauer eingegangen. Einige kurze Schlussbemerkungen beschließen die Argumentation.
11. Es ist eine oft dramatisch unterschätzte Herausforderung, unser Verständnis von moralischen Konzepten - Gerechtigkeit, Solidarität, Verantwortung, Nachhaltigkeit usw. - in einen systematischen und damit rational diskutierbaren Zusammenhang mit Aussagen (Annahmen, Erkenntnissen) über empirische Verhältnisse zu bringen. Was im überschaubaren Feld der kleinen Grup-
pe, z.B. der Familie, relativ gut gelingt, wird zum Problem in komplexen Situa-
1
S. dazu etwa Enste et al. (2009); Beckmann (2010), Abschnitt 3.1.1.
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Markt und Moral
tionen, in denen eine enorme Vielzahl von Faktoren es schwer macht, angemessene Urteile über richtig oder falsch bzw. gut oder schlecht zu fällen. Vernünftige moralische Urteile zeichnen sich dadurch aus, dass sie konsensfähige moralische Ideale zu Grunde legen und die je relevanten empirischen Bedingungen angemessen berücksichtigen-, schematisch dargestellt:
(1) moralische Ideale, Werte (2) empirische Bedingungen (3) normative Urteile
Der Zusammenhang von (1) und (2), von normativen und empirischen Annahmen, ist indes gerade bei komplexeren Situationen - wie etwa der Beurteilung von Märkten - oft intransparent und man kann nicht selten eine von zwei Verkürzungen feststellen, die beide ihre je eigenen Probleme haben: So ist zum einen immer wieder beobachtbar, dass normative Urteile geprägt sind von hohen moralischen Erwartungen - z.B. an die Verantwortlichkeit einzelner Akteure in der Wirtschaft -, ohne dass diese Erwartungen abgeglichen wären mit den empirischen Handlungsbedingungen der Akteure; nicht selten mit der Folge, dass diesen Erwartungen überhaupt nicht entsprochen werden kann. Man kann hier von "normativistischen Fehlschlüssen" sprechen. Dies wird allerdings auch mitgeprägt von der zweiten angesprochenen Verkürzung, dem Umstand, dass jene, die unter den konkreten Handlungsbedingungen zu agieren haben, also typischerweise Entscheidungsträger aus Unternehmen, ihre Entscheidungen ihrerseits in der Regel nicht mit Bezug auf moralische Ideale und Werte begründen, sondern auf "Sachzwänge", betriebswirtschaftliche Rationalitäten usw., also auf empirische Bedingungen verweisen, die als solche indes noch keine normativen Gehalt tragen. Auch wenn sie selbst ihre Entscheidung als moralisch gerechtfertigt ansehen mögen:
2
Vgl. hierzu und zum Folgenden Suchanek 2007, Kap. 1.3
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Andreas Suchanek
Indem sie sie nicht explizit mit Bezug auf normative Prämissen, Werte, Normen usw. darlegen, fördern sie, ohne es zu wollen, den Graben zwischen moralischen Erwartungen und empirischen Verhältnissen. Denn normative Urteilsbildung ist darauf angewiesen, immer wieder Informationen über die empirischen Verhältnisse zu erhalten, in Bezug auf die moralische Urteile gefällt werden. Umso bedauerlicher ist es, wie bereits angemerkt, dass auch und gerade die (Wirtschafts-) Wissenschaft kaum dazu beiträgt, zu einer vernünftigen normativen Urteilsbildung beizutragen; vielmehr trägt sie in gewissem Sinne sogar teilweise zu einer Vertiefung des Grabens bei, indem sie dezidiert "Werturteilsfreiheit" anstrebt und sich systematischer Aussagen zu normativen Urteilen enthält - bzw. den skizzierten Zusammenhang nicht methodisch reflektiert. Nun hat das Streben nach "Werturteilsfreiheit" zweifellos seine Berechtigung. Doch gerade Max Weber, dessen Schriften hierzu erheblichen Einfluss hatten,3 betonte die Notwendigkeit, den Zusammenhang von Werten und empirischen Verhältnissen sachlich zu untersuchen; ihm ging es nur darum, dass Wissenschaft keine normativen Aussagen (Urteile, Forderungen usw.) mit dem Anspruch zwingender Verbindlichkeit machen solle. Was ihm jedoch gerade am Herzen lag, waren fundierte Aussagen über die "Kulturbedeutung" sozialer Systeme wie Märkten', also das Verständnis ihres sozialen Sinns, der darin besteht, dass die sozialen Systeme einen Beitrag zu einer gelingenden sozialen Ordnung leisten und insofern - mit Hegel gesprochen - "sittlichen" Charakter haben (HegeI1993). Dieser Frage soll auch im Folgenden weiter nachgegangen werden im Hinblick auf die Frage, unter welchen Bedingungen Markt und Moral miteinander vereinbar sind. Genauer sollen drei Voraussetzungen genereller Art diskutiert werden, die erfüllt sein sollten, damit Markt und Moral vereinbar sind. Diese drei Voraussetzungen leiten sich ab aus der Unterscheidung von drei Ebenen, auf denen Moral in der Gesellschaft zur Geltung kommt: (1) in den Handlun3
S. vor allem Weber 1988.
4
S. etwa ebd., S. 170
Markt und Moral
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gen selbst (etwa durch respektvolles, faires, verantwortliches, nachhaltigkeitsorientiertes usw. Handeln), (2) in Institutionen, Regeln, Standards usw., die moralisches Verhalten anleiten oder unterstützen (z.B. den zehn Geboten, dem kategorischen Imperativ, aber auch konkreten sozialen Ge- und Verboten einschließlich rechtlicher Vorschriften, sofern diese Geltung besitzen und als legitim angesehen werden), sowie (3) im Verständnis von Moral, wie es in Form von moralischen Intuitionen, Argumenten, Urteilen usw. zum Ausdruck kommt. Dieses Verständnis seinerseits bezieht sich in aller Regel wiederum auf Regeln, auf Handlungen, aber auch auf Handlungsfolgen sowie handelnde Akteure und deren Eigenschaften. Als solches bestimmt es das Urteil über die Legitimation von Systemen - hier vor allem von Märkten bzw. der Marktwirtschaft. Das folgende Schema, verbunden mit der metaphorischen Begrifflichkeit des Spiels, illustriert die drei angesprochenen Ebenen und ihre Zusammenhänge:
Spielverständnis
•••••••• •••••••• ••••••••
(Shared?) Mental Models Normative Erwartungen, Überzeugungen und Werte ' - - - - - - - - - - - - - '
•••••••••••
Spielregeln Gesetze Normen Standards
Anreize Handlungen Entscheidungen
Wie im Sport oder bei Spielen geben die Spielregeln für die Spielzüge einen Rahmen vor - in gewissem Sinne ermöglichen sie überhaupt erst ein "geregeltes" Spiel -, und Änderungen der Spielregeln führen zu anderen Spielverläufen oder gar Arten von Spielen. Beides wird jedoch immer auch beeinflusst von dem Spielverständnis aller Beteiligten, zu denen nicht nur die Spieler ge-
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Andreas Suchanek
hören, sondern auch jene, die Spielregeln gestalten oder durchsetzen, sowie jene, die in sonstiger Weise Einfluss auf das Spiel haben ("Zuschauer", Wähler, Bürger etc.). Dabei beeinflussen sich alle drei Ebenen ständig wechselseitig; so führen etwa Innovationen bei Spielzügen, man denke nur an die veränderten Informations- und Kommunikationsbedingungen, zur Notwendigkeit neuer Spielregeln und können auch das Spielverständnis verändern. Die drei Ebenen sind mithin interdependent. Diese wechselseitige Beeinflussung zeigt sich auch, wenn man das Schema auf Moral überträgt: So sind beispielsweise Handlungen immer auch maßgeblich geprägt von den moralischen Vorstellungen - sowohl den eigenen als auch jenen, die man anderen unterstellt -, aber auch von den bestehenden Regeln, die moralisches Handeln begünstigen oder erschweren. Mit Bezug auf die hier entwickelte Problemstellung des Verhältnisses von Moral und Markt lässt sich diese Unterscheidung der drei Ebenen nutzen, um präziser der Frage nachzugehen, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit Moral und Markt miteinander vereinbar sind. Als These formuliert:
Dauerhaft funktionsfähige Märkte benötigen (1) verantwortliches Verhalten der Marktteilnehmer, (2) gute Spielregeln sowie (3) die grundsätzliche Akzeptanz der Marktwirtschaft alssolcher. Im Folgenden wird zunächst kurz auf den Punkt (2), der in der wirtschafts-
ethischen Diskussion mittlerweile als selbstverständlich angesehen werden kann. Ausführlich wird dann die Frage erörtert, wie die derzeit intensiv diskutierte Verantwortung von Unternehmen ("Corporate (Sodal) Responsibility", C(S)R) in diesem Zusammenhang zu sehen ist. Abschließend wird noch knapp auf den Punkt (3) eingegangen.
IH. Es ist eigentlich ein Gemeinplatz seit Adam Smith (2005)und wird auch in der Wirtschaftsethik - u.a. von Volker Arnold (2009) - mit Recht betont, dass es eine Überforderung der Marktteilnehmer wäre, gesellschaftlich erwünschte Ergebnisse von Märkten allein von ihrem Wohlverhalten abhängig zu machen.
Markt und Moral
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Verantwortliches Verhalten kann vom einzelnen Akteur, auch und gerade von korporativen Akteuren, also Unternehmen, dann nicht erwartet werden, wenn es systematisch zu Nachteilen führt; dies gilt insbesondere unter Wettbewerbsbedingungen. Insofern ist es kein Zufall, wenn immer wieder die Bedeutung geeigneter "Spielregeln" - Eigentumsrechte, Vertrags-, Wettbewerbs-, Haftungsrecht und andere institutionelle Regulierungen - hervorgehoben wird, die für die Funktionsfähigkeit von Märkten unverzichtbar sind; Kar! Homann (1990) spricht folgerichtig von der Rahmenordnung als einem "systematischen Ort der Moral".5
Diese Betonung der "Spielregeln" ist aber nicht, wie gelegentlich unterstellt wird, gleichbedeutend mit einer völligen moralischen Entlastung des Individuums, d.h. der Marktteilnehmer. Wie Autoren wie F. A. v. Hayek- und andere immer wieder betont haben, ist der Markt ja nicht zuletzt deshalb vorzugswürdig, weil er dem Einzelnen Freiheit lässt und einen Rahmen anbietet, in dem diese Freiheit zum gegenseitigen Vorteil genutzt werden kann durch Arbeitsteilung, Tausch und andere Formen der "Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil"," Gerade weil aber nun der Markt ein freiheitliches Koordinationssystem wirtschaftlicher Handlungen darstellt, resultiert daraus die Bedingung, dass die Marktteilnehmer ihre Freiheit verantwortlich gebrauchen. Damit ist gemeint, dass nicht jede sich bietende Gelegenheit genutzt wird, diese Freiheit zu Lasten Dritter zu nutzen. Kein Regelsystem der Welt wäre in der Lage, die erforderlichen Rahmenbedingungen bereitzustellen, vollständige Anreizkompatibilität in jeder erdenklichen (Markt-)Situation zu gewährleisten, nicht zuletzt deshalb, weil die Etablierung und Durchsetzung eines Regelsystems selbst mit Kosten verbunden ist, einschließlich jener, wie man sie nennen könnte, "Opportunitätskosten" von Regeln. Dieses Konzept spielt auf den Sachverhalt an, dass Regeln oft entweder zuviel oder zuwenig sagen: zuviel, wenn sie z.B. Handlungen verbieten, die in einzelnen Situationen durchaus vorteilhaft hät-
5
S. dazu auch Homann/Blome-Drees 1992, Homann 2008.
6
S. Hayek 1991, 2003
7
S. hierzu auch Homann/Suchanek 20OS.
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ten sein können; zuwenig, wenn Ausnahmetatbestände nicht erfasst werden, die von den Regeladressaten zu ihren Gunsten, jedoch zu Lasten Dritter genutzt werden können. In der institutionenökonomischen Literatur wird dieser Punkt auch unter dem Stichwort der "unvollständigen Verträge" behandelt." Hinzu kommt, dass in den letzten Jahrzehnten Globalisierung und Digitalisierung zu einer großen Dynamik auf Märkten (und generell in der Gesellschaft) führten mit der Folge, dass manche Regeln obsolet oder zumindest anpassungsbedürftig wurden, dass unterschiedliche nationale Regeln miteinander unvereinbar sind oder dass für neue Problemfelder noch keine geeigneten Regeln existieren. Dies stellt die Unternehmen vor neue Herausforderungen, denn mit Globalisierung und Digitalisierung sind große Chancen verbunden, neue Märkte zu erschließen, Lieferketten effizienter zu gestalten und anderes mehr. Doch damit gehen neue Risiken und Organisationserfordernisse einher, die sich nicht selten in einem Konflikt von Gewinnerzielung und Verantwortungswahrnehmung ausdrücken", Insofern ist es wenig überraschend, dass das Thema der Verantwortung von Unternehmen in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen hat und oft auch unter dem Kürzel CSR ("Corporate Social Responsibility") diskutiert und implementiert wird. Unternehmen werden hierbei in zunehmendem Maße als Akteure angesehen, die einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und Aufgaben zu leisten haben. Allerdings ist unklar, worin dieser Beitrag bestehen soll: Sollen sie Aufgaben übernehmen, die früher dem Staat zukamen, etwa im sozialen Bereich? Oder sollen sie sich nicht einfach beschränken auf die Funktion, die ihnen traditionell zukommt: das Bereitstellen von Gütern und Dienstleistungen und damit verbunden von Arbeitsplätzen, dessen Erfolg unter Marktbedingungen am ehesten daran zu messen ist, dass sie Gewinn erzielen? Im folgenden Abschnitt soll dieser Frage näher nachgegangen werden.'?
8
S. Tirole 1999, Suchanek/Waldkirch 1999.
9
Als Beispiel kann hier die Gewährleistung von sozialen und ökologischen Standards entlang der Lieferkette genannt werden.
10
Ausführlich dazu Lin-Hi 2009, Lin-Hi/Suchanek 2011.
Markt und Moral
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IV. Eine vernünftige Bestimmung von Unternehmensverantwortung muss etwas über ihre Grenzen aussagen", nicht zuletzt angesichts des Umstands, dass sich diese Grenzen auch aus dem Umstand ergeben, dass Unternehmen unter Wettbewerbsbedingungen
agieren
müssen.
Genau
dieser
(Leistungs-
)Wettbewerb ist grundsätzlich erwünscht und ein Ansatz von CSR, der diesen Aspekt vernachlässigt, wird früher oder später in Widersprüche geraten. Insofern stellt sich die Frage nach einer konzeptionellen Bestimmung von Unternehmensverantwortung. Eine Betrachtung der theoretischen Diskussion, die in den letzten Jahren rasch gewachsen ist,12 sowie der tatsächlichen Aktivitäten in diesem Feld zeigt, dass das Konzept CSR nach wie vor nicht präzise bestimmt ist. So lassen sich drei Ansätze ausmachen, die nachfolgend diskutiert werden: (I) Unternehmensverantwortung als Wohltätigkeit (2) Unternehmensverantwortung als Gewinnsteigerung und (3) Unternehmensverantwortung als Investitionen in das Vertrauen von Kooperationspartnern.
Ad (1) Unternehmensverantwortung alsWohltätigkeit Nach verbreiteter Ansicht zeigt ein Unternehmen seine Verantwortung am besten, indem es sich freiwillig in sozialer und/oder ökologischer Hinsicht engagiert durch verschiedene Projekte und Aktivitäten wie Spenden und Sponsoring (s. z.B. Kotler/Lee 2005), Pro-Bono-Projekte, Freistellung von Mitarbeitern für soziale oder umweltbezogene Aktivitäten (s. z.B. Muthuri et al. 2009) usw. Mit solchen "Wohltaten" leisten Unternehmen, wie es scheint, einen sichtbaren Beitrag für das Gemeinwohl, und sie tun dies, so nicht selten der Anspruch: um der (guten) Sache - und nicht etwa des Geschäfts - wegen.
11
S. hierzu Lin-Hi 2009.
12
S. etwa Bamett 2007, Basu/Palazzo 2008, Hansen/Schrader 2005, Matten/Moon 2008, Seherer/Palazzo 2007.
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Andreas Suchanek
Doch eine solche Gleichsetzung von Unternehmensverantwortung mit Wohltätigkeit ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch. So bleibt bei dieser Sichtweise außen vor, wie die Gewinne erzielt wurden, aus denen diese "Wohltaten" finanziert werden. Doch gerade dieser Prozess der Wertschöpfung ist es, in dem sich die Verantwortlichkeit - oder Unverantwortlichkeit eines Unternehmens zeigt. Auch wenn sich Verantwortung letztlich immer in konkreten Handlungen ausdrückt, ist Unternehmensverantwortung doch immer im Gesamtzusammenhang zu betrachten; einzelne Wohltaten wiegen Fehlverhalten in anderen Bereichen des Unternehmens nicht auf Tatsächlich wird denn diese Form von CSR auch nicht selten als "Greenwashing" (s. z.B. Banerjee 2007) kritisiert; "schöne" Projekte sollen von Problembereichen in der Wertschöpfung ablenken. Nicht weniger problematisch ist ein zweiter Aspekt: Indem man versucht, den Eindruck zu erwecken, dass das Unternehmen seine Verantwortung durch
uneigennützige Taten demonstriert, trägt man zur Delegitimation des eigentlichen Kerngeschäfts bei, das bei Unternehmen, die auf Märkten und unter Wettbewerbsbedingungen agieren müssen, stets auch auf Gewinnerzielung gerichtet - und insofern ,eigennützig' - sein muss. Uneigennützigkeit von Unternehmen könnte geradezu unverantwortlich sein, wenn sie dazu beitragen sollte, die Bedingung zu unterminieren, die das eigene Überleben im Wettbewerb gewährleistet, i. e.: die langfristige Gewinnerzielung. Dabei ist auch zu bedenken, dass "Wohltaten" unter Umständen Erwartungen wecken können, die das Unternehmen, wenn es finanziell in schwierigerer Lage sein sollte, nicht erfüllen kann, was ihm indes zum Nachteil ausgelegt werden könnte. Die gewissermaßen negative Seite eines solchen Erwartungsmanagements besteht darin, dass gerade dadurch, dass man den Erwartungen "uneigennütziger" Handlungen Genüge tut, man damit indirekt die Vorstellung stärkt, dass sich Verantwortung und Moral nicht im auf Gewinn ausgerichteten Kerngeschäft, sondern jenseits dessen manifestieren - was den Umkehrschluss nahelegt, dass gewinnorientiertes Verhalten gerade nicht als verantwortlich gelten könne. Genau dieser Umkehrschluss ist es jedoch, der auf Dauer gesehen die Legitimationsgrundlage unternehmerischen Handelns, das unter Wettbe-
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werbsbedingungen zwingend immer auch auf Gewinnerzielung ausgerichtet sein muss, unterminiert.
Ad (2) Unternehmensverantwortung alsGeuiinnsteigerungv Bereits 1970 hatte der Nobelpreisträger Milton Friedman in einem der meistdiskutierten Aufsätze der Unternehmensethik (Friedman 1970) Kritik an der Auffassung geäußert, die Verantwortung von Unternehmen in etwas anderem zu sehen als in der Orientierung am Ziel der Gewinnsteigerung. Für ihn ist die Vorstellung einer "gesellschaftlichen Verantwortung" von Unternehmen, die diesen die Lösung gesellschaftlicher, insbesondere sozialer oder ökologischer Probleme zuweist, geradezu gefährlich, da sie sozialistischem Gedankengut Vorschub leistet. Friedman spielt damit auf die fehlende Berücksichtigung systemischer Strukturen unternehmerischen Handelns an; dieses fehlende Verständnis der Funktion von Institutionen, insbesondere von Eigentumsrechtsstrukturen, war charakteristisch für den Sozialismus, in dem ebenfalls ein Kurzschluss von der - an sich sinnvollen - normativen Idee der Solidarität aller auf deren unmittelbare Umsetzung durch das Wohlverhalten aller Akteure beobachtbar war. Friedman verweist weiterhin darauf, dass aufgrund des diffusen und vagen Charakters eine Zuweisung von Verantwortung in Form von "Wohltätigkeit" die Möglichkeit des Machtmissbrauchs von Managern naheliegen kann, insbesondere da keine verlässlichen, gut beobachtbaren Kriterien existieren, nach denen beurteilt werden könnte, ob eine "Wohltat" gesellschaftlich sinnvoll ist oder eine (relative) Verschwendung von Ressourcen. Mehr noch: Friedman stellt zu Recht fest, dass im Rahmen einer funktionsfähigen Marktwirtschaft das Kriterium Gewinn die bestmögliche Möglichkeit bietet, die Arbeit der Manager zu bewerten; zudem bietet es Managern entsprechende Anreize für eine gute Arbeit. Hingegen droht ein Engagement für gesellschaftliche Zwecke "jenseits des Kerngeschäfts" diese Anreize und damit auch die Kontrollmöglichkeit zu zerstören. Schließlich weist Friedman auch darauf hin, dass Mana-
13
Ausführlicher hierzu siehe Suchanek (2004).
