Torsten Meyer . Wey-Han Tan Christina Schwalbe· Ralf Appelt (Hrsg.) Medien & Bildung
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Torsten Meyer . Wey-Han Tan Christina Schwalbe· Ralf Appelt (Hrsg.) Medien & Bildung
Medienbildung und Gesellschaft Band 20 Herausgegeben von Winfried Marotzki Norbert Meder Dorothee M. Meister uwe Sander Johannes Fromme
Torsren Meyer Wey-Han rsn christina Schwalbe Ralf Appelt (Hrsg.)
Medien & Bildung Institutionelle Kontexte und kultureller Wandel
III VS VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dievorliegende Publikation wurde im Rahmen des Projekts ePUSH der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und BewegungSWissenschaft der Universität Hamburg mit Mitteln der Behörde für Wissenschaft und Forschung der Freien und Hansestadt Hamburg im Programm "E-Learning und Multimedia in der Hochschullehre" gefördert. DieAuswahl des Projektes erfolgte durchdasE-Learning-Consortium Hamburg. projektträger ist die Multimedia Kontor Hamburg GmbH. MehrInformationen: www.mmkh.de E-LEARNING CONSORTlUM Hamburg
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Freie und Hansestadt Hamburg Behörde fürWissenschaft undForschung
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Psychologie undBewegungswissenschaft
1.Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © vs verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux I Adrienne van Wickevoort Crommelin VS verlagfür Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer sclence-sustness Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seinerTeile ist urheberrechtlich geschützt. Jede verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung desVerlags unzulässig undstrafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund verarbeitungin elektronischen Systemen. DieWiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervon jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17708-3
Inhalt Vorwort der Herausgeber
Torsten Meyer Medien & Bildung. Institutionelle Kontexte und kultureller Wandel. Einleitung
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Gründe Thomas Weber Wissensvermittlung in medialer Transformation. Bemerkungen zu sich verändernden Wertmaßstäben in der bildungspolitischen Debatte
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Kar/-Josef Pa!{!\,ini Übertragung. Bruchstücke einer Medien- und Bildungstheorie nach Freud
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Ta'!fa Carstensen Umkämpftes Internet
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Matifred Faßler Dissipatives Wissen: Übergänge von nationaler Universalität zu Global Knowledge Communities
67
Be'!famin jiJ"rissen >Medienbildung< - ein Konzept in heterogenen institutionellen Verwendungskontexten
83
Wry-Han Tan >E-Learning< als Vermittlung zwischen dem Analogen und dem Digitalen
93
Stefan SonlJilla-Weiss Kommunikationstechniken, -aktivitäten und -strategien der Generation >Web n+1
WissensmanagementSchulen ans Netze und >Virtueller Hochschulet die Rede ist, spätestens seit eine neue Generation von >Digital Natives: in die Schulen und Hochschulen eingezogen ist, sind (neue) Medien zu einem sprioritären Themas geworden, das die Bildungswissenschaften in ihrem institutionellen und disziplinären Selbstverständnis betrifft. Der vorliegende Band beschreibt ein interdisziplinäres Diskussionssfeld, das von der Philosophie und Soziologie über die Kunst-, Medien- und Kulturwissenschaften bis zur Infortnatik reicht und einen Raum eröffnet für ein breit angelegtes Nachdenken über pädagogisch-praktische wie bildungstheoretische Implikationen des medienkulturellen Wandels im Rahmen einer weltweit werdenden »Wissensgesellschaft«. Im Fokus stehen Fragen an die Institutionen der Bildung: Vor dem Hintergrund aktueller (Hoch-)Schulentwicklungsprojekte, veränderter Praktiken der Mediennutzung und neuer Kommunikations- und Kooperationsformen denken Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichem Grad an Selbstverständlichkeit über Unter- und Hintergründe, Visionen und konkrete Szenarien der (digitalen) Zukunft der Bildungsinstitutionen nach. Das Buch dokumentiert die Aktivitäten des Arbeitsbereichs Medien & Bildung der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg in zwei wesentlichen Projekten der vergangenen vier Jahre. Im Sommersemester 2006 wurde eine Ringvorlesungsreihe mit dem Titel Medien & Bildung initiiert, die bis 2009 jeweils im Sommersemester eine insgesamt recht stattliche Zahl von Beiträgern aus ganz verschiedenen Fachgebieten und Arbeitszusammenhängen versammelt hat, die sich aus den jeweiligen Bezugsfeldern heraus dem Zusammenhang von Medien und Bildung mal grundsätzlich, mal auf bestimmte Praktiken bezogen näherten. Aus der Gesamtheit der Vorträge sind hier diejenigen zur Publikation ausgewählt, die die institutionellen Kontexte und/oder den medienkulturellen Wandlungsprozess zum Thema haben. Eine thematisch anders fokussierte Auswahl von Texten ist in dem Band »Kontrolle und Selbstkontrolle« publiziert.' 1 Meyer/Mayrberger/Münte-Goussar/Schwalbe (Hg.): Kontrolle und Selbstkontrolle. Zur Ambivalenz von E-Portfolios in Bildungsprozessen, Wiesbaden: VS 2010 (Medienbildung und Gesellschaft Bd. 19).
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Torsten Meyer, Wey-Han Tan, Christina Schwalbe, Ralf Appelt
Das zweite große, hier dokumentierte Projekt ist das Hochschulentwicklungsprojekt ePUSH, das die Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg von 2007 bis 2010 durchgeführt hat. Wesentliches Ziel des Projekts war es, die Einsatzmöglichkeiten aktueller Informationstechnologien in Studium und Lehre durch Bündelung und Kommunikation ins Bewusstsein der Lehrenden und Lernenden zu rufen und dadurch einen selbstverständlichen Umgang mit diesen Technologien zu fördern. Das Projekt umfasst dem zugehörigen Förderprogramm der Hamburger Behörde für Wissenschaft und Forschung gemäß - ein Bündel von strategischen und strukturbildenden Maßnahmen, die auf verschiedenen Ebenen relativ tief in die Organisationsentwicklung der Fakultät eingreifen, diese mitgestalten und kritisch begleiten, um eine wirklich nachhaltige Implementation aktueller Medientechnologie in der Hochschullehre zu erreichen. Durch die Kombination dieser beiden Projekte - Ringvorlesung und Hochschulentwicklung - ist eine sehr interessante Theorie-Praxis-Melange gegeben, die nicht nur die relativ einmalige Situation des Arbeitsbereichs Medien & Bildung an der Universität Hamburg zwischen Forschung, Lehre und Service abbildet, sondern diesen Überschneidungsbereich von avanciertem medien- und kulturtheoretischen Zugriff und Cutting-edge-Medienpraxis in beide Richtungen anschlussfähig und höchst produktiv macht. Insofern versteht sich dieses Publikationsprojekt auch als Fortsetzung des mit dem interdisziplinären Symposion »Bildung im Neuen Medium« initiierten und im gleichnamigen Buch- dokumentierten Diskussionsprozesses, der unsere Arbeit in den vergangenen Jahren immens geprägt hat. Davon hat auch die sehr produktive Kooperation mit den außeruniversitären Institutionen der Lehrerbildung in Hamburg profitiert, die sich hier in mehreren Beiträgen widerspiegelt. Die Autorinnen und Autoren entstammen also ganz verschiedenen Institutionen und Arbeitsumfeldern. Das Buch versammelt insofern eine Vielfalt sehr unterschiedlicher Denkrichtungen, Handlungskontexte und damit verbundener Perspektiven auf den medienkulturellen Wandel in den Schulen und Hochschulen, die in der unmittelbar folgenden Einleitung noch detailliert beschrieben werden.
Meyer/Scheibd/Münte-Goussar/Meisd/Schwawe (Hg.): Bildung im Neuen Medium. Wissensformation und digitale Infrastruktur. Education Within a New Medium. Knowledge Formation and Digital Inftastructure, Münster/New York/München/Berlin: Waxmann 2008. 2
Vorwort
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Dank Wir möchten ausdrücklich und herzlich allen Beitragenden zur Ringvorlesung Medien & Bildung, allen Kollaborateuren im Projekt ePUSH und, falls nicht deckungsgleich, allen hier beitragenden Autorinnen und Autoren für die Mitarbeit danken! Ebenso herzlich geht unser Dank an alle an diesen Projekten beteiligten studierenden Mitarbeiter, die ganz entscheidend mit zum Gelingen der Ringvorlesung, des Projekts ePUSH und dieses Buchs beigetragen haben. Dank für die Unterstützung der Ringvorlesung Medien & Bildung schulden wir der Arbeitsstellejiir Wissens- und Technologietransfer der Universität HambufJ!, und dem MMKH Multimedia Kontor Hamburg, dem MMKH außerdem für die organisatorische Begleitung des Projekts ePUSH. Dem Dekanat der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft gebührt Dank für den Mut zum Einlassen auf das Projekt ePUSH und die damit zusammenhängenden kulturellen Veränderungen in der Fakultät. Dem E-Learning Consortium HambufJ!, danken wir für die Weisheit, dieses Projekt als förderungswürdig ausgewählt zu haben.
Torsten Meyer, Wey-Han Tan, Christina Schwalbe, Ralf Appelt im Herbst 2010
AlIh. 1: PlihJ PwiJ:tiPUSH, UfIitImiIiiJ Hm.1JIwg2009 (SJJ.uIiMlPliiltgu; "6- S. 426ff.)
Medien & Bildung Institutionelle Kontexte und kultureller Wandel Einleitung Torsren Meyer
Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Dirk Baecker Hintergrund dieses Buchs ist die Annahme, dass kaum etwas so große Bedeutung für die Strukturen einer Gesellschaft und die Formen einer Kultur hat wie die jeweils sgeschäftsführcndenc Verbreitungsmedien. Diese Annahme wird von einer ganzen Reihe von Autoren aus ganz verschiedenen Disziplinen geteilt. So geht etwa der Soziologe und Kulturtheoretiker Dirk Baecker in seinen eingangs zitierten »Studien zur nächsten Gesellschaft« davon aus, dass die Einführung der Sprache die Stammesgesellschaft konstituierte, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers wird die - wie Baecker im Anschluss an den Managementdenker Peter F. Drucker formuliert - »nächste Gesellschaft« konstituieren (Baecker 2007: 7). In dem hier vorliegenden Buch geht es wesentlich um die mit den Wandlungsprozessen im Übergang von der smodemem zur >nächsten Gesellschaft< verbundenen Wirkungen auf die Bildungssysteme. Wir beschränken uns dabei vornehmlich auf die Universität und die allgemeinbildende Schule und fokussieren auf die Herausforderungen für die Institutionen der Bildung, den dort veränderten Umgang mit Wissen und das sich wandelnde Verständnis von Wissen sowie die in der Erziehungswissenschaft gern so genannten >Lehr-/Lernkulturennächsten Gesellschafix« (Baecker 2007: 102f). Dieser Ansatz ist zunächst ein epistemologischer. Er geht, wie Michel Foucault in den Standardwerken der strukturalen Epistemologie »Die Ordnung der Dinge« (dt. 1974) und »Archäologie des Wissens« (dt. 1981) zunächst einmal davon aus, dass es so etwas wie eine Episteme als spezifische Struktur des Denkens einer jeweiligen Epoche tatsächlich gibt. Mit Marshall McLuhan ~)Die Gutenberg-Galaxis« dt. 1962/1995, im Anschluss Manuel Castells »Die Internet-Galaxis« 2005), aber auch Jean-Franc;ois Lyotard ~)Das postmoderne Wissen« dt. 1982) kommt die Idee hinzu, dass für diese spezifischen Strukturen des Denkens die jeweilig dominierenden Medientechnologien prägend sein könnten. Eine allerdings höchst interessante Sonderstellung nehmen hier auch die Arbeiten des Kunsthistorikers Erwin Panofsky ~)Perspektive als Symbolische Form der Neuzeit« 1927, in Anwendung der »Philosophie der Symbolischen Formen« Ernst Cassirers), im Anschluss an Panofsky auch Lev Manovich ~)Database as a Symbolic Form« 2001) und auf ganz andere Weise die Mediologie Regis Debrays ~)Jenseits der Bilder« dt. 1999, »Einführung in die Mediologie« 2004) ein. Diese theoretischen Ansätze legen die Rede von »medieninduzierten Wissensformationen« (vgl. Meyer 2006) nahe und finden in der metaphorisch verdichteten Formulierung »Bildung im Neuen Medium« einen leicht irritierenden Ausdruck, der konstitutiv war für das gleichnamige Symposion an der Universität Hamburg und das zugehörige Buch (Meyer/Scheibel/Münte-Goussar/Meisel/Schawe 2008), in dessen unmittelbarem Anschluss das hier vorliegende Buch entstanden ist.
Mediologie der Moderne Regis Debray fasst das je spezifische Zusammenspiel von technischem Medium, symbolischer Form und kollektiver Organisation mit dem Begriff der »Mediosphäre«, Debray hat drei große, durch solche medientechnologischen Prägungen unterscheidbaren Epochen identifiziert, die er analog zu Dirk Baecker als kulturelle Makromilieus versteht: Mit »Logosphäre« bezeichnet er die durch mündliche Tradierung und handschriftliche Aufzeichnungen geprägte Mediosphäre, die sich soziologisch als Stammesgesellschaft und antike Hochkultur darstellt. Sie dauerte bis in die Renaissance, in der sowohl der Buchdruck als auch kurz vorher die in Ihrer Bedeutung als Darstellungstechnologie oft unterschätzte Abbildungstechnik der Zentralperspektive erfunden und wirksam wurden. »Vom 15. Jahrhundert bis gestern« prägten diese neuen Medientechnologien die »Graphosphare«, Zurzeit umgibt uns gerade noch die »Videosphäre«, die aber nach Debray bereits wieder
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übergeht in »eine Art Hypersphäre, die sich hauptsächlich aus digitalen Signalen zusammensetzt« (Debray 2002: 6). Die Videosphäre, deren Beginn Debray auf die Einführung des Farbfernsehens 1968 datiert, unterscheidet sich demzufolge von der Graphosphäre vor allem durch ein verändertes Zeitempfinden. Der Augenblick triumphiert über die Dauer, das Direkte über das Indirekte, das Reaktive über das Diskursive usw. Und damit hängt zusammen: Die geistige Klasse, die das »gesellschaftlich Heilige«, das, was kulturell gespeichert und an die jeweils nächste Generation weitergegeben wird, bewahrt, war in der Logosphäre die Kirche mit ihren Geistlichen. In der Graphosphäre waren es die Intellektuellen, die Professoren, Doktoren und Studienräte in Schule und Hochschule. In der Video- und Hypersphäre sind es nun die Verteiler und Produzenten der unabhängigen Medien im Fernsehen (Videosphäre) und nun vor allem im Internet (2003: 64t). Grundsätzlich problematisch an solchen mediologischen Studien ist, dass wir das Denken in weit zurückliegenden (oder vor uns liegenden) Epochen nicht wirklich nachvollziehen können, weil die jeweils relevanten Informations- und Kommunikationstechnologien das (eigene) Denken substanziell mitformen. Beispielsweise können wir uns, weil wir aufs Engste damit vertraut sind und weil sie uns deshalb so »richtig« und »natürlich« vorkommt, nicht wirklich vorstellen, dass die zentralperspektivische Darstellungstechnologie nur eine unter anderen kulturspezifischen Repräsentationsformen und eben nicht die »objektive« Abbildung der Wirklichkeit ist. Zu sehr sind wir damit vertraut. Wir sind damit so sehr vertraut, dass wir die Zentralperspektive zum kulturtechnischen Gerät gemacht und die Fotografie als juristisch wirksames Beweismittel für die Wahrheit installiert haben (vgl. Panofsky 1927; Giesecke 1998; Schmeiser 2002). Aus heutiger, insbesondere Lehrer- oder Hochschullehrer-Perspektive ist ebenso schwer vorstellbar, dass es ohne maschinelle Vervielfältigung des Wissens in Form gedruckter Bücher gar keine Notwendigkeit für eine Alphabetisierung der Bevölkerung und Einrichtung entsprechender Institutionen gegeben hätte. Ein durch handschriftliches Kopieren hergestelltes Buch war viel zu teuer, als dass die Masse der Bevölkerung damit hätte versorgt können. Das Medium Buch wäre so knapp verfügbar geblieben, dass es gar keinen Sinn gemacht hätte, dass allzu viele Menschen über die (inzwischen zur Kulturtechnik gewordene) Medienkompetenz des Lesens verfügen. Ohne Gutenbergs Erfindung und die daraus folgende Möglichkeit, Bücher in Masse produzieren zu können, hätte wohl die Idee, die Bibel in für die Rezipienten verständliche Sprachen zu übersetzen, recht wenig Sinn gemacht. In der Folge hätte es deshalb vermutlich keine Reformation gegeben und auch wohl keine Aufklärung usw. Und auch Johann Amos Comenius wäre wohl nicht auf die für damalige Ver-
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hältnisse radikale Idee einer Schule für alle Kinder gekommen, die eben diese Medienkompetenz zum Umgang mit der Informations- und Kommunikationstechnologie >Buch< vermittelt. Gerade an diesem Beispiel zeigt sich deutlich, dass die kulturellen und sozialen Folgen einer bestimmten Medientechnologie unter Umständen erst in größeren historischen Zusammenhängen ersichtlich werden. Die Institution >Schule< ist, zumindest in der gegenwärtigen Form der allgemeinbildenden Schule, im weiteren Sinn ein (Neben-)Produkt der Medientechnologie des Buchdrucks, das erst mit einiger zeitlicher Verzögerung gegenüber dem >Technology Trigger: im 15. Jahrhundert entstanden ist. Bezüglich der Bedeutung der aktuellen mediologischen Revolutionen für die Schule, ebenso für die Hochschule können wir deshalb getrost schließen : Wir haben noch keine wirkliche Ahnung, wo das einmal hingeführt haben wird.