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ger in der Regel nicht über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um die (knappen) Ressourcen effizient für wohltätige Aktivitäten einsetzen zu können. Diese Kompetenzen liegen vielmehr vornehmlich beim Staat, der für die Lösung ökologischer und sozialer Probleme zuständig ist. Positiv formuliert ist für Friedman die Verantwortung von Unternehmen in einer freiheitlich, d. h. demokratisch und marktwirtschaftlich verfassten Gesellschaft klar vorstrukturiert durch gesetzlichen Vorgaben und den Marktwettbewerb. Gewinne werden dann erzielt, wenn die von den Nachfragern gewünschten Leistungen möglichst effizient produziert werden. Genau deshalb sei Unternehmensverantwortung mit Gewinnsteigerung gleichzusetzen. Im Vergleich zu dem zuvor erörterten Konzept von Unternehmensverantwortung legt Friedman ein konzeptionell gehaltvolleres Verständnis von Unternehmensverantwortung vor, da er die institutionellen Rahmenbedingungen Eigentumsrechtsordnung, Marktwirtschaft und Wettbewerb usw. - berücksichtigt und sieht, dass diese Rahmenbedingungen darauf abstellen, dass Unternehmen im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung eine spezifische Rolle zukommt. Doch ist kritisch anzumerken, dass Friedmans Argumentation das Konzept der Unternehmensverantwortung nur einseitig behandelt. Insbesondere werden diverse Probleme, die sich im Zusammenhang mit Unternehmensverantwortung stellen, erheblich unterschätzt oder gar ganz außer Acht gelassen. So blendet Friedman ein entscheidendes Problem aus: die Möglichkeit, dass eine Gewinnsteigerung zu Lasten Dritter möglich ist; Umweltverschmutzung, Korruption, Bilanzverschleierung, mangelnde Sicherheitstests und vieles andere mehr sind Beispiele, die hier genannt werden könnten. Die Ausrichtung am Kriterium der Gewinnerzielung kann auch mit der Externalisierung von Kosten verbunden sein. Man könnte einwenden, dass Friedman hier auf den Staat verweist, der die "Spielregeln" so zu gestalten hat, dass Gewinnerzielung unter Wettbewerbsbedingungen stets - entsprechend der Idee der "unsichtbaren Hand" - das Gemeinwohl fördern soll, also negative externe Effekte internalisiert werden (sollen). Doch führt eine solche Argumentation gerade zu einer Entwicklung,
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die Friedman selbst an vielen Stellen kritisiert-s: Wenn der Staat jedesmal, wenn soziale und ökologische Problemfelder auftreten, diese durch entsprechende Regelungen und Markteingriffe bewältigen soll, wäre genau jene Überregulierung zu erwarten, die Friedman als liberaler Denker eigentlich ablehnt, da sie auch die produktive Freiheit verhindert. Anders formuliert ist unternehmerische Freiheit aus (untemehmens-) ethischer Sicht mit der Verantwortung verknüpft, diese Freiheit nicht zu missbrauchen. Vermutlich teilt Friedman diese Auffassung, doch thematisiert er an keiner Stelle die damit verbundenen Herausforderungen für Unternehmen, wie sie sich insbesondere in einer globalisierten Welt stellen. Denn es geht nicht nur darum, bestimmte Handlungen zu unterlassen, sondern aktiv daran zu arbeiten - man könnte auch sagen: zu investieren -, dass sich ein verantwortlicher Gebrauch der unternehmerischen Freiheit auch unter Wettbewerbsbedingungen auszahlt. Das Manko der Friedmanschen Position besteht mithin darin, diese Herausforderung gewissermaßen zu bagatellisieren. Er unterschätzt dabei die stets hohe Selektivität menschlicher Perzeption, die bei einer ausschließlichen Fokussierung auf Gewinnsteigerung, verbunden mit der gleichzeitigen Legitimierung durch die Gleichsetzung mit Unternehmensverantwortung, moralische Pflichten und Werte aus dem Blick der Entscheidungsträger geraten lassen kann. Das Problematische an der Position von Friedman ist somit nicht, dass sie falsch ist - denn dies ist nicht der Fall -, aber sie ist einseitig. Indem er die Möglichkeit unverantwortlicher Formen der Gewinnerzielung per Annahme (staatliche Rahmenordnung und Marktwettbewerb) praktisch ausschließt, definiert er die zahlreichen möglichen Konflikte zwischen Gewinn und Moral weg, so dass es zwar zu Investitionen, aber nicht unbedingt zu solchen zum
gegenseitigen Vorteil kommen kann. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass eine solche Argumentation, sofern sie von Unternehmen oder ihren Repräsentanten verwendet würde (bzw. wurde), kaum damit rechnen kann, auf breite Akzeptanz zu stoßen. Gerade im öffent-
,. S. insbes. sein Buch "Capitalism and Freedom" (Friedman 1962), Kap. 1 und 2.
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liehen Diskurs sind genügend Beispiele präsent, in denen unternehmerische Gewinnerzielung gerade nicht mit Unternehmensverantwortung, sondern im Gegenteil mit unverantwortlichem Verhalten (Korruption, Bilanzverschleierung, Arbeitsplatzabbau bei gleichzeitigen Rekordgewinnen usw.) gleichgesetztwird. Die uneingeschränkte Gleichsetzung von Unternehmensverantwortung mit Gewinnsteigerung ist mithin unangemessen, da es unverantwortliche Formen von Gewinnerzielung gibt und man keineswegs davon ausgehen kann, dass die Rahmenordnung(en) und der Marktwettbewerb immer schon dafür sorgen, dass diese unverantwortlichen Formen von vornherein für Entscheidungsträger in Unternehmen hinreichend unattraktiv sind. Was aber bedeutet dann Unternehmensverantwortung? Wie kann man diese in einer Weise konkretisieren, dass der Tatsache angemessen Rechnung getragen wird, dass Unternehmen gewollt unter Marktbedingungen - und damit unter Wettbewerbsdruck - agieren müssen? Der folgende Abschnitt soll eine Antwort geben.
Ad (3) Unternehmensverantwortung als Investitionen in das Vertrauen der Stakeholder15 Aus gesellschaftlicher Sicht ist es durchaus begründungsbedürftig, warum es Unternehmen geben sollte. Mittlerweile lässt sich aus ökonomischer Sicht dazu eine präzise Antwort geben. Durch Unternehmen wird es möglich, bei Aufrechterhaltung des erwünschten Marktwettbewerbs gesellschaftliche Kooperationsgewinne zu realisieren, die andernfalls nicht realisierbar wären. Das betrifft insbesondere die Organisation von tief arbeitsteiligen Wertschöpfungsketten, deren effiziente Koordination durch den Markt vergleichsweise höhere Transaktionskosten zeitigen würde. 16
15
Die hier entwickelte Position wird ausführlicher und differenzierter, als es hier möglich ist, entwickelt in Lin-Hi (2009).
16
S. ausführlicher hierzu Homann/Suchanek 2005, Kap. 5.2.
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Aus unternehmensethischer Sicht kommt ein weiterer Punkt hinzu: Unternehmen kann als korporativen Akteuren Verantwortung zugeschrieben werden, und diese Verantwortung kann innerhalb eines Unternehmens durch geeignete Governancestrukturen buchstäblich organisiert werden (Waldkirch 2002). Für externe Stakeholder-? ist sehr viel leichter, sich über die erwartbaren Eigenschaften, Entscheidungen und Leistungen eines Unternehmens ein Bild zu machen, wenn dieses als Einheit gesehen werden kann, von dem man nicht viel wissen muss. Insbesondere ist es als Nachfrager von Gütern und Dienstleistungen nicht erforderlich, die Personen zu kennen, die die diese herstellen; man vertraut dem Unternehmen (oder auch nicht). Dabei ist zu beachten, dass es die Mitglieder des Unternehmens sind, denen die Aufgabe obliegt, dieses Vertrauen zu rechtfertigen. Dieser Verweis auf Vertrauen ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil Unternehmen im Rahmen ihrer Wertschöpfung zwingend auf die Beiträge ihrer verschiedenen Kooperationspartner angewiesen sind: Mitarbeiter müssen ihre Arbeitsleistung beisteuern, Investoren die notwendige Finanzierung; es muss Kunden geben, die bereit sind, für die vom Unternehmen angebotenen Güter und Dienstleistungen Geld zu bezahlen; man benötigt Lieferanten für die Bereitstellung der benötigten Vorprodukte oder sonstiger Leistungen, Behörden müssen die Aktivitäten genehmigen; Nicht-Regierungs-Organisationen sollten davon Abstand nehmen, gegen das Unternehmen Kampagnen zu unternehmen usw. Für alle Stakeholder gilt, dass sie diese Beiträge nur bereit sein werden zu erbringen, wenn ihnen (a) im Vorfeld versprochen wurde", dass sie vom Unternehmen bestimmte Cegenleistungen'? erhalten und (b) diese Versprechen dann auch tatsächlich gehalten werden. Da die Beiträge der Stakeholder nicht selten vor der Gegenleistung anfallen und es faktisch unmöglich ist, die Erbringung der Gegenleistung in jeder Hinsicht vertraglich abzusi17
Zu nennen sind hier etwa Kunden, Lieferanten, Banken und Versicherungen, Medien, Verwaltung, Nachbarn, Nicht-Regierungs-Organisationen u.a.
18
Diese Versprechen können auch impliziter Natur sein.
19
Bei Investoren, Kunden oder Mitarbeitern sind diese Gegenleistungen offensichtlich, doch auch für - beispielsweise - Nicht-Regierungs-Qrganisationen gilt, dass sie etwa die Einhaltung bestimmter sozialer Standards erwarten als Gegenleistung für den Verzicht auf eine Kampagne o. ä.
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chern20, ist Vertrauenswürdigkeit für ein Unternehmen ein zwingend notwendiger Vermägenswert. Und wie jeder andere Vermögenswert braucht auch dieser
Investitionen, die, so könnte man zusammenfassend sagen, für das Unternehmen darin bestehen, seine Versprechen zu halten. Nun ist dies in der Realität nicht ganz so einfach, da vor allem die indirekteren Leistungsversprechen oft nicht genau spezifiziert sind mit der Folge, dass es für Unternehmen schwierig bis unmöglich sein kann, den Erwartungen gerecht zu werden. Insofern gehört es auch zum "Management von Unternehmensverantwortung", solche Erwartungen von einzelnen Stakeholdergruppen, denen das Unternehmen nicht Rechnung tragen kann ohne andere Interessen zu verletzen, in geeigneter Weise als unberechtigt zurückweisen zu können. Die Wahmehmung unternehmerischer Verantwortung hat insofern immer auch etwas mit Erwartungsmanagement zu tun, wobei es wesentlicher Bestandteil eines solchen Managements ist, die Kommunikation daran auszurichten, dass die Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens dadurch nicht unterminiert, sondern nach Möglichkeit sogar gestärkt wird. Berücksichtigt man, dass alle Stakeholder mit unterschiedlichen Perspektiven und Interessen an Unternehmen herantreten und sich dabei gemeinsame, aber eben immer auch gegensätzliche Interessen, ergeben, wird deutlich, dass das Management von Unternehmensverantwortung keineswegs reduziert werden kann auf einige "Wohltaten" oder das Delegieren an die PR-Abteilung, sondern zu den Grundlagen des strategischen Managements gehört. Diese Überlegungen gewinnen im Kontext des Themas Markt und Moral an Bedeutung durch den zuvor ausgeführten Sachverhalt, dass Märkte gerade daraufhin angelegt sind, die Freiheit der Marktteilnehmer - hier: der Unternehmen - in buchstäblich produktiver Weise zur Geltung kommen zu lassen. Dafür sind Spielregeln erforderlich, aber eben auch ein verantwortlicher Gebrauch der durch die Spielregeln ermöglichten Freiheit. Und es ist im wohlverstandenen Eigeninteresse der Unternehmen, diese Verantwortung
20
Das gilt insbesondere im Hinblick auf die indirekteren Leistungen, die ein Unternehmen erbringt durch die Einhaltung von Regeln und Standards, wodurch Schädigungen Dritter vermieden werden.
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kompetent wahrzunehmen. Denn je weniger sie das tun, umso mehr tragen sie zur Erosion einer grundlegenden Voraussetzung ihres Tuns bei: der Akzeptanz von Märkten als dem Rahmen untemehmerischen Handelns. Mit diesem Aspekt, dem "Spielverständnis", befasst sich der nächste Abschnitt.
v. Letztlich hängt die Legitimation der Märkte davon ab, ob die Öffentlichkeit generell dieses System der Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten als vereinbar mit ihren moralischen Urteilen ansieht. Dementsprechend ist eine der wesentlichen Bedingungen dafür, dass Moral und Markt grundsätzlich miteinander vereinbar sind und bleiben, auch das Vorhandensein moralischer Urteilskraft, die die Funktionsbedingungen von Märkten hinreichend kennt, um sie bei moralischen Urteilen kompetent berücksichtigen zu können. Die Anforderungen an eine solche Urteilskraft sind in der heutigen hochkomplexen Gesellschaft sehr hoch, denn es gilt jenen Grundsachverhalt gesellschaftlicher Interaktionen angemessen zu reflektieren, der in der Alltagsweisheit zum Ausdruck kommt, dass nichts im Leben umsonst sei. Dieser Hinweis auf die jedem Ökonomen so vertraute Bedingung universeller Knappheits' lässt sich auch auf institutionelle Arrangements, und damit auch auf Märkte bzw. Marktwirtschaft, beziehen. Es gibt schlechterdings kein institutionelles Arrangement, das imstande wäre, jeden Wunsch bzw. alle normativen Erwartungen aller Betroffenen zu erfüllen. Vielmehr wird es immer "Kosten" geben derart, dass die Durchsetzung und das Aufrechterhalten eines Institutionensystems sowohl direkte Kosten verursacht als auch "Zumutungen" bereithält, im Fall von Märkten beispielsweise die Möglichkeit eines Konkurses, der Ent-
lassung oder des Arbeitsstresses aufgrund intensiven Wettbewerbsdrucks usw.
21
Aus Sicht der Interaktionsökonomik (s. Homann/Suchanek 2005) ist es zweckmäßiger, die Knappheitsannahme in die Annahme universeller Dilemmastrukturen zu überführen und so die soziale Dimension in den Vordergrund zu rücken
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Andreas Suchanek
Diese Kosten lassen sich in der Regel nicht monetär darstellen. Für die hier angesprochene moralische Urteilsbildung ist es vermutlich auch angemessener, diese Thematik unter dem Begriff der "Ambivalenzen" aufzugreifen. Die nachfolgend aufgeführten Beispiele genereller Ambivalenzen sollen helfen, diesen Punkt zu verdeutlichen; zugleich verweisen sie auf die Notwendigkeit (auch) ökonomischer Bildung, wenn es um moralische Urteilsbildung geht. • Die allgemeinste Ambivalenz betrifft ein grundlegendes Merkmal der modernen Gesellschaft: die Freisetzung des Eigeninteresses, sowohl durch die Herauslösung aus tradierten Wert-, Normen- und Klassenbindungen als auch durch die Eröffnung zahlreicher neuer Freiheiten durch technischen Fortschritt und gestiegenen materiellen Wohlstand. Dieses an sich positiv zu bewertende Mehr an Freiheit bringt jedoch, wie schon im Abschnitt über Unternehmensverantwortung gezeigt, zwingend das Problem mit sich, dass diese Freiheit(en) auch missbraucht werden können bzw. dass die Herausforderungen der Koordination individueller Handlungen freier Subjekte rasch wachsen (was sowohl an der Zunahme formaler Institutionen als auch an der wiederkehrenden Klage eines Werteverfalls ablesbar ist). Diese Ambivalenz ist deswegen von Bedeutung, da Märkte dazu tendieren, eigeninteressiertes Handeln zu fördern durch die Eröffnung attraktiver Konsum- oder Gewinnerzielungsmöglichkeiten. • Eine zweite sehr generelle Ambivalenz betrifft Regeln. Diese koordinieren Handlungen, schaffen wechselseitige Verhaltensverlässlichkeit und erweisen sich so als fundamentale Grundlage der sozialen Ordnung bzw. als Infrastruktur individueller Freiheit. Doch sind Regeln zugleich Gren-
zen, die nicht selten als Einschränkung, und damit als entfremdet, d.h. als unerwünschte Fremdbestimmung, erlebt werden; dies gilt sowohl für politische (Demokratie) als auch für wirtschaftliche (Markt-) Strukturen. • Eine weitere für Märkte grundlegende Ambivalenz betrifft die Etablierung bzw. Aufrechterhaltung des Wettbewerbs. Dabei soll an dieser Stelle weniger betont werden, dass diejenigen, die dem Wettbewerb unterworfen sind, stets Anstrengungen unternehmen, ihm zu entgehen bzw. ihn außer Kraft zu setzen. Vielmehr ist die eigentliche Ambivalenz die, dass
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der Wettbewerb unter anderem gerade dazu dient, zu einem effizienten Umgang mit knappen Ressourcen anzuhalten, doch dass genau dieser Druck dazu führen kann, Kosten zu externalisieren. • Im Zusammenhang mit dem Wettbewerb steht auch der Umstand, dass einige seiner positiven Wirkungen dadurch zustande kommen, dass die andere Marktseite die Möglichkeit der Abwanderung hat. Doch genau dies führt dazu, dass geringere Bindungsmöglichkeiten existieren bzw. man sich auch Beitragsleistungen entziehen kann, die eigentlich der Gesellschaft - und oft auch einem selbst - dienlich sind (Kollektivgutproblematik). • Wettbewerb und Märkte sind so ausgelegt, dass Leistung - im Sinne von Wertschöpfung - das dominante Kriterium ist, um Erfolg zu haben. Das bedeutet indes, dass Nicht-Leistung eben nicht honoriert wird - und dies zunächst unabhängig davon, worin diese Nicht-Leistung besteht bzw. warum sie zustande kommt (z. B. durch Krankheit, soziale Härten, fehlende Ausbildung usw.). Mehr noch: Was als Leistung gilt, entscheidet kein Philosophenkönig oder Experte der Bedürfnisforschung, sondern Marktteilnehmer, die bereit sind, Leistungen mit Gegenleistungen zu vergelten, und die einen anderen Geschmack haben können als der jeweilige Beobachter. • Die Dezentralität der Märkte vermeidet tendenziell viele Probleme einer zentralen Steuerung des Wirtschaftsgeschehens: volkswirtschaftliches Missmanagement, fehlende Anpassungsleistungen, massive Korruption und Vetternwirtschaft und anderes mehr. Doch ist mit dieser Verringerung politischer Steuerung unweigerlich verbunden, dass sich die Märkte einer unmittelbaren (interventionistischen) Steuerung und Kontrolle entziehen. Das hat zunächst gute Seiten, da politische Lenkungen wirtschaftlicher Aktivitäten oft genug Einladungen zu Machtmissbrauch, Korruption und Verschwendung waren (und sind); doch führt die Dezentralität in Einzelfällen auch immer wieder zu unvorhergesehenen Härten (ebenso übrigens wie zu zufälligen und, in gewissem Sinne unverdienten, Erfolgen).
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Andreas Suchanek • Märkte haben grundsätzlich aufgrund ihrer oben erwähnten Interdependenz an sich den solidaritätsfördernden Effekt einer gesellschaftlichen Integration. Doch werden damit auch wechselseitige Abhängigkeiten erzeugt, die durchaus unerwünscht sein können, wie etwa das Beispiel der Finanzkrise von 2008 illustriert.
Diese und andere Ambivalenzen verweisen auf die "Kosten", die die Etablierung von Märkten mit sich bringen, wenngleich es von der konkreten Ausgestaltung der Marktstrukturen abhängt, wer und in welcher Form diese Kosten tragen muss. Umso wichtiger ist es, im gesellschaftlichen normativen Diskurs über die richtige Weise des Wirtschaftens Kenntnisse über grundlegende strukturelle Zusammenhänge in möglichst klarer Weise einzubringen, verbunden mit der Verdeutlichung, welche Verantwortlichkeiten mit welchen wirtschaftlichen Aktivitäten einhergehen, und warum es im wohlverstandenen Eigeninteresse liegt, diese Verantwortlichkeiten wahrzunehmen. Hier liegt auch eine zentrale Aufgabe des Bildungssystems und seiner Vertreter, ihren Teil zur Vereinbarkeit von Moral und Markt beizutragen.
Schlussbemerkung Die Wirtschaftswissenschaften haben seit Adam Smith zweifellos wesentlich zum Erkenntnisfortschritt -
und dadurch auch zu gesellschaftlichem
Wohlstand - beigetragen. Es gibt gute Gründe zu behaupten, dass sie heute wichtiger denn je sind, denn man wird die anstehenden großen Herausforderungen: Vermeidung umfassender Krisen auf den Kapital- und Finanzmärkten, Bewältigung des Klimawandels, Linderung der weltweiten Armut usw., nur mithilfe ökonomischer Konzepte, Modelle und Theorien erfolgreich angehen können. Allerdings ist dafür auch erforderlich, dass sich die Wirtschaftswissenschaften nicht abkoppeln von den Fragen, Vorstellungen und Wertkonzepten der Gesellschaft, sondern ihre Theorieentwicklungen immer auch an daran orientieren bzw. ihre Erkenntnisse daran zurückzuvermitteln in der Lage sind.
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Gerade Wirtschaftsethik erfüllt hier eine grundlegende Vermittlungsfunktion, und deshalb ist es so wichtig, dass angesehene Vertreter der Wirtschaftswissenschaften wie Volker Arnold sich für eine niveauvolle Verankerung dieses "Faches" im Rahmen der Wissenschaft einsetzen.
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Über den Autor:
Prof. Dr. Andreas Suchanek, geb. 1961 in Stadthagen, studierte in den Jahren 1982-1986 an den Universitäten Göttingen und Kiel Volkswirtschaftslehre. Im
Jahr 1993 promovierte er an der Universität Witten/Herdeeke. 1999 habilitierte er an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, wo er bis 2004 den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik vertrat. Von September 2004 bis August 2009 war Prof. Suchanek Inhaber der DowForschungsprofessur "Sustainability and Global Ethies" an der Handelshochschule Leipzig (HRL). Seitdem hat er dort den Dr. Werner [ackstädt-Lehrstuhl für Wirtschafts- und Untemehmensethik inne. Zudem ist er seit 2005 Mitglied des Vorstands des Wittenberg-Zentrums für Globale Ethik, welches sich insbesondere mit den Themen "Building Global Cooperation" und Untemehmensverantwortung beschäftigt. Seine Forsehungsschwerpunkte sind: Wirtschafts- und Untemehmensethik, Nachhaltigkeit, Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsmanagement, Institutionenökonomik und Methodologie (insbesondere homo oeeonomicus). Prof. Suchanek ist einer der führenden deutschen Experten im Bereich Untemehmensverantwortung (Corporate Responsibility). Den Orientierungspunkt seiner Arbeit bildet die ökonomisch reformulierte Goldene Regel: Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil.
Zwischen Markt und Brüderlichkeit - Zum Zusammenhalt von Gesellschaften Kurt Röttgers
"Wettbewerb ist solidarischer als Teilen",l Teilen",' sagt Karl Homann und stellt den Markt als das das Prinzip der Organisation von Gesellschaften der Modeme Moderne hergibt dagegen zu bedenken, dass der Markt denjenigen aus. Hauke Brunkhorst gibt Zusammenhalt von Gesellschaften nicht selbst gewährleisten kann, auf den er gleichwohl angewiesen ist, und er macht das Prinzip der Solidarität dafür geltend, wobei er - und das ist problematisch - Solidarität mit der Brüderlichkeit im Sinne der Fratemite Fraternite der bürgerlichen Revolution schlicht gleichsetzt und
diese wiederum auf die jüdisch-christliche Nächstenliebe und die BürgerzurückführU Die folgenden Überlefreundschaft der attischen Demokratie zurückführt.s gungen versuchen, im Zwischen von Markt und Brüderlichkeit eine Struktur zu identifizieren, die es erlaubt, das soziale Band zu erläutern, das auch dasjenige Vertrauen als Metanorm moralischen Verhaltens" Verhaltens3 plausibel macht, ohne das selbst selbst Märkte nicht funktionieren könnten, weil bei gänzlichem Mangel von Vertrauen die Transaktionskosten für Tausch- und Vertragsbeziehungen ins Unermessliche steigen würden. würden.'4 Dafür wird auch eine Neuformulierung
eines Begriffs von Solidarität erforderlich werden.
I
K. Hornann: Homann: Anreize und Moral, hrsg. v. Orr. Chr, Lütge. Münster 2003, 2003, p. 13, 111. 111.
2
H. Brunkhorst: Solidarität Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossen-
schaft. Frankfurt a. m. 2002. 2002. 3
Zum Begriff der Metanorm, s. G. Gamm: Der unbestimmte Mensch. Berlin, Wien 2004, 2004, p. 196 ff., dort allerdings bezogen auf das Versprechen.
• Dass das riskant ist, zeigt Luhmann, Luhrnann, N. Luhmann: Vertrauen. Stuttgart 1989, 1989, dass dass aber der Versuch, ohne Risiko zu handeln (in vermeintlich absoluter Sicherheit) Sicherheit) ebenso riskant ist, zeigt er ebenfalls (N. Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin 1991). 1991).
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_5, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kurt Röttgers
Unbestreitbar scheint, dass gegenwärtig das Marktprinzip dasjenige Prinzip ist, durch das sich die globalisierte Weltwirtschaft und ihre Gesellschaft organisiert. Weil Märkte zuvor immer staatlich und rechtlich regulierte Märkte waren, ist die Globalisierung des Marktprinzips, teilweise jenseits der Staatlichkeit, eines jener Sozialexperimente im Weltmaßstab, vor denen Kar! Popper immer eindringlich gewarnt hatte,5 wobei er allerdings damals das Sozialexperiment einer sozialistischen Gesellschaft im Blick hatte. Doch seine Argumente gegen Experimente im Weltmaßstab treffen auf den entgrenzten Markt ebenso zu. Niemand weiß, wie dieses Experiment ausgehen wird, und ein Scheitern hätte unabsehbare Folgen - wer weiß denn - hypothetisch gesprochen -, ob nicht die kommunistische Weltrevolution die Globalisierung zur Voraussetzung hat und nicht in Leninscher Manier die Revolutionen ein einzelnen Staaten? Klassische Märkte waren immer regulierte Märkte, sei es im Mittelalter als spezifische Orte, denen Privilegien seitens eines zuständigen Fürsten verliehen worden waren, sei es durch Kontrollen nationaler Märkte durch Rahmenordnungen. 6 Die Erfahrung war, dass sich diese regulierten Märkte in der Aufgabe der Allokation benötigter Güter als effektiver erwiesen als es eine Regulierung des Geschehens selbst je sein konnte. Also: Regulierung der Struktur, statt Regulierung der Geschehensabläufe selbst? Daraus schloss man im Zuge der Emanzipation des Bürgertums gegen den feudalen Staat, dass
jede Intervention von Übel sei, indem man den Eingriff in eine Ordnung ebenso verwarf wie den Eingriff in die Abläufe. Da die Einrichtung einer Ordnung und die Intervention in sieB in der Neuzeit immer staatliches Privileg war, lief
5
K. R. Popper: Das Elend des Historizismus. 2. Auf!. Tübingen 1969, p. 66 ff.: "Die holistische Theorie des Sozialexperiments".
6
K. Röttgers: Markt.- In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. J. Ritter u. k. Gründer. Basel, Stuttgart 1971 ff., V, Sp. 753-758.
7
Je mehr sich freilich heute unter dem Diktat der Kurzfristigkeit Strukturinterventionen in ihrer Abfolge beschleunigen, desto mehr fällt diese Unterscheidung in sich zusammen und desto plausibler klingen die Argumente derjenigen, die sich gegen jegliche Intervention aussprechen.
8
Die Unterscheidung geht zurück auf das Denken von Johannes Duns Scotus, dort als die Unterscheidung der zwei Arten göttlicher Macht: als potentia ordinata und potentia absoluta, ersteres die Macht, im Rahmen einer Ordnung machtvoll zu wirken, letzteres als die Macht, diese Ordnung selbst zu verändern. Die absolutistischen Monarchen der frühen
Zwischen Markt und Brüderlichkeit
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die Verdammung jeglicher Intervention auf die Forderung der Abschaffung jeglicher staatlicher Wirtschaftspolitik oder die Reduzierung des Staates auf einen Minirnalstaat hinaus. Aus allerdings unterschiedlichen Gründen waren sich in dieser Frage Liberale und Anarchisten einig. Je weniger Staat, desto besser für die Menschen, weil sich der soziale Verkehr der Menschen untereinander störungsfreier ohne staatliche Eingriffe von selbst regelt,9 entweder auf der Grundlage des Eigennutzes, der Konkurrenz und des Tauschs (so die Liberalen), oder auf der Grundlage gegenseitigen Wohlwollens und gegenseitiger Hilfe und Kooperation (so die Anarchisten). "Laissez faire, laissez passer - le monde va de lui-meme", das war die von Turgot berichtete Antwort Gournays auf die Frage, was getan werden solle. Le monde - das war natürlich die Wirtschaft: die Wirtschaft läuft ganz von selbst, man muss nicht durch Regierungshandeln in sie eingreifen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Markt schon gedacht als abstrakte Kategorie des VerkehrsZllsammenhangs rationaler, vom Eigeninteresse motivierter Individuen, d.h. Sozialatomen, die sich im Markt über formell friedliche Tauschbeziehungen begegnen. 10 Wenn alle diese Atome erfolgreich ihr
Neuzeit haben sich dieses Modell zu eigen gemacht: danach kann auch königliches Handeln niemals ungesetzlich sein; denn entweder es befolgt bestehende Gesetze oder es begründet in der Abweichung ein neues Gesetz. Cf. dazu im einzelnen K. Röttgers: Spuren der Macht. Freiburg, München 1990, p. 81ff. 9
Odo Marquard hat in: Lob des Polytheismus.- In: ders.. Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart 1981, p. 91-116, die These vertreten, dass es der Sinn der Gewaltenteilung sei, dass der Bürger im Schatten der gegenseitigen Neutralisierung der Gewalten seine Ruhe vor dem totalitären Zugriff habe. Das ist mindestens historisch falsch, denn Montesquieu, der die im Deutschen so genannte Gewaltenteilung formuliert hat, war mitnichten für eine Teilung der Macht, im Gegenteil; wie Hobbes hielt er eine Teilung der Macht für verderblich, weil sie zum Bürgerkrieg führen könne. Er war für die Einheit der Macht im Staate und ihre funktionale Gliederung. Daher heißt der französische Terminus bis in die Zeiten der Revolution hinein "distribution de pouvoir" und nicht etwa "separation des pouvoirs". Machtmäßigung erwartete Montesquieu vielmehr von den "pouvoirs intermediaires".
10
S. dazu insbes. M. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Neuausg. Frankfurt a. M. 2005., p. 29,49ff.
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Eigeninteresse verfolgen,!1 dann geht es zwangsläufig allen gut. Der freie Markt kennt keine Not. Nun war aber im Verlauf der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts - selbst rur Hegel - unübersehbar geworden, dass es Not gab, thematisiert als "die soziale Frage".12 Es gibt in den durch das Marktprinzip organisierten Gesellschaften allgemein eine Gruppe von Gesellschaftsmitgliedern, die keine der Grundeigenschaften mitbringt, die im Marktprinzip für alle unterstellt werden: sie sind weder "freie"13, selbstbestimmte Subjekte, noch sind sie im vollen Wortsinne mögliche Adressaten für Verantwortungszuschreibungen l4, noch verhalten sie sich "rational" im Sinne der ökonomisch vorgeschriebenen Rationalität. Wenn man es genau nimmt, gehören sie gar nicht als Mitglieder zu der so definierten Gesellschaft, sondern sind Fremdlinge in ihr.15 Woran konnte die Emergenz solcher Probleme nur liegen? In der Beantwortung dieser Frage schieden sich die Geister. Die einen nahmen an, das seien Kinderkrankheiten der Freiheit des freien Marktes, mit der Zeit würden sich diese Probleme gemäß der Logik des Marktes ganz von selbst erledigen. Deren Nachfahren beteuern heute, dass auch die gegenwärtig zu beobachtenden Disproportionalitäten in der Verteilung der Gewinne und Verluste der Globalisierung über kurz oder lang aufgnmd der heilsamen Kräfte des Marktes ganz von selbst verschwinden würden. Doch schon unser großer Dichter Schiller drückte seine Skepsis gegenüber dem Ver-
11
Simmel zeigt, dass der Tausch nicht zustande käme, wenn nicht beide Seiten ihr subjektives Eigeninteresse dabei befriedigen könnten; wenn es nur um Äquivalente ginge, brauchte man ja gar nicht zu tauschen, so "dass jeder dem anderen mehr gibt als er selbst besessen hat." G. Simmel: Philosophie des Geldes. Frankfurt a. M.1989 (=Georg-SimmelGesamtausg. Bd. 6), p. 60.
12
E. Pankoke: Soziale Frage.- In: Historisches Wörterbuch der Philosophie IX, Sp. 1129-1134.
13
K. Röttgers: Die Freiheit in der Wirtschaft.- In: Jb 1998 d. Ges. d. Freunde der Fernuniver-
sität. Hagen 1999, p. 53-66. 14
Ders.: Verantwortung nach der Modeme in sozialphilosophischer Perspektive.- In: Unternehmensverantwortung aus kulturalistischer Sicht, hrsg. v. Th. Beschomer u.a.. Marburg 2007, p. 17-31; ders.: Verantwortung für Innovationen.- In: Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip, hrsg. v. L. Heidbrink u. A. Hirsch. Frankfurt a. M., New York 20OS, p. 433-455.
IS
P. Ulrich: Integrative Wirtschaftsethik. Bern, Stuttgart, Wien 1997, p. 106ff.
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trauen in das freie Spiel der Marktkräfte in dem Vergleich aus, das wäre so, als wolle man in einem Orchester die vollkommene Harmonie des Zusammenspiels davon erwarten, dass jeder einzelne Musiker falsch spiele. Schiller kannte freilich den "Free Jazz" noch nicht, wo jeder in der Tat spielt, was er will, aber eben in genauer Beobachtung und Abstimmung auf das Spiel der anderen; und genau das tun auch die Marktteilnehmer: sie beobachten sich ständig gegenseitig und richten grosso modo ihr Verhalten darauf ein.J6 Andere glaubten, dass die "soziale Frage" ein notwendiges Ergebnis der Struktur der kapitalistischen Produktionsweise sei, weil das Kapital auf Kapitalakkumulation (heute sagt man: auf "Wachstum") angewiesen sei und dass dieser Mehrwert ja irgendwo herkommen müsse, er also jemandem durch die Strukturlogik des Kapitalismus vorenthalten werden müsse. Und das könnten nur diejenigen sein, deren einziges Kapital ihre Arbeitskraft sei und die diese zwecks Erhaltung des Lebens des menschlichen Körpers zu beliebig oktroyierten Bedingungen vermarkten müssten. Die so redeten, wussten zwar im Prinzip, dass es Win-win-Situationen gibt, z.B. durch Arbeitsteilung und Kooperation, aber sie waren gewiss, dass der kapitalistisch organisierte Markt keine solche Situation ist und keine solche werden kann.J7 Wieder andere - zwischen diesen beiden Stühlen schwebend - sprachen vom Marktversagen. Das widersprach der ersten Gruppe, für die es ein Marktversagen gar nicht geben konnte, sondern höchstens eine noch nicht vollständige Realisierung dieses optimalen Prinzips der Allokation knapper Güter. Das widersprach aber auch der zweiten Gruppe, die die Erzeugung der Not nicht als 16
Auch der Markt hat freilich seine autoritären Effekte. Wenn man beispielsweise in einem bestimmten Jahr einen gelben Pullover oder sogar einen weißen Schal aus reiner Seide erwerben möchte, kann es einem leicht passieren, dass man mit der Ausktmft konfrontiert wird, vor zwei Jahren hätte man diese Produkte kaufen können, zum Glück aber seien sie nun alle ausverkauft. Die marktorientierte Produktion ist zwecks optimaler Allokation darauf angewiesen, Marktlücken entweder zu befriedigen oder aber unsichtbar zu machen, d.h. zusammen mit der Warenproduktion die Bedürfnisproduktion der Konsumenten zu steuern - fast wie in partriarchalen oder staatssozialistischen Systemen, die ebenfalls wissen, was die Bürger jetzt "eigentlich" wünschen und brauchen.
17
Dass der entfaltete Kapitalismus der Modeme, anders als die Subsistenzwirtschaft der Antike, grundsätzlich eine Win-win-Struktur hat, ist die These von Karl Homann, 1. C., p. 3-25.
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Versagen des Marktes, sondern als deren eigentlichen Mechanismus erkannt hatte. Die zwischen den Stühlen waren gute Menschen, von Mitleid zu ihren leidenden Mitmenschen bewegt. Sie betrieben aus christlichem oder philanthropischem Ethos "Armenfürsorge". Im 20. Jahrhundert wurde aus dieser Annahme möglichen Marktversagens in der Nachfolge der Impulse des 19. Jahrhunderts, vor allem in Frankreich und Deutschland, und aus einer humanistischen Gesinnung heraus die "soziale Marktwirtschaft" geboren. Die Variante "soziale Marktwirtschaft" kann nur dann funktionieren, wenn es eine Instanz oder Institution gibt, die nicht selbst den Marktmechanismen unterworfen ist. Im "rheinischen Kapitalismus" der Fünfzigerjahre war das ein an christlich-humanen Werten orientierter Staat. Ein solcher steht heute nicht mehr zur Verfügung. Überdies kann man berechtigt fragen, welches eine solche Instanz in dem entgrenzten, globalisierten Markt sein könnte. Die Einzelstaaten können es nicht mehr sein, selbst eine sich fundamentalistisch umorientierdende, imperiale USA wäre dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen. In vielen ihrer ehemals souveränen Handlungsbereiche sind die Staaten heute selbst dem Markt unterworfen. Nach einer anderen Instanz als den Staaten kann man lange suchen und wird am Ende sich zu dem Zugeständnis gezwungen sehen, dass es eine "soziale Marktwirtschaft" im Weltmaßstab nicht geben wird, so dass die "soziale Marktwirtschaft", ohnehin eine deutsche nationale Besonderheit, auch nur noch eine historisch überholte Episode bleiben wird. Folgt man einem präzisen Begriff von Globalisierung,18 so wird man als eine der Konsequenzen der Globalisierung festhalten dürfen: Anders als vormals die Staaten und ihre Regierungen, von denen ja Kant noch optimistisch annahm, dass sie dem Rat der Philosophen zuhören und ihn insgeheim berücksichtigen würden,19 hat die durch die Globalisierungsprozesse entstandene Weltgesellschaft keine Möglichkeit mehr, sich selbst zu kontrol-
18
19
Zum präzisen Begriff der Globalisierung s. K. Röttgers: Ein philosophischer Begriff von Globalisierung.- In. Philosophische Aspekte der Globalisierung. hrsg. v. H. Busche. Würzburg 2009, p. 17-34. So Kant in seinem "Geheimen Artikel" als Zusatz zu seiner Schrift "Zum Ewigen Frieden", 1. Kant: Ces. Schriften, hrsg. v.d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 191Off., VIII, p. 368ff.
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lieren oder zu regieren. Die Weltgesellschaft der Globalisierung ist eine Gesellschaft ohne Zentrum und ohne Gipfel. Die Staaten der Neuzeit waren hierarchisch geordnet, vor der bürgerlichen Revolution offensichtlich in der Souveränität der Monarchen und auch noch nach der bürgerlichen Revolution durch die Repräsentationsfiktion der Demokratien in etwas versteckter Weise, die aber auch immer wieder als Konflikt zwischen den Regierenden und der Betroffenheit lIdes Volkes" aufbrechen kann. Die Weltgesellschaft dagegen ist netzförmig organisiert. Hierarchische Ordnungen haben ein Problem: wird das Zentrum zerstört, ist der Gesamtzusammenhang gefährdet, wenn man nicht schnell genug einen Ersatz als "König" ausrufen kann. Das ist ja auch der Grund, warum das Internet netzförmig organisiert ist. Sein Vorläufer in Zeiten des Kalten Krieges war ein militärisches Informationssystem, das nicht der Gefahr ausgesetzt sein sollte, im Fall eines befürchteten Militärschlags des Feindes auf einmal als ganzes zerstört zu werden. Jeder andere Knoten in dem Netz sollte die Funktion eines ausgefallenen Knotens übernehmen können. Allerdings hätte sich wohl auch ohne diesen militärischen Vorlauf die Netzstruktur durchgesetzt, wie man an der Entwicklung der Telefonie sehen kann. Wegen der Vernetzung von Virtualitäten als Charakteristikum der Globalisierung breiten sich Irritationen des Systems unglaublich schnell aus, siehe die Computerviren oder die letzte Finanzkrise, aber ebenso die Immunisierungen und Einkapselungen der Irritationen. Mit anderen Worten, Abhängigkeit und Unabhängigkeiten nehmen in einem solchen System gleichzeitig zu und steigern damit die Komplexität des Systems.20 Der Leviathan ist tot, die Menschen sind frei; zugleich aber sind sie im System allseitiger Vernetzung tausendfach unfrei und kontrolliert. Der fürsorgliche sogenannte Polizei-Staat vor der bürgerlichen Revolution übernahm die Verantwortung für das Glück und Wohlergehen der Untertanen. Der bürgerliche Staat stellte es jedem frei, sein Glück dort zu suchen, wo er es zu finden hoffte und stellte lediglich die rechtlichen Rahmenbedingungen der Harmonisierung der individuellen Bestrebungen auf. Die globalisierte :w
Dazu prominent die Studie von N. Luhmann: Globalisation ou societe du monde: Comment concevoir la sociere modeme, in: Regards sur la complexire sodale et I'ordre legal a la fin du XXe siede, hrsg. v. D. Kalegeropoulos. Bruxelles1997, p. 7-31.
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Gesellschaft dagegen hat keinen Ort mehr weder für Glücksermöglichungen noch für Rahmenwerke für Glücksverfolgungen. Es gibt in ihr kein systematisches Interesse am Wohlergehen der Menschen mehr. Wenn tatsächlich solches Wohlwollen auftritt, sei es durch Menschen, sei es durch partikulare Institutionen unterschiedlichster Art, so ist das immer punktuell, zufällig und teilweise sogar zueinander in Widerspruch. Der Tsunami in Sü-Asien, das Erdbeben in Haiti und die Überschwemmungen des Indus erregten hohe Aufmerksamkeit und Anteilnahme, ablesbar in Kontenbewegungen. Der Völkermord in Ruanda ließ dagegen die Menschheit wegblicken - rational ist das alles nicht. Nun gibt es allerdings jenseits der Nationalstaaten die Emergenz neuer und auch ganz neuartiger Governaru:e-Strukturen, die manche Defizite der Reichweite nationalen Rechts tatsächlich abfangen oder doch abfangen könnten. Sowohl ihrer Zusammensetzung nach als auch ihrer Regelungsreichweite nach gehen diese neuen Strukturen in eine ganz andere Richtung als Elemente einer zukünftigen Regierung der Weltgesellschaft zu werden. Sie behalten durchgehend Netzstruktur, sie entziehen sich oder bedienen sich lediglich fallweise nationaler Rechtsprechung und etablieren jenseits der Staaten ein Netzwerk von Normen eines "Soft Law".21 Und sie sind in sich und untereinander aus den heterogensten Elementen zusammengesetzt, teils aufgrund von internationalen Abkommen der Staaten, deren erstes Beispiel der Weltpostverein war, teils als Büros ursprünglicher Konferenzen, wie die KSZE, teils NGOs, teils Verbände ökonomischer Akteure, teils kriminelle Organisationen und teils eben auch joint ventures aus verschiedenen solcher Elemente der Weltgesellschaft. Die Globalisierung der Kriminalität ist eine nicht unerhebliche Komponente der Globalisierung. Teils ist ja in einem Staat strafbar, was in einem anderen nicht verfolgt wird; teils entziehen sich aber auch kriminelle Organisationen dem staatlichen Zugriff auf genau die gleiche Weise wie das
21
G. Teubner: Des Königs viele Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierarchie des Rechts.ln: Soziale Systeme 2 (1996), p. 229-255; vgl. Global Law Without the State, hrsg. v. derns. Aldershot1997.
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multinationale Konzerne tun. Und die Vemetzung ist eines der hervorstechendsten Merkmale der Globalisierung der Kriminalität.22 Im Moment ist man versucht, überall dort, wo es Defizite der Allokation durch
den Markt gibt, die "Solidarität" zu beschwören. Aber zugleich sind sich alle einig, dass, obwohl alle dafür sind, weil Solidarität etwas Schönes und Gutes ist, niemand genau weiß, was Solidarität eigentlich meint. Dieser Begriff ist ein Fetisch, dem zugetraut wird, alle guten Geister herbeizurufen; doch bereits Maurice Block musste 1863 feststellen: "TI y ades mots qui jouent un röle dans la politique moins par leur signification precise et pratique que par ce qu'ils ont de vague et de purement moral."23 Und dazu gehört eben auch der Solidaritätsbegriff damals wie heute. 24 Zudem gibt es die verbreitete, allerdings falsche Ansicht, dass die Fraternite der Französischen Revolution und die Solidarität Austauschbegriffe seien und dass eine weitgehende Ersetzung des politischen Begriffs der Fraternite durch den der Solidarität um 1848 stattgefunden habe. Das ist schon strukturlogisch unwahrscheinlich; denn die Verbrüderung, letztlich zielend auf Menschheitsverbrüderung ist die Universalisierung einer Dyade, also der reinen Intersubjektivität, sie ist im Prinzip asozial,25 weil jede Form von Sozialität die Figur des Dritten voraussetzt.26 Die asoziale Struktur zeigt sich nicht zuletzt auch darin, dass die Verbrüderung zwanghaft ist und dass der Verbrüderungszwang stets die Morddrohung an die Verbrüderungs22
23 24
25
L. Napoleoni: Die Zuhälter der Globalisierung. Über Oligarchen, Hedge Fonds, ,Ndrangheta', Drogenkartelle und andere parasitäre Systeme. München 2008, enthält eine Fülle z. T. schockierender Informationen; theoretischer widmet sich dem Problem des Zusammenhangs von ökonomischer und krimineller Globalisierung 1. Taylor: Marche global et la question criminelle. Quelques perspectives theoriques en Europe.- In: Regards sur la complexite sociale et I'ordre legal a la fin du XXe siecle, 1. c., p. 47-73.
M. Block: Dictionnaire generale de la politique. Paris 1863/64, 1, p. 1069. Heute nennt George Khushf den Begriff der Solidarität "extremely ambiguous, drawing on intuition", G. Kushf: Solidarity as a Moral and Political Concept.- In: Solidarity, ed. K. Bayertz. Dordrecht, Boston. London 1999, p. 57-79, hier p. 64. K. Röttgers: Transzendentaler Voyeurismus.- In: Theorien des Dritten, hrsg. v. Th. Bedorf,
J. Fischer, G. Lindemann. München 2010, p. 33-71. 26
K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002, p. 245-271; Th. Bedorf: Dimensionen des Dritten. München 2003; Die Figur des Dritten, hrsg. v. E. Eßlinger, T. Schlechtriemen. D. Schweitzer u. A. Zons. Berlin 2010, darin vor allem die Beiträge von Th.. Bedorf und B. Priddat; Theorien des Dritten,!. c.
82
Kurt Röttgers
unwilligen als Handlungsaltemative bei sich führt: "fraternite ou la mort" heißt es in der Revolution, bzw. "sois mon frere ou je te tue", zu deutsch: "Willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein." Solidarität dagegen ist in seiner Strukturlogik gemäß der Herkunft aus dem Römischen Recht eine Figur der Gesamtschuldnerschaft, bzw. wie Heinrich Pesch im Rahmen der Begründung der katholischen Soziallehre gesagt hat, der
"Gemeinhaftung".27 Jeder Einzelne einer Schuldnergemeinschaft haftet gegenüber einem Dritten in Höhe der Gesamtschuld. Diese (soziale) Figur findet sich auch heute noch in verschiedenen Zusammenhängen, wenn auch nicht mehr in der krassen mittelalterlichen Form, dass ein Kaufmann im Ausland gewärtig sein musste, für die Schulden seiner Landsleute aufzukommen. Mit Brüderlichkeit oder gar der Morddrohung an den Nicht-Bruder hat das nichts zu tun; und nur gutmenschlerisches Gerede macht aus der sozialen Verpflichtungsfigur der Solidarität einen moralisierenden Appell. Gut erhalten ist das Solidaritätsprinzip in der Soziallehre der katholischen Kirche. So heißt es etwa in der Sozialenzyklika "Mater et magistra", dass wir gemeinsam für die Hungernden der Welt verantwortlich seien, nicht etwa jeder Einzelne für sich, oder jeder Einzelne nur gerade deswegen, weil er Teil der christlichen Gemeinschaft ist. Das ist sehr realistisch; denn wollte man die Verantwortung für den Hunger der Welt jedem Einzelnen, allein gelassen mit seinem Gewissen, aufbürden, überforderte man ihn und ließe ihn als Reaktion auf eine solche Überforderung eher gleichgültig werden. Und genau deswegen ist auch eine im Sinne der Fraternite reduktiv uminterpretierte Solidarität, eine fraternisierte Solidarität, keine passende Antwort auf die Entgrenzung des Marktes in der Globalisierung; aber auch für eine nichtfraternisierte Solidarität gälte, dass die universalisierte Gesamtschuldnerschaft gegenüber der gesamten Menschheit den Gläubiger, also den Dritten, tilgt, sie lässt mit der Schuldverpflichtung dann leider auch die Solidarität verschwinden. Mit anderen Worten, und das hat auch Rorty herausgehoben, Solidarität ist stets eine begrenzte Solidarität und gründet sich auf "Wir-Intentionen".28
7:J
H. Pesch: Lehrbuch der Nationalökonomie. 2. Auf!. Freiburg 1914, I, p. 393ff.
28
R. Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M. 1992, p. 310.