Struktur des Buchs Entsprechend grundlegend soll der Zusammenhang von Medien und Bildung hier bedacht werden. Wir gehen dazu in vier großen Abschnitten vor. Der erste Teil, »Gründe«, entfaltet aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven zunächst sehr grundlegende Fragen und steckt so das Feld für die folgenden Abschnitte ab. Im zweiten Teil werden diese theoretischen Grundlagen auf verschiedene konkrete »Kontexte« bezogen, die durch den postulierten kulturellen Wandel im Kern betroffen sind: Raum, Bildung, Wissen, Universität usw. Der dritte Abschnitt entwirft im Anschluss unter der Überschrift »Folgerungen« einige konkrete Perspektiven für die Arbeit in unterschiedlichen institutionellen und organisatorischen Zusammenhängen: Welche Konsequenzen sollten angesichts der medienkulturellen Entwicklungen der letzten Jahre gezogen werden? Wie können sich Universitäten und Schulen zu den damit verbundenen neuen Formen des Sozialen verhalten? Der vierte Abschnitt schließlich gibt unter der Überschrift »Wirklichkeiten« einen sehr vielfältigen Einblick in ganz unterschiedliche Praktiken und Arbeitszusammenhänge im Kontext von Lehre und Forschung, die sich mit dem medienkulturellen Wandel in verschiedenen Institutionen und Situationen direkt befassen.
Gründe Zum Auftakt untersucht Thomas Weber in Wissensvermittlung in medialer Traniforma/ion den Stellenwert der aktuellen Medientechnologien in den bildungspolitischen Debatten. Anhand prominenter Positionen legt er dabei die Ängste, die Macht- und
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Kontrollphantasien und damit die Wertvorstellungen offen, die der Diskussion über die durch die neuen Kommunikationsformen veränderten Möglichkeiten des Zugangs zu Wissen und Information oftmals zugrunde liegen, ohne offen ausgesprochen zu werden. Ganz anders, nämlich ausgehend vom Konzept der Übertragung nach Freud und Lacan entfaltet Karl-Josef Pazzini in Bruchstücke einer Medien- und Bildungstheorie nach Fresd, inwiefern Bildungsprozesse in mediale Verhältnisse verstrickt sind, wenn Bildung als Passage, als Wechsel von einem symbolischen Platz an einen anderen verstanden wird und die damit verbundenen Prozesse von Verführung, Widerstand und Symptombildung mitgedacht werden. In Umkämpftes Internet legt Tanja Carstensen in Ausschnitten aus ihrer an Foucault und Goffman orientierten empirischen Analyse der Selbstdarstellung von Gewerkschaften in Zeitschriften und im Internet dar, welche unterschiedlichen, teils gegensätzlichen Eigenschaften und Bedeutungen, dem Internet jeweils zugesprochen und zugedacht werden und inwiefern die Rede vom Internet zum diskursiven Austragungsort politischer Kämpfe wird. Manfred Faßler geht in Dissipatives Wissen. Übergänge von nationaler Universalität ifI GlobalKnowledge Communities der Frage nach, wie sich die mit den digitalen Medien einhergehenden Bedingungen der Wissensproduktion und -distribution auf den Ort der Universität auswirken. Hat die Universität lange Zeit als nationale Institution funktioniert, autonom im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Bereichen, so sieht Faßler die Zukunft der Universität in veränderten, mobilen Arbeitsformen, die sich nicht mehr an der traditionellen Ordnung einzelner Disziplinen orientieren, sondern in transdisziplinären, immer nur temporären Projekten ein höchst dynamisches auf konkrete, zeitlich limitierte Anwendungsf:ille bezogenes Wissen generieren. Benjamin Jörissen nimmt in >Medienbildung< - ein Konzept in heterogenen institutionellen Verwendungskontexten eine Klärung des Begriffs der Medienbildung vor. Bei der Rede von >Bildung< gelte es jeweils zu unterscheiden zwischen sBildungc als sOutputx eines Bildungssystems, Bildung als Ergebnis pädagogisch initiierter individueller Lernprozesse und Bildung als Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen (nach Kokernohr, Koller et al.). >Medienbildung< lässt sich in Analogie dazu verstehen als Gegenstand bildungspolitischer Auseinandersetzungen, als Ziel oder Ergebnis einzelner Lernprozesse oder zur Bezeichnung von Transformationsprozessen unter dem Gesichtspunkt der Medialität. In >E -LearningNeuen Medien: verbundenen sendliehe in greifbare Nähe rückenden Utopien zu überdenken. Stefan Sonvilla-Weiss untersucht in Kommunikationstechniken, -aktivitäten und -strategien derGeneration >Web n+ 1( die ambivalenten Folgen des medienkulturellen Wandds für die einzelnen Subjekte und deren soziales Miteinander. Er beschreibt NetzÖkonomien und Hacker-Ethiken, Ideale sozialen Netzwerkens und Wissensorganisation mittels crowdsourcing anhand verschiedener Beispiele, Deutlich wird dabei vor allem, wie der Geist der früheren Open-Source-Bewegung und der HackerEthos der 1990er-Jahre die Massenmedien-Kultur erreicht und diese mit einiger Selbstverständlichkeit unwiderruflich in eine partizipative Medienkultur verwandelt,
Kontexte In Wissen, Medien und Vermittlung legt Thomas Höhne zunächst dar, inwiefern >Wissensvermittlung< seit dem 17. Jahrhundert zunehmend zu einem zentralen Dispositiv gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse geworden ist. Bezogen auf die aktuelle Situation lässt sich unter dem Vorzeichen der Rationalisierung eine Tendenz der Entkopplung von Vermittlung und Aneignung beobachten, die das Problem der Legitimation der Auswahl und Aneignung von Wissen zunehmend an das einzelne Subjekt delegiert und das Vermittlungswissen im Sinn eines >Lernens des Lernense immer abstraktere Formen annehmen lässt. Das führt zu einer gänzlich neuen, nämlich sen tstofflichtenc Didaktik und es führt zu einem völlig veränderten, in gewisser Weise sentgrenztenc Lernsubjekt. Wolfgang Legler zeichnet in Pestalo~, die Moderne und das Internet einige bislang unerkannte historische Verbindungslinien, die das Verhältnis von Medien und Bildung betreffen. Ihren Ausgang nehmen Leglers Überlegungen bei der von Pestalozzi entworfenen formalen Bildungstheorie, die darauf abzielt, Kinder in die Lage zu versetzen, mit einfachen Methoden jeden denkbaren Sachverhalt anschaulich zu erfassen. Legler diskutiert die dabei wesentlichen Fragen nach Abstraktion und Komplexitätsreduktion und kann deutlich machen, dass veränderte Wissenskulturen - insbesondere, wenn sich die Produktions-, Aneignungs- und Legitimationsformen von Wissen so radikal verändern wie gegenwärtig - veränderte Lernkulturen erfordern. Im Rückgriff auf Regis Debray und Michael Giesecke wendet sich Christina Schwalbe in Die Universitlit derBuchkultur im digital vernetifen Medium den Folgen des
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aktuellen medialen Wandels für die Universität als Institution der Weitergabe und Produktion von Wissen zu. Um die Tragweite der derzeitigen Entwicklungen in ihrer Tiefe verstehen zu können, spannt sie einen weiten historischen Bogen von der Phase der Gründung der Universität über die neuzeitlichen Veränderungen und entdeckt in den früheren medialen Umbrüchen überraschende Parallelen zu den heutigen Vorgängen. .Ähnlich wie Manfred FaBler plädiert auch Schwalbe für eine verstärkte Hinwendung zu Formen eines operativen Umgangs mit Wissen. Ausgehend von einem historischen Vergleich wendet sich Michael Scheibel in Biidungsräume im Inftrmationszeitalter den räumlichen Bedingungen schulischen Lernens zu. War die räumliche Ordnung an Schulen im ausgehenden Mittelalter dezentral, das dort stattfindende Lernen in hohem Maße selbstorganisiert, so wird mit Comenius im 17. Jahrhundert das in der Renaissance als Abbildungstechnik entwickelte Verfahren der Zentralperspektive, das die Wahrnehmung der lernenden Subjekte auf die zentrale Autorität des Lehrers hin ausrichtet, auf die Schule übertragen. Erst mit der Reformpädagogik - und noch einmal anders durch die digitalen Medien - wird die zentralperspektivische Ordnung des pädagogischen Raumes wieder aufgebrochen. Mit dem Verhältnis von räumlichen Ordnungen und pädagogischen Prozessen befasst sich auch Timo Meisel, der in Eine Mustersprache, die Medienbiidungsräume erzeugt den Entwurf eines Baukastens für die konkrete Gestaltung von >Medienbildungsräumen< skizziert. Im ersten Teil seines Beitrages entfaltet er, wie >MedienBildung< und sRaum. zusammenhängen, indem er die Begriffe in verschiedenen Konstellationen untersucht. Im Anschluss unternimmt er den Versuch einer Formalisierung der gewonnenen Einsichten mittels einer in Anlehnung an den Architekturtheoretiker Christopher Alexander entworfenen >Mustersprache< zur Gestaltung der »pädagogischen Umgebung« (Göhlich), In einem sehr umfassenden Kontext skizziert Manfred Faßler in Universität- Next Generation, wie sich Universitäten zu den medialen und technologischen Umbrüchen verhalten sollten, um als Institutionen des professionellen Umgangs mit Wissen bestehen zu können. Während sich die klassische Universität als (alleiniger) Ort der Ansammlung von Wissen und der Überführung empirischen Materials in die Ordnung typographischer Wahrheit definierte, ist die stransklassischec Universität mit der Kränkung konfrontiert, dass sie in Bezug auf ihre Verdichtungs- und Deutungsleistungen kein Monopol mehr hat. Die Universität ist zunehmend als Instanz gefragt, die angesichts der Unübersichtlichkeit von Daten- und Informationsströmen Prozeduren der intelligenten Hierarchisierung und EntscheidungsfIndung unter komplexer werdenden Bedingungen anbieten kann und (neu) zu legitimieren weiß.
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Folgerungen Ähnlich wie Manfred Faßler setzt sich Arno Rolf in Schlüsselqualifikation 2.0. Wissen, wie alles ~sammenhängt mit der Frage auseinander, welchen Umgang ein universitärer Studiengang wie Informatik mit dem Problem der weltweit verfügbaren, permanent wachsenden Menge an Informationen und der Vielfalt und starken Qualitätsunterschiede finden kann. An ausgewählten Szenarien erläutert er, welche Strategien und Prozeduren der Komplexitätsreduktion, Selektion und Orientierung konkret in einem zeitgemäßen Studiengang Informatik entwickelt und vermittelt werden sollten. Auch Norbert Breier befasst sich in Inftrmatische Bildung und Medienbildung im Fächerkanon aus der Perspektive des Informatikdidaktikers mit dem Problem, wie mit der Fülle der weltweit vernetzten Informationsquellen ein sinnvoller Umgang gefunden werden kann. Mit Bezug auf die frühen Kybernetiker erläutert er, inwiefern sInformatil« ein eigenes Wissensgebiet darstellt und was das Spezifische dieses Fachs ausmacht. In Abgrenzung von Shannons eng gefasstem Informationsbegriff plädiert er für ein weiter gefasstes Verständnis und rückt das Fach damit in eine enge Beziehung zur Medienbildung. Christian Lenz fragt nach den Aufgaben, Miiglichkeiten und Grenzen der schulischen Medienpädagogik aus derSicht derLabreraus- und fortbildung. Vor dem Hintergrund einer Verortung der Medienpädagogik im Hamburger Schulwesen fordert er im Einklang mit aktuellen Ansätzen zur Theorie der Medienbildung einen Umgang mit Medien, der nicht auf ein instrumentelles Verständnis des Mediums als Werkzeug beschränkt ist, sondern Medien in einem umfassenden Sinn als Voraussetzung und Teil jeglicher Art von Bildungsprozessen versteht. Im Zuge der Vorstellung einer im Rahmen des baden-württembergischen Schulkunst-Programms gehaltenen Unterrichtseinheit möchte Frieder Kerler in seinem Beitrag Spur, Rekonstruktion, Medium den im Sinne Luhmanns unscharfen bzw. schwachen Begriff des Mediums präzisieren. Ausgehend vom Konzept des Mediums als Spur und Speicher fragt er, welche Relationen von Subjekt und Objekt dem Medienbegriff jeweils implizit zugrunde gelegt werden und inwiefern die an Prozessen der Vermittlung beteiligten Medien das jeweilige Verhältnis von Subjekt und Objekt transformieren. Mit der Frage, inwieweit durch den Einsatz aktueller Medientechnologien an den Hochschulen ideale Instrumente für forschendes Lernen und wissenschaftliches Prüfen gegeben sind, setzt sich Gabi Reinmann in ihrem Beitrag Forschendes Lernen und wissenschriftliches Prüfen: Diepotentielle undfaktische Rolle derdigitalen Medien auseinander. Sie rekurriert dabei eine bereits vor 40 Jahren verfasste Schrift der BAK, die Anlass für die erneute Bearbeitung der Fragestellung auch vor dem Hintergrund des
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Bologna-Prozesses ist. Die bereits damals erkannten Probleme treten, so der Befund, durch den Gebrauch digitaler Medien nur mit umso schärfer hervor. Mandy Sehiefner informiert in Social Sriftware und Unillersitäten: eine kritische AnalYse des Status quo über den derzeitigen Stand des Einsatzes von Social Software an Hochschulen und nimmt einen kritischen Abgleich der ursprünglich mit den neuen Technologien verbundenen Erwartungen vor. Nach einem differenzierten Überblick über das Spektrum der Nutzung von Web-2.0-Technologien kommt sie zu dem Ergebnis, dass man in vielen Bereichen noch weit davon entfernt ist, die Potentiale der neuen Medien auszuschöpfen, weil deren Einsatz sich oftmals auf die organisatorischer Ebene beschränkt, während der strukturelle Ist-Zustand erhalten bleibt. Mare Göeks und Helga Beehmann vom MultimediaKontor Harnburg geben in E-Learning-Förderung am Hochschulstandort Hamburg: 110m Content ~r nachhaltigen Strategie einen Einblick in die hochschulübergreifenden Maßnahmen zur Förderung von »eLearning und Multimedia in der Hochschullehre« in Hamburg. Es werden vier größere Projekte aus dem entsprechenden Sonderprogramm der Behörde für Wissenschaft und Forschung vorgestellt, die dazu beitragen sollen, strategische Maßnahmen zur nachhaltigen Implementierung von E-Learning auf breiter Ebene zu entwickeln. Der Beitrag bildet insofern die strategische Einleitung zu letzten Abschnitt des Buchs, in dem u.a. auch aus der Praxis der in diesem Kontext geförderten Projekts ePUSH berichtet wird.
Wirklichkeiten In den Kurzbeiträgen des vierten Teils werden Einblicke in den Umgang und die Erfahrungen mit aktueller Medientechnologie in unterschiedlichen Bereichen der Bildungspraxis in Schule und Hochschule gegeben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Projekten der Fakultät für Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg, die in Zusammenhang stehen mit dem dort von 2007 bis 2010 durchgeführten Hochschulentwicklungsprojekt ePUSH. Angesichts des Umstandes, dass man mittlerweile auf eine mehrjährige Erfahrung mit vielen Anwendungen aus dem Bereich des Web 2.0 zurückblicken kann, wird an vielen Stellen auch ein Abgleich der mit den neuen Formen der Kommunikation verbundenen Wünsche und Utopien, aber auch der Ängste, mit der Realität vorgenommen. Wo werden tatsächlich neue Möglichkeiten erzeugt und wo werden lediglich bereits bekannte Formen der sozialen Interaktion reproduziert? Welche Praktiken sollten weiter verfolgt und ausgebaut werden, welche Tendenzen sind kritisch zu betrachten?