Zwischen Markt und Brüderlichkeit
83
Es scheint so, als wäre Solidarität den oben erwähnten "Fremdlingen" in der Gesellschaft völlig unangebracht, weil sie zwar Menschen sind, aber nicht zu "uns", den rational Wirtschaftenden gehören. Wenn wir dagegen von der fraternisierten Solidarität aller Menschen zueinander sprechen, dann gerade ist Solidarität selbst nicht rational, weil sie nicht vom Eigennutz ausgeht, sondern ihm sogar widersprechen kann. So sagt z. B. H. Tristram Enge1hardt, Jr., einer-
seits, dass Solidarität immer begrenzt ist,29 so dass es sich nicht widerspricht, eine gute Flasche Wein zu genießen, auch wenn anderwärts auf dieser Welt Menschen hungern, aber andererseits nennt er Solidarität einen Zwang zum Altruismus und damit etwas ökonomisch nicht Rationales, weil es nicht den Eigennutz fördert, sondern einschränkt. Es müsste neben dem Eigennutzprinzip wenigstens ein individuell motivierendes Prinzip der Erhaltung des Marktes als solchen geben, das im Zweifelsfall dann auch das Eigennutz-Prinzip partiell außer Kraft setzen kann. Ein solches Prinzip erscheint volkswirtschaftlich durchaus rational, weil alle davon profitieren, wenn der Markt auch weiterhin funktioniert, aber der sich selbst überlassene Markt kann ein solches Prinzip nicht generieren, weil es sofort diejenigen auf den Plan riefe, die aus der Hintanstellung des Eigennutzes der einen (der Solidarischen) sofort eine Optimierungstrategie für den eigenen Nutzen ableiten, solange es keinen Schutz der Solidarischen vor diesen Trittbrettfahrern gibt. Nach den Markt-Apologeten der strengen Observanz braucht es aber auch gar kein dem Markt selbst externes Erhaltungsinteresse zu geben, weil der Markt ein vollständig sich selbst steuerndes und reproduzierendes, kurz ein autopoietisches System ist.30
.. H. T. Engelhardt: Solidarity: Post-Modem Perspectives.- In: Solidarity, ed. K. Bayertz, l. p. 293-308, hier p. 293. 30
C.,
Die Systemtheorie von Niklas Luhmann, stellt die gesellschaft:lli:hen Subsysteme so dar,
dass sie über nur ihnen verständliche Codes geregelt sind, so dass moralische Appelle im System der Wirtschaft gar nicht "verständlich" sind, jedenfalls irrelevant sind. Solidarität gehört demnach nur zur Umwelt der Wirtschaft, nicht zu dieser selbst. Irrtümlich behauptet er daher, dass der Solidaritätsbegriff erst im 19. Jahrhundert aufgekommen sei, uns zwar als Name für etwas Verlorenes, N. Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.1988, p. 212, Anm. 71.
84
Kurt Röttgers
Eine Tatsache aber scheint auch zu sein, dass Solidarität, und zwar sowohl in ihrer ursprünglichen als auch in der fraternisierten Form, deswegen immer überflüssiger wird, weil gegen die diffusen Risikokomplexe auf gesellschaftlicher Ebene der postmodernen Gesellschaften Versicherungen besser helfen als immer fragliche Solidaritäten. Wer versichert ist, muss nicht lange nach demjenigen suchen, den er für den Gesamtschaden solidarisch in Anspruch nehmenkann. Wenn Solidarität in der Gestalt der fraternisierten Solidarität auf bloße Gegenseitigkeit, also auf Intersubjektivität reduziert wird, dann ist sie entweder nichts anderes als eine Tauschbeziehung, in der sich ja auch die Tauschenden (gegen die Mitbewerber) einig sind, oder sie ist eine kraftlos gewordene Brüderlichkeit, die die Konsequenz des Brudermords nicht mehr ernst nimmt. Versicherungen allein reichen jedoch nicht aus, denjenigen Zusammenhalt von Gesellschaften zu stiften oder zu erhalten, auf den auch die ökonomischen Aktivitäten auf dem Markt angewiesen sind. Normalerweise sagen wir, dass auch die Geschäfte mit Versicherungen auf eine Hintergrundsicherheit angewiesen sind, die nicht wiederum versicherbar ist, sondern in den modernen Gesellschaften durch staatliches Recht gewährleistet wird. Aber, wie gesagt, dieses ist in der postmodernen Weltgesellschaft unterminiert. Es gibt jedoch eine andere, immer schon bestehende Lücke im System des Rechts als Absicherung von Marktaktivitäten. Das Recht kann nicht alles, nicht jede Einzelheit regeln, sondern vertraut im Großen und Ganzen darauf, dass die einzelnen Abläufe entweder unter allgemeinere juristische Normen subsumierbar sind (kontinentaleuropäische Erwartung) oder vergleichbare Präzedenzen haben (case law). Aber es zeigt sich, dass auch die Subsumtionslogik und die Analogien ihre Grenzen haben. An diese Stelle treten dann subsidiär sogenannte "unbestimmte Rechtsbegriffe", die zwar im Rechtssystem auftauchen, aber dort nicht definiert werden können, wie z.B. der Begriff der "guten Sitten". Woher diese Begriffe stammen, ist für das Rechtssystem ungewiss. Einige meinen, an dieser Stelle sei Platz für die Subjektivität des Richters und die Integrität seines persönlichen moralischen Empfindens. Andere halten dagegen, dass es nicht das Ermessen aus subjektiver Willkür sein könne, sondern dass
Zwischen Markt und Brüderlichkeit
85
es im Hintergrund der Dezision so etwas wie die Objektivität einer Moral einer Gesellschaft stehe, wenn nicht gar eine ethisch gerechtfertigte Moral, etwa Kantischer Provenienz, die für alle Menschen als vernünftigen Wesen Geltung haben müsse, wofür dann eben deswegen nicht mehr die Juristen, sondern die philosophischen Ethiker zuständig seien. Aber die Delegation des Problems der Unbestimmtheit löst die juristischen Probleme der Ermöglichung einer eindeutigen richterlichen Entscheidung nicht, weil die philosophische Ethik eben nicht auf die Ableitung ethischer Lehrsätze hinausläuft und damit auf die zweifelsfreie Rechtfertigung moralischer Normen, sondern eher auf die methodisch angeleitete Problematisierung und Reflexion historisch kontingenter Geltungen von Moralsystemen oder Normen. Wir haben uns demnach zu fragen, ob es nicht eine Metanorm gibt, die jenseits der Partikularität geltender normativer Systeme gilt. Und wenn man danach fragt, wird man die Funktionsweise von Moral in den Blick nehmen müssen. Was leisten Moralen für den sozialen Zusammenhalt? Die wichtigste, wenn nicht vielleicht sogar die einzige Funktion von Moral ist es, Verlässlichkeit in den Interaktionen herzustellen und damit Kontingenz zu reduzieren. Das kann niemals vollständig gelingen. Das Lebenselixier von Normen ist ihre Übertretung und Überschreitung,-31 nur so ist ihr fordernder Sinn verständlich und nur so sind sie flexibel und an veränderte Umstände anpassbar. So wie Risiken nicht durch Sicherheit ersetzbar sind, sondern nur in andere Risiken transformierbar,32 so lässt sich auch kontingentes Erwarten lediglich transformieren. Wenn das begründete Erwarten des Verhaltens anderer aufgrund der unaufhebbaren Kontingenz enttäuscht wird, bleiben zwei Wege der Erwartungsenttäuschungsabwicklung: entweder kognitiv, dann wird etwas gelernt, nämlich dass die (soziale) Welt doch anders ist als vorgestellt und die normative Erwartung für die Zukunft justiert werden muss, und sei es auch nur in der Form des Zugeständnisses, dass gegen Normen zuweilen verstoßen wird, oder aber normativ, dann wird das normative Erwarten entgegen den gemachten Erfahrungen stabil gehalten und für die Zukunft trotz der eingetrete-
31
G. Bataille: Die Erotik. München 1994.
32
N. Luhmann: Soziologie des Risikos. Berlin, New York 1991.
86
Kurt Röttgers
nen Enttäuschung die Einhaltung der Norm, die unsere Erwartungen leitete, gefordert und weiter erwartet. Und so kommen in der Stabilisierung der Erwartung hinsichtlich der Zukunft die Metanormen normativen Erwartens ins Spiel. Was immer die "guten Sitten" inhaltlich gewesen sein mögen, sie entlasten von der Furcht, dass alles Beliebige in Zukunft möglich sein könnte. Getragen sind sie dabei von der Metanorm des Vertrauens. Vertrauen ist eine riskante Investition; denn es kann enttäuscht werden, ja es muss enttäuscht werden können, andernfalls wäre es nicht Vertrauen. Das mit Vertrauen eingegangene Risiko minimieren zu wollen, gemäß der Lenin zugeschriebenen Devise, dass Vertrauen gut sei, Kontrolle aber besser, liefe darauf hinaus, entweder den Kontrolleuren vertrauen zu müssen oder aber ein ausuferndes Kontroll-Kontroll-System zu etablieren, das jede Kreativität blockiert. Insofern gibt es zwangsläufig in "high trust societies"33 ein Vertrauen in Vertrauen. 34 Ähnliches gilt auch für die Metanorm des Versprechens. Denn ein Versprechen stellt nicht nur ein zukünftiges Geschehen in sichere Aussicht, sondern verspricht implizit auch zugleich, dass das Versprechen auch morgen noch gilt, so dass ein heutiges Versprechen nicht morgen als bloßes vergangenes Geschehen gewertet werden darf.
.. In sozialphilosophischer Hinsicht steht das Thema des Marktes unter dem Oberthema der Stiftung des sozialen Bandes, formulierbar auch als die Frage: Wodurch werden Gesellschaften und letztlich die anvisierte postmoderne Weltgesellsch.aft zusammengehalten? Dass es der Markt allein sei durch die Kraft der in Tausch, Vertrag und dgl. durch Eigeninteresse verbundenen als autonom unterstellten Gesellschaftsatome [Individuen], ist die liberale Antwort. Die Kritiker des Liberalismus wenden ein, dass zwar das soziale Band, der Zusammenhalt der Gesellschaften, wichtig sei für das Funktionieren von Märkten, dass also die Märkte selbst ein Interesse an der Erhaltung dieses
Ja J(
F. Fukuyama: Trust. London 1996, p.ll. N. Luhmann, 1. c.
Zwischen Markt und Brüderlichkeit
87
Bandes haben oder haben müssten, z.B. senkt Vertrauen zwischen Marktteilnehmern die Transaktionskosten, dass aber der MarktrnechaIDsmus selbst diesen Zusammenhalten nicht stiften kann, ja ihn immer wieder gefährden und aufs Spiel setzen kann, auch wenn er ihn braucht und voraussetzt. Sind diese Kritiker des Liberalismus Kommunitaristen der einen oder anderen Spielart, dann setzen sie auf die quasi-naturalen, z.B. familialen Zusammenhänge, die Ferdinand Tönnies seinerzeit als durch"Wesenswillen" begründete Gemeinschaften von durch "Kürwillen" begründeten Gesellschaften abgesetzt hatte.3S Eine andere Option unter den Kritikern geht auf die revolutionäre Fraternite, die zwar die familiale Metaphorik der Brüderlichkeit im Hintergrund hat, aber sich einer anderen Handlungslogik verdankt.36 Fraternite ist das Resultat eines Fraternisierens, sie wird durch Verbrüderung der in eine revolutionäre Aktion involvierten Kämpfer erreicht; sie ist demnach eine andere Spielart des Kürwillens, gerade kein Wesenswille, um Tönnies' Begrifflichkeit aufzugreifen. Fraternite ist ein Begriff des Politischen, nicht der Politik.37 Die Verbrüderung als Stiftung des sozialen Bandes ist mit mehreren gravierenden Problemen behaftet. Verbrüderung ist eine Emphatisierung von Intersubjektivität. Nun lassen sich aber Gesellschaften nicht als Generalisierungen oder unbegrenzte Verkettungen von zwischenmenschlichen Intersubjektivitäten begreifen. Bezeichnenderweise führte die Verbrüderungsemphase der Revolution stets die Morddrohung an die Verräter oder Verbrüderungsunwilligen bei sich. Als Karnpfemphase der im Prozess der Revolution Verbrüderten mag das seinen handlungsleitenden Sinn haben; für die für Gesellschaftsstrukturen unabdingbare Verstetigung kann das jedoch nur Terror bedeuten, und hat es auch faktisch bedeutet, im Verstetigungsversuch sowohl der französi-
35
Ohne dass freilich Tönnies freilich so weit ging wie einige Kommunitaristen, nämlich eindeutig zu werten. F. Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. ND Dannstadt 1963, p. 1416; s. auch Plessners Kritik am überzogenen Gemeinschaftsbegriff in H. Plessner: Grenzen der Gemeinschaft. 2. Auf!. Bonn 1972.
36
Cf. jedoch Jürgen Haberrnas' "verschwisterte Genossen". J. Habermas: Gerechtigkeit und Solidarität.- In: Weibliche Moral, hrsg. v. G. Nunner-Winkler. Frankfurt a. M., New York 1991, p. 225-238, hier p. 232.
:r1
Zu dieser Unterscheidung s. die Beiträge in dem Bd.: Das Politische und die Politik, hrsg. v. Th. Bedorf. Berlin 2010, insbes. Die Einführung von Th. Bedorf, p. 13-37.
Kurt Röttgers
88
schen wie der russischen Revolution. Die permanente Gewaltbereitschaft oder -aktualität ist nicht in der Lage, diejenige Kontinuität von Gesellschaften zu ermöglichen, die das soziale Band auszeichnet. Nur durch Modalisierung der Aktualität des HandeIns zur Möglichkeit des Handelns, d.h. die Ersetzung von Gewaltaktionen durch Machtstrukturen, kann man das erreichen.38 Der Verbriiderungsemphase fehlt ein weiteres entscheidendes Merkmal, nämlich die Figur des Dritten.39
.. Aus unseren bisherigen Überlegungen zum Markt einerseits zur Verbrüderung andererseits als Stiftung des sozialen Bandes ergibt sich die Ausschau nach einer dritten Möglichkeit, die vermutlich zwischen Markt und Brüderlichkeit angesiedelt sein muss, keineswegs aber auf kommunitaristische Manier von der "Natürlichkeit", sei es der genealogischen oder auch der kulturellen (gemeinsame Sprache und Geschichte als Identitätsgaranten) ausgehen wird, sondern von der Idee eines Kürwillens geleitet sein wird. Dieses Modell muss folgende Bedingungen erfüllen: • Es muss ein soziales Modell sein, d.h. die wesentliche Bedingung erfüllen, die Figur des Dritten zu kennen, • Es muss den Mord und auch eine mörderische Konkurrenz ersetzen durch die Figur der GegenseitigkeitIMutualität, vielleicht sogar der Kooperation, • Es sollte eher vom zoon politikon als vom Atom/lndividuum ausgehen, weil letzteres geradewegs zum Individualismus der Modeme und zum Markt der egoistischen Individuen führt,
38
H. Arendt Macht und Gewalt.5. Auf!. München 1985; K. Röttgers: Spuren der Macht und das Ereignis der Gewalt.- In: Reden von Gewalt, hrsg. v. K. Platt. München 2002, p. 80-
120. J9
Daran kranken auch die "Sozial"philosophien, die den Dritten nicht kennen, weil ihre Grundfigur die der Anerkennung ist, s. Th.. Bedorf. Verkennende Anerkennung. Berlin 2010. Die ausführliche Kritik sowohl des Fraternite-Gedankens und seiner Begriffsgeschichte, sowie auch der angeblkhen Ersetzung von Fratemite durch "Solidarität" muss zukünftigen weiteren Arbeiten überlassen werden.
Zwischen Markt und Brüderlichkeit
89
• Es sollte eher von Gabe, die nicht aus Mildtätigkeit und Barmherzigkeit herrührt, ausgehen als vom Äquivalententausch. Der Begriff des Zoon politikon gestattet weder eine kommunitaristische Hypostasierung der Gemeinschaft also einen Kollektivismus, gegenüber dem einzelnen Menschen, so als wäre die Polis mehr oder höherwertiger als der Mensch; noch ist das Konzept anthropologisch zu lesen als eine Wesensbestimmung des Menschen, der nur dort eigentlich Mensch wäre, wo er eine Polis hat; denn in Wirklichkeit wissen wir natürlich gar nicht, was der Mensch ist. 40 Zoon politikon stellt vielmehr ab auf die Relationalität der menschlichen Existenzweise. Der Bezug ist das menschliche Leben. Das aber heißt: Das Zwischen der Menschen definiert sowohl den Menschen als Einzelwesen im Ensemble seiner Bezüge, als auch die Polis als das Zusammen der Relationen, die teilen und verbinden zugleich.41 Die hier probeweise vertretene These ist, dass die Tischgenossenschaft das Modell abgibt, das das zugleich trennende und verbindende soziale Band verständlich machen kann. Der Tisch trennt und verbindet die an ihm die Speisen Genießenden (die Genossen). Wenn es sehr einfach ist, Vertrauen, die Metanorm allen sozialen Verkehrs, zu zerstören, so ist es außerordentlich schwer, (verlorenes) Vertrauen (wieder) aufzubauen. Wie gesagt, man kann gewiss nicht, solange Vertrauen noch nicht trägt, vorsichtshalber und begleitend Kontrolle ausüben; denn Kontrolle dort, wo Vertrauen möglich wäre, verhindert oder zerstört gar das Entstehen von Vertrauen, Kontrolle ist Misstrauen. Miteinander zu essen aber ist in vielen Gesellschaften genau das Arrangement, das ein vertrauensvolles Miteinander ermöglicht und vorbereitet.42
Am Tisch herrschen keine Vertragsverhältnisse zum gegenseitigen Vorteil. Hier ist die Aufforderung "Nimm doch noch ein bisschen" naheliegender als - sume - , ._,aXI
al,
is strictly convex.
266
Manfred Endres
Obviously, the private cost function of the polluter is identical to the social cost function in this highly stylized setting. Therefore, the equilibrium abatement and investment levels
X;, X;,
i; are identical to the
socially optimaIones. • Negligence Under the negligence rule the problem of the representative polluter is (3) Min PCN = Co( Xo)+/o +ClX].Io) + (/JoD(Xo)+(/JP( X])
subject to (3a) (/J, = {al for X,? X;' for X, <X,'"
te
fO,I},
where (/J, is the "switch parameter" in period t taking the value of 1 if the firm is liable and 0 if the firm is not. Liability of the firm is decided upon whether the firm ignores or respects the emission norm. This "due care standard" is assumed to be set at the socially optimal level of pollution, X ," .6 The first order conditions are:
(3.2)
eec; lax] = aClx].Io) I ex, +D'(X])=o
~ aClXl'/o) ax]
= -D'(X )
]
where (3.1) and (3.2) only hold in case of (/Jo = I respectively (/J1 = I .
6
In Endres/Bertram (2006), we deviate from the full information assumption. In particular, we consider a social planner who does not know the optimal technology of the future pe-
riod.
Economic Theory of Environmental Liability Law Given lPOJ
= 0,
267
i.e, for levels of pollution abatement beyond the required mini-
mum standard (X,
'? X,", t E (O, 1})
the cost function increases monotonically in
Xr, Accordingly, costs are minirnized at
X;'.
The corresponding investment
level follows from (3.3). Thus, the costs of the firm are less keeping the standard
X;'
than violating it.
Concerning period 1 the minimum values of (3) are (X;' ,1;') irrespective of lPJ the polluter chooses the socially optimal values and thus keeps the standard. This result is analogous to the well known result of the textbook static model of the negligence rule, as presented in subsection IV.1, above. In spite of this analogy the result of the model presented above may be surprising to some. Opposed to the standard static model, the polluter simultaneously optimizes two decision variables, pollution abatement and investment into technical change, in the dynamic model presented above. (In the static model only the former variable exists.) Nevertheless, under the given assumptions the negligence rule needs one standard only to set the correct incentives for the polluter to make socially optimal decisions regarding both variables. This may seem to be a contradiction to the well-known rule that two policy objectives need to be tackled by two policy instruments (Tinbergen, 1952). However, this rule holds for policy objectives which are independent from each other. In the model sketched above technology choice and the choice of care level are not. This picture would change if we would introduce an allocation problem into the model of the technology choice also. The most obvious example would be knowledge spillovers. However, we refrain from discussing this complication here and assume that technology choice is undistorted,? Instead, in section 4., we will concentrate on the dynamic incentive effects of the distortion that was already highlighted in the presentation of the static model given above, incomplete liability. Before we turn to the complications, important elements of the previous analysis are illustrated graphically. 7
The role of technology spillovers for the static and dynamic incentives of environmental liability law have been discussed in Endres/Rundshagen/Bertram (2007).
268
Manfred Endres
€
MD
x Figure 2
Figure 2 illustrates the consequences of technical progress by showing two marginal cost of care curves, MCo and MC
j •
MCo is supposed to be the mar-
ginal cost of care function if the "old technology" is used. Accordingly, MC
j
shows the cost of care function after the "new technology" has been introduced. To do so, I > 0 has been invested. As a consequence of the introduction of the new technology, socially optimal care goes up from
X~'
to X;' .The
gross benefit of technical change to society is illustrated by the area OAB in the figure. Let us assume, for the time being, that this gross benefit is higher than the cost of introducing technical change, 1. Under strict liability gross benefit and cost of technical change to the polluter are exactly the same as they are to society. Whenever it is advisable from the point of view of society to introduce the new technology the polluter will just do that under strict liability. Moreover, equilibrium care is equal to socially optimal care after the new technology has been introduced. In this simple model including technical change the result is just the same un-
der negligence. Given the due care standard is at the socially optimal level the
269
Economic Theory of Environmental Liability Law
polluter will decide to keep it. Moreover the polluter will obviously use the new care technology. This is so because the cost of keeping
x;' are
at DBX';
using the new technology and at DA' X;' using the old one. Moreover, the gross benefit of keeping the standard with the new technology instead of with the old one, DA'B, is bigger than it is under strict liability, DAB. Since we have assumed that DAB > I in the first place, DA' B > I follows. Therefore, whenever the new technology is socially superior to the old one it will be introduced by the polluter given the due care standard is at its socially optimal level,"
4.
Incomplete liability - implications for technological change
4.1
Introduction
Above, technical change has been stylized to reduce the marginal cost of care irrespective of the level of care. In subsection 4.2, we stick to this stylization. In subsection 4.3, we allow for other forms of technical change which have received a certain attention in the literature. Henceforth we call the stylization that has been used in most of this paper (and in most of the literature) to be "conventional". The stylization deviating from the conventional one is called "alternative".
4.2
"Conventional" Stylization of Technical Change
In section
m., above, we have listed some reasons for the compensation pay-
ment under liability law to differ from damage. Most of these considerations point into the direction of compensation falling short of harm, and it is this case the analysis below is focused on.?
8
9
For this reasoning, we assume that the regulator is aware of the optima! standard ex ante and commits to fixing due care at this level. This assumption is rnaintained in the present paper. In Endres/Bertram (2006), the case of ex post regulation is discussed. StiIl, it has been noted that compensation rnight exceed the level of harm in some cases. E.g., artic1e 8 of the EU Liability Directive states that poIluters ought to bear the costs of the preventive and remedial actions due under the Directive. Assuming that the harm done can be completely removed it may very weIl be that total remediation costs are actuaIly in excess in the level of socia! harm since remediation costs are an upper cap for socia!
270
Manfred Endres
Let us consider strict liability first. It is plausible that the result attained for incomplete liability under the condition of given care technology will persist in a framework with variable technology: if the polluter calculates only partial damage compensation the intemalization effect of liability law is attenuated with the consequence that care is underprovided in the equilibrium. Moreover, equilibrium investment into technical progress is too low under these circumstances. Since equilibrium care is too low the amount of cost saving due to technical progress is lower for the polluter than it is for society. Since the investor only appropriates parts of the social benefit from technical progress equilibrium investment falls short of what it should be from the point of view of society. These considerations can be illustrated using figure 3. Again, we assume that it is socially beneficial that the new technology is introduced. MC o €
'7 I holds. The two aforementioned conditions are compatible with each other. That is due to the fact of undercompensation the negative part of the benefit of innovation is smaller for the polluter than it is for society, CA' B' < CAB . Thereby it might well be that the polluter decides to innovate even if innovation is not advisable from the point of view of society, as assumed here. In this case we
Manfred Endres
274
arrive at the somewhat counterintuitive result that the polluter "overinvests" even though he "undercompensates", under strict liability.
13
Let us now consider negligence. Assume that the due care standard is at its socially optimal level x", (Since we have assumed that it is not advisable from the social point of view to introduce the new technology, socially optimal care is defined by marginal cost of care being equal to marginal damage using the old technology.) The cost of keeping this standard using the old technology is OAX". If the polluter decides to stick to the old technology the standard will never be ignored for the reasons explained by the textbook model. Then, equilibriurn abatement and investment are socially optimal. However, if the new technology is used and the standard is ignored the polluter might fare better. In this case the costs of the polluter to be paid in equilibriurn are illustrated by the area OB' X(-) + / . This means that if the polluter uses technology 1 and ignores the standard he is in the same situation as he is under strict liability. If OB' X(-) +/ . Schmiel lehnt die Forderung nach Investitionsneutralität der Besteuerung ab". Unter Berücksichtigung der aufgezeigten Zusammenhänge ist es wenig sinnvoll, in wissenschaftlichen Abhandlungen von der Allokationseffizienz und der Entscheidungsneutralität der Besteuerung als alleinigen Zielen auszugehen. Vielmehr sollte der einzelne Wissenschaftler das zur jeweiligen Zeit und im jeweiligen Land herrschende soziale und kulturelle Umfeld berücksichtigen18 • Macht er dies nicht, so mögen seine Ausführungen zwar von intellektuellem Interesse sein, eine Hilfe bei der Politikberatung sind sie hingegen nicht. Befolgt der Gesetzgeber dennoch seinen Rat, so kann dies zu fatalen gesellschaftspolitischen Fehlentscheidungen führen.
3.4
Ökonomische und nicht ökonomische Grundwertungen
Damit stellt sich die Frage, von welchen Grundwertungen bei steuemormativen Überlegungen ausgegangen werden sollte. Aus ökonomischer Sicht sind in der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre noch am ehesten die soeben ange-
15
Vgl. hierzu insbesondere Bareis in StuW 2002, S. 136 m. w. N.
16
Vgl. Schneider, in: SiegeI/Kirchhof/Schneeloch/Schneider (Hrsg.), 2005, S. 275 ff.
17
Vgl. Schmiel, in: Schmiel/Breithecker (Hrsg.), 2008, S. 333 ff.
18
Vgl. Bareis in StuW 2002, S. 136.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
427
sprochenen Postulate der Entscheidungsneutralität und der Allokationseffizienz der Besteuerung anerkannt, allerdings von den meisten Autoren nicht als alleinige Crundwertungen'", Soweit die Einkommensteuer betroffen ist,
finden darüber hinaus folgende nichtökonomischen Grundwertungen in hohem Maße Anerkennung: • der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung, • die Förderung des Sozialstaatsprinzips durch Umverteilung und • der Grundsatz der Einfachheit und Transparenz des Steuerrechts-', Der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung beinhaltet, dass jeder Staatsbürger entsprechend seiner persönlichen wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit mit Einkommensteuer belastet werden soll. Der relative Nutzenentzug soll also für jeden Bürger - gemessen an einer standardisierten und allgemein verbindlichen Nutzenfunktion - gleich sein. Wie diese standardisierte Nutzenfunktion, der Einkommensteuertarif also, konkret aussehen soll, kann nur politisch entschieden werden. Dem Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung liegt ein allgemein anerkanntes Gerechtigkeitsempfinden zugrunde, letztlich also eine ethische Norm-t. Dieses Gerechtigkeitsempfinden findet in der Bundesrepublik
Deutschland seinen staatsrechtlichen Niederschlag in dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG22. Aus dieser Grundrechtsnorm wird letztlich auch - folgerichtig - der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung abgeleitet-', Eine Korrektur des Ergebnisses der Einkommenserzielung durch die Einkommensteuer zur Erfüllung des Sozialstaatsprinzips wird weitgehend als notwendig und sinnvoll angesehene. Gleiches gilt derzeit in der Bundesrepu19
Bareis. in: Baron/Bareis (Hrsg.), 1996, S. 34. Grundlegend zur Entscheidungsneutralität siehe Schneider, 1992, S. 193 H. Siehe auch Wagner in StuW 1992, S. 2 H.; Elschen, 1994.
20
Vgl. Schneider in StuW 1989, S. 329 H.; Bareis in DStR 1995, S. 158.
21
Vgl. Schneider in DB 1997; Siegel in BFuP 2007, S. 625 ff.
22
Vgl. Gersch, in: Klein, § 3 Rz. 6 H.
23
24
Vgl. Siegel, in: Siegel/Kirchhof/Schneeloch/Schneider (Hrsg.), 2005, S. 363 und Lang, in: Tipke/Lang, 2008, § 4, Rz. 70 f. Vgl. Andel, 1998, S. 445 ff.
428
Dieter Schneeloch
blik nicht hinsichtlich einer Korrektur des Ergebnisses der Vermögensverteilung durch die Erbschaft- und Schenkungsteuer. Eine derartige Korrektur findet durch die Begünstigung von Betriebsvermögen durch § 13a ErbStG nur in sehr geringem Umfang statt. Grundsätzliche Kritik an dieser Gesetzgebung ist von Fachvertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre allenfalls vereinzelt zu vernehmen. Eine besondere Stellung innerhalb eines jeden Systems von Grundwertungen nehmen die Grundsätze der Einfachheit und Transparenz ein. Der Forderung nach Einfachheit und Transparenz des Steuerrechts wird vermutlich jeder Fachvertreter und auch jeder Politiker zustimmen-", Bei diesem Befund ist es erstaunlich, dass das deutsche Steuerrecht während der letzten Jahrzehnte tendenziell ständig komplizierter und undurchschaubarer geworden ist. Dies wird vermutlich von keinem Fachwissenschaftler und von keinem mit dem Steuerrecht beschäftigten Politiker bestritten. Hier ist offensichtlich eine bereits seit Jahrzehnten andauernde Fehlentwicklung zu beklagen. Inzwischen haben die Kompliziertheit und Intransparenz des deutschen Steuerrechts ein Ausmaß angenommen, das allgemein als unerträglich empfunden wird>, "Spitzenleistungen" geradezu monströser Steuerrechtsnormen waren die §§ 2 Abs. 3 und IOd EStG in der für die Veranlagungszeiträume 1999 bis 2003 geltenden Fassung. Zu nennen ist auch § 8a KStG in seiner derzeitigen Fassung". Diese Rechtsnorm hat die Finanzverwaltung dazu veranlasst, in einem BMFSchreiben "Klarstellungen" vorzunehmenv, die kaum noch mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar slnd-", Heftig umstritten wegen ihrer unklaren Formu-
2S
Vgl. z. B. BT-Drucks. 14/23 v. 09.11.1998; BT-Drucks. 14/2683 v. 15.02.2000; Schneider in DB 2004, S. 1517 f.
26
Vgl. Sigloch, in: Krause-Junk (Hrsg.), 1996, S. 89 ff. sche Meinung 1997, S. 5 ff.
X!
Eingefügt durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 v. 24.03.1999, BGBl1999 I, S. 402.
28
In. W.
N. Siehe auch Bareis in Die politi-
Vgl. BMF-Schreiben IV A 2 - S 2742a - 20/04 v. 15.07.2004, BStB12004 I, S. 593 ff.
2. Vgl. die Kritik der Bundessteuerberaterkammer. Stellungnahme zu § 8a KStG v. 04.06.2004; Pressemitteilung derBundessteuerberaterkammer v. 21.06.2004.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
429
lierung ist die zum 1.1.2010 geänderte Vorschrift des § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG30• Diese Rechtsnorm enthält den Grundsatz der Maßgeblichkeit der Handels- für die Steuerbilanz. Immerhin handelt es sich hierbei um eine der zentralen Vorschriften zur steuerlichen Gewinnermittlung. Der Katalog komplizierter Steuerrechtsnormen kann in jüngster Zeit ergänzt werden um die Vorschrift zur Tarifbegünstigung nach § 34a EStG, die Anrechnungsvorschrift des § 35 EStG31 sowie dasLohnsummenkriterium des § 13a ErbStG. Die Liste kaum verständlicher, teilweise auch unverständlicher und extrem komplizierter Steuerrechtsnormen ließe sich fortsetzen. Betroffen sind hiervon nicht nur das Einkommen- und Körperschaftsteuergesetz sowie das Erbschaftsteuergesetz, sondern insbesondere auch das Umsatzsteuergesetz.
3.5
Zielkonflikte
Aus den unterschiedlichen Grundwertungen können unterschiedliche Ziele abgeleitet werden, die entweder der Gesetzgeber verfolgt oder von denen bestimmte Personen oder Personengruppen meinen, dass sie der Gesetzgeber verfolgen sollte. Die einzelnen Ziele können miteinander vereinbar sein, es können sich aber auch Zielkonflikte ergeben. Letzteres dürfte sogar sehr häufig der Fall sein. Ein möglicher Zielkonflikt ergibt sich aus den Ausführungen zu Gliederungspunkt 3.3. Er betrifft einen möglichen Zielkonflikt zwischen der Verfolgung des Ziels der Allokationseffizienz und der Verfolgung eines oder mehrerer nicht ökonomischer Ziele. So kann eine Verfolgung des Ziels der (kurzfristigen) Allokationseffizienz im Konflikt stehen zu dem Ziel einer Wahrung des sozialen Friedens innerhalb der Gesellschaft. Ein weiterer Zielkonflikt ergibt sich häufig aus dem Ziel einer gerechten, d. h. i. S. d. Art. 3 GG gleichmäßigen Besteuerung und dem Ziel, Arbeitsplätze zu
schaffen und zu erhalten. Letzteres Ziel hat in der Vergangenheit häufig dazu geführt, dass der Gesetzgeber (gewerbliche, freiberufliche und land- und
30
31
Vgl. Dörfler/Adrian in DB 2008, S.44 ff.; Herzig in OB 2008, S. 1 ff.; Förster/Schmidtmann in BB 2009, S. 1342 ff.; Herzig/Briesemeister in OB 2009, S. 976. Vgl. PatekJSchröder in OStZ 2009, S. 922 ff.
430
Dieter Schneeloch
forstwirtschaftliche) Arbeitgeber gegenüber anderen Steuerpflichtigen bevorzugt hat. Das vielleicht eklatanteste Beispiel aus neuerer Zeit für eine entsprechende Gesetzgebung ist die erhebliche erbschaft- bzw. schenkungsteuerliche Bevorzugung der Vererbung oder Schenkung gewerblichen, freiberuflichen sowie land- und forstwirtschaftlichen Vermögens durch § 13a ErbStG gegenüber der Vererbung bzw. Schenkung aller anderen Vermögensarten. Diese Begünstigung ist insbesondere daran geknüpft, dass der Erbe des entsprechenden Vermögens Arbeitsplätze in einem vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Mindestmaß für eine bestimmte Mindestzeit erhält32 • Häufig dürfte ein Konflikt zwischen dem Ziel einer gerechten, d. h. gleichmäßigen Besteuerung einerseits und dem Ziel einer einfachen und transparenten Steuergesetzgebung andererseits entstehen. In jüngster Zeit wird dies vor allem an den Regelungen zur sog. Abgeltungssteuer deutlich. Nach § 43 Abs. 5 EStG gilt die Einkommensteuer des Empfängers von Einkünften aus Kapitalvermögen auf diese Einkünfte mit der von dem Schuldner der Kapitalerträge nach § 43 Abs. 1 EStG einzubehaltenden und an das Finanzamt abzuführenden Kapitalertragsteuer als abgegolten. Der Kapitalertragsteuersatz beträgt nach § 43a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG grundsätzlich 25 % der Kapitalerträge. Die Regelungen zur Abgeltungssteuer sollen nach dem erklärten Willen des Gesetzgebers die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen deutlich vereinfachen», Da der Gesetzgeber in einer Reihe von Fällen die Anwendung eines Steuersatzes von 25 % im Ergebnis als nicht gerecht(-fertigt) ansieht, hat er für diese Fälle Sonderregelungen geschaffen. Er schreibt deshalb in einigen Fällen die Einbeziehung von Kapitalerträgen - trotz einbehaltener Kapitalertragsteuer in die Einkommensteuerveranlagung des Empfängers der Kapitalerträge vor. In anderen Fällen räumt er dem Steuerpflichtigen das Recht ein, Einkünfte, die
der Kapitalertragsteuer unterlegen haben, freiwillig in die Veranlagung einzubeziehen. Er schafft damit aus Gründen der Steuergerechtigkeit Ausnahmen von dem Grundsatz, dass mit der Erhebung von Kapitalertragsteuer die Ein32
Näheres hinsichtlich der Wirkungsweise des § 13a ErbStG s. z. B. bei RoselWatrin, 2009.
33
Vgl. BR-Drucks. 220/07 v. 30.03.2007, S. 61.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
431
kommensteuer auf die zugrunde liegenden Einkünfte abgegolten sein soll Durch diese Ausnahmeregelungen wird die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen, die mit der Einführung der Abgeltungsregelung des § 43 Abs. 5 EStG erheblich vereinfacht werden sollte, tatsächlich in hohem Maße erschwert. Die Regelungen sind derart kompliziert, dass seit einiger Zeit bundesweit Tagesseminare angeboten werden, die nur der Erläuterung dieser Vorschriften dienen. Diese Seminare richten sich keinesfalls an Kapitalanleger, sondern an deren Steuerberater sowie an Steuerexperten der Banken. Für "normale" Kapitalanleger kann der Inhalt dieser Seminare nur völlig unverständlich sein. Für die Kompliziertheit der Regelungen spricht auch, dass das BMF-Schreiben zur Anwendung der neuen Vorschriften zur Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen 105 Seiten umfasst34. Die Neuregelung der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen zum 1.1.2009 ist ein Paradebeispiel für den Fall, dass der Gesetzgeber mit einer Gesetzesänderung eine Vereinfachung der Besteuerung bezweckt, aus Gründen der Steuergerechtigkeit tatsächlich aber eine deutliche Verkomplizierung des Steuerrechts schafft.
3.6
Stellungnahme zu Zielen und Zielkonflikten
Die bisherigen Ausführungen lassen erkennen, dass es ein allgemein anerkanntes System von Grundwertungen und daraus abgeleiteten gesetzgeberisehen Zielen nicht gibt und vermutlich auch niemals geben wird. Jede konkrete gesetzgeberische Maßnahme wird deshalb Zielkompromisse beinhalten, die die Interessen und die politische Stärke und Geschicklichkeit verschiedener Personen und Personengruppen widerspiegeln. Soweit die Gesetzgebung und damit auch die Steuergesetzgebung - wissenschaftlich begleitet wird, ist es deshalb aus Gründen der wissenschaftlichen Redlichkeit zwingend geboten, dass der einzelne Wissenschaftler die Grundwertungen, von denen er bei seinen Ausführungen ausgeht, offenlegt. Bei Zielkonflikten sollte er diese sowie die von ihm vorgenommene Gewichtung der Ziele kenntlich machen. Un-
34
Vgl. BMF-Schreiben IV C 1- S 2252/08/10004 v. 22.12.2009, BStB12010 I, S. 94 ff.
432
Dieter Schneeloch
bedingt erforderlich ist auch, dass der Wissenschaftler offenlegt, ob er von eigenen Grundwertungen und daraus abgeleiteten Zielen oder ob er von Zielen Dritter ausgeht. Als Dritter ist in diesem Zusammenhang (selbstverständlich) auch der Gesetzgeber anzusehen. Geht der Wissenschaftler von dessen Zielen aus, so muss er sorgfältig begründen, weshalb er meint, dass dieser die von ihm behaupteten Ziele verfolge. Eine intersubjektive Überprüfbarkeit der Ausführungen ist in diesen Fällen - wie stets in derWissenschaft - oberstes Gebot. Aus meiner eigenen Sicht wird in der Gesetzgebung dem vom Gesetzgeber immer wieder beschworenen Ziel der Verabschiedung einfacher und verständlicher Gesetze viel zu geringe Bedeutung beigemessen. Das gilt auch für die die Gesetzgebung begleitende wissenschaftliche Diskussion. Inzwischen haben die Zahl schwer verständlicher, teilweise auch unverständlicher Steuerrechtsnormen sowie die Komplexität des Steuerrechts ein unerträgliches Ausmaß angenommen. Frustration aller Beteiligten sowie eine erdrückende Zahl von außergerichtlichen und gerichtlichen Verfahren sind die Folge. Der Hauptgrund für diese Fehlentwicklung liegt darin, dass sowohl der Gesetzgeber als auch die meisten Fachwissenschaftier dem Grundsatz der Einfachheit und Transparenz des Steuerrechts im Vergleich zu den übrigen Grundsätzen eine nachrangige Bedeutung beimessen», Hier ist eine Änderung der Einstellung der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten dringend geboten. Der Gesetzgeber sollte überlegen, den Grundsatz der Einfachheit und Transparenz des Steuerrechts aus seinem Zielekatalog herauszunehmen und ihn als (strikte) Nebenbedingung beachten. Er müsste dann Kriterien entwickeln, die es ermöglichen, die Grenzen der noch tolerierbaren Komplexität und Intransparenz im Einzelfall zu bestimmen. Bei der Suche nach derartigen Kriterien sollten Fachwissenschaftler beratend zur Seite stehen. Wünschenswert wäre es, wenn die Wissenschaftler sich in stärkerem Maße als bisher des Problems annehmen und eine breitangelegte wissenschaftliche Diskussion führen würden. 35
So werden Einfachheit und Transparenz einer Steuerrechtsnorm nie in der einschlägigen Gesetzesbegründung an erster Stelle genannt. VgL z. B. BT-Drucks. 14/23 v. 9.11.1998;BTDrucks. 14/2683 v. 15.2.2000; BR-Drucks. 220/07 v. 30.03.2007; BT-Drucks. 16/7918 v. 28.01.2008; BT-Drucks. 17/15 v. 09.11.2009.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
4.
433
Verhältnis der normativen Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre zur Finanzwissenschaft und zum Steuerrecht
4.1
Einführung
Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, Finanzwissenschaft und Steuerrecht haben einen gemeinsamen Forschungsbereich: die kritische Auseinandersetzung mit den Normen des Steuerrechts, sei es mit den Normen des Steuerrechts in toto, sei es mit einzelnen dieser Normen. Hierbei kann es sich sowohl um Untersuchungen de lege lata als auch um Untersuchungen de lege ferenda handeln. Die Fragestellungen im Einzelnen sowie die Methoden des Herangehens an die Fragestellungen können aber erheblich voneinander abweichen. Nachfolgend soll in knapper Form auf das Verhältnis der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre zu den beiden anderen Steuerwissenschaften eingegangen werden, und zwar zunächst auf das Verhältnis zur Finanzwissenschaft und anschließend auf das zum Steuerrecht.
4.2
Verhältnis zur Finanzwissenschaft
Bekanntlich wird in der Volkswirtschaftslehre zwischen rein makroökonomischen Untersuchungen und Untersuchungen mit mikroökonomischer Fundierung unterschieden", Dies gilt auch für die Finanzwissenschaft als Teildisziplin der Volkswirtschaftslehre'", Nach ihrem Selbstverständnis beschäftigt sich die Betriebswirtschaftslehre mit wissenschaftlichen Problemen aus einzelwirtschaftlicher Sicht38 • Dies gilt auch für die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre - und damit auch für ihren normativen Bereich. Nach der in der Volkswirtschaftslehre üblichen Terminologie handelt es sich also um mikroökonomische Untersuchungen. Selbstverständlich bleibt es dem einzelnen Fachwissenschaftler der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre unbenommen, aus seinen mikroökonomischen Ansätzen makro-
36
Vgl. Bartling/Luzius, 2008, S. 7; Edling, 2010, S. 2.
37
Vgl. Edling, 2010, S. 3.
38
Vgl. Wähe, 2008,S. 2 H.; Weber/Kabst, 2009, S. 6 H.
434
Dieter Schneeloch
ökonomische Schlüsse zu ziehen. Macht er dies, so befindet er sich im Kernbereich dessen, womit sich auch die mikroökonomisch fundierte Finanzwissenschaft beschäftigt. Betriebswirtschaftliche Steuerlehre und Finanzwissenschaft haben dann insoweit denselben Forschungsgegenstand. Volkswirte gehen in ihren quantitativen mikroökonomischen Analysen üblicherweise davon aus, dass die einzelnen Wirtschaftssubjekte das Ziel einer Gewinnmaximierung verfolgen. Diese modelltheoretische Grundannahme wird in der entscheidungsorientierten Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre der letzten Jahrzehnte vermutlich einhellig abgelehnt. Stattdessen gehen ihre Fachvertreter üblicherweise von der Zielvorstellung der Endvermögensmaximierung aus. Hieraus abgeleitet wenden sie dann je nach Problemstellung Kapital- oder Endwertmodelle oder auch aus diesen abgeleitete vereinfachende Modelle an 39 • Entscheidend für den hier betrachteten Zusammenhang ist, dass in diesen modellmäßigen Ansätzen Zinseffekte berücksichtigt werderr'", Es handelt sich also um dynamische Modelle, die die Zeitpräferenz der Wirtschaftssubjekte berücksichtigen. Demgegenüber kann die Anwendung des Kriteriums der Gewinnmaximierung als statische Betrachtungsweise angesehenwerden. Die unterschiedliche Vorgehensweise kann weitreichende Konsequenzen haben. In besonders eklatanter Weise weichen die Ergebnisse der unterschiedlichen modelltheoretischen Ansätze bei der Frage voneinander ab, ob eine Senkung der Ertragsteuersätze (Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuersätze) Investitionsanreize und damit Arbeitsplätze schafft. Mit der Begründung der Schaffung von Arbeitsplätzen sind während der letzten drei Jahrzehnte in vielen Ländern die Körperschaftsteuersätze gesenkt worden, in der Bundesrepublik Deutschland von 56 % - in mehreren Schritten - auf nunmehr 15 %41. Wird bei der modelltheoretischen Analyse von der Zielsetzung der Gewinnmaximierung der Unternehmer ausgegangen, so ist die Beantwortung der 39
Vertiefend hierzu s. Schneeloch. 2009, S. 67 ff. Vgl. auch die dort aufgeführte Literatur.