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Die Berichte aus den Erfahrungen in der Praxis bestätigen, was in den vorangehenden Abschnitten v.a. von Manfred Faßler konstatiert wurde: Die aktuellen Informations- und Kommunikationstechnologien und die sich um sie herum bildenden Medienkulturen stellen die von den klassischen Bildungsinstitutionen praktizierten Formen und Grenzziehungen in Frage. Durch die mit den veränderten Medienkulturen verbundenen Praktiken werden traditionelle Unterscheidungen wie die zwischen srealere und rvirtueller Welt< zu einer neuen Form von >Wirklichkeit< verschmolzen und klassische Autoritäts- und Herrschaftsgefüge zwischen der älteren und der jüngeren Generation zur Diskussion gestellt. Das erzeugt Verunsicherungen, wird Anlass zu neuem Nachdenken, stellt die an den medialen Gefügen Beteiligten vor neue Fragen der Entscheidung. Wie mit diesen Verunsicherungen umzugehen ist, welche Entscheidungen sich als richtig erwiesen haben werden, ist noch nicht absehbar. Hier werden paradigmatisch einige sehr verschiedene, zum Teil überraschende Möglichkeiten aufgezeigt, wie in den je besonderen Situationen an den je besonderen Orten, mit den Herausforderungen und Verunsicherungen, die durch die Neuen Medienkulturen provoziert werden, umgegangen werden kann. Bei aller kritisch zu betrachtenden Tendenz zur Standardisierung und Furcht vor den Möglichkeiten der Kontrolle, die mit den Formen digitaler Kommunikation verbunden sind, lassen die Beiträge des letzten Teils doch deutlich werden, welche vielfältigen und lebendigen Formen der Umgang mit den aktuellen Medientechnologien im Kontext von Lehre und Forschung in Schule und Hochschule haben kann. Andreas Hebbe1-Seeger liefert einen differenzierten Erfahrungsbericht über die Einbindung der Plattform »Second Life« in das universitäre Lehren und Lernen und die Möglichkeiten und Grenzen für studentische User. Lisa Rosa legt aus der Sicht der Lehreraus- und -fortbildung dar, inwiefern mit dem Web 2.0 eine neue Kultur des Lernens geschaffen wurde. Zur Veranschaulichung stellt sie einige Weblogs aus an weltweit unterschiedlichen Orten gelegenen Schulen vor, auf denen sowohl Schülerarbeiten präsentiert werden als auch ein in weiten Teilen öffentlich zugänglicher Austausch zwischen Lehrern und Schülern stattfindet. Auch Daniel Röhe, Leiter einer Hamburger Schule für Kinder mit besonderem Förderbedarf, berichtet von seinen Erfahrungen mit dem gemeinsamen Arbeiten im Klassenblog. Durch den gegenseitigen Austausch im Blog werden auch diejenigen Kinder, die ansonsten nur schwer erreichbar sind, in gemeinsame Lernprozesse eingebunden. Tim Schmidt und Tobias Thelen präsentieren einige Ausschnitte aus der Testphase der Blogfarm »Buddypress« der Universität Osnabrück, Im Dialog mit Studierenden erläutern sie die Funktion und das Themenspektrum von universitären
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Blogs im Unterschied zu anderen Anbietern und kommen auch auf grundlegende rechtliche Fragen zu sprechen. Wolfgang Neuhaus, Volkhard Nordmeier und Jürgen Kirstein stellen die Plattform »Learners' Garden« vor, deren Ziel es ist, einen Ort zu schaffen, der vor kommerziellen Übergriffen geschützt ist und gemäß den Ansätzen von >Open Educational Ressourcese, sOpen Aceesse und sOpen Sourcee freien Zugang zu wissenschaftlichen und bildungsrelevanten Ressourcen - sowohl Software und Tools als auch Inhalte und Netzwerke - zu sichern. Martin Lindner plädiert in seinem Bericht von der gemeinsam mit Basti Hirsch und anderen durchgeführten Unkonferenz »Die Bildung hacken« für neue Formen der Zusammenarbeit im Bereich der Bildung und denkt darüber nach, welche Strategien aus der derzeitigen Situation herausführen könnten: »Unsere Bildungsinstitutionen sind aus sich selbst heraus unreformierbar. Wir brauchen einen Neustart.« Torsten Meyer, OIe Koch und Sebastian Plönges stellen die verschiedenen im Rahmen des Hochschulentwicklungsprojekts ePUSH eingeführten Maßnahmen vor, die dazu dienten, einen selbstverständlichen Umgang mit den aktuellen Kommunikations- und Informationsmedien und den daraus resultierenden Veränderungen an der Fakultät für EPB der Universität Hamburg zu befördern. Sebastian Plönges nimmt eine wiederum im Zuge des ePUSH-Projekts auf dem Campusgelände vor dem Gebäude der Fakultät platzierte Installation in Form eines überdimensionierten Google-Maps-Markers, die uns mit der Allgegenwart digitaler Medien konfrontiert, zum Anlass, über das Verhältnis von >Wirklichkeit< und rvirtueller Welt< nachzudenken. Malte Mertz gibt einen Einblick in die Arbeit mit Wikis, die im Rahmen des gemeinsam mit der Universität Helsinki angebotenen Studiengangs »ePedagogy Design« eingesetzt wurden. Ralf Appelt erläutert die einzelnen Funktionen und Möglichkeiten, die Studierenden und Lehrenden durch die Blogfarm im Kontext der Plattform »life« an der Fakultät EPB zur Verfügung stehen, und zieht eine Bilanz des bisherigen Nutzungsverhaltens. OIe Kochs Beitrag ist einem neuen Instrument des Lehrens gewidmet, das zunehmende Verbreitung findet: Der Hamburger Senat hat im Jahr 2010 die Mittel zur Einführung interaktiver Tafeln an 200 Schulen bereitgestellt; ebenso wurde im Rahmen des Projekts ePUSH der Umgang mit interaktiven Tafeln in die Lehrerausbildung eingeführt. Mirjam Bretschneider, die sich in einem Praktikum in Helsinki mit dem Thema »Beratung in virtuellen Welten« auseinandergesetzt hat, konnte dabei vom Hamburger Netbookstipendium profitieren, das ihr vom Medienzentrum der Fakultät EPB verliehen wurde. Sie berichtet auch davon, wie sich auch über das Praktikum in Helsinki hinaus ihr Lernen im Hamburger Studienalltag verändert hat. Hatte Christina Schwalbe in der Rubrik »Kontexte« nach den Fol-
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Torsten Meyer
gen und Konsequenzen des Übergangs von der Logosphäre in die Graphosphäre für die universitären Wissenspraktiken gefragt, so geht sie im Zuge ihrer Überlegungen zu der im Rahmen des Projekts ePUSH entwickelten KommunikationsPlattform »life« den neuen Tendenzen der universitären Lehr- und Lemkultur nach, die mit Flusser als Übergang von einer als Theaterdiskurs bezeichneten Form der Lehre zu vernetzten Formen des Dialogs verstanden werden können. Matthias Otto beschreibt die ebenfalls im Rahmen von ePUSH begonnene Einrichtung eines Systems zur Schulung von studentischen eTutoren. Er reflektiert die für die Tutoren auftretenden Probleme, die aus der Umkehrung der klassischen Autoritäts- und Rollenverhältnisse zwischen Lehrenden und Studierenden resultierten, und erläutert, wie diese Schwierigkeiten bei der Schulung und Betreuung der eTutoren gelöst bzw. gemildert wurden. Sebastian Plönges, der gemeinsam mit anderen Mitarbeitem eine Plakatserie entworfen hat, die auf das Projekt ePUSH aufmerksam machen sollte, legt aus systemtheoretischer Perspektive dar, welche Überlegungen bei der konkreten Umsetzung der Plakatentwürfe im Spiel waren. Das Ziel, über die zunächst durch Irritationen und Unsicherheiten erzeugte Aufmerksamkeit eine Teilhabe am Projektgeschehen zu erzeugen, wurde offensichtlich erreicht. Zum Abschluss nähert sich Wey-Han Tan bei seinem Nachdenken über die aus ePUSH und ähnlichen Projekten hervorgegangenen Denk- und Arbeitsformen aus spieltheoretischer Perspektive der nur scheinbar einfachen Frage, worin eigentlich der Unterschied zwischen den saltene und den sneuene Medien, mithin zwischen dem Analogen und dem Digitalen, genau besteht, und gelangt im Zuge der Beantwortung dieser Frage zu einigen interessanten lern- und bildungstheoretischen Bemerkungen. Und ganz zum Schluss nimmt Sebastian Plönges noch ein von Torsten Meyer gemeinsam mit dem Künstler Johannes Hedinger und der Kunstpädagogin Theresa Rieß durchgeführtes Projektseminar zum »Postironischen Manifest« des Schweizer Künstlerduos Com&Com zum Anlass, über die Möglichkeiten der Unterscheidung zwischen sGesagternc und sGemeintemc zu reflektieren. Anstatt vorschnell eine Entscheidung über die buchstäblichen Aussagen des »Postironischen Manifests« zu treffen, schlägt Plönges vor, es post-ironisch ernst zu nehmen und nach den Konsequenzen der damit getroffenen Entscheidung zu fragen. Im Rückgriff auf Spencer Brown argumentiert er, dass jegliche Mitteilung die Frage der Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem mit sich führt und somit die Entscheidung über das Verhältnis von Mitteilung und Information in der Verantwortung des Empfängers liegt. Das gilt ebenso für den Empfänger dieses Buchs. Ich wünsche eine inspirierte Lektüre.
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Gründe
Wissensvermittlung in medialer Transforma'tion Bemerkungen zu sich verändernden Wertmaßstäben in der bildungspolitischen Debatte Thomas Weber
Neue Medien als >Kränkung< des menschlichen Subjekts Wie gehen wir in Zukunft mit Wissen um? Wie sehen die neuen Schnittstellen zwischen Medien und Bildung aus? Welche Konsequenzen hat dies für unser Selbstverständnis (unsere -Identitän), für unsere Form der Gemeinschaft und damit direkt verbunden auch für die Leitwerte oder die Legitimationsinstanzen von Ethik und alltäglichen Verhaltensweisen? Diese Fragen stellen sich in den letzten Jahren verstärkt nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer )BildungskriseKränkung< sitzt tief und erfahrt sobald von Schirrmacher eine biologische Verstärkung: Die Nutzung der digitalen Anwendungen führt zu einer Veränderung der Gehirnstrukturen, der Denkweisen selbst. Im Gegenzug erhalten die Computer eine nie gekannte Macht, ja sie treten selbst an die Stelle der Subjekte, sozusagen eine Form der Selbstermächtigung der Objekte. Schirrmacher konstatiert: »Die digitale Gesellschaft ist im Begriff, ihr Innenleben umzuprogrammieren. Auf der ganzen Welt haben Computer damit begonnen, ihre Intelligenz zusammenzulegen [. ..].« (Ebd. : 20) Zum anderen soll die Handlungsmacht des menschlichen Subjekts durch Bildung wieder zurückgewonnen werden. Seine Vorschläge zielen auf eine Stärkung der Willenskraft, die man trainieren könne wie einen Muskel (vgl. ebd.: 164) und einen Ausbruch aus den Routinen. Gerade der Bildung komme heute hier eine neue Aufgabe zu, da sie den Menschen wieder ihre Stärken bewusst machen müsse: Statt der Vermitdung von Wissensbeständen komme ihr mehr und mehr die Aufgabe zu, den Menschen die eigene Kreativität bewusst zu machen. Für Schirrmacher sind die Träger des Bildungsprozesses die tradierten Bildungsinstitutionen und er fordert entsprechende »Konsequenzen in Schulen und Hochschulen« (ebd.: 210): »Dabei geht es nicht darum, schon Kindergärten mit Computern auszustatten - im Gegenteil .« (Ebd.: 210f.) Für ihn »liegt auf der Hand, was zu tun ist. Es ist gar nicht besonders schwer, wenn man sich vom Zertifizierungswahn und der grotesken Verschulung heutiger Hochschulausbildungen verabschiedet (ebd.: 211)«: Statt Subjekte müsse heute Subjektivität unterrichtet werden, statt Wissensbestände
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müsse man Denken lehren, um die Subjekte zu »Kreativität, Toleranz und Geistesgegenwart« (ebd.: 21) zu erziehen. Ganz einfach, oder? Früher empfahlen Pädagogen das Abschalten des Fernsehens (wie etwa der von Schirrmacher geschätzte und zitierte Neil Postman - »Wir amüsieren uns zu Tode«), was beim Computer jedoch nicht geht (wie Schirrmacher einräumt), da man ihn auch zum Arbeiten benötigt; oder sie regten sich über den durch Medien bewirkten moralischen Verfall auf und forderten ein Einschreiten der staatlichen Zensur (wie etwa die Kinoreformbewegung der 191Oer-Jahre, die die geballte deutsche Wortintelligenz gegen das damals neue Medium Kino in Stellung brachte). Diesmal hingegen geht es snure um die Fähigkeit zu denken . . . In den letzten Jahren wurde diese Position in der wissenschaftlichen und theoretischen Diskussion als Mediendeterminismus bekannt. Schon in den 1990er-Jahren schrieb der Medientheoretiker Norbert Bolz: »Die Erde ist nicht der Mittelpunkt der Welt; der Mensch ist auch nur ein Tier; das Ich ist nicht der Herr im eigenen Haus - es ist uns einigermaßen gelungen, mit diesen narzißtischen Kränkungen umzugehen. Nun schicken sich künstliche Intelligenzen an, uns auch noch die letzte stolze Domäne streitig zu machen: das Denken,« (Bolz 1999: 9)
In der bolzsehen Perspektive führt die Weiterentwicklung der Maschinen zu einer immer weiteren Marginalisierung des Menschen. Die bisherigen geistes- und kulturwissenschaftlichen (oder auch kulturanthropologischen) Modelle würden kaum mehr angemessen diesen grundlegenden Wandel beschreiben, der einen anderen Standpunkt des Betrachters erfordere. Bei Bolz heißt es weiter: »Die Herausforderung der humanistischen Kultur durch die technische Wirklichkeit der neuen Medien hat Marshall McLuhan schon 1962 als Interface zweier Großstrukturen - heute würde man sagen: als Paradigmenwechsel beschrieben. Dieser Wandel der kulturellen Grundbegriffe lässt sich genauer angeben. Die Welt der neuen Medien hat von Subjekt auf System und von Subjekt-Objekt-Beziehungen auf den Regelkreis Mensch-Welt umgestellt. Was einmal Geist hieß, schreibt sich heute im Klartext von Programmen an.« (Ebd.)
Der Mensch ist nach Bolz nur noch ein Schaltmoment im Medienverbund. Doch ändert sich allein durch Medien unsere ganze Denkweise?
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Thomas Weber
Mediendeterminismus oder Komplexität von Mediensphären Schon bei McLuhan und bei Benjamin lag die Sache etwas komplizierter: Bei Benjamin ging es gerade darum, eine welthistorische Veränderung der kulturellen Perzeption zu beobachten, die allerdings nicht allein nur von Medien geprägt wurde, sondern auch von der Entwicklung einer Massengesellschaft. Entsprechend wählt Benjamin auch Begriffe, die beide Entwicklungen aufeinander beziehen: Er spricht bei technisch reproduzierbaren Kunstwerken wie dem Film nunmehr von der Möglichkeit einer »zerstreuten Rezeption in der Masse«; Benjamin versucht, sich bewusst von überkommenen Begriffen wie »Schöpfertum und Genialität« (Benjamin 1980: 473) abzusetzen, kurzum von Werten, die allein nur auf die Befindlichkeit des einzelnen Subjekts zielen; an ihre Stelle setzt er Werte, die die Bedeutung der neuen Perzeptionsformen für Gesellschaft und Kultur hervorheben. Es geht also um einen Wertewandel, der zwar mit Medien und ihrem Gebrauch verbunden ist, der in einer z.B. von Marshall McLuhan beschriebenen Mediensphären kulminiert. Dabei ging es McLuhan vor allem um die sinnliche Erfahrung von Medien, um ihre aisthetische Wahrnehmung in unterschiedlichen historischen Konstellationen und weniger um präzise benennbare Zäsuren der Kulturgeschichte durch Medien. Sein Ansatz ist daher auch weniger mediendeterministisch, sondern beschreibt Mediensphären, in der Medien komplexe Korrelationen ausbilden und damit auch die Denkweise einer Epoche prägen. Auch neuere Ansätze, die auf die Vorstellung von >Mediensphären< rekurrieren, wie etwa die von Regis Debray in Frankreich initiierte Mediologie, wehren sich explizit gegen eine monokausale oder gar deterministische Vorstellung der Prägung durch Medien (vgl. Debray 1998; 1999). Auch mit der von Debray vorgeschlagenen, an McLuhan erinnernden Periodisierung (z.B. Logosphäre für die Schriftkultur, Graphosphäre für die Buchdruckkultur Videosphäre für die Ära des Bewegtbildes bzw. bei Debray des Fernsehens USw.) geht es nicht um eine von Medien determinierte Abfolge von Epochen, also weniger um eine chronologische als vielmehr um eine logische Zuordnung, da sich die Mediensphären durchaus gegenseitig durchdringen können und die Mediologie ausdrücklich auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen hinweist. Die Mediologie hebt eher auf die (auch schon bei McLuhan sichtbaren) medienökologischen Dimensionen von Mediensphären ab, in denen Medien ein korrelatives System ausbilden, das die kulturelle Denkweise, die konventionalisierte kulturelle Wahrnehmung einer Epoche prägt (vgl.Weber 2008). Dabei spielen eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle, angefangen z.B, bei den sozialen und ökonomischen Bedingungen, über die historischen Beharrungskräfte und Traditionen, hin zum Stand der technischen Entwicklung und der Beschaffenheit
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von Speichermaterialien usw. Kurzum, es geht um eine skoevolutionärec (vgl. Faßler 2009) bzw. genauer gesagt skorrelativee Entwicklung ganz unterschiedlicher Faktoren, die erst in ihrem Zusammenspiel eine >Mediensphäre< und damit auch eine kulturelle Denkweise und d.h. auch Wertmaßstäbe prägen, an denen diese sich orientiert.