40
Vgl. Haberstock/Breithecker, 2010, S. 122.
41
Näheres hierzu s. bei Schneeloch. 2009, S. 10 ff.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
435
aufgeworfenen Frage einfach. Mit einer Senkung des (Körperschaft-)Steuersatzes erhöht sich der Gewinn aller Unternehmen. Damit kann für sie ein Anreiz bestehen, ihre Investitionen zu erhöhen und somit zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Wird bei der modelltheoretischen Analyse hingegen von dem Kapitalwertkriterium ausgegangen, so ergeben sich differenziertere Ergebnisse. Nunmehr wirkt die Senkung des Steuersatzes auf zweierlei Weise. Zum einen bewirkt eine Senkung des Steuersatzes eine nachhaltige Senkung der Auszahlungen in der Auszahlungsreihe. Hierdurch erhöhen sich zweifellos die Kapitalwerte aller Realinvestitionen. Gleichzeitig bewirkt eine Senkung des Steuersatzes aber auch eine Erhöhung des Nettokalkulationszinssatzes, d. h. eine Erhöhung des Kalkulationszinssatzes nach Steuern. Zumindest bei sog. Normalinvestitionen wird hierdurch eine Verringerung des Kapitalwerts bewirkt. Damit ergeben sich infolge einer Steuersatzsenkung zwei gegenläufige Effekte: Eine Erhöhung des Kapitalwerts durch eine Verringerung der Auszahlungen in der Auszahlungsreihe einerseits und eine Verringerung des Kapitalwerts durch eine stärkere Abzinsung der nach der Investition zu erwartenden Überschüsse der Einzahlungen über die Auszahlungen andererseits. Hierbei ist der erste Effekt keinesfalls stets größer als der zweite. Vielmehr können die gegenläufigen Effekte im Einzelfall sowohl zu einer Erhöhung als auch zu einer Verminderung des Kapitalwerts führen. Es lässt sich zeigen, dass es je nach der Datenkonstellation (Höhe und Verlauf der Zahlungsüberschüsse der Perioden, voraussichtliche Nutzungsdauer, Abschreibungsmethode, Art und Höhe des Kalkulationssatzes) unterschiedliche optimale Steuersätze gibt. Diese können positiv und von Null verschieden sein; sie können durchaus 50 %, 60 % oder sogar noch mehr betragenv, Damit ist - unter Zugrundelegung des Kapitalwertkriteriums - nachgewiesen, dass eine Senkung des (Körperschaft)Steuersatzes keinesfalls zwangsläufig Investitionsanreize schafft. Diese Erkenntnis wird nicht ausschließlich von Betriebswirten vertreten. Vielmehr gibt es durchaus vereinzelt auch Volkswirte, die sich des Instrumentariums des
42
Im Einzelnen s. [apes, 2010, S. 145 f., S. 163 f. u. S. 173 f.
436
Dieter Schneeloch
Kapitalwerts bedienen und dann - selbstverständlich - zu den gleichen Ergebnissen kommen wie Betriebswirtes', Zusammenfassend kann also festgestellt werden, dass es zur Analyse von Steuerwirkungen als Grundlage für normative Aussagen zum Steuerrecht zwei unterschiedliche Modellansätze gibt. Beide werden sowohl von Vertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre als auch der Finanzwissenschaft angewendet. Der eine Ansatz findet sich ganz überwiegend im betriebswirtschaftlichen, der andere überwiegend im volkswirtschaftlichen Schrifttum. Streng genommen besteht demnach kein Unterschied zwischen betriebs- und volkswirtschaftlichem Ansatz, vielmehr innerhalb der beiden Disziplinen jeweils zwischen den Wissenschaftlern, die von der Zielsetzung der Gewinnmaximierung ausgehen und denjenigen, die das Kapital- oder Endwertmodell als technisches Hilfsmittel der Analyse anwenden.
4.3
Verhältnis zum Steuerrecht
Im letzten Gliederungspunkt ist herausgearbeitet worden, dass sowohl die normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre als auch die Finanzwissenschaft auf Steuerwirkungsanalysen, auf ökonomischen Analysen also, beruhen. Völlig anders wird in der Steuerrechtswissenschaft verfahren. Bei ihr geht es um die Kritik und Formulierung von Steuerrechtsnormen - de lege lata oder auch de lege ferenda - aus rechtlicher Sicht. Zu beantworten ist etwa die Frage, ob eine bestehende oder geplante Rechtsnorm in Übereinstimmung mit höherrangigem Recht steht. Als höherrangig kommen insbesondere Normen des Verfassungs- oder auch des EU-Rechts in Betracht. Ferner kann es um die Auslegung einer konkreten Rechtsnorm mit Hilfe der in der Rechtswissenschaft allgemein anerkannten Auslegungsmethoden gehen44 • Diese kurzen Ausführungen lassen bereits erkennen, dass die Fragestellungen des Steuerrechts von denen der normativen Betriebswirtschaftlichen Steuer-
43
Vgl. Cansier,2004, S. 100.
.. Hinsichtlich der im deutschsprachigen Raum seit Jahrzehnten herrschenden Methodenlehre sei auf Larenz, 1991 verwiesen.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
437
lehre (und auch der Finanzwissenschaft) deutlich verschieden sind. Soweit für steuerrechtliche Erörterungen die Kenntnis von Steuerwirkungsanalysen erforderlich ist, müssen diese dem Steuerrechtler bekannt sein. Hierzu muss er sich - wenn er seine Ausführungen seriös formulieren will - der Methoden und Erkenntnisse der betriebswirtschaftlichen Steuerwirkungsanalysen bedienen. Insoweit steht also die Steuerwirkungsanalyse zum Steuerrecht im Verhältnis einer (zwingend notwendigen) Hilfswissenschaft. Das Verhältnis ist etwa das gleiche wie das der Physik zur Mathematik: Aus Sicht der Physik ist die Mathematik eine unentbehrliche Hilfswissenschaft. Im Steuerrecht werden vielfach aus der Betriebswirtschaftslehre stammende Begriffe verwendet. Soweit sie im Gesetz nicht von der betriebswirtschaftlichen Terminologie abweichend definiert werden, ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber den Begriff in dem in der Betriebswirtschaftslehre üblichen Sinne verwenden will. Ist dies der Fall, so ist der Begriffsinhalt dem betriebswirtschaftliehen Schrifttum zu entnehmen. Auch insoweit stellt also die Betriebswirtschaftslehre eine Hilfswissenschaft des Steuerrechts dar. Ein typisches Beispiel für die Ableitung rechtlicher Begriffsinhalte aus der Betriebswirtschaftslehre ergibt sich aus § 255 HGB. Dort wird u. a. der Begriff der Gemeinkosten verwendet. Da er an keiner Stelle definiert wird, ist der Begriffsinhalt dem betriebswirtschaftlichen Schrifttum zu entnehmen.
5.
Zur Verantwortung des Steuerwissenschaftlers
5.1
Einführung
Steuerwissenschaftler sind zu einem großen Teil Hochschullehrer. Als solche tragen sie - wie alle Hochschullehrer - eine große Verantwortung für Forschung und Lehre in ihrem Fach. Außerdem haben sie aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung in der Gesellschaft und des großen Vertrauens, das sie in der Bevölkerung genießen, eine große Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Nachfolgend soll in knapper Form auf die drei genannten Arten der Verantwortung näher eingegangen werden.
438
5.2
Dieter Schneeloch
Verantwortung in der Forschung
Die Verantwortung des Steuerwissenschaftlers in der Forschung unterscheidet sich in ihrem Kern nicht von der eines jeden Wissenschaftlers einer anderen Fachrichtung. Der Forscher hat also dafür Sorge zu tragen, dass •
seine Forschung unparteilich erfolgt,
•
Forschungsansatz und -methoden klar herausgearbeitet werden und die Ergebnisse intersubjektiv überprüfbar sind,
•
sofern den Ausführungen Wertungen zugrunde liegen, diese klar herausgearbeitet werderr",
Wie allgemein bekannt, ist die staatliche Steuerpolitik stets heftig umstritten. Politische Glaubensgrundsätze spielen in dieser Diskussion eine große Rolle. In dieser Situation ist es für den einzelnen Steuerwissenschaftler oft sehr
schwer, die für wissenschaftliche Arbeiten unabdingbare Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu wahren. Gründe für diesen Befund sind insbesondere: •
Ergebnisse seiner Forschung passen nicht in das eigene politische Weltbild des Wissenschaftlers oder in dasjenige, das die politische Partei, der er angehört oder der er nahesteht, vertritt.
•
Es besteht die Gefahr, dass sich der Wissenschaftler zu einem (evtl hoch dotierten) Gefälligkeitsgutachten hinreißen lässt.
Selbstverständlich bedeutet der Grundsatz der Unparteilichkeit nicht, dass der Wissenschaftler sich politischer einschließlich parteipolitischer Äußerungen enthalten sollte. Das Gegenteil ist der Fall46 • Zwingend geboten ist lediglich, dass er bei politischen Stellungnahmen, die er erkennbar als Wissenschaftler
45
46
Hinsichtlich der Anforderungen, die an Forschungsarbeiten zu stellen sind, siehe vertiefend "Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken" 2010 sowie die Veröffentlichung "Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis" der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) 1998. Vgl. auch die Äußerungen der Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre. An dieser Stelle kann insbesondere auf die bereits in Fußnote 8 genannten Veröffentlichungen von Bareis und Schmiel verwiesen werden. Vgl. Gliederungspunkt 5.4.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
439
und nicht als Politiker abgibt, die seinen Ausführungen zugrunde liegenden Wertungen in verständlicher Weise offenlegtv.
5.3
Verantwortung in der Lehre
Wie jeder andere Hochschullehrer auch, trägt der in den Steuerwissenschaften Lehrende eine hohe Verantwortung gegenüber "seinen" Studenten. Diese Verantwortung bezieht sich insbesondere auf •
die Vermittlung eines soliden Fachwissens sowie
•
die Anleitung zu eigenständigem und kritischem Denken.
Durch Fehlentwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte droht die Qualität der universitären Lehre zu leiden. Vielfach hat sie nach meiner eigenen Einschätzung bereits erheblich gelitten. Der vielleicht wichtigste Grund für diese Fehlentwicklung ist die z. T. ungenügende Personalausstattung der Hochschulen. Extreme Engpässe bei Seminarplätzen und bei der Annahme und Betreuung von Diplom-, Bachelor- und Masterarbeiten sind die Folge. Abhilfe durch den einzelnen Hochschullehrer ist hier nicht oder nur in geringem Maße möglich. Verantwortung kann er hier nur insoweit übernehmen, als er bei jeder sich bietenden Gelegenheit - inner- und außeruniversitär - auf die Missstände hinweist. Eine andere - wahrscheinlich genau so folgenschwere - Fehlentwicklung besteht darin, dass bei der Berufung von Universitätsprofessoren den Forschungsleistungen der Bewerber ein ungleich größeres Gewicht beigemessen wird als deren Leistungen in der Lehre. Hierbei werden die Forschungsleistungen zunehmend schlicht durch ein Zählen der Veröffentlichungen in "internationalen" und referierten Fachzeitschriften gemessen. Besonderheiten des einzelnen Faches nehmen viele Berufungskommissionen nicht wahr und wollen dies auch gar nicht. So wird häufig nicht zur Kenntnis genommen, dass die Betriebswirtschaftliche Steuerlehre auf institutionellen Rahmenbedingungen beruht, die es in dieser Form "international" überhaupt nicht gibt. Um für Be-
47
Vgl. Gliederungspunkt 3.
Dieter Schneeloch
440
rufungskommissionen überhaupt berufungsfähig zu sein, sehen sich Nachwuchswissenschaftler daher häufig gezwungen, Veröffentlichungen über Themen anzustreben, die für ihre Lehre an einer deutschsprachigen Universität unbrauchbar sind. Insgesamt dürfte sich der Druck, möglichst viel in "internationalen" Zeitschriften zu veröffentlichen, verheerend auf die Qualität der Lehre in einzelnen universitären Fächern auswirken. So erwecken viele Veröffentlichungen zur Betriebswirtschaftliche Steuerlehre währen der letzten Jahre den Eindruck mathematischer Spielereien"; Um nicht missverstanden zu werden: Mathematische Ableitungen sind in der Betriebswirtschaftliche Steuerlehre unverzichtbar. Im Vordergrund sollte aber stets die zu behandelnde steuerliche Problematik stehen und diese sollte - zumindest
i,
d. R. - einzel-
oder gesamtwirtschaftlich von Relevanz sein. Mindestens ebenso wichtig wie die Vermittlung von Fachwissen ist nach meiner eigenen Überzeugung die Anleitung der Studenten zu eigenständigem und kritischem Denken. Für die Lehre in dem Fach der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre bedeutet dies, dass es eine wichtige Aufgabe des Hochschullehrers ist, die Studenten mit dem normativen Zweig des Faches vertraut zu machen. Sinnvoll ist dies aber erst dann, wenn die Grundlagen für kritische Analysen bereits gelegt sind. Dies bedeutet, dass der Student mit den Methoden und Hilfsmitteln der Steuerwirkungsanalysen vertraut sein muss. Hilfreich sind zudem solide Kenntnisse des tatsächlichen Steuerrechts.
5.4
Verantwortung gegenüberder Allgemeinheit
Als Vertreter eines hochangesehenen und meistens im Beamtenstatus befindlichen Berufsstandes trägt jeder Hochschullehrer auch Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit. Diese besteht selbstverständlich in erster Linie darin, dafür Sorge zu tragen, dass der akademische Nachwuchs gut ausgebildet und zum kritischen Denken angeleitet wird. Darüber hinaus sollte der Wissenschaftler aber auch versuchen, sein Fachwissen - zumindest soweit es für die
4B
Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Schneider, in: Scherer/Kaufmann/Patzer (Hrsg.) 2009, S. 1 ff.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
441
Gesellschaft relevant ist - der Allgemeinheit in möglichst verständlicher Form zur Verfügung zu stellen. Für den Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre bedeutet dies vor allem, dass er versuchen sollte, sein Fachwissen in die politische Diskussion und in den politischen Entscheidungsprozess einzubringen. Dies kann durch eine aktive Mitgliedschaft in einer politischen Partei, durch deren bloße Beratung, durch die Mitwirkung in politischen Gremien als Sachverständiger oder auch durch Veröffentlichungen in der Presse sowie durch Stellungnahmen in Rundfunk und Fernsehen geschehen. Wie bereits mehrfach betont, ist es dringend geboten, dass er die seinen Ausführungen zugrunde liegenden Wertungen klar und unmissverständlich offenlegt. Weichen die Ergebnisse von Experten aufgrund unterschiedlicher Modellannahmen voneinander ab, so halte ich es im Rahmen eines politischen Entscheidungsprozesses für zwingend geboten, dass die Fachwissenschaftler die politischen Entscheidungsträger über die Annahmen aufklären. Sie sollten zumindest den ernsthaften Versuch unternehmen, den politischen Entscheidungsträgern die unterschiedlichen Modellannahmen verständlich zu machen. Dies müsste bei Parlamentariern i. d. R. möglich sein, da diese zu einem sehr großen Teil eine akademische Ausbildung erfolgreich abgeschlossen haben. Es kann deshalb i. d. R. davon ausgegangen werden, dass sie die Bedeutung unterschiedlicher Modellannahmen verstehen und in der Lage sind, sich über die Realitätsnähe bzw. -ferne dieser Annahmen ein eigenes Urteil zu bilden. Besonders wünschenswert wäre eine Aufklärung der politischen Entscheidungsträger über die Modellannahmen bei einer zu erwartenden erneuten Debatte über die Vorteile einer Steuersatzsenkung im Hinblick auf die Förderung von Investitionen. Weiter oben ist bereits herausgearbeitet worden, dass die Ergebnisse einer modellhaften Vorteilhaftigkeitsanalyse einer Steuersatzsenkung in hohem Maße von dem der Untersuchung zugrunde gelegten Entscheidungsmodell abhängen", Wird von der Verfolgung des Ziels einer Gewinnmaximierung durch die Unternehmer ausgegangen, so erhöht sich zweifellos die Vorteilhaftigkeit der Investitionen. Bei dieser Betrachtungsweise sind 4. Vgl. Gliederungspunkt 4.2.
442
Dieter Schneeloch
Zinseffekte nicht berücksichtigt. Diese spielen aber in der Realität eine erhebliche Rolle. Werden sie mit in die Untersuchung einbezogen, so ist es - wie weiter oben dargestellt - keinesfalls sicher, dass durch eine Steuersatzsenkung die Vorteilhaftigkeit einer Investition steigt. Es ist noch nicht einmal sicher, dass dies wenigstens in der großen Mehrzahl der Investitionen der Fall ist 50 • Verknüpft der Gesetzgeber eine Steuersatzsenkung mit einer Verschlechterung der Abschreibungsmodalitäten, so ist sogar zu vermuten, dass die Kombination dieser Maßnahmen im Ergebnis zu einer Verringerung der Vorteilhaftigkeit von Investitionen auf breiter Front führt. Ganz offensichtlich sind dem Gesetzgeber diese Zusammenhänge nicht klar, sonst hätte er in der Vergangenheit kaum wiederholt Steuersatzsenkungen mit einer Verschlechterung der Abschreibungsmodalitäten verknüpft. Erklärtes Ziel des Gesetzgebers war es in diesen Fällen stets, potentiellen Investoren Investitionsanreize zu verschaffen. Vermutlich hat der Gesetzgeber seine Entscheidungen intuitiv getroffen, allenfalls hatten die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Personen die Zielsetzung der Gewinnmaximierung vor Augen. Bei künftigen Diskussionen über die Höhe des (Körperschaft-)Steuersatzes halte ich es deshalb für eine außerordentlich wichtige Aufgabe der Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre, den Gesetzgeber auf die Unzulänglichkeit seiner Vorgehensweise hinzuweisen und ihn vor gesetzgeberisehen Fehlmaßnahmen zu warnen. Die hier skizzierten Zusammenhänge lassen es aus Sicht des Gemeinwohls als notwendig erscheinen, dass das Steuergesetzgebungsverfahren durch Steuerwirkungsanalysen der Fachwissenschaftler begleitet wird, und zwar von Vertretern der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre. Dies ist in der Vergangenheit häufig nicht oder nur in unzureichendem Maße geschehen. Zwar werden Referentenentwürfe und Gesetzesentwürfe zu Steuergesetzen regelmäßig im Schrifttum kritisch gewürdigt. Doch erfolgt die Kritik i. d. R. allein aus einem typisch juristischen Blickwinkel, etwa aus rechtsdogmatischer Sicht oder unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsmäßigkeit der geplanten Gesetzesänderung. Eine Analyse der einzelwirtschaftlichen Steuerwirkungen, verbunden 50
Vgl. Gliederungspunkt 4.2.
Normative Betriebswirtschaftliche Steuerlehre
443
mit einer Stellungnahme zu dem zu erwartenden Verhalten der Steuersubjekte, deren rationales Verhalten vorausgesetzt, erfolgt hingegen vergleichsweise selten. Dies gilt sowohl hinsichtlich der einschlägigen Veröffentlichungen als auch der Stellungnahmen in den parlamentarischen Beratungen. Nach meiner eigenen Einschätzung haben Vertreter des Faches z. Z. allenfalls einen geringen Einfluss auf die Steuergesetzgebung. Wie gering dieser ist, ist schlagartig bei der Diskussion und der Entscheidung über die Abschaffung des körperschaftsteuerliehen Anrechnungsverfahrens klar geworden. Soweit ersichtlich, ist kein Vertreter der Fachrichtung zu Rate gezogen worden; vor der Abschaffung des Anrechnungsverfahrens ist von den Fachvertretern so gut wie einhellig in einer gemeinsamen und veröffentlichten Stellungnahme eindringlich gewarnt worden'", Der Hauptgrund für den geringen Einfluss, den die Fachvertreter der Betriebswirtschaftlichen Steuerlehre auf die steuerliche Gesetzgebung haben, dürfte in Berührungsängsten zwischen Politikern und Fachwissenschaftlern liegen. Insbesondere dürfte die geringe Bereitschaft der meisten Wissenschaftler, sich politisch zu engagieren oder zumindest der Politik beratend zur Seite zu stehen, eine Rolle spielen. Es bleibt nur die Hoffnung, dass möglichst viele Fachkollegen in Zukunft ihre Berührungsängste überwinden.
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51
Vgl. Siegel/Bareis/Herzig et al. in BB 2000, S. 1269 H. mit Zustimmung von 72 Fachkollegen; vgl. auch Schneeloch/Trockels-Brand in DStR 2000, S. 907 H.
Dieter Schneeloch
444
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Über den Autor:
Prof. Dr. Dieter Schneeloch •
SS 1964 - 55 1968 Studium der Betriebswirtschaftslehre an der FU Berlin mit Abschluss zum Dipl.-Kfrn., während der Semesterferien Arbeit am Finanzamt Solingen-Ost
•
55 1968 - SS 1971 Doktorand an der FU Berlin bei Prof. Dr. Langen, Abschluss des Promotionsverfahrens mit "summa cum laude". Titel der Dissertation: "Besteuerung und Investitionsfinanzierung"
•
1968 - 1971 Angestellter bei der "ATH - Allgemeine TreuhandGesellschaft", als deren Berliner Steuerabteilung und als Prüfer
•
1971 Ablegung des Steuerberaterexamens und Niederlassung als selbständiger Steuer-berater in Berlin
•
1971-1977 Habilitant an der FU Berlin, zugleich Assistenzprofessor und zum Schluss Privat-dozent; Verleihung der venia legendi. Thema der Habil-Schrift: "Steuerbelas-tungs-vergleiche. Einzelwirtschaftliche Analysen ausgewählter Steuergestaltungs-möglichkeiten im Einpersonenund im Ehegattenfall", Betreuer: Prof. Dr. Bareis
•
1973 -1988 Prüfer im Steuerberaterexamen in Berlin
•
1975 -1979 Mitglied des Vorstands der Steuerberaterkammer Berlin
•
1978 - 2010 Ordentlicher Professor bzw. Universitätsprofessor an der FernUniversität in Hagen, Leiter des Lehrstuhls "Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Steuer- und Prüfungswesen"
•
1991 Ablehnung eines Rufs an die Universität Göttingen
Der Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel zwischen Disposition und Controlling Günter FandeI und Jan Trockel
1.
Einleitung
Bereits seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass die Akteure des marktwirtschaftliehen Wirtschaftssystems weltweit mit Vertrauensverlust zu kämpfen haben. Zahlreiche Umfragen sowohl unter Wirtschaftsfachleuten als auch bei anderen gesellschaftlichen Gruppierungen zeigen eindeutig, dass das Vertrauen in die Überlegenheit dieses Wirtschaftssystems gegenüber autoritären Systemen geringer geworden ist. Im Mittelpunkt der Erörterungen steht dabei oft das heutige Erscheinungsbild des Kaufmanns und die Frage, inwieweit dieses noch dem des ehrbaren Kaufmanns entspricht, dessen Wort und Handschlag gelten. Diese Betrachtungen lassen sich jedoch auf alle Akteure eines Unternehmens übertragen, wenn man Überlegungen anstellt, wie Ethik als Basis für betriebswirtschaftliche Aktionen positiv genutzt werden kann und mitunter sogar zu Wettbewerbsvorteilen führt. Ethik bedeutet im Hinblick auf die Beurteilung menschlichen Handelns die Wissenschaft von moralischem Handeln. Dabei bezieht sich der Begriff "Moral" auf Konventionen. Ethik ist folgerichtig die Reflexion darauf, ob diese Konventionen auch tatsächlich vertretbar und somit gut und richtig sindl, Eine Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass die Akteure eine Möglichkeit besitzen zu handeln und auch die Absicht aufweisen, korrekt zu handeln. Somit impliziert Ethik Fragen der Moralbegründung und -kritik-,
1
VgL Weibler (2001), S. 406.
2
VgL Amold (2009), S. 253.
T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_17, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
452
Günter Fandel/jan Trockel
Erweitert man den Begriff der Ethik auf die normative Ethik, so wird deutlich, dass man moralische Normen definieren muss, die als Leitfaden für verantwortungsvolles Handeln dienen sollen. Unter die normative Ethik fällt auch die formale Ethik, die inhaltlich auf Verhaltens- und Entscheidungsregeln abzielt, anhand derer die Akteure jeweils die korrekten Handlungsalternativen ableiten'. Als moralisch richtig gelten diese dann, wenn sie gegenüber Dritten zu rechtfertigen sind-, Die allgemeine Ethik stellt also die theoretische Basis für die Unternehmenstheorie dar" und ist somit eine entscheidende und unverzichtbare Grundlage für das unternehmerische Handeln", Die Ethik steht dabei aber nicht über der Betriebswirtschaft, sondern sie stellt eine Hilfestellung dar, das Handeln von Unternehmen aus einem anderen Blickwinkel zu
sehen", Grundlage jeden Handelns in Unternehmen sind Verträge, die zwischen Eigentümern und Unternehmensleitung bzw. zwischen der Unternehmensleitung und Mitarbeitern geschlossen worden sind. Da nicht alle Verträge vollständig spezifiziert sein können, herrscht ein gewisses Maß an Informationsdefizit, was wiederum Misstrauen oder"Treu und Glauben" induziert, da gewisse Spielräume ausgenutzt werden könnten", Vertrauen bildet eine wichtige Einflussgröße des Nicht-Ausnutzens der Informationsasymmetrie. Generell ist Vertrauen ein Beziehungsphänomen zwischen den Akteuren. Die Interaktion zwischen diesen ist folglich der Ausgangspunkt für die Definition von Vertrauen", Die Vertrauensbereitschaft stellt auf die Einstellung eines Akteurs gegenüber einem anderen Akteur ab. Vertrauenswürdigkeit hingegen ist als Eigenschaft anzusehen, die einem anderen Akteur zugesprochen wird. Vertrau-
3
Vgl. Weibler (2001), S. 407.
4
Vgl. Weibler/Lucht (2004), S. 884ff.
5
Vgl. Albach (2007), S. 11.
6
Vgl. Rosenberger/Koller (2009), S. 25.
7
Vgl. Rosenberger/Koller (2009), S. 30f.
8
In Anlehnung an Laux (2006), S. 197ff., und Güth/Kliemt (2007), S. 32.
9
Vgl. Eber! (2004), Sp. 1596f.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
453
en ist dann eine besondere Qualität an Beziehung zwischen zwei Akteuren, die nicht alltäglich, sondern sehr exklusiv vergeben wird'", Vertrauen baut sich nur in langfristigen Beziehungen auf. Güth/Kliemt (2007) verbinden in ihren Ausführungen dabei Vertrauen mit rationaler Zusammenarbeit. Vertrauen eines Akteurs zu einem anderen Akteur bezieht sich auf diejenigen Situationen in Unternehmen, in denen der Akteur gefahrlos von einer Strategie abweichen könnte. Hier führte der Verzicht der Ausnutzung von kurzfristigen Vorteilen gegenüber den langfristig generierten Payoffs zu einem der Kooperation ähnlichen Verhalten und demzufolge zur Bildung von Vertrauen", Vertrauen zwischen Akteuren kommt gerade in solchen Situationen zum Tragen, die durch ein hohes Maß an Unsicherheit über das Verhalten des anderen Akteurs gekennzeichnet sind'", Wirklich vertrauenswürdige Akteure zeichnen sich dadurch aus, wie Güth/Kliemt (2007)beschreiben, dass die "goldene Gelegenheit" des Ausbeutens nicht wahrgenommen wird. Die Wahrscheinlichkeit für ein derartiges Verhalten hängt dabei von der Häufigkeit des miteinander Agierens ab 13• Spieltheoretisch kann diese Vertrauensbildung sehr einfach abgebildet werden. Anhand der Darstellung eines wiederholten Spiels, das den Konflikt zwischen der Disposition und dem Controlling beschreibt, wird im Folgenden aufgezeigt, welchen Einfluss hier Vertrauen als ethischer Aspekt auf die generierte Lösung aufweist. Die Analyse zeigt, dass durch dauerhaftes Vertrauen die Auszahlungen der Akteure die Auszahlungen ohne Vertrauen dominieren, zudem aber auch durch eine höhere Wahrscheinlichkeit optimaler Entscheidungen die Gefahr gemindert werden kann, dass höhere, vermeidbare Kosten für die Unternehmensleitung entstehen.
10
Vgl. Eber! (2004), Sp. 1598.
11
Vgl. Güth/Kliemt (2007), S. 32.
12
Vgl. Eber! (2004), Sp. 1597f.
13
Vgl. Deutsch/Kotik (1978), S. 32.
454
Günter FandellJan Trockel
2.
Vertrauen in einem Inspektionsspiel
2.1
Der klassische Disponenten-Controller-Konflikt ohne Vertrauen
Fandel/Trockel (2009) untersuchen spieltheoretisch einen Konflikt zwischen Disposition und Controlling. Grundlage hierfür bilden die Überlegungen von Dresher (1962), Borch (1982), Avenhaus et al. (1996), Biermann (2006) und Avenhaus/Canty (2009) zum Inspektionsspiel. Das sogenannte Inspection Game wird durch folgende Eigenschaften charakterisiert: Nicht-kooperatives Zwei-Personen-Spiel mit imperfekter Information ohne Nash-Gleichgewicht in reinen Strategien und mit simultanen Spielzügen's, Inspektionsspiele beschreiben dabei zumeist vertikale Konfliktsituationen zwischen mindestens zwei Akteuren, die vertragliche Verpflichtungen miteinander eingegangen sind>. Eine weitere Instanz wird damit beauftragt, anhand von vertraglich festgelegten Überwachungsmaßnahmen die Einhaltung der Bedingungen zu prüfen>, Allerdings können aufgrund persönlicher Interessen Anreize für den Kontrollierten bestehen, von diesen vereinbarten Regelungen bzw. Bedingungen abzuweichen. Das primäre Ziel des Inspizierten ist es dann, dass die gegen den Vertrag verstoßende Aktion nicht auffällt, damit dadurch ein Vorteil entsteht. Der Inspektor-? hat die Möglichkeit, dem Inspizierten zu vertrauen oder ihn zu prüfen. Dabei richtet sich sein Fokus auf die Einhaltung des Vertrages und auf die Reduktion der Gefahr, dass sich der Inspizierte einen Vorteil verschaffen will. Die Nichteinhaltung der Regeln versucht der Inspektor sicher und schnell aufzudecken", Das Ziel beim Lösen dieser Konfliktsituation ist es, eine optimale Inspektionsstrategie zu definieren, die
,. Vgl. Fudenberg/Tirole (2008), S. 17. Weitere Modifikationen dieses Spiels gehen dahin, dass eine sequentielle Struktur betrachtet wird. Vgl. hierzu die Ausführungen von Rinderle (1996) und Wölling (2002). 15
Vgl. Abel (1997),S. 1.
16
Vgl. Wölling (2002),S. 6.
17
Der Inspektor kann die beauftragte Behörde sein, aber auch die Organisationseinheit, die keine Aufgaben delegiert, sondern die Problematik selbst untersucht.
18
Vgl. Rinderle (1996),S. 1.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
455
legales Verhalten als optimale Entscheidung für den Inspizierten zur Folge
hat'", Das
nachfolgend
betrachtete
Spiel
setzt
sich
aus
dem
Tupel
r=(N.(St)iEN,(ll"d iEN) zusammen. Dabei bezeichnen N={1,2, ...,n} die Menge
der Spieler, Si die Menge der möglichen Strategien für Spieler und
1ft
i, i
E
{I, ..., n},
die Auszahlungsfunktion für Spieler i .
Bevor auf die relevanten Parameter SI und
1ft
eingegangen werden kann,
werden die Aktionen der Spieler erläutert. In diesem nicht-kooperativen 2Personen-Spiel (n = 2) interagiert ein Disponent aus der Beschaffung mit einem Controller, wobei es keine bindenden Verträge zwischen beiden gibt, dem Unternehmen aber durch fehlerhafte Bestellmengen, die beim Controlling nicht auffallen, hohe Kosten entstehen können. In dem Zwei-Personen-Konflikt stehen dem jeweiligen Akteur genau 2 Aktionen zur Verfügung. Anhand dieser Aktionen können nach Berechnung des gleichgewichtigen Zustands die jeweiligen Strategien der Spieler formuliert werden. Reine Strategien bzw. Aktionen sind hierbei für den Inspizierten (Disponenten), dass er • die Bestellmenge methodisch korrekt bestimmt-'' (m) oder • die Bestellmenge ohne Anwendung analytischer Modelle bestimmt und nicht-methodisch vorgeht (nm)".
19
Ziel des Inspektionsspiels ist es folglich, eine Optimierung von Kontroll- und Überwachungsstrategien zu generieren. Vg1. hierzu Piehlrneier (1996), S. 159 -172.
20
Varian (1990) erläutert in diesem Zusammenhang, dass eine hohe Leistungsfähigkeit einen effizienten Output mit sich bringt. Dies kann auf diesen Konflikt dahingehend übertragen werden, dass eine analytische Berechnung eine hohe Leistung nach sich zieht. Vg1. Varian (1990), 5.162 -163.
21
Hier wird in Anlehnung an Fellingham/Newrnan (1980) argumentiert. Viele dieser Modelle zu Inspektionen teilen die Aktionen des Inspizierten in legal und illegal ein. Vg1. hierzu u.a. Dresher (1962), Klages (1968), Thomas/Nisgav (1976), Borch (1982), Ewert (1993, 2004), Avenhaus et a1. (1996), Andreozzi (2004), Biermann (2006), Friehe (2008) oder Ohta (2008). Mehr als zwei Aktionen diskutiert u.a. Anderson/Young (1988). Dort werden dem Inspizierten drei Möglichkeiten zur Wahl der Aktion gegeben. Avenhaus (1997) diskutiert in seiner Erweiterung des Inspection Game dabei das Problem, dass der Inspizierte unabsichtlich illegal gehandelt haben könnte. Auch Holler/Nguyen (2007) modellieren in ih-
Günter Fandel/jan Trockel
456
Der Inspektor (Controller) hat die Möglichkeit, den Disponenten mit einem • hohen Prüfniveau zu kontrollieren und einen genauen Bericht zu verfassen (h) oder mit • geringem Prüfniveau den Soll-Ist-Vergleich und die Analyse der Bestellmengenplanung durchzuführen und möglicherweise einen inkorrekten Bericht zu verfassen (nh)22. Sofern der Controller nicht selbst noch einer Kontrolle unterliegt, besteht die Gefahr, dass er sich aufgrund eines geringen Prüfniveaus nicht im Sinne des Unternehmens verhält, d.h. nur eine geringe Überprüfung der kostenminimalen Gestaltung der Bestellmengen vornimmt. Dieses Problem wird in Fandel/Trockel (2008) diskutiert und dahingehend gelöst, dass die Unternehmensführung als dritter Akteur die Interaktion zwischen Disponent und Controller überprüft und dabei entstehendes Fehlverhalten mit der Wahrscheinlichkeit Pa entdeckt. Die Unternehmensführung bildet in diesem Ansatz aber lediglich
eine exogene Größe ab 23 • Das Modell sieht vor, dass bei Fehlverhalten sowohl der Controller als auch der Disponent bestraft werden. Die Bestrafungen für die Akteure können durch Sc (für den Controller) und Sn (für den Disponenten) beschrieben werden24 • Wir nehmen ohne weitere Beschränkung Sc
=
Sn = S an. In diesem Mo-
dell kann gezeigt werden, dass durch diese Modifikation des Inspection Game die Bedeutung der Unternehmensführung sehr klar wird, da durch ein Nichtrem Manager-Prüfer-Ansatz drei Aktionsparameter für den Inspizierten. Die ausführliche Darstellung der Entwicklung des Inspection Game kann auch als Basisliteratur für die Darstellung der Aktionsparameter gewählt werden. 22
23
2~
Vgl. hierzu u.a. die Ausführungen von Ewert (2004), wobei auch dort wieder ein Manager-Prüfer-Spiel diskutiert wird. Die Idee des Kontrollierens kann sehr leicht von der externen Rechnungslegung auf die interne Unternehmensrechnung übertragen und angepasst werden. Jedoch liegt hier, wie aufgezeigt, nicht die klassische vertikale Struktur vor. Die dortige Bimatrix enthält keine Bestrafung des Controllers. Dieses Problem liegt vor, wenn ein laterales Inspection Game diskutiert wird, ohne dass die Kontrollinstanz sich wiederum einer Kontrolle unterziehen müsste. Vgl. Fandel/Trockel (2008),S. 4. Bei Pandel/Trockel (2009)wurde von einem linearen Zusammenhang zwischen Strafe und Kostenabweichung ausgegangen. Dies kann dahingehend verallgemeinert werden, dass eine Funktion S = S(M) mit BSIaM > 0 vorliegt.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
457
Aufdecken des Fehlverhaltens beider Akteure dauerhaft der Gewinn des Unternehmens reduziert wird. Aufgrund der je zwei möglichen Aktionen des jeweiligen Akteurs resultieren vier Konstellationen in reinen Strategien. Der dritte, nicht endogene und folglich nicht strategische Spieler, die Unternehmensführung, wird in diesem grundlegenden Ansatz als Umweltzustand in Form einer Wahrscheinlichkeit Pa E(O,l) des Aufdeckens des fehlerhaften Berichts eingeführt". Sie tritt, da ein
fehlerhafter Bericht nur in der Strategienkombination (nm, nh) unentdeckt bleiben kann, auch nur in dieser Strategienkombination auf. Dabei sollen die totale Selbststeuerung (Pa = 0) und die Totalkontrolle (Pa = 1) ausgeschlossen sein26• Insgesamt können in der so modellierten Entscheidungssituation die vier nachfolgend beschriebenen reinen Strategien auftreten, die prinzipiell alle ein Nash-Gleichgewicht bilden könnten": I.
Der Disponent handelt korrekt, indem er die Bestellmenge methodisch bestimmt, und der Controller handelt ebenfalls korrekt, indem er ein hohes Kontrollniveau gegenüber dem Disponenten ausübt - Aktionenkombination (m, h)28.
11.
Der Disponent handelt nicht korrekt, da er die Bestellmenge nichtmethodisch bestimmt, und der Controller handelt korrekt, da er den Disponenten auf hohem Niveau kontrolliert - Aktionenkombination (nm, h).
25
26
Dies ist vergleichbar mit der Aussage von Ewert (1993), der dargestellt hat, dass ein fehlerhaft erteiltes Testat und Inhalte der Berichte nach einiger Zeit mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit ans Licht kommen. Vgl. Ewert (1993),S. 730. Bei einer Totalkontrolle wird sich der Controller ohne Ausnahme korrekt verhalten.
zr Damit ist für dieses Spiel schon einmal neben der Anzahl der Spieler die Strategienwahl in
reinen Strategien fix. 28
Reine Strategien können auch als Wahl der explizit vorgegebenen Aktionen gewertet werden. Wenn in einem weiteren Schritt hingegen gemischte Strategien und somit eine Wahrscheinlichkeitsverteilung in das Modell integriert wird, ändert sich die Menge an möglichen Kombinationen.
458
Günter FandellJan Trockel
III. Der Disponent handelt korrekt, indem er die Bestellmenge methodisch bestimmt, und der Controller handelt nicht korrekt, da er den Disponenten mit niedrigem Prüfniveau kontrolliert - Aktionenkombination (m, nh). IV. Der Disponent handelt nicht korrekt, indem er die Bestellmenge nichtmethodisch bestimmt, und auch der Controller handelt nicht korrekt, da er den Disponenten mit niedrigem Prüfniveau kontrolliert - Aktionenkombination (nm, nh) -, wobei, wie oben erläutert, diese Situation in die Aktionenkombinationen (nm/nh/a) und (nm/nh/na) aufgesplittet werden muss. Dabei bezeichnet (a) die Aktion, dass die Untemehmensfühnmg das suboptimale Verhalten von Disponent und Controller aufdeckt, und (na), dass dies unentdeckt bleibt. Das führt zu dem extensiven Spielbaum aus Abbildung 1. Dabei stehen Pm und Ph für die Wahrscheinlichkeiten, dass der Disponent methodisch bei seiner Entscheidung vorgeht und der Controller eine hohe Priliintensität an den Tag legt.
Disponent
Controller
Untemehmensführung
o
0
Abbildung 1: Extensiver Spielbaum im Disponenten-Controller-Konflikt
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
459
In dem Modell bedeutet ein hohes Kontrollniveau (h), dass das nicht-
methodische Entscheiden (nm) auch aufgedeckt wird und dass dies bei einem niedrigen Kontrollniveau (nh) unter Umständen nicht erfolgt. Prüft der Controller mit geringem Niveau, wird er auf jeden Fall einen positiven Prüfbericht verfassen; lediglich wenn er mit hohem Kontrollniveau prüft, wird er im Prüfbericht je nach Lage der Dinge differenzieren. Daraus ergibt sich für die Untemehmensleitung ein Kontrollbedarf in den Knoten 4 und 5 (nm/nh). In den Kosten K für das zusätzliche Prüfen des Controllers können neben den
Prüfgebühren auch Arbeitsleidfaktoren enthalten sein-", so dass bei einem hohen prüfniveau der Payoff um K reduziert wird. Die Grundvergütung für die betrachteten Akteure wird hier nicht weiter beachtet, da sie keinen Einfluss auf die im Folgenden generierte Nash-Lösung ausübt. In Manager-PrüferModellen sind derartige Vergütungen zwar teilweise enthalten, wir aber orientieren uns an der Vorgehensweise von Avenhaus/Canty (2009), die bei ihren Überlegungen zum Inspection Game lediglich Kosten, Boni und Strafen beschreiben". Bestimmt der Disponent die Bestellmenge methodisch, so wie es von der Untemehmensleitung erwartet wird, erhält er einen Bonus BD für sein korrektes Arbeiten. Dieser Bonus kann aus einer Geldleistung oder auch in einem Imagegewinn bestehen". Analog erhält der Controller für ein hohes Prüfniveau einen Bonus Be, wenn er entsprechend prüft und dabei das nichtmethodische Vorgehen des Disponenten aufdeckt-', In diesem Fall entstehen 29
Vgl. Ewert (1993), S. 730.
30
Vgl. Avenhaus/Canty (2009), S. 4857 und S. 4864.
31
Vgl. Fandel/frockel (2009). [ost (1999) erklärt dabei, dass finanzielle Anreize immer dann eine zielkonforme Durchführung einer Aufgabe beeinflussen und fördern, wenn der Akteur extrinsisch motiviert ist. Der Akteur muss durch die eigenen Aktionen seine Entlohnung beeinflussen können. Kontrollen des Akteurs können dabei eine Lösung für dieses Problem darstellen. Frese (2000) und auch Baker et al. (1988) beschreiben, wie exzellente Leistungen, hier die Optimierung der Bestellmengen, entsprechende finanzielle Belohnungen mit sich bringen sollen. In der Praxis werden diese Anreize sogar in Form von Beförderungen formuliert, vgl. hierzu Frese (2000), S. 172 -173.
32
Vgl. Friehe (2008), S. 130. Friehe (2008) beschreibt dies dadurch, dass die Auszahlung für das Aufdecken des illegalen Verhaltens größer ist als die Auszahlung für das NichtAufdecken des illegalen Verhaltens. Dies kann mit einem zusätzlichen Bonus gleichgesetzt werden.
460
Günter Fandel/jan Trockel
ihm, wie bereits dargestellt, jedoch auch zusätzliche Prüfkosten K33. Prüft er dagegen mit niedrigem Niveau und deckt die Fehlbestimmungen des Disponenten nicht auf, so entstehen ihm dadurch weder Kosten, noch erleidet er Mehrarbeit34. Wenn der Controller aber aufgmnd seines geringen Prüfniveaus fälschlicherweise das Fehlverhalten des Disponenten als korrekt anerkennt, so generiert dies einen Bonus BD für den Disponenten". Strafzahlungen S treffen den Disponenten, wenn der Controller sein nichtmethodisches Vorgehen aufdeckt36. Andererseits erreicht er einen Mussegewinn L, wenn er sich nicht um die methodische Bestimmung der optimalen Bestellmenge bemüht'". Ist der Mussegewinn L höher als die Strafe S, wird der Disponent weniger Motivation verspüren, sein nicht-methodisches Vorgehen zu ändern und den Vorgaben des Unternehmens anzupassen. Es entsteht ein intrapersoneller Konflikt, sich legitim zu verhalten oder vom Unternehmenskodex abzuweichen. Auch dem Controller droht eine Bestrafung S, sofern dieser anhand der Daten die Problematik nicht optimaler Lose nicht aufdeckt und dies dann durch die Unternehmensführung im Bericht entdeckt wird38 • Der Controller kann nur genau dann bestraft werden, wenn er einen Fehler machtv. In einem lateralen Konflikt führt Selbststeuerung nicht zu unternehmensopti-
malem Verhalten, wenn dem Inspektor keine Bestrafung droht. Beide Akteure
33
M
35
Simons/Biskup (2006) stellen eine Relation zwischen hohem und niedrigem Prüfniveau in der Form einer Abhängigkeit her. Hohes Prüfniveau verursacht Kosten Kp, wohingegen geringes Prüfniveau lediglich einen Teil dieses Wertes ausmacht: a· K p • Hier wird einfach a . K p = 0 gesetzt, so dass die Kosten hier durch K = K p - a . K p = K p gegeben sind. Vgl. Borch (1982), S. 120. Die Modellierung von Borch (1982) ähnelt diesem Modell sehr, jedoch sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich im Modell von Borch (1982) um einen vertikalen Konflikt handelt. Auch Biermann (2006) beschreibt ein ökonomisches Inspection Game für das Risikomanagement mit einer vertikalen Struktur, in welchem dem Prüfer durch intensive Prüfungen zusätzliche Kosten entstehen. Vgl. Ohta (2008),S. 562.
36
Allgemein wird der Inspizierte bei Entdecken des illegalen Verhaltens durch den Inspektor bestraft. Vgl. u.a. Avenhaus/Kilgour (2004), S. 4.
Y1
Vgl. Bierlein (1969), S. 37.
3B
Vgl. Paefgen (2008), S. H.
39
Vgl. Ohta (2008),S. 562.