Trennung von Bildung und Wissensvermittlung Dies gilt auch für Wertschätzung von Bildung und Wissensvermittlung, die in tradierten humanistischen Vorstellungen gerne zusammengedacht wurden, die aber immer stärker dort auseinanderfallen, wo tradierte Bildungseinrichtungen (wie Schule und Universität) ihr Monopol auf Wissensvermittlung verlieren und erhebliche Teile der Vermittlung von Wissen in eine immer diffuser scheinende Medienkultur übertragen werden, wo Wissen en passant, gleichsam >zerstreut< im Sinne Benjamins aufgenommen und verarbeitet wird. Wissensvermittlung trennt sich von tradierten Bildungsinstitutionen und deren Wertmaßstäben zur Bildung eines autonomen Subjekts (wie dies tatsächlich eingelöst wurde, wäre ohnehin noch eine ganz andere Frage), und verlagert sich in bildungsferne Systeme, zu denen nicht zuletzt auch die >Medien< als Programmanbieter zählen, die von wirtschaftlichen Interessen und der Eigendynamik der Institutionen geprägt werden. Schon Lyotard konstatierte 1979 eine Trennung von Wissen und Bildung, die einhergehe mit einer starken »Veräußerlichung des Wissens gegenüber dem >Wissenden«< und er fährt fort: »Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr. [...] Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen werden, und es wird für seine Verwertung in einer neuen Produktion konsumiert und konsumiert werden: in beiden Fällen, um getauscht zu werden.« (Lyotard 1999: 496) Für Lyotard gibt es für diese Veränderung zwei grundlegende Ursachen: zum einen die wirtschaftlichen Verwertungsinteressen, die das Wissen in eine wirtschaftliche Zirkulation überführen, zum anderen Medien, die ein neues Dispositiv zur Wissensvermittlung schaffen .' 2 Für Lyotard beginnt dies Ende der 1950er-Jahre, als die Nach.kriegsgesellschaften Europas das Ende der Wiederaufbauphase erreicht haben und nunmehr in ein postindustrielles bzw. auf dem Gebiet der Kultur in postmodernes Zeitalter eintreten.
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Damit gehen jedoch auch Änderungen in den Wertvorstellungen einher, da bisher gewohnte Legitimationsinstanzen und mithin auch deren Plausibilisierungskriterien sich verändern. Mit dem Aufkommen von neuen digitalen Medien gerät selbst der mühsam in der >Video sphäree gefundene Kompromiss mit dem Fernsehen (das man ja ausschalten könne, weil es nur der Unterhaltung diene) durcheinander. Die von vielen Autoren beschriebene sogenannte sHyperspharec ist ja keineswegs eine Sphäre, in der die Reste der alten Grapho- und Video sphäre verschwunden sind. Vielmehr zeigt sieh eine Kollision von Wertmaßstäben als komplexer Prozess, bei dem sich sowohl Maßstäbe aus der Vergangenheit als auch der Gegenwart oder neuerdings auch der erwarteten Zukunft wechselseitig durchdringen. Die Orientierungsmuster werden dabei von veränderten materiellen Bedingungen ebenso geprägt wie von gewachsenen kulturellen und sozialen Systemen, von technischer und institutioneller Eigendynamik ebenso wie von ökonomischen Interessen. Haben wir seit der Etablierung des Fernsehens von einem Übergang von der Graphosphäre (der sogenannten Gutenberg-Galaxis der Buchkultur) in eine sogenannte Videosphäre gesprochen, in der sich mit neuen Medien wie dem Fernsehen auch unsere kulturelle Denkweise ändert (Unterhaltungsorientierung, Globalisierung etc.), und seit dem Aufkommen von digitalen Medien, insbesondere des pes, von einem Übergang zu einer Hypersphäre, gelangen wir nun an einen Punkt, an dem wir keineswegs mehr einen neuen, fundamentalen >Turn< ausmachen, als vielmehr chaotische Strukturen der wechselseitigen Überlagerung.
Mediale Transformationskulturen Aktuell erleben wir eine massive Transformation unserer Medienkultur. Es scheint, als hätte die Multiplikation der Medien durch überkreuz verlaufende Remediatisierungsmöglichkeiten und eine sozial diversifizierte crossmediale Mediennutzung zu einer gesteigerten Komplexität geführt, deren alltägliches Handling vielleicht gerade noch gelingt, deren wissenschaftliche Beschreibung aber letzthin chaotische Strukturen an den Rändern einst etablierter medialer Praktiken einräumen muss, die die Übergänge vom einen zum anderen kaum mehr zu erklären vermag. Dies wirft Fragen auf, denn neue Medien führen nicht einfach zu einer veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Verhaltensweise, ja sie setzen sich nicht einmal umstandslos gegen ältere Medien durch. In immer kürzeren Abständen verändern neue Medien das Nutzungsverhalten ihrer User, das eine generationsübergreifende Verbindlichkeit nicht mehr kennt: Waren
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überregionale Tageszeitungen oder auch das Fernsehen bis vor kurzem zweifellos für große Teile der Bevölkerung Orientierung gebende Leitmedien, so gilt dies heute, bei einem Durchschnittsalter z.B. der Fernsehzuschauer von 52 Jahren, nur noch für ihren überalterten Teil. Es entstehen neue fragmentierte Communities, deren Nutzungskonzepte auf die eigene Community eingeschränkt sind und oft nur einen Übergangscharakter haben oder in ihrer Nutzungsdauer eingeschränkt sind. Bislang gibt es kaum theoretische Modelle zur Beschreibung dieses Veränderungsprozesses. Arbeiten wie etwa von Henry Jenkins (2006) zur sogenannten »Convergence Culture«, von Manfred Faßler (2009) zum »Ende der Gesellschaft« (als Legitimationsinstanz) oder von Dirk Baecker (2007) zur »nächsten Gesellschaft« ~>Die nächste Universität«), haben vor allem eines gemeinsam: Sie versuchen sich kaum mehr an visionären Vorstellungen, die - gleich ob dystopisch oder utopisch - eine neue Gesellschaft proklamieren, vielmehr konstatieren sie die Ratlosigkeit der alten. Was uns derzeit in besonderem Maße verunsichert, ist, dass der Wandel weder als epochaler Bruch noch teleologisch als Endziel einer Entwicklung situiert werden kann, sondern sich >verstetigtZugangskontrollendigirnl natives- (vgl. Meyer 2008: 185), denn gerade auch die sImmigranten, bringen jene Erfahrungen der Verunsicherung und von Fremdheit mit, die Voraussetzung sind für Transformation, Übersetzung und Navigation. Anstatt vor den Problemen zu kapitulieren, anstatt nur über Kopfschmerzen zu klagen, sollte man sich einlassen auf die neuen Medien. Dabei hilft es durchaus, die eigenen Wertmaßstäbe zu überprüfen, an denen man sich bisher orientiert hat und das würde dann tatsächlich im eigenen Kopf beginnen.
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Übertragung Bruchstücke einer Medien- und Bildungstheorie nach Freudl Karl-Josef Pazzini
Einiges könnte wirklich ankommen, aber es kommt nicht an. Es gibt hervorragende Instrumente, Inhalte, Softwarelösungen, interaktive und nicht interaktive digitale Werkzeuge zur Erschließung von Information, zu deren Umarbeitung in Wissen mit der Chance zu Bildungsprozessen beizutragen. Nicht der Mangel an Information und Wissen verhindert Bildung, Informationen bleiben ohne Folgen. Oft passiert wenig. »Passiert« meint, dass etwas von hier nach da geht, von einem Individuum zu einem anderen, gemeint ist eine Passage, die einen Platz verändert in Bezug auf die Teilnahme und Teilhabe an einem symbolischen und imaginären Universum und damit gleichzeitig jenes Universum verändert. Im Folgenden gehe ich von einer Vermutung aus: Der Einsatz von Medien in pädagogischen Prozessen ist deshalb so beliebt, weil die Übertragung so unkalkulierbar ist. Wenn Medien mit diesem Motiv eingesetzt werden, dann scheitert dies mit hoher Wahrscheinlichkeit.
Anekdote Hierzu eine Anekdote aus den Frühzeiten des MulrimediaStudios des Fachbereichs Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg: Zur Finanzierung der experimentellen Arbeit wurden Produktionsaufträge akquiriert. Ua. gab es einen Auftrag der Bundeswehr für ein Computerbased Training (CBT) zur verlässlicheren und vereinfachten Bedienung der Computer zur Befehlsweitergabe. Es waren während diverser Manöver zu viele Fehler aufgetreten. Wir bastelten eine übersichtlichere und intuitivere Oberfläche, eine Schnitrstelle zur Auswahl der Befehle, zu 1 Dieser Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, der am 13. Juni 2006 im Rahmen der Ringvorlesung »Medien und Bildung« am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg gehalten wurde. Der Titel spielt an auf Sigmund Freuds »Bruchstück einer Hysterie-Analysc« aus dem Jahr 1901 (1992a: 179f.) Die Struktur der Hysterie zeichnet sich in einem plakativen Satz zusammengefasst dadurch aus, dass die Hysterikerin oder der Hysteriker -sagtc »Das ist es nicht!« - Und dann geht es weiter. So entstehen auch jeweils neue Medien.
T. Meyer, et al. (Hrsg.), Medien & Bildung, DOI 10.1007/978-3-531-92082-5_3, © vs verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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deren Weitergabe, Plausibilitätsprüfungen usw. Nun wollte der Kontaktoffizier der Bundeswehr, dass wir Belohnungen einbauen bei der erfolgreichen Absolvierung des Trainingsprogramms. Er misstraute den Lernern und der Attraktivität unserer Programmierung. Er schlug vor, nach der erfolgreichen Absolvierung eines Abschnitts ein pornographisches Bild als Belohnung einzubauen. Das führte zu schwierigsten Diskussionen zwischen den am Projekt beteiligten Studentinnen und Studenten. Da wir nun einen Vertrag unterschrieben hatten, der die pünktliche Abgabe vorsah und den Auftraggebern das Recht auf gestalterische Eingriffe reservierte - wir waren bei Vertragsabschluss nicht auf die Idee gekommen, dass uns Eingriffe solcher Art blühten -, standen wir unter Druck. Ergebnis der Diskussion war die Einblendung der Abbildung eines Spinds, der sich blitzschnell öffnete und in der Tat für den Bruchteil einer Sekunde ein Playmate erscheinen ließ. Das konnten die Studierenden beiderlei Geschlechts als eine ironische Antwort unter Beibehaltung der Verdiensttnöglichkeiten und einer listigen Political Correctness so gerade noch akzeptieren. Tatsächlich wurde das CBT schließlich ohne diese Einblendungen ausgeliefert, da in der Zwischenzeit ein Kinderpornoskandal in einer Münchener Kaserne in die Presse geraten war und der Vorgesetzte unseres Verbindungsoffiziers diesen bei der Endabnahme brüllend als Idioten zusammenfaltete. Das hier zunächst Geplante hatte nichts mit der Förderung einer Übertragung zu tun, sondern war als vorweg genommenes Surrogat für das vermutete Ausbleiben einer solchen konzipiert. Im Grunde genommen hatte der Offizier aber nichts anderes vorgeschlagen als das, was in gemilderter Form jede auf Methodik beschränkte Didaktik tut: Er wollte ein Gleitmittel haben, damit die Passage, gar die Penetration mit neuen Informationen, auch ohne Erregung funktioniert. Er wollte Motivation substituieren . Und er setzte im Grunde an der richtigen Stelle an. Nur war es etwas primitiv.
Passage Damit komme ich zur ersten These: Eine Passage gelingt dann, wenn Neugier und Erregung da sind, wenn jemand seinen alten Platz langweiligfindet und sich in Bezug auf das, was er wissen will, dort nur mehr wenig verspricht. Der Wechsel funktioniert über Verführung. Pornographie spielt zwar mit Neugier, das ist ihr emanzipatorischer Kern, sie hat nur den Nachteil, dass sie kurzschlüssig ist und wenn sie isoliert bleibt zu Abhängigkeiten führt. Pornographie appelliert an Bedürfnisse und erleichtert die Befriedigung von aufgelaufener Spannung durch zielgenaue Erregung. Eine in diesem Sinne gute
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Pornographie ist die, die den Anspruch erfüllt, effektiv Spannungen abzubauen. Sie weist kaum über sich selbst und den mit ihr ausgelösten Vorgang hinaus, höchstens auf Wiederholung. Im Übrigen erweisen fast alle neuen Medien ihre Funktionstüchtigkeit neben dem intendierten Zweck durch einen freieren und gekonnteren Zugang zu Pornographie. Pornographie kann allerdings nicht den Kern der Neugier befördern und Fremdes, Ungewohntes attraktiv machen, sie verbindet sich auch nicht mit der komplizierten Logik einer Sache, sondern verspricht eine imaginäre, im Prinzip bekannte Befriedigung, hält die Versagung nicht aufrecht, die zu weiterem unabschließbaren Wünschen führen könnte. Sie entlastet vom komplizierten Kontakt zum Anderen. Ich zitiere Freud: »Ein wesentlicher Bestandteil dieses Erlebnisses [gemeint ist das Befriedigungserlebnis, das den inneren Reiz aufhebt, die Unruhe nimmt, Gewissheit, bzw. Befriedigung verspricht, KJP] ist das Erscheinen einer gewissen Wahrnehmung [der Nahrung im Beispiel, das Freud vorher anführt, KJP], deren Erinnerungsbild von jetzt an mit der Gedächtnisspur der Bedürfniserregung assoziiert bleibt. Sobald dies Bedürfnis ein nächstesmal auftritt, wird sich, dank der hergestellten Verknüpfung, eine psychische Regung ergeben, welche das Erinnerungsbild jener Wahrnehmung wieder besetzen und die Wahrnehmung selbst wieder hervorrufen, also eigentlich die Situation der ersten Befriedigung wiederherstellen will. Eine solche Regung ist das, was wir einen Wunsch heißen, das Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist die Wunscherfüllung, [...]. Es hindert uns nichts, einen primitiven Zustand des psychischen Apparats anzunehmen, in dem dieser Weg wirklich so begangen wird, das Wünschen also in Halluzinieren ausläuft. Diese erste psychische Tätigkeit zielt also auf eine Wahrnehmungsidentität, nämlich auf die Wiederholung jener Wahrnehmung, welche mit der Befriedigung des Bedürfnisses verknüpft ist.« (Freud 1998: 571) Übertragung, mit ihr kommt der Andere ins Spiel, hingegen arbeitet mit Unterstellungen, mit Vermutungen, mit Zumutungen. Wenn dem Anderen ein Wissen unterstellt wird, wenn ein Subjekt vorhanden ist, dem Wissen unterstellt werden kann, dann gibt es Übertragung (Lacan). Existiert die Möglichkeit einer solchen Unterstellung nicht, kommt nichts, was als Bildung bezeichnet werden könnte, in Gang. »In ihrem Wesen ist die wirkungsvolle Übertragung, um die es geht, ganz einfach ein Akt des Sprechens. Jedesmal, wenn ein Mensch zu einem ande-