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
461
können unter diesen Umständen ihre eigenen Ziele verwirklichen, so dass eine Strategienkombination (nm, nh) realisiert werden könnte. Dies gilt es aus Unternehmenssicht zu vermeiden. Die Delegation von Aufgaben bedarf der Koordination, die wiederum eine Kontrolle der Kontrolle mit sich bringen sollte40.
Aufgrund der vorherigen Ausführungen entstehen nun die nachfolgenden Auszahlungen
,.~
bzw. 1fv an den Knoten r des Spielbaums, r=1, ...,5, für den
Disponenten D und den Controller C 41;
rtb = Ph' Pm .(BD ) rtb = (1- Ph)' Pm .(BD ) rt~ =(1- Ph)' Pm ·(0)
rtb = Ph .(1- PmH -S +L)
rtb = pd 1- PmH-K +Bc ) rtt = Pa ·(1- Ph)·(l- Pm)'( -S + L) rt~ = Pa' (1- Ph H1- Pm H -S)
rtb = (1- PaH1- Ph) ·(1- PmHBD + L)
rtb =(1- PaH1- Ph)·(l- PmHO) Da die Wahrscheinlichkeit Pa nicht strategisch von den Akteuren bestimmt werden kann, lassen sich die Knoten 4 und 5 im extensiven Spielbaum zusammenfassen, und die zugehörige Normalform des Spiels wird durch die Abbildung 2 dargestellt.
40
In diesem Kontext spricht Sieber (2008) davon, dass eine Delegation von Entscheidungs-
befugnissen einer Rationalitätssicherung bedarf. Dies wiederum greift Paefgen (2008) auf und diskutiert, wie bereits erläutert, die Kontrolle des Controllers. 41
Somit ist r
= (N, (Si )leN ,( 7l"i )leN)
vollständig beschrieben.
für den Disponenten-Controller-Verlauf für reine Strategien
462
Günter Fandel/jan Trockel
Controller
hohes Kontrollniveau (h)
geringes Kontrollniveau (ob)
Disponent
-K
methodisch bestimmte Bestellmenge (m)
o
Pm
nicht-methodisch bestimmte Bestellmenge (nm)
' ~-K -S+L
Abbildung 2: Bimatrix des Disponenten-Controller-Konfliktes
Nach der Transformation des Spiels in die Normalform kann das NashGleichgewicht des nicht-kooperativen Disponenten-Controller-Konfliktes bestimmt werden. Da eine Lösung in reinen Strategien ex-ante ausgeschlossen wird, müssen die folgenden Bedingungen immer und ohne Ausnahme erfüllt sein:
Analog der Vorgehensweise von Fandel/Trockel (2009) lassen sich die optimalen Wahrscheinlichkeiten bestimmen. In diesem nicht-kooperativen Konflikt wird von den Spielern der gleichge-
wichtige Zustand (p~,P:) realisiert42. Anhand dieses Punktes kann die Reaktionskorrespondenz der beiden Spieler beschrieben werden:
42
VgI. zu diesem gleichgewichtigen Zustand Nash (1951).
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel (h)
für
P
K. Hierdurch wird garantiert, dass die Payoff-Komponente in Knoten 3 des Controllers größer als die in Knoten 2 ist: 7r~
< 7r~. Zugleich gelte die Bedingung L < S, die besagt, dass der Disponent
durch nicht-methodisches Vorgehen keinen höheren Mussegewinn erzielen kann als die Strafzahlung, die fällig wird, wenn sein Fehlverhalten durch den Controller aufgedeckt wird.
47
Vgl. Friedmann (1971), S. 6, und Fandel (1979), S. 63 - 64. Vgl. darüber hinaus grundlegend zu unendlich wiederholten Spielen die Ausführungen von Rubinstein (1979), FudenberglMaskin (1986)und Abreu (1988).
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
....L.
L..-
469
- - - . 1T:
c
Abbildung 6: Auszahlungsraum des nicht-kooperativen Zweipersonenspiels ohne und mit Vertrauen
Die Auszahlungen im Nash-Gleichgewicht mit Vertrauen lassen sich für die beiden Spieler durch Einsetzen der gleichgewichtigen WahrscheinIichkeiten in die Payoff-Funktionen der beiden Akteure bestimmen, so dass sich die folgenden Werte ergeben:
Liegt ein Spielverlauf vor, in welchem Vertrauen nicht vorhanden ist und somit das klassische Spiel unendlich oft wiederholt wird (Pv =0), so reduzieren sich die Auszahlungen im Gleichgewicht nach Nash ohne Vertrauen auf: gN,oV = (1!N,oV 1lN.oY) = C
,
D
J
- K .Pa ' SB . ( Bc+Pa' S' D
470
Günter Fandel/jan Trockel
Vergleicht man die Auszahlungen mit und ohne Vertrauen miteinander, so folgt, dass
,,~oov ,,~
erfüllt sind. Diese Menge lässt sich mit s = (SI,S2),SI
S\,S2 E S2f durch
V X = {"x
E
und
"E > "ff
stets
Is E S J\"X (s) = ~ ."N +~ ."B +~ ."A, ~,~,~ ~ O,~ +~ +~ =1} c n
beschreiben. Abbildung 6 zeigt auf, dass die Menge aller zulässigen PayoffVektoren des Spiels ohne Vertrauen (gestrichelt umrandet) eine echte Teilmenge von der Menge aller zulässigen Payoff-Vektoren des Spiels mit Vertrauen ist: IIo V c II .
• nN,oV
:
:71:
N
i i
Abbildung 7: Menge aller möglichen zusätzlichen Auszahlungen im Superspiel mit Vertrauen
Ein Spiel ohne Vertrauen kann somit als ein Spezialfall angesehen werden, in welchem die obige Bedingung
,,2 = "B
stets erfüllt ist. Als Drohpunkt kann
darüber hinaus derjenige Auszahlungspunkt erreicht werden, bei dem nach einem Ausbeuten bzw. Ausnutzen der Situation kein Vertrauen mehr vorhanden ist. Es würde dann der Auszahlungspunkt
"NooV
< "N realisiert. Dies aber
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
471
würde den Disponenten eindeutig schlechter stellen als die Nash-Lösung in gemischten Strategien des Basisspiels mit Vertrauen.
Schritt2: Unter dem Aspekt der Auszahlungsmaximierung werden die Akteure nur Strategienkombinationen wählen, die die maximal möglichen Auszahlungen erlauben. Diese jedoch werden realisiert, wenn Controller und Disponent derart agieren, dass sie einen Punkt auf der Geraden zwischen den Payoffs und
"B
"A
erreichen. Folglich ist eine pareto-optimale Auszahlungskombination
der Akteure erreicht, die jedoch unter Umständen nicht unternehmensoptimal ist, sofern nicht garantiert werden kann, dass Pm Die Strecke zwischen den Punkten ,,4/5 und
,,2
in Abbildung 6, auf der die
"B liegen, lässt sich durch H(,,) = {"I" = T·,,4/5 +(I-T).,,2,O:O; T:O; I}
Punkte
"A
= 1 gilt.
und
darstellen. Beispielhaft wird für den einen Randpunkt
"A
die Berechnung durchgeführt,
um im letzten Schritt für diesen bzw. für die Menge V X den Einfluss von Vertrauen zu messen. Alternativ könnte auch jeder andere Payoff-Vektor auf H(,,) berechnet werden. Mit
"t = "g erhält man über T =
N
2
~~5 -"e2 die Dispo-
"e
-"e
nenten-Komponente des Punktes "A:
Eingesetzt mit den ursprünglichen Payoffs aus der Bimatrix in Abbildung 5 und dem Auszahlungswert im Nash-Gleichgewicht ergibt sich für den Disponenten: ,,~
=BD+Pv·aD·Pa· S (((Pv ·ac· Pa .S))2 +(Pv ·ac· Pa 'S)'(Pa 'S+K)+ Pa'S .K).(L- Pa ·(S +BD )) (Be + Pa' S +(Pv ·ac· Pa ·S))'((Pv ·ac· Pa 'S)+ Pa ·S)
+-'-----.,..-------------------'-------
Günter Fandel/jan Trockel
472
und für den Controller: g~
=(p,.ac·Pa·S).(Be-K)-K·Pa· S. Be + Pa . S + (Pv . a, . Pa . S)
Die zweite Grenze des pareto-optimalen Bereichs ist durch Punkt kann analog zu
gA
gB
gegeben. Dieser
hergeleitet werden. Auf eine ausführliche Darstel-
lung wird jedoch an dieser Stelle verzichtet48. Da hier aber alle Punkte auf der Payoff-Linie zwischen den Punkten gB
gA
und
neue, zulässige pareto-optimale Gleichgewichtspunkte gegenüber dem
herkömmlichen Nash-Gleichgewicht mit Vertrauen im Punkt n" sind, folgt, dass in einem unendlich wiederholten Spiel auch unendlich viele Gleichgewichtspunkte existieren, die der Bedingung genügen, dass sie auf H(g) liegen. Spieltheoretisch lässt sich keine direkte Aussage vorab darüber treffen, an welchem Punkt des Auszahlungsraums V X sich das neue Gleichgewicht befindet.
Schritt 3:
In diesem Schritt wird analysiert, welchen Einfluss Vertrauen auf die nichtkooperative Interaktion zwischen Disponent und Controller ausübt. Dazu werden die oben bestimmten Lösungen miteinander verglichen und Aussagen über die Payoffs und Wahrscheinlichkeiten getroffen. Legt man die Auszahlungsräume V X bzw. VX.aY der beiden Spiele mit und ohne Vertrauen übereinander, so ergibt sich die Darstellung in Abbildung 8.
48
Im 3. Schritt kann der identische Einfluss von Vertrauen auf 1fA gezeigt werden. Dieser Einfluss gilt aufgrund des linearen, monoton fallenden Verlaufs der Geraden zwischen den Knoten 4/5 und 2 ebenso für den Punkt 1f' .
473
Einfluss von Vertrauen in einem Inspektionsspiel
".
~~ •.. . . . . . . . . . . . y:::.~~
1CN,oV
::>::::.•
~----------+1Cc
Abbildung 8: Vergleich der dominanten Bereiche im Spiel ohne und mit Vertrauen
Ein Vergleich der beiden Mengen zeigt auf, dass durch Vertrauen die Wahrscheinlichkeit der Realisation von Knoten 4/5 als Gleichgewicht und somit der Verwirklichung der Strategienkombination (nm, nh) vermindert wird. Daher kann festgehalten werden, dass einer Ausbeutung der Situation des Vertrauens seitens des Disponenten durch eine unendliche Wiederholung der Konfliktsituation entgegengesteuert werden kann. Gilt in der einmaligen Ausführung des Konfliktes noch
8p;la;,. < 0
und 8p~. < 0, so reduziert sich Pm bei einem
unendlich wiederholten Spiel durch den Aufbau von Vertrauen. Die Menge V x verschiebt sich im Auszahlungsraum nach rechts oben. Das bedeutet, dass
für jeden Auszahlungsvektor trauen, der oberhalb von zahlungsraum V
X
7[N,oV
7[
aus dem Auszahlungsraum
vX,ov
ohne Ver-
liegt, ein Auszahlungsvektor it aus dem Aus-
mit Vertrauen oberhalb von
7[N
existiert, so dass
7[
von it
dominiert wird.
3.
Fazit
Dieser Beitrag behandelte die Analyse des Inspektionsspiels für einen Disponenten-Controller-Konflikt. Dabei wurde zuerst das herkömmliche Nash-
474
Günter Fandel/jan Trockel
Gleichgewicht bestimmt, bevor für den einmaligen Konflikt eine Erweiterung um Vertrauen durchgeführt wurde. Danach wurde die unendliche Wiederholung des diskutierten Spiels betrachtet und ein Vergleich zwischen einem Inspektionsspiel mit und ohne Vertrauen durchgeführt. In diesem Beitrag zur Bildung von Vertrauen in Unternehmen konnte schließlich aufgezeigt werden, dass in einmaligen Konfliktsituationen der Inspizierte Vertrauen ausnutzen kann und wird. Wiederholt sich hingegen die Spielsituation unvorherbestimmt häufig, so ändert sich die Lösung gegenüber dem Basisspiel in der Weise, dass Vertrauen aufgebaut wird und sich eine Lösung realisieren lässt, die für die Akteure und deshalb schließlich auch für das Unternehmen besser ist. Durch die Auswirkungen der Drohung des Controllers, den Disponenten schlechter als die Nash-Lösung bei Vertrauen zu stellen, konnte aufgezeigt werden, wie sehr vertrauensvolles Verhalten die Auszahlungswerte beider Akteure steigert.
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Über die Autoren:
Prof. Dr. rer. pol Dr. h.c Günler FandeI •
geboren 1943 in Köln
•
Studium der Mathematik und Physik in Köln
•
Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Bonn
•
seit 1976 Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaft, insbesondere Produktions- und Investitionstheorie an der FernUniversität in Hagen
•
Managing Editor der Lecture Notes Series in Economics and Mathematical Systems; Editor-in-Chief der Zeitschrift für Betriebswirtschaft
•
Herausgeber zahlreicher Publikationen in den Bereichen Produktionstheorie, Produktionsplanung und -steuerung, Materialwirtschaft, Entscheidungs- und Spieltheorie sowie Hochschulplanung
•
Ehrenpromotion durch die Universität Freiburg im Jahre 2007
Kontakt: FernUniversität in Hagen, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbes. Produktions- und Investitionstheorie, Eugen-Schmalenbach-Gebäude, Universitätsstraße 41, 58084 Hagen,
Jan Trockel •
geboren 1979 in Werl
•
Studium der Wirtschaftswissenschaften in Bielefeld
•
seit 2006 wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaft, insbesondere Produktions- und Investitionstheorie an der FernUniversität in Hagen
•
Seine Forschungsschwerpunkte sind die Anwendungen der Spieltheorie in der Produktion.
Untemehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung des Rechts Heinz Kußmaul, Christoph Ruiner und Dennis Weiler
1.
Einleitung
Im Zusammenhang mit der Internationalisierung und speziell der Europäisierung der Wirtschaft und des Rechts zeigen sich notwendigerweise Auswirkungen im unternehmerischen Verhalten und damit im Verhalten der Kaufleute. Im vorliegenden Beitrag wird anhand von zwei Sachverhalten auf Umgehungssachverhalte eingegangen, die sich in der Praxis herauskristallisiert haben. Auf der einen Seite wird die Umgehung des deutschen Insolvenzrechts problematisiert, die ihren Ursprung hat in der internationalen Ausrichtung der Unternehmen und in der Möglichkeit, sich im Rahmen der Europäischen Union entsprechend zu positionieren. Nachdem in der EU auch die EUInsolvenzverordnung verabschiedet wurde, ergab sich für die Unternehmen die Frage, welche Nischen im Vergleich zum deutschen Insolvenzrecht gefunden werden können. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich eine Gestaltung mit der Rechtsform in anderen Ländern Europas, speziell mit der britischen Limited, heraus. Die Umgehung des deutschen Bilanzrechts mit dem Typus des ehrbaren Kaufmanns bzw. des ordentlichen Kaufmanns wurde ebenso von den Unternehmen verfolgt, wobei die EU durch die allgemeine Akzeptierung der IFRS die Nischensuche geradezu gefördert hat. Hier ergab sich unter anderem eine Gestaltung mit internationalen Bewertungsmaßstäben im Kontext des Fair Value. Während auf der einen Seite nur die Meinung vertreten wird, der Fair Value habe die internationale Finanzkrise im Sinne eines Brandbeschleunigers T. Nguyen, M ensch und Markt, DOI 10.1007/978-3-8349-6728-2_18, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
482
Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
gefördert, werden auf der anderen Seite auch Meinungen vertreten, er sei der Hauptauslöser der internationalen Finanzkrise gewesen, werden doch mit Hilfe des Fair Value in Zeiten nach oben gehender Kurse Belohnungen für entsprechend Begünstigte - insbesondere das obere Management - verknüpft.
2.
Die Umgehung des deutschen Insolvenzrechts
2.1
Einführung in die Thematik
Um den strengen Vorschriften des deutschen Insolvenzrechts - insb. die Ausgestaltung zentraler Verfahrensfragen wie z.B. die Rechte der Gläubiger, den Rang ihrer Forderungen oder die Bestellung eines Insolvenzverwalters werden von den Betroffenen als einengend empfunden - zu entfliehen, wird vermehrt strauchelnden deutschen Unternehmen geraten, eine Umwandlung in eine englische Limited anzustreben, um somit das vermeintlich günstigere englische Insolvenzrecht anwenden und ein Sanierungsverfahren nach englischem Recht durchführen zu können.' Hierzu wird entweder eine in England ansässige Holding gegründet, die die Gesellschaftsanteile an dem strauchelnden deutschen Unternehmen übernimmt, oder aber dieses wird ganz auf eine englische Gesellschaft verschmolzen. Zumindest vordergründig wird in diesen Fällen die Geschäftsleitung nach England verlegt;2 da die nach englischem Recht gegründete Limited jedoch ihre Geschäftstätigkeit weiterhin ausschließlich in Deutschland ausübt, entsteht im Ergebnis eine Scheinauslandsgesellschaft (pseudo-foreign corporation). Im Anschluss an die Umwandlung der nach deutschem Recht gegründeten Gesellschaft in eine Limited bestimmen die Geschäftsführer der Limited (directors) einen Insolvenzverwalter (adminstrator)
1
Vgl. BUCHENAU, MARTIN-W.: Schefenacker trickst Insolvenzrecht aus,
www.hande/sb/att.com; FRöNDHOFF, BERT: Insolvenz - Das englische Recht ist für deutsche Finnen attraktiv. Kommen mehr Fälle wie Schefenacker?, Handelsblatt vorn 15.05.2007, Nr. 93, S. 18; PAULUS, CHRIsTOPH G: Notwendige Änderungen im Insolvenzrecht. ZIP 2005, S. 2301 f.; PAULUS, CHRIsTOPH G: Konturen eines modemen Insolvenzrechts. DB 2008, S. 2523. 2
Vgl. ANDRES, DIRK/GRUND, ANDREAS: Die Flucht vor deutschen Insolvenzgerichten nach England, NZI 3/2007, S. 137 f.; VALLENDER, HEINZ: Gefahren für den Insolvenzstandort Deutschland, NZI 2007, S. 130 f.
Unternehmerisches Verhalten im Kontext der Europäisierung
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und teilen diesen Sachverhalt dem zuständigen englischen Gericht mit (sog.
out-of-court appointmenti» Dieses beruft nach bloßer kursorischer Kontrolle auf Vollständigkeit und ohne jede weitere Prüfung - insb. ohne Zuständigkeitsprüfung - die von den Geschäftsführern der Limited vorgeschlagenen Personen zu Insolvenzverwaltern. Als Vorteil einer solchen Vorgehensweise wird folglich gepriesen, dass nunmehr das britische und nicht das deutsche Insolvenzrecht Anwendung findet und damit die Geschäftsführer der von der Insolvenz bedrohten Limited einen ihnen bzw. den Gesellschaftern genehmen Insolvenzverwalter bestellen können; die von der deutschen InsO geforderte Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters - § 56 Abs. 1 InsO fordert, dass eine für den jeweiligen Einzelfall geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigern und dem Schuldner unabhängige natürliche Person zum Insolvenzverwalter bestimmt wird - kann so umgangen werden.
2.2
Gründe für die Umgehung des deutschen Insolvenzrechts
Die Gründe für solch eine Flucht vor dem deutschen Insolvenzrecht sind mannigfaltig: Zum einen haben die Gläubiger u.U, ein starkes Interesse daran, dass die Bestimmungen zur Insolvenzanfechtung (§§ 129 H. InsO) - deren Ziel es ist, Vermögensverschiebungen, die der Schuldner bei drohender Insolvenz zu seinem persönlichen oder zum Vorteil einzelner Gläubiger vornimmt, rückgängig zu machen - nicht zum Tragen kommen. So soll einzelnen Gläubigern die Möglichkeit genommen werden, ihre Forderungen kurz vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens auf Kosten der Gesamtheit der Gläubiger zu sichern. 4 Der Anfechtungsanspruch richtet sich nach § 143 Abs. 1 S. 1 InsO auf Rückgewähr zur Insolvenzmasse. Damit die Vorschriften der §§ 129 H. InsO greifen, müssen folgenden drei Voraussetzungen erfüllt sein:
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Vgl. Part H, Chapter 4 Insolvency Rules 1986; SEALY, LEN/WORTHINGTON, SARAH: Cases and Materials in Company Law, 8. Aufl., Oxford 2008, S. 632.
• Insb. soll vermieden werden, dass Gläubiger, die besonderes Wissen über die wirtschaftliche Situation des späteren Schuldners ausnutzen, nicht besser behandelt werden als die restlichen Gläubiger. Vgl. FARR: CARSTEN, Die Besteuerung in der Insolvenz, München 2005, Rn. 173; ZEUNER, MARK: Die Anfechtung in der Insolvenz, 2. Aufl., München 2007, Rn. I.
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Heinz KußmauVChristoph Ruiner/Dennis Weiler
• Von dem Schuldner oder ihm gegenüber muss vor Insolvenzeröffnung eine wirksame Rechtshandlung - hierunter ist sowohl ein aktives Tun als auch ein bewusstes Unterlassen (§ 129 Abs. 2 InsO) zu subsumieren vorgenommen worden sein, z.B. ein Verfügungs- und Verpflichtungsgeschäft. • Die anteilige Befriedigung der Insolvenzgläubiger muss durch Minderung der Insolvenzmasse beeinträchtigt sein, wobei eine Benachteiligung dann vorliegt, wenn sich die Befriedigungsmöglichkeiten aus der Masse ohne das anfechtbare Verhalten günstiger gestaltet hätten. • Es muss ein Anfechtungstatbestand der §§ 130 ff. InsO erfüllt sein," Zum anderen wird von Gläubigerseite häufig die mangelnde Einflussnahme auf die Auswahl des Insolvenzverwalters als Abwanderungsgrund angeführt, denn die Auswahl der Person des Insolvenzverwalters ist in das pflichtgemäße Ermessen des Insolvenzgerichts gestellt. Gern. § 56 InsO hat das Insolvenzgericht als Insolvenzverwalter eine für den jeweiligen Einzelfall geeignete, insbesondere geschäftskundige und von den Gläubigem und dem Schuldner unabhängige natürliche Person zu bestellen. Der Bestimmung eines geeigneten Insolvenzverwalters kommt im Rahmen eines Insolvenzverfahrens eine beträchtliche Bedeutung zu, da die Qualifikation des Insolvenzverwalters regelmäßig den Lauf des Insolvenzverfahrens entscheidend beeinflusst," Da diese Entscheidung von mit der jeweiligen Materie nicht bzw. nur unzureichend vertrauten Richtern getroffen wird, fürchten Großgläubiger oftmals, dass die Werthaltigkeit ihrer Sicherheiten durch einen von einem Gericht eingesetzten, ungeeigneten Insolvenzverwalter, der nicht in der Lage ist, eine erfolgreiche Sanierung durchzuführen, erheblich vermindert wird."
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Vgl. FARR, CARSTEN: Die Besteuerung in der Insolvenz, München 2005, Rn. 174 ff.; ZEuNER, MARK: Die Anfechtung in der Insolvenz, 2. Aufl., München 2007, Rn. 15 ff. Vgl. DELHAES, WOLFGANG: § 56 InsO, Rn. 4, in: Insovlenzordnung (InsO), hrsg. von JÖRG NERLICH und VOLKER RÖMERMANN, 18. Ergänzungslieferung, Stand: Dezember 2009. Vgl. ANDRES, DIRI