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ren in authentischer und voller Weise spricht, gibt es Übertragung im eigentlichen Sinn, symbolische Übertragung - es geschieht etwas, das die Natur der beiden anwesenden Menschen verändert.« (Lacan 1978a: 143) Und das nicht nur im physiologischen Sinn, das wäre trivial, sondern verbunden mit den Dynamiken von Identifikation und Rivalität. Rivalität lässt etwas Drittes aufscheinen. Das mögen manche für ärgerlich, lästig, beängstigend halten. Das ist aber nur die symbolische Ebene der Übertragung: Hier geht es um signifikante Ketten, die beim Anderen ankommen, die dieser für bedeutsam zu halten in der Lage ist. Die Lücken in diesem Signifikationsprozess, die Differenzen zwischen den einzelnen Signifikanten, werden auf dieser Ebene aufnehmend ergänzt und überbrückt, auch selektiv - gerade selektiv, weil niemand allesverstehen kann, schon allein aus dem Grund, weil derjenige, der spricht, sich und seine Welt im optimalen Fall selber nicht ganz versteht. Warum sollte er sonst reden? Lücken, Abbrüche, Löcher werden zur Produktion von Sinn überbrückt, z.B. durch Übertragungsliebe, mindestens durch Vertrauensvorschuss. Dabei nun tritt eine imaginäre Ebene auf. Notwendigerweise machen sich Sprecher wie Hörer Vorstellungen zu dem, was gesprochen wird. Die Kunst und Notwendigkeit pädagogischer Prozesse besteht in dieser Hinsicht darin, die Wahrscheinlichkeit dafür zu erhöhen, dass partiell sehr ähnliche Vorstellungen evoziert werden. Genau hierbei sind Medien äußerst nützlich: Man präpariert dabei einen Schirm, auf dem für alle das Gleiche zu sehen, zu lesen, zu hören ist, und hält das Setting wie einen Zaun einigermaßen stabil. Dadurch erreicht man eine Ausrichtung, aber keinesfalls eine Garantie für identisches Aufnehmen. In dieses imaginäre Register gehören auch alle ausgelösten Affekte und Leidenschaften, wie z.B.Liebe, Hass und Unwissenheit (vgl.Lacan 1978a: 239-340). Leidenschaften sitzen an den Fugen der Register: Liebe zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären, Hass zwischen Realem und Imaginärem, Unwissenheit zwischen Realem und Symbolischem. Affekte sind Effekte bei der symbolischen Übertragung und werden zum Widerstand, der in gleicher Weise produktiv wie hinderlich ist. Affekte können nicht verdrängt, lediglich verschoben oder transformiert werden, d.h, sie sind immer im Spiel, wo es um etwas Neues und Fremdes, vielleicht auch Bedrohliches geht. Manchmal entsteht so der Wunsch, sich das, obwohl es notwendigerweise in jeder pädagogischen Situation entsteht, ersparen zu wollen. Hierzu werden dann vor allem apparative Medien als Distanzwaffen missbraucht, es ergeben sich Machteffekte mittels Medien, aus demselben Anlass heraus werden sie
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dann auch verteufelt, weil sie die Wünsche nach unkomplizierter Beziehung nicht erfüllen können. Der Missbrauch von Medien entsteht, wenn man die notwendige Schnittstelle, Medien sind Schnittstellen, selber auch die Effekte des Schneidens, bearbeiten lassen will. Eine Schnittstelle oder ein Schirm werden eingerichtet, um Trennungen und Verbindungen zu erleichtern und auszurichten, um einen Halt hierfür zu liefern, ein Einhalten. Sie können aber aus sich heraus weder diese einschneidende Funktion einüben, noch die symbolischen, affektiven und leidenschaftlichen Seiten dieses Prozesses begleiten, bewältigen, bearbeiten, auffangen, zu einer bildenden Dynamik bündeln. Dieses Charakteristikum ist die Grenze jeden (apparativen) Mediums und der zu seinem Gebrauch nötigen Fertigkeiten, auch z.B. des Buches. Eine Schnittstelle funktioniert nur so lange, wie sie nicht zur Verdinglichung von Affekten eingesetzt wird, Leidenschaften simulieren oder die Übertragung neutralisieren soll. Anders formuliert: Medien sind solange produktiv im Sinne von Bildung, wie der Pädagoge seine Aufgabe nicht an ein apparatives Medium delegieren will, den Prozess des Schneidens begleitet und dabei selbst von ihm ausgerichtet wird, er in die Einheit der Übertragung eingeht und alle Beteiligten davon verändert werden. Letztlich läuft der Einsatz von Medien immer wieder auf Menschen zu, wenn eben auch vermittelt. Darin mildern und kanalisieren sie Beziehungen, sind eines der Mittel, die Übertragung zu moderieren oder zu unterbrechen. Der Umweg oder die Abkürzung ist von Medien zu leisten. Gerade dann ist das so, wenn die Vermittlungsketten aufgrund gesellschaftlicher Differenzierungen länger, Beziehungen differenzierter werden. Dennoch gibt es beim Einsatz von Medien immer den Traum, dass die jeweils logisch ältere Generation die schwierigen Aufgaben der Herstellung von Zusammenhang an ein Medium delegieren könne. Diese Tendenz fing früh an. Sie gilt gar als die Geburtsstunde des pädagogischen Mediums, des Schulbuches und der reflektierten Didaktik gleichermaßen. Johann Amos Comenius hatte 1658 den »Orbis pictus sensualium pictus« konzipiert. Hierin weist das sichtbare Bild der Dinge den Weg zu den Worten, sie werden sozusagen miteinander verschweißt in einem Moment, wo infolge etwa des Nominalismus die Arbitrarität der Zuordnung von Signifikant und Signifikat sich aufdrängt. Lange bleibt unbemerkt, man müsste sagen: regelrecht verdrängt, dass ein »Abgrund zwischen bildlichem Sein und Bedeuten« klafft (Benjamin 1972: 342; vgl. hierzu Meister 2005: 12). Comenius schreibt in der »Großen Didaktik«: »Die Wörter sollen also nur in Verbindung mit den Sachen gelehrt und gelernt werden ebenso wie der Wein mit der Flasche, das Schwert mit der
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Scheide, das Holz mit der Rinde, die Frucht mit ihrem Kern verkauft, gekauft und herumgeschickt werden. Denn was sind die Wörter anderes als Hülsen und Scheiden der Dinge? Wenn man nun eine Sache lernt, die Muttersprache nicht ausgenommen, so müssen die Dinge, die mit den Wörtern bezeichnet werden sollen, gezeigt werden,« (Cominius 1992: 131) So wird eine Maschine begründet, Name, Darstellung und Gegenstand werden miteinander verschweißt, ohne dass klar wird und klar werden kann, wer das tut (vgl. Comenius 1657). Die Autorität wird an ein Medium abgetreten. Deshalb funktioniert es nicht, sondern wird zur Maschine weiterer didaktischer Maschinen, weil die erträumte Endastungsfunktion so gut ist. Krampfhaft wird versucht, den Repräsentationismus aufrechtzuerhalten. Carolin Meister folgert daraus: »Im Zusammenhang von Bild und Buchstabe lehrt er [Comenius, KJP] anstelle von Signifikantenketten die Lektionen einer Zeichensprache.« (Meister 2005: 13) Die Kombinatorik von Lettern oder Lauten zu Wörtern und Bedeutungen wird damit ersetzt. Der Wunschtraum, den Schnitt, der in der Vermitdung liegt, mit dem Einsatz von Medien selbst vermeiden zu können, ist hoch aggressiv. Medien werden allerlei Übel angedichtet. Zum Ideal wird es ohne Medien auszukommen, was aber heißt, dass der Pädagoge für alles stehen will oder muss. Egal in welche Richtung oder auf welcher Seite, um eine Schnittstelle zu konstruieren und deren Funktion zu ermöglichen, braucht es Setzungen, die zunächst einmal nicht abgeleitet werden können, sondern aus einem schwer bestimmbaren Begehren zu lehren resultieren.
Setzungen In pädagogischen Zusammenhängen kommt man nicht umhin, Setzungen vorzunehmen. Unter den Vorzeichen einer demoktatischen Gesellschaft ist man dabei zu einer Verantwortung verpflichtet, d.h. man muss auf Nachfragen Auskunft geben können, zumindest nachträglich rekonstruieren können, was zu solchen Setzungen geführt hat. Das ist nicht einfach, da erstens die Zukunft nicht erschlossen ist, auf die hin wir bildend tätig sind, zum zweiten gibt es kein kohärentes System mehr, keinen Kanon, aus dem heraus Setzungen leicht zu legitimieren wären. Normen erweisen sich nachträglich als wirksam, wenn sie verfehlt wurden - das gilt auch für so einfache Normen wie DIN. Freilich existieren sie auch schon jetzt, ihre Zurechnungsfähigkeit, also ihre Wirkmächtigkeit erweisen aber auch sie nur durch den Verstoß.
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Deshalb bleibt dem Pädagogen nichts, als für sein Handeln Orientierung zu finden aus den Verstößen, aus dem der Norm Widersprechenden, aus der dabei auftretenden Lust und dem artikulierten Leiden. Aus der Passion. Es gibt zwei Diskurse, die das erklärtermaßen tun: die Kunst und die Psychoanalyse. Heute beschränke ich mich auf den psychoanalytischen Diskurs, um mich Antworten auf die Frage zu nähern: Warum passiert oft nichts, warum bemerkt man zuweilen keine Lerneffekte in der durch apparative Medien gestützten Kommunikation und Interaktion, warum gibt es Widerstände, warum bemerkt man manchmal nichts, was auf Bildungsprozesse schließen ließe? Warum werden immer wieder neue apparative Möglichkeiten der Vermittlung erfunden (Medien)? Warum sind sie so hoch besetzt, gerade wenn sie neu sind, teuer und warum sind in Institutionen Machteffekte mit dem Zugang, der Distribution, der Teilhabe so deutlich verbunden?
Die Versagung, das Versagen, die Fehlende Unmittelbarkeit Eine Antwort habe ich schon angedeutet: Das Misslingen der Passage hängt zusammen mit der Unheimlichkeit dessen, was Freud die Übertragung genannt hat. Hier sollen Medien Abhilfe schaffen. Die Übertragung grenzt an die Liebe an. Alltagssprachlich wird die Übertragung häufig verstanden als ein nicht bemerkter Irrtum in der Einschätzung einer Person oder Situation, worauf dann der so Traktierte etwa antworten kann: »Ich bin aber nicht ihr Vater,« Das kommt freilich vor. Und die Reaktion darauf auch . Ob das etwas ändert, bleibt dahin gestellt, weil in der Regel schon vorher klar war, dass nicht der Vater vor der betreffenden Person steht, und derjenige, der verneint, der Vater zu sein, weiß in der Regel nichts über den Vater des Betreffenden. Es sei denn die beiden oder nur einer der beiden ist psychotisch. Man muss ein wenig in die Dynamik dessen, was mit Übertragung von Freud und anderen bezeichnet wird, einsteigen.
Notwendigkeit der Übertragung Die Notwendigkeit der Übertragung geht offenbar zurück auf die fehlende Unmittelbarkeit des Menschen im Bezug zur Welt und den Mitmenschen - anders formuliert: auf seine Vermitteltheit und damit auf die Medien, die wie das Sprechen selber den Inhalt nicht transportieren als vorher schon fertigen, sondern im Sprechen performativ und damit durch ihre genuine Eigenschaften erst aktualisieren helfen. Dabei bleibt immer etwas offen.
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Der Mensch hat wenig Instinkt und wird im Verhältnis zur Reifung seiner Nervenbahnen ziemlich früh geboren. Man kann das Mangel oder Offenheit nennen oder auch Trieb. Triebe gibt es in dem Sinn nur bei Menschen. Dies nun hat zur Folge, dass eine Schnittstelle hergestellt werden muss, die Verbindung, Austausch und Trennung ermöglicht, die trennt und verbindet. Denn der Trieb, der ist nicht einfach da. Es gibt davon keine natürliche Version; er hat dennoch etwas von >Natur< im Sinne des Unbeherrschbaren, des Vorgefundenen, des manchmal Gewaltigen und Gewalttätigen, der Lust, jedenfalls können Triebe ganz schön mächtig werden. Die Geschichte der Pädagogik zeugt vom Kampf gegen die Triebe. Gegenwärtig scheint das kein Thema zu sein. Manchmal hat man den Eindruck, Triebe gebe es nur noch im Naturschutzpark der Unmittelbarkeit. Pädagogen suchen den Naturschutzpark der Unmittelbarkeit oft auch bei den Zöglingen, tauchen dort projektiv ein und müssen natürlich davon ausgehen, dass Vermittlung und Vermitteltheit zu minimieren sei, Übertragung ein Hindernis beim geraden Marsch ins Paradies der Anschlussfähigkeit sei, wo alles so war, wie man es sah, wie man es kannte, und so, wie wir wissen, auch diese störende Sexualität überflüssig war, weil man ja schließlich lebte. Nicht zufällig schildert der Anfang der Bibel, dass Neugier, Geschlechtsunterschied, Erkenntnis und Mühsal irgendwie bei der Vertreibung aus dem Paradies zusammenspielten. Es gab dann eine Schnittstelle zwischen der Welt und dem Paradies: zwei Engel mit flammenden Schwertern, eine Firewall. An dieser verbrennen die Unmitte1barkeitsfanatiker. Dieser Naturschutzpark eröffnet sich phantasmatisch, aber nicht weniger real gerade denen, die sich in eine idyllisierte Kindheit zurücksehnen, die durch die Übertragung geöffnet wird, denen, die ihre eigene Vorzeit bei den Kindern suchen. Sie missbrauchen Kinder als Medien, als Pforten ins verloren gegangene Paradies. Die realen Kosten sind, dass sie das L in skindlichc verlieren und dafür ein S gewinnen und skindisclx werden. In der Bildung geht es - so eine mögliche Formulierung - um die Lockerung der Triebschicksale, um deren Schickung zu erfahren und eventuell ändern zu können. Es geht um die Bestimmung (wörtlich) der Grenze zwischen Körper und Seele, die in irgendeiner Weise alle mir bekannten Kulturen kennen, eventuell anders benennen. Von der Stimme, der Notwendigkeit der Bestimmung und der gewünschten Wiederholbarkeit einmal gelungener Bestimmungen leiten sich Medien ab. Diese Grenze ist nicht ursprünglich, sondern entsteht in unterschiedlicher Weise durchs Sprechen: Freud umschreibt »Trieb« so: »Unter einem >Trieb< können wir zunächst nichts anderes verstehen als die psychische Repräsentanz einer kontinuier-
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lich fließenden, innersomatischen Reizquelle, zum Unterschied vom >ReizAgierenangehängt< werden. In diese Rahmung, d.h. die Produktion und Etablierung von Technikwahrnehmungen und -bewertungen sowie der Entwicklung von Vorstellungen srichtigere Nutzungsweisen sind diverse AkteurInnen involviert: HerstellerInnen, NutzerInnen, Unternehmen, Verbände, aber auch Parteien, soziale Bewegungen, Medien, SchriftstellerInnen und viele andere (vgL Rammert/Böhm/Olscha/Wehner 1991). Sie alle tragen durch ihre Pläne und Projekte, durch ihre Forderungen, ihre Werbemanöver und Angebotsstrategien unterschiedliche Bedeutungen an die Technik heran. So entfaltet sich durch die diversen Rahmungsversuche der unterschiedlichen AkteurInnen ein ganzes Spektrum vertexteter und visualisierter, beabsichtigter und unbeabsichtigter xl.esarteru von Technik (vgL Böhm/Wehner 1990: 108), die keinen Bezug zu den konkreten Funktionen der Technik mehr haben müssen. Um die eigene Sicht auf Technik durchzusetzen, bedienen sich die AkteurInnen strategischer Mittel, die ihr Technikbild plausibilisieren. Möglichkeiten hierfür sind Leitbilder, Metaphern, Symbole und Mythen, die auf bekannte Bilder rekurrieren, um die Technik verständlich und überzeugend zu machen. Jedes (Leit-)Bild schließt die Wahrnehmung bestimmter Eigenschaften aus und betont eine Sichtweise auf eine Technik. Die Metaphorik der Technik kann so stark werden, dass sie von den rwirklichene Problemen ablenkt und scheinbare Sachzwänge produziert, auf die reagiert werden muss. Dabei kann sie über Krisenszenarien wie über euphorische Zukunftsentwürfe die bestehenden Machtverhältnisse stützen und stärken oder auch schwächen. Auf diese Weise wirken sich Technikmetaphern auf das kulturelle Klima aus und können politische Auseinandersetzungen beeinflussen. Technik wird zum Anlass, über Gesellschaft, Erziehung, Politik, das Wesen des Menschen und sein Verhältnis zur Natur nachzudenken, sie verändert das Bewusstsein der Menschen von sich, von anderen und von seiner Beziehung zur Weh, ohne dass man sich noch mit ihren Funktionsweisen auseinandersetzen müsste (vgl. auch Turkle 1984). Ist Technik erst mit Bedeutung versehen, kann sie genutzt werden, um politische Haltungen, Stile, Einstellungen und Zukunftsentwürfe zum Ausdruck zu bringen. Individuen und kollektive AkteurInnen nutzen Technik dann, um durch Bezugnahme auf sie oder durch Umgang mit ihr (gemeinsame) Haltungen, Lebensstile,
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Zugehörigkeiten oder politische Einstellungen zum Ausdruck zu bringen. An Technik können die eigenen Interpretationen der Welt dargestellt werden - in kritischer Abgrenzung von der Technik, durch Gleichgültigkeit oder indem man sie sfeiertx, Technik wird zum »Anlass expressiver Selbstinszenierung« (Hörning/Dollhausen 1997: 167) bzw. zur »kollektive(n) Inszenierung eines bestimmten menschlichen Selbst- und Weltverständnisses« (Löchel 1997: 25). Wer über Technik spricht, trifft damit also auch immer Aussagen über sich selbst und über die eigene Wahrnehmung der Welt. Durch die »multiple Thematisierbarkeit« (Löchel 1997: 27) von Technik entstehen diverse Technikbilder und Wahrnehmungen, die Subjekten wie kollektiven AkteurInnen dazu dienen, sich durch Positionierung gegenüber der Technik selbst darzustellen und die eigene Position zu verbessern.
Zusammenführungen: Framing Technology Politische AkteurInnen, die überzeugen und mobilisieren wollen, müssen sich selbst und ihre Themen in Szene setzen, überzeugende Deutungsrahmen anbieten und Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Nur über die Durchsetzung der eigenen Interpretationen erlangt bzw. festigt man Deutungsmacht. Damit debattieren politische AkteurInnen nicht über objektiv gegebene Probleme, sondern produzieren in ihren Diskursen politische Wirklichkeit und Relevanzen bestimmter Themen erst. Auch die Thematisierung von Technik durch politische AkteurInnen kann als sframinge, d.h. als Versuch, einen Interpretationsrahmen für eine Wirklichkeitskonstruktion durchzusetzen, aufgefasst werden. Dabei geht es nur bedingt um die Ermittlung der Eigenschaften einer Technik und srealere Technikfolgen, sondern vielmehr darum, Interpretationen von Technik, den sframe für die Situation- und nicht zuletzt sich selbst strategisch in Szene zu setzen. Das heißt, dass in Technikdiskursen nicht nur Aussagen über Technik, sondern gleichzeitig Aussagen über die eigene Sicht auf die Welt und über das eigene Selbstverständnis getroffen werden. Die Thematisierung von Technik dient damit dazu, auch über andere gesellschaftliche Probleme zu sprechen. In Auseinandersetzungen um Technik werden Konflikte aufgegriffen, (neu) definiert und ausgetragen. Technikdiskurse sind Kämpfe um Interpretationen der Welt, Zukunftsentwürfe und damit Macht- und Bedeutungskämpfe. In diesen Mobilisierungsversuchen politischer AkteurInnen wird Technik zur Projektionsfläche für gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen - und hierbei erst interpretativ hergestellt (vgl. Carstensen 2007).
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Zwei Beispiele Diese interpretative Herstellung von Technik möchte ich im Folgenden an zwei Beispielen, gewerkschaftlichen Diskursen und feministischen Diskursen, empirisch belegen.
Gewerkschaftliche Diskurse Im Rahmen meiner Dissertation habe ich Aussagen über das Internet in Mitgliederund weiteren gewerkschaftlichen Fachzeitschriften der Gewerkschaften ötv, DAG, IG Medien, DPG und hbv der Jahrgänge 1995-2001 analysiert und verschiedene frames herausgearbeitet (vgl. ebd.), von denen ich zwei im Folgenden vorstelle. In beiden frames stehen der Wandel der Arbeitswelt und die Veränderungen, die sich für die Gewerkschaften hieraus ergeben, im Zentrum. Im ersten frame wird diese Konstellation pessimistisch interpretiert: »Die Arbeitswelt verändert sich rasant [...] Und die Informationsrevolution geht weiter. Das Internet wird neue Kommunikationswege hervorbringen und Arbeitsorte mit vielen Beschäftigten weiter schrumpfen lassen.« (Gewerkschaftliche Monatshefte 1/2001: 54) Das Bild, das in diesem frame vom Internet entworfen wird, ist technikdeterministisch und geprägt von Vorstellungen einer unübersichtlichen, einzigartigen, unausweichlichen, unbeherrschbaren und sich rasant wandelnden, beinahe slebendigcnc Technik: »Keine andere technische Entwicklung in diesem Jahrhundert hat eine derartige Erfolgsgeschichte wie dieses inzwischen erdballumspannende Netzwerk, keine andere einen derart vielschichtig verzweigten Einfluß auf alle denkbaren Aspekte des gesellschaftlichen und privaten Lebens [...]. Dieses Internet wucherte unaufhaltsam weiter und allmählich beschleunigte sich das Wachstum und nahm einen exponentiellen Verlauf [...]. Das Internet und das WWW breiten sich seit Jahren mit schwindelerregender Geschwindigkeit aus ,« (M 4/99: 22f.) Aber auch ein ausgrenzender Charakter wird dem Internet bescheinigt, wenn die Gewerkschaften thematisieren, dass sie sich als ausgeschlossen aus betrieblichen Kommunikationsnetzen wahrnehmen. Mit all diesen Entwicklungen gehen nach
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Ansicht der Gewerkschaften Erosionstendenzen der gewerkschaftlichen Organisierungs-, Mobilisierungs- und Betreuungsarbeit einher: Die klassischen Organisationswege der Gewerkschaften werden »immer enger und immer holziger« (Gewerkschaftliche Monatshefte 1/2001: 54): »Was wäre, wenn die Gewerkschaften sich nicht zu jenen Interessengruppen entwickeln, die sich auch virtuell organisieren? [...] Innerhalb und außerhalb der Betriebe könnten kommunikationsschwache Gewerkschaften morgen durch Missachtung bestraft werden. [...] Wenn bisherige Kommunikationsplattformen an Bedeutung verlieren, müssen die Gewerkschaften neue erschließen, um nicht zur Sprachlosigkeit verdammt zu sein.« (Gewerkschaftliche Monatshefte 8-9/2000: 515ff.) Aufgrund dieser Veränderungen sehen die Gewerkschaften ihre Handlungs- und Gestaltungsbedingungen zunehmend schlechter werden. Sie entwerfen sich selbst als überfordert und formulieren verschiedenste >Die Gewerkschaften m üssen--Sätze, die auf interne Veränderungen und Reformen abzielen. Die Beiträge bleiben pessimistisch und formulieren die Befürchtung, dass die Gewerkschaften zu langsam auf den Wandel reagieren und Verliererinnen des technologischen und gesellschaftlichen Wandels sein werden. Dieser erste frame ist also geprägt von einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit den gewerkschaftlichen Kompetenzen und appelliert intern an Reformen und Veränderungen. Dem zweiten frame liegen die gleichen Gesellschaftsdiagnosen zugrunde wie dem vorangegangenen; er unterscheidet sich aber durch das gewerkschaftliche Selbstverständnis: Die Gewerkschaften entwerfen sich selbstbewusst und als kompetente Gestalterinnen. Hierdurch werden die beobachteten Veränderungen nicht mehr als bedrohlich, sondern als Möglichkeit zur Mitgestaltung und Verbesserung des eigenen Images interpretiert. Die Gewerkschaften zeigen, dass sie »entgegen der vorherrschenden öffentlichen Meinung und oft auch den Erfahrungen ihrer Mitglieder ein neues Aufgabenfeld überaus zügig und kompetent beackern können« (M 1-2/99: 17). Über diese Zurschaustellung von (Internet-)Kompetenz, Handlungs- und Gestaltungsmacht inszenieren sich die Gewerkschaften als zukunftsfähig, weitsichtig und modem und wehren sich gegen Blockade- und Technologiefeindlichkeitsvorwürfe. Das Internet wird auch hierbei als unausweichlich beschrieben. Statt des ausgrenzenden wird aber der unhierarchische, partizipative Charakter des Internet insze-
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niert, der es den Gewerkschaften beispielsweise ermöglicht, schnell und weitreichend über Arbeitskämpfe zu berichten oder mit E-Mail-Aktionen Betriebsratsgründungen zu initiieren. Im Zentrum des Deutungsmusters stehen die Chancen des Internet für Gewerkschaftspolitik. Interessant ist nun, dass die Gewerkschaften in den Diskussionen etwas betreiben, das der Selbst-Kontrolle von Subjekten ähnlich ist. Die Gewerkschaften sind in den Diskursen über das Internet sehr stark mit sich selbst beschäftigt. Das Reden über das Internet ist vor allem eine Selbstthematisierung und Selbstreflexion. In den Diskursen beklagen die Gewerkschaften, dass sie sich in einer geschwächten Position befinden und dass sie Probleme mit der Mobilisierung ihrer Mitglieder haben. Der erste frame richtet sich an die eigene Organisation und appelliert mit bedrohlichen Szenarien, sich zu reformieren. Der zweite frame enthält ein Szenario der Gefahren, in dem sich die Gewerkschaften als Beschützerinnen und Ordnungsschaffende, als aktive, relevante und kompetente AkteurInnen entwerfen. Ziel ist die Mobilisierung von an der Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaften zweifelnden (potentiellen) AnhängerInnen. Damit tragen die Gewerkschaften über das Internet Konflikte über Themen aus, die innerhalb der Organisation auch ohne das Internet bereits umkämpft sind.
Feministische Diskurse Anband wissenschaftlicher Texte, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sowie Internetseiten habe ich zudem an anderer Stelle verschiedene feministische Positionen zum Internet ausgewertet (vgl. Carstensen 2008). Dies ergab drei unterschiedliche frames. Kennzeichnend für den ersten frame ist die Wahrnehmung, dass das Internet aus einem männlich geprägten Entstehungskontext stammt und hinsichtlich der Nutzung und der Inhalte (wie die meisten Techniken) androzentrisch ist (vgl. Tangens 1996). Das Internet ist hiernach keine geschlechtsneutrale Technik, sondern von Anfang an geschlechterbinär codiert worden. Maßgeblich dazu beigetragen hat die Wahrnehmung des Internet als technisch: »Indem in der gesellschaftlichen Erzählung ein Diskurs mehrheitsfähig wurde, der in der Entwicklungsphase des Internet die Mitwirkung von Frauen negierte [.. .], die Internettechnologie sich in einem männlichen Feld wie der Kriegstechnologie entwickelte, die ersten Anwender vorwiegend Männer waren, sich Hacker-Kulturen ausschließlich unter männlichen Jugendlichen herausgebildet haben, wurde das Internet als smännlichee Technologie okkupiert.« (Dorer 2001: 245)
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Aus dieser Perspektive erscheint das Internet als Technik, die die Geschlechterhierarchie reproduziert. Der sehr viel langsamere bzw. fehlende Zugang von Frauen sowie geschlechtsspezifische Kommunikationsstile im Netz (vgl. Herring 1997) werden als Indizien angeführt. Auch Anmache, sexuelle Belästigungen und Pornographie im Netz sind typische Themen in diesem Deutungsmuster. Das Internet wird dabei als hoch-technisch, sehr kompliziert und als von Männern dominiert inszeniert. Frauen werden tendenziell als technikfern, ängstlich und als zu fördernd dargestellt. Abgeleitet wird daraus meist der Bedarf an Frauenfördermaßnahmen und Schulungen wie Frauen-Internetkurse oder -Projekte, damit Frauen saufholenc Der zweite frame argumentiert genau entgegengesetzt, mit einer Sichtweise auf das Internet als Medium, als kommunikativer Cyberspace und als leicht zu bedienen. In diesem werden Hoffnungen auf Vernetzung, Solidarität und Stärkung feministischer Politik geweckt. Das Netz wird als weiblich geprägter Raum interpretiert, das eine gewebte Struktur hat und einigen als weiblich definierten Tätigkeiten (Kommunizieren, Tippen, Weben) entspricht (vgl. Plant 2000). Dabei wird auf diverse Stereotype von weiblichen Kompetenzen zurückgegriffen - so sagt Sherry Turkle im Interview mit Mike Sandbothe: »Speziell das Internet ist für Frauen sehr interessant, weil es ein durch und durch kommunikatives Medium ist. Die virtuellen Gemeinschaften, die im Internet entstehen, sind auf Fähigkeiten angewiesen, die vielen Frauen eigen sind. Das sind zum Beispiel die Fähigkeit zum Komprorniß, das Interesse an der Kooperation und die Lust, etwas mit anderen zu teilen. Man könnte sagen, daß die neue Computerkultur exakt diejenigen Fähigkeiten erfordert, die traditionell von Frauen entwickelt worden sind.« (Sandbothe 1996: 15) Frauen werden dabei als sozial kompetent entworfen, ihnen wird ein starkes Bedürfnis nach Kommunikation, Austausch und Vernetzung zugeschrieben. Die ersten beiden frames dienen ganz offensichtlich dazu, Differenzen zwischen Männern und Frauen, weiblichen und männlichen Nutzungsweisen zu markieren. Der dritte frame unterscheidet sich in diesem Punkt von den ersten beiden sehr deutlich: Hier ist das Internet mit Hoffnungen verbunden, die auf Gegenentwürfe, Grenzverschiebungen, Neupositionierungen und die Überwindung der bestehenden Geschlechterverhältnisse zielen (vgl. Bath 2002). Von postmodernen Denkweisen inspirierte NetzenthusiastInnen prognostizieren, dass sich mit dem Internet die Identitäten der Menschen verändern, fragmentieren und dezentrieren. Das Internet wird als neuartiger Wahrnehmungs- und Erfahrungsraum interpretiert.
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Die Möglichkeit, anonym und scheinbar körperlos zu kommunizieren und in der elektronischen Kommunikation Identitäten frei entwerfen und damit auch ein beliebiges Geschlecht angeben zu können, das sogenannte >Gender SwappingWesene der Technik zurückgehen, sondern dass es Diskurse sind, die das Internet wirkmächtig werden lassen . Sich das diskursive Gemachtsein vor Augen zu halten, ist auch deshalb wichtig, weil die in Diskursen geschaffenen Wissensbestände und Selbstverständlichkeiten wirken, d.h. sie prägen die Nutzungsweisen, sie provozieren Hoffnungen oder Befürchtungen, Wünsche oder Ängste und wirken auf diese Weise auch identitätsbildend. Unausweichlichkeitsszenarien und technikdeterministische Interpretationen befördern Fatalismus und Ohnmacht, erschaffen vermeintliche Sachzwänge und blenden Gestaltungsmöglichkeiten aus oder machen diese sichtbar. Technikdiskurse können das gesellschaftliche und politische Klima beeinflussen, Handlungsoptionen sichtbar oder unsichtbar machen, Handlungen und Forderungen von AkteurInnen stützen, rechtfertigen oder in Frage stellen. Für das Internet werden Ressourcen bereitgestellt oder verweigert, politische Entscheidungen getroffen, Gesetze verabschiedet oder abgelehnt. Diskurse über das Internet können somit weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen haben, während nicht (mehr) sichtbar ist, dass es gesellschaftlich hergestellt und verhandelbar ist. Auch für Lernen und Bildung heißt dies, Diskurse über das Internet ernst zu nehmen, und nicht nur konkrete Anwendungen auf ihren Sinn und Nutzen für Bildungsprozesse hin zu prüfen. »Diskurse zu analysieren heißt Kritik üben«, so Jäger (2001: 222). Niedermair (1998) stellt nicht die Technik selbst, sondern den Diskurs iiber die Technik ins Zentrum seiner sozialwissenschaftlichen Technologiekritik: »Technologiekritik ist die Kritik des Diskurses iiber die neuen Technologien, und nicht Kritik der neuen Technologien im Sinne konkreter Informations- und Kommunikationssysteme.« (Niedermair 1998: 121, Hervorh. i.O.). Eine kritische Medienbildung ist immer auch Diskurskritik, indem sie Einstellungen, Bilder, Mythen und Alltagstheorien analysiert, kritisiert und bewusst macht. Schließlich sind Medienbildung und E-Learning auch selbst Diskursfelder, in denen die Bedeutungen des Internet umkämpft sind. Eine Diskurskritik nimmt damit nicht nur Einfluss auf Symbole, Zeichen und Bedeutungen, sondern auch auf die konkrete Gestaltung und Nutzung des Internet im konkreten, alltäglichen, dinglichen Lernen.
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DissipaHves Wissen Übergänge von nationaler Universalität zu Global Knowledge Communities Manfred Faßter
»Die digitale Kultur drängt auf eine verstärkte Dezentralisierung von Information und auf mehr sschöpferische ZerstörungMarke< zu führen, es nah an der Umsetzung oder Anwendung anzusiedeln, wird zu einem globalen Konkurrenzmechanismus. Was als Wissen anerkannt und gefördert werden soll, steht zur Disposition. In den 1960ern und 70ern sprach man von einer entstehenden »knowledgeable society« (Lane), von wissenschaftlich-technischer Revolution (Lane) oder post-industrieller Informations- und Wissensgesellschaft (Bell), und betonte als dessen Träger universitäres wissenschaftliches Wissen. Die Hoffnungen auf diesen Träger sind noch da, aber der weltweite Strukturwandel der Wissensproduktion in Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst, Alltag weist in viele andere Richtungen. Wissensf:ihige Informationen nehmen in allen genannten Bereichen zu. Sie haben immer weniger mit der Suche nach universalen Gesetzen zu tun, denn mit Anwendungszusammenhängen. Transdisziplinarität, eine belastbare Zusammenführung von Wissensarten unterschiedlicher Herkunft, die auf einen Projekt- oder Problemfokus bezogen werden, ist weltweit zur wichtigen Kooperationsanforderung geworden. Die globale Medialisierung der wissensfähigen Informationen entzieht den überlieferten Strukturen im Wortsinn xlen Bodenc Entterritorialisierte Netzwerke verändern die Zeit- und Aufmerksamkeitsökonomien der Disziplinen.
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>Wer sich nicht ins Netz begibt, kommt darin ume, lautete ein Satz in den frühen 1990ern. Er hat, gerade für Wissensproduktion, und eben nicht für Archivierung, seine Provokation behalten: >Wer sich nicht in die Informationsströme begibt, kommt darin um.< Damit wird zugleich gefordert, sich über die jeweilig erforderlichen kulturellen Verdichrungen von Informationen (gerne auch Content genannt) neu und anders Gedanken zu machen. So entsteht eine bislang wenig beobachtete Sphäre der globalen Wissensmöglichkeiten und -bedingungen. Sie beeinflussen erheblich die lokalen Wissensformen und individuellen Weisen des Erkennens und Wissens. Die Chance auf Wissen löst sich zunehmend von den steilen Institutionalisierungen, die wir als Universität kennen. Wissensproduktion erfolgt mit immer größeren Reichweiten außerhalb der Körperschaft >Universität< und auch außerhalb des politisch-konzeptionell geschützten Raumes >UniversitätGesellschaft< und für diesen Beitrag, vorsichtiger mit dem Wort >Universität< umgehen. Nicht auszuschließen ist, dass beide Auslaufmodelle sind, zumindest was den territorialen und institutionellen Universalitätsbezug regionaler Kulturen angeht. Sie für einen globalen Diskurs zu retten, erfordert doch mehr als eine Auffrischung durch Adjektive. Die Frage ist daher eher: Welche Zukunft für welche Wissenswerkstatt? Ob diese dann Universität heißen wird, ist nachrangig. Die Werkstätten, die Labors, die Entstehungsorte für Wissen und dessen Anwendung, Einsatz, Kritik, haben immer weniger mit dem überlieferten Modell von
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Unioersitas und Universität zu tun. Ob dies nun behagt oder nicht: Die globalen Informations-, Kommunikations- und Medienstandards verändern Wirtschafts- und Wissensstrukturen. Der permanente Veränderungsdruck gilt nicht nur in Wirtschaft, sondern auch für Wissen und Wissenschaft. Die etablierten Abstände zwischen den Institutionen flachen ab, in den Informationsflüssen digitaler Netze sind sie verschwunden. Universitäten müssen mit ihren Fächern zu Knoten innerhalb der weltweit vernetzten Wissensumfelder werden, oder sie veröden. Damit ist eine Prognose formuliert, die auf ein Vereinsamungs-Szenario zielt, ohne dass dies für die deutschen Universitäten die Zukunft sein muss. In vielen Fächern ist nicht nur die klassische Internationalität selbstverständlich. Sie sind, wie man sagt, global aufgestellt. Die Wissensproduktion erfolgt nicht nur am heimischen Tisch nach sinteressanten produktiven Kontakten- mit der Außenwelt. Die Themen sind global. Am Ozonloch ist ebenso wenig sNationalitä« erkennbar wie bei EI Nino, am globalen Bevölkerungswachstum ebenso wenig wie an Transferstandards bei Online-, Bildoder Textübertragung, an Tagesgeschäften des Finanzkapitalmarktes, an 24-0nline der Broker. Die Überschätzung der Jahrhundertmarken smade ine oder >qualified ine trübt noch allzu oft den Blick auf die globalen Produkt- und Wissens föderationen, die entstanden sind. Der heutige und zukünftige menschliche Wissens träger informiert, kommuniziert, entwirft, produziert, konsumiert, imaginiert global, also online. Möglich, dass sich ein »homo generosus« herausbildet, wie Tor Nerretranders schreibt, ein egoistisch altruistisches Menschenkonzept sich ausweitet. Immerhin wäre dies eine der auffälligsten Veränderungen im Zwischenraum von >Individuum< und >WahrheitÖffentliches WissenVerwdtlichung< der Wissenschancen sprechen, die aus der politisch-edukatorischen, aufklärerischen, industriellen und wissenschaftlichen Modernität der letzten 200 Jahre entstanden ist. Also Abkehr von den Modellen der Vollständigkeit oder der Vervollständigung, von Ideen wie derjenigen, dass evolutionäre Prozesse, ob dialektisch oder linear, ein geistvolles oder erschreckendes Ende fänden. Die Universitäten werden in die Pragmatik der globalen Wissensproduktionen mit einbezogen, werden Knoten einer höchst interessanten Konkurrenz um die Bestimmung von Grundlagen, Erfordernissen, dringlichem Wissen und Anwendungen.
Interdisziplinarität oder User Generated Content Wir sprachen von Transdisziplinarität. Sie ist einer der interessantesten Begleiter beim Wandd der Abteilungs-Disziplinen zu Themen- und Projektwissen. Sie ist eine Wissens-Förderation, die den Anderungsgeschwindigkeiten in der WissensWdt entspricht. Herkömmlich herrscht eine Selbstregulierung der Fächer vor, in der über die Anforderungen, alle Phänomene zu erfassen oder zumindest einen kategorial festen, konstanten und normativ wendbaren Begriffsrahmen zu besitzen Wissensbesitzstand verteidigt wird. Daran ist erkennbar, dass gegenwärtig eine Unterscheidung zwischen a) der konservierenden Funktion der Fach- und Institutionsbildung, b) den zugelassenen Wissensbeständen und Wissensformen und c) dem neuen Erkennen und der Wissenserzeugung unerlässlich ist. In vielen Bereichen dominieren noch a) und b). Sie vertreten das Los der Institution, der Archive, der tradierten Strukturen, der strikten Hierarchien der Wissensweihung, auch Qualifikationen genannt. Es ist die alte Idee der Universitas, des geschlossenen Wissenssystems der Wdt. Über Jahrhunderte war es ein europäischer ExportscWager, umgarnt von der Behauptung, es gebe dieses eine Wissen, diese eine Wdt, geschickt von Descartes in zwei Felder geteilt. Nun wird man sagen können: Mit der Industrialisierung und mit der aufklärerischen Modernisierung entstanden neue Wissensfdder, neue Institutionen wie Schulen, Akademien, Technische Hochschulen, die mit der mittelalterlichen Idee der Universität nicht direkt etwas zu tun hatten. Dem ist nicht zu widersprechen. Diese Entwicklungen der letzten 150 Jahre zeigen auf nationaler Ebene, dass abstrahierendes wissenschaftliches Wissen, das ausschließlich auf Geist bezogen ist, nicht mehr alleine ist. So wie vorher Kirchen, Feudalherren, Klöster und ein paar
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Städte in die geistvollen Wissenschaften und in wenige Naturwissenschaftler investierten, investierten Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts massiv in neue Wissensproduktionen, in neue Wissenssorten und deren Anwendungen. Eine Art nationaler Wissensfirma entstand, mit institutionell und sozial strikt geregelten Wissens-Abteilungen, Abteilungsgehorsarn inklusive. Allerdings knackte es nicht im Gebälk der Hierarchisierung. Die technischen Fächer, die ingenieurswissenschaftlichen Richtungen, mitunter auch die sozialwissenschaftlichen Institute standen unter dem Negativzeichen der Anwendung und stehen dort immer noch. Fast wie ein Duplikat der Stilisierung von Hochkultur gegen Masse(-nkultur), retten sich die tradierten Vorstellungen von Universität vor dem Ansturm der Anwendbarkeit. Die aktuellen deutschen Auseinandersetzungen um das Promotionsrecht von Fachhochschulen und ob sie sich in internationalen Zusammenhängen sUniversity for applied ... < nennen dürfen, sind ein kleines Beispiel. Nun: Anwendbarkeit ist eine Kulisse, hereingeschoben in einer Situation, in der noch nicht klar erkennbar war, in welcher Weise sich die kulturellen, qualifikatorischen, wirtschaftlichen und politischen Ansprüche an Wissen veränderten, welche Wissenssorten erforderlich würden. Hinter dieser Kulisse konnte man sich verstecken (Universität als Welt(ge)wissen) oder ernsthaft vortragen (Technische Hochschulen bis Fachhochschulen). Seit drei Jahrzehnten wird ab und an eine andere Kulisse der Wissenspolitiken bewegt: Interdisziplinarität - ein hochgelobter Dauerbrenner, der seine Leuchtkraft verloren hat. Das sintere ist nicht gelungen, weil letztlich doch wieder alle auf Disziplin setzten. Die Standort- und Baupolitiken der Universität Frankfurt, sicherlich schon etliche Jahrzehnte gepflegt, sind ein interessantes Beispiel für die Beharrlichkeit überlieferter Disziplin-Trennungen, so als hätte Snow mit seinen unvereinbaren Wissenschaftskulturen doch recht. Zumindest sind die Bauplätze des Wissens in keiner kooperativen Nähe. Viel Engagement scheiterte daran, dass diese Debatten um Interdisziplinarität institutionell geführt wurden und werden. Niemand gibt von sseinem Territoriums irgendetwas ab, wenn er keine verbessernde Kompensation dafür erhält. Interdisziplinarität ist Verteilungskarnpf geworden. Oder sie scheitert daran, dass die Methoden, die Leitbilder oder die der wissenschaftlichen Prüfung entzogenen Weltbilder als unvereinbar aufgestellt sind. In allen diesen Prozessen der letzten 30 bis 50 Jahre macht sich ein Grundmangel bemerkbar: Wissen wird nicht als Gebrauch menschlicher Fähigkeit verstanden, zu erkennen und zu inter-re-agieren. Seit der Rede von Roman Herzog in den frühen 1990ern hält sich hartnäckig die Meinung, Wissen sei eine Ressource. So als könne man auf Wissen einfach zugreifen, wird die Idee gepflegt, es gehe in den schulischen oder
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universitären Ausbildungen um Wissen. Genauer betrachtet sind Universitäten gut ausgestattete Informationsproduzenten, -verwaltungen und Verwaltungen der Übersetzungsregeln für die Informationen. Aber sie haben mächtige Konkurrenz erhalten: Web 2.0, Social Net, Rich Media, Blogosphere, Virtual Commons, Virtual Universities - die ich hier unter dem Thema: User Generated Content zusammenfasse.
Open source - Open truth? User Generated Content ist aber nicht als beliebige Wahrheit misszuverstehen. Es scheint, dass der Beginn des 21. Jahrhunderts weder die Stunde der disziplinär organisierten klassischen Universität, noch die Stunde der hierüber bestimmten Wahrheit ist. Transklassische Universitäten, die selbstverständlich mit den globalen Veränderungen der Informations- und Wissensmengen zeitnah umgehen, die Fächer nach fünf Jahren zur Überprüfung freigeben, die beweglichere Besetzungspolitiken ermöglichen und mit Bereichen aufwarten, in denen unternehmerische Handlungsfelder und entsprechende Arbeitsrechtsordnungen möglich sind, sollten innerhalb der Universität diskutiert und vorbereitet werden. Es ist ein dramatischer Mangel, dass nicht an Projekten orientiert, sondern ausschließlich nach disziplinärer Begriffshygiene gelehrt und gelernt wird. Es gibt keinerlei gemeinsamen Projektbezug; Lehrpläne, Fachverständnisse, Berufshierarchien stehen dagegen. Es will mir scheinen, dass dies die größte Herausforderung an deutsche Universitäten ist: Wissensproduktion, Wissenserhalt und Wissensvermittlung sowie spezifische Stellenplanung und spezifische Vertragsstrukturen sollten auf Projekte gerichtet sein, die die Beteiligung sehr unterschiedlichen Wissens erfordern. Projekte sind der melting pot der Transdisziplinarität. Sie enthalten die Chance, komplexes Zusammenhangswissen ebenso zu erlernen wie unterschiedliche Wege, etwas zu erkennen und zu wissen. Wie sich die Ebene der Projekte zur Frage nach der Kontinuität verhält, wäre dann zu diskutieren. Das alles hängt daran, was unter Wissen verstanden wird und in welcher Weise man meint, seine Entstehung und seinen Erhalt institutionalisieren zu müssen. Ich plädiere für fachlich unterlegte Projekt-Studiengänge, d.h . auch für Fachentwicklungen, die sich ausdrücklich auf die weitreichenden Veränderungen von Wissen und von Wissensbedarf beziehen. Ob die Orte, an denen das geschieht, dann noch Universität genannt werden, ist nicht wichtig. Die Frage nach der Reichweite des Wortes und der Körperschaftlichkeit von Universität stellt sich nicht als solche, sondern aus den Prozessen heraus, die als Globalisierung, globale Medienkulturen oder global
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verstreute Wissenskulturen beschrieben werden. Wir sind an einem hochinteressanten Wechsel in den globalen Wissenskulturen beteiligt: vom archivierenden, relativ geschlossenen Konzept des Gesamtwissens (zentrierter Universalität) zu einem hochgradig vemetzten, dynamischen Konzept der weltweit verteilten Wissensgenerierung (fraktaler Globalität). Orte, an denen sehr unterschiedliches Wissen zusammenkommt, zu Projekten verdichtet wird und für Projekte bereitgestellt wird, werden darin wichtig. Netzwerke und Infortnationsströme, einzelne Menschen und Projektgruppen bestimmen die entstehenden Wissensökonomien. Es wird immer deutlicher, dass wissensbildende Informationen und die Fähigkeiten, Wissen zu erzeugen, längst nicht mehr nur in den klassischen Universitäten zu finden sind. In Agenturen, An-Instituten, Untemehmen, Forschungslabors arbeiten jene 40 Prozent eines Geburtsjahrganges, die studiert haben, und eine Vielzahl von Menschen, die in ihrer Tätigkeit enorm viele Informationen und Fähigkeiten angesammelt haben. Sind die Institutionen zu unbeweglich, auf diese globalen Herausforderungen zu reagieren, müssten dies eigentlich jene tun, die in die regionale Fläche Wissenspolitik machen können, und das sind vorrangig Städte mit einer hohen Verdichtung von Wissensproduzenten, -vertnittlem und -anwendem.
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>Medienbildung< - ein Konzept in heterogenen institutionellen Verwendungskontexten Benjamin Jörissen
Der Ausdruck >Medienbildung< hat im vergangenen Jahrzehnt erhebliche Verbreitung gefunden. Nicht nur im medienpädagogischen Diskurs, sondern auch darüber hinaus spielt er in der öffentlichen bildungspolitischen Diskussion eine zunehmende Rolle, ausgelöst wohl nicht zuletzt einerseits durch den Umstand, dass weite Teile von Politik und Gesellschaft das enorme Ausmaß des globalen medialen Wandels in seiner gesellschaftlichen Tragweite zur Kenntnis genommen haben, andererseits durch die Ubiquität des Labels -Bildungc Dabei tritt unter dem Titel >Medienbildung< zunächst, so scheint es mir, die Einsicht zutage, dass kulturelle Verlustdiagnosen und bewahrpädagogische Haltungen den medienkulturellen Umbrüchen in ihrer Differenziertheit und Komplexität nicht gerecht werden. Nicht nur würden mit einer solchen Haltung Chancen (und internationale Anschlüsse, im bildungspolitischenJatgon: Wettbewerbsfähigkeit) vergeben, auch die Diagnose von vermuteten >Gefahren< bedarf, wie immer deutlicher wird, eines erheblich differenzierteren und sachverständigeren Blicks. In großen Teilen der Medienpädagogik wird diese Position seit Jahren, ja inzwischen geradezu traditionell, begründet und konkretisiert. Medienbildung wird in dieser breiten, den fachlich-medienpädagogischen Rahmen weit übersteigenden Wahrnehmung auch zu einem Bestandteil bildungspolitischer Forderungen. Der Ausdruck hat damit, ähnlich wie der Bildungsbegriff, in sehr unterschiedliche systemspezifische Diskursperspektiven Eingang gefunden. Die datin liegende Chance einer breiten gesellschaftlichen Wahrnehmung dieses Problemfelds und des Bedarfs an aktiver medienfokussierter Bildungspolitik birgt jedoch auch die Gefahr einer Aufweichung der Begrifflichkeit auch innerhalb der erziehungswissenschaftliehen Diskussionen. Immerhin kann und muss die (z.B.beratende) Kommunikation mit bildungspolitischen und bildungsadministrativen Institutionen und deren Vertretern - wie auch mit Medienvertretern - als ein Aspekt des gesellschaftlichen Auftrags der Erziehungswissenschaft verstanden werden. Zudem muss auch die innerfachliche Perspektive in eine begriffstheoretische und eine praxistheoretische Seite unterschieden werden . Geht es der ersteren um grundlagentheoretische und empirische Selbstverständigung im Sinne etwa einer Sicherung der wissenschaftlichen Gegenstandsbereiche, der Begriffe, Methodologien und Metho-
T. Meyer, et al. (Hrsg.), Medien & Bildung, DOI 10.1007/978-3-531-92082-5_6, © vs verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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den - was für sich genommen nicht auf pädagogische Praxisbezüge festgelegt ist -, so steht die praxistheoretische Perspektive in engem Bezug zu Problemstellungen im Schnittfeld von Bildungsinstitutionen und den in diesen verorteten pädagogisch organisierten Situationen und Handlungen. So sehr einerseits die Diskussion um einen systematisch und methodologisch begründeten, erkenntnistheoretisch fundierten Begriff von Bildung (analog: von Medienbildung) aus meiner Sicht unumgänglich ist, so sehr muss vor diesem Hintergrund andererseits realistischer Weise zur Kenntnis genommen werden, dass diese Forderung nicht jedem Kommunikationsauftrag der Disziplin in gleichem Maße gerecht wird. Eine Klärung der Begriffe setzt daher m.E. zweierlei voraus: •
Erstens sollte zwischen internen und externen Kommunikationen unterschieden werden. Die Erziehungswissenschaft ist in besonderem Maße mit dem Problem konfrontiert, dass ihre fachsprachlichen Begriffe - genauer: die Bezeichnungen, weniger das Bezeichnete - Teil der allgemeinen Sprache sind. Sie ist, insofern sie auch eine Wissenschaft der pädagogischen Praxis ist, sogar besonders darauf angewiesen, dass sie auf verschiedenen Ebenen außerhalb fachwissenschaftlicher Diskurse mit, beispielsweise, administrativen oder politischen Funktionsträgern kommuniziert. In der Außenkommunikation müssen strategische Komplexitätsreduktionen vorgenommen werden, um überhaupt anschlussf:ihig kommunizieren zu können. Dass dies also legitim sein kann aber auch in dieser Einklammerung zu verstehen, entsprechend mitzukommunizieren ist -, wäre zu beachten.
•
Zweitens sollten in der fachinternen Diskussion die begriffslogischen Differenzen zentraler Kategorien berücksichtigt werden. Insbesondere gälte es zu beachten, 1. dass mit unterschiedlich strukturierten Begriffstypen strukturell unterschiedliche Aspekte eines (gemeinsamen) Feldes konstruiert werden, 2. dass inhaltliche Differenzierungen undAbgrenzungen nur innerhalb vergleichbar strukturierter Begriffstypen sinnvoll aushandelbar sind (man kann beispielsweise über prozessuale Bildungsbegriffe streiten, aber schlecht darüber, ob Bildungsprozesse Lern-, Erziehungs- oder Sozialisationsprozessen rvorzuziehene seien - das ergäbe offensichtlich wenig Sinn) sowie 3. dass erst über die Ausdifferenzierung innerhalb vergleichbarer Ansätze auch Anschlüsse zwischen unterschiedlichen Kategorien genauer in den Blick ge-
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nommen werden können. Dies gilt beispielsweise für die Frage nach dem Verhältnis von Medienbildung, Medienkompetenz und Medienerziehung. Im Folgenden werden drei maßgebliche Kontexte, in denen der Terminus sBildunge eine Rolle spielt - namentlich der öffentlich-politisch-administrative (Bildungssystem); der praxistheoretisch-pädagogische (pädagogische Interaktionssysteme) sowie der begriffstheoretisch-akademische (Wissenschaftssystem) - kurz diskutiert, um im Anschluss daran drei unterschiedliche Perspektiven auf >Medienbildung< sichtbar werden zu lassen.'
Drei Perspektiven auf >Bildung< >Bildung< als Output des Bildungswesens Diese Auffassung von sBildungc zielt auf die organisierte Bereitstellung von Optionen für Individuen im Interesse des Erwerbs von Wissen, Kompetenzen, Qualifikationen, Zertifikaten etc. durch entsprechende gesellschaftliche Angebote. Sie umfasst das Ganze der politischen und administrativen Entscheidungen, ihrer Realisierung und der sich daraus ergebenden Effekte. Diese Redeweise ist notwendig bildungstheoretisch indifferent, weil sie auf innersystemische Erfolgsfaktoren (bzw. Misserfolgsfaktoren) des Bildungswesens abstellt. Maßgeblich dabei ist, wie man es neudeutsch nennt, der sOutpun des Bildungssystems. Nur dieser, als politischadministratives Ziel, kann aus dieser Systemperspektive relevant sein. Wie ein positiver Output definiert wird, ist - und dies ist für mein Argument wesentlich - nicht primär Gegenstand praktisch-pädagogischer oder theoretisch-erziehungswissenschaftlicher Überlegungen (die gleichwohl auch aus dieser Perspektive beobachtet, mithin aus der eigenen Perspektive re-konstruiert werden können), sondern vielmehr Ergebnis hochkomplexer und grundsätzlich kompromissbehafteter administrativer und bildungspolitischer Findungsprozesse, vom lokalen Schulamt bis zur Bildungspolitik auf EU-Ebene.
1 Einschränkend muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die nachfolgenden Thesen hier aus Platzgtünden nur sehr verkürzt dargelegt werden kann. Eine ausführlichere Fassung dieses Argumentationsgangs wird in der Online-Zeitschrift »MedienPädagogik« (medienpaed .com) erscheinen.
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>Bildung< als Ergebnis pädagogischer initiierter individueller Lernprozesse -Bildunge wird auch aus der praktisch-pädagogischen Perspektive als (wie auch immer vorläufiger) Endpunkt, als erreichtes bzw. angestrebtes Niveau, gedacht; allerdings als Ergebnis pädagogisch initiierter individueller Lernprozesse und nicht als abstrakter >Output< eines Bildungssystems. >Bildung< in diesem Verständnis wäre etwa definierbar als das (durch pädagogisches Handeln und pädagogische Gestaltung von Situationen bewirkte) Verfügen eines Individuums über ein (jeweils zu bestimmendes) von ihm erworbenes Wissen und Können auf einem jeweils zu bestimmenden Niveau, das je nach Kontext von einfachen Kenntnissen bis hin zu komplexen und reflexiven Kompetenzen reichen kann. Der Fokus liegt bei dieser Auffassung von >Bildung< also auf dem Lernen als seinerseits prozessualem Geschehen, das auf ein plateauhaftes Bildungsergebnis (als feststellbarem, wie auch immer als vorläufig oder intermediär definiertem status quo) abzielt.
>Bildung< als Prozess der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen Die dritte und letzte Verwendungsweise des Begriffs >Bildung< versteht diese nicht als Output eines Bildungssystems und auch nicht als Ergebnis von Lernprozessen. Vielmehr versteht sie Bildung selbst als Prozess; genauer: als prinzipiell unabgescWossenprozesshaftes Geschehen der Transformation von Sichtweisen auf Welt und Selbst (Kokemohr/Koller 1996). Bildung wird also differenztheoretisch gedacht; sie ist nicht in einem Outputmodell oder einem Kompetenzkatalog -fest-stellbarc Diese Perspektive ist im erziehungswissenschaftlichen Diskurs der modernen Bildungstheorie, insbesondere auch in Verbindung mit der in den letzten Jahrzehnten entstandenen qualitativ-empirischen Bildungsforschung, verortet (vgl. etwa Marotzki 2006; Ehrenspeck 2009; Garz/Blömer 2010). Es geht der Bildungstheorie um eine Form der reflexiv-disziplinären Selbstverständigung (Koller 2007), die zunächst einmal in theoretischer und qualitativ-empirischer Perspektive auf die immanente Logik von Bildungsprozessen und ihre individuellen, kulturellen, sozialen, technologischen etc, Rahmungen fokussiert.
Drei Perspektiven auf >Medienbildung< Analog zu diesen drei Verwendungsweisen von >Bildung< erscheint das Kompositum >Medienbildung
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als xlie MedienbildungMedienerziehung< oder zur pädagogischen Vermittlung von >Medienkompetenz< (z.B, unter dem Titel der >Mediengrundbildung~, sowie als Bezeichnung für transformatorische Prozesse ~Bildungsprozesse~ im Horizont von Medialität.
Dies sind drei unterschiedliche Gegenstandsbereiche (im selben Feld), die, jeder für sich, bestimmte Aspekte sichtbar machen, dafür aber andere invisibilisieren. Damit stellt sich die Frage, wie man die Potentiale dieser Perspektiven kommunikationsstrategisch aufgreifen kann, ohne den Begriff der Medienbildung vollkommen aufzuweichen (und damit wissenschaftlich unfruchtbar zu machen). ad 1) Die generalisierende Rede von xler Medienbildung< in der öffentlichen Diskussion - ohnehin unvermeidbar - ist m.E, insbesondere dann akzeptabel, wenn entsprechend mitkommuniziert wird bzw. es durch die vorgegebene Rahmung evident ist, dass es sich dabei um ein bildungspolitisches, programmatisches Label und nicht um einen fundierten erziehungswissenschaftlichen Begriff handelt. In diesem Fall kann der Terminus sMedienbildunge als struktureller Koppler fachintern begründeter Notwendigkeiten einerseits und bildungspolitischer sowie administrativer Kommunikationsbedarfe andererseits fungieren. ad 2) Die Bezeichnung >Medienbildung< als Ergebnis individueller Lernprozesse bzw. medienpädagogischer Organisation medienbezogenen Lernens ist im Diskurs bisweilen im Kontext des etablierten Konzepts der >Medienkompetenz< zu finden (v.a. unter dem Titel sMediengrundbildungq bzw. wird als >Zielpunkt< von Medienerziehung; vereinzelt auch als Weiterentwicklung von Medienkompetenz vorgescWagen (Aufenanger 1999; Pietraß 2009). Bei pädagogischen PraktikerInnen löst diese Ineinssetzung häufig Irritation aus. Tatsächlich sprechen die oben diskutierten begriffs strukturellen Aspekte m.E, gegen eine solche Gleichsetzung. Zum einen verweist der Kompetenzbegriff als Statusbeschreibung (von vorhandenen Dispositionen bzw. pädagogisch angestrebten Fähigkeiten) auf einen ganz anderen Sachverhalt als der prozessorientierte Bildungsbegriff, mit welchem der Ausdruck Medienbildung zumindest in der akademischen Diskussion bereits deutlich konnotiert
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ist (s.u.). Zum anderen leisten Medienkompetenzkonzepte insofern auch anderes als Medienbildungskonzepte: Mit beiden Begriffen sind unterschiedliche Perspektiven, auch unterschiedlich gelagerte Forschungsperspektiven, verbunden. Diese weisen sicherlich Berührungspunkte auf, gehen aber nicht ineinander auf und sind auch nur schwer systematisch gegenüberzustellen. Im Feld der Medienpädagogik, das traditionell mediendidaktische, medienerzieherische und mediensozialisatorische Perspektiven umfasst, stellt die Medienkompetenzforschung einen übergreifenden Aspekt im Spannungsfeld von Mediensozialisation (Sutter 2010) und Medienerziehung (Spanhel2002) dar. Mit dem Diskurs um Medienbildung ist offenbar eine vierte erziehungswissenschaftliche Grundkategorie und damit eine neue eigenständige Perspektive hinzugekommen. ad 3) Die drittgenannte Perspektive einer bildungstheoretisch motivierten Medienbildungstheorie und -forschung stellt im Rahmen einer kulturtheoretischen und zeitdiagnostischen Ausrichtung die Frage nach den Potentialen komplexer medialer Architekturen im Hinblick auf Subjektivierungs- und Bildungsprozesse. Ihr primäres Erkenntnisinteresse richtet sich darauf, • •
•
in einem allgemeinpädagogischen Erkenntnisinteresse das Thema Medialität als unverzichtbares Moment im bildungstheoretischen Diskurs auszuweisen, auf dieser Basis Medienanalyse und Medienethnographie als ein methodologisch stringent begründetes Feld der qualitativen Bildungsforschung zu bearbeiten und weiterzuentwickeln, sowie im Rahmen der somit begründeten theoretischen und empirischen Forschungsdesigns die Bildungspotenziale unterschiedlicher medialer Architekturen herauszuarbeiten, sie medienpädagogisch einschätzbar und handhabbar zu machen.
Die damit gegebene Charakterisierung einer bildungstheoretisch fundierten >Medienbildung< zielt auf ein ganzes Spektrum vorhandener, wenn auch vielfach erst ansatzweise ausdifferenzierter Medienbildungsmodelle, die sich je nach Art und Gewichtung ihrer Bildungs- und Medialitätstheorien unterscheiden. Betrachtet man die bildungstheoretisch motivierte Theoriediskussion um Medienbildung der letzten Jahre, so wird diese Vielfalt unmittelbar ersichtlich (vgl. etwa: Aufenanger 1999; Meyer 2002; Marotzki 2002; Swertz 2004; Schelhowe 2007; Spanhel2007 und 2010; Meder 2007; Sesink 2007; Bachmair 2009; Jörissen/Marotzki 2009; Fromme 2009; Pietraß 2009; Zacharias 2010). Die Bandbreite dieser bildungstheoretisch argumentierenden Ansätze zeigt ein erhebliches Potential- und auch einen Bedarf - an Austausch und
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Diskussion auf dem noch sehr jungen Feld der Medienbildung. Dabei könnten nach meiner Einschätzung maßgeblich a) einbezogene Theorien von Bildung und Subjektivierung; b) einbezogene Theorien von Medialität und Mediendynamiken sowie c) zur Anwendung kommende medienspezifische methodische und methodologische Standpunkte im Zentrum der Diskussion stehen.
Fazit
Vor dem Hintergrund der enorm dynamischen Entwicklungen im Feld der Medien stellt der Terminus >Medienbildung< offenbar einen Versuch dar, auf das >Neue< der neuen Medienkulturen in begrifflich angemessen komplexer Weise zu reagieren. Aufgrund der dabei involvierten heterogenen Systemperspektiven versammeln sich unter diesem Titel nicht nur inhaltlich, sondern strukturellunterschiedliche Verständnisse. Die daraus resultierenden Begriffsunschärfen wiederum drohen mögliche Komplexitätsgewinne einzuebnen. Insbesondere wäre dies der dort der Fall, wo >Medienbildung< mit tradierten medienpädagogischen Begriffen (Medienerziehung, Medienkompetenz) gleichgesetzt oder gar in der fachinternen Debatte mit außerfachlichen Konzepten von >Bildung< konnotiert wird. Daher gälte es, zum einen die Chancen des Konzepts als struktureller Koppler in öffentlichen Diskussionen aufzugreifen (statt hier auf konzeptionelle Feinheiten zu pochen, die in anderen als der erziehungswissenschaftlichen Systemperspektive keine leitende Rolle spielen) - nicht zuletzt, um hier als Disziplin in angemessener Weise gestaltend mitwirken zu können -, zum anderen aber, den Begriff der Medienbildung als programmatischen Titel einer noch jungen erziehungswissenschaftlichen Forschungsperspektive zu verstehen - und ihn in diesem Sinne zu diskutieren und differenzierend weiterzuentwickeln.
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Benjamin Jörissen
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>Medienbildung< - ein Konzept in heterogenen institutionellen Verwendungskontexten
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>E-Learning< als Vermittlung zwischen dem Analogen und dem Digitalen 1 Wey-HanTan
Lerntheorien sind eng verbunden mit der sozio-politischen, wirtschaftlichen und technisch-medialen Wirklichkeit ihrer Zeit. Parallel zum technischen Dispositiv des Mach- und Denkbaren wandelt sich dabei auch die Idee der legitimierenden Autorität von Ordnung und Vermittlung und damit gleichzeitig die Vorstellung über das Verhältnis des Menschen zur Information. Das »E« im E-Learning steht als Variable für eine gewünschte, aber noch unbenannte bzw.weitestgehend undefinierte Differenz zu früheren Kommunikations-, Ordnungsund Lehrmethoden, für einen erneuten Versuch der Vermittlung zwischen objektiver und subjektiver Ordnung. Die drei Ansätze des Behaviourismus, Kognitivismus und Konstruktivismus sind von technischen Metaphern aufgespannte wiederkehrende Versuche, eine funktionierende Beziehung zwischen diesen Gegensätzen herzustellen.
Elektronisches Lernen als Differenzbegriff Der »E«-Neologismus klingt auf den ersten Laut selbstbewusst und innovativ; vermittelt auf den zweiten aber auch eine beruhigende Vertrautheit und Stabilität, indem er quasi eine erweiterte, verbesserte Version des bereits Bekannten anbietet. Was ist nun das Bekannte? Lernen geschieht über Selektion und Ordnung des Vermittelten bzw. Lehren in der Vermittlung des zuvor Selektierten und Geordneten. Eine initiierte Lernsituation oder -umgebung kann dort entstehen, wo auf die Bedingungen von Ordnung und Vermittlung, sozusagen die Reibung zwischen der Ordnung und dem zu Ordnendem, zwischen dem Lerner und dem zu Lernenden Einfluss genommen werden kann. Zu den Reibungsmodifikatoren zählt dabei nicht nur der Einsatz technischer Medien zur Präsentation, Kommunikation oder Dokumentation, sondern auch die meist implizit damit einhergehende Autorisierung und Legitimation für die Form des Mediums und die Selektion des Inhalts. Dieser Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, der in Dresden am 13.5.2007 auf der Tagung "Walden #3 - oder Das Kind als Medium. Tagungen und Workshops zu ästhetischer Bildung und Reform« gehalten wurde. 1
T. Meyer, et al. (Hrsg.), Medien & Bildung, DOI 10.1007/978-3-531-92082-5_7, © vs verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wey-Han Tan
Die Problematik unzureichender Schmierung wird regelmäßig in Zusammenhang mit den (Heraus-)Forderungen an eine >Wissensgesellschaft< genannt, in der ehemals erprobte technische Medien, Unterrichtsmethoden und Bildungsstrukturen zu scheitern drohen: Dort steht einer >Wissensflut< durch die exponentielle Zunahme verfügbarer Informationen ein gleichzeitiges Sinken der Halbwertszeit ihrer Gültigkeit gegenüber; der Umstellung auf ein kontinuierliches Lebenslanges Lernen ein kurzfristiges, flexibles Learning onDemand; dem freien Zugang zum Wissen als Mittel gegen die Wissenskluft eine Forderung nach Vermarktbarkeit und Kosteneffizienz; dem Wunsch nach einer Individualisierung der Lehre der nach Standardisierung und Modularisierung. Im vorliegenden Beitrag steht also die Vorsilbe »E« stellvertretend für den Wunsch nach einem geeigneten Universalschmiermittel, sowohl was die Ordnung und Vermittlung als auch deren Legitimation anbelangt.
Was sind >E-Medien